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German Pages 911 [912] Year 2006
Großkommentare der Praxis
w _G DE
RECHT
Strafgesetzbuch Leipziger Kommentar
Großkommentar 11., neu bearbeitete A u f l a g e herausgegeben von Burkhard Jähnke Heinrich Wilhelm Laufhütte Walter Odersky Dritter B a n d §§61 bis 79b Bearbeiter: §§ 61-67: Ernst-Walter Hanack §§ 68-68g: Ernst-Walter Hanack §§ 69, 69a, 69b: Klaus Geppert §§ 70-72: Ernst-Walter Hanack §§ 73-76a: Wilhelm Schmidt §§ 77-79b: Burkhard Jähnke
w DE
G RECHT
D e Gruyter Recht · Berlin
Erscheinungsdaten der Lieferungen: §§61--67 §§68--68g §§69--72 §§73--76a §§77--79b
(2. Lieferung): (6. Lieferung): (23. Lieferung): (34. Lieferung): (17. Lieferung):
September 1992 Februar 1993 Oktober 1996 September 2000 September 1994
Im vorliegenden Band fehlt die aktuelle Kommentierung der §§ 6 7 a - g StGB. Bedauerlicherweise ist es vor dem Abschluss der jetzt beendeten 11. Auflage des Leipziger Kommentars nicht mehr gelungen, die Kommentierung dieser Partie aus der 10. Auflage auf den aktuellsten Stand zu bringen. Eine vollständige Neubearbeitung der Erläuterungen zum Recht der freiheitsentziehenden Maßregeln wird es im 2007 erscheinenden Band III der 12. Auflage des Leipziger Kommentars geben. Berlin, im Mai 2006
Der Verlag
ISBN-13: 978-3-89949-300-9 ISBN-10: 3-89949-300-1
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Verzeichnis der Bearbeiter der 11. Auflage Dr. Dietlinde Albrecht, Halle/Saale Gerhard Altvater, Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Berlin Dr. Georg Bauer, Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, Leipzig (Nachtrag) Dr. Eckhart von Bubnoff, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe a.D. Dr. Karlhans Dippel, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Frankfurt a.D. Dr. Klaus Geppert, Universitätsprofessor an der Freien Universität Berlin Dr. Ferdinand Gillmeister, Rechtsanwalt in Freiburg i.Br. Duscha Gmel, Richterin am Oberlandesgericht Dresden (Nachtrag) Dr. Günter Gribbohm, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D., Karlsruhe Joachim Häger, Richter am Bundesgerichtshof, Leipzig Dr. Ernst-Walter Hanack, em. Universitätsprofessor an der Universität Mainz Gerhard Herdegen, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D., Karlsruhe Dr. Dr. Eric Hilgendorf, Universitätsprofessor an der Universität Würzburg Dr. Dr. h.c. Thomas Hillenkamp, Universitätsprofessor an der Universität Heidelberg Dr. Günter Hirsch, Präsident des Bundesgerichtshofes, Karlsruhe, Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften a.D., Luxemburg, Honorarprofessor an der Universität des Saarlandes Dr. Dr. h.c. mult. Hans Joachim Hirsch, em. Universitätsprofessor an der Universität zu Köln Dr. Hartmuth Horstkotte, Richter am Bundesgerichtshof a.D., Berlin, Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin Dr. Burkhard Jähnke, Vizepräsident des Bundesgerichtshofes i.R., Karlsruhe Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Heinrich Jescheck, em. Universitätsprofessor an der Universität Freiburg i.Br. Dr. Peter König, Ministerialrat im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, München, Vorsitzender Richter am Landgericht München a.D. Perdita Kröger, Regierungsdirektorin im Bundesministerium der Justiz, Berlin Annette Kuschel, Richterin am Landgericht Leipzig (Nachtrag) Heinrich Wilhelm Laufhütte, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D., Berlin Dr. Hans Lilie, Universitätsprofessor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Richter am Landgericht Halle/Saale Dr. Walter Odersky, Präsident des Bundesgerichtshofes i.R., Karlsruhe, Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Ruth Rissing-van Saan, Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Ellen Roggenbuck, Richterin am Bundesgerichtshof, Karlsruhe (Nachtrag) Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin, em. Universitätsprofessor an der Ludwig-MaximiliansUniversität München Dr. Wolfgang Ruß, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D., Karlsruhe Wilhelm Schluckebier, Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Wilhelm Schmidt, Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, Leipzig Dr. Dr. h.c. Friedrich-Christian Schroeder, Universitätsprofessor an der Universität Regensburg (V)
Verzeichnis der Bearbeiter der 11. Auflage Dr. Bernd Schünemann, Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Christoph Sowada, Universitätsprofessor an der Universität Rostock Dr. Günter Spendel, em. Universitätsprofessor an der Universität Würzburg Dr. Joachim Steindorf, Richter am Bundesgerichtshof a.D., Bad Kreuznach Dr. Dr. h.c. mult. Klaus Tiedemann, em. Universitätsprofessor an der Universität Freiburg i.Br. Dr. Klaus Tolksdorf, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe, Honorarprofessor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Ernst Träger, Richter am Bundesverfassungsgericht a.D., Karlsruhe Hagen Wolff, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Celle
(VI)
Inhaltsübersicht ALLGEMEINER TEIL SECHSTER TITEL Maßregeln der Besserung und Sicherung Dritter Abschnitt.
Rechtsfolgen der Tat
§§ 61-72
SIEBENTER TITEL Verfall und Einziehung Dritter Abschnitt. Vierter Abschnitt. Fünfter Abschnitt.
Rechtsfolgen der Tat Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen Verjährung
§§ 73-76a §§ 77-77e §§ 78-79 b
Vorbemerkungen
V o r §§ 6 1 f f
S E C H S T E R TITEL
Maßregeln der Besserung und Sicherung Vorbemerkungen zu den §§ 61 ff Schrifttum Albrecht Die allgemeinen Voraussetzungen zur Anordnung freiheitsentziehender Maßregeln gegenüber erwachsenen Delinquenten (1981; bezogen vornehmlich auf die Schweiz); Ancel Die neue Sozialverteidigung (1970); Bae Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht des StGB (1985); Baumann Resozialisierungsgedanke und Rechtsgüterschutz im 1. und 2. Strafrechtsreformgesetz, DRiZ 1970 2; Baurmann Zweckrationalität und Strafrecht. Argumente für ein tatbezogenes Maßnahmerecht (1987); Becker Die freiheitsentziehenden Maßregeln des neuen Strafrechts ... im Vergleich zu den Bestimmungen des Ε 1962, des AlternativEntwurfs sowie des schweizerischen StGB unter Berücksichtigung der 2. Schweiz. Teilrevision, Diss. Freiburg 1977; Bockelmann Studien zum Täterstrafrecht, Teil I (1939), Teil II (1940); Bokkelmann Schuld und Sühne (1957); Bruns Sicherungsmaßregeln und Verschlechterungsverbot, JZ 1954 730; Bruns Richterliche Überzeugung bei Prognoseentscheidungen über Sicherungsmaßregeln, JZ 1958 647; Bruns Die Maßregeln der Sicherung und Besserung im StGB-Entwurf 1956, ZStW 71 [ 1959] 210; Buchata Freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung im polnischen Strafrecht, ZStW 109 [1990] 394; Dreher Die Vereinheitlichung von Strafen und sichernden Maßregeln, ZStW 65 [1953] 481; Dünnebier Die Durchführung der Zweispurigkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln im Ε 1960 eines StGB, ZStW 72 [1960] 32; Eder-Rieder Die freiheitsentziehenden vorbeugenden Maßregeln (1985; bezogen auf Österreich); Ehrhardt Über Behandlungsmöglichkeiten für Delinquenten nach dem deutschen Strafgesetzentwurf 1962, ZStW76[1964]216; Eisenberg Strafe und freiheitsentziehende Maßnahme (1967 = Diss. Mainz 1967); Ellscheid/Hassemer Strafe ohne Vorwurf, Civitas 1970 27 ( = Lüderssen/Sack [Hrsg.], Seminar: Abweichendes Verhalten I I / l , 1975 S. 266); Exner Theorie der Sicherungsmittel (1914); Exner Erfahrungen mit den Maßregeln der Sicherung und Besserung, in: Arbeitsbericht über die Sitzung der Gesellschaft für deutsches Strafrecht, 1939, S. 91; Fem Nouvi orizzonti del diritto e della procedura penale (1881); Ferri Das Verbrechen als soziale Erscheinung (1896); Frey Das Verhältnis von Strafe und Maßnahme, SchwZStr 66 [1951] 295; Frey Ausbau des Strafensystems? ZStW 65 [1953] 3; Frey Heilen statt Strafen? (1962); Frisch Prognoseentscheidungen im Strafrecht. Zur normativen Relevanz empirischen Wissens und zur Entscheidung bei Nichtwissen (1985; zit. Frisch); Frisch Das Marburger Programm und die Maßregeln der Besserung und Sicherung, ZStW 94 [1982] 565; Frisch Die Maßregeln der Besserung und Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgesystem, ZStW 102 [1990] 343; Gallas Der dogmatische Teil des Alternativ-Entwurfs, ZStW 80 [1968] 1; Geerds Zur kriminellen Prognose, MschrKrim 1960 92; Gramatica Grundlagen der Defense Sociale, 2 Bde. (1965); Grünwald Sicherungsverwahrung, Arbeitshaus, vorbeugende Verwahrung und Sicherungsaufsicht im Entwurf 1962, ZStW 76 [1964] 633; Haddenbrock Die Maßregel der Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt oder in einer Bewahrungsanstalt nach § 86 des StGB-Entwurfs in psychiatrischer Sicht, NJW 1959 1565; K.A. Hall Sicherungsverwahrung und Sicherungsstrafe, ZStW 70 [ 1958] 41; Hanack Das juristische Konzept der sozialtherapeutischen Anstalt und der sonstigen Maßregeln im neuen Strafrecht der Bundesrepublik, Krim. Gegenwartsfragen Heft 10, 1972, S. 68; Hanack Sozialtherapie und Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB n. F., JR 1975 441; Händel Der 4. internationale Kongreß für soziale Verteidigung, JR 1956 414; Heinitz Der Entwurf des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches vom kriminalpolitischen Standpunkt aus, ZStW 70 [1958] 1; Heinitz Die Individualisierung der Strafen und Maßnahmen in der Reform des Strafrechts und des Strafprozesses (1960); Heinitz Stato di diritto e misure di sicurezza (1962); Heldmann Die Maßnahmen der Sicherung und Besserung ohne Freiheitsentzug, Materialien zur Strafrechtsreform Bd. 2/1, 1954, S. 239; Herrmann Die mit Freiheitsentzug verbundenen Maßnahmen der Sicherung und Besserung, Materialien zur Strafrechtsreform Bd. 2/1, 1954, S. 193; R. v. Hippel Gefahrurteile und Prognoseentscheidungen in der Strafrechtspraxis
(t)
Ernst-Walter Hanack
Vor §§ 61 ff
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
(1972; zit. Gefahrurteile); R. v. Hippel Reform der Strafrechtsreform. Maßregeln der Besserung und Sicherung (1976; zit. Reform); H.-J. Horn Der Maßregelvollzug im Spannungsfeld zwischen Besserung und Sicherung, Leferenz-Festschrift S. 485; Horstkotte Die Vorschriften des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts über den Rückfall und über die Maßregeln der Sicherung und Besserung, JZ 1970 152; Horstkotte Tendenzen in der Entwicklung des heutigen Strafrechts: Die Gesetzgebung, in: Horstkotte/Kaiser/Sarstedt, Tendenzen in der Entwicklung des heutigen Strafrechts, 1973, S. 7 (zit. Tendenzen); Jakobs Schuld und Prävention (1976); Jescheck Der V. Internationale Kongreß für soziale Verteidigung in Stockholm, ZStW 70 [1958] 693; Jescheck Der Einfluß des schweizerischen Strafrechts auf das deutsche, SchwZStr 73 [1958] 184; G. Kaiser Zur kriminalpolitischen Konzeption der Strafrechtsreform, ZStW 78 [1966] 100; Kaiser Befinden sich die kriminalrechtlichen Maßregeln in der Krise? (1990; zit. Krise); Kaiser Ist das Maßnahmensystem im Kriminalrecht noch zu retten? Pallin-Festschrift, 1989 (Wien) S. 183; Arth. Kaufmann Dogmatische und kriminalpolitische Aspekte des Schuldgedankens im Strafrecht, JZ 1967 553; Arth. Kaufmann Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Lange-Festschrift, 1976, S. 27; Arth. Kaufmann Schuld und Prävention, Wassermann-Festschrift S. 889; H. Kaufmann Grammaticas System der Difesa Sociale und das deutsche Schuldstrafrecht, v. Weber-Festschrift, 1963, S. 418; Kluge Die Rechtsprechung des RG zu den Maßnahmen der Sicherung und Besserung (1937); Kobler Vom Mailänder „Zentrum für soziale Vorbeugung und Abwehr", JZ 1956 185; Kögler Die zeitliche Unbestimmtheit freiheitsentziehender Sanktionen des Strafrechts (1988 = Diss. Frankfurt 1987); Kohlrausch Sicherungshaft. Eine Besinnung auf den Streitstand, ZStW 44 [1924] 21; Küpper Diskussionsbericht (über Arbeitssitzung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung) ZStW 102 [1990] 448; Lang-Hinrichsen Zum System der Strafen und sichernden und bessernden Maßnahmen im englischen Recht, in: Festschrift für Kraft, 1955, S. 138; Lang-Hinrichsen Betrachtungen zur Strafrechtsreform, in: Peters/Lang-Hinrichsen, Grundlagen der Strafrechtsreform, 1959, S. 53; Lang-Hinrichsen Die kriminalpolitischen Aufgaben der Strafrechtsreform, Gutachten zum 43. Dt. Juristentag, 1960; Lange Wandlungen in den kriminologischen Grundlagen der Strafrechtsreform, in: Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Dt. Juristentages, 1960, Bd. 1, S. 345; Lange Das Rätsel Kriminalität (1970; zit. Lange); Laubenthal Wege aus dem Maßregelvollzug im psychiatrischen Krankenhaus, Krause-Festschrift S. 357; Lenckner Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit (Unterabschnitt Maßregeln der Besserung und Sicherung), in: Göppinger/Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. I 1972, S. 185; Lombardo Internationaler Kongreß für soziale Verteidigung, JZ 1956 507; Mannheim Deutsche Strafrechtsreform in englischer Sicht (1960); Marquardt Dogmatische und kriminalpolitische Aspekte des Vikariierens von Strafe und Maßregel (1972); Maurach Die kriminalpolitischen Aufgaben der Strafrechtsreform, Gutachten zum 43. Dt. Juristentag, 1960; H. Mayer Strafrechtsreform für heute und morgen (1962); Melzer Die Neue Sozial Verteidigung und die deutsche Strafrechtsreformdiskussion (1970); Melzer Die Neue Sozialverteidigung — Ein neuer Begriff in der deutschen Strafrechtsreformdiskussion, JZ 1970 764; Mezger Die Vereinheitlichung der Strafen und der sichernden Maßnahmen, ZStW 66 [1954] 172; Montenbruck In dubio pro reo aus normentheoretischer, straf- und strafverfahrensrechtlicher Sicht (1985); B. Müller Anordnung und Aussetzung freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung (1981); Müller-Christmann Die Maßregeln der Besserung und Sicherung, JuS 1990 801 (zur Einarbeitung für Studenten); Musco Maßregeln der Besserung und Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgesystem Italiens, ZStW 102 [1990] 415; Nagler Verbrechensprophylaxe und Strafrecht (1911); Naucke Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung (1975); Noll Die ethische Begründung der Strafe (1962); Nowakowski Zur Rechtsstaatlichkeit der vorbeugenden Maßnahmen, v. Weber-Festschrift, 1963, S. 98 (zit. Nowakowski); Nowakowski Vom Schuld- zum Maßnahmerecht, Krim. Gegenwartsfragen Heft 10, 1972, S. 1; Nowakowski Die Maßnahmekomponente im StGB, Broda-Festschrift, 1977, S. 26; Pfander Inwieweit unterscheiden sich Strafen und Maßnahmen? SchwZStr 59 [1945] 60; Rebhan Fr. v. Liszt und die moderne defense sociale (1963); Sax Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/2 2 , 1972, S. 909; Schäfer/Wagner/Schafheutle Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung (1934); Schmitt Was hat die Strafrechtsreform von der Zweispurigkeit übrig gelassen? Würtenberger-Festschrift Stand: 1. 12. 1991
(2)
Vorbemerkungen
V o r
§ §
6 1
ff
S. 2 7 7 ; Schreiber J u r i s t i s c h e G r u n d l a g e n ( d e r p s y c h i a t r i s c h e n B e g u t a c h t u n g i m S t r a f v e r f a h r e n ) i n V e n z l a f f ( H r s g . ) , P s y c h i a t r i s c h e B e g u t a c h t u n g ( 1 9 8 6 ) S. 1; Schröder Die Vereinheitlichung d e r S t r a f e n u n d d e r s i c h e r n d e n M a ß n a h m e n , Z S t W 6 6 [ 1 9 5 4 ] 1 8 0 ; Schröder D i e „Erforderlichk e i t " v o n S i c h e r u n g s m a ß r e g e l n , J Z 1 9 7 0 9 2 ; Schultz D a s E r b e F r a n z v o n Liszts u n d d i e g e g e n w ä r t i g e R e f o r m s i t u a t i o n i n d e r S c h w e i z , Z S t W 8 1 [ 1 9 6 9 ] 7 8 7 ; Spendet Die kriminalpolitischen A u f g a b e n d e r S t r a f r e c h t s r e f o r m , N J W 1 9 6 0 1 7 0 0 ; Stooß D e r D u a l i s m u s im Strafrecht, S c h w Z S t r 4 1 [ 1928] 5 4 ; Stooß Z u r N a t u r d e r s i c h e r n d e n M a ß n a h m e n , S c h w Z S t r 4 4 [ 1930] 2 6 1 ; Strahl D i e E n t s c h l i e ß u n g e n d e s V I I . I n t e r n a t i o n a l e n S t r a f r e c h t s k o n g r e s s e s in A t h e n , Z S t W 7 0 [ 1 9 5 9 ] 1 5 0 ; Stratenwerth Zur Rechtsstaatlichkeit freiheitsentziehender M a ß n a h m e n im Strafr e c h t , S c h w Z S t r 8 2 [ 1 9 6 6 ] 3 3 8 ; Stratenwerth T a t s c h u l d u n d S t r a f z u m e s s u n g ( 1 9 7 2 ) ; Stree D e l i k t s f o l g e n u n d G r u n d g e s e t z ( 1 9 6 0 ) ; Stree I n d u b i o p r o r e o ( 1 9 6 2 ) ; Victor M a ß r e g e l n d e r B e s s e rung u n d Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgesystem. Eine s c h w e d i s c h e Perspektive, Z S t W 1 0 2 [ 1 9 9 0 ] 4 3 5 ; Weichert S i c h e r u n g s v e r w a h r u n g — v e r f a s s u n g s g e m ä ß ? StrVert. 1 9 8 9 2 6 5 ; Werte J u s t i z — S t r a f r e c h t u n d p o l i z e i l i c h e V e r b r e c h e n s b e k ä m p f u n g i m D r i t t e n R e i c h ( 1 9 8 9 ) ; Zipf K r i m i n a l p o l i t i k 2 ( 1 9 8 0 ) . Weitere Literaturangaben vor den einzelnen Paragraphen.
Entstehungsgeschichte Die Maßregeln der Besserung und Sicherung sind durch das GewVerbrG v. 24.11. 1933 eingeführt und seitdem vielfach verändert worden. Näher dazu Rdn. 5 ff und § 61 Rdn. 4 ff sowie bei den einzelnen Maßregeln selbst. Übersicht Rdn.
Rdn. I. Allgemeines 1. Entwicklung des Maßregelrechts . a) G r ü n d e ; monistisches u n d d u a listisches System b) E i n f ü h r u n g in D e u t s c h l a n d . . . c) Strafrechtsreform (1. und 2. S t r R G ) 2. Die sog. Krisis der Z w e i s p u r i g k e i t . a) G e f ä h r d u n g des S c h u l d p r i n z i p s b) Vermischung u n d N e b e n e i n a n d e r von Strafe u n d M a ß r e g e l n . c) „ E t i k e t t e n s c h w i n d e l " d) E r f o r s c h u n g d e r T ä t e r p e r s ö n lichkeit; Belastungen des Täters 3. Zweck d e r M a ß r e g e l n ; Unterscheid u n g zwischen Zweck u n d Ziel . . a) Genereller Zweck b) Zweck u n d Ziel; Besserung u n d Sicherung c) Zukunftsgerichtete V o r b e u g u n g d) Unterschiede zur Strafe 4. Z u r Rechtfertigung d e r M a ß r e g e l n 5. Verfassungsrechtliche Probleme . . 6. Wissenschaftliche D u r c h a r b e i t u n g des Maßregelrechts II. Prinzipien des Maßregelrechts 1. Rechtsstaatlichkeit 2. Die künftige G e f ä h r l i c h k e i t des Täters a) Freiheitsentziehende Maßregeln b) Maßregeln o h n e Freiheitsentzug (3)
I 1 1 5
3.
7 13 14
4. 5. 6.
15 17
7.
18 20 20 21 26 27 28 32 36 37 37 39 40 43
c) Der G e f a h r b e g r i f f nach materiellem Recht d) D e r G e f a h r b e g r i f f in prozessualer Sicht (in d u b i o p r o reo) . . . Beziehungen zwischen Gefährlichkeit, A n l a ß t a t u n d Persönlichkeit . Z e i t p u n k t der Prognose Das sog. Subsidiaritätsprinzip . . . Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz K u m u l a t i o n s p r i n z i p , Vikariieren, Maßregelkonkurrenz
44 48 52 53 58 64 65
III. Personenkreis (Jugendliche, H e r a n w a c h s e n d e , A u s l ä n d e r ) ; Auslieferung . 68 IV. M a ß g e b e n d e s Gesetz; zeitliche Geltung 71 V. V e r j ä h r u n g 73 VI. Begnadigung u n d Amnestie 74 VII. Strafrechtlicher Schutz 76 VIII. Verfahrensrechtliches 77 1. E n t s c h e i d u n g über die A n o r d n u n g u n d Folgeentscheidungen 77 2. E n t s c h e i d u n g e n im S t r a f v e r f a h r e n u n d Sicherungsverfahren 82 3. Prozeßvoraussetzungen 83 4. N o t w e n d i g e Verteidigung 84a 5. Z u z i e h u n g v o n Sachverständigen . 85 6. V e r ä n d e r t e rechtliche Gesichtsp u n k t e (§ 265 StPO) 87 7. Rechtsmittel 88 8. Verbot d e r r e f o r m a t i o in peius . . . 91 9. M a ß r e g e l n u n d N e b e n k l a g e . . . . 98
Ernst-Walter Hanack
Vor §§ 61 ff
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat Rdn.
Rdn. 2.
10. Vorläufige Anordnungen im MaßIX. Recht des Einigungsvertrages X. Anhang: Bemerkungen zum schen Problem der Prognose . 1. Allgemeine Problematik .
99 100 . . empiri107 . . . . 109
3. 4.
Für die Prognose erhebliche Faktoren (Überblick) 115 Entwicklung und Methoden der Prognoseforschung 119 Methodenstreit. Praxis. Konsequenzen 125
I. Allgemeines 1. Entwicklung des Maßregelrechts 1
a) Gründe; monistisches und dualistisches System. Sinn und Zweck der Strafe sind bekanntlich seit jeher umstritten. Für das traditionelle Verständnis steht aber jedenfalls fest, daß Strafe Schuld voraussetzt und mindestens nicht ausschließlich nach Gesichtspunkten der Spezialprävention bemessen werden kann; so ist — trotz vielfältiger Auflockerungen des Strafensystems — auch im geltenden Recht Grundlage der Strafe die Schuld des Täters (§ 46). Aus diesem Charakter der Strafe ergibt sich, daß sie den Notwendigkeiten der Vorbeugung gegenüber weiteren Taten des Rechtsbrechers nicht immer gerecht werden kann. Daher verfestigte sich in einem komplizierten Entwicklungsprozeß, insbesondere gegenüber vorbeugenden Sicherungsregelungen mehr polizeirechtlicher Art, im Laufe der Zeit der Gedanke, das System der Strafen durch ein System weiterer strafrechtlicher Reaktionsmittel zu ergänzen'. Besondere Bedeutung hat dabei der Versuch von Carl Stooß erlangt, im vorigen Jahrhundert ein solches System in seinen Entwürfen für ein schweizerisches Strafgesetzbuch zu verwirklichen 2 .
2
Dieses dualistische oder zweispurige System (Strafen und davon abgehobene Maßregeln als Reaktionsmittel des Strafrechts) fand, wenn auch mit Unterschieden im einzelnen, später nicht nur in das deutsche StGB, sondern auch in die Strafgesetze vieler anderer europäischer und außereuropäischer Länder Eingang 3 . 3 Im Gegensatz zum dualistischen System stehen Regelungen und Bemühungen, die den Strafen auch die Aufgaben der Vorbeugung vor weiteren Rechtsbrüchen des Täters zuweisen (jedenfalls soweit es nicht um die Sicherung Schuldunfähiger geht) oder, umgekehrt, die Strafe grundsätzlich durch Maßregeln der Besserung und Sicherung ersetzen wollen, also weniger an die Schuld denn an die Gefährlichkeit des Täters anknüpfen (sog. monistische oder einspurige Systeme). So hat Enrico Ferri (Nuovi orizzonti del diritto e della procedura penale, 1881; Das Verbrechen als soziale Erscheinung, 1896) schon im vorigen Jahrhundert gefordert, an die Stelle des bisherigen Strafrechts ein spezifisches Verhütungsrecht zu setzen. Die Forderung ist, in wechselnder Ausprägung, bis heute lebendig geblieben. Sie wird ζ. B. in verschiedenen Varianten von Anhängern der „Defense sociale" vertreten (Überblick bei Zipf Kriminalpolitik, S. 67 ff, Rebhan S. 57 ff). Am weitesten geht insoweit wohl Filippo Gramatica (Principi di difesa sociale, 1961; deutsch 1965), der den Begriff des Verbrechens durch den der Antisozialität ersetzen und generell statt 1
2
Näher z. B. v. Liszt/Schmidt Lehrbuch des dt. Strafrechts 25 , S. 32, 348 ff, 351 m. umfassenden Nachw.; Exner Theorie der Sicherungsmittel, S. 43 ff; auch H. Mayer AT 1953 S. 36 ff. Stooß SchwZStr 41 54; 44 261; näher dazu Schultz ZStW 81 787, 788; Jescheck SchwZStr 73 189.
3
Nachw. ζ. B. bei Jescheck AT § 9 1 ; Lang-Hittrichsen Das Strafensystem im ausländischen Recht, 1955, S. 23 ff; einige weitere Angaben zur — besonders kritischen — Sicherungsverwahrung: LK § 66 Rdn. 10.
Stand: 1. 12. 1991
(4)
Vorbemerkungen
Vor §§ 61 ff
an die Schuld des Täters an seine Gefährlichkeit anknüpfen will (näher H. Kaufmann v. Weber-Festschrift S. 418; vgl. auch Zipf aaO). Davon stark abweichend ist wiederum der Standpunkt der „neuen Sozialverteidigung", wie er etwa von Marc Ancel (La Defense Sociale nouvelle, 1954; deutsch: Die neue Sozial Verteidigung, 1970), dem langjährigen Präsidenten der „Societe Internationale de Defense Sociale", vertreten wird. Ancel anerkennt die Verantwortlichkeit des Menschen, erstrebt aber eine Umgestaltung der Strafrechtspflege mit dem Hauptziel der Wiedergewinnung des Verurteilten für die Gemeinschaft (dazu eingehend Melzer Die neue Sozialverteidigung, sowie JZ 1970 764; vgl. auch Rieg ZStW 81 414). In ähnlicher Richtung bewegen sich Entschließungen der Internationalen Kongresse für soziale Verteidigung 4 , wobei der VIII. Internationale Kongreß wieder mehr zum Schuldprinzip zurückgekehrt ist (1971; vgl. Bericht ZStW 79 946). Wie insbesondere die Monographie von Melzer deutlich macht, bestehen mancherlei Verbindungslinien der „Neuen Sozialverteidigung" zu Ansätzen in der deutschen Strafrechtsreform, namentlich zu Ansätzen des Alternativ-Entwurfs (Melzer S. 102). Ein einspuriges System befürworten z.B. auch Ellscheid/Hassemer S. 27ff (dazu unten Rdn. 12) sowie — mit sehr grundsätzlichen Überlegungen — Baurmann Zweckrationalität und Strafrecht (1987; dazu Feltes Besprechung in GA 1988 524). — So gut wie nichts mit diesen Ansätzen haben jedoch radikale Forderungen zu tun, die in sozialutopischer Weise unter dem Einfluß insbesondere tiefenpsychologischer o d e r / u n d allgemeiner kulturkritischer Gedankengänge auf eine Überwindung des Strafrechts überhaupt abzielen und dabei u.a. für bestimmte Bereiche ein „reines Maßnahmerecht" nach dem „Prinzip der sozialen Gefährlichkeit" als notwendigen Ersatz propagieren 5 ; sie sind beim Stand unserer Entwicklung gegenwärtig nur als Ausdruck des Unbehagens am Strafrecht oder allenfalls als Denkanstöße interessant; vgl. auch Naucke Tendenzen, S. 22. Einspurige Systeme, die — ganz oder vornehmlich — an das Reaktionsmittel der 4 Strafe anknüpfen, werden in ausländischen Rechtsordnungen vielfach verwendet (Nachweise wie in Rdn. 2). In Deutschland hat sich in neuerer Zeit vor allem H. Mayer eindringlich dafür eingesetzt, unter Abschichtung eines fürsorgenden Personenrechts primär einspurige Reaktionen mit Hilfe der Strafe zu begründen 6 . Zu weiteren Forderungen dieser Art, die speziell bei der Bekämpfung des Gewohnheitsverbrechertums eine Rolle spielen, s. unten Rdn. 8. b) Einführung in Deutschland. Das StGB von 1870/71, vornehmlich an der vergel- 5 tenden Strafe orientiert, kannte noch keine Maßregeln der Besserung und Sicherung im heutigen Sinne; es enthielt nur wenige Rechtsfolgen, die zielgerichtet der Sicherung dienten (Polizeiaufsicht, § 38; Aberkennung der Eidesfähigkeit, § 161; Überweisung gemeinlästiger Täter an die Landespolizeibehörde, § 362). Führender Kopf der Reformbewegung, die sich für die Einführung der Zweispurigkeit einsetzte, war Franz v. Liszf. 4
5
6
(5)
Vgl. Berichte Z S t W 6« 696; 68 332; 79 946; n ä h e r dazu auch Händel J R 1956 414; Lombarde JZ 1956 507; Strahl Z S t W 70 150; Jescheck Z S t W 70 693. Stellvertretend: Plack Plädoyer f ü r die Abschaff u n g des Strafrechts, 1974; dazu ζ. B. die Besprec h u n g e n von Hafjke M s c h r K r i m 1975 311 u n d K.Peters J R 1977 86. Insbes. Strafrechtsreform, S. 119 f f ; s. auch H. Mayer A T 1953, § 7, §§ 62 f f ; A T 1967, § 48 f. Ernst-Walter
7
M a r b u r g e r P r o g r a m m , 1882; G e g e n e n t w u r f zum Vorentwurf eines deutschen Strafgesetzbuchs [zus a m m e n mit Goldschmidt. Kahl, Lilienthal], 1911; n ä h e r zu seiner Lehre u n d ihren geistesgeschichtlichen Wurzeln z.B. Eb. Schmidt E i n f ü h r u n g in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege 5 , 1965, S. 362 ff, insbes. 379; Beiträge im G e d ä c h t nisheft Z S t W 81 543—829; Frisch Z S t W 94 565 ff u n d 102 345 ff.
Hanack
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3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Nach längeren heftigen Auseinandersetzungen, dem sog. Schulenstreit (s. z.B. Eb. Schmidt aaO S. 386 ff), setzte sich in Deutschland die Meinung durch, daß die Strafe zwar weiterhin an der Schuld orientiert bleiben müsse oder solle, aber dort, wo sie den erforderlichen Präventionszwecken allein nicht genüge, durch Maßregeln zu ergänzen sei. Das System der Zweispurigkeit wurde seitdem, wenn auch in unterschiedlicher Ausgestaltung namentlich hinsichtlich Zahl und Art der einzelnen Maßregeln, von allen deutschen Entwürfen zu einem neuen StGB übernommen (im Ansatz schon im Ε 1909, vor allem aber in den Ε 1922, 1925, 1927, 1930). 6
Auf diesen Entwürfen fußte dann im Prinzip auch das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung" v. 24. 11. 1933 (RGBl. I S. 995), durch das die Maßregeln der Besserung und Sicherung Eingang in das StGB fanden. — Das GewohnheitsverbrecherG (dazu die Amtl. Begründung, Staatsanzeiger 1933 Nr. 277 sowie der einführende Kommentar von Schäfer/Wagner/Schafheutle, 1934) war freilich nicht unbeeinflußt von nationalsozialistischem Gedankengut 8 , wie namentlich die Einführung der Zwangskastration als Maßregel (§ 42k StGB; s. dazu LK § 61 Rdn. 5) deutlich macht, die in den früheren Entwürfen selbstverständlich nicht vorgesehen war. Im ganzen gesehen kann jedoch das damals eingeführte System der Maßregeln nicht als nationalsozialistisches Unrecht gelten; es wurde auch von der Rechtsprechung und der weit vorherrschenden Lehre nach dem Zusammenbruch nicht als solches verstanden. So blieb es mit gewissen Bereinigungen, Modifizierungen und wichtigen Ergänzungen (vgl. LK § 61 Rdn. 4 ff und die jeweiligen Hinweise zur „Entstehungsgeschichte") auch nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten.
7
c) Strafrechtsreform (1. und 2. StrRG). Erhalten geblieben ist das zweispurige System auch bei der Strafrechtsreform. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Eine Rolle hat nicht nur die Ansicht gespielt, daß sich das System insgesamt bewährt habe. Von Einfluß sind, mindestens in der Akzentuierung, ohne Zweifel auch weitere historische Gründe gewesen (näher Hanack Krim. Gegenwartsfragen 1972, S. 69), nämlich die Erinnerung an die Entartungen der nationalsozialistischen Ära, die bis in die Mitte der sechziger Jahre jene eigentümliche Zwiespältigkeit in den Bemühungen zur Strafrechtsreform zeitigte, einerseits den Menschen in seiner spezifisch sittlichen Verantwortung zu sehen und zu achten (Tendenz zum vergeltenden Schuldstrafrecht), andererseits aber diesen Menschen mit Maßregeln gewissermaßen im Zaum zu halten. Insbesondere jedoch dürfte die gesetzgeberische Entscheidung durch zwei, auch im Schrifttum immer wieder erörterte sachliche Einsichten bedingt sein, über die man nicht hinwegzukommen meinte und — beim heutigen Erkenntnisstand — wohl in der Tat auch nicht hinwegkommen kann: Es sind dies: zum einen die Gefahr, daß die limitierende Funktion des Schuldstrafrechts zum Schaden des Bürgers zerstört werden könnte, wenn die Strafe zu sehr an präventiven Bedürfnissen orientiert wird, weil sie dann beim gefährlichen Täter das Maß seiner Schuld nicht selten und nach ganz bedenklichen Kriterien, etwa dem Gedanken der Lebensführungsschuld (dazu LK § 66 Rdn. 4), überschreiten müßte 9 ; und zum anderen die Gefahr, daß ein reines Maßregelrecht, das vor allem an die Gefährlichkeit des Täters anzuknüpfen hätte, den Bürger leicht zu sehr und ohne Rücksicht auf seine Schuld zum Objekt staatlicher Einwirkungen machen könnte oder " Literatur aus jener Zeit bei Rüping Bibliographie zum Strafrecht im Nationalsozialismus, 1985, 578 f; eingehend Werte Justiz-Strafrecht S. 86 ff.
' In diesem Sinn — nur ζ. B. — Bruns ZStW 71 210, 214f; Spendet NJW 1960 1700, 1702; Begründung ζ. Ε 1962 S. 207; kritisch aber etwa Kaiser ZStW 78 100,107 ff.
Stand: 1. 12. 1991
(6)
Vorbemerkungen
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müßte, was um so bedenklicher wäre, als die Mittel und Methoden einer spezifisch resozialisierenden Einwirkung auf den Rechtsbrecher mindestens noch wenig entwickelt sind und der Stand der Forschung selbst im Bereich der kriminellen Prognose letztlich enttäuschend ist (dazu unten Rdn. 107 ff). Gegenüber der herrschenden Meinung, konnten sich namentlich aus den letzte- 8 ren Gründen (vgl. Horstkotte Tendenzen, S. 14) mancherlei Bedenken und mancherlei Befürwortungen eines mehr monistischen Systems10 nicht durchsetzen. Die Frage war vor allem beim kritischen Problem der Sicherungsverwahrung (dazu LK § 66 Rdn. 7 ff) umstritten. Versucht wurde allerdings, der vielbeschworenen „Krisis der Zweispurigkeit" 9 (Rdn. 13) und bedenklichen Folgen des zweispurigen Systems entgegenzuwirken. Auch wurde die zunächst allzu zwiespältige und bedenkliche Hinwendung zu einem sehr weitgehenden Maßregelrecht, wie sie etwa noch den Ε 1962 kennzeichnet (dazu Hanack aaO S. 69 f), unter dem Einfluß einer verbreiteten Kritik bei den späteren Gesetzesberatungen, insbesondere im Bereich der mehr „lästigen" Kriminalität, nicht unerheblich abgemildert (Einzelheiten bei Erl. der verschiedenen Maßregeln; vgl. auch § 61 Rdn. 7 ff). So zeigt das zweispurige System aufgrund der gesamten Entwicklung nach dem 10 Zweiten Weltkrieg heute in mehrfacher Hinsicht ein erheblich verändertes Gesicht (näher, auch zum folgenden, Hanack aaO S. 68ff): Einmal ist das Strafensystem selbst sehr viel stärker an der gezielt-präventiven Einwirkung ausgerichtet, und zwar namentlich durch vielfältige gesetzliche Möglichkeiten des Verzichts auf die schuldangemessene Strafe klassischer Prägung („Öffnung nach unten") zugunsten „resozialisierungsfreundlicherer" Beeinflussungen und Reaktionen — so im Rahmen der Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 56 ff) und der bedingten Entlassung (§§ 57 ff), durch die Einführung der Verwarnung unter Strafvorbehalt (§§ 59 ff) und des Absehens von Strafe (§ 60), aber auch durch den starken Verzicht auf kurzfristige Freiheitsstrafen (§ 38 Abs. 2, § 47) sowie durch eine Erweiterung prozessualer Befugnisse zur Einstellung wegen Geringfügigkeit (§§ 153 ff StPO). Zum anderen ist das schroffe Nebeneinander von Strafe und Maßregel im Bereich der freiheitsentziehenden Reaktionen durch das Prinzip des Vikariierens (§ 67) nicht unerheblich abgemildert. Schließlich ist das Maßregelsystem selbst in mancherlei Weise stärker an dem Bemühen orientiert worden, mit der Anordnung nur wirklich gefährliche Täter zu treffen, die verschiedenen Einwirkungsformen des Maßregelrechts besser zu koordinieren und die notwendige Durchführung einer Maßregel elastischer und kontrollierbarer zu machen — durch Verschärfung der Eingriffsvoraussetzungen insbesondere bei den freiheitsentziehenden Maßregeln (näher die Erl. zu den §§ 63—66); durch Möglichkeiten des Maßregelaustauschs zum Zwecke der besseren Resozialisierung (§ 67 a) und durch die Regelung der Maßregelkonkurrenz (§ 72); durch die Befugnis, bestimmte Maßregeln zugleich mit der Anordnung zur Bewährung auszusetzen (§ 67 b); durch großzügigere Vorschriften über die Aussetzung nach begonnenem Vollzug (insbes. § 67 d Abs. 2); durch vielfältige richterliche Kontrollpflichten bei der Vollstreckung (ζ. B. § 67 e). 10
(7)
Z . B . Dreher Z S t W 65 489; Dünnebier Z S t W 72 32; Frey SchwZStr 66 295; Haddenbrock NJW 1959 1565; Heinitz ZStW 63 80 f u n d Z S t W 70 1;
Eb. Schmidt Niederschriften Bd. 1, S. 51 f f ; Sieverls Materialien zur S t r a f r e e h t s r e f o r m , Bd. I, S. 109 ff.
Ernst-Walter Hanack
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3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
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Insgesamt ist auf diese Weise ein Reaktionssystem entstanden, das, insbesondere in der Abgrenzung von Strafe und Maßregel (s. Rdn. 27), vielleicht nicht immer logisch zwingend ist, ohne Zweifel auch Schwächen und kritische Punkte enthält, im Kern aber durch die Hinwendung zu einem System charakterisiert wird, das — bei Strafen wie Maßregeln — in erster Linie auf die kriminalpolitisch sachgerechte Einwirkung hinzielt (Hanack aaO S. 70 ff).
12
Es mag sein, daß das System nur eine Übergangslösung darstellt (Naucke Strafrecht § 3 IV 3 b) und spätere Generationen zu besseren Einsichten kommen. Zu einfach ist es aber jedenfalls, heute seinen Ersatz durch einspurige Lösungen, etwa ein System „Strafe ohne Vorwurf" {Ellscheid/Ηassemer S. 27 ff) zu propagieren, bei dem der vage „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" „als Maßprinzip" (so Ellscheid/Hassemer) im Mittelpunkt steht. Nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnis läuft das eher auf eine Verschleierung der Sachprobleme oder aber „auf einen neuen Namen für eine alte Sache" h i n a u s " . Es ist doch wohl bezeichnend für die vorhandenen Sachschwierigkeiten, daß die Überlegungen zum Ersatz des zweispurigen Systems noch immer in zwei ganz konträre Richtungen laufen (einerseits Ersatz durch Strafe, andererseits durch Maßregeln).
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2. Die sog. Krisis der Zweispurigkeit. Die Eigenart der Maßregeln sowie das Nebeneinander von Strafen und Maßregeln schafft Probleme, die als „Krisis der Zweispurigkeit" seit langem und in den verschiedensten Zusammenhängen erörtert werden, wobei diese Erörterung, auch im Ausland, gerade in jüngster Zeit wieder sehr lebhaft ist und zunehmendes Unbehagen artikuliert 12 . Es geht dabei insbesondere um die folgenden — alten und neuen, meist untrennbar miteinander verzahnten — Fragen, die hier nur angedeutet, nicht aber im einzelnen abgehandelt werden können.
14
a) Gefährdung des Schuldprinzips. Da die Maßregeln nicht an die spezifischen Begrenzungen des Schuldstrafrechts gebunden sind, besteht die Gefahr, daß die positiven Aspekte des Schuldprinzips unterlaufen werden. Dieser Gefahr wird durch die rechtsstaatliche Festlegung der Maßregel-Voraussetzungen und ihrer Vollstreckung, aber auch durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. § 62: „außer Verhältnis"), nur bedingt gesteuert; es ist kaum zweifelhaft, daß das Sonderopfer, das dem gefährlichen Täter — über seine Schuld hinaus — durch Maßregeln abverlangt wird, auch im neuen Recht vielfach problematisch bleibt (vgl. nur LK § 63 Rdn. 10). Das „Gegengewicht" des „sparsamen Gebrauchs in der Praxis", das Jeschek (AT § 9 II 2) u. a. nennt, enthält daher ein berechtigtes Anliegen, ist aber, zumal beim zwingenden Charakter der meisten Maßregeln, keine klar faßbare juristische Kategorie.
15
b) Vermischung und Nebeneinander von Strafen und Maßregeln. Die Vermischung von Strafen und Maßregeln, die sich gerade aufgrund der Hinwendung zu einem entscheidend an der kriminalpolitisch sachgerechten Einwirkung orientierten Sanktionensystem (Rdn. 11) immer stärker bemerkbar macht, zeigt deutlich, daß beide Sanktionsformen letztlich nur unterschiedliche Mittel zur Erreichung desselben Ziels dar11
So Jakobs Schuld u n d Prävention, S. 6 f; vgl. auch Arth. Kaufmann Lange-Festschrift, S. 31, u n d Wassermann-Festschrift, S. 889; Müller-Dietz G r u n d f r a g e n , S. 23 f; Stratenwerth Die Z u k u n f t des strafrechtlichen Schuldprinzips, 1977, S. 20; Kim Z u r Fragwürdigkeit u n d N o t w e n d i g k e i t des strafrechtlichen Schuldprinzips, 1987.
12
Dazu — mit zahlreichen N a c h w e i s e n u n d Einzelheiten — n ä h e r i n s b e s o n d e r e : Kaiser Krise; Kaiser Pallin-Festschrift S. 183 f f ; Frisch Z S t W 102 351 f f ; vgl. auch Küpper Z S t W 102 448 sowie die Beiträge zum ausländischen Recht von Buchata, Musco u n d Victor Z S t W 102 394 ff, 415 ff, 435 ff.
Stand: 1. 12. 1991
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Vorbemerkungen
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13
stellen . So tragen heute Strafen oft maßregelähnliche Züge, wie etwa die Strafaussetzung zur Bewährung, die als Schuldstrafe traditionellen Stils kaum noch gelten kann (näher ζ. B. Müller-Dietz Grundfragen, S. 60, 69 ff) und oft die Funktion der Maßregel Führungsaufsicht übernehmen könnte (vgl. LK Rdn. 21 f vor § 68; § 64 Rdn. 85 ff). Teils zeigen aber auch Maßregeln in gewissem Maße Strafcharakter, so insbesondere vielleicht die Entziehung der Fahrerlaubnis, bei der der Präventionsgedanke letztlich zur Abschreckung verdünnt ist und unzweifelhaft Aspekte auch der echten Tatvergeltung vorhanden sind (Hanack Krim. Gegenwartsfragen 1972, S. 70 m. Nachw.). Hieraus resultieren schon bei Anordnung der einzelnen Strafarten und Maßregeln fiir sich mancherlei Schwierigkeiten. Berechtigt ist aber vor allem die Forderung, bei gleichzeitiger Verhängung von 16 Strafe und Maßregeln beide Reaktionen „als aufeinander abgestimmte Wirkungseinheit" zu begreifen 14 . Der Gesetzgeber ist dieser Forderung nun zwar bei der Strafrechtsreform durchaus entgegengekommen (Rdn. 10). Die Forderung ist aber dennoch auch heute in erheblichem Umfang schwer zu verwirklichen, insbesondere weil zweifelhaft geblieben ist, ob oder wie weit bei der Strafzumessung die Wirkung einer gleichzeitig verhängten Maßregel berücksichtigt werden darf. Der BGH hält es, systematisch wohl mindestens im Ansatz zu Recht, bei den unterschiedlichen Funktionen und den unterschiedlichen Anknüpfungspunkten von Strafe und Maßregel nach wie vor für unmöglich, allein im Hinblick auf eine gleichzeitig verhängte Maßregel das Maß der schuldangemessenen Strafe zu unterschreiten (BGHSt. 24 132 m. w. Nachw.). Für seine Ansicht spricht nicht nur, daß unbestrittenermaßen eine Überschreitung der schuldangemessenen Strafe unter Verzicht auf eine an sich gebotene Maßregel unzulässig ist (statt aller: BGHSt. 20 264; BGH JZ 1988 264); vielmehr hat der Gesetzgeber selbst diese Ansicht im Bereich der freiheitsentziehenden Maßregeln durch das Prinzip des Vikariierens (§ 67) mittelbar bestätigt (Marquardt S. 158). Vorhandene Bemühungen, der Problematik im Rahmen der Strafzumessungsgrundsätze des § 46 zu begegnen 15 , stecken noch durchaus in den Anfängen und lassen sich bei der Logik des Systems dogmatisch überzeugend auch schwer realisieren 16 . c) „Etikettenschwindel". Ein „Etikettenschwindel" (Kohlrausch ZStW 44 33) 17 droht jedenfalls bei den freiheitsentziehenden Maßregeln, soweit sie sich im praktischen Vollzug von der Freiheitsstrafe nicht eindeutig unterscheiden lassen 17 . Ob das vikariierende Prinzip des § 67, das im 2. StrRG eingeführt wurde, dagegen wirklich ,,in beachtlichem Umfang" (so Jescheck AT § 9 II 2) hilft, mag insbesondere nach seiner Abschwächung durch das 23. StRÄndG (s. § 67 „Entstehungsgeschichte") zweifelhaft sein. Das System bleibt aber jedenfalls fragwürdig und hebt den „Schwindel" nicht auf, soweit und solange die dem § 67 zugrundeliegende gesetzliche Erwartung, daß der Vollzug der freiheitsentziehenden Maßregel für die Resozialisierung des Täters mehr leistet als der Strafvollzug (dazu LK § 67 Rdn. 6), nach Ausstattung und Kapazität der Unterbringungsanstalten mit der Realität nicht übereinstimmt. Daß insoweit Probleme bestehen, ist jedoch kaum zu bezweifeln (s. LK § 63 Rdn. 10; § 64 Rdn. 17, Rdn. 103; vgl. auch § 67 Rdn. 60ff). Näher dazu z.B. Arth. Kaufmann J Z 1967 554; Bruns Strafzumessungsrecht 1974 S. 228; Horn SK § 61 Rdn. 4; Jescheck AT § 9 I 1; vgl. auch Maurach/Zipf§7. Zipf \η Roxin u. a., E i n f ü h r u n g in das neue Strafrecht, S. 106 m. Nachw.; Müller-Dietz G r u n d f r a gen, S. 67.
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17
Vgl. m. w. Nachw. insbesondere Bruns Leitfaden S. 65 ff; Bruns Recht der Strafzumessung S. 87 f; B G H bei Theune StrVert. 1985 163. Vgl. dazu und zum Ganzen Marquardt S. 157 ff; Horn SK § 46 Rdn. 140; Sch/Schröder/Stree § 46 Rdn. 70 f. Vgl. Jescheck AT § 9 II 2; Müller-Dietz G r u n d f r a gen S. 71 ff.
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§§ 61 ff
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
d) Erforschung der Täterpersönlichkeit; Belastungen des Täters. Die Erforschung der Täterpersönlichkeit, insbesondere seiner weiteren Gefährlichkeit, ist das zentrale Problem des Maßregelrechts, weil es (s. Rdn. 39 ff) stets um diese Gefährlichkeit bzw. ihre Abwehr geht. Zweifelhaft ist aber, ob nach dem Stand der Prognoseforschung (dazu Rdn. 107 ff), zumal angesichts der äußerst differenzierten Gesetzesregelungen, insoweit im Einzelfall genügend verläßliche Feststellungen und Aussagen immer möglich sind. Zweifelhaft ist darüber hinaus, ob in der Bundesrepublik heute oder in absehbarer Zeit genügend qualifizierte Gutachter zur Verfügung stehen 18 . Problematisch ist weiter, ob der Strafprozeß als im wesentlichen „reines Tatermittlungsverfahren" (Jescheck AT § 9 II 2; vgl. auch Naucke Tendenzen, S. 29, 41) auf die Aufgabe der Persönlichkeitserforschung wirklich ausreichend zugeschnitten ist.
19
Ebenso bedrückend ist aber auch die gewissermaßen umgekehrte Frage, wieweit die vom Gesetz fast naiv vorausgesetzte Persönlichkeitserforschung im Strafprozeß überhaupt zulässig oder wünschenswert sein kann. v. Hippel (Reform, S. 28 f) hat nicht unrecht, wenn er formuliert, daß „bisher noch kein genereller Skandal um die Maßregeln entstanden" sei, beruhe vor allem auf der „klugen, aber vielfach angegriffenen Selbstbeschränkung" der Praxis, die die Beweisaufnahme über den Täter „in seiner ganzen Personalität" einfach limitiere, ζ. B. durch weitgehende Beschränkung auf die Methoden der klinischen Psychopathologie. Es ist kaum vorstellbar, wie ein Strafverfahren ohne unerträgliche Belastung für Menschenwürde und Persönlichkeit des Betroffenen ablaufen sollte, wenn das „volle Explorationsprogramm" (v. Hippel), das die moderne Wissenschaft in ihren verschiedenen Zweigen und Verzweigungen heute zur Erforschung der Täterpersönlichkeit kennt, wirklich ausgenutzt würde, wie das bei Anwendung der klassischen Grundsätze über die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) wohl erforderlich wäre (vgl. dazu auch Nowakowski Krim Gegenwartsfragen 1972, S. 13, 14). 3. Zweck der Maßregeln; Unterscheidung zwischen Zweck und Ziel
20
a) Genereller Zweck. Die einzelnen Maßregeln knüpfen jeweils an recht unterschiedliche Voraussetzungen an und verfolgen nach Art, Stoßrichtung und Einwirkungsmitteln punktuell ζ. T. durchaus verschiedenartige kriminalpolitische Belange. So verstanden, kann man mit Lang-Hinrichsen (LK 9 Rdn. 4 vor § 42 a) schon davon sprechen, daß sich der Zweck der Maßregeln in erster Linie aus dem Gesetz ergibt. Über diese Verschiedenartigkeiten hinweg ist jedoch den Maßregeln, entsprechend auch ihrem historischen Entstehungsgrund, in all ihren Einzelausprägungen ein genereller Zweck gemeinsam: Sie sind, wie die einzelnen Vorschriften zeigen, nur anzuordnen, wenn die Gefahr besteht, daß der Täter weitere Straftaten begeht. Dies gilt auch für § 69, wo freilich die Gefahr weiterer Straftaten schon daraus gefolgert wird, daß sich der Täter durch eine rechtswidrige Tat als „zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet" erwiesen hat (näher Geppert LK, Erl. zu § 69). Genereller Zweck aller Maßregeln ist mithin die Gefahrenabwehr, die Vorbeugung gegenüber künftigen Straftaten. Die Maßregeln schützen damit speziell Interessen der öffentlichen Sicherheit. Sie sind sozialethisch indifferente (Horn SK § 61 Rdn. 2), ausschließlich spezialpräventiv-zweckgerichtete, auf den einzelnen gefährlichen Täter bezogene Maßnahmen. 18
Vgl. dazu schon den Bericht über die Lage der Psychiatrie S. 421 f u n d neuestens Witter in Witter (Hrsg.), Der psychiatrische Sachverständige im
Strafrecht (1987) S. 28 f; H.-J. Horn M s c h r K r i m 1989 9 7 f f , insbes. S. 100; s. auch LK § 63 R d n . 129; § 64 R d n . 135 a. E.
Stand: 1. 12. 1991
00)
Vorbemerkungen
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b) Zweck und Ziel; Besserung und Sicherung. Von diesem allgemeinen Zweck aller 21 Maßregeln zu unterscheiden sind der Weg und die Mittel, mit deren Hilfe das Gesetz der weiteren Gefährlichkeit des Täters zu begegnen sucht 19 . Es ergibt sich auf diese Weise, wie in Rechtsprechung und Lehre vielfach nicht klar genug erkannt wird, eine Unterscheidung zwischen dem allgemeinen Zweck jeder Maßregel und ihrem konkreten Ziel, die mit der Unterscheidung zwischen Besserung und Sicherung zusammenhängt und bei den freiheitsentziehenden Maßregeln an der Normierung spezifischer Vollzugsziele im StVollzG besonders deutlich wird: Grundsätzlich können die Maßregeln ihren generellen Zweck sowohl durch die 22 bessernde Einwirkung auf den Täter als auch durch seine Sicherung erreichen. Dem Wesen eines rechtsstaatlich-humanen Strafrechts entspricht es, daß der Gedanke der Besserung Vorrang hat, die Sicherung also erst und nur dann in den Vordergrund tritt oder gar zum alleinigen Maßregelzweck wird, wenn eine Besserung nicht möglich erscheint. Dies ist vor allem deswegen geboten, weil die Maßregeln nicht an die Schuld, sondern an die, eventuell ganz unverschuldete, Gefährlichkeit des Täters anknüpfen und ihm insoweit ein Sonderopfer auferlegen. Der Gesetzgeber selbst hat, in Abkehr vom früheren Recht, diese Vorrangstellung der Besserung bei der Strafrechtsreform auch äußerlich durch die Titelüberschrift zum Ausdruck gebracht: „Maßregeln der Besserung und Sicherung", statt, wie früher, der „Sicherung und Besserung" (dazu Ε 1962 S. 207). Ein Vorrang der Sicherung wäre auch verfassungsrechtlich bedenklich ( Η . Mayer AT 1967 S. 179). Der Vorrang des Besserungsgedankens darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, 23 daß eine scharfe Trennung der beiden Ziele nicht immer möglich ist, schon weil ζ. B. jede Besserung (oder jeder Besserungsversuch) durch Unterbringung in einer freiheitsentziehenden Maßregel für die Zeit der Unterbringung auch eine Sicherung bedeutet. Vor allem aber ist zu beachten, daß die Maßregeln im Hinblick auf das Verhältnis 24 von Besserung und Sicherung durchaus unterschiedlich akzentuiert sind (Einzelheiten bei Erl. der jeweiligen Maßregeln). So steht bei der Unterbringung in der Entziehungsanstalt (§ 64) das Besserungsziel stark im Vordergrund. Die Maßregel wird überhaupt nur zur Verfügung gestellt, wenn das Ziel erreichbar erscheint; sonst muß der Richter auf ihre Anordnung verzichten (§ 64 Abs. 2; näher LK § 64 Rdn. 91 ff)· Bei der Sicherungsverwahrung (§ 66) hingegen geht es nach der Art des Täterkreises vornehmlich um die Sicherung, wie auch die Umschreibung des Vollzugsziels in § 129 StVollzG zeigt, während bei der Führungsaufsicht (§ 68) Besserung und Sicherung geradezu untrennbar verschlungen sind oder sein können. Zu betonen bleibt, daß das Besserungsziel allein die Anordnung einer Maßregel 25 nie rechtfertigt, weil die Besserung immer auf den Zweck bezogen sein muß, der Gefahr weiterer Straftaten vorzubeugen. Denn „eine ,Besserung' des Täters interessiert das Strafrecht nur insoweit, als sich diese im Erlöschen der Gefährlichkeit des Täters auswirkt, sich also auf die Sicherung der Gesellschaft vor künftigen Rechtsbrüchen des Täters bezieht" (Maurach AT4 § 67 II 4). Alles andere wäre falsch verstandene Humanität, nämlich Inanspruchnahme des Strafrechts zu Einwirkungen, die nicht mehr seine Aufgabe sind (dazu — besonders deutlich — ζ. B. LK § 64 Rdn. 3 ff), sondern in der gefährlichsten Weise seiner rechtsstaatlichen Funktion und Begrenzung widersprächen. " Vgl. auch H.-J. Horn S. 485; Zipf A T § 6 7 R d n . 9 ff. (Μ)
Maurach/Gössel/
Ernst-Walter Hanack
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3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
c) Zukunftsgerichtete Vorbeugung. Bei ihrem allgemeinen Zweck, künftige Straftaten zu verhindern, knüpfen die Maßregeln, wie bemerkt, durchweg an die Gefährlichkeit des Täters an, und zwar im Hinblick auf die Gefahr weiterer Straftaten. Unterschiedlich sind — je nach Art und Schwere der Maßregel — nur die Bezugspunkte und der Grund der Gefährlichkeit (näheres bei den Einzelkommentierungen). So wird ζ. B. bei der Sicherungsverwahrung (§ 66) ein „Hang zu erheblichen Straftaten" bestimmter Art verlangt, während bei der Führungsaufsicht (§ 68) lediglich die „Gefahr weiterer Straftaten" erforderlich ist und bei der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69) sogar reicht, daß der Täter aufgrund einer begangenen Tat zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet erscheint. Durch das Abstellen auf die — unterschiedlich strukturierte — Gefährlichkeit sind die Maßregeln auf die Zukunft gerichtet. Sie sollen künftige Rechtsbrüche ohne Rücksicht darauf verhindern, ob die Täterschuld für sich allein so schwere Eingriffe rechtfertigt. Mit der Strafe haben die Maßregeln dabei zwar die Begehung einer Straftat oder doch einer rechtswidrigen Tat als Ausgangspunkt der Beurteilung („Anlaßtat") gemeinsam. Sie unterscheiden sich jedoch von der Strafe insbesondere durch ihre betonte Vorbeugungsaufgabe als dem sie rechtfertigenden eigentlichen G r u n d ; vgl. auch den folgenden Text.
27
d) Unterschiede zur Strafe. Eine begrifflich scharfe Abgrenzung zur Strafe ist heute kaum noch möglich, weil (s. oben Rdn. 10) mittlerweile auch die Strafe stark auf die kriminalpolitisch zweckmäßige Einwirkung ausgerichtet ist. Der Täter selbst wird beide Reaktionen meist in gleicher Weise als Übel empfinden. Die Frage des Unterschieds wird im Schrifttum viel erörtert (zusammenfassend Frisch ZStW 102 356 ff). Aufgrund ihres spezifischen Zwecks und unbeschadet ihrer Berührungspunkte unterscheiden sich — wiederholend und ergänzend zusammengefaßt — die Maßregeln von der Strafe vor allem in folgender Richtung: (1) durch den genannten, sie rechtfertigenden Grund der speziellen Vorbeugungsaufgabe (Rdn. 26), die nicht an die Tatschuld anknüpft; (2) durch den ebenfalls schon genannten spezifischen Zweck der Gefahrenabwehr, bezogen auf die Begehung weiterer Straftaten (Rdn. 20); (3) durch die daraus folgende ausschließliche Stoßrichtung gegen noch unbestimmte künftige Rechtsbrüche; (4) durch besondere Bedeutung der Zweckerreichung, die grundsätzlich zum Verzicht auf die Vollstreckung oder die weitere Vollstreckung zwingt, sobald die Gefährlichkeit des Täters nicht mehr besteht oder nicht mehr zu vermuten ist, und die darum in hervorgehobenem Maße die ständige Überprüfung des Maßregelvollzugs verlangt; (5) durch die — mit dem vorigen zusammenhängende — Bedeutung des sog. Subsidiaritätsprinzips (näher Rdn. 58 ff), d. h. der richterlichen Pflicht, die Anordnung (streitig), Vollstreckung oder weitere Vollstreckung zu unterlassen, wenn oder sobald sich zeigt, daß mildere Mittel geeignet sind, die Gefahr weiterer Straftaten auszuschließen; (6) durch die — ebenfalls mit der Zweckerreichung zusammenhängende — Tendenz zur unbestimmten Dauer, die nur bei der Entziehung der Fahrerlaubnis in gewissem Sinne durchbrochen wird (§ 69 a; vgl. aber § 69 a Abs. 7), im übrigen jedoch unbeschadet selbst bestimmter Höchstfristen besteht; (7) durch das Vorhandensein bestimmter Persönlichkeitszüge des Betroffenen Stand: 1. 12. 1991
(12)
Vorbemerkungen
Vor §§ 61
ff
(ζ. B. seelische Störungen, Süchtigkeit, Hang), die jedenfalls bei den freiheitsentziehenden Maßregeln die spezifische Gefährlichkeit für die Zukunft ergeben; (8) durch die prinzipielle, vom Gesetzgeber allerdings weithin doch beachtete Nichtgeltung des Rückwirkungsverbots (§ 2 Abs. 6; näher dazu Rdn. 71 f)· 4. Zur Rechtfertigung der Maßregeln. Grundsätzlich liegt den Maßregeln, wie dar- 28 gelegt (Rdn. 20), der Zweck zugrunde, im Interesse der öffentlichen Sicherheit künftige Straftaten durch spezialpräventive Einwirkungen auf den gefährlichen Täter zu verhindern. Allein von diesem Zweck her erfahren die Maßregeln auch ihre Rechtfertigung, und zwar 20 unbeschadet ihrer auch erforderlichen Begrenzung durch die elementaren Maßstäbe der Rechtsstaatlichkeit. Es erscheint nötig, auf diese „nüchtern festzustellende Tatsache" {Schmidhäuser AT 21 / 8 Fußn. 4) immer wieder hinzuweisen, weil sich nur von daher — vom Gesetzgeber wie vom Richter — die so kritische Frage beurteilen läßt, wann der über die Schuld hinausgreifende Eingriff in die Rechtsgüter des Betroffenen berechtigt ist: Maßregeln sind nur zulässig unter dem Gesichtspunkt des Gemeininteresses an der Verbrechensverhütung und setzen voraus, daß das Gemeininteresse gewichtiger ist als die aufzuopfernden Interessen des Individuums 21 . Sax hat insoweit treffend die Zulässigkeit auf den Gedanken des Rechts der Ge- 29 meinschaft zur Notwehr bezogen (S. 964 ff) 22 . Wiederholt ist versucht worden, die Maßregeln auch ethisch zu begründen, weil 30 Zweckerwägungen allein einen so schweren Eingriff in Persönlichkeitsrechte nicht rechtfertigen könnten 2 3 . Danach sollen die Maßregeln auf dem allgemeinen sozialethischen Gedanken beruhen, daß am Gemeinschaftsleben nur der ungeschmälert teilnehmen könne, der imstande sei, sich von den Normen des Gemeinschaftslebens leiten zu lassen: Alle äußere oder soziale Freiheit rechtfertige sich letztlich aus dem Besitz der inneren oder sittlich gebundenen Freiheit. Wer dieser Freiheit überhaupt nicht fähig sei (Geisteskranke), oder infolge von schlechten Anlagen, Lastern und Gewohnheiten nicht mehr hinreichend mächtig sei, könne die volle soziale Freiheit nicht beanspruchen. Mit dem letzteren Gesichtspunkt ist insbesondere das Institut der Sicherungsverwahrung gegenüber Zustandsverbrechern gerechtfertigt worden. So anerkennenswert solche Bemühungen sind, und so sehr sie fortgesetzt werden 31 sollten, weil das Strafrecht der ständigen Auseinandersetzung mit der Ethik bedarf, so problematisch, ja gefährlich sind sie jedenfalls in ihrer bisherigen Gestalt. Das zeigen etwa die Einwendungen Stratenwerths2A, der sehr zu Recht geltend macht, daß der geschilderte Gedanke nur eingreifen könne, soweit das Unvermögen des Täters, seine Freiheit recht zu gebrauchen, strafrechtlich als Ausschluß oder Verminderung der Schuldfähigkeit anerkannt werde; für Maßnahmen gegen voll verantwortliche 20
21
Vgl. dazu, in z.T. etwas anderer Akzentuierung, Müller-Dietz Grundlagen S. 72; Maurach/ Gössel/Zipf AT § 67 Rdn. 15; Jescheck AT § 9 II 1. Siratenwerlh AT1 Rdn. 40; einschränkend im Hinblick auf § 67 aber AT2 Rdn. 53 und AT 3 Rdn. 35, Rdn. 36 a.E.; Nowakowski S. 101; Heinitz Stato di diritto, S. 39; vgl. auch Jescheck AT § 9 II 1; differenzierend Jakobs 1/55 ff; a.A. Lang-Hinrichsen L K ' Rdn. 14 Vor § 42 a, der rügt, daß bei dieser Begründung der „utilitaristische Gesichtspunkt im Vordergrund" stehe; dazu im folg. Text.
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Bedenken dagegen aber ζ. B. bei Nowakowski S. 108; H. Mayer AT 1953 S. 38; Jakobs AT 1/54; vgl. auch Frisch ZStW 102 366 f. Wehet Lehrbuch § 32 III; Bockelmann Schuld und Sühne, S. 21 f und Niederschriften Bd. 1, S. 56, 247; Gallas Niederschriften Bd. 4, S. 55; Bruns ZStW 71 210, 211 f; Lang-Hinrichsen aaO sowie in: Betrachtungen zur Strafrechtsreform, S. 120 und in Gutachten zum 43. DJT, S. 43. AT1 Rdn. 39; etwas anders aber AT 3 Rdn. 35; vgl. auch Nowakowski S. 101; Frisch ZStW 102 364 ff; Jakobs AT 1/54.
Ernst-Walter Hanack
Vor
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3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Rechtsbrecher versage er hingegen, so zur Begründung der Sicherungsverwahrung gegenüber dem gefährlichen Hangtäter, von dem man nur sagen könne, daß er von seiner Freiheit keinen rechten Gebrauch gemacht hat, nicht aber, daß er dazu unfähig sei. Diesen Bedenken läßt sich auch nicht durch die Überlegungen von Stree (Deliktsfolgen, S. 222 f; zustimmend aber Lang-Hinrichsen LK9 Rdn. 14 vor § 42 a) Rechnung tragen, daß derjenige, der seine Freiheitsrechte in gemeinschaftswidriger Weise ausübe, insoweit keinen Schutz verdiene, so daß sein Anspruch auf Freiheit wegen seines Verhaltens vermindert sei. Vielmehr wird gerade an dieser Überlegung der eigentlich kritische Punkt der ethischen Argumentation deutlich: die Gefahr, daß mit Hilfe des Freiheitsgedankens bzw. des Gedankens von der Verwirkung der Freiheit Eingriffe in einer Weise gerechtfertigt werden oder werden können, die über die notwendige Beschränkung auf überwiegende Gemeinschaftsinteressen, auf die Notwehr der Gemeinschaft i. S. von Sax (Rdn. 29), hinausgehen. Daß es sich insoweit um durchaus praktische Gefahren handelt, mag das Beispiel der Sicherungsverwahrung zeigen, die nach früherem Recht vielfach nur Kleinkriminelle traf (s. LK § 66 Rdn. 6, 25); dem entgegenzuwirken, wäre die geschilderte ethische Begründung im Grunde ganz unfähig. 32
5. Verfassungsrechtliche Probleme. Die Frage, ob oder in welchem Umfang Maßregeln verfassungsrechtlich zulässig sind, hängt eng mit der im vorigen behandelten Frage ihrer Rechtfertigung zusammen, wird aber von der dortigen Kritik an den Bemühungen zur ethischen Begründung der Maßregeln nicht berührt. Geht man davon aus, daß die Freiheit, die dem einzelnen durch die Grundrechte garantiert wird, eine gemeinschaftsgebundene Freiheit ist (BVerfGE 7 320, 323; vgl. auch BVerfGE 12 45, 51; 28 157, 189 u. ö.), sind vorbeugende Maßnahmen gegen den Störer, auch in Form der Freiheitsentziehung, mit dem Grundgesetz prinzipiell vereinbar. Das entspricht auch der ganz herrschenden Meinung. Freilich müssen die Maßregeln dabei den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen. 33 Insoweit sind vor allem gegen die Sicherungsverwahrung (§ 66) Bedenken erhoben worden (näher LK § 66 Rdn. 10 ff). Sie betreffen insbesondere die Frage eines Verstoßes gegen die Menschenwürde, speziell durch die Art des Vollzugs, aber auch die unbestimmte Dauer der Verwahrung und die damit verbundenen Beeinträchtigungen (zuletzt Weichen StrVert. 1989 165). Es besteht auch beim Sicherungsverwahren die verfassungsrechtliche Pflicht, den Betroffenen als Mitglied der Gemeinschaft zu achten und die Möglichkeiten seiner Resozialisierung auszunutzen. Die Auffassung von BVerfGE 2 188, 191 = NJW 1953 577, daß bei der Sicherungsverwahrung nur ein Verstoß gegen Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG (Verbot der seelischen und körperlichen Mißhandlung) verfassungswidrig sei, ist insoweit zu eng; sie dürfte auch mit der heutigen Rechtsprechung des BVerfGE zum Strafvollzug (BVerfGE 35 205, 235; 36 264, 275; JZ 1976 S. 22, 23) nicht mehr im Einklang stehen. Zu den daraus resultierenden verfassungsrechtlichen Problemen und Konsequenzen s. LK § 66 Rdn. 22, 22 a, auch 182). 34 Gegen die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63) und in einer Entziehungsanstalt (§ 64) lassen sich nach dem Gesagten — und unter den genannten Voraussetzungen eines sachgerechten Vollzugs (dazu näher bei § 63 und § 64) — grundsätzliche Bedenken kaum erheben. Sie folgen insbesondere nicht aus der primären Orientierung am Vollzugsziel der Besserung (§§ 136, 137 StVollzG), weil dieses Ziel nur eine besondere, ja gebotene Ausrichtung (s. Rdn. 22,25) der verfassungsrechtlich zulässigen Vorbeugung vor weiteren Straftaten darstellt (näher Stree DeStand: 1. 12. 1991
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Vorbemerkungen
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liktsfolgen, S. 224 ff). Verfassungsrechtlich sensible Fragen, die mittlerweile auch den Gesetzgeber beschäftigen (BT-Drucks. 10/5828, 11/2507), ergeben sich bei § 63 jedoch nicht nur im Einzelfall (vgl. LK § 62 Rdn. 6) aus der unbefristeten Dauer der Unterbringung (näher LK § 63 Rdn. 10,14). Verfassungsrechtlich fragwürdig ist auch die auf § 64 bezogene Folgevorschrift des § 67 Abs. 4 Satz 2 (vgl. OLG Celle NStZ 1991 376 mit Anm. Müller-Dietz und dazu LK § 67 Rdn. 22). Und verfassungsrechtlich nicht haltbar erscheint § 67 Abs. 4 Satz 1 i. d. F. des 23. StRÄndG, wonach beim Vorwegvollzug der Unterbringung nach § 63 und § 64 die Anrechnung dieses Vollzugs auf zwei Drittel der Strafe beschränkt wird (vgl. OLG Celle aaO und dazu LK § 67 Rdn. 19). Die Maßregeln ohne Freiheitsentziehung (Führungsaufsicht, Entziehung der 35 Fahrerlaubnis, Berufsverbot) erscheinen unter den genannten Gesichtspunkten nicht verfassungswidrig, so problematisch die Führungsaufsicht in Grenzbereichen sein mag. Verfassungsrechtlich anfechtbar ist bei ihr jedoch die in Teilen gänzlich überzogene und insoweit nicht mehr tolerierbare Strafbewegung des § 145 a beim Verstoß gegen einzelne Weisungen gemäß § 68 b Abs. 1 (s. dazu näher LK § 68 b Rdn. 13 ff, insbes. 18). Auch ergeben sich gerade bei der Führungsaufsicht Probleme des Übermaßverbots, die nicht nur zu bestimmten verfassungskonformen Auslegungen zwingen (LK § 68 e Rdn. 24 f), sondern in seltenen Einzelfällen dazu führen, daß der Richter an eine zwingende Normierung nicht gebunden ist (aaO Rdn. 18). Beim Berufsverbot, das auch Art. 12 G G einschränkt, bestehen namentlich gegenüber Presseangehörigen besondere Probleme im Hinblick auf die durch Art. 5 G G garantierte Pressefreiheit, im Hinblick auf das sog. Parteienprivileg des Art. 21 Abs. 2 und das Verwirkungsproblem nach Art. 18 G G ; s. dazu im einzelnen die Erl. zu § 70.
6. Wissenschaftliche Durcharbeitung des Maßregelrechts. Die dogmatische Durch- 36 arbeitung des Maßregelrechts entspricht, unbeschadet verdienstlicher Einzelbeträge aus Praxis und Lehre, nicht dem wünschenswerten Stand. Die Ansicht von Zipf (in Roxin u. a., Einführung in das neue Strafrecht, S. 102), der von einem „wissenschaftlichen Entwicklungsgebiet" spricht, gilt auch heute noch. Schmerzlich ist insbesondere das Fehlen eines rechtsgrundsätzlichen „Allgemeinen Teils". Wenn Zipf (aaO) die Darstellung der Prinzipien des Maßregelrechts in der — im folgenden fortgeführten — Bearbeitung durch Lang-Hinrichsen (LK 9 Rdn. 21 ff vor § 42 a) als „ausbaufähige Grundlegung" hervorhebt, so kennzeichnet dies die Situation. Denn bei aller Verdienstlichkeit der Ausarbeitung von Lang-Hinrichsen: Sie kann, ebenso wie ihre Fortführung, bei den beschränkten Möglichkeiten auch eines Großkommentars eine solche Grundlegung schlechterdings nicht leisten oder ersetzen. Im übrigen darf vermutet werden, daß die ungenügende Durcharbeitung gerade im Grundsätzlichen für die oft „langen und schwer verständlichen" Vorschriften, die ohne Zweifel „ungelöste Spannungen" verraten (Naucke Strafrecht § 3 II 2 f) und durch gesetzgeberische Kompromisse immer wieder verdunkelt werden, mitursächlich ist. Fast ebenso problematisch ist das Bild, soweit es um die spezifische Verzahnung des Maßregelrechts mit unserem kriminologischen Wissen — oder Nichtwissen — steht. Dringend erwünscht wäre jedenfalls im Maßregelrecht nach wie vor so etwas wie ein exakter „kriminologischer Kommentar" in Ergänzung der primär auf die eigentlichen Rechtsfragen zugeschnittenen Erläuterungsbücher. (15)
Ernst-Walter Hanack
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3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
II. Prinzipien des Maßregelrechts 37
1. Rechtsstaatlichkeit. Die Maßregeln sind, um schon Gesagtes (Rdn. 20, 28) einmal mit extremer Schärfe zu formulieren, präventivpolizeiliche Maßnahmen, die der Strafrechtspflege anvertraut sind. Dies ist historisch begründet, geschieht aber nicht so sehr im Hinblick auf den Zweck der Gefahrenabwehr (der sich auch im Rechtsstaat mit einer spezifisch polizeirechtlichen Regelung erreichen ließe), sondern geschieht vor allem aus rechtsstaatlichen und Sicherheitsgründen zum Schutze des Betroffenen selbst, für den die Eingriffe des Maßregelrechts regelmäßig von erheblicher Bedeutung sind.
38
Auf diese Weise ergeben sich für das Maßregelrecht spezielle rechtsstaatliche Garantien, nämlich insbesondere die folgenden. (1) Maßregeln setzen ohne Ausnahme die Begehung einer mindestens rechtswidrigen Tat („Anlaßtat") voraus, die, unbeschadet der Frage einer Verurteilung auch zu Strafe, in den gesetzlich vorgeschriebenen strengen Formen der Strafprozeßordnung („Strengbeweis") festgestellt werden muß. (2) Maßregeln können (abgesehen von der Führungsaufsicht kraft Gesetzes, vgl. LK Rdn. 9 Vor § 68) nur im strafgerichtlichen Verfahren bzw. dem ihm angenäherten Sicherungsverfahren (§§ 413 ff StPO), also in einem Verfahren angeordnet werden, das in den Händen unabhängiger Richter liegt und im Ermittlungsstadium in den Händen einer der materiellen Wahrheit verpflichteten Justizbehörde,, der Staatsanwaltschaft. (3) Es gilt das Prinzip der Gesetzlichkeit, insbesondere das Analogieverbot, d. h. Maßregeln dürfen nur verhängt werden, wenn die jeweils vom Gesetz bestimmten Voraussetzungen vorliegen. Eine analoge Anwendung auf andere Fälle ist unzulässig (vgl. schon BGHSt. 18 136, 140). Sie würde dem Rechtsstaatsprinzip widersprechen (.Stree Deliktsfolgen, S. 78 ff). (4) Es gilt der Grundsatz in dubio pro reo. Dies ist eindeutig, soweit es um die sog. formellen Voraussetzungen der Maßregelanordnung geht, d. h. um die Anlaßtat und sonstige Umstände, an die die Maßregel anknüpft. Der Grundsatz gilt aber auch für die sog. materiellen Voraussetzungen, d. h. die Frage, ob die künftige Gefährlichkeit des Täters, also die Gefahr weiterer Straftaten, zu bejahen ist. Die zum Teil vertretene gegenteilige Auffassung, nach der die Anordnung der Maßregel auch zulässig ist, wenn sich ein sicheres Urteil über die Gefährlichkeit nicht abgeben läßt, beruht auf einem Fehlverständnis der prozessualen Situation. Schon das RG ist ihr nicht gefolgt und auch vom BGH sowie von der weit herrschenden Lehre wird sie nicht geteilt (näher unten Rdn. 48 ff m. Nachw.).
39
2. Die künftige Gefährlichkeit des Täters. Der eigentliche Angelpunkt des Maßregelrechts ist, entsprechend seiner kriminalpolitischen Zielsetzung (Rdn. 20), die Frage der weiteren Gefährlichkeit des Täters, und zwar speziell im Hinblick auf die Begehung weiterer Straftaten („Gefährlichkeitsproblem"). Dies war schon im früheren Recht so (näher Lang-Hinrichsen LK 9 Rdn. 24 vor § 42 a), ist aber vom Gesetzgeber bei der Strafrechtsreform in der Akzentuierung insgesamt noch deutlicher gemacht worden.
40
a) Freiheitsentziehende Maßregeln. Bei den freiheitsentziehenden Maßregeln hebt das Gesetz jetzt durchgängig darauf ab, ob vom Täter weiterhin erhebliche Straftaten zu befürchten sind. Der Begriff der Erheblichkeit ist damit insoweit zu einem Zentralbegriff des Maßregelrechts geworden (Zipf in Roxin u. a., Einführung in das neue Strafrecht, S. 90; JuS 1974 273). Im einzelnen sind die Gesetzesformulierungen allerStand: 1. 12. 1991
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Vorbemerkungen
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dings etwas unterschiedlich. So werden ζ. B. die „erheblichen" Straftaten bei § 66 noch durch ein „namentlich" näher charakterisiert und müssen auf einen spezifischen „ H a n g " zurückgehen, während bei den §§ 63 und 64 Gefährlichkeit „infolge" spezifischer Störungen bzw. „im Zusammenhang" damit bestehen muß. Weiterhin wird zum Teil auf eine Gefährlichkeit „für die Allgemeinheit" abgestellt (§§ 63, 66), zum Teil nicht (§ 64). Ferner wird bei § 63 und § 66 eine „Gesamtwürdigung" verlangt, nicht aber bei § 64. Unterschiedlich ist sogar der Grad der Gefahr weiterer Taten: Bei § 63 kommt es darauf an, ob sie „zu erwarten sind", während in § 64 auf die „bestehende Gefahr" abgehoben ist und bei § 66 darauf abgestellt wird, ob der Täter aufgrund der dort genannten Kriterien „gefährlich" ist. Wie weit die verschiedenen Formulierungen jeweils auch verschiedene Sachan- 41 forderungen enthalten, ist schwerer auszumachen, soweit es nicht um die spezifischen Probleme des „Hangs" im Sinne von § 66 bzw. der Störungen i. S. der §§ 63, 64 geht. Daß jedenfalls bei der Frage der „Gefährlichkeit für die Allgemeinheit" und der Frage der „Gesamtwürdigung" verschiedenartige Anforderungen nicht bestehen, ergibt eine Zweckbetrachtung wohl mit Eindeutigkeit (näher bei den Einzelerläuterungen). Bei anderen Formulierungsunterschieden hingegen bleibt die Frage zweifelhafter. Die Gesetzesmaterialien ergeben insoweit durchweg wenig Aufschluß, deuten aber vielfach darauf hin, daß es sich nur um sprachliche Verschiedenheiten handelt, die sich vor allem aus den verschiedenen „Schichten" der Gesetzgebung bzw. der Reformbemühungen ergeben. Zu beachten bleibt jedoch, daß die Formulierungen jeweils auf etwas unterschiedliche Tätergruppen bezogen sind. Aus diesem Grunde erscheint es angebracht, bei der Interpretation zunächst von der einzelnen Maßregel selbst auszugehen, nicht also von vornherein abstrakt einen „Allgemeinen Teil" zu entwickeln. Ob oder wie weit die Interpretationsergebnisse dann zu Übereinstimmungen führen, muß der weiteren Entwicklung überlassen bleiben. Dies gilt auch für die besonders wichtige Frage der „erheblichen" weiteren Taten 42 (Hanack Anm. in JR 1977 170). Was hier „erheblich" ist, läßt sich, wie für § 66 schon die dort verwendete zusätzliche „namentlich"-Klausel nahelegt, in den Einzelheiten jeweils nur im Hinblick auf die von der jeweiligen Maßregel betroffene Tätergruppe sagen, schon weil dabei stets auch die Frage des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 62) eine Rolle spielt, die aufgrund der verschiedenen, der Gefährlichkeit zugrunde liegenden Störungen bei jeder Maßregel etwas anders liegt oder liegen kann. b) Maßregeln ohne Freiheitsentzug. Bei den nicht freiheitsentziehenden Maßre- 4 3 geln finden sich, entsprechend ihrer besonders unterschiedlichen Zielrichtung, ebenfalls verschiedenartige Umschreibungen der künftigen Gefährlichkeit. Bei der Führungsaufsicht kraft Richterspruchs (§ 68 Abs. 1) kommt es auf die bestehende Gefahr weiterer Straftaten (nicht: erheblicher Straftaten) an (dazu näher und einschränkend LK § 68 Rdn. 10). In den Fällen der Führungsaufsicht kraft Gesetzes (§ 68 Abs. 2) hingegen liegen der Maßregel spezifische, aber in sich wiederum unterschiedliche Erwartungen einer weiteren Gefährlichkeit zugrunde, die den Gesetzgeber bewogen haben, den Eintritt der Aufsicht vorzusehen (näher LK Rdn. 9 Vor § 68; vgl. auch § 68 e Rdn. 14f, 19 ff)- Bei der Entziehung der Fahrerlaubnis muß sich „aus der Tat" ergeben, daß der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen „ungeeignet" ist, wobei die mangelnde Eignung in den Fällen des § 69 Abs. 2 in der Regel vermutet wird (§ 69; vgl. dazu näher Geppert LK, Erl. zu § 69). Für das Berufsverbot dagegen ist entscheidend, ob eine „Gesamtwürdigung" „erkennen läßt", daß der Täter bei weiterer Ausübung des Berufs „erhebliche" rechtswidrige Taten „unter Mißbrauch" des Berufs usw. begehen wird (§ 70). (17)
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c) Der Gefahrbegriff nach materiellem Recht. Materiellrechtlich knüpft der Begriff der Gefahr bzw. der Gefährlichkeit im Maßregelrecht — in seinen verschiedenen Ausprägungen — an den allgemeinen strafrechtlichen Gefahrbegriff an (Bruns JZ 1958 647, 652). Er ist jedoch nicht ohne weiteres identisch mit dessen Inhaltsbestimmung an anderen Stellen des Strafgesetzbuchs (ζ. B. in den §§ 34, 35, bei 250 Abs. 1 Nr. 3 oder im 27. Abschnitt), weil er dort jeweils andere Funktionen hat als hier, wo es um die spezifische Gefährlichkeitsprognose im Hinblick auf unbestimmte künftige Straftaten geht. Gemeinsam ist nur der Ausgangspunkt: das Basieren auf dem logischen Gedanken der Möglichkeit (Potentialität), der seinerseits auf der generellen Lebenserfahrung beruht (Bruns aaO).
45
Im Maßregelrecht wird man danach unter Gefährlichkeit Wiederholungswahrscheinlichkeit im Sinne eines gesteigerten, überwiegenden Grades der Möglichkeit zu verstehen haben (Bruns aaO; kritisch Frisch [zuletzt] ZStW 102 370ff)- Diese Wahrscheinlichkeit ist ein der Gegenwart angehörender Sachverhalt (Nowakowski S. 116), wenn auch ein Sachverhalt, der sich regelmäßig aus der Bewertung vieler Einzeltatsachen zusammensetzt und schon dadurch stark wertende Züge trägt, was sich auch bei der kritischen Frage der Revisibilität auswirkt (eingehend zum Ganzen v. Hippel Gefahrurteile); als Sachverhalt ist die Wahrscheinlichkeit aber jedenfalls als solche — „tatsächlich" — festzustellen.
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Welcher Grad von Wahrscheinlichkeit bei den verschiedenen Maßregeln ausreichend oder erforderlich ist, bleibt jedoch, zumal angesichts der verschiedenen Gesetzesformulierungen (Rdn. 40, 43) und der Beziehung zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 62), auch hier entscheidend Sache der Einzelprüfung bei der jeweiligen Maßregel selbst. Generell läßt sich wohl nur sagen, daß die bloße Möglichkeit der Wiederholung zur Bejahung der Gefährlichkeit noch nicht ausreicht; dies entspricht auch der ständigen Rechtsprechung schon des Reichsgerichts und der im Schrifttum ganz herrschenden Meinung (näher z.B. LK § 63 Rdn. 42; eingehend Bruns aaO).
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Daß sich der Begriff der Gefahr „genauer wissenschaftlicher Umschreibung entzieht" und nicht „allgemeingültig bestimmbar" sowie trotz seiner normativen Bezüge (Rdn. 45, 46) „überwiegend tatsächlicher, nicht rechtlicher N a t u r " ist, ist eine traditionelle Auffassung der Rechtsprechung (vgl. statt aller BGHSt. 18 271, 271 m. w. Nachw.), die vermutlich „endgültig" sein dürfte (so v. Hippel Gefahrurteile, S. 108).
48
d) Der Gefahrbegriff in prozessualer Sicht („in dubio pro reo")· Vom materiellrechtlichen Gefahrbegriff zu unterscheiden ist die umstrittene Frage, wie der Richter bei Zweifeln über die weitere Gefährlichkeit des Täters zu entscheiden hat. Das richtet sich im Ausgangspunkt nach den allgemeinen Grundsätzen der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 261 StPO). aa) Bei Anordnung von Maßregeln muß der Richter nach diesen Grundsätzen (dazu ζ. B. Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, § 261 Rdn. 7 ff m. Nachw.) vom Vorliegen der die Verurteilung begründenden Tatsachen überzeugt sein. Es genügt also nicht, daß er diese Umstände nur für wahrscheinlich hält. So ist der BGH (BGHSt. 10 208, 209 f) zu Recht der Auffassung des RG (RGSt. 61 202, 206) entgegengetreten, daß sich das Gericht bei der Beweiswürdigung „mit einem so hohen Grad von Wahrscheinlichkeit begnügen" müsse, wie er bei möglichst erschöpfender und gewissenhafter Anwendung der vorhandenen Erkenntnismittel entstehe. Die bloße Wahrscheinlichkeit stellt vielmehr, auch wenn sie einen hohen Grad erreicht, die erforderliche Überzeugung noch nicht her; das Fürwahrscheinlicherachten steht eben dem Fürwahrerachten nicht gleich {Gollwitzer aaO Rdn. 9). Stand: 1. 12. 1991
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Vorbemerkungen
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Wendet man diese Grundsätze auf den Gefahrbegriff des Maßregelrechts an, 49 zeigt sich, wie namentlich Bruns (JZ 1958 647) herausgearbeitet hat, daß der Begriff der Wahrscheinlichkeit auf der materiellrechtlichen Ebene eine ganz andere Rolle spielt als auf der prozessualen: Während die Wahrscheinlichkeit nach materiellem Recht als Eingriffsvoraussetzung ausreicht, ist das prozessual, also bei der richterlichen Überzeugungsbildung, gerade nicht der Fall; vielmehr muß der Richter (prozessual) überzeugt sein von der (materiellrechtlichen) Wahrscheinlichkeit i. S. des Gefahrbegriffs. Das bedeutet im einzelnen: Gelangt der Richter zur vollen Überzeugung der Gefährlichkeit, hat er — bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen — die Maßregel anzuordnen. Gelangt er zur Überzeugung, daß weitere Straftaten nur möglich, aber nicht wahrscheinlich sind (s. Rdn. 45) oder hält er sie gar für ausgeschlossen, muß er die Gefahr verneinen, die Anordnung der Maßregel also unterlassen. Bestehen für den Richter nicht überwindliche Zweifel an der Gefährlichkeit, hat er den Grundsatz in dubio pro reo anzuwenden, die Maßregelanordnung also ebenfalls zu unterlassen. Die Geltung des Grundsatzes in dubio pro reo entspricht auch dem Standpunkt 50 des RG und des BGH 2 5 sowie — ζ. T. mit der im folg. Text genannten Beschränkung — der herrschenden Lehre 26 . Sie ergibt sich aus der notwendigen Differenzierung zwischen dem materiellrechtlichen Inhalt des Gefahrbegriffs und der ganz anders strukturierten Frage seiner prozessualen Feststellung bzw. Beweisbarkeit. Auch Maßregeln können eben nur angeordnet werden, wenn ihre Voraussetzungen nach den für die richterliche Überzeugungsbildung geltenden allgemeinen Grundsätzen festgestellt sind. Der Grundsatz in dubio pro reo bezieht sich anerkanntermaßen nur auf Tatsachen, nicht auch auf rechtliche Zweifelsfragen (statt aller Gollwitzer aaO Rdn. 103, 105). Daraus ist insbesondere früher verschiedentlich der Schluß gezogen worden, daß der Grundsatz nur für die Feststellung der Tatsachen gilt, die der Richter seiner Entscheidung über die weitere Gefährlichkeit des Täters zugrundelegt, nicht aber auch für die in der Entscheidung enthaltene Wertung selbst. Diese Wertung ist nun in der Tat (auch) eine Rechtsfrage. Aber im Kern faßt sie eine Fülle von Tatsachen zusammen und enthält ihrerseits gewissermaßen eine Schluß-Tatsache, nämlich eben die Überzeugung des Richters von der weiteren Gefährlichkeit des Täters. Insoweit tritt daher für Wertung mindestens eine „vergleichbare Wirkung" ein (Lackner § 61 Rdn. 4; vgl. auch B. Müller S. 132); unanwendbar ist der in-dubio-Grundsatz daher nur für die abstrakte Interpretation des materiellrechtlichen Gefahrbegriffs in seinen verschiedenen (Rdn. 40 ff) gesetzlichen Schattierungen. bb) Bei Entscheidungen über die Aussetzung oder Beendigung einer angeordneten 51 Maßregel (§ 67 b, § 67 c, § 67 d Abs. 2, § 68 e, § 69 a Abs. 7, § 70 a Abs. I) gilt nach tra-
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RGSt. 73 303; BGHSt. 5 350, 352; B G H G A 1955 149, 151; B G H 5 StR 5 2 5 / 6 6 v. 15. 11. 1966 [unveröffentlicht]. Ζ. B. Dreher/Tröndte R d n . 3 vor § 61; Horn SK § 61 R d n . 9; Lackner § 61 R d n . 4 ; Sch/Schröder/ Slree R d n . 9 vor § 61; eingehend Bruns a a O , Slree In d u b i o p r o reo S. 91 ff, 100 u n d B. Müller S. 131 f f ; Nowakowski S. 116; Gepperl N J W 1971 2154, 2156; Kohlhaas A n m . zu L M § 4 2 a N r . 5; vgl. auch Terhorsl M D R 1978 973, 974; a. A. u n d insoweit heute wohl überholt O L G H a m m N J W
1971 1618, 1620 u n d 1956 560; O L G Schleswig D A R 1954 139, 140; Dreher R d n . 3 vor § 61; Geerds M s c h r K r i m 1960 94; Weihrauch NJW 1971 829, 830; a. A. aber a u c h Frisch S. 161 ff u n d Montenbruck S. 146 ff, die den i n - d u b i o - G r u n d satz im Prognosebereich nicht f ü r einschlägig bzw. f ü r tauglich halten u n d statt dessen auf eine Gesamtwürdigung abstellen (Montenbruck S. 101 ff) bzw. eine e r f a h r u n g s f u n d i e r t e Interpretation normativer Art entwickeln (vgl. Frisch S. 53).
Ernst-Walter Hanack
Vor §§ 61 ff
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
ditioneller Meinung der Grundsatz in dubio pro reo nicht 2 7 : Aus Wortlaut und Zweck der entsprechenden Vorschriften ergebe sich, daß die Aussetzung usw. nur erfolgen dürfe, wenn der Richter davon überzeugt ist, daß die — vom erkennenden Gericht bei der Anordnungsprognose bejahte — Gefährlichkeit weggefallen, entscheidend gemindert oder durch andere Maßnahmen ausgeglichen ist. Solange er diese Überzeugung nicht hat, sei die Aussetzung usw. im Gesetz nicht vorgesehen; insoweit könne daher der Grundsatz in dubio pro reo nicht gelten, gehe das non liquet vielmehr zu Lasten des Verurteilten (so, etwas undifferenziert, hier auch die Voraufl.). Diese Auffassung wird mit eindringlichen Argumenten zunehmend bestritten 28 . Den Kritikern ist zunächst zuzugeben, daß sich die traditionelle Meinung im Falle des § 67 b nicht auf die rechtskräftige Feststellung der Gefährlichkeit berufen kann (Horstkotte LK10 § 67 b Rdn. 25). Zuzugeben ist ihnen vor allem aber, daß bei der Anordnung von Maßregeln die Beurteilung der Gefährlichkeit nach heutigem Recht auf die Gegebenheiten im Zeitpunkt des Urteils bezogen ist (dazu Rdn. 53 ff). Es ist schon deswegen nicht mehr möglich, mit der traditionellen Meinung von einer Vermutung der weiteren Gefährlichkeit nur im Hinblick darauf auszugehen, daß diese Gefährlichkeit ja bereits bei Anordnung der Maßregel — rechtskräftig oder im Falle des § 67 b gleichzeitig — bejaht wurde (vgl. nur Horstkotte LK 10 , § 67 c Rdn. 92). Vielmehr ist richtig, daß es sich bei der Entscheidung über die Aussetzung oder Beendigung einer angeordneten Maßregel um eine eigenständige und neue Entscheidung handelt (dazu z.B. Horstkotte aaO Rdn. 6; Horn SK § 61 Rdn. 14), bei der Zweifel nicht ohne weiteres zu Lasten des Täters gehen, sondern in die gesetzlichen Kriterien zu integrieren sind, nach denen die Entscheidung jeweils zu treffen ist, also ζ. B. nach den Kriterien der Erprobungsklausel des § 67 d Abs. 2 (dazu Horstkotte aaO § 67 d Rdn. 75). Wichtig ist insoweit insbesondere, daß bei diesen Kriterien der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine besondere Rolle spielt (die die Eigenständigkeit der Entscheidung zeigt), so namentlich bei Maßregeln von unbestimmter Dauer und nach längerem Vollzug (näher LK § 61 Rdn. 6); s. auch Horstkotte aaO). 51a
Dies alles bedeutet allerdings auch nicht, daß für die Entscheidungen der Grundsatz in dubio pro reo ebenso gilt wie für die Maßregel-Anordnung. Zwar wird man annehmen müssen, daß der Richter bei seiner Entscheidung „in dubio pro reo" diejenigen belastenden tatsächlichen Umstände außer acht zu lassen hat, von deren Vorhandensein er sich nicht zu überzeugen vermag (vgl. Horstkotte aaO Rdn. 77). Aber das Gesetz verlangt für die erörterten Folgeentscheidungen nun einmal und aus gutem Grund, daß die im Zeitpunkt des Urteils bejahte Gefährlichkeit des Täters nunmehr weggefallen oder entschärft ist. Die Voraussetzungen seiner Entscheidung unterscheiden sich insoweit von denen bei der Maßregel-Anordnung. So führt kein Weg daran vorbei, daß der Richter, solange er von diesen Voraussetzungen nicht überzeugt ist, die dann vorgesehenen Anordnungen daher auch nicht treffen kann, Zweifel also nicht insgesamt zugunsten des Täters wirken; wäre es anders, würde das Gefüge des Gesetzes zerstört.
27
So z.B., z.T. zum früheren Recht, OLG Köln NJW 1955 683 und OLG Karlsruhe JZ 1958 669; Lackner § 61 Rdn. 5; Sch/Schröder/Stree z.B. § 67 b Rdn. 6; Bruns JZ 1958 651; Gribbohm JuS 1967 354; Stree In dubio pro reo, S. 106; B. MüllerS. 135; weitere Nachweise bei Horstkotte LK10, § 67 d Rdn. 75.
28
Vgl. insbesondere Horstkotte LK 10 , § 67 b Rdn. 23 ff, § 67 c Rdn. 92 ff, § 67 d Rdn. 75 f; Horn SK § 61 Rdn. 14; Frisch und Montenbruck aaO; ebenso schon Lang-Hinrichsen LK', § 42 f Rdn. 4, § 42 g Rdn. 5; Nowakowski S. 117 und Festschrift für Broda (1977) S. 209; weitere Nachweise bei Horstkotte aaO.
Stand: 1. 12. 1991
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Vorbemerkungen
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§ §
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3. Beziehungen zwischen Gefährlichkeit, Anlaßtat und Persönlichkeit. Die typi- 52 scherweise vorhandene Schwierigkeit, die künftige Gefährlichkeit des Täters zu prognostizieren, wird bei den einzelnen Maßregeln regelmäßig, wenn auch nicht in gleichem Umfang, durch die Verknüpfung verschiedenartiger Faktoren abgemildert, deren integrierende Würdigung bei Beurteilung der künftigen Gefährlichkeit erforderlich ist. So muß die vorausgesetzte Anlaßtat nach allgemeiner Meinung symptomatisch sein, d. h. für die Gefährlichkeit des Täters Indizwert besitzen: näheres bei den einzelnen Vorschriften, z.B. § 66 Rdn. 162. Darüber hinaus entsteht bei allen freiheitsentziehenden Maßregeln, die durchweg an eine spezifische Störung oder einen gefährlichen Hang des Täters anknüpfen, das „Kausalitätsproblem", d. h. die Frage, ob die betreffende Störung als Ursache oder doch als Faktor der Gefahr anzusehen ist. Des weiteren setzen die §§ 63, 66, 70 ausdrücklich eine „Gesamtwürdigung des Täters" und seiner Taten voraus. Darin kommt ein Sachprinzip zum Ausdruck, das über die gesetzliche Normierung hinaus bei allen Maßregeln mit und ohne Freiheitsentzug zu beachten ist, und zwar selbst bei der Entziehung der Fahrerlaubnis, wo der Gesetzeswortlaut des § 69 auf etwas anderes hindeutet. Es ist das — eigentlich selbstverständliche — Prinzip, daß für die Feststellung der weiteren Gefährlichkeit die Beurteilung auch der Persönlichkeit des Täters erforderlich, oft sogar entscheidend wichtig ist. Diese Beurteilung umfaßt dabei auch das frühere kriminelle Verhalten, wie einige insoweit ungeschickte Gesetzesformulierungen (Würdigung des Täters „und seiner Tat") eher verdunkeln. Beschränkungen bestehen insoweit nur aufgrund des BZRG (dazu LK § 66 Rdn. 41 f)· Ferner verlangt das Gesetz bei § 66 (jedenfalls seinem vorrangigen Absatz 1) bestimmte Vorverurteilungen und Vorverbüßungen. Es markiert auf diese Weise, entsprechend dem Gewicht der Maßregel, eine besondere Schwelle, um nur schwerer vorbelastete Täter zu treffen, wobei die Vorbelastung zugleich wiederum Bedeutung auch für die Einschätzung der Gefährlichkeit besitzt. 4. Zeitpunkt der Prognose. Für die Beurteilung der Gefährlichkeit ist seit der Straf- 53 rechtsreform (1. und 2. StrRG) grundsätzlich auf die Gegebenheiten im Zeitpunkt des (letzten tatrichterlichen) Urteils abzustellen. Dies entspricht der allgemeinen Meinung (Nachweise bei den Einzelerörterungen). Auf den Urteilszeitpunkt war schon im früheren Recht bei all denjenigen Maßre- 54 geln abzustellen, bei denen die Wirkung der Anordnung unmittelbar mit der Rechtskraft des Urteils eintritt. Es war nach herrschender Meinung — jedenfalls bis zum 1. StrRG — aber anders bei den freiheitsentziehenden Maßregeln, soweit ihrem Vollzug die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe vorausging. Hier mußte die Prognose auf den Zeitpunkt der Entlassung aus der Strafhaft bezogen werden, weil die Unterbringung nur angeordnet werden durfte, wenn die öffentliche Sicherheit es erforderte (Nachweise bei Lang-Hinrichsen LK 9 Rdn. 28 ff vor § 42 a). Das Gericht war also gezwungen, die voraussichtlichen Wirkungen des Strafvollzugs bis zum — u. U. sehr fernliegenden — Entlassungstermin abzuschätzen. Dies war oft mit großen Unsicherheiten verbunden; es wird angenommen, daß die Gerichte von einer möglicherweise erforderlichen Sicherungsverwahrung gerade deswegen nicht selten abgesehen hätten (Lang-Hinrichsen aaO Rdn. 29). Auch der Gesetzgeber hat die geschilderte Situation als mißlich angesehen und ih- 55 re Beseitigung angestrebt. Er hat darum — zunächst im 1. StrRG für die Sicherungs(21)
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3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Verwahrung, dann im 2. StrRG für die übrigen freiheitsentziehenden Maßregeln — den bisherigen Bezugspunkt der Gefährlichkeit beseitigt und die Vorschrift des § 67 c Abs. 1 (im 1. StrRG: § 42g) eingefügt, nach welcher das Gericht im Falle des Vorwegvollzugs der Strafe vor dem Ende dieses Vollzugs zu prüfen hat, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert. Seitdem ist in Rechtsprechung und Lehre allgemein anerkannt, daß die Erforderlichkeit auch bei den freiheitsentziehenden Maßregeln grundsätzlich stets auf den Zeitpunkt der Urteilsfällung bezogen ist. Das Problem hat im übrigen durch die Einführung des vikariierenden Prinzips (§ 67) an Bedeutung verloren, weil danach ein Vorwegvollzug der Strafe außer bei der Sicherungsverwahrung nur ausnahmsweise in Betracht kommt. 56
Daß freilich auch die geschilderte Neuregelung nicht voll befriedigt, hat vor allem Schröder dargelegt (JZ 1970 92, 93; vgl. auch Anm. in JR 1973 160). Ernst wiegt insbesondere der Einwand, daß bei der Sicherungsverwahrung (und entsprechendes gilt in den Ausnahmefällen des § 67 Abs. 2 auch für die anderen freiheitsentziehenden Maßregeln) über den entscheidenden Punkt, nämlich die erforderliche Vollstreckung nach der Strafverbüßung, nicht vom erkennenden Gericht unter den Kautelen des Strengbeweisverfahrens, sondern in dem sehr viel formloseren Beschlußverfahren der Strafvollstreckungskammer (§ 463 i. V. mit § 454 StPO) befunden wird. Auch ist die Anordnung der Sicherungsverwahrung durch das erkennende Gericht durchaus nicht „rein platonisch" (so aber Schröder JZ 1970 93). Denn sie löst zwingend selbst dann Führungsaufsicht kraft Gesetzes aus, wenn die Vollstreckungskammer vor dem Ende des Strafvollzugs feststellt, daß die Maßregelunterbringung nicht erforderlich ist (§ 67 c Abs. 1), und sie bedingt als solche für den Verurteilten auch erhebliche weitere Nachteile, z.B. bei der Gestaltung des Strafvollzugs (eingehend B. Müller S. 73 ff). Auch zeigt sich deutlich, daß die Neuregelung in den traditionell skeptisch beurteilten Fällen der Sicherungsverwahrung gegen jüngere Täter deren Anordnung in nicht unbedenklicher Weise erleichtert (BGH NJW 1976 300 und 301; dazu näher LK § 66 Rdn. 47 ff, insbes. 49).
57
Im übrigen schließt die Regelung, worauf insbesondere Lackner § 66 Rdn. 15 und B. Müller S. 103 zu Recht hinweisen, nur die Berücksichtigung der ungewissen Entwicklung des Täters bis zur Entlassung aus dem Strafvollzug aus (vgl. auch BGHSt. 25 59, 63; Horstkotte LK 10 § 67 b Rdn. 33). Sie enthebt das Gericht also weder der Prüfung, ob eine im Zeitpunkt der Anlaßtat vorhandene Gefährlichkeit nicht vielleicht schon zum Urteilszeitpunkt entfallen ist, noch von der weiteren Prüfung, ob bereits gegenwärtig vorhandene Bedingungen künftig mit Sicherheit zum Wegfall der Gefährlichkeit führen (vgl. LK § 66 Rdn. 151 f). Nach den (umstrittenen) Grundsätzen des Subsidiaritätsprinzips ist das Gericht nicht einmal von der Prüfung enthoben, ob die unter den bisherigen Lebensverhältnissen gegebene Gefährlichkeit möglicherweise durch schonendere Maßnahmen beseitigt werden kann; vgl. dazu den folgenden Text. 5. Das sog. Subsidiaritätsprinzip
58
a) Allgemeines; verfassungsrechtliche Ableitung. Im Maßregelrecht gilt das Subsidiaritätsprinzip. Danach kommt eine Maßregel dann nicht in Betracht, wenn weniger einschneidende Maßnahmen (ζ. B. die Überwachung durch Angehörige anstelle der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus) einen ausreichenden und ausreichend zuverlässigen Schutz vor der Gefährlichkeit des Täters bieten. Das Prinzip war schon vor der Strafrechtsreform allgemein anerkannt; es wurde bis dahin meist aus der damaligen Gesetzesregelung abgeleitet, nach der eine Maßregelanordnung Stand: 1. 12. 1991
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Vorbemerkungen
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nur statthaft war, wenn die öffentliche Sicherheit sie „erforderte" (Nachweise ζ. B. LK § 63 Rdn. 82 ff)· Es folgt aber auch aus dem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt des Übermaßverbots, das beim Charakter der Maßregeln (Rdn. 28) die Beschränkung auf das zur Zweckerreichung Unerläßliche erfordert 29 . Dies ist bedeutsam für den heutigen Streit um die Bedeutung des Prinzips bei den freiheitsentziehenden Maßregeln (Rdn. 60 ff). b) Bedeutung bei Maßregeln ohne Freiheitsentzug. Bei den nicht-freiheitsentzie- 59 henden Maßregeln hat das Subsidiaritätsprinzip bisher (und abgesehen von der früheren Maßregel der Entmannung nach § 42 k; dazu ζ. B. RGSt. 68 230; 68 292; RG JW 1937 1784) praktisch keine Rolle gespielt. Es wird in Rechtsprechung und Lehre insoweit regelmäßig gar nicht erörtert. Vermutlich hängt dies vor allem damit zusammen, daß die traditionellen Maßregeln ohne Freiheitsentzug (Entziehung der Fahrerlaubnis, Berufsverbot) nach ihrer Zielrichtung von vornherein eine mehr partielle Gefährlichkeit des Täters betreffen, der gerade und nur durch die spezifische Maßregelfolge zu begegnen ist. Doch wird, wenn man die verfassungsrechtliche Ableitung des Subsidiaritätsprinzips ernst nimmt, das Problem damit noch nicht wirklich gelöst; es bedarf ohne Zweifel der weiteren Diskussion. Dabei ist freilich zu beachten, daß die Anordnung des Berufsverbots und ebenso der Führungsaufsicht kraft Richterspruchs in das Ermessen des Gerichts gestellt sind, so daß der Richter die Gesichtspunkte des Subsidiaritätsprinzips auf diese Weise berücksichtigen kann, was gerade bei der neuen, ζ. B. gegenüber Jugendlichen oft durchaus problematischen Maßregel der Führungsaufsicht wichtig sein dürfte (dazu LK § 68 Rdn. 16, 21). b) Bedeutung bei freiheitsentziehenden Maßregeln. Die freiheitsentziehenden 60 Maßregeln waren im früheren Recht die eigentliche Domäne des Subsidiaritätsprinzips. Hier ist nun heute folgendes zweifelhaft. Bis zum 2. StrRG galt das Prinzip nach einhelliger Meinung bereits bei Anordnung der Maßregel. Das Gericht hatte also stets zu prüfen, ob der Zweck der Maßregel durch andere, weniger einschneidende Vorkehrungen erreicht werden konnte und durfte in diesen Fällen die Maßregel nicht anordnen. Begründet wurde dies, wie bemerkt (Rdn. 58) vor allem mit dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit. Der Ε 1962 wollte nun eine Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips bei Anordnung der Maßregel nicht mehr gelten lassen, sondern das Prinzip nur bei der Entscheidung über die Vollstreckung der Maßregel beachtet wissen (Begründung S. 210, 211; vgl. auch Schwalm Prot. IV, 827). Dem lag der Gedanke zugrunde, daß die Anwendung des Prinzips schon im Rahmen der Anordnung zu Schwierigkeiten und Zweifeln führen kann, und daß es kriminalpolitisch besser sei, gegebenenfalls unter dem Druck einer zwar unbedingt angeordneten, aber zur Bewährung ausgesetzten Unterbringung mit Widerrufsvorbehalt zu erproben, ob andere Vorkehrungen genügen, um auf den Täter einzuwirken und der Gefahr weiterer Straftaten zu steuern. Der Ε 1962 — und mit ihm der Gesetzgeber — versuchte dieses Ziel zu erreichen, indem er nicht mehr darauf abstellte, ob die öffentliche Sicherheit die Unterbringung erfordert, und indem er die Möglichkeit einer sofortigen Aussetzung der Maßregel (jetzt § 67 b) bzw. der Aussetzung nach Verbüßung einer vorab vollzogenen Freiheits29
Übereinstimmend Lackner/Maassen StGB" § 4 2 a A n m . 4 ; Lang-Hinrichsen L K ' R d n . 32 vor § 42 a; vgl. auch BGHSt. 20 232; Sch/Schröder" § 42 a R d n . 7. Allgemein zum Subsidiaritätsprinzip, zu seiner Ableitung, H e r k u n f t u n d Tragweite
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zuletzt Brandt Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips f ü r Entpoenalisierungen im Kriminalrecht, 1988, S. 123 ff m. zahlr. N a c h w . (aber o h n e speziellen Bezug zu den Maßregeln).
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3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
strafe (jetzt § 67 c Abs. 1) vorsah, die den Täter dann jeweils unter Führungsaufsicht stellt. Seit der entsprechenden Fassung des Gesetzes nimmt ein wesentlicher Teil des Schrifttums dementsprechend an, daß das Subsidiaritätsprinzip bei den freiheitsentziehenden Maßregeln nur noch für die Frage der Vollstreckung, hingegen nicht mehr bei der Anordnung gelte30. Ebenso hat sich, wenn auch bislang nur vereinzelt und in obiter dicta, der BGH geäußert (NJW 1978 559; 3 StR 67/77 v. 27. 3. 1977). 61 Dem ist zu widersprechen 31 : Nach der — insoweit entscheidenden — Ableitung des Subsidiaritätsprinzips aus dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot (Rdn. 58) hat es der Strafgesetzgeber gar nicht in der Hand, das Subsidiaritätsprinzip bei Anordnung einer Maßregel zwingend auszuschließen; dies gilt zumal, weil die Anordnung, selbst wenn sie zugleich zur Bewährung ausgesetzt wird, den Betroffenen u. U. erheblich belastet (Rdn. 56), insbesondere stets und zwingend Führungsaufsicht auslöst. Der Gesetzgeber kann die Anordnung insbesondere auch nicht „gewissermaßen sicherheitshalber" vorsehen und „dafür" (so Baumann/Weber aaO) die Bewährungsaussetzung zur Verfügung stellen, da sich ein verfassungsrechtlich verankertes Prinzip nun einmal nicht „gewissermaßen sicherheitshalber" aus den Angeln heben läßt. Die gegenteilige Ansicht des Gesetzgebers beruht ersichtlich darauf, daß er seinerzeit nicht oder nicht klar erkannt hat, daß die eigentliche Begründung des Subsidiaritätsprinzips keine bloße kriminalpolitische Zweckmäßigkeitsfrage betrifft, sondern tiefer reicht und nicht zu seiner Disposition steht, so daß seine Ansicht auch den Richter nicht zu binden vermag. 62
Aufgrund dieser Fehlleistung hat der Richter nunmehr eine doppelte Subsidiaritätsprüfung vorzunehmen: Er muß zunächst prüfen, ob schon die Anordnung der Maßregel entfallen kann, weil mildere Maßnahmen die Gefährlichkeit des Täters paralysieren; und er muß, falls er dies verneint, weiter prüfen, ob wegen solcher milderer Möglichkeiten die Aussetzung gemäß § 67 b bzw. § 67 c Abs. 1 in Betracht kommt. 63 Zuzugeben ist der gegenteiligen Auffassung freilich, daß die Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips (schon) bei der Maßregel-Anordnung selten zum Verzicht auf die Anordnung führen wird, weil ein solcher Verzicht im Hinblick auf fehlende Kontroll- und Druckmöglichkeiten bei dem hier in Frage stehenden Täterkreis regelmäßig problematisch ist. Auch die Rechtsprechung zum früheren Recht ist insoweit im Ergebnis zurückhaltend gewesen (vgl. insbesondere LK § 63 Rdn. 84 ff). Der tatsächliche Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips wird daher weit überwiegend im Bereich der Aussetzung liegen, wo angesichts der Druckmöglichkeit des Aussetzungswiderrufs (§ 67 g) sowie der Einwirkungen mit Hilfe der Führungsaufsicht heute großzügiger verfahren werden kann als im alten Recht (näher Horstkotte LK, Erl. zu § 67 b). Zu beachten ist weiter, daß das Subsidiaritätsprinzip nicht im Verhältnis zur Strafe gilt, auf die Maßregel also nicht verzichtet werden darf, weil eine Einwirkung durch — gleichzeitig ausgesprochene — Strafe reicht. Das ergibt sich im neuen Recht namentlich aus dem grundsätzlichen Vorrang des Maßregelvollzugs (§ 67; vikariierendes System) sowie aus dem Umstand, daß der im Sinne des Maßregelrechts ge30
So insbesondere Dreher/Tröndte § 63 R d n . 11; Horn SK § 63 R d n . 15; Sch/Schröder/Slree § 67 b R d n . 1; Baumann/Weber A T § 44 II 1 c; Maurach/Gössel/Zipf A T § 68 R d n . 10; Lenckner S. 192.
31
So im Ergebnis auch Lackner § 63 R d n . 8 u n d § 66 R d n . 15; Horstkotte L K " § 6 7 b R d n . 8 f f ; Ostendorf A K - J G G § 7 R d n . 5; Schmidhäuser AT 21/ 32; ersichtlich auch Jescheck A T § 77 II 2 c; P. Albrecht S. 35 f f ; B. Müller S. 103 ff; Müller-Dietz N S t Z 1983 149; vgl. auch LK § 66 R d n . 154.
Stand: 1. 12. 1991
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Vorbemerkungen
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fährliche Täter stets der Führungsaufsicht unterliegen soll; vgl. dazu näher insbesondere LK § 64 Rdn. 85 ff. Diese Regelung gilt auch für die Sicherungsverwahrung (näher LK § 66 Rdn. 169 ff). 6. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Über den spezifischen Bereich des Subsi- 64 diaritätsprinzips hinaus gilt im Maßregelrecht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als weitere Ausprägung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots. Er ist seit dem 1. StrRG ausdrücklich im Strafgesetz verankert: vgl. (jetzt) § 62 und näher die dort. Erl. Wichtig ist, daß der Grundsatz, entgegen dem Wortlaut des § 62, nicht nur für die Anordnung von Maßregeln gilt, sondern auch für ihre Vollstreckung oder weitere Vollstreckung. 7. Kumulationsprinzip, Vikariieren, Maßregelkonkurrenz a) Kumulationsprinzip. Entsprechend der unterschiedlichen Eigenart von Strafe 65 und Maßregel gilt im Grundsatz das sog. Kumulationsprinzip: die Maßregel tritt neben die Strafe für die Anlaßtat. Bedeutsame Ausnahmen bestehen freilich bei der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63), bei der Unterbringung in der Entziehungsanstalt (§ 64) sowie bei Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69) und beim Berufsverbot (§ 70), also bei mehr als der Hälfte aller Maßregeln. Hier kann die Maßregel-Anordnung auch erfolgen, wenn der Täter wegen Schuldunfähigkeit oder wegen nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit zu Strafe nicht verurteilt werden darf. In diesen Fällen ist die Maßregel dann das einzige strafrechtliche Reaktionsmittel. Gleiches gilt, wenn aufgrund des prozeßrechtlichen Verbots der reformatio in peius eine Strafe wegen Schuldunfähigkeit nicht mehr verhängt werden kann (näher Rdn. 93). b) Vikariieren. Die problematischen Folgen der Zweispurigkeit beim Nebenein- 66 ander von Strafen und Maßregeln mit Freiheitsentzug werden durch das Prinzip des sog. Vikariierens abgemildert (§ 67). Danach ist die Maßregel regelmäßig vor der Strafe zu vollziehen; ihr Vollzug muß dann nach Maßgabe des § 67 Abs. 4 auf die Strafe angerechnet werden; ein überschießender Strafrest kann unter großzügigen Voraussetzungen zur Bewährung ausgesetzt werden. S. dazu und zur problematischen Abschwächung des Prinzips durch das 23. StRÄndG näher die Erl. zu § 67. Soweit das Prinzip nicht gilt (Sicherungsverwahrung) oder im Einzelfall nach richterlicher Entscheidung nicht angewendet wird (§ 67 Abs. 2), es also zum Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe kommt, ist nach § 67 c Abs. 1 vor dem Ende des Strafvollzugs darüber zu entscheiden, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert (dazu näher Horstkotte LK, Erl. zu § 67 c). c) Maßregelkonkurrenz. Liegen die Voraussetzungen für die Anordnung mehrerer 67 Maßregeln vor, werden sie nach § 72 nur insoweit nebeneinander angeordnet, wie das zur Erreichung des erstrebten Zwecks erforderlich ist, wobei unter mehreren geeigneten Maßregeln denen der Vorzug zu geben ist, die den Täter am wenigsten beschweren. Die Regelung entspricht der Eigenart der Maßregeln (Rdn. 28). Zu den Einzelheiten näher LK, Erl. zu § 72. Sind in verschiedenen Verfahren Maßregeln — sei es der gleichen, sei es verschiedener Art — angeordnet worden, richtet sich ihre Behandlung bei einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung nach § 55 Abs. 2; näher Vogler LK, Erl. zu § 55. Kommt es zur mehrfachen Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist (25)
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3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
eine frühere Anordnung durch die spätere kraft Gesetzes „erledigt", vgl. § 67 f und dazu näher Horstkotte LK, Erl. zu § 67 f. III. Personenkreis (Jugendliche, Heranwachsende, Ausländer); Auslieferung 68
1. Jugendliche und Heranwachsende. Gegen Jugendliche (§ 1 Abs. 2 JGG) und ihnen gleichgestellte Heranwachsende (§ 105 Abs. 1 JGG) kann nach § 7 J G G nur die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt, die Führungsaufsicht oder die Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet werden. Dabei gelten die speziellen Regelungen des J G G ; bei der Unterbringung im Krankenhaus und der Entziehungsanstalt ist insbesondere § 5 Abs. 3 J G G zu beachten. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wird in besonderen Einrichtungen vollzogen (§ 93 a JGG). — Zu den bisweilen schwierigen Einzelfragen bei Anwendung von Maßregeln gegen Jugendliche und gleichgestellte Heranwachsende ist auf die Erläuterungswerke zum J G G sowie auf einige spezielle Hinweise in diesem Kommentar (ζ. B. § 63 Rdn. 15 ff; § 64 Rdn. 20 ff; Rdn. 28 f vor § 68) zu verweisen. Gegen Heranwachsende, auf die das allgemeine Strafrecht angewendet wird, darf Sicherungsverwahrung nicht angeordnet werden (§ 106 Abs. 2 S. 1 JGG).
69
2. Ausländer. Soweit Ausländer nach § 3 ff dem Strafgesetz der Bundesrepublik unterliegen, ist das Maßregelrecht grundsätzlich auch ihnen gegenüber anwendbar 3 2 .
70
3. Auslieferungsrecht. Rechtshilfe. Im Gegensatz zum AuslieferungsG von 1929 (dazu LK10 Rdn. 70 vor § 61) bestimmt das IRG ausdrücklich, daß die Auslieferung eines Ausländers — unter den sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen — nicht nur wegen einer im Ausland drohenden oder verhängten Strafe, sondern auch wegen einer „sonstigen Sanktion" zulässig ist (§ 2), also insbesondere wegen einer Maßregel der Besserung und Sicherung. Grundsätzlich zulässig ist nach dem IRG insoweit auch die Durchlieferung (§§ 43 ff) sowie die Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer rechtskräftiger Erkenntnisse (§71; dazu BGHSt. 36 199, 203 f)· Zu beachten ist jedoch (vgl. § 1 Abs. 3 IRG), daß das Europäische Auslieferungsabkommen von 1957 (BGBl. 1964 II S. 1369; dazu Vogler ZStW 80 480) - als Folge eines Kompromisses — die nicht mit Freiheitsentzug verbundenen persönlichen Maßnahmen ausnimmt und einen Hinweis auf die Höchstdauer der Maßregeln kennt (näher Vogler aaO; vgl. auch Altavista in: Aktuelle Probleme des internationalen Strafrechts, 1970, S. 1). Zu beachten ist weiter, daß die verschiedenen Auslieferungsverträge oft nähere, unterschiedliche und unterschiedlich weitgehende Regelungen über die Einbeziehung von Maßregeln enthalten.
71
IV. Maßgebendes Gesetz; zeitliche Geltung. Nach § 2 Abs. 6 ist, anders als bei der Strafe, über Maßregeln nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung (nicht: zur Zeit der Tat) gilt, falls das Gesetz selbst nichts anderes bestimmt. Etwas anderes ist bei der Strafrechtsreform insbesondere in den Art. 301, 303, 305 EGStGB für die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65 a. F.), die Führungsaufsicht (§ 68) und die Neuregelung des Berufsverbots (§ 70) bestimmt worden (vgl. auch Art. 306 EGStGB) sowie später in Art. 316 n. F. EGStGB im Zusammenhang mit der Änderung des § 67 und des § 67 d Abs. 5 durch das 23. StRÄndG. 32
Vgl. schon R G H R R 1934 Nr. 1718; 1940 Nr. 179; RG JW 1939 87; allgemeine Meinung, ζ. B. Dre-
her/Tröndle Rdn. 4 vor § 61; Rdn. 7 vor § 61.
Stand: 1. 12. 1991
Sch/Schröder/Stree
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Vorbemerkungen
Vor §§ 61 ff
Der Gesetzgeber hat auf diese Weise verbreiteten Bedenken gegen die rückwirkende Einführung bzw. die rückwirkende Schärfung von Maßregeln (vgl. im folg. Text) insoweit praktisch Rechnung getragen. Mit der Regelung des § 2 Abs. 6 geht das Gesetz von dem Grundsatz aus, daß in 72 einem neuen Gesetz jeweils bessere Erkenntnisse über die Möglichkeiten der Verbrechensbekämpfung zum Ausdruck kommen und diese im Interesse des Gesellschaftsschutzes bei den Maßregeln im Zweifel sogleich Anwendung finden sollen, etwas anderes also besonders normiert werden müsse. Ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 G G soll in dieser Konzeption nach herrschender Meinung nicht liegen, weil Art. 103 Abs. 2 nur für die Strafe, nicht aber für die Maßregeln gelte (vgl. statt aller BGHSt. 24 103 m. Anm. Schroeder JR 1971 379). Im einzelnen ist die Berechtigung, die Maßregeln vom Rückwirkungsverbot auszunehmen, unter verfassungsrechtlichen wie unter kriminalpolitischen Aspekten lebhaft umstritten (anders ζ. Β. § 1 AE-AT). Näher zum Ganzen Gribbohm LK, Erl. zu § 2. V. Verjährung. Für Maßregeln gelten die allgemeinen Vorschriften der §§ 78 ff 7 3 über die Verfolgungsverjährung (vgl. § 78 Abs. 1) und im Grundsatz auch die Vorschriften der §§ 79 ff über die Vollstreckungsverjährung (vgl. § 79 Abs. 1); im letzteren Bereich bestehen einige Sonderregelungen (§ 79 Abs. 4, 5). Näher Jähnke LK, Erl. zu §§ 78 ff und 79 ff. VI. Begnadigung und Amnestie 1. Eine Begnadigung ist bei Maßregeln rechtlich nicht ausgeschlossen. Jedoch wird 74 sie im Interesse des Schutzes der Allgemeinheit vor gefährlichen Personen nur selten in Betracht kommen (Dreher/Tröndle Rdn. 6 vor § 61). Zu denken ist insbesondere an Fälle, in denen einem nachträglichen Wegfall des Sicherungsbedürfnisses durch richterliche Entscheidung nicht schnell genug Rechnung getragen werden kann, wie das infolge der Mindestfrist des § 68 c im Einzelfall namentlich bei der Führungsaufsicht denkbar ist. Bedenklich ist die Ansicht von Jescheck (AT § 88 II 3), daß ein Gnadenerlaß bei Maßregeln „im allgemeinen nur" in Betracht kommt, wenn ein Fehlurteil vorliegt; in dieser Form sagen das auch die, meist restriktiv formulierten neueren Gnadenordnungen (dazu Schälzier Handbuch des Gnadenrechts, 1976) nicht. 2. Die Amnestiegesetze nehmen die Maßregeln meist ausdrücklich von der Straf- 75 freiheit aus (so ζ. B. die Straffreiheitsgesetze vom 17. 7. 1954, vom 9. 7. 1968 und vom 20. 5. 1970). Sofern eine derartige Regelung nicht getroffen ist, erfaßt die Amnestie jedenfalls in denjenigen Fällen, in denen die Maßregel nur neben der Verurteilung zu Strafe ausgesprochen werden darf, gegebenenfalls auch die Maßregelanordnung, eben weil insoweit die Maßregel nur zusammen mit der Strafe verhängt werden kann (so überzeugend RGSt. 69 262). VII. Strafrechtlicher Schutz. Die Durchführung und Durchsetzung von Maßre- 76 geln wird durch eine Reihe von Strafvorschriften gestützt: § 120 (Befreiung von Gefangenen bzw. Verwahrten), § 121 (Gefangenenmeuterei durch Sicherungsverwahrte, vgl. § 121 Abs. 4), § 145 a (Verstoß gegen Weisungen bei der Führungsaufsicht), § 145 c (Verstoß gegen das Berufsverbot), § 258 (Straf- bzw. Maßregelvereitelung), § 258 a (Straf- bzw. Maßregelvereitelung im Amt), § 323 b (Gefährdung einer Entziehungskur). (27)
Ernst-Walter Hanack
Vor
§§ 61 ff
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
VIII. Verfahrensrechtliches 77
1. Entscheidung über die Anordnung und Folgeentscheidungen. Verfahrensrechtlich ist zu unterscheiden zwischen der Anordnung der Maßregel und den dabei oder dadurch nötigen Folgeentscheidungen, wobei vor allem diese Folgeentscheidungen, entsprechend ihrer unterschiedlichen Art und Bedeutung, prozessual in sehr differenzierter Weise geregelt sind. Im einzelnen ergibt sich — im Überblick — insoweit das folgende Bild.
78
a) Anordnung von Maßregeln. Maßregeln können, abgesehen von der Führungsaufsicht kraft Gesetzes (Rdn. 9 vor § 68), immer nur vom erkennenden Gericht angeordnet werden (näher Rdn. 82).
79
b) Entscheidungen zugleich mit der Anordnung. In einer Reihe von Fällen muß oder kann das erkennende Gericht zugleich mit der Maßregelanordnung weitere Entscheidungen treffen. Dies geschieht teils im Urteil, teils durch besonderen Beschluß. Zu nennen sind vor allem folgende Entscheidungen. Bei Unterbringungen nach § 63 und § 64 (nicht: nach § 66) kann das erkennende Gericht unter den Voraussetzungen des § 67 b im Urteil (§ 260 Abs. 4 S. 4 StPO) die sofortige Aussetzung der Maßregel-Vollstreckung zur Bewährung anordnen. Eine solche Anordnung löst — nach Rechtskraft — Führungsaufsicht kraft Gesetzes aus (§ 67 b Abs. 2). Das erkennende Gericht kann schon zugleich mit dem Urteil durch besonderen Beschluß (§ 268 a Abs. 2 StPO) Entscheidungen über die Gestaltung der Führungsaufsicht treffen; es kann derartige Entscheidungen — ganz oder teilweise — aber auch dem Vollstreckungsverfahren überlassen, wie sich das vielfach empfiehlt (näher LK Rdn. 12 Vor § 68 i. V. mit § 68 Rdn. 28).
Verhängt das Gericht nach den Regeln des § 72 mehrere freiheitsentziehende Maßregeln, bestimmt es die Reihenfolge der Vollstreckung (§ 72 Abs. 3 S. 1) ebenfalls im Urteil, während die spätere Prüfung, ob die jeweils folgende Maßregel auch zu vollziehen ist (§ 72 Abs. 3 S. 2), im Vollstreckungsverfahren erfolgt. Entscheidungen, durch die ausnahmsweise ganz oder teilweise ein Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe vor der Maßregelvollstreckung angeordnet wird (§ 67 Abs. 2), kann schon das erkennende Gericht treffen; sie können aber auch im Vollstreckungsverfahren erfolgen oder abgeändert werden (§ 67 Abs. 3). 80 Bei den Maßregeln ohne Freiheitsentzug muß das erkennende Gericht bestimmte Entscheidungen, die eigentlich Folgeentscheidungen sind, stets im Urteil treffen; so insbesondere die Entscheidung über die Sperrdauer für die Erteilung einer Fahrerlaubnis (§ 69 a) sowie über die Dauer einer verbotenen Berufsausübung (§ 70). Bei der Führungsaufsicht kraft Richterspruchs (§ 68 Abs. 1), wo eine Bestimmung der Aufsichts-Dauer nicht erfolgt, kann das erkennende Gericht nach den gleichen Grundsätzen wie bei der Führungsaufsicht kraft Gesetzes (s. Rdn. 79) zugleich mit dem Urteil durch besonderen Beschluß (§ 268 a Abs. 2 StPO) Entscheidungen über die Ausgestaltung der Aufsicht treffen, aber auch dem Vollstreckungsverfahren überlassen. 81
c) Sonstige Folgeentscheidungen. Für alle Folgeentscheidungen, die nicht das erkennende Gericht zugleich mit der Anordnung der Maßregel trifft, gelten nach Maßgabe der Verweisungsvorschrift des § 463 StPO die Bestimmungen über das strafprozessuale Vollstreckungsverfahren. Danach ist bei den freiheitsentziehenden Maßregeln meist die Strafvollstrekkungskammer (§§ 78 a, 78 b GVG) zuständig, soweit es sich nicht um Maßregeln gegen Jugendliche und Heranwachsende handelt. Bei ihnen entscheidet gemäß § 82 Stand: l. 12. 1991
(28)
Vorbemerkungen
Vor §§ 61 ff
J G G anstelle der Vollstreckungskammer der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter (BGHSt. 26 162; OLG Celle NJW 1975 2253 mit Kritik am Gesetzgeber). Bei den Maßregeln ohne Freiheitsentzug befindet, außer im Jugendstrafrecht, entweder die Strafvollstreckungskammer oder das Gericht des 1. Rechtszugs mit Abgabemöglichkeit an das Gericht des Wohnsitzes über alle Folgeentscheidungen. Im einzelnen muß für die zum Teil äußerst verfilzten und gesetzestechnisch sehr unglücklich konzipierten Regelungen im Vollstreckungsverfahren auf die einschlägigen Erläuterungswerke zur StPO verwiesen werden. 2. Entscheidungen im Strafverfahren und Sicherungsverfahren. Maßregeln können 82 nur durch Richterspruch angeordnet werden. Erforderlich ist regelmäßig eine Hauptverhandlung und damit Entscheidung durch Urteil (§ 260 StPO). Lediglich die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69) kann auch durch Strafbefehl erfolgen, wenn die Sperre nicht mehr als zwei Jahre beträgt (§ 407 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Im Privatklageverfahren dürfen Maßregeln nicht angeordnet werden (§ 384 Abs. 1 S. 2 StPO). Die Entscheidung erfolgt grundsätzlich in dem gleichen Verfahren, in dem über die Bestrafung wegen der Anlaßtat entschieden wird („angeschlossenes Verfahren"), also im normalen Strafverfahren. Sie hat im Urteilstenor zu erfolgen (§ 260 Abs. 4 StPO) und darf nicht einer späteren Entscheidung, etwa einem Beschluß, vorbehalten bleiben; sie kann auch nicht unter Vorbehalt ergehen (RGSt. 68 383; BGHSt. 5 350; BGH JR 1954 267). Über Entscheidungen, die zugleich mit der Anordnung getroffen werden können oder müssen, s. Rdn. 79 f. Eine selbständige Anordnung der Maßregel, also eine Anordnung ohne gleichzeitige Bestrafung wegen der Anlaßtat, ist in den Fällen des § 71 zulässig, wenn der Täter schuldunfähig oder verhandlungsunfähig ist. Die Anordnung kann dann auch in einem besonderen Verfahren erfolgen, dem Sicherungsverfahren der §§ 413 ff StPO, das dem „angeschlossenen Verfahren" zwar angenähert ist, aber doch Besonderheiten aufweist. Einzelheiten s. bei den Erl. zu § 71. 3. Prozeßvoraussetzungen. Verfahrenshindernisse (Prozeßhindernisse; vgl. näher 8 3 ζ. B. Schäfer in Löwe-Rosenberg, Einl. Kap. 11 und 12) sind auch bei Anordnung der Maßregeln zu beachten. Dies ist eindeutig, soweit die Maßregeln zugleich mit der Strafe im (angeschlossenen) Strafverfahren angeordnet werden. Daher kann ζ. B. bei Fehlen eines erforderlichen Strafantrags (BGHSt. 31 132) oder bei eingetretener Verjährung hinsichtlich der Anlaßtat eine Maßregel nicht angeordnet werden. Streitig war vor Inkrafttreten des 2. StrRG jedoch, ob das Antragserfordernis 84 auch für das selbständige Sicherungsverfahren gemäß § 429 a a. F. (jetzt: § 413) StPO gilt. Im Gegensatz zum RG (RGSt. 71 219; 73 155) und zur überwiegenden Lehre (Nachw. bei Lang-Hinrichsen LK 9 Rdn. 50 vor § 42 a) hatte der BGH dies verneint, weil der Schutz der Allgemeinheit vor künftigen Gefahren nicht vom Willen einer Privatperson abhängen dürfe 3 3 . So einleuchtend diese Überlegung auf den ersten Blick sein mag, so wenig konnte sie doch befriedigen. Denn sie führt zu ganz unstimmigen Ergebnissen, auf die bereits das RG (aaO) hingewiesen hat. Im 2. StrRG hat nun auch der Gesetzgeber, in bewußter Abkehr von weitergehenden Vorschlägen des § 103 Ε 1962 und des § 81 AE-AT, in § 71 eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß die 33
BGHSt. 5 140; zustimmend z.B. Bruns JZ 1954 730, 731; Dallinger MDR 1954 334; Eb. Schmidt
(29)
Nachträge I, § 429a Rdn. 17; Wehel Lehrbuch § 35 I 1 a.
Ernst-Walter Hanack
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selbständige Anordnung einer Maßregel nur bei Schuld- oder Verhandlungsunfähigkeit erfolgen darf, nicht also auch bei anderen Hindernissen, die der Durchführung eines Strafverfahrens entgegenstehen (s. LK § 71 Rdn. 5 f)· Damit ist der Ansicht des BGH kraft Gesetzes der Boden entzogen. Das hat er mittlerweile selbst ausgesprochen (BGHSt. 31 132 = JR 1984 25 m. Anm. Blau) und das entspricht heute auch der ganz herrschenden Meinung (Nachweise § 71 Rdn. 6). — Im übrigen ist zu beachten, daß seit der Strafrechtsreform die Gefährlichkeit regelmäßig auf „erhebliche" Taten bezogen ist und die Strafverfolgung auch bei Antragsdelikten in vielen Fällen trotz fehlenden Antrags zulässig ist, wenn die Staatsanwaltschaft im öffentlichen Interesse ein Einschreiten für geboten hält. 4. Notwendige Verteidigung 84a
a) Bei Anordnung von Maßregeln. Nach dem Katalog des § 140 Abs. 1 StPO ist die Mitwirkung eines Verteidigers nach Maßgabe des § 141 StPO stets erforderlich, wenn das Verfahren eine Unterbringung nach § 63 oder § 66 betrifft (§ 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO i.V. mit § 24 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 GVG), wenn es zu einem Berufsverbot führen kann (§ 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO; dazu BGHSt. 4 321) oder wenn ein Sicherungsverfahren (Rdn. 82) durchgeführt wird (§ 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO). Geht es um die Unterbringung nach § 64 in einem amtsgerichtlichen Verfahren (zulässig nach § 24 GVG [Umkehrschluß]), greift der Katalog des § 140 Abs. 1 nur aus besonderen Gründen ein. In den anderen Fällen liegt aber grundsätzlich ein Fall notwendiger Verteidigung nach der Generalklausel des § 140 Abs. 2 vor, und zwar mindestens wegen der „Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage"; das ergibt sich schon aus der Pflicht zur Einschaltung eines Gutachters (§ 246 a StPO), aber auch aus den komplizierten Wertungs- und Prognosefragen, die mit jeder Entscheidung nach § 64 verbunden sind (vgl. auch OLG Düsseldorf AnwBl. 1978 355). Das gleiche gilt in der Regel, wenn die Anordnung von Führungsaufsicht nach § 68 in Frage steht, schon weil meist auch hier die Heranziehung eines Sachverständigen geboten ist (Rdn. 86) und der Richter eine juristisch wie kriminologisch ebenfalls sehr schwierige und kritische Entscheidung zu treffen hat (zurückhaltender K.K-Laufhütte § 140 Rdn. 10, 21).
84b
Anderes dürfte jedoch für die Entziehung der Fahrerlaubnis gelten. Hier deutet schon die Regelung des § 407 Abs. 2 Nr. 2 StPO darauf hin, daß nach geltendem Recht die Anordnung der Maßregel in vielen Fällen als vergleichsweise kompliziert nicht zu werten ist. Man wird in der Tat annehmen müssen, daß sie nicht schon als solche einen Fall des § 140 Abs. 2 StPO darstellt, notwendige Verteidigung nach dieser Vorschrift vielmehr nur besteht, wenn das Verfahren aus sonstigen Gründen die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 erfüllt 34 .
84c
b) Bei Folgeentscheidungen. In Rechtsprechung und Lehre ist heute anerkannt, daß im Vollstreckungsverfahren aus rechtsstaatlichen Gründen eine Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO geboten sein kann, wenn das im konkreten Fall, insbesondere im Hinblick auf Besonderheiten und Schwierigkeiten im Diagnose- und Prognosebereich, nach den Kriterien des § 140 Abs. 2 nötig erscheint. Bei der Entscheidung über die Aussetzung einer freiheitsentziehenden Maßregel ist das in der Regel mindestens dann zu bejahen, wenn die Aussetzung nach Lage des Falles nicht selbstverständlich 34
Wie Kleinknecht/Meyer § 140 Rdn. 25 bei einem Berufskraftfahrer annehmen; weitergehend Lüderssen in Löwe-Rosenberg § 140 Rdn. 50; Molle-
kin Die Schutzfunktion des § 140 II StPO ... (1985)S. 56.
Stand: I. 12. 1991
(30)
Vorbemerkungen
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§§ 61
ff
35
erscheint . Entsprechendes gilt für die Entscheidung über die vorzeitige Erledigung einer Unterbringung nach § 64 gemäß § 67 d Abs. 5 sowie über den Widerruf einer Aussetzung nach § 67 g 36 , bei kritischeren Prognoseproblemen, insbesondere solchen mit medizinisch-psychologischem Einschlag, nach Lage des Einzelfalles aber auch im Bereich der vorzeitigen Aussetzung von Maßregeln ohne Freiheitsentzug bzw. bei Entscheidungen gemäß § 68 f Abs. 2. 5. Zuziehung von Sachverständigen a) Bei freiheitsentziehenden Maßregeln. Ist mit der Anordnung einer freiheitsent- 85 ziehenden Maßregel zu rechnen, muß das erkennende Gericht in der Hauptverhandlung einen Sachverständigen zuziehen (§ 246 a StPO). Sachverständiger soll nach BGH bei Dallinger M D R 1976 17 regelmäßig ein Arzt sein, es sei denn, daß im Einzelfall nur nicht-medizinische Fragen zu beurteilen sind. Die unterlassene Zuziehung begründet in der Regel die Revision (näher ζ. B. Gollwitzer in Löwe-Rosenberg § 246 a Rdn. 12). Auch das Unterlassen einer vorherigen Untersuchung kann — als Verletzung des § 244 Abs. 2 StPO die Revision begründen 3 7 . Der Richter darf das Sachverständigengutachten selbstverständlich nicht unbesehen übernehmen. Er muß zu ihm auch im Urteil Stellung nehmen, wenn er einen Revisionsgrund vermeiden will (vgl. ζ. B. BGHSt. 7 238; auch 12 311; BGH NJW 1977 2127, 2128); im Hinblick auf die revisionsrechtliche Kontrolle muß er dabei in der Regel die Anknüpfungstatsachen und Ausführungen des Sachverständigen, aber auch seine eigenen Erwägungen dazu angeben (näher Hanack in Löwe-Rosenberg § 337 Rdn. 140). Zahlreiche Berichte und lebhafte Klagen über die mangelnde Sorgfalt vieler psychiatrischer Gutachten (vgl. LK § 63 Rdn. 131) verpflichten ihn in diesem Bereich zu besonderer Aufmerksamkeit. Im übrigen ,,soll" ein Sachverständiger schon im Ermittlungsverfahren zugezogen werden (§ 80a StPO; dazu näher ζ. B. Dahs in Löwe-Rosenberg, Erl. zu § 80a). Unter den Voraussetzungen des § 81 StPO kann eine stationäre Begutachtung im psychiatrischen Krankenhaus für die Dauer von höchstens sechs Wochen erfolgen (näher Dahs aaO, Erl. zu § 81). b) Bei nicht-freiheitsentziehenden Maßregeln. Hier richtet sich die Pflicht des er- 86 kennenden Gerichts zur Zuziehung von Sachverständigen nach den allgemeinen Regeln (Aufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO; Beweisantragsrecht der §§ 244ff StPO). Insbesondere bei der Führungsaufsicht (§ 68 Abs. 1) wird die Zuziehung eines Sachverständigen in vielen Fällen geboten sein. Denn die Entscheidung, ob vom Täter weitere Taten zu erwarten sind, verlangt ihrer Natur nach eine Gesamtwürdigung seiner Person und die Erstellung einer genauen Prognose (LK § 68 Rdn. 13). Beim Gewicht und der Zwiespältigkeit der Maßregel erfordert dies die Beurteilung mit Hilfe spezifischen Fachwissens jedenfalls dann, wenn sich die weitere Gefährlichkeit des Täters nicht durch eine gehäufte Fülle spezifischer Vortaten (etwa: als gefährlicher „Wirtshausschläger") unmittelbar aufdrängt.
35
Vgl. insbesondere BVerfGE 63 380, 391; 70 297, 323; OLG Bremen StrVert. 1986 256; OLG Düsseldorf StrVert. 1983 11, 407; 1985 377; OLG Hamm StrVert. 1984 105; 1985 464; KG StrVert. 1984 502; weitere Nachweise z.B. bei Kleinknecht/Meyer § 140 Rdn. 33.
(31)
36
37
Zum ersteren vgl. OLG Celle StrVert. 1982 262; zum letzteren OLG Bremen NStZ 1986 379 und OLG Koblenz StrVert. 1983 93 L. So BGHSt. 9 1 im Anschluß an RGSt. 68 198 und 327; 69 129; vgl. auch BGH NJW 1968 2298.
Ernst-Walter H a n a c k
ΥΟΓ § § 6 1 ff
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
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6. Veränderte rechtliche Gesichtspunkte (§ 265 StPO). Ist in der zugelassenen Anklage (§ 207 StPO) bzw. Antragsschrift (§414 StPO) eine Maßregel nicht genannt, die gegen den Angeklagten verhängt werden soll, so muß ihn das Gericht gemäß § 265 Abs. 1, 2 StPO auf die Möglichkeit der Anordnung hinweisen (BGH StrVert. 1988 329; 1991 198). Das gilt auch, wenn in der Anklage Maßregeln zwar angeführt wurden, statt ihrer oder neben ihnen aber andere Maßregeln verhängt werden sollen (allg. M.). Es macht dabei keinen Unterschied, ob erst in der Hauptverhandlung neue Tatsachen hinzutreten, die die Anordnung der Maßregel nahelegen, oder ob das Gericht allein aufgrund einer anderen rechtlichen Beurteilung die Maßregel in Erwägung zieht; so z.B. BGHSt. 2 85 (für das Berufsverbot); BGHSt. 18 288 und BayObLG GA 1982 325 (für die Entziehung der Fahrerlaubnis); BGHSt. 22 29 und BGH NJW 1964 459 (für die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus [Heil- oder Pflegeanstalt]); BGH GA 1966 180 (für die Sicherungsverwahrung).
88
7. Rechtsmittel. Entscheidungen des erkennenden Gerichts, durch die eine Maßregel angeordnet oder nicht angeordnet wird, sind nach den allgemeinen Regeln über Rechtsmittel (Berufung bzw. Revision gegen Urteile; Einspruch gegen Strafbefehl) anfechtbar; das gilt auch für Urteile im Sicherungsverfahren (§ 414 Abs. 1 StPO). Die Nichtanordnung einer Maßregel beschwert nach herrschender Meinung den Täter grundsätzlich auch dann nicht, wenn sie speziell seiner Besserung dient 37a .
89
Streitig ist, ob oder wieweit in denjenigen Fällen, in denen im Urteil zugleich über Schuld und Strafe hinsichtlich der Anlaßtat entschieden ist, eine Beschränkung der Berufung oder der Revision allein auf die Anordnung oder Nichtanordnung einer Maßregel statthaft ist (Problem der Rechtsmittelbeschränkung; s. §§ 318, 327; 344, 352,353 StPO). Die Rechtsprechung geht — im Ergebnis — heute im allgemeinen davon aus, daß die isolierte Anfechtung im Grundsatz zulässig ist, soweit sich die Entscheidung über die Maßregel von der Entscheidung über die Schuld- und Straffrage trennen läßt (so ζ. B. BGHSt. 5 267; 7 101; 10 397; BGH NJW 1963 1414); ist das nicht der Fall, hält sie die Beschränkung für unwirksam mit der Folge, daß, soweit der Zusammenhang besteht, auch der Schuld- oder Strafausspruch von der Anfechtung erfaßt wird. Im einzelnen ist die Rechtsprechung dabei nicht gradlinig und einheitlich, so daß man zum Teil sogar darüber streiten kann, was sie als Grundsatz und was als Ausnahme ansieht. Die Folge ist, daß die Handhabung bei den verschiedenen Maßregeln nicht unerheblich divergiert, ohne daß dies stets zwingend durch Eigenarten der jeweiligen Maßregeln bedingt wäre. Die Folge ist weiter, daß für den Beschwerdeführer oft schwer vorauszusehen ist, ob oder inwieweit das Rechtsmittelgericht die Beschränkung der Anfechtung akzeptiert. Im Schrifttum wird die Rechtsprechung zum Teil kritisiert und in stärkerem Maße Untrennbarkeit angenommen (so insbesondere Grünwald Die Teilrechtskraft im Strafverfahren, 1964, S. 194ff; Eb. Schmidt Lehrkommentar Teil II, § 318 Rdn. 34 ff). Im einzelnen muß — über die Hinweise bei Kommentierung der verschiedenen Maßregeln im LK hinaus — auf das strafprozessuale Schrifttum verwiesen werden (namentlich Grünwald aaO; Eb. Schmidt aaO; Gollwitzer und Hanack in Löwe-Rosenberg, § 318 Rdn. 23 ff und § 344 Rdn. 50 ft).
90
Soweit das erkennende Gericht zugleich mit der Anordnung einer Maßregel in einem besonderen Beschluß Folgeentscheidungen über deren Ausgestaltung trifft
BGHSt. 28 327, 330 und OLG Köln NJW 1978 2350 für § 64; dagegen Hanack in Löwe-Rosen-
berg, § 333 Rdn. 24; vgl. aber auch BGH NJW 1990 2143.
Stand: 1. 12. 1991
(32)
Vorbemerkungen
Vor §§ 61 ff
(§ 268 a Abs. 2 StPO; oben Rdn. 79 f), richtet sich die Anfechtbarkeit eines solchen Beschlusses nach der Bestimmung des § 305 a StPO. Für die Anfechtung von Entscheidungen im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens ergeben sich die Einzelheiten aus der Verweisungsvorschrift des § 463 StPO. 8. Verbot der reformatio in peius a) Grundsatz. Bei der Berufung (§ 331), der Revision (§ 358 Abs. 2) und der Wie- 91 deraufnahme (§ 373 Abs. 2 StPO) darf ein Urteil in Art und Höhe der Rechtsfolgen nicht zum Nachteil des Angeklagten (Verurteilten) abgeändert werden, wenn lediglich er selbst, zu seinen Gunsten die Staatsanwaltschaft oder sein gesetzlicher Vertreter das Rechtsmittel einlegt. Das Verbot gilt für alle Rechtsfolgen, grundsätzlich also auch für Maßregeln der Besserung und Sicherung. b) Ausnahmen sind in den genannten Bestimmungen für die Unterbringung nach 92 § 63 und § 64 vorgesehen. Diese Maßregeln dürfen also noch im Berufungs- und im Revisionsverfahren bzw. in der Neuverhandlung vor dem Tatrichter nach Aufhebung eines angefochtenen Urteils durch das Revisionsgericht sowie im Wiederaufnahmeverfahren angeordnet werden; Grund dafür ist der Gedanke, die ärztlich geleiteten Einrichtungen insbesondere im wohlverstandenen Interesse des Betroffenen tunlich auszunutzen. Aus der Regelung folgt auch, daß die beiden Maßregeln noch im Rechtsmittelverfahren ohne Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot untereinander ausgetauscht werden können. Hingegen ist ein Austausch mit der Sicherungsverwahrung regelmäßig unzulässig (BGHSt. 25 38 m. Anm. Maurach JR 1973 162; streitig; näher, auch zur Frage einer möglichen Ausnahme, LK § 72 Rdn. 38). Die geschilderte Regelung kann zu folgender Situation führen: In einer ersten 93 Hauptverhandlung wird der Täter für schuldunfähig befunden und eine der genannten Maßregeln angeordnet. Auf sein Rechtsmittel hin kommt es zu einer neuen Hauptverhandlung, in der das Gericht feststellt, daß der Täter lediglich vermindert schuldfähig war. Zu Strafe kann er wegen des Verschlechterungsverbots jetzt nicht mehr verurteilt werden. Zweifelhaft bleibt, ob — unter den sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen — eine Unterbringung gemäß §§ 63, 64 angeordnet werden darf, weil nach der Struktur des Gesetzes eine solche Unterbringung im Falle der Schuldfähigkeit grundsätzlich die gleichzeitige Verurteilung zu Strafe voraussetzt. Der BGH (BGHSt. 11 319, 323) hat unter Billigung der ganz herrschenden Lehre schon früher und trotz des auch damals entgegenstehenden Wortlauts von § 42 b Abs. 2 a. F. zu Recht angenommen, daß die Unterbringung hier auch ohne gleichzeitige Bestrafung erfolgen dürfe: Der Angeklagte habe Strafe an sich verwirkt; sie entfalle nur aus einem verfahrensrechtlichen Grund, der ihm einen weiteren und durchaus zweckwidrigen Vorteil nicht bringen könne. Anders liegt es jedoch, wenn in der neuen Hauptverhandlung festgestellt wird, 94 daß der Täter nicht einmal vermindert, sondern voll schuldfähig war. Denn dann fehlt es insoweit an einer gesetzlichen Voraussetzung der Unterbringung (mindestens verminderte Schuldfähigkeit), so daß der Täter im Ergebnis weder bestraft noch untergebracht werden darf (RGSt. 69 12; Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, § 331 Rdn. 86). c) Einzelfragen. Im einzelnen wirft das Verschlechterungsverbot auch im Bereich 95 der Maßregeln mancherlei Probleme auf, die sich vor allem aus der generellen Schwierigkeit ergeben, bei der Fülle abgestufter Reaktionen im heutigen Strafgesetz zu bestimmen, was „nach Art (und Höhe) der Rechtsfolgen" ein „Nachteil" im Sinne (33)
Ernst-Walter Hanack
Vor
§§ 61 ff
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
der Rdn. 91 zitierten Gesetzesbestimmungen darstellt. Insoweit muß auf die einschlägigen Darstellungen des Strafprozeßrechts verwiesen werden. Hervorgehoben werden mag folgendes. 96 Probleme entstehen in der Praxis vor allem bei der Entziehung der Fahrerlaubnis. Da das Verschlechterungsverbot auch hier gilt, ist die nachträgliche oder längere Entziehung ζ. B. selbst dann unzulässig, wenn dafür eine im ersten Verfahren ausgeworfene Geld- oder Freiheitsstrafe herabgesetzt wird. Zulässig ist hingegen ihr Austausch mit einem Fahrverbot (näher Geppert LK, Erl. zu § 69). Auch führt das Verschlechterungsverbot nicht zu einer Anrechnung der vorläufigen Entziehung gemäß § 111 a StPO (näher Geppert LK, Erl. zu § 69 a). 97
Das Verschlechterungsverbot gilt auch nicht für die Entscheidung über Auflagen und Weisungen, die das Gericht gemäß § 268 a StPO bei Aussetzung einer Maßregel oder zugleich mit der Anordnung von Führungsaufsicht trifft (streitig; näher Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, § 268 a Rdn. 20). Auf einem Blatt steht, daß einmal getroffene Auflagen, Weisungen und sonstige Anordnungen des erkennenden Gerichts außerhalb des Rechtsmittelverfahrens nachträglich nur aufgrund neuer oder veränderter Tatsachen geändert werden dürfen, nicht also schon bei anderer Sicht der Rechtsfragen (s. ζ. B. LK, § 68 d Rdn. 4 f).
98
9. Maßregeln und Nebenklage. Im Sicherungsverfahren (§§413 ff StPO) ist, solange es nicht zum Übergang ins Strafverfahren kommt (§416 StPO), der Anschluß als Nebenkläger nach herrschender Meinung unzulässig (BGH NJW 1974 2244); dagegen mit guten Gründen LG Essen NStZ 1991 98 mit zust. Anm. Weigend·, Gruhl NJW 1991 1874. Seit der Neuordnung des Rechts der Nebenklage durch das OpferschutzG v. 18. 12. 1986 (BGBl. I 2496) kann der Nebenkläger auch im Normalverfahren ein Urteil nicht mehr mit dem Ziel anfechten, daß eine andere Rechtsfolge der Tat verhängt wird (§ 400 StPO), also auch nicht in Bezug auf die Anordnung oder Änderung einer Maßregel.
99
10. Vorläufige Anordnungen im Maßregelrecht. Gegen Täter, deren Unterbringung in einer freiheitsentziehenden Maßregel nach den §§ 63 oder 64 zu erwarten ist, kann unter den Voraussetzungen des § 126 a StPO eine einstweilige Unterbringung angeordnet werden, wenn die öffentliche Sicherheit dies erfordert; näher dazu insbes. Wendisch in Löwe-Rosenberg, Erl. zu § 126 a. Des weiteren gibt das Gesetz die Möglichkeit, eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ l i l a StPO) sowie die vorläufige Anordnung eines Berufsverbots (§ 132 a StPO) vorzunehmen. Zu den oft komplizierten Voraussetzungen s. näher Schäfer und Hanack in Löwe-Rosenberg, Erl. zu § l i l a und 132 a. IX. Recht des Einigungsvertrages
100
1. Taten vor dem Beitritt. Mit dem Wirksamwerden des Einigungsvertrages (3. 10. 1990) gilt aufgrund von Art. 8 des Vertrages im Gebiet der früheren D D R einschließlich Ostberlins grundsätzlich das Maßregelsystem des StGB. Da nach der allgemeinen Regel des § 2 Abs. 6 über Maßregeln der Besserung und Sicherung grundsätzlich nach dem Gesetz zu entscheiden ist, das zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung gilt, bedeutet dies, daß das Maßregelrecht auch auf noch nicht abgeurteilte Taten anzuwenden ist, die vor dem Wirksamwerden des Vertrages begangen worden sind, soweit das Gesetz selbst nichts anderes bestimmt. Stand: 1. 12. 1991
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Vorbemerkungen
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f f
Der Einigungsvertrag bestimmt etwas anderes nur für die Unterbringung in der 101 Sicherungsverwahrung (§ 66) und für die Führungsaufsicht nach § 68 Abs. 1; sie können auf Taten, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts begangen worden sind, nicht angewendet werden (Art. 315 EGStGB i. d. F. von Anlage I Kap. III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1 b des Einigungsvertrages). Nicht anwendbar ist nach Art. 315 EGStGB n. F. insoweit auch die Regelung des § 68 f über die Führungsaufsicht für sog. Vollverbüßer. Zu den praktischen Konsequenzen dieser Ausnahmeregelung für die Sicherungsverwahrung s. Rdn. 104. Die rückwirkende Einführung der übrigen Maßregeln dürfte verfassungsrechtlich 102 unbedenklich sein. Denn nach herrschender Meinung (näher Gribbohm LK, Erl. zu § 2) gilt das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht für die Maßregeln. Aber auch wenn man insoweit (mit einer verbreiteten Mindermeinung, s. Gribbohm aaO) anderer Ansicht ist, wird man bedenken müssen: Das Recht der D D R kannte zwar keine Maßregeln der Besserung und Sicherung. Es verfügte aber durchaus über nicht weniger einschneidende, also den Maßregeln vergleichbare Instrumentarien (so auch Schneiders M D R 1990 1049, 1050), nämlich die Zusatzstrafen der §§ 53—55 StGB — D D R sowie die Einweisungsmöglichkeiten in stationäre Einrichtungen gemäß § 15 Abs. 2, § 16 Abs. 3 StGB-DDR i.V. mit dem Gesetz vom 11. 6. 1968 (GVB1.-DDR I S. 273) über die Einweisung psychisch Kranker in stationäre Einrichtungen, wobei diese Regelungen ersichtlich auch für die vergleichbare Einweisung Süchtiger in Entziehungsanstalten galten (vgl. StGB-Kom-DDR, Erl. zu § 15; ebenso Schneiders aaO). 2. Taten nach dem Beitritt unterliegen aufgrund von Art. 8 i.V. mit Anlage I 103 Kap. III Sachgebiet C Abschnitt III Nr. 1 des Einigungsvertrages grundsätzlich voll dem Maßregelrecht des StGB. Eine Ausnahme gilt allein für die Sicherungsverwahrung (insoweit also nicht: auch für die Führungsaufsicht). Sie ist nur auf Täter anwendbar, welche die die Verurteilung auslösende Tat an einem Ort im bisherigen Geltungsbereich des StGB begangen oder dort ihre „Lebensgrundlage" haben (Art. 1 a EGStGB, eingefügt durch Anlage I Kap. III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1 a des Einigungsvertrages). Nicht erfaßt werden also insbesondere Täter, die auf dem Gebiet der früheren D D R gehandelt haben und dort wohnen (näher Dreher/ Tröndle § 3 Rdn. 11 c). Der Begriff „Lebensgrundlage" dürfte im Kern wie bei § 5 zu bestimmen sein. Die Nichtanwendung der Vorschriften über die Sicherungsverwahrung (zu den 104 Gründen W. Müller ZStW 103 883, 904) darf auch beim gefährlichen Hangtäter im Bereich der schweren Kriminalität nicht zu einer Strafe führen, die über das Maß seiner Schuld hinausgeht. Das ergibt sich aus dem insoweit jetzt allein geltenden Recht der „alten" Bundesrepublik (vgl. dazu LK § 66 Rdn. 174; s. auch BGHSt. 20 264; BGH JZ 1988 264) und dem Umstand, daß die Zusatzstrafen des früheren DDRRechts (Rdn. 102) mit dem Einigungsvertrag ersatzlos weggefallen sind (vgl. Anlage II Kap. III Sachgebiet C Abschnitt I zum Einigungsvertrag). Die Lücken, die dadurch im strafrechtlichen Schutz der Allgemeinheit entstehen, dürften bei der ohnedies geringen Zahl angeordneter Unterbringungen nach § 66 (s. LK § 66 Rdn. 26) nicht sonderlich erheblich sein. In gewissem Umfang begegnen läßt sich ihnen zudem wohl auch durch die (korrekte) Heranziehung anderer Maßregeln, insbesondere der Führungsaufsicht nach § 68 Abs. 1. In Betracht kommt beim Ausfall der Sicherungsverwahrung mindestens in krassen Fällen wohl auch die verstärkte Heranziehung des § 63 (vgl. zur Abgrenzung LK § 72 Rdn. 24 ff), zumal bei den Hangtätern des (35)
Ernst-Walter Hanack
Vor §§ 61 ff
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
§ 66 eine „schwere andere seelische Abartigkeit" (§ 21 i. V. mit § 20) häufig naheliegt und sich aus psychiatrischer Sicht ohnedies fragt, ob nicht viele Untergebrachte nach § 66 eigentlich besser ins psychiatrische Krankenhaus gehören (dazu lesenswert Rasch Forensische Psychiatrie, 1986, S. 104). 105
3. Die eigentlichen Probleme bei der Anwendung des Maßregelrechts nach dem StGB in den neuen Bundesländern dürften bei der Frage liegen, ob oder wann diese Länder über die notwendigen Einrichtungen und das notwendige Personal verfügen, die das aufwendige und komplizierte System nicht nur beim unmittelbaren Vollzug der freiheitsentziehenden Maßregeln verlangt, sondern auch bei den differenzierten Folgeentscheidungen im Maßregelrecht (§§ 67 a ff, §§ 68 a ff) und den mit ihnen verbundenen Einwirkungen auf den Verurteilten nach der Entlassung in die Freiheit. Denn Sinn und Brauchbarkeit des Maßregelsystems stehen und fallen mit der Güte der Behandlung, Betreuung und Überwachung der von ihnen erfaßten Täter (womit es schon in den „Altländern" der Bundesrepublik mindestens nicht zum besten steht, wie in diesem Kommentar wiederholt aufgezeigt werden muß).
106
4. Rechtskräftige Urteile von Gerichten der früheren D D R werden von der Einführung des Maßregelrechts nicht berührt, da es im Einigungsvertrag insoweit an besonderen Regelungen fehlt. Das gilt auch für die maßregelähnlichen Entscheidungen des früheren DDR-Rechts, insbesondere (s. Rdn. 102) die Einweisung psychisch Kranker in stationäre Einrichtungen, die mithin auch in noch notwendigen Folgeentscheidungen nicht den speziellen Regelungen der §§ 67 a ff unterliegt (sondern gemäß Anlage I Kap. III Sachgebiet Α Abschnitt III Nr. 12 und Nr. 13 des Einigungsvertrages nach Zivil- bzw. FGG-Recht zu behandeln ist). Unberührt bleibt die Sondervorschrift der Nr. 14 d) aaO (Feststellung, daß die Vollstreckung einer strafgerichtlichen Entscheidung rechtsstaatlichen Grundsätzen widerspricht). Auch ist das fortbestehende Rehabilitierungsgesetz der D D R v. 6. 9. 1990 auf Personen anwendbar, die rechtsstaatswidrig in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen worden sind (dazu Nissel DtZ 1990 330, 332). X. Anhang: Bemerkungen zum empirischen Problem der Prognose Schrifttum (Auswahl)
107
Baumann u. a. Zur Rückfälligkeit nach Strafvollzug, MschrKrim 1983 133; Baur Probleme der unbefristeten Unterbringung und der Entlassungsprognose bei psychisch kranken Tätern (§ 63 StGB), MDR 1990 473; Berckbauer/Hasenpusch Rückfälligkeit entlassener Strafgefangener, MschrKrim 1982 318; Bock Zur dogmatischen Bedeutung unterschiedlicher Art empirischen Wissens bei prognostischen Entscheidungen im Strafrecht, NStZ 1990 457; Brückner Untersuchungen über die Rückfallprognose bei chronischen Vermögensverbrechern MschrKrim 1958 93; Chilian Die individuelle Frühprognose bei günstig beurteilten Tätern, MschrKrim 1974 349; Dünkel Prognostische Kriterien zur Abschätzung des Erfolges von Behandlungsmaßnahmen im Strafvollzug sowie für die Entscheidung über die bedingte Entlassung, MschrKrim 1981 279; Eisenberg Kriminologie 3 (1990); Eisenberg Über sozialtherapeutische Behandlung von Gefangenen, ZStW 8611974] 1042; Eimering Die kriminologische Frühprognose. Überprüfung der Glueck'schen fünfpunktigen sozialen Prognosetafel an Hand von hundert mit Jugendstrafe bestraften Jugendlichen (1969); Exner Kriminologie 3 , 1949, S. 306ff (m. w. Nachw. aus älterer Zeit); Fenn Kriminalprognose bei jungen Straffälligen (1981); Frey Der frühkriminelle Rückfallverbrecher (1951); Frisch Prognoseentscheidungen im Strafrecht (1983); Geerds Zur kriminellen Prognose, MschrKrim 1960 92; Geisler Prognoseentscheidungen — ein empirisches und entscheidungserhebliches Problem, H. Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 253; S. u. E. Glueck Predicting Delinquence and Crime (1959); S. u. E. Glueck Delinquents and Nondelinquents in Stand: 1. 12. 1991
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Vorbemerkungen
Vor §§ 61
ff
persective (1968); S. u. E. Glueck A brief summation of a new fellow-up study, in Aktuelle Kriminologie, 1969, S. 133; Göppinger Kriminologie 4 (1980; zit. Göppinger); Göppinger Der Täter in seinen sozialen Bezügen (1983); Göppinger Angewandte Kriminologie (1985); Grassberger Die Lösung kriminalpolitischer Probleme durch die mechanische Statistik (1946); Haag Rationale Strafzumessung (1970); Hartmann-Eberhard Legalprognosetest für dissoziale Jugendliche (1972); Heinz Fehlerquellen forensisch-psychiatrischer Gutachten (1982); Hinkel Zur Methode deutscher Rückfallprognosetafeln (1975); Hintz Gefährlichkeitsprognose bei Straftätern: Was zählt? (1987); R. v. Hippel Gefahrurteile und Prognoseentscheidungen in der Strafrechtspraxis (1972); Höbbel Bewährung des statistischen Prognoseverfahrens im Jugendstrafrecht (1968); Holzbach/Venzlaff Die Rückfallprognose bei heranwachsenden Straftätern, MschrKrim 1966 66; H.-J. Horn Die prognostische Beurteilung im Strafverfahren: Mängel, Irrtümer, Fehlinterpretationen, MschrKrim 1989 97; Jung Die Prognose-Entscheidung zwischen rechtlichem Anspruch und kriminologischer Einlösung, Festschrift für Pongratz (1986) S. 251; Kaiser Kriminologie 2 (1988; zit. Kaiser); Kaiser Befinden sich die kriminalrechtlichen Maßregeln in der Krise? (1990; zit. Kaiser Krise); Kögler Die zeitliche Unbestimmtheit freiheitsentziehender Sanktionen des Strafrechts (1988 = Diss. Frankfurt 1987); Kraintz Die Problematik der Prognose menschlichen Verhaltens aus kriminologischer und rechtsstaatlicher Sicht, MschrKrim 1984 297; Küling Rückfalluntersuchungen an jungen Rechtsbrechern, MschrKrim 1965 269; R. Lange Das Rätsel Kriminalität (1970); Langelüddeke/Bresser Gerichtliche Psychiatrie 4 (1976); Laudan Psychiatrisch-kriminologische Prognosen. Eine katamnestische Untersuchung, Jur. Diss. Heidelberg 1969; Leferenz Zur Problematik der kriminellen Prognose, ZStW 68 [1956] 233; Leferenz Probleme der kriminalbiologischen Prognose, Krim. Gegenwartsfragen Heft 3, 1958, S. 35; Leferenz Über die Möglichkeiten und Grenzen der Sozialprognose, Jahrbuch f. Jugendpsychiatrie Band III, 1962, S. 165; Leferenz Aufgaben einer modernen Kriminologie (1967); Leferenz Die Kriminalprognose, in Göppinger/Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie Band II, 1972, S. 1347; Lose/Dillig/Wüstendoifer/Linz Über Zusammenhänge zwischen Merkmalen der sozialen Umwelt und der Kriminalitätsbelastung jugendlicher Straftäter, MschrKrim 1974 198; Mannheim Rückfall und Prognose, In Handwörterbuch der Kriminologie2, 3. Band 1969/75, S. 38; Mannheim/Wilkins Perdiction methodes in relation to Borstal Training (1955, Neudruck 1969); Mey Die Voraussage des Rückfalls in intuitiven und statistischen Prognoseverfahren, MschrKrim 1965 1; Mey Möglichkeiten und Grenzen der statistischen Prognoseverfahren, Bewährungshilfe 1966 118; Mey Prognostische Beurteilung des Rechtsbrechers: Die Deutsche Forschung, in Handbuch der Psychologie (Hrsg. von Undeutsch) Band II, 1967, S. 511; F. Meyer Rückfallprognose bei unbestimmt verurteilten Jugendlichen (1956); F. Meyer Der kriminologische Wert von Prognosetafeln, MschrKrim 1959 191; F. Meyer Gedanken zu den Prognoseverfahren, GA 1961 257; F. Meyer Der gegenwärtige Stand der Prognoseforschung in Deutschland, MschrKrim 1965 225; F. Meyer Der Wert objektiver Prognoseverfahren in der Bewährungshilfe, Bewährungshilfe 1966 95; Meywerk Ein Beitrag zur Bestimmung der sozialen Prognose an Rückfallverbrechern, MschrKrim 1938 422; Middendorf^ Die kriminologische Prognose in Theorie und Praxis (1967); Middendorff Bemerkungen zur sozialen Prognose, insbes. in bezug auf Jugendliche, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 1957 (Soziologie und Jugendkriminalität) S. 65; Middendorff Die soziale Prognose und der Strafrichter, in Blau/Müller-Luckmann, Gerichtliche Psychologie, 1962, S. 328; Middendorff Die Prognose im Strafrecht und in der Kriminologie, ZStW 72 [1960] 108; Müller-Dietz, Probleme der Sozialprognose, NJW 1973 1065; Munkwitz Die Prognose der Frühkriminalität (1967); Nass Psychologische Fehlerquellen bei Prognosetafeln und ihre Eliminierung, Krim. Gegenwartsfragen Heft 3, 1958, S. 47; Neil Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen (1983); Rasch Die Prognose im Maßregelvollzug als kalkuliertes Risiko, Blau-Festschrift S. 309; Rehn Vergleichende Untersuchung über die Rückfallquote bei entlassenen Strafgefangenen (1979); Schaffstein Erfolg, Mißerfolg und Rückfallprognose bei jungen Straffälligen, ZStW 69 [1967] 209; Schaffstein Rückfall und Rückfallprognose bei jungen Straffälligen, Krim. Gegenwartsfragen Heft 8, 1968, S. 66; Schied! Ein Beitrag zum Problem der Rückfallprognose (1936); K. Schmid Ergebnisse psychiatrisch-kriminologischer Prognosen, Jur. Diss. Heidelberg 1964; H.J. Schneider Prognostische Beurteilung des Rechtsbrechers: Die ausländische Forschung, in: Handbuch der Psychologie (Hrsg. von Undeutsch),
(37)
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Vor §§ 61 ff
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Band 11, 1967, S. 397; H. J. Schneider Die ausländische Forschung über die prognostische Beurteilung des Rechtsbrechers, MschrKrim 1969 154; H.J. Schneider Kriminalitätsentstehung und -behandlung als Sozialprozesse, JZ 1972 191; H.J. Schneider Kriminalprognose, in Schneider (Hrsg.) Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. XIV, 1981, S. 816; Schultz Zum Problem der Prognose in der Bewährungshilfe (1975 = phil. Diss. Köln); Sonnen Die Bedeutung sozialtherapeutischer Maßnahmen für die Sozialprognose — KG, NJW 1973, 1420 und KG NJW 1972, 2228, JuS 1976 364; Suttinger Die Urteils- und Entlassungsprognose aus psychologischer Sicht, in: Blau/Müller-Luckmann, Gerichtliche Psychologie, 1962, S. 304; Sydow Erfolg und Mißerfolg der Strafaussetzung zur Bewährung (1963); Tenckhoff die Kriminalprognose bei Strafaussetzung und Entlassung zur Bewährung, DRiZ 1982 95; Weihrauch Die Prognosetafeln nach Brückner, MschrKrim 1965 225; K. Weis Zur Kontrolle und Bewährung Glueck'scher Prognosetafeln ZStW 82 [1970] 804; Welsch Persönlichkeitsforschung und Prognose des sozialen Verhaltens von Rechtsbrechern in Deutschland (1962); Wimmer Psychiatrisch-kriminologische Prognosen. Eine katamnestische Untersuchung, Jur. Diss. Heidelberg 1967; Witter Die Beurteilung Erwachsener im Strafrecht, in Göppinger/Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Band II, 1972, S. 966; J. Wolf Die Prognose in der Kriminologie (1971).
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Prognosen über das künftige Verhalten des Täters haben im modernen Strafrecht immer größere Bedeutung erlangt. Sie spielen unter den verschiedensten Gesichtspunkten schon im Bereich der Strafe eine Rolle, so insbesondere bei der Strafzumessung (§ 46 Abs. 1 S. 2), bei der Strafaussetzung zur Bewährung und ihrer Ausgestaltung (§§ 56 ff), bei der Prüfung, ob und unter welchen Kautelen eine Aussetzung des Strafrests erfolgen kann (§§ 57 ff), bei der Anordnung einer kurzfristigen Freiheitsstrafe (§ 47). Bei den Maßregeln ist die Prognose regelmäßig das geradezu zentrale Problem, weil es hier stets um die Frage geht, ob vom Täter mit Wahrscheinlichkeit weitere Straftaten zu erwarten sind (oben Rdn. 39 ff). Soweit die Voraussetzungen für die Anordnung mehrerer Maßregeln vorliegen, ist die Prognose auch für die Entscheidung wichtig, welche Maßregeln verhängt werden müssen (§ 72). Ferner ist die Prognose für vielfältige Folgeentscheidungen nach Anordnung einer Maßregel bedeutsam, so bei der Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung (§ 67 b, § 67 c) oder der weiteren Vollstreckung (§ 67 d Abs. 2, § 68 g Abs. 2, § 70 a), bei der Entscheidung über den Widerruf einer Aussetzung (§ 67 g, § 70 b), der Ausgestaltung der Führungsaufsicht kraft Gesetzes (§§ 68 ff). Die folgenden „Bemerkungen" bezwecken lediglich, dem Benutzer dieses Kommentars einige allgemeine Hinweise zur empirischen Seite des Prognoseproblems zu geben (bezogen nicht nur auf die Maßregeln). Sie enthalten keine Gesamtdarstellung des Komplexes oder gar eine konkrete Anleitung für die Erstellung strafrechtlich-kriminologischer Prognosen im Einzelfall. Eine solche Aufgabe zu leisten ist — so unbefriedigend das erscheint — ein Erläuterungswerk zum StGB auch in der Form eines Großkommentars nicht in der Lage, ohne den Rahmen völlig zu sprengen (vgl. aber Horstkotte LK'° § 67 c Rdn. 48 ff, § 67 d Rdn. 39 ff zur Entlassungsprognose bei freiheitsentziehenden Maßregeln). 1. Allgemeine Problematik
109
a) Gesetzgebung und Wirklichkeit. Der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform hat sich zwar sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, wie weit sichere Prognosen, insbesondere im System der Maßregeln, in Theorie und Praxis möglich sind (vgl. vor allem die eingehende Erörterung in Prot. IV 881 ff). Dennoch spricht viel dafür, daß der Gesetzgeber den Stand und die künftigen Einsichten der Prognoseforschung überschätzt hat und damit zugleich auch die Möglichkeit, eine solche Prognose, namentlich im Hinblick auf die oft äußerst subtilen Unterscheidungen des Gesetzes, im Stand: 1. 12. 1991
(38)
Vorbemerkungen
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§ §
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ff
Einzelfall mit hinreichender Sicherheit zu erstellen. Jedenfalls steht das Bild, das sich insoweit aus dem Fachschrifttum ergibt, bis heute in auffälliger Diskrepanz zu den gesetzgeberischen Erwartungen und Normierungen. Das spiegelt sich mittlerweile in zahlreichen kritischen Äußerungen wider und ist speziell im Maßregelrecht Grund für ein zunehmendes Unbehagen, das bis hin zu Zweifeln an seiner Legitimationsgrundlage geht (vgl. nur Kaiser Krise, S. 17 ff m. Nachw.) und in zunehmendem Maße zu Bemühungen führt, das Prognoseproblem de lege lata oder de lege ferenda mehr normativ als empirisch zu lösen 38 . Zudem herrscht in der strafrechtlichen Praxis ersichtlich eine beträchtliche Unsicherheit, wenn nicht Unklarheit über die Voraussetzungen und die Grenzen einer exakten Kriminalprognose, über die sich der Jurist zuverlässig auch nicht leicht orientieren kann. Kaum zu bezweifeln ist ferner, daß in der Praxis noch immer ein erheblicher Mangel mindestens an umfassend geschulten Sachverständigen besteht (vgl. schon oben Rdn. 18) — ein Problem, das durch die verbreitete Heranziehung sog. „Haussachverständiger" 3 9 in der Praxis noch verschärft wird. Die vielbeklagte Folge ist unter anderem die mangelnde Güte vieler Sachverständigengutachten selbst im Bereich der §§ 63 und 64 (s. LK § 63 Rdn. 130, 131; § 64 Rdn. 135), aber auch ihre offenbar nicht selten problematische Rolle bei der Entscheidung über das Verhältnis zwischen Straf- und Maßregelvollzug im Rahmen des § 67 (s. dort Rdn. 48). b) Wissenschaftliche Erschwernisse; davon unabhängige Einsichten. Das Bemühen, 110 die vorhandenen wissenschaftlichen Einsichten über das künftige kriminelle Verhalten eines Menschen nutzbar zu machen, wird dem Außenstehenden zum einen dadurch erschwert, daß die hier vor allem zuständige Kriminologie nicht nur (oder nicht so sehr) an der individuellen Prognose interessiert ist, sondern auch an der Herausarbeitung bestimmter allgemeiner Gesetzlichkeiten, so daß sich in ihren Aussagen beide Gesichtspunkte oft bedenklich vermischen. Erschwert oder gar verdunkelt wird das Bemühen zum anderen durch Schulen- und Richtungskämpfe innerhalb der beteiligten Disziplinen oder zwischen ihnen, wobei zum Teil sogar ideologisch bestimmte Grundpositionen eine kritische Rolle spielen. So finden sich, insbesondere vielleicht in der ausländischen Forschung, Richtungen, die mehr oder weniger ausgeprägt zu einem gleichsam „mechanistischen" Menschenbild tendieren, nämlich zu dem Versuch, durch Faktorenanalysen die menschlichen Seelenkräfte zu „messen, wägen, zueinander im Verhältnis (zu) bringen, zu quantifizieren" (so Lange Das Rätsel Kriminalität, S. 284 mit höchst kritischer, ζ. T. streitschriftartiger Auseinandersetzung). Solche Richtungen schätzen die Möglichkeiten der Prognose durchweg hoch ein. Dem stehen andere Auffassungen gegenüber, die dem Menschen einen weiten „Persönlichkeitsspielraum" zuerkennen und darum nicht nur das Anlage-Umwelt-Problem anders sehen (vgl. statt aller näher ζ. B. Lange passim), sondern auch die Möglichkeiten zur exakten Prognose insgesamt für sehr viel fragwürdiger halten. Diese Grundsatzfragen sind hier nicht abzuhandeln. Hinzuweisen ist jedoch auf folgendes. 38
So insbes. Frisch Prognoseentscheidungen im Strafrecht [dazu eingehend Bock N S t Z 1990 457 ff], aber ζ. B. auch Kögler d e r sich gegen die zeitliche Unbestimmtheit bei freiheitsentziehenden S a n k t i o n e n wendet, o d e r Krainz M s c h r K r i m 1984 297, d e r für die Mehrzahl der heutigen Pro-
(39)
59
gnosefälle eine E n t s c h e i d u n g im Wege gesetzlich geregelter Beweiswürdigung fordert. Vgl. dazu Dippel Die Stellung des Sachverständigen im S t r a f p r o z e ß (1986) S. 98 m. w. N a c h w . u n d Erörterungen.
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3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
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(1) Über allen Meinungsstreit hinweg besteht in der Kriminologie, insbesondere aufgrund empirischer Erfahrungen, eine gewisse praktische Verständigung über typische Faktoren, die für die Prognose künftigen kriminellen Verhaltens Bedeutung besitzen (dazu Rdn. 115 ff). Der Richter wird daher vor allem auf diese Faktoren bzw. auf ihre Würdigung durch den Sachverständigen achten müssen. 112 (2) Hingegen darf er sich nicht auf einen der sog. eindimensionalen Ansätze zurückziehen oder dem Sachverständigen einen solchen Rückzug gestatten, also auf Ansätze, die die Kriminalität lediglich von einer wissenschaftstheoretischen Warte aus (sie sei biologisch, anthropologisch, soziologisch oder wie auch immer) zu erfassen suchen und von daher dann auch künftiges kriminelles Verhalten prognostizieren (vgl. auch LK § 66 Rdn. 95). Denn keiner dieser Ansätze hat bisher eine Anerkennung oder Überzeugungskraft erlangt, die den Richter dazu berechtigen könnte, die mit jedem derartigen Ansatz verbundene Verkürzung der Beurteilungsfaktoren hinzunehmen. 113
(3) Zu beachten hat der Richter weiter, daß schon nach dem Menschenbild des Grundgesetzes die menschliche Person als eine freie, der Entfaltung zugängliche Persönlichkeit verstanden wird, nicht aber ein für alle Zeit Gegebenes darstellt. Der Hinweis Mannheims (S. 69), daß in der modernen Psychologie die „dynamische Interpretation der Gesamtpersönlichkeit", die Auffassung von der „Person als Prozeß", die „situativ-dynamische Sicht der Persönlichkeit" vorherrschend sei, und daß daher die Reaktionen des Betroffenen auf kriminogene Umwelteinflüsse zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Situationen nicht die gleichen zu sein brauchen, entspricht insoweit der Wertung auch der Rechtsordnung (vgl. auch Schmidhäuser AT 19/17; Horstkotte LK10 § 67c Rdn. 48).
114
(4) Im Zusammenhang hiermit ist weiter zu berücksichtigen, daß die Faktoren, die zum Rückfall führen, mit den Faktoren, die für eine frühere Straftat von Einfluß gewesen sind, nicht identisch sein müssen. Die ursprünglichen Ursachen einer Straftat können nicht nur wegen einer Wandlung der Umwelt, sondern auch wegen der Persönlichkeit des Täters ihre treibende Kraft ganz oder zum Teil einbüßen, und an ihre Stelle können neue Triebkräfte treten (Mannheim aaO).
115
2. Für die Prognose erhebliche Faktoren (Überblick). Als für die Prognose wichtige Gesichtspunkte gelten (bezogen vor allem auf die Frage einer ungünstigen Prognose) im allgemeinen insbesondere: Sozialisation, Struktur und Erziehungsverhältnisse in der Herkunftsfamilie; erbliche und soziale Belastungen der Herkunftsfamilie; psychopathologische Störungen und Abartigkeiten im weitesten Sinne; Schul-, Ausbildungs- und Erziehungsschwierigkeiten; Frühkriminalität; Zahl und Art der Vorstrafen bzw. Rückfälle; soziale und familiäre Verhältnisse, allgemeine Verwahrlosung; Gestaltung des Freizeitverhaltens; Wertorientierung; Einstellung zur Tat; Verhalten im Freiheitsentzug (sehr umstritten, s. Rdn. 116). Im einzelnen ist die Bedeutung der genannten Faktoren freilich jeweils sehr kompliziert und in vielen Einzelheiten umstritten 40 . So sind ζ. B. für die Bedeutung des Rückfalls (näher Göppinger S. 453 ff) nicht nur Zahl und Art der Rückfälle wesentlich, sondern auch ihr Rhythmus, insbesondere die Rückfallgeschwindigkeit, sowie 40
Eine eingehende und abgewogene Darstellung der vielfältigen Gesichtspunkte, die bei diesen Faktoren zur Bestimmung des künftigen kriminellen Verhaltens eine denkbare Rolle spielen, findet sich bei Göppinger S. 166 ff („Der Täter
und sein Sozialbereich"). Zum Versuch Göppingen eine auch für den Nichtspezialisten handhabbare Methode der Prognosebeurteilung zu entwickeln, s. unten Rdn. 124.
Stand: 1. 12. 1991
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Vorbemerkungen
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das Alter, in dem die erstmalige oder erstmalige massive Straffälligkeit eintritt. Insoweit spielt für die Bedeutung der Frühkriminalität ζ. B. ersichtlich auch eine Rolle, daß das Rückfallrisiko abnimmt und sein Tempo sich verlangsamt, je älter der Täter bei der ersten Verurteilung war; auch scheinen Frühkriminelle nicht nur häufiger, sondern vielfach auch erheblich schwerer rückfällig zu werden; doch handelt es sich dabei jeweils nur um statistische Wahrscheinlichkeiten, die für eine sichere Prognose im Einzelfall nicht ausreichen oder sogar wenig hergeben (vgl. auch LK § 66 Rdn. 101). Exemplarisch deutlich wird die Zwiespältigkeit mancher scheinbar einleuchten- 116 der Prognose-Faktoren, aber auch die differenzierte Wechselwirkung zwischen Persönlichkeit und Umwelt, beim leidigen Problem des Verhaltens im Vollzug. So stehen der insbesondere in der Praxis oft hohen Einschätzung dieses Faktors viele kritische Stimmen gegenüber 41 . Eine „Binsenweisheit" dürfte sein, „daß das ,Verhalten im Vollzug' im Kontext zu Vorleben, Persönlichkeitsbild sowie signifikanter Lebensbereiche des Gefangenen (Arbeits-, Freizeitverhalten, Art und Umfang der Kontakte) gewürdigt werden m u ß " (Müller-Dietz NJW 1973 1068); unbestreitbar ist weiter, daß die Bedeutung des Verhaltens im Freiheitsentzug auch von den Lebensbedingungen im Vollzug und nicht zuletzt von der Chance des Gefangenen abhängt, Test- und Bewährungssituationen überhaupt ausgesetzt zu werden (vgl. Müller-Dietz aaO mit berechtigtem Hinweis auf den „Teufelskreis", dem hier gerade der schlecht prognostizierte Täter nur zu leicht ausgesetzt ist). Daß die sozialtherapeutische Behandlung erheblich vorbestrafter Täter im Voll- 117 zug noch nicht die Erwartung begründet, der Verurteilte werde in Zukunft keine Straftaten mehr begehen, hat das KG unter allzu schroffer Kritik der „weitgehend vorwissenschaftlich bestimmten Situation" in der Kriminaltherapie im Ergebnis zu Recht dargelegt (NJW 1972 2228; 1973 1420)42. Die Beurteilung der Prognose psychisch kranker Rechtsbrecher (§§ 20, 21, 63) ist 118 naturgemäß entscheidend von den spezifisch psychiatrischen Einsichten über Bedeutung, Ursache und Behandlungsmöglichkeiten der Störungen abhängig 43 . 3. Entwicklung und Methoden der Prognoseforschung. In der Kriminologie werden 119 verschiedene Prognosemethoden unterschieden, die zugleich auch die Entwicklung der Prognoseforschung und ihren heutigen Stand charakterisieren, also für das Verständnis des Gesamtkomplexes bedeutsam sind. a) „Intuitive Prognose". Entwicklung der Forschung. Ursprünglich stützten sich die 120 im Bereich der Kriminalrechtspflege erforderlichen Prognosen im wesentlichen auf die Lebenserfahrung, die Menschenkenntnis und die persönlichen Vermutungen der jeweils gutachtenden oder entscheidenden Personen, sog. intuitive Methode. „Intuitiv" ist die Methode, weil oder soweit bei ihr die subjektive Erfahrung des Beurteilers die entscheidende Rolle spielt, nicht aber eine wissenschaftlich abgeleitete oder abge41
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43
Überblick bei Müller-Dietz N J W 1973 1067; eingehend im Hinblick auf die sog. Entlassungsprognose Horslkoue LK'°§ 67 c R d n . 57 f f ; vgl. auch Göppinger S. 360 ff. Dazu eingehend u n d kritisch Müller-Dietz NJW 1973 1065; Sonnen J u S 1976 364; vgl. a u c h Eisenberg Z S t W 86 1042; Horstkotte LK'° § 67 c R d n . 56. Dazu z u s a m m e n f a s s e n d u n d w e i t e r f ü h r e n d ζ. B. Göppinger S. 197 f f ; Langelüddeke/Bresser
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S. 95 f f ; Rasch Forensische Psychiatrie, 1986, S. 173 f f ; Beiträge in Venzlaff (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, 1986, S. 173 f f ; Böker/Häfner Gewalttaten Geistesgestörter, 1973, mit umfassender Übersicht d e r Daten zu diesem K o m plex; speziell zur — immer wieder überschätzten — weiteren Gefährlichkeit schizophrener Gewalttäter auch Venzlaff W a s s e r m a n n - F e s t s c h r i f t S. 1079.
Ernst-Walter Hanack
Vor §§ 61 ff
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
sicherte Prüfungsmethodik. Vorhandene Nachuntersuchungen zeigen, daß die Ergebnisse dieses Verfahrens sehr unterschiedlich waren und sind, im Ganzen aber ein bedenkliches Bild ergeben; das gilt für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ebenso wie für die Zeit danach 4 4 . So wird im Fachschrifttum vor einer unreflektierten Prüfung dieser Art fast allgemein gewarnt; der Hinweis des K G (NJW 1972 2228, 2229), daß nach den bisherigen Erfahrungen andere Methoden nicht überlegen seien, erscheint fragwürdig. 121
Später versuchte man, durch systematische Forschungen zu sichereren empirischen Grundlagen zu kommen 4 5 . Die Bemühungen begannen in den USA. Hier entwickelte als einer der ersten Burgess (1928) im Zusammenhang mit dem Parole-Verfahren prognostische Tabellen, die nach seiner Meinung jedoch nicht als Ersatz für eingehende Studien im Einzelfall betrachtet werden sollten. 1930 veröffentlichte dann das Ehepaar Glueck die Schrift über „500 criminal careers" und im Anschluß daran zahlreiche weitere, weltweit bekannte und diskutierte Untersuchungen. Es kam sodann in Deutschland wie in vielen anderen Ländern zu einer umfangreichen und intensiven Prognoseforschung, die, jedenfalls in Deutschland, erst seit den 70er Jahren stagniert 46 . Dabei stehen sich vor allem die sog. statistische Methode und die sog. klinische Methode gegenüber. Hinzu tritt als eine Art Verbindung eine noch in den Anfängen steckende Methode, die man Strukturprognose nennen könnte 4 7 , und hinzu tritt ferner der Versuch Göppingers einer „Angewandten Kriminologie" 4 8 .
122
b) Die statistische Methode. Sie versucht, regelmäßig mit Hilfe eines Punkteverfahrens, aus der statistischen Häufung bestimmter Merkmale bei Rechtsbrechern eine Prognose zu treffen. Die Methode basiert, jedenfalls im Kern, auf der Überlegung, daß mit der Zunahme ungünstiger Merkmale (Schlechtpunkte) auch die Wahrscheinlichkeit einer ungünstigen Prognose, also weiterer Kriminalität, wächst oder sogar mehr oder weniger evident wird bzw. bei Häufung günstiger Merkmale (Gutpunkte) abnimmt oder gar unwahrscheinlich wird. Im einzelnen sind eine große Zahl entsprechender „Prognosetafeln" entwickelt worden; zu nennen sind neben den Untersuchungen der Gluecks vielleicht vor allem die erste deutsche Untersuchung von Schiedt (1936) sowie die Untersuchungen von Frey (1951), Mannheim/Wilkins (1955) und von F. Meyer (1956), dessen Methode in der Praxis einige Bedeutung erlangt hat 49 . Die von den einzelnen Forschern erstellten Faktorenlisten weisen erhebliche Verschiedenheiten auf (dazu ζ. B. Meyer MschrKrim 1959 220). Sie können veralten, wenn sich die sozialen Rahmenbedingungen ändern, auf denen sie beruhen oder sie 44
N ä h e r z.B. Meyer R ü c k f a l l p r o g n o s e S. 136 u n d Prot. IV, 881; Leferenz in G ö p p i n g e r / W i t t e r , S. 1353; Schmid S. 39 f; Bock N S t Z 1990 457 m. N a c h w . aus neuester Zeit; vgl. aber a u c h Kaiser Kriminologie § 111 R d n . 5; Horstkotte LK'° § 67 c R d n . 56. 45 Z u r Geschichte der P r o g n o s e f o r s c h u n g , die häufig dargestellt w o r d e n ist, s. z.B. Geerds S. 99; Middendorf Die kriminologische Prognose S. 1; Mannheim S. 78; Welsch S. 92; Schneider Krimin a l p r o g n o s e S. 816 ff. 46 Dazu u n d zu den vermutlichen G r ü n d e n Tenckh o f f S . 101; vgl. auch Kaiser K r i m i n o l o g i e § 112 R d n . 2. 4 ' Dazu z.B. Kaiser Kriminologie § 111 R d n . 14; Leferenz in G ö p p i n g e r / W i t t e r S. 1366, 1373; Baur M D R 1990 478, der sie als V e r f e i n e r u n g der
48
49
statistischen M e t h o d e versteht; vgl. a u c h Göppinger S.351. Zu den wesentlichen einzelnen M e t h o d e n u n d ihren Ergebnissen n ä h e r ζ. B. Mey Prognostische B e s t i m m u n g ; Schneider Die ausländische Fors c h u n g ; Schneider K r i m i n a l p r o g n o s e S. 816 f f ; Überblick auch bei Göppinger S. 336 f f ; Kaiser K r i m i n o l o g i e § 1 1 1 ; Geisler S. 255 f f ; instruktiv zu ausländischen Studien über die Prognose weiterer Gefährlichkeit a n h a n d klinischer S t a n d a r d s Hinz S. 32 ff. Übersichten ζ. B. bei Göppinger S. 341 f f ; Kaiser Kriminologie § 111 R d n . 8; Leferenz a a O S. 1354; zur Entwicklung der V e r f a h r e n s. weiter ζ. B. Meyer M s c h r K r i m 1959 214; s. a u c h Horstkotte LK'° § 67 c R d n . 50.
Stand: 1. 12. 1991
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Vorbemerkungen
V o r
§ §
6 1
f f
wesentliche neue Bedingungen noch nicht erfassen, wie das gegenwärtig bei vielen Prognosetafeln der Fall ist (näher Horstkotte LK 10 § 67 c Rdn. 50). Die statistische Methode hat häufig Kritik gefunden. Gegen sie wird vor allem eingewendet, daß die aus der Beobachtung von Gruppen abgeleiteten Prüfungskriterien eben nur statistische Ergebnisse liefern könnten, also nur für Gruppen, nicht aber für Individuen in Betracht kämen, daß sie die Gesamtpersönlichkeit zu sehr außer acht lasse und mögliche Veränderungen in der Zukunft nur unvollkommen zu berücksichtigen vermöge. Auch spreche viel dafür, daß die Methode zu überzeugenden Ergebnissen nur — oder allenfalls — bei den Extremgruppen mit klarer Häufung der guten oder schlechten Daten führe, nicht jedoch beim breiten Mittelfeld der Probanden (dazu auch Prot. IV, 892 ff) 50 . c) Die sog. klinische Methode (auch „empirische Individualprognose" genannt). 123 Sie beruht, in mancherlei Spielarten, auf der Erforschung der individuellen Täterpersönlichkeit, meist durch einen Psychiater oder kriminologisch geschulten Psychologen, und zwar in der Regel durch Exploration und Beobachtung sowie unter Zuhilfenahme von Tests und Experimenten 51 . Die so gewonnenen Ergebnisse über Persönlichkeit, Lebenslauf, Umwelt und sonstige Gegebenheiten des Probanden werden dann typischerweise mit dem spezifisch kriminologischen Bezugswissen verknüpft. In gewissem Sinne — und mit unterschiedlicher Akzentuierung — handelt es sich um eine Fortentwicklung (Verwissenschaftlichung) der „intuitiven" Prognose, insofern nämlich, als bei dieser Methode der Erfahrungsschatz des Gutachters und sein Entscheidungsspielraum, aber wohl auch die Frage der Kontrollierbarkeit und die Orientierung an Extremgruppen eine beträchtliche Rolle spielen. Um diese Bedenken kreisen denn auch verbreitete Einwendungen 5 2 . d) Die Methode der „Angewandten Kriminologie". Göppinger hat im Anschluß an 124 die von ihm geleitete Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung (Göppinger Der Täter in seinen sozialen Bezügen, 1983) eine durchaus neue und eigene Methode der Prognosebestimmung entwickelt, die „ f ü r die Mehrzahl der in der täglichen Praxis anfallenden" Fälle gedacht ist, also kompliziertere psychiatrische und psychologische Fragestellungen nicht abdeckt (Göppinger Angewandte Kriminologie, 1985). Die Methode ist für den Juristen besonders interessant, weil sie sich an den Praktiker ohne Fachausbildung wendet und mit relativ einfachen Techniken und anhand relativ einfacher Daten eine „kriminologische Diagnose" ermöglicht. Sie beruht auf einer „idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse", bei der die herangezogenen Daten, meist aus dem Sozialbereich des Täters, schrittweise zu einem individuellen Verhaltensprofil zusammengefügt werden, das erkennen läßt, in welchen Bereichen der Täter mehr zum Lebensstil des wiederholt Straffälligen oder mehr zum Lebensstil des sozial Unauffälligen tendiert, und zwar bezogen auf einen Lebenslängsschnitt, einen Lebensquerschnitt (die Situation kurz vor der Tat) sowie auf die allgemeinen „Relevanzbezüge" und Wertorientierungen des Täters 53 . 50
sl
N ä h e r zu den Bedenken gegen die Zuverlässigkeit d e r M e t h o d e u n d ihre G r u n d l a g e n ζ. B. Lange S. 284 f f ; Mannheim S. 86; Göppinger S. 342; Kaiser Kriminologie § 111 R d n . 12; Baur M D R 1990 478; s. a u c h Horstkotte LK 1 0 § 67 c R d n . 52; a. A. ζ. B. Middendorf/ Die kriminologische Prognose S. 56 f; Z S t W 72 117, der solchen E i n w e n d u n g e n entgegentritt. N ä h e r z.B. Göppinger S. 338; Leferenz in G ö p p i n g e r / W i t t e r , S. 1366; Baur M D R 1990497.
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53
Ζ. B. Göppinger a a O ; Kaiser K r i m i n o l o g i e § 111 R d n . 7; Middendorf/ Die kriminologische Prognose, S. 96 f; Meyer M s c h r K r i m 1959218,241. N ä h e r zu der M e t h o d e , die in T ü b i n g e n auf allgemeinen Fortbildungskursen gelehrt u n d praktisch e r p r o b t wird, Seitz M s c h r K r i m 1986 378; Geisler S. 261; Jehle in Jehle u . a . Strafrechtspraxis u n d Kriminologie, 1985, S. 325; vgl. auch Bock Kriminologie als Verhaltenswissenschaft (1984) insbes. S. 106.
Ernst-Walter Hanack
V o r §§ 61 ff
125
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
4. Methodenstreit. Praxis. Konsequenzen. In der Kriminologie besteht ein traditioneller Streit, ob der statistischen Methode oder der (klinischen) Individualprognose der Vorrang einzuräumen ist. Die Vertreter beider Richtungen meinen, auf Fälle hinweisen zu können, in welchen sich nachträglich die Überlegenheit jeweils ihrer Methode ergeben habe (vgl. ζ. B. die Hinweise von Mannheim S. 72, 83). Wichtig dürfte sein, daß heute, jedenfalls im deutschsprachigen Raum, die Anhänger der statistischen Methode die Bedeutung auch der spezifischen Untersuchung des Einzelfalles meist anerkennen und eine prinzipielle Heranziehung der individuellen Methode mindestens nicht prinzipiell ausschließen (vgl. nur Prot. IV, 887), während umgekehrt im Bereich der (klinischen) Individualprognose die Verwendung des allgemeinen kriminologischen Befundwissens, wie es den Prognosetafeln der statistischen Methode typischerweise zugrunde liegt, jedenfalls nach dem theoretischen Konzept eine Selbstverständlichkeit geworden sein dürfte.
126
Beim gegenwärtigen Stand der Forschung dürfte nicht zu bezweifeln sein, daß die statistischen Prognosetafeln zwar wichtige Erfahrungen fixieren und darum bei der richterlichen Überzeugungsbildung zur Vorbereitung verwendet werden dürfen oder müssen, jedoch niemals als alleinige Quelle. Hinzukommen muß vielmehr stets die individuelle Prüfung, die regelmäßig sogar im Vordergrund zu stehen hat. 127 In der Praxis dominiert, jedenfalls soweit nicht die spezielle Heranziehung von Sachverständigen geboten ist (oben Rdn. 85 f), ersichtlich die intuitive Prognose (oben Rdn. 120)54. Den Gefahren eines solchen Vorgehens (s. Rdn. 120) steuern die erkennbar zunehmenden Anforderungen der obergerichtlichen Rechtsprechung an die Begründungsdichte prognostischer Entscheidungen und an die Gesamtwürdigung von Tat und Täter zwar nur bedingt (vgl. Bock NStZ 1990 458 Fußn. 5). Sie weisen bei der gegenwärtigen Lage der Prognosewissenschaft aber wohl immerhin auf den entscheidenden Gesichtspunkt hin: die richterliche Pflicht, unter Einbeziehung der jeweiligen normativen Aspekte der verschiedenen Prognoseentscheidungen (dazu Kaiser Kriminologie § 111) wenigstens das vorhandene kriminologische Grundwissen heranzuziehen, um über die „Intuition" und die verhängnisvolle Anwendung mehr oder weniger schematisch verwendeter Kriterien lediglich der äußeren sozialen Anpassung (vgl. Bock aaO S. 457) hinauszukommen.
54
Vgl. z.B. Göppinger S. 358; Kaiser Kriminologie § 111 Rdn. 5; nach Fenn S. 90 verwenden nur 3—5% der gefragten Staatsanwälte und Richter wissenschaftliche Prognosemethoden.
Stand: 1. 12. 1991
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Übersicht
§61
§61
Übersicht 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Maßregeln der Besserung und Sicherung sind die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die Fiihrungsaufsicht, die Entziehung der Fahrerlaubnis, das Berufsverbot. Schrifttum
Albrecht Die Bekämpfung der Asozialität, Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 2/1 (1954), S. 229; Erhardt Zur Reform von Maßregelrecht und Maßregelvoll?ug, FortschrNeurolPsych 1969 660; Preiser Die Nichtigkeitserklärung von § 73 Abs. 2 und 3 BSHG und ihre Folgen, ZStW 80 [1968] 582; Schaffstein Die Behandlung der gemeinlästigen und der kleinkriminellen Rezidivisten als kriminalpolitisches Problem, Engisch-Festschrift, S. 644. Im übrigen s. die Angaben bei Vorb. Vor § 61.
Entstehungsgeschichte Eine Übersicht nach Art des § 61, die dann den jeweiligen Änderungen des Maßregelkatalogs angepaßt wurde, enthielt — seit Einführung der Maßregeln durch das Gesetz v. 24. 11. 1933 — schon § 42 a a. F. Die heutige Fassung der Vorschrift beruht auf dem 2. StrRG mit einer redaktionellen Änderung durch Art. 18 II Nr. 20 EGStGB. Durch das Gesetz zur Änderung des StVollzG v. 20. 12. 1284 (BGBl. I 1654) ist die bisherige Nr. 3 gestrichen worden, die die Maßregel der Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt betraf (§ 65 a. F.; s. dort und unten Rdn. 10). I. Allgemeines 1. Bedeutung. § 61 gibt eine Übersicht über die Maßregeln der Besserung und Si- 1 cherung des StGB. Sie ist, strenggenommen, überflüssig, weil der Richter ohnedies nur gesetzlich vorgesehene Maßregeln anordnen darf. Zweck der Übersicht, deren Notwendigkeit bei der Strafrechtsreform jedenfalls nach den veröffentlichten Materialien ersichtlich nicht weiter reflektiert worden ist, ist vor allem die leichtere Orientierung. Das Gesetz nimmt an anderen Stellen (ζ. B. in § 7 JGG) auf die Übersicht wiederholt Bezug. Die Charakterisierung einer strafrechtlichen Sanktion als Maßregel der Besserung und Sicherung hat im Einzelfall praktische Bedeutung, so bei der zeitlichen Geltung (§ 2 Abs. 6). 2. Reichweite. Die Aufzählung des § 61 enthält einen abschließenden Katalog nur für die nach dem StGB zulässigen Maßregeln. Maßregeln im sog. Nebenstrafrecht (Rdn. 11) bleiben unberührt. 3. Terminologie; Abgrenzung. Der Gesetzgeber hat bei der gesetzestechnischen 2 Einordnung der Maßregeln in das Gesamtsystem der strafrechtlichen Reaktionen „keine glückliche Hand bewiesen" (Maurach AT 4. Aufl. § 67 I S. 880). (45)
Ernst-Walter Hanack
§61
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Die Maßregeln der Besserung und Sicherung fallen unter den Oberbegriff der Maßnahmen i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 8. Zu diesen Maßnahmen gehören auch der Verfall (§§ 73 ff), die Einziehung (§§ 74 ff) und die Unbrauchbarmachung (§ 74 d). Diese Zusammenfassung, die „aus technischen G r ü n d e n " erfolgte (Begr. ζ. Ε 1962, S. 119), erscheint systematisch wenig geschickt, weil es sich bei Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung um „ausgesprochene Zwitter- oder Zwischenerscheinungen zwischen Strafen und Maßregeln" (Maurach aaO § 57 I S. 795) von recht verschiedenartigem Charakter handelt. Sie tragen in einigen Ausprägungen stark maßregelähnliche Züge, und zwar im spezifischen Sinn einer Sicherungsmaßregel: so die Einziehung gemäß § 74 Abs. 2 Nr. 2 und § 74 Abs. 3, die Einziehung und die Unbrauchbarmachung gemäß § 74 d. Maßregeln im technischen Sinne stellen diese Reaktionen aber dennoch nicht dar; sie sind nicht gemeint, wo das Gesetz von Maßregeln der Besserung und Sicherung spricht. Im übrigen kennt das StGB noch eine Reihe weiterer strafrechtlicher Reaktionen, die den Maßregeln, inhaltlich nahestehen, als Reaktionen eigener Art aber zu ihnen nicht zählen. Zu nennen sind insbesondere die Weisungen im Rahmen der Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 56 ff), der Aussetzung des Strafrests (§ 57 ff) und der Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 a Abs. 2). Es zeigt sich hier die zunehmende Durchdringung von Strafen und Maßregeln im Hinblick auf ein System optimaler Einwirkungen. Vgl. dazu Rdn. 10 f, 15 Vor § 61. II. Struktur und Gliederung der Maßregeln 3
1. Zur Struktur der Maßregeln sowie zu den allgemeinen Grundsätzen über ihre Anwendung s. die Erl. Vor § 61. Zur Maßregelkonkurrenz s. § 72 und die dort. Erl. 2. Gliederung der Maßregeln. Die einzelnen Maßregeln verfolgen, unbeschadet ihrer gemeinsamen Struktur, jeweils etwas unterschiedliche spezifische kriminalpolitische Ziele. Sie sind daher nach Ausgestaltung, Einzelzweck und Wirkung recht unterschiedlich. Zum Versuch einer Einteilung nach inhaltlichen Kriterien vgl. Maurach/Gössel/Zipf § 67 Rdn. 5 ff. Das Gesetz kennt drei Maßregeln mit Freiheitsentzug (Nr. 1—3) und drei Maßregeln ohne Freiheitsentzug (Nr. 4—6). Die Maßregel der Nr. 4 (Führungsaufsicht) nimmt dabei eine gewisse Sonderstellung ein, weil sie auch als automatische Folge der Aussetzung einer freiheitsentziehenden Maßregel eintritt (§§ 67 b, 67 c, 67 d Abs. 2, 4; näher Rdn. 9 Vor § 68). Die freiheitsentziehenden Maßregeln sind in einem eigenen Untertitel zusammengefaßt (§§ 63—67 g). Das Gesetz legt dabei in den §§ 63—66 die Anordnungsvoraussetzungen für jede der Maßregeln fest und enthält in den anschließenden Bestimmungen gemeinsame Vorschriften über die Folgewirkungen (§§ 67—67 g), zu denen noch die gemeinsamen Vorschriften des § 62 sowie der §§71 und 72 hinzutreten. Die Maßregeln ohne Freiheitsentzug sind, weil sie sehr viel partiellere und spezifischere Einwirkungen normieren, gesetzestechnisch etwas anders geordnet. Das Gesetz handelt jede der drei Maßregeln in einem eigenen Untertitel erschöpfend ab (§§ 68—68 g; §§ 69—69 b; §§ 70—70 b). Gemeinsam gelten wiederum die zusätzlichen Bestimmungen des § 62 sowie der §§ 71 und 72. III. Wandlungen des Maßregelkatalogs
4
Seit der Einführung der Maßregeln im Jahre 1933 (Rdn. 6 Vor § 61) hat der Katalog der Maßregeln erhebliche Änderungen erfahren. Es erscheint angezeigt, das in Stand: 1. 12. 1991
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Übersicht
§61
einem kurzen Überblick festzuhalten; die genauere Erörterung weggefallener Maßnahmen ist freilich nicht Sache eines Kommentars zum geltenden Recht. Über Maßregeln, die in früheren Entwürfen vorgesehen oder von der Wissenschaft diskutiert, aber nicht Gesetz geworden sind, vgl. z.B. Schmidhäuser AT 21/4; Krille Niederschriften Bd. 1, S. 282 ff. Der Ε 1962 hatte — außer dem Arbeitshaus (dazu Rdn. 7) — als Maßregel noch die Bewahrungsanstalt, die vorbeugende Verwahrung und das Verbot der Tierhaltung vorgesehen; die ersten beiden Maßregeln sind im 2. StrRG in der Maßregel der sozialtherapeutischen Anstalt des § 65 (a. F.) aufgegangen, die noch vor ihrem Inkrafttreten durch Gesetz v. 20. 12. 1984 aufgehoben wurde (dazu Rdn. 10); das Verbot der Tierhaltung ist in das TierschutzG verwiesen worden (unten Rdn. 11). 1. Die zwangsweise Entmannung bestimmter gefährlicher Sexualverbrecher sah das 5 Gesetz vom 24. 11. 1933 (vgl. Rdn. 6 Vor § 61) als fakultative Maßregel vor (§ 42 a Nr. 5, § 42k a.F.; dazu Werle Justiz-Strafrecht S. 100ff). Diese Maßregel ist durch Art. 1 des K R G Nr. 11 v. 30. 1. 1946 (Amtsblatt S. 55) aufgehoben worden. Heute ist nur eine freiwillige Kastration nach dem „Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden" vom 15. 8. 1969 (BGBl. I 1143 mit späteren Änderungen) zulässig; sie ist als solche — selbstverständlich — keine Maßregel, kann aber im Maßregelrecht mittelbare Bedeutung haben (vgl. z.B. LK § 66 Rdn. 152). Langelüddeke gibt an, zwischen 1934 und 1944 seien etwa 2800 Sexualverbrecher entmannt worden 1 . An den Betroffenen sind eingehende Nachuntersuchungen durchgeführt worden 2 . 2. Die Reichsverweisung von Ausländern war nach dem Gesetz vom 24. 11. 1933 zu- 6 nächst ebenfalls als Maßregel zulässig (§ 42a Nr. 7, § 42m a.F.). Sie wurde aber schon durch das Gesetz über Reichsverweisungen v. 23. 3. 1934 (RGBl. I 213) wieder beseitigt und in diesem Gesetz bzw. später in der AusländerpolizeiVO vom 22.8.1938 (RGBl. I 1053), wie früher, als Verwaltungsmaßnahme gestaltet. Heute ist das Aufenthaltsverbot gegenüber Ausländern im AuslG geregelt. Es handelt sich auch dabei um eine Verwaltungsmaßnahme; die Wiedereinführung einer strafrechtlichen Maßregel wurde nach 1945 nicht für notwendig erachtet (vgl. ζ. B. Krille Niederschriften Bd. 1, S. 282). 3. Die Unterbringung im Arbeitshaus (§ 42 a Nr. 3; § 42 d a. F.), die das Gesetz vom 7 24. 11. 1933 eingeführt hatte, ist durch das 1. StrRG beseitigt worden. Vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes angeordnete Unterbringungen verloren gemäß Art. 92 des 1. StrRG ihre Wirkung. Die Maßregel, die spezifisch Gemeinlästige traf (Bettler, Landstreicher, Dirnen, Arbeitsscheue; näher Werle Justiz-Strafrecht S. 98 ff; Sch/Schröder14 Erl. zu § 42d m. Nachw. zum Gesamtproblem) und die der Ε 1962 letztlich noch erweitern wollte (§ 84 m. Begr. S. 212 f), war seit längerem umstritten (vgl. ζ. B. Jescheck AT 3. Aufl. § 70 VI 3 S. 583 m. Nachw.). Sie wurde vom Gesetzgeber wegen einer Fülle rechtsstaatlicher und kriminalpolitischer Bedenken beseitigt; vgl. 1. Bericht S. 17 f; Prot. V, 432 ff, 2313 ff; AE-AT S. 129; Schaffstein S. 644 m. Nachw. 1
(47)
Die Nachuntersuchung der Entmannten, Kriminalbiologische Gegenwartsfragen Bd. VII, 1953, S. 48 ff; vgl. auch die Berichte von Finke und Klee DtStr 1935 186 und 373; Schlegel Dt. med. Wschr. 1935 590.
2
Angaben bei Langelüddeke aaO und in Gerichtliche Psychiatrie 3 , 1971, S. 109 f; Xingas Die Kastration als Sicherungsmaßnahme gegen Sittlichkeitsverbrecher, 1937; Jensch Untersuchungen entmannter Sittlichkeitsverbrecher, 1944.
Ernst-Walter Hanack
§61
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
8
Nicht gelöst war damit freilich das — durchaus bedrückende — Problem der Behandlung Gemeinlästiger (dazu insbes. Schaffstein S. 655 ff; s. auch Albrecht S. 229), das heute namentlich bei sog. Stadtstreichern eine Rolle spielt. Insoweit ist folgendes wichtig: Der Sonderausschuß (1. Bericht S. 18) meinte, daß „versucht werden (muß), dem bisher vom Arbeitshaus erfaßten Personenkreis mit den Mitteln der Sozialfürsorge beizukommen". Er verkannte dabei nicht, daß dies durch die Entscheidung des BVerfG vom 18.7. 1967 (BVerfGE 22 180,218 = NJW 1967 1795,1800) „erschwert" worden ist: Diese Entscheidung erklärte die Vorschriften des § 73 Abs. 2 und 3 BSHG a. F. für nichtig, nach denen das Gericht einen Gefährdeten unter bestimmten Voraussetzungen u. a. anweisen konnte, sich in einer geeigneten Anstalt aufzuhalten (die Bestimmungen sind daraufhin durch das 2. ÄndG zum BSHG v. 14. 8.1969 aufgehoben worden). Das BVerfG vertrat die Auffassung, der Staat habe „nicht die Aufgabe, seine Bürger zu ,bessern', und deshalb auch nicht das Recht, ihnen die Freiheit zu entziehen, nur um sie zu ,bessern', ohne daß sie sich selbst oder andere gefährden, wenn sie in Freiheit bleiben". Erhardt sieht in der Entscheidung ein „Mißverständnis des zugrundeliegenden Sachverhalts"; er bedauert im übrigen — aus der Sicht des Sozialpsychiaters gewiß nicht ohne Grund —, daß damit der „erste und ganz schüchterne Versuch" eines Bewahrungsgesetzes, das „von Fürsorgefachleuten schon seit Jahrzehnten gefordert wird", gescheitert sei, wobei auch Erhardt einräumt, daß es sich „aus der Sicht der Praxis" um einen „ziemlich verunglückten Versuch" gehandelt habe (FortschrNeurolPsych 1969 661, 663; vgl. auch Erhardt Handwörterbuch Kriminologie, 2. Aufl. Bd. II, S. 395). Zum ganzen eingehend Preiser ZStW 80 552.
9
An der weiteren Entwicklung ist dann bemerkenswert: Das BSHG kannte in § 26 Abs. 1 S. 1 auch die Möglichkeit der Unterbringung eines Gefährdeten zur Arbeitsleistung in einer Anstalt, wenn er sich trotz wiederholter Aufforderung beharrlich weigerte, zumutbare Arbeit aufzunehmen, so daß laufende Hilfe zum Lebensunterhalt an Unterhaltsberechtigte geleistet werden mußte. Das BVerfG hat diese Vorschrift — in eigenartigem Gegensatz zu der Rdn. 8 genannten Entscheidung — im Prinzip für verfassungskonform erklärt (BVerfGE 30 47 = NJW 1971 419). Dennoch hat der Gesetzgeber § 26 durch das 3. ÄndG zum BSHG vom 23. 3. 1974 (BGBl. I 777) ersatzlos aufgehoben. Die Bundesregierung begründete dies u. a. mit dem Hinweis auf die Aufhebung der Maßregel des Arbeitshauses und mit dem Fehlen geeigneter Einrichtungen in den Ländern; solche Einrichtungen zu schaffen würde in Anbetracht einer geringen Zahl von Fällen, die für die Unterbringung in Betracht kämen, dem für die Verwaltung maßgebenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht entsprechen (zit. nach Schellhorn/Jirasek/Seipp Das Bundessozialhilfegesetz, 8. Aufl. 1974 zu § 26).
10
4. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist erst durch Ges. v. 19.12. 1952 (BGBl. I 832) eingefügt worden; näher dazu die Erl. zu § 69. 5. Die Führungsaufsicht entstammt den Bemühungen zur Strafrechtsreform (2. StrRG; s. näher Rdn. 16 ff Vor § 68). Zur Polizeiaufsicht des früheren Rechts (§§ 38, 39 a. F.), die in der Sache eine Maßregel war, s. Rdn. 16, 30 Vor § 68. 6. Die sozialtherapeutische Anstalt (§ 65 a. F.; s. dort) enthielt den kriminalpolitisch wichtigen Versuch, kritische Tätergruppen aus dem Bereich der schweren und gefährlichen Kriminalität in geeigneten Fällen einer intensiven sozialtherapeutiStand: 1. 12. 1991
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Übersicht
§61
sehen Behandlung durch Fachkräfte zuzuführen, die sich im normalen Strafvollzug typischerweise nicht leisten läßt. Entwickelt worden ist die Maßregel in eingehenden Diskussionen bei den Beratungen zur Strafrechtsreform (vgl. schon Rdn. 4). Nachdem der Zeitpunkt ihres Inkrafttretens zweimal gesetzlich verschoben worden war (Gesetz v. 30. 7. 1973, BGBl. I 909, und Gesetz v. 22. 12. 1977, BGBl. I 3104), wurde die Maßregel schließlich, noch vor ihrem Inkrafttreten, insbesondere aus Personalund Kostengründen durch das Gesetz zur Änderung des StVollzG v. 20. 12. 1984 (BGBl. I 1654) zugunsten der sog. Vollzugslösung (§§ 9, 123 —126 StVollzG) aufgehoben 3 . Damit entspricht das System der Einwirkung durch freiheitsentziehende Maßregeln nicht mehr dem Stand und Standard, den der moderne Gesetzgeber selbst für möglich und sinnvoll gehalten hat. Das macht sich in verschiedenen Bereichen schmerzlich bemerkbar, so namentlich bei der Unterbringung persönlichkeitsgestörter Täter im psychiatrischen Krankenhaus (dazu LK § 63 Rdn. 3 ff), beim Bemühen um Vermeidung der Sicherungsverwahrung (dazu LK § 66 Rdn. 15; § 72 Rdn. 25) und bei der Sicherungsverwahrung jüngerer Erwachsener (dazu LK § 66 Rdn. 47,48). — Eine eingehende Darstellung und Kommentierung des § 65 enthält die 10. Aufl. des LK. IV. Sonstige Maßregeln und Maßnahmen 1. Maßregeln außerhalb des StGB. Wie bemerkt (Rdn. 1), erfaßt der Katalog des 11 § 61 nur die Maßregeln des StGB. Unberührt bleiben Maßregeln des Nebenstrafrechts, so das Verbot der Tierhaltung (§ 20 TierschutzG v. 24. 7. 1972, i. d. F. v. 18. 8. 1986, BGBl. I 1319) oder die Entziehung des Jagdscheins (§ 41 BundesjagdG i.d. F. von Art. 230 Nr. 5 EGStGB). Erforderlichenfalls können hier nach Art. 1 EGStGB die Vorschriften des Allgemeinen Teils ergänzend herangezogen werden (ζ. B. § 72, §§ 78 ff> 2. Über „Maßnahmen" und sonstige strafrechtliche Sanktionen maßregelähnli- 12 eher Art vgl. Rdn. 2. 3. Maßnahmen außerstrafrechtlichen Charakters, die also von anderen Instanzen angeordnet werden, aber maßregelähnliche Züge tragen, gibt es in mancherlei Formen. Zu nennen ist vor allem die Möglichkeit der Unterbringung Geisteskranker und Süchtiger durch den Richter der freiwilligen Gerichtsbarkeit nach den landesrechtlichen Unterbringungsgesetzen (näher LK § 63 Rdn. 99 ff). Im übrigen enthalten viele verwaltungsrechtliche Vorschriften, die ζ. T. sogar an strafrechtliche Verurteilungen anknüpfen, maßregelähnlichen Charakter, so ζ. B. die Entziehung der Fahrerlaubnis nach den §§ 4 StVG, 15 b StVZO. V. Nebenfolgen von Maßregelverurteilungen 1. Soldaten und Wehrpflichtige. Nach dem SoldatenG kann in das Dienstverhält- 13 nis eines Berufssoldaten oder eines Soldaten auf Zeit nicht berufen werden, wer einer Maßregel nach den §§ 64 oder 66 unterworfen ist, solange diese Maßregel nicht erle3
Näher dazu und zu den umstrittenen G r ü n d e n z.B. A. Böhm N J W 1985 1813; Schüler-Springorum H.-Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 167; vgl. auch Baumann/Weber AT § 44 II 3. — Zur allgemeinen Bedeutung der Sozialtherapie, über die ein kaum zu übersehendes Schrifttum existiert, vgl. statt aller Müller-Dielz G r u n d f r a g e n des straf-
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rechtlichen Sanktionensystems, 1979, S. 205; Dünkel Legalbewährung nach sozialtherapeutischer Behandlung, 1980; Egg Straffälligkeit und Sozialtherapie (1984). Zu bereits entstandenen Modellanstalten s. Schöch Z R P 1982 208 und LK 10 § 65 Rdn. 30 ff.
Ernst-Walter Hanack
§ 6 1
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
digt ist (§ 38 Abs. 1 Nr. 3). Ein Berufssoldat, gegen den eine der genannten Maßregeln angeordnet ist, verliert seine Rechtsstellung (§ 48 Nr. 1); bei einem Soldaten auf Zeit endet das Dienstverhältnis mit der Anordnung (§ 54 Abs. 2 Nr. 2). Für den Wehrpflichtigen gilt aufgrund des WehrpflichtG: Solange der Pflichtige einer nicht erledigten Maßregel nach den §§ 64 oder 66 unterworfen ist, ist er vom Wehrdienst (§ 10 Abs. 1 Nr. 3) bzw. vom Dienst in der Bundeswehr (§ 30 Abs. 1) ausgeschlossen. Er verliert seinen Dienstgrad (§ 30 Abs. 1, § 30 Abs. 2 Nr. 2). Zum Begriff der „Erledigung" bei den genannten Maßregeln vgl. z. B. LK § 64 Rdn. 120. Aus der geschilderten Regelung folgt, daß bei allen anderen Maßregeln, insbesondere der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63), die genannten Folgen nicht eintreten. Jedoch wird ein Täter, gegen den die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus angeordnet ist, vom Wehrdienst zurückgestellt (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 WehrpflichtG). 14
2. Zivildienstpflichtige sind nach § 9 Abs. 1 Nr. 3 des ZivildienstG vom Zivildienst ausgeschlossen bzw. werden nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 zurückgestellt, solange gegen sie eine Maßregel nach §§ 64 oder 66 angeordnet ist. Zurückgestellt werden sie auch bei einer Unterbringung nach § 63 (§ 11 Abs. 2 Nr. 1). 3. Wahlrecht. Wahlrecht und Wählbarkeit ruhen u. a. bei Personen, die nach § 63 i.V. mit § 20 in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind (§ 13 Abs. 1 Nr. 3 und § 15 Abs. 1 Nr. 3 BundeswahlG i.d. F. v. 1. 9. 1975, BGBl. I 2325 m. spät. Änd.).
§ 6 2
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht. Schrifttum Bae Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht des StGB (1985); Blei Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Maßregeln der Sicherung und Besserung, JA 1971 235; Dechsling Das Verhältnismäßigkeitsgebot (1989); Denzel Übermaßverbot und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, Diss. Heidelberg 1969; Eickhoff Die Benachteiligung des psychisch kranken Rechtsbrechers im Strafrecht, NStZ 1987 65; Gribbohm Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei den mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßregeln der Sicherung und Besserung, JuS 1967 349; Haag Rationale Strafzumessung (1970); Hirschberg Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1981); Horstkotte Die Vorschriften des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts über ... die Maßregeln der Sicherung und Besserung, JZ 1970 152; Arth. Kaufmann Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Lange-Festschr., S. 27; von Krauss Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1955); Lenckner Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit, in: Göppinger/Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. I 1972, S. 3; Lerche Übermaß und Verfassungsrecht (1961); Maihofer Rechtsstaat und menschliche Würde (1968); MüllerDietz Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus und Verfassung, JZ 1987 45; Nowakowski Zur Rechtsstaatlichkeit der vorbeugenden Maßnahmen, v.-Weber-Festschr., S. 98; Paetzold Die Eingriffsvoraussetzungen bei freiheitsentziehenden Maßregeln unter besonderer Be-
stand: 1. 12. 1991
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Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
§ 6 2
rücksichtigung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit, Diss. Tübingen 1975; Peter Schneider Pressefreiheit und Staatssicherheit (1968); Schröder D i e „Erforderlichkeit" von Sicherungsmaßregeln, JZ 1970 92; Schüler-Springorum Sachverständiger und Verhältnismäßigkeit, StutteFestschrift (1979) S. 307; Theyssen D i e Entscheidung über die Aussetzung der Unterbringung im Lichte der Verfassung. Überlegungen zu BVerfGE 70, 297, Tröndle-Festschrift S. 408; Warda Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht (1962); Witt Verhältnismäßigkeitsgrundsatz — Untersuchungshaft, körperliche Eingriffe und Gutachten über den Geisteszustand —, Diss. Mainz 1968; Wittig Z u m Standort des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im System des G G , D Ö V 1968 817; Zipf D i e Rechtsfolgen der Tat im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1974 273. Zahlreiche weitere A n g a b e n bei Horstkotte
LK § 67 d Ziff. III. 7.
S. im übrigen auch Vor § 61.
Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist — als § 42 a Abs. 2 a. F. — durch das 1. StrRG eingeführt und vom 2. StrRG mit geringen redaktionellen Änderungen unverändert übernommen worden. Übersicht 1. Allgemeines 1. Allgemeiner Rechtsgrundsatz; Aufgabe 2. Terminologie und Sachabgrenzungen a) Terminologie b) Sachabgrenzungen II. Geltungsbereich 1. Geltung bei allen Maßregelentscheidungen 2. Maßregelkonkurrenz 3. Entziehung der Fahrerlaubnis . . . . III. Keine inhaltlichen Aussagen IV. Kriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung I. Integration in die Anordnungsvor-
Rdn. 1 1 4 4 5 6 6 7 7 8 9
aussetzungen 2. Bezugspunkte der Prüfung a) Systematik b) Bedeutung der begangenen Taten . c) Bedeutung der zu erwartenden Taten d) G r a d der G e f a h r 3. Gesamtwürdigung der Bezugspunkte a) Prüfung der Relation b) Künftige Taten von besonderer Schwere c) Schwere Anlaßtaten d) Besserungszweck einer Maßregel . e) Gewißheit V. Die unverhältnismäßige Maßregel . . .
Rdn. 9 10 10 II 12 13 14 14 15 16 17 20 21
I. Allgemeines 1. Allgemeiner Rechtsgrundsatz; Aufgabe. Neues Recht hat der Gesetzgeber mit 1 der ausdrücklichen Statuierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im StGB nicht geschaffen. Denn der Grundsatz enthält ein allgemeines und allgemein anerkanntes Rechtsprinzip 1 . Er gilt für den gesamten Bereich des Rechts, damit also auch des Strafrechts im allgemeinen und des Maßregelrechts im besonderen (Haag S. 37f). Seine Geltung für das Maßregelrecht war schon vor der ausdrücklichen Formulierung im StGB unbestritten. Sie beruht auf dem Gedanken, daß der tief in Grundrechte einschneidende Eingriff, den insbesondere eine freiheitsentziehende Maßregel darstellt, nur gerechtfer1
BVerfGE 16 194, 202 = N J W 1963 1597; 19 342, 348 f = N J W 1966 243; 23 127, 134 = N J W 1968 979, 981 m. Anm. Arndt NJW 1968 979; 70 297, 311 = N J W 1986 767; BGHSt. 20 232; 26 102; OLG Schleswig SchlHA 1958 343; Dreher Nie-
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derschriften Bd. 12, S. 335; Warda S. 142ff; Nowakowski S. 105 m.w. Nachw. Zu seiner Ableitung näher Bae S. 24ff m. Nachw.; s. auch Horstkotte LK10 §67 d Rdn. 52.
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§62
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
tigt ist, wenn die Gefahr, die von dem Täter ausgeht, so beschaffen ist, daß ihm, auch wenn er ohne Schuld gehandelt hat, ein derartiger Eingriff im überwiegenden Allgemeininteresse zuzumuten ist (Dreher/Tröndle Rdn. 1). Aufgabe des § 62 ist es mithin, über den Wortlaut der verschiedenen Einzelbestimmungen des Maßregelrechts hinaus, die letztlich an der Spezialprävention orienterte Zweckbestimmung der Maßregeln (Rdn. 20 Vor § 61) im Einzelfall auf das rechtsstaatlich erträgliche Maß zu begrenzen ( Z i p f JuS 1974 274, 278; Schreiber S. 45) bzw. diese Begrenzung zu verdeutlichen. 2 Bedenklich ist jedoch die Ansicht (so aber Zipf aaO; vgl. auch Zipf in Roxin u. a., Einführung in das neue Strafrecht, S. 103), § 62 übernehme im Maßregelrecht die Funktionen, die bei Bemessung der Strafe dem Schuldprinzip zukommen: Der Vergleich paßt nicht und täuscht darüber hinweg, daß die auf einer anderen Zweckrichtung beruhenden Maßregeln als „Notwehrmaßnahmen" (Rdn. 29 Vor § 61) nicht in der gleichen Weise an der Gerechtigkeit orientiert sind wie die Strafe. So markiert § 62 auch überhaupt nur eine äußerste Grenze („UnVerhältnismäßigkeit"). 3
Die ausdrückliche gesetzliche Hervorhebung im Maßregelrecht erschien dem Gesetzgeber angebracht, weil der Eindruck entstanden war, daß der Grundsatz in der Vergangenheit nicht immer genügend beachtet worden ist. So sind nach Meinung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform ζ. B. Personen nach § 63 ( = § 42 b a. F.) untergebracht worden, bei denen Bedenken bestehen konnten, ob die Unterbringung zum Schutze wesentlicher Rechtsgüter wirklich erforderlich war (1. Bericht S. 17; Prot. IV, 786 ff, 814 ff). Auch bei der Sicherungsverwahrung sind — zu Recht — ähnliche Bedenken aufgetaucht (näher § 66 Rdn. 6). Diese Bedenken haben den Gesetzgeber nicht nur veranlaßt, die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung beider Maßregeln wesentlich zu verschärfen (Näheres bei den Erl. zu § 63 und zu § 66); sie haben ihn darüber hinaus bewogen, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als regulatives Prinzip des gesamten Maßregelrechts besonders zu fixieren. 2. Terminologie und Sachabgrenzungen
4
a) Die Terminologie, deren sich Rechtsprechung und Lehre bei der Behandlung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bedienen, ist nicht einheitlich 2 . Warda ζ. B. meint, der Grundsatz erfasse einmal die „Notwendigkeit" des Eingriffs, zum anderen aber auch seine „Angemessenheit", und zwar i. S. einer Wertung, d. h. einer Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen und Güter (S. 143). Andere sprechen statt von „Notwendigkeit" von „Erforderlichkeit" und stellen diese der „Angemessenheit" gegenüber. Wieder andere verstehen das „Übermaßverbot" als Oberbegriff, dem zwei verschiedene Rechtsgrundsätze zu entnehmen seien, nämlich der Grundsatz der Erforderlichkeit sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Lerche S. 21; Denzel S. 2). In der Sache sind diese und andere Unterscheidungen nicht wesentlich, solange man sich über folgendes klar ist: Der „Grundsatz der Erforderlichkeit" besagt nur und allenfalls, daß lediglich in dem zur Zweckerreichung nötigen, also dem geringsten Maße in Rechtsgüter eingegriffen werden darf, falls er nicht überhaupt, was sich auch denken läßt, allein die schlichte Eignung zur Erreichung des Erforderlichen beschreibt. Die Erforderlichkeit (Notwendigkeit) enthält aber für sich noch keine mate2
E i n g e h e n d Haag S. 25 m . w . N a c h w . ; zur Abgrenzung von verwandten Rechtsbegriffen n ä h e r Bae S. 57 f f ; vgl. auch Degener G r u n d s a t z d e r Verhalt-
nismäßigkeit u n d strafprozessuale Z w a n g s m a ß n a h m e n , 1985, S. 25 m. w. N a c h w .
Stand: 1. 12. 1991
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Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
§62
rielle Begrenzung des „an sich" zulässigen (geringsten) Eingriffs. Diese Begrenzung liefert — als Idee eines regulativen Prinzips — vielmehr erst der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Ausprägung eines „Übermaßverbots", d. h. der Gedanke, daß der an sich zulässige Eingriff im Hinblick auf eine Abwägung der verschiedenen Güter und Interessen inhaltlich begrenzt sein kann oder, anders ausgedrückt: daß seine Angemessenheit i. S. Wardas an der Verhältnismäßigkeit im engen, strengeren Sinne kontrolliert wird. In diesem Sinne spricht Schneider (S. 119 ff) richtig davon, daß zunächst auf die Verhältnismäßigkeit des Ob (Notwendigkeit) einer Maßregel abzustellen ist, ehe man die Verhältnismäßigkeit des Wie (Mittel-Zweck-Relation, „Angemessenheit") prüft. — Diese Sachunterscheidungen werden in Rechtsprechung und Lehre nicht immer beachtet oder doch verunklart, wenn unkritisch vom „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" gesprochen und dabei nicht deutlich gemacht wird, ob es um die Zweckerreichung oder um die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs geht (Denzel S. 5). Wesentlich ist beim Verhältnismäßigkeitsprinzip i. e. S. jedenfalls die Relation zwischen dem öffentlichen Interesse und dem Individualinteresse, in das mit einer „an sich" erforderlichen (zulässigen) Maßnahme eingegriffen wird (BVerfGE 70 297, 311). b) Sachabgrenzungen. Unberührt von § 62 bleibt nach dem Gesagten das Prinzip 5 des geringstmöglichen Eingriffs, das die Beschränkung auf das zur Zweckerreichung Unerläßliche fordert (Lackner § 62 Rdn. 2). Unberührt bleibt weiter auch das Subsidiaritätsprinzip (vgl. Rdn. 58 ff Vor § 61), das sich als eine weitere Ausprägung des Übermaßverbots darstellt (näher Bae S. 63). II. Geltungsbereich 1. Geltung bei allen Maßregelentscheidungen. Der Grundsatz der Verhältnismä- 6 ßigkeit gilt, entgegen dem bedauerlich unklaren Gesetzeswortlaut des § 62, als Ausprägung eines allgemeinen und verfassungsrechtlich begründeten Rechtsprinzips nicht nur, wenn es um die Frage geht, ob eine Maßregel „angeordnet" werden darf. Er gilt ebenso für alle anderen und weiteren Entscheidungen, die bei und nach einer Maßregelanordnung nötig werden können, insbesondere also für Entscheidungen über das Ob einer Aussetzung zugleich mit der Anordnung und für Entscheidungen über den weiteren Vollzug. Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers (1. Bericht S. 17) und ist allgemein anerkannt 3 . Wichtig ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz insoweit vor allem bei Entscheidungen über den weiteren Vollzug einer Maßregel von unbestimmter Dauer. Das gilt insbesondere im Fall des § 63, wo die Anforderungen an die Wahrung der Verhältnismäßigkeit um so strenger werden, je länger die Unterbringung andauert, und zwar auch im Hinblick auf die Sachaufklärung, ζ. B. durch Zuziehung anstaltsfremder Sachverständiger. Vgl. die Entscheidung BVerfGE 70 297, die sich „stellenweise ... wie ein Kompendium von Leitgedanken und Hinweisen" (Müller-Dietz) für den zuständigen (Vollstreckungs-)Richter liest; dazu eingehend Müller-Dietz JR 1986 45 m. zahlr. w. Nachw. 4 . 3
Vgl. z.B. BVerfGE 70 297, 312; O L G Celle N J W 1970 1199; O L G Düsseldorf NStZ 1991 104 und Μ D R 1987 957; OLG H a m m N J W 1970 1982; OLG H a m m G A 1971 56; O L G Karlsruhe N J W 1971 204; LG Paderborn StrVert. 1985 71; Dre-
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4
her/Tröndle Rdn. 4; Horn SK Rdn. 2; Preisendanz Anm. 2 f; Sch/Schröder/Stree Rdn. 3. Vgl. auch O L G Celle NStZ 1989 491, 492; Theyssen S. 407 f; Trechsel Anm. in E u G R Z 1986 543; Horstkotte LK zu § 67 d.
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§62 7
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
2. Bei der Maßregelkonkurrenz (§ 72) gilt der Grundsatz ebenfalls. Er findet dort seine besondere Ausprägung durch die Regelung des § 72 Abs. 1 S. 2. Näheres s. bei den Erl. zu § 72. 3. Entziehung der Fahrerlaubnis. Hier bedarf es nach der „bedenklichen Ausnahme" (Baumann/ Weber AT § 4413) des § 69 Abs. 1 S. 2 der Prüfung der Verhältnismäßigkeit in der Regel nicht (vgl. aber OLG Düsseldorf bei Janiszewski NStZ 1987 112; AG Bad Homburg NJW 1984 2841); sie gilt als stets gewahrt (1. Bericht S. 24; näher LK zu § 69). Bei § 69 a (Sperre für die Erteilung einer neuen Erlaubnis) ist dagegen § 62 „wie sonst" zu beachten.
8
III. Keine inhaltlichen Aussagen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 62 enthält als solcher keine inhaltlichen Aussagen darüber, wann ein Mittel verhältnismäßig ist und wann nicht. Es handelt sich um ein regulatives Prinzip, ähnlich wie bei dem Satz, daß Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist, und wie bei dem Güterabwägungsgedanken 5 . Ob man von einem „formalen Prinzip" sprechen sollte (so z.B. Lang-Hinrichsen und Gribbohm aaO; Arth. Kaufmann Lange-Festschrift S. 33), erscheint dennoch zweifelhaft. Richtiger dürfte es wohl sein, mit Jescheck (§ 4 II 2; vgl. auch Bae S. 43) von einer „materiellen Natur" des Grundsatzes jedenfalls bei § 62 auszugehen (skeptisch offenbar Kaufmann aaO). In der Sache haben die Bezeichnungen insoweit freilich keine weiteren Konsequenzen. IV. Kriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung
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1. Integration in die Anordnungsvoraussetzungen. Nach dem Wortlaut des § 62 setzt die Prüfung der Verhältnismäßigkeit voraus, daß eine Maßregel „eigentlich" angeordnet werden könnte, also die formellen und materiellen Anordnungsvoraussetzungen erfüllt sind. In der Tat kommt die Prüfung des § 62 nicht in Betracht, wenn es schon an diesen Voraussetzungen fehlt. Es erscheint daher, insoweit wohl entgegen Horn (SK Rdn. 3), durchaus angezeigt diese Voraussetzungen weitmöglichst zunächst einmal für sich und „als solche" festzustellen. Zu Recht weist aber Horn (aaO) darauf hin, daß die Auslegung etwa des Begriffs der „erheblichen weiteren Straftaten" auch relativ zu sehen, d. h. über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit der jeweils in Rede stehenden Maßregel zu verbinden ist. Zu fragen ist danach ζ. B., ob die Belastung des Täters durch eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus zu den von ihm zu erwartenden Taten außer Verhältnis steht, womit zugleich ein Kriterium für die Inhaltsbestimmung auch des Begriffs der „erheblichen weiteren Straftaten" zu gewinnen ist. Ähnliches gilt für Folgeentscheidungen, ζ. B. für die Prüfung, wann „verantwortet werden kann zu erproben", ob der Täter bei Aussetzung des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird (§ 67 d Abs. 2). Dieser Zwang zur integrierenden Betrachtungsweise ergibt sich hier — als Besonderheit im Zusammenhang mit der Verwendung wertausfüllungsbedürftiger Gesetzesbegriffe im Maßregelrecht — aus dem Wesen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 62, bei der, wie im folgenden zu zeigen ist, verschiedene Bezugspunkte zueinander in Beziehung zu setzen und schließlich in einer Gesamtprüfung miteinander zu verbinden sind. 5
Lang-Hinrichsen LK' Rdn. 9; vgl. auch S. 354; Witt S. 20; Horn SK Rdn. 8.
Gribbohm
Stand: 1. 12. 1991
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G r u n d s a t z der Verhältnismäßigkeit
§62
2. Die einzelnen Bezugspunkte der Prüfung. Das Gesetz nennt als Bezugspunkte 10 der Prüfung drei Kriterien (dazu eingehend Bae S. 155 ff): die Prüfung der vom Täter begangenen Taten, die Bedeutung der von ihm zu erwartenden Taten und den Grad der von ihm ausgehenden Gefahr. a) Systematik. Daß das dritte Kriterium — Grad der Gefahr — gegenüber dem zweiten — Bedeutung der zu erwartenden Taten — keine eigenständige Relevanz habe, wenn man in den Begriff „Bedeutung der Taten" auch die Begehungshäufigkeit aufnimmt, behauptet Horn (SK Rdn. 4). Er meint, die vom Täter ausgehende Gefahr drücke sich in der Prognose aus, daß er rechtswidrige Taten begehen werde. An dieser Ansicht ist richtig, daß bei der „Bedeutung der zu erwartenden Taten" auch die Begehungshäufigkeit eine Rolle spielt. Der Begriff des „Grades" erfaßt aber auch die Größe der Wahrscheinlichkeit und damit einen weiteren und eigenen Sachgesichtspunkt. Nun ließe sich zwar auch diese Komponente bei der „Bedeutung" fassen. Wenn aber das Gesetz in der geschilderten Weise zwischen „Bedeutung" und „ G r a d " differenziert, erscheint es richtig, dem auch in der Prüfungssystematik zu folgen. Dann aber ist es notwendig, die Begehungshäufigkeit bei der „Bedeutung der zu erwartenden Taten" und beim „Grad der Gefahr" zu berücksichtigen. Denn sie ist sowohl für Art und Schwere der Taten („Bedeutung") als auch für den Grad der vom Täter ausgehenden Gefahr relevant. Der l. Bericht (S. 17) versteht übrigens unter dem „Grad der Gefahr" die Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeit weiterer Taten und die vermutliche Rückfallgeschwindigkeit sind. b) Die Bedeutung der begangenen Taten (dazu kritisch Hirschberg S. 45; Bae S. 91 11 m. w. Nachw.) ist nach dem allgemeinen Zweck der Maßregeln (Rdn. 20 Vor §61) immer nur im Hinblick auf ihre indizielle Bedeutung für die künftige Gefährlichkeit des Täters zu sehen. Ihnen kommt also auch bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit nicht etwa dergestalt Relevanz zu, daß man fragen dürfte, ob der Täter wegen der Bedeutung der begangenen Taten die Maßregel „verdient" hat. Kriterien für die Bedeutung sind vor allem die Schwere der begangenen Taten, also auch die Abschichtung von Bagatelldelikten, die die Maßregelanordnung grundsätzlich nicht rechtfertigen; vgl. BGHSt. 20 232. Daneben ist die Art der Taten zu berücksichtigen, d.h. ihre Bedeutung für die Allgemeinheit (Dreher/Tröndle Rdn. 2), aber auch ihre Häufigkeit und ihr zeitlicher Abstand (so Sch/Schröder/Stree Rdn. 2). Frühere Taten sind danach also grundsätzlich für die Prüfung heranzuziehen (BGH bei Daliinger MDR 1970 729; vgl. auch Dreher/Tröndle aaO), soweit die Heranziehung nicht aus sonstigen Gründen nach dem Gesetz ausgeschlossen ist (§ 51 BZRG; vgl. dazu insbes. LK § 66 Rdn. 41 f). c) Die Bedeutung der zu erwartenden Taten bezieht sich ebenfalls vor allem auf ihre 12 Schwere und ihre Art, also die Gewichtigkeit der bedrohten Rechtsgüter und das Ausmaß, in dem sie vermutlich verletzt werden. Dafür ist (s. Rdn. 10) auch die vermutliche Begehungshäufigkeit durchaus von Belang. d) Der Grad der Gefahr, die vom Täter ausgeht, ist, wie bemerkt (Rdn. 10), auf die 13 Größe der Wahrscheinlichkeit zu beziehen, wobei aber wiederum auch die Begehungshäufigkeit eine Rolle spielen kann. Die Größe der Wahrscheinlichkeit betrifft auch die zeitliche Nähe neuer Taten (Dreher/Tröndle Rdn. 4). Sie hat unbeschadet des Umstandes Bedeutung, daß das Maßregelrecht eine Wahrscheinlichkeit erneuter Straftaten grundsätzlich voraus(55)
Ernst-Walter Hanack
§62
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
setzt. Denn auch bei Vorliegen dieser Voraussetzung kann das Maß der Wahrscheinlichkeit unterschiedlich intensiv sein. Bei der zu erwartenden Begehungshäufigkeit hat auch die Rückfallgeschwindigkeit der schon begangenen Taten — als Indiz — Bedeutung 6 . 14
3. Gesamtwiirdigung der Bezugspunkte. Die genannten Bezugspunkte sind zunächst für sich zu prüfen und sodann in einer Gesamtwürdigung zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen 7 . a) Die Prüfung der Relation, des Verhältnisses zwischen der Schwere des Eingriffs und der vom Täter ausgehenden Gefahren, macht das Wesen dieser Gesamtprüfung und zugleich den wesentlichen Kern des § 62 aus 8 . Dies folgt schon aus dem Zweck der Maßregeln (Rdn. 20 ff Vor § 61), die vor allem an die in Zukunft drohenden Rechtsverletzungen anknüpfen. Nicht die Schwere der begangenen Taten, sondern die vom Täter ausgehende künftige Gefahr muß danach in erster Linie im angemessenen Verhältnis zur Schwere des Eingriffs stehen 9 .
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b) Daß künftige Taten von besonderer Schwere zu erwarten sind, kann daher eine Maßregel auch dann rechtfertigen, wenn die bisherigen Taten für sich betrachtet wenig gewichtig sind 10 . Dies ergibt sich auch aus dem Wortlaut des § 62, der die Maßregelanordnung nur dann verbietet, wenn die UnVerhältnismäßigkeit der Maßregel in bezug auf alle drei Anknüpfungspunkte feststeht (so richtig Horn aaO), also auch hinsichtlich der „Bedeutung der vom Täter zu erwartenden Taten". Die offenbar gegenteilige Auffassung von Baumann/Weber (AT § 44 I 3; unklar) kann nicht überzeugen. Zuzugeben — und zugleich zu betonen — ist nur, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz selbstverständlich nicht dazu führen darf, eine an sich nicht ausreichende Erheblichkeit der begangenen Tat durch eine Gesamtabwägung nach § 62 gewissermaßen aufzuwerten, also den Mangel an Erheblichkeit durch die zu erwartenden Taten und Gefahren zu kompensieren. Denn § 62 dient der Einschränkung der Anordnungsmöglichkeiten, keinesfalls aber dem Zweck, das vom Gesetzgeber jeweils aus gutem Grund vorausgesetzte Gewicht der Anlaßtaten zu überspielen; insoweit kommt vielmehr eine Maßregel von vornherein nicht in Betracht.
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c) Hat der Täter schwere Anlaßtaten begangen, sind von ihm aber in Zukunft nur geringe Rechtsbrüche zu erwarten, ist ebenfalls zu beachten, daß § 62 nach seinem Zweck und nach dem Zweck der Maßregeln nicht zu einer „Aufwertung" der Gefährlichkeit führen kann; im Ergebnis ebenso Baumann/Weber aaO; Horn SK Rdn. 5 mit verschiedenen formalen Konstruktionsmöglichkeiten. Zur Bedeutung der Anlaßtaten s. auch Koffka JR 1971 424 f (Anm. zu BGHSt. 24 134).
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Dreher/Tröndle R d n . 4 unter B e z u g n a h m e auf O L G Schleswig S c h l H A 1958 343; Gribbohm S . 3 5 3 ; 1. B e r i c h t s . 17. B G H S t . 24 134, 135; B G H b. Holtz M D R 1979 280, Dreher/Tröndle aaO; Sch/Schröder/Stree R d n . 2; 1. Bericht a a O ; eingehend Bae S. 174 ff. Lang-Hinrichsen LK® § 42 a R d n . 8 m. w. N a c h w . ; Horn SK R d n . 5; Sch/Schröder/Stree R d n . 2; vgl. a u c h Schmidhäuser A T 2 1 / 1 9 , S. 826; Lackner Rdn. 2; B V e r f G E 7 0 297, 315, 317.
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O L G Schleswig S c h l H A 1958 343; Haag S. 38; Lang-Hinrichsen a a O ; Jescheck A T § 77 I 2; Sch/ Schröder/Stree a a O ; Lackner a a O ; bedenklich LG P a d e r b o r n StrVert. 1985 71. 1. Bericht S. 17; BGHSt. 24 134, 135; Lang-Hinrichsen a a O ; Jescheck a a O ; Maurach/Gössel/ Zipf A T 2 § 67 R d n . 17 mit berechtigtem Hinweis auf die „nicht recht geglückte" Gesetzesformulier u n g ; Lenckner S. 186; Dreher/Tröndle aaO; Horn SK R d n . 5; Sch/Schröder/Stree R d n . 2.
Stand: 1. 12. 1991
(56)
G r u n d s a t z der V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t
§62
d) Ob oder wieweit der Besserungszweck einer Maßregel, also die Chance der Hei- 17 lung oder Besserung, bei Prüfung des § 62 für ihre Anordnung oder Aufrechterhaltung ins Gewicht fällt, ist streitig und zweifelhaft". Das Problem kann vor allem bei der Frage praktisch werden, ob der „Zweck der 18 Maßregel" die (weitere) Vollstreckung noch fordert (§§ 67 b Abs. 1, 67 d Abs. 2, 67 g Abs. 1). Kommt der Richter zu der Überzeugung, daß dies im Hinblick auf die künftige Gefährlichkeit nicht (mehr) der Fall ist oder unverhältnismäßig wäre, würde er nun aber im Hinblick auf den Besserungs- oder Heilungszweck den Täter doch mit der Maßregel (weiter) belasten, würde er gegen den Grundsatz verstoßen, daß Heilung und Besserung allein strafrechtliche Maßregeln nicht rechtfertigen (Rdn. 25 Vor §61) und daher auch ihren (weiteren) Vollzug nicht zulässig machen können; und er würde gegen § 62 selbst verstoßen, wenn und soweit noch bestehende Aspekte der Gefährlichkeit nach Art und Ausmaß der zu erwartenden Taten zum Vollzug der Maßregel außer Verhältnis stehen. Zu Recht leitet Horn SK Rdn. 6 aus diesen Erwägungen die allgemeine Einsicht ab, daß die genannte Formulierung vom „Zweck der Maßregel" nur den Sicherungszweck meinen kann. Etwas anderes gilt im Rahmen des § 62 nur, wenn im konkreten Einzelfall beim (weiteren) Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel Heilung oder Besserung nicht zu erwarten oder unwahrscheinlich sind. Zwar hindert dies (vom Sonderfall des § 64 abgesehen, vgl. dazu § 64 Rdn. 4 ff) die (weitere) Unterbringung natürlich dann nicht, wenn sie sich im Hinblick auf die zu erwartenden Taten und den Grad der vom Täter drohenden Gefahr als verhältnismäßig erweist (Horn aaO; vgl. auch Rdn. 14). Zu berücksichtigen ist jedoch, daß eine Maßregel, insbesondere hinsichtlich ihrer Dauer (oben Rdn. 6), für den Betroffenen um so schwerer wiegt, je weniger die mit ihr verbundenen Freiheitsentziehung für sein weiteres Leben fruchtbar gemacht werden kann (Horn aaO, vgl. auch Horstkotte LK 1 0 § 67 d Rdn. 58 f)· Eine weitergehende Berücksichtigung der Chancen zur Heilung oder Besserung 19 des Täters im Rahmen des § 62 ergibt sich, entgegen namentlich Frisch (Prognoseentscheidungen S. 148), insbesondere auch nicht aus dem Gesichtspunkt, daß mit einem Besserungserfolg ja weitere Straftaten verhütet werden. Denn diese Verhütung ist ohnedies der zentrale Zweck aller Maßregeln und beherrscht daher auch die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Sinne des § 62 (vgl. nur Rdn. 14). Aber dies besagt nicht, daß eine unter Verhütungsgesichtspunkten für sich unverhältnismäßige oder unverhältnismäßig gewordene Maßregel im Hinblick auf eine Heilung oder Besserung weitergehend erlaubt sein könnte, weil dies die Funktion des Strafrechts überspringen würde (vgl. Rdn. 25 Vor § 61; Horn SK Rdn. 6). e) Gewißheit über die künftige Entwicklung des Täters wird bei § 62 nicht verlangt 20 (Jescheck AT § 77 I 2 m. w. Nachw.; s. auch Schröder JZ 1970 92, 94). Die Prognose seiner Gefährlichkeit setzt bei den einzelnen Maßregeln zwar eine — abgestufte — Wahrscheinlichkeit voraus (Rdn. 40 ff Vor § 61). Die Anwendung des § 62 muß jedoch, wie schon das Abstellen auf den „ G r a d " der Gefahr zeigt, auch das Maß des Risikos mit einbeziehen (vgl. BVerfGE 70 297, 313: „vertretbares Risiko"). 11
(57)
BGH bei Holtz M D R 1978 110 hat die Frage (für eine A n o r d n u n g nach § 63) verneint; verneinend auch Horn SK Rdn. 6; Dreher/Tröndle Rdn. 1. Für eine Einbeziehung hingegen Horstkotte J Z 10 1970 152, 156 und (eingehend) LK § 6 7 d Rdn. 52ff m.w. Nachw.; Lang-Hinrichsen LK' § 42a Rdn. 12; Frisch Prognoseentscheidungen S. 101,
148; Sch/Schröder/Stree Rdn. 2; vgl. auch BVerfGE 70 297, 318 (gegen die genannte BGHEntscheidung bei Holtz): verfassungsrechtlich k ö n n e dem Besserungsgesichtspunkt im Rahmen des § 62 „nicht jede Erheblichkeit abgesprochen werden".
Ernst-Walter Hanack
§ 6 2
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
21
V. D i e unverhältnismäßige Maßregel. E i n e u n v e r h ä l t n i s m ä ß i g e M a ß r e g e l d a r f n i c h t a n g e o r d n e t b z w . (s. R d n . 6 u n d O L G C e l l e N S t Z 1989 492) n i c h t w e i t e r vollstreckt w e r d e n . D e n i n s t r u k t i v e n Fall e i n e r u n z u l ä s s i g e n A n o r d n u n g b e h a n d e l t d i e E n t s c h e i d u n g B G H N J W 1970 1242. H i e r h a t d e r B G H bei d e r „ g e r i n g f ü g i g e n Bed e u t u n g " d e r m e h r als drei J a h r e z u r ü c k l i e g e n d e n , ü b e r d i e s h ö c h s t u n k l a r e n T a t eines H i r n v e r l e t z t e n , o b w o h l dieser e i n s c h l ä g i g v o r b e s t r a f t w a r u n d u n t e r A l k o h o l e i n f l u ß zu e n t s p r e c h e n d e n T a t e n (sexuellen Z u d r i n g l i c h k e i t e n g e g e n ü b e r K i n d e r n ) neigte, U n V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t b e j a h t u n d d i e t a t r i c h t e r l i c h e A n o r d n u n g d e r U n t e r bringung aufgehoben.
22
M ö g l i c h e r w e i s e k o m m t a b e r statt e i n e r u n v e r h ä l t n i s m ä ß i g e n M a ß r e g e l d i e A n o r d n u n g e i n e r s c h w ä c h e r e n in B e t r a c h t , d i e n i c h t u n v e r h ä l t n i s m ä ß i g ist ( D r e h e r / Tröndle R d n . 4 u n t e r B e z u g n a h m e a u f B G H S t . 20 2 3 2 ; zu dieser E n t s c h e i d u n g s. L K § 63 R d n . 78).
— Freiheitsentziehende Maßregeln — § 6 3 U n t e r b r i n g u n g in e i n e m p s y c h i a t r i s c h e n K r a n k e n h a u s Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Schrifttum Aebersold Die Verwahrung und Versorgung vermindert Zurechnungsfähiger in der Schweiz (1972); Athen Zur gegenwärtigen Situation der Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher, MschrKrim 1985 34; Bae Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht des StGB (1985); Baumann Unterbringungsrecht (1966); Baur Besserung und Sicherung — zur Problematik des Vollzuges der Maßregeln... nach §§ 63 und 64 StGB, StrVert. 1982 33; Baur Der Vollzug der Maßregeln der Besserung und Sicherung nach den §§ 63 und 64 StGB ..., Diss. Münster 1988 (zit. Diss.); Baur Probleme der unbefristeten Unterbringung und der Entlassungsprognose bei psychisch kranken Tätern (§ 63 StGB), M D R 1990 473; in der Beek Zwangsunterbringung oder § 42 b StGB, NJW 1963 2358; Bergener (Hrsg.) Psychiatrie und Rechtsstaat (1981); Bergener (Hrsg.) Die zwangsweise Unterbringung psychisch Kranker. Problematik aus der Sicht von Richtern und Ärzten (1986); Bergener/Engels/Koester Zur künftigen Versorgung psychisch kranker Rechtsbrecher, Psychiatrische Praxis 1974 231; Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, BT-Drucks. 7/4200 (Bericht der Sachverständigen-Kommission; dazu auch Anhang [Bericht der Arbeitsgruppen, Material, Gutachten u. ä.] BTDrucks. 7/4201); Bernsmann Maßregelvollzug und Grundgesetz, in: Blau/Kammeier (s. dort) S. 142; Bischof Behandlungsdauer strafrechtlich Untergebrachter im psychiatrischen Krankenhaus, MschrKrim 1985 29; Blau Regelungsmängel beim Vollzug der Unterbringung gemäß § 63 StGB, Jescheck-Festschrift S. 1015; Blau/Kammeier (Hrsg.) Straftäter in der Psychiatrie. Situation und Tendenzen des Maßregelvollzugs (1984); Böker/ Häfner Gewalttaten Geistesgestörter (1973); Böning Die Unterbringung psychisch Kranker und Süchtiger, Erfahrungen und Probleme, SchlHA 1960 130, 159; Bruns Sicherungsmaßregeln und Verschlechterungsverbot, JZ 1954 730; Bruns Zur Problematik rausch-, krankheits- oder jugendbedingter Willensmängel des schuldunfähigen Täters im Straf-, Sicherungs- und Schadensersatzrecht, JZ 1964 473; Bruns Die Maßregeln der Besserung und Sicherung im StGB-Entwurf 1956, ZStW 71 [1959] 210; CaStand: 1. 12. 1991
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U n t e r b r i n g u n g in einem psychiatrischen K r a n k e n h a u s
§ 6 3
stoldo Der durch Geisteskrankheit bedingte I r r t u m : ein ungelöstes Problem, ZStW 103 [1991] 541; Creutz Psychiatrische E r f a h r u n g e n mit §§ 42 b u n d 42 c des Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher, Allgemeine Zeitschrift f ü r Psychiatrie 1939 137; Ehrhardt Z u r R e f o r m von Maßregelrecht u n d Maßregelvollzug, F o r t s c h r N e u r o l P s y c h 1969 660; Ehrhardt Der Vollzug im psychiatrischen K r a n k e n h a u s , Krim. G e g e n w a r t s f r a g e n , Heft 11 1974, S. 152; Eickhoff Die Benachteiligung des psychisch k r a n k e n Rechtsbrechers im Strafrecht, N S t Z 1987 65; Eisenbach-Stangel/Stängel (Hrsg.) Grenzen der B e h a n d l u n g (1984); Eisenberg Strafe u n d freiheitsentziehende M a ß n a h m e (1967); Frankhauser W o h i n mit psychisch k r a n k e n Rechtsbrechern? M s c h r K r i m 1986 130; Frisch Prognoseentscheidungen im Strafrecht (1983); Geilen Sukzessive Zurechnungsunfähigkeit, U n t e r b r i n g u n g u n d Rücktritt — B G H S t 23, 356, J u S 1972 73; Gretenkord/Lietz Z u r Entwicklung des Maßregelvollzugs in Hessen, M s c h r K r i m 1983 376; Groß Statistische Untersuchungen an langjährig nach § 42 b S t G B untergebrachten Schizophrenen, med. Diss. Göttingen 1969; Gruhle Die U n t e r b r i n g u n g psychopathischer Verbrecher, M s c h r K r i m 1953 6; Guth Untersuchungen zur Situation der psychisch k r a n k e n Rechtsbrecher, Psychiatrische Praxis 1983 165; Haddenbrock Psychiatrisches K r a n k h e i t s p a r a d i g m a u n d strafrechtliche Schuldfähigkeit. Z u m psychiatrischen Beitrag für richterliche Entscheidungen über §§ 20, 21 u n d 63 StGB, Sarstedt-Festschrift S. 35; Haisch § 42 b — E r f a h r u n g e n aus der Sicht des Krankenhauspsychiaters, N J W 1965 330; Hanack Sozialtherapie u n d U n t e r b r i n g u n g im psychiatrischen K r a n k e n h a u s nach § 63 StGB n. F., J R 1975 441; H.-J. Horn Der Maßregelvollzug im S p a n n u n g s f e l d zwischen Besserung u n d Sicherung, Leferenz-Festschrift S. 485; Jagemann Krankheiten, Straftaten u n d soziologische M e r k m a l e der in den nieders. Anstalten Göttingen, Moringen u n d O s n a b r ü c k nach § 42 b StGB untergebrachten Patienten, med. Diss. Göttingen 1966; Kaiser Befinden sich die kriminalrechtlichen Maßregeln in der Krise? (1990; zit. Krise); U. Keller Praxis und Erfolg der U n t e r b r i n g u n g seelisch gestörter Delinquenten nach § 42 b u n d § 42 c StGB, Diss. Freiburg 1969; Koch W a n n ist die U n t e r b r i n g u n g eines Geisteskranken „erf o r d e r l i c h " ? M D R 1961 561; Kögler Die zeitliche Unbestimmtheit freiheitsentziehender Sanktionen des Strafrechts (1988 = Diss. F r a n k f u r t ) ; Konrad Fehleinweisungen in den psychiatrischen Maßregelvollzug, N S t Z 1991 315; Last Zur A n w e n d u n g des § 4 2 b StGB, N J W 1969 1558; Langelüddeke/Bresser Gerichtliche Psychiatrie 4 (1976); Lenckner Strafe, Schuld u n d Schuldfähigkeit (Unterabschnitt: Die U n t e r b r i n g u n g in einer Heil- oder Pfiegeanstalt bzw. psychiatrischen Krankenanstalt), in G ö p p i n g e r / W i t t e r , H a n d b u c h der forensischen Psychiatrie, Bd. I 1972, S. 187; Leygraf Psychisch k r a n k e Straftäter (1988; zit. Leygraf); Leygraf Mißstand in der forensischen Psychiatrie. U n t e r b r i n g u n g s b e d i n g u n g e n psychisch k r a n k e r Straftäter, M ü n c h n e r Med. Wochenschr. 1989 16; Less Die U n t e r b r i n g u n g von Geisteskranken. Eine rechtsvergleichende Kritik der Zwangseinweisung in psychiatrische K r a n k e n h ä u s e r in den USA und der Bundesrepublik Deutschland (1988; Beiträge . . . aus dem Max-Planck-Institut f ü r ... Strafrecht Freiburg, Bd. 13); Marquardt Dogmatische und kriminologische Aspekte des Vikariierens von Strafe u n d Maßregel (1972); Marschner Psychische Krankheit und Freiheitsentziehung. Eine vergleichende Kritik des geltenden Unterbringungsrechts (1985); Müller-Dietz Rechtsfragen der Unterbringung nach § 63 StGB, N S t Z 1983 145, 203; Müller/Dietz Unterbringung im psychiatrischen K r a n k e n h a u s u n d Verfassung, J R 1987 45; Müller-Hadamik Die Unterbringung psychisch a b n o r m e r Rechtsbrecher, Nervenarzt 1966 67; Parensen Die Unterbringung Geistes- u n d Suchtkranker (1972); Rasch U n t e r b r i n g u n g u n d B e h a n d l u n g psychopathischer Rechtsbrecher, Kriminalistik 1969 181; Rasch Forensische Psychiatrie (1986); Ritzel Unterbringung nach § 63 2. S t r R G : Besserung oder Sicherung? M s c h r K r i m 1975 182; Ritzel Stand u n d Entwicklung des psychiatrischen Maßregelvollzugs in Niedersachsen, M s c h r K r i m 1989 123; Saage/Göppinger Freiheitsentziehung u n d U n t e r b r i n g u n g 2 (1975); Sauer Z u r e c h e n b a r keit, Zurechnungsfähigkeit u n d Verantwortlichkeit im Jugendstrafrecht, N J W 1949 289; Schäfer/Wagner/Schafheutle Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher u n d über M a ß r e geln der Sicherung u n d Besserung (1934); Schlegl Der Rücktritt vom Versuch eines zurechn u n g s u n f ä h i g e n Täters u n d die Unterbringung nach § 42 b StGB, N J W 1968 25; Schlüter Die Problematik des § 42 b StGB in seiner V e r b i n d u n g mit § 51 Abs. 2 StGB aus der Sicht eines Anstaltspsychiaters, N J W 1968 2276; Andreas Schmidt Probleme der Kriminalität geisteskranker Täter, dargestellt am K r a n k e n g u t des Landes Schleswig-Holstein (1970); Schmidt-Futterer Erübrigt die außerstrafrechtliche Anstaltsunterbringung von Geisteskranken eine A n o r d n u n g (59)
Ernst-Walter H a n a c k
§ 6 3
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
nach § 42 b StGB? MDR 1967 357; Schmitz Die Unterbringung minderjähriger Rechtsbrecher nach § 42 c StGB, MschrKrim 1964 152; Schottky Psychiatrische und kriminalbiologische Fragen bei der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt nach § 42 b und c, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 1941 287; Schreiber Juristische Grundlagen, in: Venzlaff (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen (1986) S. 1; Schröder Die „Erforderlichkeit" von Sicherungsmaßregeln, JZ 1970 92; Schumann Vera Psychisch kranke Rechtsbrecher. Eine Querschnittuntersuchung im Maßregel Vollzug (1987); Schwind/Blau (Hrsg.) Strafvollzug in der Praxis2 (1988); Sluga Geisteskranke Rechtsbrecher (1977); Sluga Die Unterbringung zurechnungsunfähiger geistig abnormer Rechtsbrecher in Österreich, Wassermann-Festschrift S. 1045; Theyssen Die Entscheidung über die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67 d Abs. 2 StGB) im Lichte der Verfassung. Überlegungen zu BVerfGE 70, 297, Tröndle-Festschrift S. 407; Venzlaff Vorschläge über die Unterbringung in einer psychiatrischen Krankenanstalt, in Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, VIII. Bd. 1969, S. 130; Venzlaff Situation und Aspekte der Unterbringung psychisch kranker Rechtsbrecher ab 1. 1. 1975 nach dem 2. Strafrechtsreformgesetz, Psychiatrische Praxis 1969 224; Venzlaff Aktuelle Probleme der forensischen Psychiatrie, in Psychiatrie der Gegenwart 2 , Bd. III 1975, S. 883; Venzlaff 2. Strafrechtsreformgesetz und Krankenhauspsychiatrie, Schaffstein-Festschrift, S. 293; Volckart Maßregelvollzug 2 (1986); B. Wagner Effektiver Rechtsschutz im Maßregelvollzug — § 63 StGB — (1988); Wenz Das Verhältnis der strafrechtlichen Unterbringung geistesgestörter Täter zu außerstrafrechtlichen Maßnahmen der Gefahrenabwehr, Diss. Mainz 1970. S. im übrigen die Angaben Vor § 61.
Entstehungsgeschichte D i e Vorschrift ist durch das 2. StrRG — mit redaktionellen Änderungen durch Art. 18 II Nr. 20 E G S t G B — neu gestaltet worden (zur Strafrechtsreform s. näher unter Rdn. 12 ff). Sie enthielt zunächst einen Absatz 2, nach dem das Gericht den Täter in der sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65 a. F.) unterzubringen hatte, wenn die Voraussetzungen des § 65 Abs. 3 (s. dort) vorlagen; der Absatz ist durch das StVollzÄ n d G v. 20. 12. 1984 — zusammen mit der ganzen, nie in Kraft getretenen Maßregel der sozialtherapeutischen Anstalt — aufgehoben worden (s. LK § 61 Rdn. 10). Bis zum 2. StrRG galt seit dem GewohnheitsverbrecherG v. 24. 3. 1933 (Rdn. 6 Vor § 61) der folgende § 42 b, der außer in der Bezugnahme auf § 55 Abs. 1 und Abs. 2 (Taubstumme, ursprünglich § 58 Abs. 1 und Abs. 2) während seiner Geltung unverändert blieb: „(1) Hat jemand eine mit Strafe bedrohte Handlung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit (§ 51 Abs. 1, § 55 Abs. 1) oder der verminderten Zurechnungsfähigkeit (§ 51 Abs. 2, § 55 Abs. 2) begangen, so ordnet das Gericht seine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt an, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert. Dies gilt nicht bei Übertretungen. (2) Bei vermindert Zurechnungsfähigen tritt die Unterbringung neben die Strafe."
Übersicht Rdn. I. Allgemeines 1. Zweck u n d Ziel 2. Probleme der U n t e r b r i n g u n g Krankenhaus" 3. Defekte von längerer D a u e r 4. Probleme der Praxis . . . . 5. Strafrechtsreform II. Personenkreis (Jugendliche)
Rdn. III. Begehung einer rechtswidrigen Tat unter den Voraussetzungen der §§ 20,21 .
19
„im 3
6 7 12
15
1. Zweck der Begrenzung. Allgemeines 2. Bei verminderter S c h u l d f ä h i g k e i t . . 3. Bei ausgeschlossener Schuldfähigkeit a) Vorliegen einer H a n d l u n g . . . .
Stand: 1. 12. 1991
19 20 21 22 (60)
§63
U n t e r b r i n g u n g in e i n e m p s y c h i a t r i s c h e n K r a n k e n h a u s
b) Anforderungen zum inneren Tatbestand beim Vorsatzdelikt . . . c) Fahrlässigkeitsdelikte d) Rechtfertigungs- u n d Schuldausschließungsgründe e) Versuch 0 Strafausschließungs- und -aufhebungsgründe, insbes. Rücktritt g) Bedeutung des Antragserfordernisses h) Verjährung und Amnestie . . . . 4. Feststehen der Merkmale der §§ 20, 21 IV. Die künftige Gefährlichkeit des Täters 1. Allgemeines 2. „ E r w a r t u n g " weiterer Taten . . . . 3. Erwartung „rechtswidriger T a t e n " . 4. Erwartung „erheblicher" rechtswidriger Taten a) Allgemeines b) Lediglich lästige Taten c) Mehr als lästige Taten d) Grundsätzlich unerhebliche Delikte? e) Künftige Unterlassungstaten . . 5. Gefährlichkeit „ f ü r die Allgemeinheit" 6. Gefährlichkeit des Täters „infolge seines Zustandes" a) Kausalität zwischen Störung und Gefährlichkeit b) Zustand als länger dauernder Defekt c) Krankhaftigkeit des Zustands . . d) Alkoholverträglichkeit und Rauschmittelsucht
23 30
7. Gesamtwürdigung des Täters u n d seiner Tat; Verhältnismäßigkeit. . . 8. Das Subsidiaritätsprinzip
74 82
31 33
V. Kumulation von Strafe und Unterbringung
90
34
VI. Zwingender Charakter; Verhältnis zur Strafzumessung. Maßregelkonkurrenz
94
VII. Verhältnis zu den Unterbringungsgesetzen der Länder 1. Landesrechtliche Vorschriften . . . 2. D a s Konkurrenzverhältnis zu § 63 .
99 99 101
35 36 37 41 41 42 44 45 45 51 53 55 57 58 61 61 62 63 67
VIII. Dauer der Unterbringung, Aussetzung, Erledigung, Kontrolle 1. Dauer der Unterbringung 2. Aussetzung der Vollstreckung; Führungsaufsicht 3. Erledigung der Maßregel 4. Kontrollpflichten IX. Vollstreckung und Vollzug 1. Reihenfolge der Vollstreckung . . . 2. Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel 3. Auswahl einer konkreten Anstalt . . 4. Gestaltung des Vollzugs 5. Landesrechtliche Ausführungsvorschriften X Verfahrensrechtliches XI. Übergangsvorschriften desrepublik)
119 119 120 122 123 124 124 124 125 126 129 130
(„alte"
Bun136
I. Allgemeines 1. Zweck und Ziel. Die Unterbringung von Schuldunfähigen (§ 20) und vermin- 1 dert Schuldfähigen (§21) nach § 63 dient der öffentlichen Sicherheit (BGH bei Holtz, MDR 1978 110; ganz herrschende Lehre). Denn nur die Belange der öffentlichen Sicherheit können es rechtfertigen, einen Menschen wegen seines abnormen geistigseelischen Zustands — und ganz unabhängig vom Maß seiner Schuld — auf unbestimmte Zeit einer Freiheitsentziehung zu unterwerfen. Eine ganz andere Frage ist dann freilich die nach dem Ziel der Unterbringung (so 2 auch Müller-Dietz NStZ 1983 148; vgl. auch Horn SK Rdn. 2). So eindeutig es ist, daß die Unterbringung allein im Interesse der öffentlichen Sicherheit zulässig ist, so eindeutig ist, gerade bei Anlaß und Gewicht der Maßregel auch, daß es das vorrangige Ziel der notwendigen Unterbringung sein muß, den Täter zu „bessern". Es wäre für ein rechtsstaatliches Strafrecht nicht annehmbar, einen Menschen wegen seines Zustands im Allgemeininteresse zu verwahren, ohne alles zu tun, um diesen Zustand möglichst schnell, d. .h. auch: durch Einräumung aller denkbaren Heilungschancen, zu beenden (zum dabei bestehenden Spannungsfeld kritisch H.-J. Horn S. 485). (61)
Ernst-Walter Hanack
§63
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Dies entspricht auch dem Anliegen des Gesetzgebers, der bei der Reform des Maßregelrechts ganz allgemein den Besserungszweck in den Vordergrund gerückt hat (Rdn. 22 Vor § 61). Dementsprechend bestimmt jetzt § 136 StVollzG nicht nur, daß sich die Behandlung des Untergebrachten „nach ärztlichen Gesichtspunkten" richtet; er bestimmt vor allem auch als Behandlungsziel, daß der Untergebrachte „soweit möglich" „geheilt" oder doch sein „Zustand soweit gebessert werden (soll), daß er nicht mehr gefährlich ist". Näher dazu Rdn. 126. Die klare Betonung der Besserungsaufgabe bedeutet ohne Zweifel einen Fortschritt gegenüber dem bisherigen Recht, das es hier an der nötigen Deutlichkeit fehlen ließ. Aber es handelt sich um einen papierenen Fortschritt, solange nicht auch die viel beklagte Unterversorgung der psychiatrischen Krankenhäuser bei der Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher (dazu Rdn. 9, 10) behoben wird. 3
2. Probleme der Unterbringung „im Krankenhaus". Von den §§ 20, 21 und demzufolge von § 63 werden auch Personen erfaßt, die trotz ihrer Störungen und ihrer Gefährlichkeit nicht im eigentlich medizinisch-psychiatrischen Sinne behandlungsoder pflegebedürftig sind. Die Betreuung dieses Personenkreises hat nach verbreiteten ärztlichen Klagen schon während der Geltung des § 42 b a. F. viele Schwierigkeiten aufgeworfen: Die Täter passen ihrer Art nach in die Krankenanstalten oft wenig, können mit den dort möglichen und üblichen Mitteln vielfach nicht zweckdienlich betreut oder auch gesichert werden, wirken nicht selten als „Störer" und beeinträchtigen dadurch die Behandlung anderer Insassen, ganz abgesehen davon, daß die Umgebung ihrer eigenen Entwicklung unzuträglich sein kann und daß die gemeinsame Unterbringung mit „normalen Kranken" von diesen oder ihren Angehörigen vielfach als diffamierend empfunden wird. So ist insbesondere von ärztlicher Seite immer wieder die Forderung erhoben worden, die psychiatrischen Krankenhäuser von der Betreuung psychisch kranker Rechtsbrecher überhaupt, mindestens aber von der Betreuung solcher Rechtsbrecher zu entlasten, die, insbesondere als sog. Psychopathen, nicht der Behandlung durch eine spezifisch psychiatrische Klinik bedürfen 1 .
4
Der Ε 1962 wollte den genannten Forderungen immerhin entgegenkommen, und zwar insbesondere durch die umstrittene Institution der „Bewahrungsanstalt" für solche schuldunfähige oder vermindert schuldfähige Täter, „die für eine ärztliche Behandlung nach den in psychiatrischen Krankenanstalten möglichen und üblichen Methoden nicht geeignet sind und in derartigen Anstalten erfahrungsgemäß nicht nur selbst als Störer wirken, sondern eine Umgebung finden, die für ihre eigene Entwicklung unzuträglich erscheint" (so der 2. Bericht S. 27; vgl. auch Prot. V, 2253). Der Anstalt, die auf eine „Psychopathenanstalt" für „Störer" hinausgelaufen wäre, war dabei eine „Zwischenstellung zwischen den Strafanstalten und den Heilanstalten" zugedacht (näher Ε 1962, S. 210). Diese „Bewahrungsanstalt" ist dann später in Übereinstimmung mit entsprechenden Empfehlungen der Strafvollzugskommission und der Länderreferenten auf Vorschlag des Bundesjustizministeriums nach dem Konzept des AE in der Institution der sozialtherapeutischen Anstalt gemäß § 65 aufgegangen (dazu insbes. Prot. V, 2245 ff, 2281 ff; 2. Bericht S. 27). Das Verhältnis zwischen dem psychiatrischen Krankenhaus und der sozialtherapeutischen Anstalt wur-
' Näher zu diesen Forderungen ζ. B. die „Gutachten und Stellungnahmen zu Fragen der Strafrechtsreform mit ärztlichem Einschlag" (BMJ, 1958); Müller-Hadamik Nervenarzt 1966 67 (der
aber die „Störer"-Eigenschaft verneint); Ehrhardt FortschrNeurolPsych 1969 668; Horstkolle Prot. V, 2253 f; 2. Bericht s. 26.
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U n t e r b r i n g u n g in e i n e m p s y c h i a t r i s c h e n K r a n k e n h a u s
§
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de dabei in den §§ 63 Abs. 2, 65 Abs. 3 besonders geregelt (s. „Entstehungsgeschicht e " u n d näher LK 10 , § 65 R d n . 5 ff, 98 ff). Die Institution der sozialtherapeutischen Anstalt hätte die Probleme (Rdn. 3) ge- 5 mildert, wenn auch nicht voll gelöst (LK 1 0 aaO). Infolge der A u f h e b u n g des § 65 (s. „Entstehungsgeschichte") bestehen sie n u n fort, wie vielfältige Berichte auch aus dem neueren Schrifttum zeigen 2 , mag sich in der neueren Psychiatrie mittlerweile auch die Forderung nach Entlastung ihrer Kliniken von den „ S t ö r e r n " e r k e n n b a r sehr lockern (dazu unten R d n . 127). 3. Defekte von längerer Dauer. D a ß nicht in j e d e m Falle der Schuldunfähigkeit 6 oder der verminderten Schuldfähigkeit eine Unterbringung zulässig ist, ergibt sich schon aus der Pflicht zur Feststellung, ob der Täter infolge seines Zustande i. S. des § 63 gefährlich ist. Es m u ß sich d a n a c h stets um Defekte von längerer Dauer handeln. D a h e r scheiden ζ. B. Fälle aus, in denen eine sonst gesunde Person im Zustand des schuldausschließenden oder s c h u l d m i n d e r n d e n Affekts gehandelt hat, die durch den Affektstau bedingte Gefährlichkeit j e d o c h mit der Affekttat ihr E n d e findet; doch braucht andererseits der Defektzustand nicht stets „ a k u t " zu sein; vielmehr k a n n reichen, d a ß die G e f a h r erneuter Taten unter den Voraussetzungen der §§ 20, 21 wegen besonderer U m s t ä n d e in der Person des Täters (ζ. B. k r a n k h a f t gesteigerter Alkoholempfindlichkeit) nahe liegt. Vgl. dazu im einzelnen Rdn. 62 ff. 4. Probleme der Praxis a) Die Zahl der Unterbringungen ist seit 1950 deutlich rückläufig u n d seit Mitte der 7 60er Jahre relativ konstant 3 . Sie liegt seitdem nach den veröffentlichten Daten des Statistischen Bundesamts mit gewissen Schwankungen bei rund 400 A n o r d n u n g e n jährlich, wobei allerdingt nicht ausgewiesen wird, wieviele Verurteilungen zugleich mit der A n o r d n u n g zur Bewährung ausgesetzt wurden (dazu Marschner S. 10). Die höchste Zahl der Unterbringungen wird f ü r 1984 ausgewiesen (427), die geringste, sehr aus dem R a h m e n fallende, f ü r 1970 (306). Für die letzten Jahre gelten folgende Zahlen: 1980: 366; 7957:395; 7952:408; 1983:420; 1984:421; 1985:425; 7956:403; 1987: 391; 1988: 447; 1989: 428. Die Unterbringung nach § 63 ist danach die bei weitem häufigste freiheitsentziehende Maßregel. Gegen Jugendliche u n d ihnen gleichgestellte H e r a n w a c h s e n d e (s. Rdn. 15) wird die Maßregel früher wie heute mit etwas größeren jährlichen Schwankungen angewendet. So wurde sie ζ. B. 1977 gegen 50 H e r a n w a c h s e n d e und 26 Jugendliche angeordnet, 1986 gegen 32 H e r a n w a c h s e n d e u n d 7 Jugendliche (vgl. Eisenberg J G G § 7 R d n . 12; s. aber auch Leygraf S. 19). b) Die durchschnittliche Dauer der Unterbringung d ü r f t e gegen Mitte der 70er Jah- 8 re rund 10 Jahre betragen haben 4 . Jedenfalls ergibt sich das wohl aus der Gesamtzahl der Untergebrachten an bestimmten Stichtagen (damals k n a p p unter 4000) u n d den Untersuchungen von Gross f ü r Niedersachsen (10,5 Jahre) u n d von Barth (zit. nach Ritzel MschrKrim 1975 185) für Westberlin (9,4 Jahre).
2
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So ζ. B. Gulh S. 168; Baur Diss. S. 55 und in B l a u / Kammeier S. 20 m.w. Nachw.; Marschner S. 59; Wagner S. 15 m. w. Nachw.; nach Frankenhäuser S. 130 ff sind Gewaltverbrecher sogar am besten in den Strafanstalten aufgehoben. Einzelangaben für die Zeit ab 1934 bei Rilzel
4
MschrKrim 1989 129; vgl. auch Rasch Forensische Psychiatrie S. 79; Jescheck AT § 5 V 2; Horsikolle LK, Erl. zu § 67 d. LK 10 Rdn. 10; Blau in Jescheck-Festschrift S. 1025; a . A . Ritzel MschrKrim 1989 131: 7,0 Jahre.
Ernst-Walter Hanack
§63
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Mittlerweile ist die Gesamtzahl der Untergebrachten erheblich zurückgegangen; nach den Zahlen des Statistischen Bundesamts lag sie in den Jahren zwischen 1980 u n d 1986 an den jeweiligen Stichtagen wie folgt: 1980: 2432; 7957:2225; 7952:2146; 1983: 2257; 1984: 2434; 1985: 2417; 1986: 2266; 1987: 2378; 1988: 2412 (vgl. auch Marschner S. 14 Fußn. 26; Leygraf S. 3 ff)· Ritzel M s c h r K r i m 1989 131 errechnet d e m g e m ä ß für die J a h r e ab 1976 einen Mittelwert der Unterbringungsdauer von 8,7 J a h r e ; nach seinen Untersuchungen waren 32,7% der Patienten bis zu 4 Jahre, 33,1 % zwischen 4 u n d 9 Jahren u n d 34,1 % 10 Jahre oder länger untergebracht. U n d Leygraf S. 109 ermittelt f ü r 2362 am 31. 3. 1984 untergebrachte Täter einen Mittelwert von 6,3 Jahren, bei etwa 20% eine Verweildauer von mehr als 10 J a h r e n u n d bei 5,4% eine solche zwischen 20 u n d 30 Jahren. Auffallend sind die regionalen Schwankungen (eingehend Leygraf S. 119 ff), u n d zwar auch im Absinken der Verweildauer; so sank z.B. nach Gretenkord/Lietz S. 383 die Verweildauer in Hessen von 10,9 J a h r e n im Jahre 1971 auf 4,1 Jahre im J a h r 1982; nach BischofS. 32 verkürzte sie sich in der Anstalt H a a r zwischen 1971 u n d 1981 u m 35,57 bzw. 45,45%; nach Schumann S. 79 lag die durchschnittliche Verweildauer in der Anstalt Eickelborn schon 1979 bei 4,8 Jahren. Zu mutmaßlichen G r ü n d e n f ü r die ersichtlich kürzer gewordene Verweildauer s. Horstkotte MschrKrim 1986 332; Athen S. 37. Z u m Verhältnis der Verweildauer nach den Unterbringungsgesetzen der L ä n d e r u n d nach Vormundschaftsrecht s. Marschner S. 16 ff. 9
c) Kritisches Bild. Die g e n a n n t e n Durchschnittszahlen sagen f ü r sich wenig, schon weil ersichtlich bei einem beträchtlichen Teil der Täter die strafrechtliche Unterbringung im Laufe der Zeit in eine zivilrechtliche (§§ 1800, 1631 b BGB) „ u m g e w a n d e l t " wird, so nach Querschnittsuntersuchungen von Ritzel u n d Schumann bei 30,5 bzw. 27,9 %, u n d zwar „ v i e l f a c h " „im selben K r a n k e n h a u s " (so Schumann S. 46 m. w. Ang a b e n ; s. auch Rasch Forensische Psychiatrie S. 81 u n d unten R d n . 14). Auch handelt es sich bei den Untergebrachten n a t u r g e m ä ß um Personen mit sehr unterschiedlichen Störungen u n d sehr unterschiedlicher Vorgeschichte, also auch ganz verschiedener therapeutischer Beeinflußbarkeit. Einzeluntersuchungen u n d -berichte 5 zeigen, d a ß es sich vor allem um Täter mit Persönlichkeitsstörungen, mit endogenen Psychosen u n d hirnorganischen Schädigungen handelt. Sie zeigen auch, d a ß bei vielen Untergebrachten Alkoholabhängigkeiten bestehen, die Schulbildung u n g e n ü g e n d ist, Defizite im sonstigen Sozialbereich, insbesondere im Berufsleben u n d in der H e r k u n f t s f a milie gehäuft v o r h a n d e n sind u n d d a ß sich ein erheblicher Teil der Betroffenen schon früher, oft wiederholt, in stationärer psychiatrischer Behandlung oder Unterbringung b e f u n d e n hat (so ζ. B. nach der Studie von Schumann 52 %).
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Die genannten Untersuchungen u n d Berichte ergeben aber noch heute in mehrfacher Hinsicht ein kritisches Bild auch von der Realität u n d den Konsequenzen einer Unterbringung nach § 63. So wird vor allem, wie früher 6 , immer wieder u n d fast einhellig d a r ü b e r geklagt, d a ß f ü r die Untergebrachten aus Mangel an personellen u n d sächlichen Mitteln zu wenig getan werden könne. Dies verschlimmere ihre Lage, die — mit der doppelten „Stigmatisierung" als k r a n k e u n d als kriminelle Rechtsbrecher — nur zu oft ohne5
So — aus neuerer Zeit u n d m. w. N a c h w . — zus a m m e n f a s s e n d i n s b e s o n d e r e : Baur Diss. S. 80 f f ; Leygraf Psychisch k r a n k e Straftäter (die u m f a n g reichste u n d grundsätzlichste Studie, bezogen auf 83,5 % aller 1984 untergebrachten Täter); Marseltner insbes. S. 18 f f ; Schumann Psychisch k r a n k e
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Rechtsbrecher; Wagner insbes. S. 1 4 f f ; Ritzel M s c h r K r i m 1989 123; vgl. auch Blau/Kammeier Straftäter in der Psychiatrie. Vgl. ζ. B. schon Ehrhardt Krim. G e g e n w a r t s f r a gen Heft 11, S. 157; Venzlaff Schaffstein-Festschrift S. 298.
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Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
§63
dies trostlos sei. Die Situation liegt insoweit zwar ersichtlich in den einzelnen Ländern und Anstalten unterschiedlich. Aber kaum zweifelhaft scheint zu sein, daß die schroffe Kritik im Bericht über die Lage der Psychiatrie (BT-Drucks. 7/4200) noch immer viel Berechtigung hat (vgl. auch LG Paderborn NStZ 1981 365). Der Bericht spricht von einer „Schlußlichtposition im Versorgungsbereich" und formuliert: „Hier kommt es weitgehend darauf an, überhaupt erst einmal die dem heutigen Justizvollzug vergleichbaren Mindestbedingungen an menschenwürdiger Unterbringung zu gewährleisten" (S. 281, 282). Bei solchen Gegebenheiten erscheint der wiederholt bezogene Schluß, daß die Länge der Hospitalisierung nicht selten umgekehrt proportional zur Behandlungsintensität sei, ebensowenig abwegig wie die wiederholte Behauptung, daß sich bei vielen Untergebrachten infolge der jähre- oder gar jahrzehntelangen Verwahrung oft kaum noch unterscheiden lasse, wie weit ihr Verhalten von der ursprünglichen Störung oder aber von typischen Hospitalisierungsschäden geprägt werde. Problematisch ist gerade in diesem Zusammenhang ferner, daß die Maßregel — als solche von unbestimmter Dauer (unten Rdn. 119) — zu vielfach sehr langen Unterbringungen führt (oben Rdn. 8). Der gestörte Täter erleidet damit unter Umständen ein Sonderopfer, das zur Strafe für den Nichtgestörten in keinem Verhältnis steht. Fragwürdig ist das vor allem, wenn die weitere Gefährlichkeit des Täters zwar besteht, aber im Hinblick auf den Grad der Gefahr und die Art der drohenden Delikte nicht übermäßig hoch zu veranschlagen ist. Erschreckende Einzelfälle 7 zeigen, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 62 (dort Rdn. 6) in der Praxis hier offenbar nicht immer ausreichend hilft. So beschäftigt das Problem mittlerweile auch den Gesetzgeber (s. Rdn. 14). d) Auf die Gefahren der „Tendenz zur Exkulpierung" hinzuweisen, besteht ange- 11 sichts dieser Probleme besonderer Anlaß: Viele Verteidiger bemühen sich, für ihren Mandanten § 20 oder § 21 „herauszuholen", und mancher Richter und mancher Sachverständige ist — insbesondere aus Unsicherheit gegenüber der Problematik des Schuldstrafrechts — geneigt, die §§ 20, 21 „großzügig" zu handhaben. Soweit solche Tendenzen mit einer entsprechend erweiterten Anwendung des § 63 einhergehen, stellen sie, auch im Zeichen des § 67, einen Vorteil für den Betroffenen, geschweige denn einen Gewinn an Gerechtigkeit, nur zu oft nicht dar. Dies gilt schon unabhängig von den im vorigen angedeuteten Problemen. Es gilt u. U. sogar unabhängig von der Frage der Unterbringung, weil nämlich die „Bescheinigung" der verminderten oder aufgehobenen Schuldfähigkeit nur zu oft mit schwersten Folgewirkungen für den Lebensbereich des Betroffenen verbunden ist. 5. Strafrechtsreform. Bei den Beratungen zur Strafrechtsrefom (2. StrRG) ist die 12 Maßregel wiederholt und eingehend erörtert, ihre überkommene Grundstruktur aber nicht angetastet worden. — Aus den Gesetzesmaterialien sind vor allem zu nennen: Niederschriften Bd. 4, S. 180 ff, 191 ff, 203 ff, 304 f; Bd. 12, S. 335 ff; § 82 Ε 1962 und Begr. S. 209 ff; § 67 AE-AT mit Begr. S. 131; Prot. IV, 286 ff, 379 ff, 779 ff; V, 216 ff, 2022 ff; 2. Bericht S. 26. Schwerpunkte der Reformerörterungen waren: der Versuch, die Voraussetzungen der künftigen Gefährlichkeit des Täters gesetzlich genauer und restriktiver zu um7
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Vgl. nur Venzlaff bei Bergener S. 189, aber auch den Fall BVerfGE 70 297 und dazu insbes. Mäller-Dietz JR 1987 45. Ernst-Walter Hanack
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3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
schreiben; das Bemühen, die richterliche Pflicht zur Gesamtwürdigung des Täters und seiner künftigen Gefährlichkeit zu verdeutlichen; die Problematik der Aussetzung des Vollzugs oder des weiteren Vollzugs und der dabei angezeigten Mittel zur stützenden Einwirkung auf den Verurteilten; die Frage, ob man die psychiatrischen Landeskrankenhäuser durch die Einrichtung justizeigener Sonderanstalten von der Betreuung psychisch kranker Rechtsbrecher entlasten solle; die damit zusammenhängende — und besonders lebhaft erörterte — Problematik besonderer „Bewahrungsanstalten" oder sonstiger Spezialanstalten für solche psychisch gestörten Täter, die nach der Art ihrer Störungen in die psychiatrischen Krankenhäuser schlecht passen (Rdn. 3 ff). 13
Bei der Reform wurde der bisherige Begriff der „Heil- oder Pflegeanstalt" (§ 42 b a. F.) zunächst durch den Begriff der „psychiatrischen Krankenanstalt" und dann (Art. 18 II Nr. 20 EGStGB) durch den des „psychiatrischen Krankenhauses" ersetzt. Diese Änderung sollte nur zur Angleichung an die „moderne Nomenklatur" dienen; eine sachliche Änderung enthält sie nicht (näher Hanack JR 1975 441, 442 m. Nachw.) 14 Nicht in Frage gestellt wurde bei der Strafrechtsreform die grundsätzlich unbestimmte Dauer der Maßregel (dazu Rdn. 119), die auch BVerfGE 70 279 (dazu LK § 62 Rdn. 6) nicht beanstandet hat. Mittlerweile werden gegen diese Konzeption im Schrifttum unter rechtsstaatlichen und humanen Gesichtspunkten jedoch zunehmend Bedenken erhoben, die insbesondere die mißliche Situation der Täter im Bereich der mittleren Kriminalität betreffen 8 . Der Bundestag hat diese Bedenken am 20. 4. 1989 aufgegriffen: Er verlangt (in Zustimmung zu einer Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses) die Erarbeitung neuer Vorschriften; sie sollen sicherstellen, daß die Einweisung auf „wirklich gravierende Fälle" beschränkt bleibt und die unbefristete Unterbringung durch eine differenziertere Regelung ersetzen (dazu BTDrucks. 10/5828 S. 6; 11/2507; 11/2597 S. 5; vgl. auch Bericht in ZRP1989 279). Für solche Änderungen sprechen auch Entwicklungen und Erfahrungen im Ausland 9 . Die Bemühungen müßten sich übrigens auch darauf erstrecken, der „Umwandlung" strafrechtlicher Unterbringungen in zivilrechtliche zu begegnen, soweit sich diese Umwandlungen, die für die Betroffenen sehr nachteilige Konsequenzen haben können, nach Lage des Einzelfalles als mißbräuchlich darstellen 10 . 15
II: Personenkreis (Jugendliche). Die Anordnung der Maßregel ist auch gegenüber Jugendlichen bzw. ihnen nach § 105 J G G gleichgestellten Heranwachsenden zulässig (§ 7 JGG). Doch gilt dies nicht, wenn die Verantwortlichkeit allein wegen mangelnder Reife gemäß § 3 J G G ausgeschlossen ist", da § 63 nun einmal an das Vorliegen von Störungen i. S. der §§ 20, 21 anknüpft. Die Unterbringung kommt also nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen der §§ 20 oder 21 vorliegen. 8
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Bernsmann in Blau/Kammeier S. 142; Blau Jescheck-Festschrift S. 1025; Baur Diss. S. 164, 227 und MDR 1990 483 ff; Eickhoffs. 67; Laubenthal S. 370 ff; Kaiser Krise S. 36 f; schon früher Rasch Kriminalistik 1969 185; kritisch auch Jescheck AT § 77 II 1; Horstkotte LK10 § 67d Rdn. 8; Marschner S. 168 und S. 182 fordert eine Beschränkung auf die Gefahr von Delikten gegen Leib und Leben; skeptisch aber Rasch Forensische Psychiatrie S. 83. Dazu Baur Diss. S. 165 f u n d MDR 1990 483 m. Nachw.; vgl. auch Munos Conde in Hassemer
(Hrsg.), Strafrechtspolitik (1987) S. 117, 118 für Bemühungen im spanischen Recht. 10 Näher zu den hier nicht zu erörternden Problemen Schumann S. 46 ff; Rasch Forensische Psychiatrie S. 81; vgl. auch Horstkotte LK10 § 67 Rdn. 68; zusammenfassend Laubenthal S. 373 Fußn. 110 m. w. Nachw. 1 ' BayObLGSt. 1958 263 f; ganz herrschende Lehre, z.B. Dreher/Tröndle Rdn. 2 a ; Brunner JGG § 3 Rdn. 10; Dallinger/Lackner JGG, § 7 Rdn. 4; Schaffstein/Beulke JGG, § 7 IV.
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Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
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Dann allerdings ist die Unterbringung im Einzelfall auch dann denkbar, wenn zu- 16 gleich die Voraussetzungen des § 3 JGG vorliegen 12 . Eine insbesondere zum früheren Recht (§ 42 b a. F.) vertretene gegenteilige Meinung nimmt demgegenüber an, daß bei mangelnder Verantwortungsreife i. S. von § 3 JGG von vornherein kein Zugang zu einer Maßregel nach § 63 bzw. nach § 42 b a. F. bestehe, weil die Unterbringung jedenfalls bei vermindert Schuldfähigen nur neben Strafe zulässig sei und deshalb Schuldfähigkeit voraussetze13. Diese Meinung dürfte zwar nicht, wie BGHSt. 26 67 meint, schon deswegen gegenstandslos geworden sein, weil § 63, anders als § 42 b a. F., nicht mehr ausdrücklich davon spricht, daß die Unterbringung bei vermindert Schuldfähigen neben die Strafe tritt; denn dieses Nebeneinander wird auch im neuen Recht als Konsequenz der Zweispurigkeit in der Regel vorausgesetzt (s. Rdn. 90). Gegen die genannte Meinung spricht jedoch, daß die Unterbringung auch mit anderen Maßnahmen des JGG verbunden werden kann (§ 5 Abs. 3 JGG), und daß es sinnwidrig wäre, für die Unterbringung auch strafrechtliche Verantwortlichkeit nach § 3 JGG vorauszusetzen, weil die Maßregel ihre Rechtfertigung im gestörten Zustand und der Gefährlichkeit des Täters findet, diese Rechtfertigung aber durch eine begleitende Entwicklungsstörung gemäß § 3 JGG nicht ausgeschlossen wird (Daliinger/Lackner aaO). Im übrigen wäre es, worauf BGHSt. 26 67,69 zu Recht hinweist, durchaus sachfremd, in den Fällen des § 20 (wo die gleichzeitige Verurteilung zu Strafe ausgeschlossen ist), die Unterbringung zuzulassen, aber in den Fällen des § 21 wegen dessen Bezug zur Strafe die Unterbringung auszuschließen, weil die Unterbringung in beiden Fallgruppen gleichermaßen im Interesse der Allgemeinheit (oder auch des Beschuldigten) liegt. Darauf zu achten ist nur, daß die Unterbringung von Jugendlichen nach der 17 Struktur des JGG in besonderer Weise auf ihre Erforderlichkeit zu prüfen ist (BGHSt. 37 373, 374 m. w. Nachw; vgl. auch Rdn. 85). Sie kann insbesondere in den zahlreichen Zweifelsfällen unsachgemäß sein, in denen auch der Sachverständige (§ 246 a StPO) beim Zusammentreffen entwicklungsbedingter und anderer Störungen nicht sicher genug beurteilen kann, ob sich das psychische Zurückbleiben (§ 3 JGG) im weiteren Entwicklungsprozeß noch ausgleicht und die Störungen gemäß §§ 20, 21 nicht im Vordergrund stehen. Man wird für diese Fälle, anders als sonst (s. Rdn. 94), wegen ihres eigentümlichen Zusammentreffens mit den spezifischen Reaktionsmitteln des Jugendrechts die Anordnung der Unterbringung in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts stellen, d.h. ihm unter Beachtung auch des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 62) die Verpflichtung auferlegen müssen, die im konkreten Fall angemessenere Reaktion auszusprechen 14 . Kommt es zur Unterbringung eines Jugendlichen nach § 63, ist für die Folgeent- 18 Scheidungen nach der Unterbringungsanordnung nicht die Vollstreckungskammer, sondern der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter zuständig, und zwar selbst dann,
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So auch B G H S t . 26 67 unter B e z u g n a h m e auf Daliinger/Lackner a a O mit zust. A n m . Brunner J R 1976 116 u n d Kohlhaas LM Nr. 1 n . F . ; Dreher/Tröndle a a O ; Lackner R d n . 3; eingehend Brunner J G G a a O u n d Eisenberg J G G § 3 R d n . 35 m. w. N a c h w . B a y O b L G S t . 1958 263, 265; Grethlein/Brunner J G G 3 , § 3 A n m . 4; Potrykus J G G 4 , § 7 A n m . 2; Sauer N J W 1949 289.
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N ä h e r zu den komplizierten medizinisch-kriminologischen Fragen u n d ihren streitigen rechtlichen K o n s e q u e n z e n Brewer J u g e n d z u r e c h n u n g s fähigkeit oder S t r a f m ü n d i g k e i t , Z S t W 74 [1962] 579; Schaffslein Die J u g e n d z u r e c h n u n g s u n f ä h i g keit in ihrem Verhältnis zur allgemeinen Zurechnungsfähigkeit, Z S t W 77 [1965] 191; H. Kaufmann/Pirsch Das Verhältnis von § 3 J G G zu § 51 StGB, J Z 1969 358. Vgl. im übrigen die Erläuterungswerke zum J G G .
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§63
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
wenn der Täter erwachsen geworden ist 15 , es sei denn daß der Täter als Heranwachsender ausdrücklich nicht nach Jugendstrafrecht beurteilt worden ist (OLG Celle NJW 1975 2254). III. Begehung einer rechtswidrigen Tat unter den Voraussetzungen der §§ 20,21 19
1. Zweck der Begrenzung. Allgemeines. Mit der Begrenzung auf Taten, die im Zustand der §§ 20 oder 21 begangen worden sind, beschränkt das Gesetz den Kreis der die, Unterbringung rechtfertigenden Anlaßtaten in rechtsstaatlicher Weise auf Täter, deren Störungen (i. S. der §§ 20, 21) sich auch in der Anlaßtat manifestiert haben und ermöglicht damit zugleich, diese Taten auch bei der erforderlichen Gesamtwürdigung der weiteren Gefährlichkeit des Täters heranzuziehen. Nach Zweck und Funktion der Begrenzung wird man annehmen müssen, daß „im Zustand" des § 20 oder des § 21 „begangen" Taten dann sind, wenn der Täter bei ihrem konkreten Ablauf unter den Voraussetzungen der §§ 20 oder 21 handelte, diese Voraussetzungen also für den konkreten Tatablauf irgendwie (mit-)ursächlich gewesen sind (BGH NStZ 1991 527). Diese Situation besteht auch, wenn der Täter die Tat zunächst in voll schuldfähigem Zustand begonnen, sie später aber unter den Voraussetzungen der §§ 20, 21 so zu Ende geführt hat, daß der konkrete Tatablauf dadurch mitgeprägt worden ist. Die umstrittene Rechtsprechung des BGH (BGHSt. 7 325; 23 133 u.ö.), daß dem Täter in diesen Fällen die §§ 20, 21 bei der Strafe nicht zugute kommen, ist danach jedenfalls im Bereich des § 63 ohne Bedeutung.
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Welche Anforderungen im übrigen an die Anlaßtat im einzelnen zu stellen sind, war schon bei § 42 b a. F. für den dort verwendeten Begriff der „mit Strafe bedrohten Handlung" streitig (näher Lang-Hinrichsen LK 9 § 42 b Rdn. 13 ff; vgl. auch den folg. Text). Die heutige Verwendung des Begriffs der „rechtswidrigen Tat" klärt den Streit trotz der Umschreibung dieses Begriffs in § 11 Abs. 1 Nr. 5 nicht, insbesondere weil sie offen läßt, was zum „Tatbestand" eines Strafgesetzes gehört. Eindeutig ist nur — wie schon bei § 42 b —, daß eine Ordnungswidrigkeit nicht ausreicht. Im übrigen ist zwischen der Situation bei verminderter und bei ausgeschlossener Schuldfähigkeit zu unterscheiden:
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2. Bei verminderter Schuldfähigkeit. Insoweit ist die Rechtslage im Prinzip klar. Denn hier tritt die Maßregel grundsätzlich neben die Strafe (s. Rdn. 90). Daher wird man verlangen müssen, daß alle Voraussetzungen für eine Bestrafung gegeben sind, und zwar in materiellrechtlicher Hinsicht (Schuld, NichtVorliegen von Rechtfertigungsgründen, persönlichen Strafausschließungsgründen usw.) als auch in prozessualer Hinsicht (Strafantrag bei Antragsdelikten usw.). Daß der Richter von,der Strafmilderung des § 21 Gebrauch macht, ist nicht Voraussetzung der Unterbringung. Über Ausnahmefälle, in denen die Unterbringung in Betracht kommt, obwohl gleichzeitig zu Strafe nicht verurteilt werden kann, s. Rdn. 91 f.
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3. Bei ausgeschlossener Schuldfähigkeit. Sehr viel komplizierter ist die Rechtslage bei Schuldunfähigen, weil der Schuldunfähige infolge seines Zustande insbesondere die subjektiven Merkmale einer Straftat vielfach gar nicht „richtig" erfüllen kann. So ergeben sich hier eine Reihe kritischer und umstrittener Fragen. 15
BGHSt. 26 162 = JR 1976 343 m. zust. Anm. Brunnen OLG Celle NJW 1975 2253; a. A. offenbar LG Dortmund NJW 1975 2252.
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Unterbringung in e i n e m psychiatrischen
Krankenhaus
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Ihr Kernpunkt ist das Problem, ob für die Unterbringung nach § 63 zu verlangen ist, daß eine Bestrafung wegen der rechtswidrigen Tat allein an der mangelnden Schuldfähigkeit scheitert, oder ob eine Unterbringung auch in Betracht kommt, wenn es wegen der geistig-seelischen Störung des Täters an der Erfüllung sonstiger Voraussetzungen für die Strafbarkeit fehlt. Aus den in den folgenden Erörterungen im einzelnen erkennbaren Gründen ist dem letzteren Standpunkt zu folgen. a) Vorliegen einer Handlung. Stets muß eine „Handlung" im Sinne eines gewollten 22 Verhaltens vorliegen. Dies entsprach schon der herrschenden Meinung zu § 42 b a. F. (vgl. z.B. BGHSt. 3 287, 289; Schlegl NJW 1968 25; Bruns JZ 1964 475, 477 m.w. Nachw.), die sich insoweit freilich auf den Gesetzeswortlaut des § 42 b a. F. (mit Strafe bedrohte „Handlung") stützen konnte. Abweichend meinen Baumann/Weber AT § 44 II 1 c i. V. mit § 1 6 1 2 b, daß auch nicht gewillkürte Akte, ζ. B. von Epileptikern, die Maßregel zulassen, da hier oft eine gleiche oder größere Gefährlichkeit im Vergleich zu demjenigen Täter vorliege, der zur Steuerung seiner Körperbewegungen fähig ist. Dem kann nicht beigetreten werden. Denn abgesehen davon, daß zur „rechtswidrigen Tat "jedenfalls eine Handlung mit „natürlichem" Handlungswillen gehört: Die Kompetenz zur Anordnung von Maßregeln ist dem Strafrichter nur insoweit übertragen, als sie an seine spezifische Tätigkeit, die Beurteilung menschlicher Handlungen, anknüpft. Mit dieser Begrenzung aber ist die genannte Ansicht nicht vereinbar. Wo Handlungen im strafrechtlichen Sinne nicht vorliegen, kommt daher nur die Unterbringung nach den landesrechtlichen Unterbringungsgesetzen (Rdn. 99) in Betracht; eine Gesetzeslücke hinsichtlich des Schutzes vor gefährlicher Personen besteht angesichts dieser landesrechtlichen Regelungen nicht. b) Anforderungen zum inneren Tatbestand beim Vorsatzdelikt aa) Allgemeines. Umstritten ist insbesondere, ob eine Unterbringung statthaft ist, 2 3 wenn der Täter zwar den objektiven Tatbestand eines Delikts verwirklicht, infolge seines Zustands aber die für den inneren Tatbestand erforderlichen Voraussetzungen des betreffenden Delikts nicht erfüllt hat. Viele Autoren fordern für das Merkmal „rechtswidrige Tat" bzw. „mit Strafe bedrohte Handlung" (§ 42 b a. F.) eine volle Verwirklichung auch des subjektiven Tatbestandes. So verlangen insbesondere diejenigen, die beim Vorsatzdelikt den Vorsatz als konstituierend für die Handlung ansehen, meist echten Tatvorsatz 16 . Folgerichtig nehmen sie denn auch an, daß in Fällen eines Tatbestandsirrtums, selbst wenn er sich allein durch den krankhaften Zustand des Täters erklärt, die Unterbringung ausgeschlossen sei. Entsprechendes gilt beim Fehlen subjektiver Unrechtselemente; auch in diesen Fällen soll, selbst wenn das Fehlen spezifisch krankheitsbedingt ist, die Unterbringung nicht möglich sein. Das Ergebnis ist unbefriedigend (Lang-Hinrichsen LK 9 , § 42 b Rdn. 12 ff). Denn 24 gleichgültig, wie man dogmatisch über die Zuordnung des Vorsatzes zum Tatbestand denkt: Die genannte Meinung führt dazu, daß in sachwidriger Weise Sicherheitsvorkehrungen gegen den schuldunfähigen Täter aus dem Aufgabenbereich des Strafrichters herausgenommen werden; sie ist überdies widersprüchlich gegenüber der Behandlung anderer krankheitsbedingter Irrtümer (unten Rdn. 29, 32). Nach ihr könnte ζ. B. ein Geisteskranker, der in gefährlicher Weise häufig fremde Sachen in 16
So z.B. Dreher/Tröndle R d n . 2 a ; Horn SK R d n . 3, 4; Preisendanz A n m . 2 b ; Blei A T § 115 I l a ; Jescheck A T § 77 II 2 a ; Maurach/Gössel/ Zip/ § 68 R d n . 7; Welzel § 35 I 1 a ; eingehend
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Bruns JZ 1964 473; Niese JZ 1953 548; ebenso R G J W 1935 2368; R G S t . 71 220. Vgl. a u c h Casloldo Z S t W 1 0 3 541.
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3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
der Wahnvorstellung an sich nimmt, sie seien ihm von Gott geschenkt, durch den Strafrichter nicht in einer Anstalt untergebracht werden (Beispiel nach Schmidhäuser AT 19/10 S. 748). Richtigerweise wird man darum, im Sinne des Bemühens auch der Rechtsprechung (s. im folg.), zwischen allgemeinen und krankheitsbedingten Fehlvorstellungen zu differenzieren haben, weil sich nur so die besondere Situation des Schuldunfähigen mit dem Zweck des § 63 sachgerecht verbinden läßt 17 . Dies entspricht auch dem Ansatz der herrschenden Rechtsprechung, die auf den sog. „natürlichen Vorsatz" (so ζ. B. BGHSt. 3 287, 288), einen „natürlichen Tatwillen" (so ζ. B. RG H R R 1940 Nr. 177) abstellt und einen Irrtum, der nur durch den krankhaften Zustand des Täters entstanden ist, nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt 18 . 25
bb) Trennung zwischen krankheitsbedingten und anderen Fehlvorstellungen. Allgemeine Fehlvorstellungen, d.h. Fehlvorstellungen, die in der gegebenen Situation auch einem Schuldfähigen zugute gehalten werden, dürfen dem Schuldunfähigen nicht zum Nachteil gereichen und daher auch nicht zur Unterbringung führen. Hier fehlt es an einer ausreichenden Anlaßtat, da diese nicht zum bloßen „Aufhänger" für die Maßregel werden darf. So liegen nach RGSt 71 218,220 die Voraussetzungen der Unterbringung nicht vor, wenn der Täter im Fall der Erpressung geglaubt hat, auf die Forderung einen Rechtsanspruch zu haben (das RG erwähnt allerdings nicht ausdrücklich, daß die Vorstellung des Täters nicht krankheitsbedingt war).
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Krankheitsbedingte Fehlvorstellungen, d. h. Vorstellungen, die nur durch den abnormen geistigen oder seelischen Zustand des Täters bedingt sind, schließen die Unterbringung hingegen nicht aus. Hat der Täter also Umstände, die ein Gesunder richtig erkannt hätte, allein infolge seines Zustands verkannt, kommt ihm dies nicht zugute. BGHSt. 3 287, 289 erklärt mit Recht, daß wenn krankheitsbedingte Irrtümer zur Verneinung der Anwendbarkeit des § 63 (§ 42 b a. F.) führen sollten, der Schutzgedanke der Vorschrift versagen und der mit ihr verfolgte Zweck gerade in den Fällen vereitelt würde, in denen sich der abnorme Zustand des Täters als besonders gefährlich erweist, weil er ihm die Erkenntnis der Gemeinschädlichkeit seines Tuns verwehrt. Im Falle des BGH hatte der Beschuldigte in einem Betrugsfall seine Unfähigkeit zur Bezahlung selbst kleiner Summen erkannt, jedoch gehofft, in einer gewissen Zeit Geld zur Bezahlung seiner Schulden zu erlangen, weil er infolge einer Geisteskrankheit jeden Maßstab für seine Leistungsfähigkeit verloren hatte. Voraussetzung für die Annahme eines krankheitsbedingten Irrtums ist dabei freilich stets, daß der Richter den Vorstellungen und Regungen des Täters so sorgfältig wie möglich nachgeht {Sch/Schröder/Stree Rdn. 5; s. auch unten Rdn. 33). Lassen sich sichere Feststellungen nicht treffen, ist von der dem Täter günstigeren Deutung auszugehen (Sch/Schröder/Stree aaO).
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Der geschilderte Differenzierung kann nicht entgegenstehen, daß nach der Rechtsprechung des BGH (BGHSt. 18 235) das Fehlen besonderer Willensmerkmale infolge eines rauschbedingten Irrtums die Strafbarkeit nach § 323 α (bzw. § 330 a a. F.) ausschließt (a. Α. ζ. B. Dreher/Tröndle Rdn. 2 a; Bruns JZ 1964 473, 481 0· Im Falle des BGH hatte der Täter infolge seines Trunkenheitszustandes geglaubt, daß er hinreichend Geld habe, um die Zeche zu bezahlen, er war auch bereit, seine vermeintliche 17
Lang-Hinrichsen aaO; ebenso oder doch ähnlich: Lackner Rdn. 2; Sch/Schröder/Stree Rdn. 5 ff; Bockelmann/Volk AT § 44 A II 2; H. Mayer StudB § 49 I 1 b; Schmidhäuser aaO; wohl auch Lenckner S. 189 und Schreiber S. 48.
18
RGSt. 71 315; BGHSt. 3 287, 289; 10, 355; BGH bei Holtz MDR 1983 90 = BGH bei Mösl NStZ 1983 497 f; ebenso die österreichische Praxis, s. Eder-Rieder S. 33 m. Nachw.; s. auch im weiteren Text.
Stand: 1. 12. 1991
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Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
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Barschaft zur Bezahlung zu verwenden; der Rauschzustand hatte ihn aber außerstande gesetzt, den Wert und den Umfang seiner Bestellungen zu übersehen. Der BGH meint, der Täuschungswille fehle auch demjenigen, der seine unrichtigen Behauptungen irrtümlich für wahr halte, so daß durch diesen Irrtum der Täuschungswille ausgeschlossen sei und ein Betrug (als „mit Strafe bedrohte Handlung" nach § 330 a a. F.) nicht vorliege. Der BGH hat daher eine Verurteilung abgelehnt. Ob das zwingend ist, mag hier dahingestellt bleiben (eingehend und kritisch Spendel LK'°, § 323 a Rdn. 185 ff m. Nachw.). Denn auch wenn man der Entscheidung folgt, ergibt sich daraus noch nicht, daß in dem Fall eine „rechtswidrige Tat" i. S. des § 63 zu verneinen wäre. Der BGH selbst hat dies (für § 42 b a. F.) ausdrücklich offen gelassen, aber betont, daß eine solche Konsequenz nicht selbstverständlich sei, da § 63 (§ 42 b) und § 323 a (§ 330 a) verschiedenen Zwecken dienten (insoweit zustimmend Blei AT § 115 I 1 a). Tatsächlich wird man wegen der Verschiedenheit der Zwecke die Begriffe „rechtswidrige Tat" bei § 323 a und bei § 63 abweichend interpretieren müssen (so auch Lang-Hinrichsen LK 9 , § 42 b Rdn. 15). Das Delikt der Volltrunkenheit setzt keinen Dauerzustand voraus und hat nicht primär die Aufgabe, Gefahren für die Zukunft abzuwenden. Gerade dies aber ist der Zweck des § 63. Von ihm her muß das Merkmal der rechtswidrigen Tat ausgelegt werden, damit die Vorschrift ihrer Aufgabe gerecht wird. Gibt also ein Schuldunfähiger in einer Gastwirtschaft in der irrigen Vorstellung Bestellungen auf, er habe genügend Geld, um seinen Verzehr zu bezahlen, und beruht diese Vorstellung darauf, daß er infolge seines krankheitsbedingten Zustands den Umfang seiner Mittel und der von ihm eingegangenen Verpflichtungen nicht übersieht, so muß nach dem Normzweck des § 63 trotz zustandsbedingten Fehlens eines Täuschungswillens und (infolgedessen) auch der fehlenden Absicht, sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, die „rechtswidrige Tat" bejaht werden. cc) Ergebnis. Mithin ergibt sich: Der Täter muß zwar stets den objektiven Tatbe- 28 stand eines Strafgesetzes erfüllt haben (zu den Besonderheiten des Versuchs s. Rdn. 33). Soweit es dabei aber um spezifische Willensmerkmale geht, wird die Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals nicht dadurch ausgeschlossen, daß dem Täter diese Willensrichtung aufgrund krankheitsbedingten Irrtums fehlt (Beispiel: „Täuschungswille" bei § 263). In ähnlicher Weise werden bei subjektiven Unrechtselementen (Beispiel: Vorteils- oder Zueignungsabsicht bei den §§ 263, 242) Momente außer acht gelassen, die auf krankheitsbedingten Fehlvorstellungen beruhen (der Täter glaubt aufgrund von Wahnvorstellungen, Gott habe ihm die Sachen geschenkt). Für den Vorsatz reicht ein „natürlicher Tatwillen", ein „natürlicher Vorsatz". Ein Tatbestandsirrtum, der nur durch krankheitsbedingte Fehlvorstellungen entstanden ist, darf nicht zugunsten des Täters berücksichtigt werden. dd) Zur Kritik. Die hier im Anschluß an Lang-Hinrichsen (LK 9 , § 42 b Rdn. 13 ff) 29 vertretene Differenzierung zwischen allgemeinen und krankheitsbedingten Fehlvorstellungen ist, wie bemerkt (Rdn. 23 f), lebhaft umstritten. Gegen sie wird insbesondere eingewendet, sie sei praktisch kaum durchführbar und rechtlich bedeutungslos, schon weil der Verbrechensbegriff auf den Vorsatz als Träger der tatbestandsmäßigen Handlung nicht verzichten könne (so insbes. Bruns JZ 1964 473, 478; Horn SK Rdn. 4; Jescheck AT § 77 II 2 a). Daß die Differenzierung zu praktischen Schwierigkeiten führt, ist zuzugeben, obwohl diese Schwierigkeiten nicht zu überschätzen sind, wenn man (s. Rdn. 26) den Regungen und Vorstellungen des Täters nachzugehen sich ernstlich bemüht und den Grundsatz in dubio pro reo beachtet. Nicht anzuerkennen ist hingegen die Argumentation, daß die Differenzierung rechtlich bedeutungslos sei (71)
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3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
und dem Verbrechensbegriff widerspreche. Sie ergibt sich vielmehr, wie dargelegt, aus der notwendigen Zweckbetrachtung des § 63, auf die Engisch (für § 42 b) schon 1944 zu Recht hingewiesen hat (Der finale Handlungsbegriff, Kohlrausch-Festschrift 1944, S. 172 f)· Gegenüber dieser Zweckbetrachtung verfängt auch der Hinweis nicht, daß nicht einzusehen sei, warum hier der Strafrichter tätig werden solle: Unser Recht kennt nun einmal den Dualismus zwischen der strafrechtlichen und der außerstrafrechtlichen Unterbringung; solange dieser Dualismus besteht, ist es teleologisch nicht zu begründen, sondern führt im Gegenteil zu ganz sinnwidrigen Ergebnissen, ausgerechnet die krankheitsbedingten Motivationen, die zu der rechtswidrigen Tat geführt haben, der Kompetenz des Strafrichters zu entziehen; § 63 würde auf diese Weise in seinem Schwerpunkt sinnwidrig unterlaufen. Die hier abgelehnte Meinung argumentiert, wie insbesondere die grundsätzlichen Ausführungen von Bruns (aaO) zeigen, zu sehr mit Überlegungen aus dem Bereich des § 323 a, wo die Probleme anders liegen mögen. Im übrigen bleiben die Vertreter der hier abgelehnten gegenteiligen Auffassung merkwürdig inkonsequent, weil auch sie bei Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründen die Unterscheidung zwischen krankheitsbedingten und sonstigen Fehlvorstellungen anerkennen (s. Rdn. 32); sie überschätzen damit insbesondere die dogmatische Bedeutung des Vorsatzes als konstitutives Moment der Handlung für § 63. Das zeigt sich auch an der Ansicht von Maurach/Gössel/Zipf AT § 68 Rdn. 7, die bei zustandsbedingtem Tatbestandsirrtum gegebenenfalls eine Haftung aus fahrlässiger Begehung „einrücken" wollen, insoweit dann also in wenig überzeugender Weise auf einem Umweg doch zur Anwendung des § 63 kommen. 30
c) Fahrlässigkeitsdelikte. Zwar kann gegen den Schuldunfähigen ein Fahrlässigkeitsvorwurf grundsätzlich nicht erhoben werden (näher ζ. B. Jescheck AT § 57 I). Entsprechend Sinn und Zweck des § 63 (Rdn. 1, 2) ist jedoch nach der hier vertretenen Meinung über die Bedeutung krankheitsbedingter Fehlvorstellungen (Rdn. 24 ff) auch insoweit eine Unterbringung nicht ausgeschlossen, sofern das Gesetz fahrlässiges Verhalten unter Strafe stellt (§ 15) und damit als „rechtswidriges Handeln" i. S. des § 63 charakterisiert (mögen Fälle dieser Art wegen der sonstigen Voraussetzungen des § 63 — unter Rdn. 41 ff — auch gewiß sehr selten sein). Nach der Struktur des fahrlässigen Delikts kann es für die „rechtswidrige Tat" i. S. des § 63 dann lediglich darauf ankommen, ob der in krankhaften Fehlvorstellungen Handelnde die objektiv erforderliche Sorgfalt nicht erbracht hat und ob der Erfolg gegebenenfalls objektiv voraussehbar war, ohne daß dabei auch auf sein persönliches Können abzustellen wäre 19 .
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d) Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe. Anerkannt ist, daß eine rechtswidrige Tat i. S. des § 63 bzw. des § 42 b a. F. nicht vorliegt, wenn sich der Täter auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann 2 0 . Gleiches gilt, wenn zu seinen Gunsten ein Entschuldigungsgrund eingreift 21 . Dies ergibt sich daraus, daß der Täter im Bereich des § 63 nicht schlechter gestellt sein darf als andere Täter. 32 Bei Fehlvorstellungen über die Merkmale eines Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgrundes kommt es jedoch wiederum (s. im einzelnen Rdn. 24 ff) darauf 19
Ebenso Lang-Hinrichsen L K ' § 4 2 b Rdn. 17; Sch/Schröder/Cramer § 15 Rdn. 191; aber auch — im Gegensatz zu ihrer Ansicht beim Vorsatzdelikt (oben Rdn. 23) - Jescheck AT § 57 I und Welze! § 35 l 1; a. A. im Grundsatz oder auch ausdrücklich die übrigen in Rdn. 23 Genannten.
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RG JW 1935 2368; vgl. auch BGHSt. 10 355, 357; Horn SK Rdn. 5; Sch/Schröder/Stree Rdn. 4; Baumann/Weber AT § 44 II 1 c; Jescheck AT § 77 II 2 a; Maurach/Gössel/Zipf § 68 Rdn. 10. BGH NStZ 1991 528; BGH NJW 1953 1442; Horn, Baumann/Weber, Jescheck und Maurach jeweils aaO; WelzeI § 35 I 1 a.
Stand: 1. 12. 1991
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Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
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an, ob der Täter die Voraussetzungen für die Rechtfertigung oder Schuldausschließung aufgrund eines Irrtums als gegeben ansieht, der auf seiner Störung beruht oder nicht. Beruht der Irrtum auf der Störung, kommt er dem Täter nicht zugute 22 . Dies wird auch im Schrifttum überwiegend, und zwar selbst von Autoren anerkannt, die im Bereich von Vorsatz und Tatbestandsirrtum anders denken, dort also eine Differenzierung nach der Art der Fehlvorstellung (s. Rdn. 23) nicht anerkennen 2 3 . So ist es ausnahmsweise auch denkbar, daß ein Entschuldigungsgrund außer Betracht bleibt, wenn sich an den Begleitumständen der an sich entschuldigten Tat zeigt, daß der Täter infolge seines Zustands gefährlich ist, ζ. B. weil er aufgrund dieses Zustande dazu neigt, aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken schwerwiegende Notstandsexzesse i. S. des § 33 zu begehen (BGH NStZ 1991 528; Hirsch LK 10 , Rdn. 174 Vor § 32). e) Versuch. Der Versuch reicht als „rechtswidrige Tat" aus, sofern die versuchte 3 3 Tat unter Strafe gestellt ist (allgemeine Meinung). In der Praxis können sich dabei Schwierigkeiten ergeben, die Vorstellungen des Schuldunfähigen festzustellen. Der Richter muß ihnen nachgehen (vgl. RG JW 1935 2368 m. Anm. Richter, RGSt. 71 218, 220); sind keine sicheren Feststellungen möglich, ist wiederum (s. Rdn. 26) von der dem Täter günstigeren Deutung auszugehen (Sch/Schröder/Stree Rdn. 5; LangHinrichsen LK 9 § 42 b Rdn. 20). — Zur Frage des Rücktritts und der tätigen Reue vgl. im folg. f) Strafausschließungs- und Aufhebungsgründe, insbes. Rücktritt. Streitig ist, wie 34 bei § 42 b a. F., ob § 63 anwendbar ist, wenn die Voraussetzungen des Rücktritts (§ 24) vorliegen. Es wird ζ. T. darauf abgestellt, ob der Täter im Einzelfall trotz des Rücktritts bzw. einer tätigen Reue als gefährlich anzusehen ist oder nicht 24 . Dieser Ansicht ist nicht beizutreten. Für sie scheint zwar gerade der hier (Rdn. 26) vertretene Standpunkt zu sprechen, daß krankheitsbedingte Vorstellungen des Täters unbeachtlich sind. Auch bestimmt § 63, anders als § 42 b a. F., nicht ausdrücklich, daß die Unterbringung beim vermindert Schuldfähigen nur neben Verurteilung zu Strafe zulässig ist, so daß die traditionelle Argumentation (vgl. z. B. Schlegl NJW 1968 25), der Schuldunfähige könne im Falle des Rücktritts nicht anders behandelt werden als der vermindert Schuldfähige, insoweit ihre Berechtigung verloren hat. Doch bleibt nicht nur zu beachten, daß auch heute bei vermindert Schuldfähigen die Unterbringung regelmäßig neben die Strafe tritt (s. Rdn. 90). Zu beachten ist vor allem, daß sich der unter den Voraussetzungen des § 21 handelnde Täter durch Rücktritt Straffreiheit verdienen kann und dann auch seine Unterbringung nach § 63 schon deswegen nicht in Betracht kommt, weil es jedenfalls in diesen Fällen an einer die Gefährlichkeit indizierenden Anlaßtat fehlt. Dann aber erscheint es auch nicht gerechtfertigt, den Schuldunfähigen insoweit anders zu behandeln; insbesondere läßt sich nicht argumentieren, daß der Schuldunfähige stets gefährlicher sei als der vermindert Schuldfähige, da ein solcher Satz nicht generell aufzustellen ist. Das entspricht heute auch der Ansicht des BGH (BGHSt. 31 132, 135) und der ganz herrschenden Meinung im Schrifttum 25 . Was für den Rücktritt gilt, gilt entsprechend für (sonstige) persönliche Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe. RGSt. 73 314; BGHSt. 3 287, 289; 10 355; BGH NJW 1953 1442; BGH NStZ 1991 528; vgl. auch OLG Stuttgart NJW 1964413. So ζ. B. von Blei AT § 115 I 1 a; von Jescheck, Maurach/Gössel/Zipf und Wetzet aaO; ebenso Sch/Schröder/Stree aaO; Baumann/Weber aaO; Lenckner S. 189; anders jedoch Dreher/Tröndle Rdn. 2 a. (73)
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Geilen JuS 1972 73, 78f; wohl auch BGHSt. 23 358 [dazu Geilen aaO S. 74f, 79], So z.B. Dreher/Tröndle Rdn. 2 a ; Horn SK Rdn. 8; Lackner Rdn. 2; Jescheck AT § 77 II 2 a; Maurach/Gösset/Zipf AT § 68 Rdn. 7; Schlegl NJW 1968 25,26; SchreiberS. 48.
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Zu beachten ist bei der Wirkung des Rücktritts freilich, daß der Rücktritt vom Versuch das Vorliegen einer „rechtswidrigen Tat" und damit die Möglichkeit einer Unterbringung dann nicht hindert, wenn in der versuchten Tat ein vollendetes Delikt steckt, von dem der Täter nicht mehr zurücktreten kann (BGH bei Holtz M D R 1985 449: Rücktritt vom versuchten Tötungsdelikt bei vollendeter Körperverletzung nach § 223 a). Doch wird es hier vielfach oder gar in der Regel an der weiteren Gefährlichkeit des Täters fehlen (von BGH aaO nicht erörtert).
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g) Bedeutung des Antragserfordernisses. Ist die rechtswidrige Tat nur auf Antrag verfolgbar, kann bei fehlendem Antrag die Unterbringung aufgrund dieser Tat nicht angeordnet werden. Dies entsprach schon im früheren Recht der allgemeinen Meinung, soweit es um die Unterbringung im ordentlichen Strafverfahren geht (z.B. RGSt. 73 155; Schlegl NJW 1968 25, 26) und ist auch heute unbestritten. Streitig war jedoch vor dem 2. StrRG, ob gleiches auch für die Unterbringung in selbständigen Verfahren (vgl. jetzt: § 71) gilt. BGHSt. 5 140 und ein Teil des Schrifttums (ζ. B. Bruns JZ 1954 731; Welzel § 53 I 1 a) hatten dies insbesondere verneint, weil der Schutz der öffentlichen Sicherheit nicht vom Willen einer Privatperson abhängen dürfe. Dieser schon früher umstrittenen Auffassung ist aufgrund der Vorschrift des § 71 mittlerweise eindeutig der Boden entzogen; s. BGHSt. 31 132, 135 = JR 1985 25 mit Anm. Blau\ näher Rdn. 84 Vor § 61 und § 71 Rdn. 6.
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h) Verjährung und Amnestie. Auf eine verjährte Tat kann gemäß § 78 eine Unterbringung nicht gestützt werden; sie ist also keine ausreichende rechtswidrige Tat i. S. des § 63 (OLG Düsseldorf VRS 32 34). Zur Amnestie s. Rdn. 75 Vor § 61.
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4. Feststehen der Merkmale der §§ 20,21. Wie sich aus § 63 klar ergibt, müssen die Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit feststehen. Es genügt also nicht, daß diese Voraussetzungen nach dem Grundsatz „in dubio pro reo" bei der Frage der Strafe bejaht werden, wenn sich nicht ausschließen läßt, daß der Täter weder schuldunfähig noch vermindert schuldfähig war (so schon RGSt. 70 127, 128; 73 44 f). Es fällt auf daß der BGH immer wieder Anlaß hat, das auszusprechen 25a .
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Zu Recht hat der BGH (BGHSt. 18 167; s. auch BGHSt. 22 4) jedoch angenommen, daß die Unterbringung auch dann angeordnet werden kann, wenn die Schuldfähigkeit des Angeklagten auf jeden Fall erheblich vermindert ist, er aber nicht bestraft werden darf, weil sie möglicherweise ganz ausgeschlossen ist. Hier die Anwendung der Maßregel auszuschließen, wäre sinnwidrig 26 . Es handelt sich hier um einen der Fälle, in welchem bei vermindert Schuldfähigen die Maßregel ohne gleichzeitige Verurteilung zu Strafe angeordnet werden kann. 39 Bejaht der Tatrichter § 20, muß er jedoch feststellen und im Urteil auch darlegen, ob dem Täter die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit gefehlt hat, weil das in der Regel für die zuverlässige Beurteilung seiner weiteren Gefährlichkeit (Rdn. 41 ff) von wesentlicher Bedeutung ist 27 . 25a
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BGHSt. 21 27; 34 22, 26; BGH bei Holtz MDR 1981 98; StrVert. 1981 71 und 543 L; NJW 1983 350; BGH bei Mösl NStZ 1982 456 und 1983 496; 1986 237 L; zum früheren Recht schon BGH GA 1965 250; BGH NJW 1967 297. Übereinstimmend z.B. Dreher/Tröndle Rdn. 4; Sch/Schröder/Stree Rdn. 10; Jescheck AT § 77 II
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2 b; Sax Anm. in JZ 1968 533; Geilen JuS 1972 73, 75; Monlenbruck S. 132 f mit kritischen Überleg u n g e n ^ . A. Foth Anm. in JZ 1963 604. BGH NStZ 1988 24; BGH bei Holtz M D R 1987 93; BGHR § 63 Schuldunfähigkeit 1 und 3 m.w. Nachw.; Sch/Schröder/Stree Rdn. 10.
Stand: 1. 12. 1991
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Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
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Wendet der Tatrichter § 21 an, ist — entsprechend dessen Anforderungen — fer- 40 ner erforderlich, daß der Täter Unrechtseinsicht tatsächlich nicht gehabt hat. Die bloße Feststellung, daß seine geistigen Fähigkeiten gemindert waren, genügt daher nicht; vielmehr ist die Unterbringung nur zulässig, wenn die Einsichtsfähigkeit nachweislich gefehlt hat 28 . IV. Die künftige Gefährlichkeit des Täters 1. Allgemeines. § 42 b a. F. stellte darauf ab, ob die „öffentliche Sicherheit" die 41 Unterbringung des Täters „erfordert". Mit der Umschreibung der materiellen Gefährlichkeit in § 63 wollte der Gesetzgeber nach dem Vorbild des Ε 1962 (§ 82; dazu die Begründung S. 209) diese Klausel einengen und präzisieren. Das mag ihm in gewissem Umfang gelungen sein. Aber der Verzicht auf das Merkmal von der „erforderlichen" Unterbringung birgt die Gefahr, daß der entscheidende Abwägungsgesichtspunkt zu kurz kommt oder von der Interpretation der verschiedenen und durchaus vagen Kriterien des § 63 gewissermaßen zu sehr überwuchert wird: daß nämlich die — unbefristete — Unterbringung nach § 63 als ein besonders schwerwiegender Eingriff eben zum Schutze der Gemeinschaft „erforderlich", also unabweisbar geboten sein muß. Dem steuert nur eine integrierende Betrachtung, und zwar mit Hilfe einer Gesamtwürdigung, die über den gesetzlichen Hinweis zur Würdigung „des Täters und seiner Tat" durchaus hinausgeht. 2. „Erwartung" weiterer Taten. Für die „Erwartung" genügt nicht die bloße Mög- 42 lichkeit künftiger Taten (Rdn. 45 f Vor § 61). Zu verlangen ist vielmehr, wie schon die Rechtsprechung zu § 42 b a. F. herausgearbeitet hat, daß die Rechtsordnung „durch die bestimmte Wahrscheinlichkeit künftiger gegen sie gerichteter Handlungen unmittelbar bedroht wird" 2 9 ; in diesem Sinne spricht BGH NJW 1951 724, 725 von einer „bestimmten ernstlichen Gefährdung", von einer „großen Wahrscheinlichkeit", einer Gefährlichkeit in gesteigertem Umfang". Die heutigen Umschreibungen der Rechtsprechung sind meist blasser, möglicherweise, weil § 63 nicht mehr das profilierende Merkmal der „Erforderlichkeit" nennt. Sie sind auch nicht einheitlich; so begnügt sich der BGH zum Teil mit einer „gewissen Wahrscheinlichkeit" (BGH NStZ 1986 572), einer „bestimmten Wahrscheinlichkeit" (BGHR § 63 Gefährlichkeit 4), zum Teil verlangt er eine „Wahrscheinlichkeit hohen Grades" (BGH bei Holtz M D R 1979 280) oder „höheren Grades" (so BGH NJW 1989 2939). Der BGH prüft freilich im Rahmen seiner revisionsrechtlichen Möglichkeiten (dazu Hanack in Löwe-Rosenberg § 337 Rdn. 245 ff) und im Zusammenhang mit den weiteren materiellen Kriterien des § 63 regelmäßig recht genau, ob die Feststellungen des Tatrichters im Einzelfall seine Entscheidung tragen 30 . Die Erläuterungswerke folgen mit unterschiedlichen Formulierungen durchweg den Ergebnissen der Rechtsprechung 31 , wobei die oft merkwürdig knappe, ja stiefmütterliche Behandlung des Problems auffällt. 28
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BGHSt. 21 27 m. A n m . Schröder J Z 1966 451 u n d Dreher J R 1966 350; B G H S t . 34 22, 25; B G H N S t Z 1988 24; vgl. a u c h Sch/Schröder/Stree R d n . 11. So RGSt. 68 149, 155; vgl. a u c h R G S t . 73 303; R G D R 1943 233; B G H N J W 1952 36; O L G H a m m J M B 1 N R W 1951 80; O L G K o b l e n z O L G S t § 42 b S.5. Vgl. — a u ß e r den schon g e n a n n t e n Entscheidungen — insbesondere B G H bei Holtz M D R 1977
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106 u n d 1981 265; B G H R § 63 Gefährlichkeit 2-6. 31
Dreher/Tröndle R d n . 7; Horn SK R d n . 12; Lackner R d n . 5; Sch/Schröder/Stree R d n . 13; Jescheck A T § 77 II 2 c; Maurach/Gössel/Zipf AT § 68 R d n . 4 ; vgl. auch Schröder J Z 1970 93; LangHinrichsen L K ' § 42 b R d n . 27; höchst kritisch u n d grundsätzlich anders j e d o c h Frisch Prognoseentscheidungen, insbes. S. 8 ff, 146 ff.
Ernst-Walter Hanack
§63
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
43
Aber scharfkantige Maßstäbe lassen sich abstrakt auch nicht entwickeln. Insbesondere ist es nicht möglich, daß Maß der Wahrscheinlichkeit in Prozentzahlen auszudrücken. Sagen läßt sich wohl nur, daß die „Erwartung" beim Gewicht der Maßregel eine so hohe Wahrscheinlichkeit voraussetzt, daß ihre Anordnung zur Abwehr einer unmittelbaren Bedrohung der Rechtsgemeinschaft als erforderlich gelten muß (vgl. Rdn. 42), wobei auch Zahl, Art und Ausmaß der drohenden Taten eine Rolle spielen. Zu prüfen ist die „Erwartung" jeweils im Wege einer Gesamtwürdigung, insbesondere einer „Rückschau" auf das frühere Verhalten des Täters und die bisher von ihm begangenen Taten (BGH bei Holtz M D R 1979 280; unten Rdn. 74 ff).
43a
Eine nur latente Gefahr genügt nach dem Gesagten grundsätzlich nicht (BGH NJW 1952 836). Andererseits braucht die Gefahr bzw. der kritische Zustand des Täters aber auch gewissermaßen stets „akut" zu sein. Denkbar ist im seltenen Einzelfall wohl sogar, daß die „Erwartung" andere Arten von Taten betrifft als die Anlaßtat oder die sonstigen vom Täter schon begangenen Delikte (vgl. BGH bei Holtz M D R 1977 106). Im übrigen muß sich die Prognose der „Erwartung" auf den für das Gericht überschaubaren Zeitraum beziehen, ist also nicht nur „kurz- oder mittelfristig" zu stellen (BGHR § 63 Gefährlichkeit 6).
44
3. Erwartung „rechtswidriger Taten". Die Erwartung muß auf „rechtswidrige" Taten bezogen sein. Der Begriff der rechtswidrigen Tat ist nach den gleichen — streitigen — Anforderungen zu interpretieren wie bei der auslösenden Tat (oben Rdn. 23 ff)· In den einschlägigen Schrifttumsäußerungen wird das oft nicht ausdrücklich gesagt, so daß insbesondere offenbleibt, ob die Vertreter der Auffassung, die bei der Anlaßtat eine volle Erfüllung des inneren Tatbestandes verlangen (Rdn. 23), dies tatsächlich auch hier voraussetzen wollen; eindeutig für eine Gleichstellung aber Horn SK Rdn. 11.
45
4. Erwartung „erheblicher" rechtswidriger Taten. Die künftige Gefährlichkeit muß sich auf „erhebliche" rechtswidrige Taten beziehen.
a) Allgemeines. Der Begriff der „erheblichen" Taten wird vom Gesetz seit dem 2. StrRG u. a. bei allen anderen freiheitsentziehenden Maßregeln benutzt und ist damit insoweit zu einem Zentralbegriff des Maßregelrechts geworden (Rdn. 40 Vor § 61). Er läßt sich jedoch nicht von vornherein bei allen Maßregeln nach den gleichen Grundsätzen interpretieren, schon weil er auf verschiedene Formen der Gefährlichkeit bezogen ist und weil die einzelnen Maßregeln unbeschadet des Umstandes, daß sie alle vornehmlich Sicherungsbedürfnissen der Allgemeinheit Rechnung tragen (Rdn. 20 Vor § 61), im einzelnen etwas unterschiedlich akzentuiert sind (vgl. schon Rdn. 40 ff Vor § 61). 46 Welche Anforderungen bei § 63 an die Erheblichkeit der künftigen Taten zu stellen sind, ist in den Einzelheiten letztlich noch wenig geklärt. Das Schrifttum folgt im Ergebnis meist den Grundsätzen der Rechtsprechung (dazu im folg. Text), zeigt dabei aber in der abstrakten Umschreibung recht unterschiedliche Tendenzen. So meint ζ. B. Horn SK Rdn. 12 (unter anderem), der Begriff sei „besser" mit „nicht unerheblich" zu umschreiben, während Sch/Schröder/Stree Rdn. 15 „Verfehlungen geringeren Gewichts" nicht ausreichen lassen wollen und Lackner Rdn. 5 zur näheren Konkretisierung „sinngemäß" u. a. auf die Auslegung zu § 66 abstellt, dabei den Maßstab allerdings „nicht so streng" (11. Aufl.), „nicht ganz so streng" (9. Aufl.) bzw. „niedriger" (18. Aufl.) ansetzen will wie dort. Stand: 1. 12. 1991
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Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
§
63
Die Rechtsprechung hat bereits bei § 42 b a. F. durchweg auf die Gefahr „erhebli- 47 eher" Rechtsverletzungen abgestellt, mit Hilfe dieses Gesichtspunktes aber z.T. nur „lästige" Taten abgeschichtet, die für eine Unterbringung prinzipiell nicht ausreichen (näher Rdn. 51 f)· Der BGH hat schon sehr bald nach Inkrafttreten des 2. StrRG im Urteil 5 StR 48 97/75 v. 22.4.1975 (bei Dallinger MdR 1975 724) die Auffassung abgelehnt, § 63 lasse die Unterbringung nur noch zu, wenn „schwere oder gar schwerste" Taten zu erwarten seien; vielmehr könnten auch „Eigentumsdelikte, die zur mittleren Kriminalität" gehören, ausreichen, jedenfalls wenn es sich um „Serientaten" handele. Auf dieser Linie bewegt sich dann auch die weitere Rechtsprechung der Obergerichte 32 . Der BGH hat dabei in Übereinstimmung mit Dreher (bzw. Dreher/Tröndle) Rdn. 8 und Lackner Rdn. 5 ausdrücklich die Meinung vertreten, daß der Maßstab für die Erheblichkeit bei § 63 „nicht so hoch anzusetzen" sei wie bei der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 (vgl. insbes. BGH NJW 1976 1949). Begründet wird das einmal mit den unterschiedlichen Gesetzesfassungen, die durch die maßstabbildenden Beispielsfälle in § 66 Abs. 1 einen höheren Grad an Gewicht und Erheblichkeit der künftigen Straftaten umschreiben würden. Hingewiesen wird zum anderen darauf, daß die Unterschiedlichkeit im Erheblichkeitsgrad eine innere Rechtfertigung darin finde, daß bei der Sicherungsverwahrung „zunächst und in erster Linie" die Strafe als Mittel zur Einwirkung auf den Täter in Betracht komme, während „neben der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (bei Schuldunfähigen) ein anderes strafrechtliches Mittel der Sicherung und Einwirkung überhaupt nicht zur Verfügung steht" (BGH aaO). Schließlich wird geltend gemacht, daß die Anforderungen an die Erheblichkeit auch wegen des „hier mitschwingenden Heilungs- oder Pflegezwecks" nicht so hoch zu sein brauchten wie bei der Sicherungsverwahrung. Zu diesen Überlegungen ist folgendes kritisch zu bemerken (vgl. schon Hanack 49 JR 1977 170; Müller-Dietz NStZ 1983 149). Es ist richtig, daß die Einführung des Begrifs der Erheblichkeit bei § 63 speziell dem Zweck diente, „auszuschließen, daß die schwerwiegende Maßregel... gegen Täter angewendet wird, bei denen nur die Gefahr besteht, daß sie lästig werden" (so Gallas Niederschriften Bd. 12, 343). Die vom Sonderausschuß erst später in Anlehnung an § 70 Abs. 1 AE-AT eingefügte ,,namentlich"-Klausel des § 66 Abs. 1 Nr. 3 sollte hingegen einen besonderen Erheblichkeitsgrad kennzeichnen. Von daher liegt es in der Tat nahe, für § 66 besonders hohe Anforderungen zu verlangen. Das entspricht auch der gesetzgeberischen Vorstellung von der Sicherungsverwahrung als „ultima ratio der Kriminalpolitik" (s. LK § 66 Rdn. 14). Bedenklich erscheint es jedoch, von daher auch den Grad der Anforderungen bei § 63 zu bestimmen oder mitzubestimmen, also gewissermaßen auf dem Weg über einen solchen Vergleich niedrig zu schrauben. Dies gilt zumal angesichts einer erkennbaren Tendenz der Rechtsprechung, selbst bei der Sicherungsverwahrung Taten aus dem Bereich der „mittleren Kriminalität" mindestens bei „hohem Schweregrad" zu erfassen (BGHSt. 24 153; 24 160; s. näher § 66 Rdn. 106). Auch ist eine eigentümliche Brüchigkeit in den geschilderten Argumenten kaum zu verkennen. So ist es einfach nicht richtig, wenn der BGH meint, daß bei der SicheVgl. insbesondere BGHSt. 27 246 = JR 1978 345 mit Anm. v. Hippel; BGH NJW 1976 1949 = JR 1977 170 mit Anm. Hanack-, BGH bei Holtz MDR 1989 857 und 1051, wo sogar das Kriterium der Serientat eingeschränkt wird; BGHR § 63 Ge(77)
fährlichkeit 9; OLG Karlsruhe Die Justiz 1979 301; unveröffentlichte weitere Entscheidungen bei Dreher/Tröndle Rdn. 8; vgl. auch im weiteren Text.
Ernst-Walter Hanack
§63
3. Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
rungsverwahrung primär die Strafe als Einwirkungsmittel in Betracht komme, da die Sicherungsverwahrung jedenfalls in den Fällen des § 66 Abs. 1 ohne Rücksicht auf die Strafe angeordnet werden muß, wenn der Täter infolge seines Hangs gefährlich ist (s. § 66 Rdn. 170 ff). Vom Standpunkt des BGH aus müßte im übrigen Gleiches auch bei § 63 dann gelten, wenn der (vermindert schuldfähige) Täter zu Strafe und zu Unterbringung verurteilt wird, was zu ganz fragwürdigen Differenzierungen führen würde und vom Gesetz erkennbar nicht gewollt ist, wie mindestens der § 67 zeigt. Schließlich erscheint es kaum vertretbar, sondern geradezu rechtsstaatswidrig, die Anforderungen auch im Hinblick auf den „mitschwingenden Heilungs- oder Pflegezweck" zu bestimmen, weil dieser Zweck allein die tolerierbare Gefährlichkeit des Täters noch nicht beeinflußt (vgl. auch Rdn. 25 Vor § 61). 50
Nach allem ist die Frage der Erheblichkeit bei § 63 in erster Linie gewissermaßen aus sich selbst heraus zu bestimmen: Maßgebend muß sein, ob die zu erwartenden Taten den Rechtsfrieden so ernstlich und gravierend bedrohen, daß dem Täter in Anbetracht seiner Störungen das Sonderopfer des — unverschuldeten — Feiheitsentzugs von unbestimmter Dauer auferlegt werden kann (ausdrücklich zustimmend Horn SK Rdn. 12). Die traditionelle Ausscheidung „lästiger Taten" (dazu im folg. Text) ist dabei ein wichtiges Mittel für die Beurteilung, weil diese Ausscheidung speziellen Gegebenheiten beim Verhalten psychisch kranker Rechtsbrecher entspricht. Sie schöpft entgegen manchen Tendenzen (ζ. B. BGHSt. 27 246, 247) die Problematik aber nicht aus, weil auch mehr als lästige Taten im Einzelfall U n e r h e b l i c h " sein können (dazu Rdn. 53 ff).
51
b) Lediglich lästige Taten sind grundsätzlich nicht „erheblich". Dies ist — meist unter dem Aspekt einer mangelnden „Erforderlichkeit" der Unterbringung — von Rechtsprechung und Lehre schon für § 42 b a. F. anerkannt worden (Lang-Hinrichsen LK 9 , § 42 b Rdn. 35) und entspricht auch heute der allgemeinen Meinung. Lästig in dem gemeinten Sinne sind Taten, die den Betroffenen zwar ärgern oder — eben — belästigen mögen, aber nicht eigentlich schädigen können, insbesondere weil ihre krankheitsbedingte Ursache offensichtlich ist.
52
Hierher gehören etwa Fälle, in denen beleidigende Schriftstücke ohne weiteres als nicht ernst zu nehmende Äußerungen eines Geisteskranken zu erkennen sind (BGH NJW 1968 1683 für Schriften antisemitischen Inhalts), oder in denen der kranke Täter die Ehre einzelner Personen in Eingaben an Behörden und Beamte angreift, ohne diese dadurch ernsthaft in ihrem Rechtskreis zu bedrohen (RG JW 1937 2373; RG H R R 1938 Nr. 40; KG D R Z 1948 255; KG JR 1960 351 m. zust. Anm. Mittelbach). Hierher gehören aber auch versuchte Taten, die von vornherein leicht zu durchschauen oder ungefährlich sind, etwa Betrugsversuche (OLG Hamm M D R 1971 1026) oder versuchte Sexualdelikte, die keinen ernsthaften Angriff bedeuten 3 3 . Gleiches gilt für gelegentliche kleinere Betrügereien, insbesondere geringfügige Zechprellereien (OLG Hamm NJW 1970 1982; vgl. auch BGHSt. 20 232 [dazu unten Rdn. 78]), für Schwarzfahrten (BGHR § 63 Gefährlichkeit 8) sowie für gelegentliche kleine Diebstähle, wenn der Beschuldigte etwa infolge seines auffälligen Erscheinungsbildes („Maskengesicht") oder seines ungeschickten Auftretens regelmäßig bei oder bald nach der Tat entdeckt wird (BGH NJW 1955 837 = LM Nr. 12 zu § 42 b a. F. m. w. Nachw.), nicht aber ohne weiteres für die versuchte räuberische Erpres33
So offenbar BGH NJW 1951 724 für versuchte Taten nach § 175 a Nr. 3 a.F.; BGH NJW 1970
1242 für Versuch des § 176; vgl. auch BGHR § 63 Gefährlichkeit 7.
Stand: 1. 12. 1991
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Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
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sung eines Volltrunkenen (BGHR § 63 Gefährlichkeit 9). Über ζ. T. strengere und überholte Entscheidungen s. unten Rdn. 53. Auch das Denunzieren unbestimmt vieler Personen, selbst wenn es in der Bevölkerung Unruhe erregt, wird regelmäßig nur lästig sein (Dreher/Tröndle Rdn. 8 gegen RG JW 1938 2331). Ähnliches gilt für das ständige Randalieren in der Wohngegend einer Großstadt mit der Gefahr nervlicher Störungen bei den Bewohnern (Dreher/Tröndle aaO; Lenckner S. 191; weitergehend und bedenklich OLG Stuttgart Justiz 1967 99). Ob hier in krassen Fällen die Lästigkeit in Erheblichkeit umschlagen kann (so Lang-Hinrichsen LK 9 , § 42 b Rdn. 35; wohl auch Sch./Schröder/Stree Rdn. 15), erscheint zweifelhaft. c) Mehr als lästige Taten sind, wie bemerkt, entgegen manchen Tendenzen im 53 Schrifttum und entgegen auch einem Teil der Rechtsprechung zu § 42 b a. F. (s. im folg.), noch nicht ohne weiteres „etheblich". Vielmehr kommt es insoweit entscheidend auf Art und Häufigkeit der zu erwartenden Delikte, also den konkreten Fall an. Die sorgfältige Einzelfallprüfung hat die Rechtsprechung zwar durchweg schon im früheren Recht für notwendig gehalten. Sie hat dabei aber den Bereich der „erforderlichen" Unterbringung namentlich bei Eigentums- und Vermögensdelikten bisweilen bedenklich weit auch auf drohende Taten von geringer Bedeutung und geringem Unrechtsgehalt erstreckt 34 . Diesen Entscheidungen ist nicht mehr zu folgen. Treffend aber BGH NJW 1989 2959: Taten, die allenfalls in Einzelfällen in den Bereich der mittleren Kriminalität gelangen, reichen nicht. Die Erheblichkeit verlangt vielmehr Delikte, die grundsätzlich mindestens in den 54 Bereich der mittleren Kriminalität hineinragen und eine so ernsthafte Störung des Rechtsfriedens besorgen lassen, daß sie in der Abwägung zum Sonderopfer einer Freiheitsentziehung von unbestimmter Dauer die Unterbringung unabweisbar machen (vgl. schon oben Rdn. 50). Entscheidend für eine in diesem Sinne bedrohliche Erwartung sind, wie bemerkt, insbesondere Art und Häufigkeit der zu erwartenden Taten, wobei gerade die Relation dieser Faktoren wichtig werden kann. So spielt eine Rolle, ob künftige Taten nur „ab und zu", „ständig" oder als „Serientaten" (zum letzteren BGH oben Rdn. 48; einschränkend dann aber BGHSt. 27 246) zu erwarten sind. Eine Rolle spielt weiter, ob es sich um beunruhigende bzw. irgendwie erhöht gefährliche Taten handelt (ζ. B. Einbruchsdiebstähle) oder um Taten ohne solche Momente (ζ. B. „Alltags"-Betrügereien). Bedeutsam ist ferner die zu erwartende Schadenshöhe, wobei auch von Belang sein kann, gegen welchen potentiellen Opferkreis sich die Taten richten; insoweit liegen die Probleme ähnlich wie bei § 66 (s. dort, insbes. Rdn. 126 ff). d) Grundsätzlich unerhebliche Delikte? Zweifelhaft ist, ob es Straftatbestände gibt, 55 die nie „erheblich" sein können. Der Ε 1962 hatte die Frage der Rechtsprechung überlassen wollen (S. 209). Die strenge Durchforstung des Strafrechts im Verlauf der Reformarbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg legt es eigentlich nahe, davon auszugehen, daß alle Straftatbestände, die der Gesetzgeber nicht als entbehrlich ausgesondert bzw. zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft hat, nach seiner, den Richter bindenden Wertung auch schwerwiegendes kriminelles Unrecht umschreiben, also im Einzelfall, ζ. B. bei massiver Häufung oder hoher Intensität, auch „erheblich" sein können (so wohl Sch/Schröder/Stree Rdn. 15). Tatsächlich ist aber kaum zu bestrei34
So etwa BGH NJW 1967 297; BGH GA 1965 282; BGH GA 1969 280; z.T. kritisch dazu Dreher/
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Tröndle Rdn. 8; Sch/Schröder/Stree LencknerS.\ BayObLG NJW 1971 206 = VRS 40 (1971) 12; ebenso OLG Zweibrücken StV 1989 250 sowie tendenziell schon BGH VRS 45 (1973) 177. Generelle Zustimmung im Schrifttum: Lackner 8, Dreher/Tröndle 17, SchJSchröder/Stree 52, Mühlhaus/ Janiszewski 9, Gebhardt DAR 1981 111 und Hirnmelreich/Hentschel Bd. 1 Rdn. 48 und 57. 381 Eher bedenklich OLG Stuttgart VRS 46 (1974) 103; dagegen zu Recht Himmelreich/Hentschel Bd. 1 Rdn. 57. Bedenklich auch LG Köln ZfS 1980 381; zu Recht ablehnend Beck aaO sowie Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 48 mit Fn. 165. 382 OLG Stuttgart VRS 35 (1968) 19 (6 Monate: l,5%o; Berufskraftfahrer). Weitere Kasuistik zur Bejahung einer Ausnahme (meist vom Regelfall des § 316): OLG Köln VRS 41 (1971) 101 (knapp über 10 Monate: 1, 5%c, Ersttäter), BayObLG NJW 1971 206 = VRS 40 (1971) 12 (fast 7 Monate: Erstm
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täter; kurze und verkehrsarme Strecke), BayObLG NJW 1977 445 (mehr als 9 Monate: Ersttäter), OLG Hamm NJW 1977 207 (etwas mehr als 10 Monate: Ersttäter) sowie LG Saarbrücken DAR 1981 395 (6 Monate: nach 25-jähriger beanstandungsfreier Fahrpraxis). Vgl. neuerdings auch OLG Düsseldorf DAR 1994 248 (zu zweijähriger vorläufiger Entziehung der Fahrerlaubnis) sowie OLG Brandenburg NStZ 1995 52. KG VRS 60 (1981) 109 (11 Monate: die BÄK von 4,6 %o spricht aber weniger für eine charakterliche Ungeeignetheit als vielmehr — vom Tatrichter jedoch nicht näher erwähnt — für eine Alkoholabhängigkeit mit Krankheitswert und damit für einen geistig-körperlichen Eignungsmangel) sowie OLG Bremen VRS 31 (1966) 454 (fast anderthalb Jahre: ebenfalls Ersttäter). Vgl. auch OLG Stuttgart VRS 46 (1974) 103 (fünfeinhalb Monate: 1, 28%o); teilweise ablehnend Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 57.
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§ 6 9
Ersttäter gemeint, für die beispielhaft das vom TÜV Rheinland entwickelte Modell „Mainz 77" 3 8 4 oder das ihm nachgebildete Modell „Hamburg 79" 3 8 5 sowie das Modell „Leer" 3 8 6 zu nennen sind 387 . Zum verkehrspsychologischen und kriminologischen Hintergrund, zu organisatorischem Ablauf und Inhalt sowie zur Frage der Legalbewährung solcher Kurse im einzelnen s. zunächst die nachfolgende Literaturübersicht: Bode Kurse für auffällige Kraftfahrer: Modellversuche in der Bundesrepublik Deutschland, Blutalkohol 1979 36; derselbe Fortentwicklung des Fahrerlaubnisrechts durch Differenzierung sowie Integration von Weiterausbildung und Nachschulung, Blutalkohol 1983 39; derselbe Berücksichtigung der Nachschulung von Alkohol-Verkehrsstraftätem durch Strafgerichte (Rechtsprechungsübersicht), DAR 1983 33; derselbe Nachweis der Nachschulung im Strafverfahren, Blutalkohol 1984 31; derselbe Rechtsgrundlagen für die Zuweisung von Kursen für auffallige Kraftfahrer, Blutalkohol 1987 73; derselbe Beratung, Begutachtung und Schulung alkoholauffälliger Kraftfahrer während der Sperrfrist, DAR 1994 348; Bussmann/Gerhardt Die Nachschulung alkoholauffälliger Kraftfahrer als Weisung aus dem Jugendrecht, Blutalkohol 1980 117; dieselben Legalbewährung junger Alkoholverkehrsstraftäter, Blutalkohol 1984 214; Dittmer Die Nachschulung: ein Mittel zur Behebung von Eignungsmängeln alkoholauffälliger Kraftfahrer?, Blutalkohol 1981 281; Gebhardt Die Nachschulung alkoholauffälliger Kraftfahrer und die gerichtliche Praxis, DAR 1981 107 (zugleich in Verkehrsgerichtstag 1981, S. 38); Geppert Nachschulung alkoholauffälliger Ersttäter, Blutalkohol 1984 55; Gontard/Janker Die Nachschulung alkoholauffälliger Kraftfahrer — Ein Beitrag zur Neugestaltung des Sanktionensystems im Bereich des Verkehrsrechts, DAR 1992 8; Himmelreich Nachschulung alkoholauffälliger Kraftfahrer, Blutalkohol 1983 91; derselbe Bundeseinheitliche Nachschulungskurse — Neue Gesetzesinitiativen?, DAR 1989 5; Höcher Verkehrspsychologische Nachschulung, ihre Ziele und Wirksamkeit sowie eine exemplarische Darstellung des Modells IVTHö, DAR 1985 36; derselbe Langzeitrehabilitation alkoholauffälliger Kraftfahrer. Individualpsychologische Verkehrstherapie (IVT-Hö), Blutalkohol 1992 265; Hundhausen Sollten Kurse für alkoholauffallige Kraftfahrer rechtsförmlich eingeführt werden?, Blutalkohol 1989 329 (dagegen Jensch Blutalkohol 1990 85 und Stephan/Kunkel Blutalkohol 1989 347); Jensch Kurse für alkoholauffällige Kraftfahrer sind wirksam!, Blutalkohol 1990 285; Jensch/Spoerer Nachschulung: ein psychologisches Mittel zur Behebung von Eignungsmängeln alkoholauffälliger Kraftfahrer, Blutalkohol 1982 1; Kunkel Mainz 77: Maßnahme zur Verhaltensänderung bei Trunkenheitsersttätem, Blutalkohol 1979 1; derselbe Zur Kontrolle der Wirksamkeit einer Nachschulungsmaßnahme bei Kraftfahrern, die erstmals durch Trunkenheit am Steuer aufgefallen sind (Modell Mainz 1977), DAR 1981 348; derselbe Die Nachschulung alkoholauffälliger Kraftfahrer und die gerichtliche Praxis, in: Verkehrsgerichtstag (VGT) 1981, S. 54; derselbe Die Rückfallwahrscheinlichkeit als Kriterium der Fahreignung bei alkoholauffälligen Kraftfahrern, Blutalkohol 1984 385; Kunkel/Menken Zur Notwendigkeit neuer Maßnahmen gegen die Trunkenheit im Straßenverkehr, Blutalkohol 1978 431; Kürschner Die Berücksichtigung von Nachschulungsmaßnahmen im Strafverfahren, Blutalkohol 1981 387; Legat Rechtsprechung oder „operational research"? Kritische Anmerkungen zur rechtlichen Bedeutung der sogenannten Nachschulungsmodelle, Blutalkohol 1981 17; derselbe Die Nachschulung: ein Kommunikationsproblem zwischen Richter und Psychologen, Blutalkohol 1985 130; Menken Notwendigkeit und Möglichkeit der Nachschulung alkoholauffälliger Kraftfahrer, DAR 1978 245; derselbe Die Möglichkeiten des Verkehrsrichters zur Beeinflussung alkoholauffälliger Kraftfahrer, Blutalkohol 1979 233; derselbe Verhaltensänderung durch Intensivierung polizeilicher Verkehrsüberwachung oder durch Einführung von Selbstkontrolle?, Blutalkohol 1980 81; Middendorf Nochmals: Die Nach-
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(55)
S. dazu vor allem Kunkel BA 1979 1 und DAR 1981 348; vgl. auch Bode BA 1979 36 und BA 1984 39, Hentschel NJW 1979 965 und Himmelreich BA 1983 91 sowie OLG Köln DAR 1980 251 = BA 1980 291 = VRS 59 (1980) 25 sowie VRS 60 (1981) 375 = BA 1981 180. S. dazu OLG Hamburg VRS 60 (1981) 192 und LG Hamburg BA 1981 53; eher kritisch Hentschel DAR 1981 83 und OLG Köln DAR 1982 26.
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S. dazu insbesondere Winkler BA 1974 178 sowie Bode BA 1979 43 und BA 1984 39; vgl. auch LG München I DAR 1981 229. Ein ausführlicher Überblick über die in der Bundesrepublik angebotenen diversen Nachschulungsund Rehabilitationsmöglichkeiten findet sich bei Spoerer/Ruby Nachschulung und Rehabilitation verkehrsauffälliger Kraftfahrer (1987); vgl. auch OLG Hamburg VRS 60 (1981) 194.
Klaus Geppert
§ 6 9
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
Schulung von Alkoholtätern, Blutalkohol 1982 129; Molketin Teilnahme an einer Nachschulung für alkoholauffällige Kraftfahrer, Blutalkohol 1982 50; Arno Müller Neue Maßnahmen gegen Trunkenheit im Straßenverkehr, Blutalkohol 1979 357; derselbe Fahrerlaubnisentzug, Eignungsbegutachtung, Nachschulung und Therapie bei Trunkenheitstätem: Ansätze zu einer notwendigen Neuorientierung, Blutalkohol 1993 65; Ostermann Das Rückfallgeschehen bei Alkoholersttätern — Folgerungen für die Nachschulung, Blutalkohol 1987 11; Preisendanz Nachschulung alkoholauffälliger Kraftfahrer und ihre Berücksichtigung im Rahmen des Verkehrsstrafrechts de lege lata und de lege ferenda, Blutalkohol 1981 87; Schreiber Die Zuweisung von Verkehrsstraftätern zur „Nachschulung" im Strafverfahren, Blutalkohol 1979 19; Seib Vor- und Nachschulung, eine vorbeugende Erziehungsarbeit der Verkehrsverbände, Blutalkohol 1975 283; derselbe Nachschulung als Alternative zum Fahrerlaubnisentzug, Blutalkohol 1980 39; derselbe Die Nachschulung alkoholauffälliger Kraftfahrer und die gerichtliche Praxis, DRiZ 1981 161 (zugleich in VGT 1981, S. 43); Spoerer/Kratz Vier Jahre Erfahrungen mit der Nachschulung von alkoholauffälligen Fahranfängem (Inhaber einer Fahrerlaubnis auf Probe), Blutalkohol 1991 333; Spoerer/Ruby Nachschulung und Rehabilitation verkehrsauffälliger Kraftfahrer, 1987; Stephan Die Legalbewährung von nachgeschulten Alkoholtätern in den ersten zwei Jahren unter Berücksichtigung ihrer BAK-Werte, ZVS 1986 2; derselbe Unangemessene Folgerungen für die Nachschulung, Blutalkohol 1987 297 (gegen Ostermann Blutalkohol 1987 11); Stephan/Kunkel Verkehrspsychologische Stellungnahme zu einer „Kosten-Nutzen-Analyse der Kurse für wiederholt alkoholauffällige Kraftfahrer", Blutalkohol 1989 347 (gegen Hundhausen Blutalkohol 1989 329); Utzelmann Rückfallquote von Teilnehmern an Kursen nach dem Modell „Mainz 77", Blutalkohol 1983 449; derselbe Die Bedeutung der Rückfallquote von Teilnehmern an Kursen nach dem Modell „Mainz 77", Blutalkohol 1984 396; derselbe Der unwiderlegte Nutzen von Kursen für alkoholauffällige Kraftfahrer, Blutalkohol 1990 106; Winkler Gruppengespräche nach wiederholter Trunkenheit am Steuer, Blutalkohol 1974 178; derselbe Die sogenannte „Nachschulung" alkoholauffälliger Kraftfahrer, NZV 1988 41; Winkler/Jacobshagen/Nickel Zur Langzeitwirkung von Kursen für wiederholt alkoholauffällige Kraftfahrer, Blutalkohol 1990 154; label Nachschulung — neue Modelle und Anwendungsmöglichkeiten, Blutalkohol 1981 113; derselbe Nachschulung für Alkoholtäter im Erst- und Wiederholungsfall, Blutalkohol 1985 115; Zabel/Zabel Zur Fahreignung von Alkoholtätem — Eignungstests und verkehrspsychologische Nachschulung, Blutalkohol 1991 65. 98
I n h a l t . Erklärtes Ziel der Nachschulungskurse ist es, die Rückfallwahrscheinlichkeit erneuter Trunkenheitsdelikte zu vermindern. D e n Kursen geht meist ein vorbereitendes Einzel- und A u f n a h m e g e s p r ä c h voraus, d e m sich unter verantwortlicher Leitung von Verkehrspsychologen in der R e g e l vier Gruppensitzungen v o n j e etwa drei Stunden anschließen, in denen den Probanden in gruppentherapeutischen Gesprächen die A l k o h o l gefahr i m Straßenverkehr bewußt g e m a c h t und das sog. „Pechvogel"-Argument aufgelöst werden soll; anschließend werden Verhaltenstechniken zur B e w ä l t i g u n g alkoholrelevanter Situationen im Straßenverkehr trainiert. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist der verhaltenstherapeutische und gruppentheoretische Ansatz insbesondere der Kurse „Mainz 77", „Hamburg 7 9 " und „Leer" als ernsthafter, auf wissenschaftlicher Grundlage beruhender und v o m Staat geförderter Versuch anerkannt, der grundsätzlich g e e i g n e t sei, die Rückfallquote bei Trunkenheitstätern zu reduzieren 3 8 8 .
388
Für das Modell „Mainz 77" s. vor allem OLG Köln DAR 1980 251 = BA 1980 291 = VRS 59 (1980) 25; vgl. auch OLG Köln BA 1981 180 = VRS 60 (1981) 375 sowie DAR 1982 26 = BA 1981 372 = VRS 61 (1981) 118. Zum Modell „Hamburg 79" s. OLG Hamburg DAR 1981 122 = BA 1981 104 = VRS 60 (1981) 192 und LG Hamburg BA 1981 53. Zum Modell „Leer" s. LG München I DAR 1981 229. Gegenuber staatlich (bisher) nicht anerkannten Kursen sowie gegen-
über vielfaltigen privattherapeutischen Hilfen ist größere Vorsicht angebracht; hier ist jedenfalls eine Individualprognose unverzichtbar. Mit weiterführenden (auch: Rechtsprechungs-) Nachweisen s. Bode DAR 1983 34; vgl. auch LG Heilbronn Justiz 1982 338 (zur Privattherapie) und LG Köln ZfS 1982 158 sowie AG Frankfurt am Main BA 1981 271 (Nachschulung durch Fahrschule) und AG Köln ZfS 1982 158.
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§69
Grundsätzliche Anerkennung. Nach anfänglicher Skepsis in Teilen des Schrifttums 389 zeigten sich die Tatgerichte 390 verhältnismäßig schnell bereit, im Kampf gegen den Alkohol die in den bis dahin noch weithin unerprobten Nachschulungskursen liegende Chance zur Verbesserung der Verkehrssicherheit zu nutzen 391 . Die Berücksichtigung der Nachschulung erfolgte zunächst (nur) über eine nachträgliche Abkürzung der Sperrfrist nach § 69 a Abs. 7 3 9 2 (näher dazu Rdn. 88 zu § 69 a), dann aber vermehrt auch im Wege der Sperrfristverkürzung (dazu Rdn. 28 zu § 69 a) 393 und vereinzelt über die Aufhebung einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis im Verfahren nach § 111 a StPO 394 . Trotz fortdauernder Skepsis in Teilen des Schrifttums 395 ging die (vor allem: amts- und landgerichtliche) Praxis dann aber bald dazu über, die Teilnahme an einer (anerkannten) Nachschulung auch im Erkenntnisverfahren als Umstand anzuerkennen, der bei günstigem Persönlichkeitsbild und nicht zuletzt im Zusammenwirken mit vorläufigen Führerscheinmaßnahmen dazu geeignet sein kann, die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 zu widerlegen 396 . Die obergerichtliche Rechtsprechung demgegenüber hat von Anfang an hervorgehoben, daß die Kursteilnahme für sich allein das Absehen von der Regelentziehung in aller Regel noch nicht zu rechtfertigen imstande sei, sondern weitere Umstände (insbesondere eine längere vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und ein günstiges
38« Besonders skeptisch Seib (BA 1975 283, BA 1980 39 und DRiZ 1981 161); s. aber auch Middendorf BA 1978 111 und BA 1982 129, Arno Muller BA 1979 357, Legal BA 1981 17 und BA 1985 130 sowie Schneble BA 1980 290. Eher zurückhallend zunächst auch Janiszewski NStZ 1981 470 und D.Schultz BA 1982 333. 390 Die Vielzahl einschlägiger amts- und landgerichtlicher Entscheidungen Ende der 70-er und anfangs der 80-er Jahre ist kaum zu überblicken; s. daher die Rechtsprechungsübersichten in DAR 1983 230 sowie DAR 1989 234 und Bode DAR 1983 33. 391 S. insofern vor allem LG Baden-Baden DAR 1981 232 (erklärte Zubilligung eines „gewissen Vertrauensvorschusses"); besonders skeptisch demgegenüber aber AG Freising DAR 1980 252 („Ablaßhandel") und LG Kassel DAR 1981 28 (Verbot der Berücksichtigung sogar im Rahmen von § 69 a Abs. 7). Deutlich zurückhaltend zunächst auch OLG Düsseldorf DAR 1982 26 sowie LG Dortmund DAR 1981 28. Nach LG Göttingen und AG Neustadt am Rübenberge (nach Bode DAR 1983 38) würde die Berücksichtigung einer Nachschulung finanzkräftige Täter in unzulässiger Weise gegenüber solchen Kraftfahrern bevorzugen, die sich derartige Kurse nicht leisten können; so auch neuerdings wiederum AG Würzburg VM 1995 32. Dagegen aus maßregelrechtlicher Sicht OLG Köln DAR 1980 251 und Himmelreich/Henlschel Bd. I Rdn. 57 f; berechtigte Kritik auch bei Hentschel NJW 1996 638. 392
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Soweit ersichtlich wohl erstmals LG Köln DAR 1978 322 = NJW 1979 558 = BA 1979 231 = VRS 56 (1979) 284; vgl. auch AG Recklinghausen DAR 1980 26, AG Pirmasens DAR 1980 122 sowie LG München I DAR 1980 283 = BA 1980 464. Soweit ersichtlich erstmals LG Krefeld DAR 1980
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63; vgl. im folgenden auch AG Köln DAR 1980 222 (keine Berücksichtigung bei der Regelvermutung des § 69 Abs. 2, sondern nur bei Bemessung der Sperrfrist), AG Brühl DAR 1981 233, LG Bielefeld ZfS 1984 159, AG Köln ZfS 1984 159, AG Bersenbrück DAR 1982 374 und LG Oldenburg ZfS 1984 159. Vgl. LG Hanau DAR 1980 25 sowie LG Köln BA 1980 289 (recht streng: nur in eindeutigen Fällen minderen Gewichts und erheblicher Auswirkungen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis). Nach Seib (DRiZ 1981 166) verstößt die Berücksichtigung der Nachschulung schon im Erkenntnisverfahren gegen das Gesetz, weil die gesetzliche Regelvermutung für Kursteilnehmer damit in ihr Gegenteil verkehrt und die Maßregel der Fahrerlaubnis auf ein Fahrverbot reduziert sei; dagegen zu Recht Himmelreich/Henlschel Bd. I Rdn. 57b. Eher zurückhaltend auch Dreher/Tröndle 10a und Mühlhaus/Janiszewwski 15. Soweit ersichtlich im Berufungsverfahren erstmals LG Kleve DAR 1978 321 = VRS 56 (1979) 283 = BA 1979 503 sowie im erstinstanzlichen Erkenntnisverfahren zum ersten Mal AG Bergisch Gladbach DAR 1980 23. Vgl. statt vieler auch LG Krefeld VRS 56 (1979) 283 = BA 1979 503, AG Hanau VRS 58 (1980) 137 = MDR 1980 335 = Β A 1980 77 („nach Ablauf einer nicht zu kurz bemessenen Zeit der vorläufigen Entziehung", hier: ca. sechs Monate), LG Köln ZfS 1980 254 (fünf Monate vorläufiger Fahrerlaubnisentziehung), LG Duisburg DAR 1980 349, LG Köln ZfS 1980 255, AG Fulda DAR 1980 349, LG Baden-Baden DAR 1981 231, AG Homburg/Saar DAR 1980 252, AG Langenfeld ZfS 1980 382, LG Essen ZfS 1982 63, AG Bielefeld r + s 1981 87 und AG Leverkusen ZfS 1982 159.
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
Persönlichkeitsbild) hinzukommen müssen 3 9 7 . Nachdem zwischenzeitlich auch statistisches Material zur Legalbewährung vorliegt, das durch einen Vergleich der Rückfallhäufigkeit von Kursteilnehmern und Nichtkursteilnehmern vorsichtige (obgleich nicht unbestrittene) Erfolge erkennen läßt 398 , wird die Wirkung solcher Nachschulungskurse auf den alkoholauffälligen Kraftfahrer in der tatrichterlichen ebenso wie in der obergerichtlichen Rechtsprechung 399 und weithin (selbst) im (juristischen) Schrifttum 4 0 0 heute überwiegend positiv eingeschätzt; allgemeiner Tenor: Die Kurse dienen zwar nicht als Ersatz, wohl aber als sinnvolle Ergänzung zur Entziehung der Fahrerlaubnis und ihr dienender vorläufiger Maßnahmen. Davon geht auch der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des StVG und anderer Gesetze (Stand: 20. Mai 1996) aus, der demzufolge die in § 69 a Abs. 7 S. 2 vorgesehene Mindestsperre von sechs Monaten auf drei herabsenken und den gesetzlichen Auflagenkatalog des § 153 a Abs. 1 StPO durch Einfügung einer neuen Nr. 5 dahin ergänzen will, daß auch die Teilnahme an einem „Aufbauseminar in einer Einrichtung ..., die von einer für die Durchführung des Straßenverkehrsrechts oder des Fahrlehrerrechts zuständigen Behörde anerkannt ist", zur Einstellung nach § 153 a StPO führen kann. 100
Einzelheiten. (1) Ob die spezialpräventiv günstige Wirkung durch die Teilnahme an einer Nachschulung eingetreten ist, unterliegt im Rahmen gebotener Gesamtwürdigung allein tatrichterlicher Beurteilung und ist vom Revisionsgericht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen 4 0 1 . Weil nicht die Kursteilnahme als solche zur Widerlegung der gesetzlich vermuteten Ungeeignetheit führt, hat der Tatrichter in den Gründen seiner Entscheidung in revisionsgerichtlich nachprüfbarer Weise darzulegen, in welcher Weise die Nachschulung (meist im Zusammenwirken mit vorläufigen Führerscheinmaßnahmen) entgegen der Regel des Absatzes 2 zur Wiederherstellung der Eignung geführt hat oder im Hinblick auf welche besonderen Umstände in der Tat und/oder in der Persönlichkeit des Täters sogar Nachschulung die aus der Anlaßtat erwiesene Ungeeignetheit nicht beseitigt hat 4 0 2 . Eine solche Gesamtwürdigung kann in aller Regel nur in einer Hauptverhandlung, nicht im Strafbefehlsverfahren geleistet werden 403 . Handelt es sich um allseits anerkannte 397
398
Zunächst noch ablehnend OLG Düsseldorf DAR 1982 26, die Beriicksichtigungsmöglichkeit generell bejahend dann aber OLG Köln DAR 1980 251 = BA 1980 291 = VRS 59 (1980) 25. S. ferner OLG Köln VRS 60 (1981) 375 = BA 1981 180, OLG Hamburg VRS 60 (1981) 192 = BA 1981 104 = DAR 1981 122, OLG Hamm BA 1981 274 276 = VRS 61 (1981) 42, OLG Köln VRS 61 (1981) 118 = DAR 1982 26, BayObLG ZfS 1982 347, OLG Koblenz VRS 66 (1984) 40 und OLG Düsseldorf VRS 66(1984) 347. Zu ersten statistische Vergleichszahlen s. vor allem Stephan ZVS 1986 (bei einer zweijährigen Legalbewährung und 467 überprüften Kursteilnehmern Verringerung der Rückfallquote um rund 10%) sowie Utzelmann BA 1983 449 und 1984 396 (ähnliche Werte). Kritisch dazu Ostermann BA 1987 11 (Erwiderung durch Stephan in BA 1987 297) und Hundhausen BA 1989 329 (dagegen Stephan/Kunkel BA 1989 347 und Jensch BA 1990 85). Der Modellversuch der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) für alkoholauffällige Wiederholungstäter erreichte in einem Beobachtungszeitraum von drei Jahren und 1569 überprüften Kursteilnehmern eine RUckfallminderung von etwa 27% (nach Winkler NZV 1988 44). Weiterführend: Winkler NZV 1988 41 ff, Winkler/Jacobshagen/Nickel BA 1990 154,
Utzelmann BA 1990 106 und Jensch BA 1990 285; deutlich kritisch Arno Müller BA 1993 65. Aus jüngerer Zeit s. vor allem OLG Düsseldorf DAR 1991 466 (zur nachträglichen Abkürzung einer lebenslangen Sperre), LG Köln DAR 1989 109 (zur Verringerung der Sperrfrist bei einem Wiederholungstäter) sowie AG Delmenhorst ZfS 1989 141, AG Köln DAR 1989 234 und AG Homburg DAR 1991 472 (jeweils Ausnahmen von der Regel-Entziehung); vgl. auch AG Ratingen DAR 1991 156 („deutliche" Verringerung der bei Wiederholungstätern sonst üblichen Sperrfrist nach individual-psychologischer Verkehrstherapie). 400 Statt vieler: Bode BA 1984 37, Gebhardt DAR 1981 111, Geppert BA 1984 57 und passim, Hentschel DAR 1981 83, Himmelreich BA 1983 91, Krehl DAR 1986 37, Kürschner BA 1981 348 und Zabel BA 1995 115. 40 1 OLG Düsseldorf DAR 1982 26 sowie OLG Köln VRS 59 (1980) 27 und VRS 61 (1981) 118; vgl. auch BayObLG VRS 40 (1971) 12. 402 OLG Koblenz VRS 66 (1984) 40; OLG Köln VRS 60 (1981) 375; OLG Hamburg VRS 60 (1981) 192. 403 So auch AG Hanau VRS 58 (1980) 139 und AG Homburg/Saar ZfS 1983 283; ebenso Himmelreich/ Hentschel Bd. I Rdn. 57 b. 399
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§69
erprobte Nachschulungskurse (wie etwa das Modell „Mainz 77", „Leer" oder „Hamburg 79" 404 ), genügt es, wenn der Tatrichter den Kurs als solchen benennt sowie Kursinhalt und organisatorischen Ablauf formelhaft andeutet 405 . Der Nachweis der Nachschulung als solcher kann mit den üblichen Beweismitteln geführt werden; es genügt die den Kursteilnehmern nach Durchführung der Kurse ausgehändigte Bescheinigung, die ihnen üblicherweise eine „erfolgreiche und regelmäßige Teilnahme" attestiert 406 . Davon zu trennen ist die Frage, wann eine Kursteilnahme „erfolgreich" ist und ob der Tatrichter zusätzlich zur bloßen Teilnahmebescheinigung weitere Feststellungen zu den individuellen Auswirkungen des Kurses auf den Täter treffen muß 407 . Bei nur „vorsichtiger" Berücksichtigung der Kursteilnahme (was ausweislich einschlägiger obergerichtlicher Entscheidungen bei Ersttätern üblicherweise der Fall ist, wenn die Sperrfrist um etwa drei Monate verkürzt oder von der Regelentziehung nach vorläufiger Entziehung der Fahrerlaubnis von mindestens sechs Monaten abgesehen wird) reicht im allgemeinen der Hinweis des Tatrichters auf die ihm vorgelegte Teilnahmebescheinigung aus 408 ; die bloße Feststellung regelmäßiger Teilnahme ist insoweit hinreichender Ausdruck für das Bemühen des Täters um Verbesserung seiner Eignungsvoraussetzungen 409 . Sofern die durchgeführte Nachschulung jedoch in weitergehendem Umfang zugunsten des Täters berücksichtigt wird, verlangt die Rechtsprechung zwecks revisionsgerichtlicher Überprüfbarkeit besondere tatrichterliche Feststellungen zur Frage, weshalb die Nachschulung auf den jeweiligen Täter besonders günstig gewirkt hat 410 . In gleicher Weise bedarf es besonderer Feststellungen, wenn der Täter sich einer individuellen therapeutischen Behandlung unterzogen hat (Privattherapie) oder die Nachschulung in Kursen erfolgt ist, deren Konzept noch nicht allgemein bekannt und erprobt ist (noch nicht allseits erprobte Nachschulungskurse); hier bedarf es besonderer tatrichterlicher Feststellungen nicht nur zu den individuellen Auswirkungen der Behandlung/Schulung, sondern auch zusätzlicher Ausführungen zu Inhalt und Ablauf der Schulung/therapeutischen Behandlung sowie zur fachlichen Kompetenz des Kursleiters/Therapeuten 411 . 404
Soweit Träger der Kurse privatwirtschaftlich tätige und auf Gewinnerzielung gerichtete Organisationen sind, trifft den Tatrichter hinsichtlich des ordnungsgemäßen Ablaufs des Kurses jedenfalls so ' lange eine besondere Prüfungspflicht, wie der Kurs keiner staatlichen Kontrolle unterliegt (OLG Hamburg VRS 60 (1981) 192 = DAR 1981 122 = BA 1981 104). 105 OLG Köln DAR 1982 26 = VRS 61 (1981) 118 = BA 1981 372 und OLG Hamburg VRS 60 (1981) 192; zur Darlegungspflicht bei Anzeichen eines reinen „Gefälligkeitsgutachtens" s. OLG Düsseldorf VRS 66 (1984) 347.
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Zur strafprozessualen Frage, wie solche Bescheinigungen in die Hauptverhandlung eingeführt werden können, Bode DAR 1983 36. 407 Ausführlich und mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen vor allem Bode BA 1984 31 ff und Himmelreich BA 1983 91 (101 ff). 408 Gegen eine Verlesung nach § 256 Abs. 1 StPO OLG Hamm BA 1981 274 (TÜV keine off. Behörde). Da es um den Nachweis der Kursteilnahme als solcher und nicht um ein gutachterliches Attest geht, kann die Bescheinigung über eine regelmäßige und erfolgreiche Kursteilnahme als feststellende Urkunde im Wege des Augenscheinsbeweises in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Sofern (59)
410
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nach § 244 Abs. 2 StPO geboten, kann auch die Vernehmung des verantwortlichen Kursleiters (als sachverständiger Zeuge) erforderlich sein (OLG Hamm BA 1981 276 und Legat BA 1981 27); die Bezugnahme auf die bei der Akte befindliche „gutachterliche Stellungnahme" genügt jedenfalls nicht (OLG Hamburg VRS 60 (1981) 195). S. insofern vor allem OLG Köln DAR 1981 26 = VRS 61 (1981) 118, OLG Hamburg DAR 1981 122 = VRS 60 (1981 ) = BA 1981 104 und OLG Düsseldorf VRS 66 (1984) 347; vgl. auch LG Krefeld DAR 1979 337 = VRS 56 (1979) 283, LG Duisburg DAR 1980 349 und AG Bergisch Gladbach DAR 1980 23. Eindeutig zu streng OLG Koblenz VRS 66 (1984) 40. OLG Hamburg DAR 1981 122 = VRS 60 (1981) 192 = BA 1981 104 (Modell „Hamburg 79") sowie OLG Köln DAR 1982 26 = VRS 61 (1981) 118 = BA 1981 372 (Modell „Mainz 77"); vgl. auch AG Köln DAR 1980 222. Die Rechtsprechung ist diesbezüglich zu Recht verhältnismäßig streng: vgl. LG Heilbronn Justiz 1982 338 = ZfS 1982 349, LG Köln ZfS 1982 158 und ZfS 1980 381, AG Frankfurt am Main BA 1981 271 (Nachschulung durch eine Fahrschule) und AG Köln ZfS 1981 31; weiterführende Nachweise bei Bode DAR 1983 33.
Klaue Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
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(2) Da generalisierende Erwägungen mit der Rechtsnatur der Maßregel unvereinbar sind, sind feste Taxen nicht möglich, zumal individuell unterschiedlich großer finanzieller/zeitlicher Aufwand zur Teilnahme am Nachschulungskurs für die Wirksamkeit der Nachschulung von maßgeblicher indizieller Bedeutung sein kann (s. dazu bereits Rdn. 95 f). Ausweislich tatrichterlicher Judikatur wird die Sperrfrist im Hinblick auf eine Nachschulung durchschnittlich etwa um drei Monate verkürzt (s. dazu auch Rdn. 28 zu § 69 a) 412 ; eine Berücksichtigung der Nachschulung um mehr als drei Monate erfolgt nur ausnahmsweise und bedarf zusätzlicher Begründung 413 . Somit kommt ein Verzicht auf die Regelentziehung im Hinblick auf Nachschulung (insbesondere bei Zusammenwirken mit vorläufigen Führerscheinmaßnahmen) in der Berufungsinstanz, in der die vorläufige Maßnahme die sechsmonatige Mindestsperre des § 69 a Abs. 1 S. 1 in aller Regel überschritten haben dürfte 414 , häufiger vor als im erstinstanzlichen Erkenntnisverfahren. Es gibt aber sowohl zweit- wie sogar erstinstanzliche Entscheidungen, bei denen die vorläufige Maßnahme nur sechs Monate 415 oder noch weniger gedauert hat 416 , doch gleichwohl von der Regelentziehung abgesehen wurde. Derart „großzügige" Handhabung der Ausnahmemöglichkeiten des Absatzes 2 bedarf als deutliche Ausnahme zwar besonderer Begründung, ist mit dem Gesetz jedoch noch zu vereinbaren; dies läßt auch § 69 a Abs. 4 erkennen, wonach eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (sogar) ohne Nachschulung zur Verringerung der Mindestsperrfrist von sechs auf drei Monate führen kann.
102
(3) Bei einem Wiederholungstäter 417 sind ebenfalls strenge Anforderungen an den Verzicht auf die Regelentziehung angebracht; dies gilt besonders für Mehrfachtäter, gegen die bereits in den letzten drei Jahren vor der Tat eine Sperre angeordnet wurde und für die § 69 a Abs. 3 eine Mindestsperrfrist von einem Jahr vorsieht 418 . Auch in diesen Fällen bestehen jedoch keine generellen rechtlichen Bedenken, im Hinblick auf Nachschulung oder sonstige individual-psychologische Behandlung auch bei vorläufigen Führerscheinmaßnahmen unterhalb der Ein-Jahres-Grenze des § 69 a Abs. 3 von der Regelentziehung absehen zu können; dies wird aber seltene und besonders zu begründende Ausnahme bleiben 419 . Im übrigen ist der Tatrichter in diesen Fällen nicht nur gehalten, Inhalt, organisatorischen Ablauf und verkehrstherapeutische/-psychologische Kompetenz des Kursleiters im einzelnen darzustellen, sondern — ggf. mit sachkundiger Hilfe eines Sachverständigen oder des als sachverständigen Zeugen zu vernehmenden Kursleiters — Feststellungen auch zu den individuellen Auswirkungen der verkehrstherapeutischen Behandlung zu treffen. "12 Statt vieler: OLG Köln DAR 1982 26 = VRS 61 (1981) 118 = BA 1981 372 und AG Bersenbrück DAR 1982 374 sowie Bode BA 1984 36. 413 OLG Hamburg DAR 1981 122 = VRS 60 (1981) 192 = BA 1981 104 (Berücksichtigung um fünf Monate). "i" Vgl. LG Essen ZfS 1982 63, AG Köln DAR 1989 234 und AG Homburg/Saar VRS 67 (1984) 22 (je ca. sieben Monate) sowie LG Baden-Baden DAR 1981 231, LG Köln ZfS 1980 126 und AG Delmenhorst ZfS 1989 141 (je ca. acht Monate). 4 » LG Kleve DAR 1978 321, LG Krefeld VRS 56 (1979) 283, LG Hanau DAR 1980 25 und LG Hamburg DAR 1983 60 sowie AG Hanau VRS 58 (1980) 137, AG Homburg/Saar DAR 1980 230 (je rund sechs Monate). 416 Vgl. LG Köln ZfS 1980 254 sowie AG Fulda DAR 1980 349 (je ca. fünf Monate), LG Duisburg DAR 1980 349 (viereinhalb Monate), AG Homburg/Saar DAR 1980 252 und DAR 1991 472 und AG St. Ingbert BA 1983 168 (je etwa vier Monate) sowie
417
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schließlich AG Bergisch Gladbach DAR 1980 23, wo die vorläufige Führerscheinmaßnahme nur drei Monate und eine Woche dauerte. Zu Nachschulungskursen für Mehrfachtäter s. Winkler BA 1974 178 und Bode BA 1984 39. Zu verkehrstherapeutischen Maßnahmen individualpsychologischer Art, wie sie für Alkoholkranke erforderlich sind, s. vor allem das sog. Modell „IVT-Hö" (nach Höcher); zu dessen Zielen, Inhalt und therapeutischem Programm im einzelnen sowie zu seiner Wirksamkeit s. denselben in DAR 1985 36 und BA 1992 265. S. insofern mehrfach vor allem LG Köln (ZfS 1982 348, ZfS 1982 158 und ZfS 1981 30) sowie AG Köln ZfS 1981 31, AG Homburg/Saar ZfS 1983 283 und AG Ratingen DAR 1991 156; vgl. auch Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 57 g. Zu einem solchen Ausnahmefall AG Homburg/ Saar BA 1984 187; deutlich strenger LG Köln ZfS 1981 30.
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
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c) Wird bei Verurteilungen nach §§ 315 c Abs. 1 Nr. 1 a und Abs. 3 oder 316 die Fahr- 103 erlaubnis ausnahmsweise nicht entzogen, ist in der Regel ein Fahrverbot anzuordnen (§ 44 Abs. 1 S. 2) 420 . In diesem Fall ist der Richter — anders als bei Anordnung eines Fahrverbotes nach § 44 Abs. 1 S. 1 — nicht gehalten, besonders zu begründen, weshalb zusätzlich zur Hauptstrafe auch ein Fahrverbot erforderlich ist und dieses nicht durch eine verschärfte Hauptstrafe ersetzt werden kann. Die Ermessensbeschränkung des § 44 Abs. 1 S. 2 bezieht sich jedoch nur auf die Anordnung des Fahrverbotes als solche, nicht jedoch auf Dauer und Umfang des Fahrverbotes; letzterenfalls bleibt zu prüfen und besonders darzulegen, für wie lange das Fahrverbot zu verhängen ist und ob es nicht auf bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen beschränkt werden kann. S. hierzu bereits Rdn. 32 bis 40 zu §44. 3. Feststellung der Ungeeignetheit außerhalb des Regelkatalogs. a) Wenn ein Eignungsmangel auf Grund anderer als der im Regelkatalog aufgeführten 104 Tatbestände in Betracht kommt, hat das Gericht zunächst zu prüfen, ob die Tat ihrem Gewicht und ihrer Art nach den in Absatz 2 genannten Taten entspricht 421 . Ist dies der Fall und beweist die abzuurteilende Tat somit ebenso wie die Katalogtaten ein besonders hohes Maß fehlenden Verantwortungsbewußtseins, bedarf es zur Feststellung der Ungeeignetheit ebenfalls nicht der Heranziehung weiterer Umstände (Gesamtpersönlichkeit, bisherige Fahrpraxis, Vorstrafen u. ä.). In diesem Fall hat das erkennende Gericht nur auszuführen, weshalb die abzuurteilende Tat einer Regeltat entspricht, und kann sich ansonsten darauf beschränken zu prüfen, ob ausnahmsweise besondere Umstände in der Tat oder in der Persönlichkeit des Täters die Eignung des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen begründen oder Umstände nach Tatbegehung den Schluß rechtfertigen, daß die Ungeeignetheit zwischenzeitlich wieder beseitigt ist 422 . Erlaubt die Tat nach Art und Gewicht dagegen keinen eindeutigen Schluß auf die 105 Ungeeignetheit des Täters (wovon bei Tatbeständen außerhalb des Regelkatalogs grundsätzlich auszugehen ist), ist eine umfassende Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Täters unter Mitberücksichtigung aller Umstände der konkreten Tat erforderlich 423 ; dies nicht zuletzt deshalb, weil in diesen Fällen vor allem bei einmaliger Fehlleistung lediglich Leichtsinn vorliegen kann, zu deren Ahndung die Denkzettelstrafe des Fahrverbotes (§ 44) ausreichen kann (s. die dortigen Erläuterungen: zum Zusammenspiel bzw. zur Abgrenzung von Fahrverbot und Fahrerlaubnisentzug s. insbesondere Rdn. 16 ff und zur Beschränkung des Ermessens bei Vorliegen eines dortigen Regelfalles Rdn. 34 ff). Seit Einführung des Fahrverbotes (§ 44) im Jahre 1964 sind die obergerichtlichen Anforderungen an den „Ungeeignetheits"-Begriff merklich gestiegen 424 ; manche Entscheidung, die sich zuvor für eine eher extensive Handhabung der strafgerichtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis ausgesprochen hat, ist heute nur noch eingeschränkt verwertbar 425 . Da Nonnzweck der Fahrerlaubnisentziehung die Förderung der Sicherheit des Straßenver420
421
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Dabei ist zu beachten, daß § 44 Abs. 1 S. 2 für alle Fälle der §§ 315 c Abs. 1 Nr. 1 a und 316 (und somit nicht nur für die alkohol-, sondern auch für die sonstige rauschbedingte Fahrunsicherheit) und entgegen insoweit verunglückten Gesetzeswortlautes im übrigen auch für eine Verurteilung wegen Volltrunkenheit (§ 323 a) gilt, sofern sich diese auf eine rauschbedingte Straßenverkehrsgefährdung bzw. Trunkenheitsfahrt bezieht. Weiteres dazu bei Rdn. 34 zu § 44. S. hierzu vor allem Sch./Schröder/Stree 46, Cramer 34 und Kulemeier S. 105.
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In dieser Richtung schon OLG Stuttgart NJW 1954 1657 und OLG Braunschweig DAR 1958 193. OLG Hamm VRS 57 (1979) 186. Zu dieser Entwicklung s. vor allem Kulemeier Fahrverbot und Entzug der Fahrerlaubnis (1991) Fn. 359 auf S. 100. S. insofern vor allem BGH VRS 8 (1955) 289 und VRS 16 (1959) 424 (Fälle rücksichtsloser Vorfahrtsverletzung) und OLG Hamm DAR 1954 63 (überhöhte Geschwindigkeit); vgl. auch OLG Düsseldorf RdK 1955 29.
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
kehrs ist, muß die charakterliche Ungeeignetheit unter hinreichender Berücksichtigung der Gesamtumstände der Tat und der Persönlichkeit des Täters vor allem dort besonders sorgfältig geprüft werden, wo der Charaktermangel aus an sich verkehrsfremden (doch mit der Führung eines Kraftfahrzeuges „zusammenhängenden: dazu bereits Rdn. 32 ff) Straftaten gefolgert wird. Danach ist (nicht nur bei Annahme eines maßregelrelevanten „Zusammenhangs" mit dem Führen von Kraftfahrzeugen, sondern auch) bei Prüfung allgemeiner charakterlicher „Ungeeignetheit" darauf zu achten, daß der Täter sich gerade in seiner Eigenschaft als Kraftfahrer unzuverlässig und damit als künftige Gefahr gerade für andere Verkehrsteilnehmer erwiesen hat 426 ; dies auch, weil der Gesetzgeber sich gerade nicht für einen zwangsweisen Straßenverkehrsausschluß als strafrechtliche Reaktion auf Delinquenz schlechthin entschieden hat 427 . Die Zahl der veröffentlichten Entscheidungen zur (erfolgreichen) Entziehung der Fahrerlaubnis bei „Zusammenhangstaten" ist in den letzten Jahren erkennbar zurückgegangen 428 ; die Praxis der Strafverfolgung hat offenbar (nicht immer klar zu beurteilen, ob über eine engere Auslegung des Begriffs der „Zusammenhangstat" oder über eine zurückhaltendere Bejahung charakterlicher „Ungeeignetheit") zu einer insgesamt deutlich restriktiveren Handhabung gefunden 429 . Diese Entwicklung verdient Zustimmung 430 . 106
b) Kasuistik. Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen ist eine Parallele zum Regelkatalog (Absatz 2) im Bereich der Verkehrsstraftaten im weiteren Sinn nur in engen Grenzen erlaubt; so etwa bei hartnäckiger Mißachtung eines Fahrverbotes (§ 21 Abs. 1 StVG) 431 oder bei verkehrsfremd-verkehrsfeindlichem Einsatz eines Kraftfahrzeuges nach § 315 b 432 . Trotz gewisser Parallelen zu § 142 ist dies für § 145 d (Vortäuschung einer Straftat) jedenfalls dann zu verneinen, wenn die zusätzlichen Voraussetzungen der Verkehrsunfallflucht, wie sie in § 69 Abs. 2 Nr. 3 genannt sind, nicht gegeben sind 433 . Bei fahrlässiger Tötung/Körperverletzung ist für Entzug der Fahrerlaubnis aus maßregelrechtlicher Sicht nicht auf die schwere Folge als solche, sondern auf die besondere Gefährlichkeit abzustellen, die zu der schweren Folge geführt hat; in Anlehnung an den Regelfall des § 315 c Abs. 1 Nr. 2 („sieben Todsünden") wird eine fahrlässige Tötung/Körperverletzung nur dann als dem Gewicht eines Regelfalles entsprechend anzusehen sein, wenn „grobe Verkehrswidrigkeit" oder „Rücksichtslosigkeit" zu der schweren Folge geführt hat 434 . Im Bereich der „Zusammenhangstaten" (dazu bereits Rdn. 32 ff) scheint die Rechtsprechung neuerdings zunehmend bereit zu sein, über zurückhaltendere Bejahung sowohl des „Zusammenhangs mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges" wie auch der 426
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429
Bedenklich Theisinger NStZ 1981 295 (die Entziehung der Fahrerlaubnis habe insbesondere gegenüber der Drogenkriminalität „kriminalistisch wünschenswerte Nebenwirkungen"); dagegen zu Recht Braun NStZ 1982 191. Vgl. BTDrucks. 1/6274, S. 7. Dies gilt vor allem für den Bereich der im Zusammenhang mit einem Kraftfahrzeug begangenen Sexualstraftaten (dazu bereits Rdn. 37 und 43) und für Vermögensdelikte unter Ausnutzung des Besitzes eines Kraftfahrzeuges (dazu bereits Rdn. 40). Zu Recht praktische Bedeutung hat die Entziehung der Fahrerlaubnis insoweit jedoch bei Durchführung illegaler Rauschgiftgeschäfte unter planmäßiger Benutzung eines Kraftfahrzeuges (dazu Rdn. 36) und bei tätlichen Auseinandersetzungen unter Verkehrsteilnehmern (s. Rdn. 39) behalten. Auf dieser Linie nunmehr auch BGH (1 StR 553/ 93) nach Nehm DAR 1994 179.
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Auf dieser Linie früher schon Cramer 31 und MDR 1972 558; in dieser Richtung aus jüngerer Zeit auch Janiszewski 712, Kulemeier S. 100 f und NZV 1993 212, Horn SK 2 und Himmelreich/Hentschel Bd. 1 Rdn. 37 f. OLG Hamm VRS 63 (1982) 347 und OLG Schleswig VM 1966 93; grundsätzlich zustimmend SchJ Schröder/Stree 46 und Cramer 34. Sch./Schröder/Stree 46. Vgl. auch LG Zweibrücken ZfS 1994 386 (Absehen von Entziehung der Fahrerlaubnis in einem Fall, in dem der Täter wegen Zufahrens auf einen Fußgänger nach § 315 b freigesprochen und nur wegen Nötigung verurteilt wurde). OLG Hamm VRS 57 (1979) 184. Vgl. OLG Koblenz VRS 64 (1983) 125 und OLG Zweibrücken VRS 38 (1970) 263; in dieser Richtung offenbar schon BGH DAR 1955 91 = VRS 8 (1955) 289. Vgl. auch Mollenkott BA 1985 298 ff.
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§ 6 9
„Ungeeignetheit" des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen zu einer Eingrenzung der Fahrerlaubnisentziehung zu kommen. Wie bereits erwähnt (Rdn. 105), sind es letztlich nur noch die Fälle der Durchführung verbotener Rauschmittelgeschäfte unter Benutzung eines Kraftfahrzeuges sowie tätliche Auseinandersetzungen unter Kraftfahrern, die ausweislich neuerer Judikatur in der Praxis als so schwerwiegend angesehen werden, daß die charakterliche Zuverlässigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen „in aller Regel" verneint werden muß und nur „unter ganz besonderen Umständen" ausnahmsweise anderes gelten kann 435 . IV. Anordnung, Wirkung und Durchsetzung der Fahrerlaubnisentziehung 1. Die gerichtliche Entscheidung. a) Liegen die Voraussetzungen des § 69 vor, ist die Entziehung der Fahrerlaubnis 107 zwingend vorgeschrieben 436 ; es liegt somit nicht im Ermessen des Richters, ob er die Fahrerlaubnis entzieht oder nur ein Fahrverbot verhängt 437 . Dies gilt auch dann, wenn das Gericht zusätzlich zur Maßregel des § 69 auch Sicherungsverwahrung oder eine andere freiheitsentziehende Maßregel/Maßnahme gegen den Angeklagten anordnet (dazu schon Rdn. 62) 438 oder ein anderes Entziehungsverfahren gegen den Angeklagten anhängig ist 439 . Mit Rücksicht auf die weiterreichenden Folgen einer Fahrerlaubnisentziehung kann auch der Ablauf der (vorgesehenen) Sperrfrist während der Haftzeit kein zulässiger Grund sein, von der Maßregel des § 69 abzusehen 440 . Hat das erkennende Gericht die Ungeeignetheit des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen bejaht, darf die Entziehung der Fahrerlaubnis auch nicht durch eine Bewährungsauflage ersetzt werden 441 . Die gleichzeitige Anordnung eines Fahrverbotes (§ 44), zu der es jedoch nur in seltenen Ausnahmefällen kommen wird (dazu bereits Rdn. 18 zu §44), steht der Entziehung der Fahrerlaubnis ebensowenig entgegen wie die Bewilligung von Strafaussetzung zur Bewährung; insoweit bedarf es jedoch besonderer Begründung, weshalb der Täter trotz (i. S. von § 56) günstiger Prognose (§ 56) noch „ungeeignet" ist (dazu bereits Rdn. 18 und 60). Die Entziehung der Fahrerlaubnis „zur Bewährung" auszusetzen ist nach geltender Gesetzeslage ausgeschlossen 442 ; zu diesbezüglichen Forderungen de lege ferenda s. Rdn. 13. Die Entziehung einer Fahrerlaubnis setzt das Vorhandensein einer Fahrerlaubnis 108 voraus; das erkennende Gericht hat demzufolge stets festzustellen, ob der Angeklagte eine — von einer deutschen Behörde erteilte (zu ausländischen Fahrausweisen s. die Erläuterungen zu § 69 b) — Fahrerlaubnis besitzt 443 . Hat der Täter eine Fahrerlaubnis noch nie besessen oder wurde sie ihm bereits anderweit (d. h. im Verwaltungsweg 444 oder durch einen anderen Strafrichter 445 ) in rechtskräftiger Weise entzogen (und ist sie zwischenzeitlich auch nicht wieder neu erteilt worden), kommt eine Entziehung der Fahrerlaubnis nicht in Betracht; in diesen Fällen bleibt es nach § 69 a Abs. I S. 3 bei der Festsetzung einer isolierten Sperrfrist (dazu und besonders zur Frage einer Anschlußsperrfrist s. Rdn. 2 ff zu § 69 a) 446 . Hat der Angeklagte den Führerschein nur verloren oder verlegt (und ist ihm 435
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BGH NStZ 1992 586 = NZV 1993 35; ebenso BGH VRS 81 (1991) 369 und OLG Düsseldorf NZV 1992 331. Dies auch dann, wenn die Fahrerlaubnis erst nach der Tat erlangt ist: so wegen § 4 Abs. 2 und 3 StVG (Vorrang des Straf- vor dem Verwaltungsverfahren) zutreffend BGH (2.6.87 - 4 StR 253/87), zitiert nach Janiszewski NStZ 1987 546 und Spiegel DAR 1988 227. Statt vieler BGHSt. 5 176, 6 185 und 7 165. BGH VRS 30 (1966) 274 = VM 1966 34. Dreher/Trändle 16 und Cramer 50.
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BGH (8.1.87 - 1 StR 674/886): nach Spiegel DAR 1988 227. Verfehlt AG Berlin-Tiergarten DAR 1971 21. Vgl. auch Henischel ZRP 1975 209. OLG Karlsruhe VRS 59 (1980) 111. Vgl. BGH bei Daliinger MDR 1954 16 und BayObLG NJW 1963 359. BGHSt. 6 398 = NJW 1955 70. Ebenso Vorauflage 56: verfehlt OLG Bremen VRS 51 (1976) 278 (dagegen zu Recht Hentschel DAR 1977 212).
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
auch keine Ersatzausfertigung ausgehändigt worden), bleibt es bei der Entziehung der Fahrerlaubnis und der Einziehung des Führerscheins im Urteil (§ 69 Abs. 3 S. 2) 447 . Auch die in einem anderen Verfahren erfolgte Beschlagnahme oder Sicherstellung des Führerscheins steht der Entziehung der Fahrerlaubnis (und der Einziehung des Führerscheins: dazu Rdn. 120) nicht entgegen. 109
Hat das Gericht nur eine Sperrfrist festgesetzt, die Fahrerlaubnisentziehung auszusprechen aber irrtümlich unterlassen, kann die Sperre als (neben der Fahrerlaubnisentziehung selbständige und von dieser grundsätzlich) unabhängige Maßnahme bestehen bleiben. Die festgesetzte Sperre gilt aber nur für die Erteilung einer künftigen Fahrerlaubnis, läßt die bestehende somit unberührt 448 ; folglich kann der Täter mit der ihm belassenen Fahrerlaubnis weiterhin straffrei Kraftfahrzeuge der entsprechenden Klasse führen. Wurde nur die Fahrerlaubnis entzogen und die Festsetzung einer Sperrfrist übersehen, ist der Verwaltungsbehörde (theoretisch) nicht verwehrt, sofort eine neue Fahrerlaubnis zu erteilen; da insoweit eine für sie verbindliche gerichtliche Entscheidung fehlt, kann sie nicht von der jeweils gesetzlich vorgegebenen Mindestsperrfrist ausgehen. Hat der Tatrichter die Festsetzung einer Sperre ausweislich der schriftlichen Urteilsgründe bewußt unterlassen (etwa mit der Begründung, die frühere Ungeeignetheit des Angeklagten sei auf Grund vorläufiger Führerscheinmaßnahmen zwischenzeitlich beseitigt), mag dies zwar de lege ferenda erwägenswert sein 449 , ist nach geltender Gesetzeslage jedoch rechtsfehlerhaft 450 und führt auf Rechtsmittel des Angeklagten zur Aufhebung auch des Ausspruchs über die Fahrerlaubnisentziehung 451 . Zur Frage, wann in den genannten Konstellationen das Verschlechterungsverbot (§§ 331 und 358 Abs. 2 StPO) einer Korrektur der fehlerhaften Entscheidung entgegensteht, s. nachfolgend Rdn. 243 ff.
110
b) Auch wenn die Fassung der Urteilsformel dem Ermessen des Gerichts obliegt (§ 260 Abs. 4 S. 5 StPO), empfiehlt es sich, der gesetzestechnisehen Dreiteilung der Maßregel auch bei Formulierung der Urteilsformel zu folgen. Von hier aus hat das Urteil zunächst die Entziehung der Fahrerlaubnis als solche auszusprechen (§ 69 Abs. 1 S. 1 und Abs. 3 S. 1). Die mögliche Befristung bezieht sich ausschließlich auf die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis; daher hat die Entscheidung entweder eine (Sperr-)Frist zu bestimmen, vor deren Ablauf die Verwaltungsbehörde dem Verurteilten keine neue Fahrerlaubnis erteilen darf (§ 69 a Abs. 1 S. 1), oder die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis für immer zu untersagen (§ 69 a Abs. 1 S. 2). Einer kalendermäßigen Festsetzung des Fristbeginns im Urteil bedarf es nicht, weil die Sperre (erst) „mit der Rechtskraft des Urteils" beginnt (§ 69 a Abs. 5 S. 1) und dieser Termin dem Tatrichter naturgemäß noch unbekannt ist. Schließlich hat der Urteilsspruch die Einziehung des (von einer deutschen Behörde ausgestellten) Führerscheins zu enthalten (§ 69 Abs. 3 S. 2). Demzufolge hat sich in der Praxis folgende Urteilsformel durchgesetzt 452 :
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449
OLG Köln VRS 26 (1964) 199 = VM 1964 12. OLG Braunschweig NdsRpfl 1961 230; OLG Karlsruhe VRS 59 (1980) 111. Wenn — wie häufig vor allem im Berufungsrechtszug — von einer endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis wegen zwischenzeitlich beseitigter „Ungeeignetheit" abgesehen wird, hat dies für den Angeklagten erhebliche Vorteile (ζ. B. Entlastung vom ggf. mühevollen Weg der Neuerteilung durch die Verwaltung; kein Eintrag im Bundeszentralregister; im Wiederholungsfall keine Sperr-Rahmenverschärfung nach § 69 a Abs. 3); näher dazu Geppert ZRP 1981 89 f. Die Forderung, den Richter in
derartigen Fällen lediglich die Entziehung der Fahrerlaubnis aussprechen zu lassen, hingegen auf die Festsetzung einer Sperrfrist zu verzichten (so Werner DAR 1976 10, Hruby NJW 1979 855, Schmid DAR 1968 8 und Gollner GA 1975 147), ist mit der geltenden Gesetzeslage jedoch unvereinbar (ebenso R.Peters DAR 1978 186, Hentschel DAR 1976 292 sowie Brockeil und Mollenkott, 18. Verkehrsgerichtstag 1980, S. 288 und S. 299). 450 Ebenso OLG Düsseldorf MDR 1979 602. « i Ebenso BayObLG (6.6.1972 - 1 St. 74/72). «2 Vgl. BGHSt. 5 177 und BGH (1.2.1966 - 5 StR 506/65): nach Martin DAR 1967 96.
Stand; 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§ 6 9
„Dem Angeklagten wird die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen entzogen. Der ihm von... am... ausgestellte Führerschein wird eingezogen. Dem Angeklagten darf für die Dauer von... keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden." Zu weiteren Tenorierungsfragen s. nachfolgend Rdn. 135 (bei vorläufiger Entziehung der Fahrerlaubnis), je zu § 69 a Rdn. 13 (zu Ausnahmen von der Sperre nach § 69 a Abs. 2), Rdn. 61 f und 67 f (bei nachträglicher Gesamtstrafenbildung), Rdn. 78 (hinsichtlich der Einrechnungsregelung von § 69 a Abs. 5 S. 2) und Rdn. 90 (bei vorzeitigem Aufhebungsbeschluß) sowie Rdn. 14 zu § 69 b (bei Entziehung ausländischer Fahrberechtigungen). Zu Möglichkeiten der Urteilsberichtigung s. nachfolgend Rdn. 231. c) Begründung der Entscheidung (§ 267 Abs. 6 StPO). Wie bei jeder Maßregel muß 111 auch im Fall des § 69 in den Gründen der Entscheidung ausgeführt sein, weshalb die Maßregel angeordnet oder entgegen einem in der Verhandlung gestellten Antrag nicht angeordnet worden ist (Satz 1 von § 267 Abs. 6 StPO) 453 . Formelhafte Wendungen ohne Bezug zu den Besonderheiten des Falles genügen ebensowenig wie bloße Wiederholungen des Gesetzeswortlautes 454 ; insbesondere müssen die Entscheidungsgründe erkennen lassen, daß die Ungeeignetheit des Angeklagten im Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung noch bestanden hat 455 . Die Gründe dürfen nicht in unvereinbarem Widerspruch zu den Strafzumessungsgründen oder zur Begründung sonstiger Rechtsfolgen stehen 456 ; zur Entziehung der Fahrerlaubnis bei gleichzeitiger Strafaussetzung zur Bewährung s. bereits Rdn. 18 und 60. Im übrigen ist zu unterscheiden: (1) Sind in den Fällen des § 69 Abs. 2 (Regelkatalog) keine Gründe ersichtlich, die eine Ausnahme von der Regel rechtfertigen könnten, kann sich das Gericht darauf beschränken, summarisch darzutun, in welcher Weise die Voraussetzungen des Regelfalles gegeben sind 457 ; das Gericht muß jedoch erkennen lassen, daß es ihm bewußt war, bei möglichen Ausnahmen abweichend vom Regelfall von der Entziehung der Fahrerlaubnis absehen zu dürfen 458 . (2) Wenn das Gericht trotz der gesetzlichen Vermutung des Abs. 2 von einer Fahrerlaubnisentziehung absieht, muß es begründen, weshalb es den Angeklagten trotz der Indiztat weiterhin zum Führen von Kraftfahrzeugen im Verkehr für geeignet hält 459 . (3) Außerhalb des Regelkatalogs bedarf es einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Gesamtwürdigung aller Umstände, die nach den Feststellungen zur Tat und zur Persönlichkeit des Angeklagten für und gegen die Eignung sprechen (dazu schon Rdn. 87 ff). Diesbezügliche Fehler und Lücken der Urteilsbegründung sind sachlichrechtlicher Art und führen auf die allgemeine Sachrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen Rechtsfolgenausspruchs 460 . Begründungspflicht bei Nichtentziehung. Wenn die Fahrerlaubnis nicht entzogen 112 oder eine Sperre nach § 69 a Abs. 1 S. 3 nicht angeordnet worden ist, „obwohl dies nach der Art der Straftat in Betracht kam", müssen die Urteilsgründe ergeben, weshalb es zu Außer im Fall des § 409 Abs. 1 S. 3 StPO (dazu nachfolgend Rdn. 112) ist eine Begründung des Rechtsfolgenausspruchs bei Entziehung der Fahrerlaubnis durch Strafbefehl (bei dem die Sperrfrist jedoch nicht mehr als zwei Jahre betragen darf: § 4 0 7 Abs. 2 Nr. 2 StPO) zwar gesetzlich nicht zwingend vorgeschrieben, wohl aber zulässig i Kleinknecht/M eye r-Goßner 7 zu § 409 StPO). 454 BGH VRS 7 (1954) 359 = DAR 1954 282; BGH VRS 8 (1955) 289 = DAR 1955 91; KG DAR 1957 102; OLG Hamm DAR 195 9 2 1 2 . « 5 BGH VRS 45 (1973) 177. 456 BGH (13.12.59 - 4 StR 446/58); nach Bode DAR 1960 70. 4 5' OLG Zweibrücken VRS 54 (1978) 115; OLG (65)
Braunschweig NdsRpfl 1969 214; OLG Köln MDR 1966 690 = DAR 1966 271; vgl. auch Warda MDR 1965 3 sowie Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 58. 458 OLG Düsseldorf VRS 74 (1988) 259 und JMBI NW 1986 11; OLG Koblenz VRS 71 (1986) 280; OLG Köln MDR 1966 690 = DAR 1966 271; OLG Hamm VRS 52 (1977) 24; OLG Frankfurt VM 1977 30; vgl. auch Sch./Schröder/Stree 32 und JaniszeKskil\9. 459 OLG Koblenz VRS 71 (1986) 280 und KG VRS 60 (1981) 109. Zu den Begründungserfordemissen im Falle der §§ 69 und 69 a s. auch Schreiner DAR 1978 271 f. 460 OLG Koblenz VRS 71 (1986) 280.
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
dieser Entscheidung gekommen ist (§ 267 Abs. 6 S. 2 StPO); dies gilt auch für Strafbefehle (§ 409 Abs. 1 S. 3 StPO). Die Begründungspflicht hat den Zweck, den (nach § 4 Abs. 3 StVG hinsichtlich des gleichen Sachverhaltes an die Beurteilung der Eignungsfrage durch das erkennende Gericht gebundenen) Verwaltungsbehörden hinreichende Klarheit über den Umfang der Bindungswirkung zu verschaffen 461 . Der Begründungszwang des § 267 Abs. 6 S. 2 StPO betrifft im übrigen nicht nur die Ausnahmen von der Regel des § 69 Abs. 2, sondern alle Fälle, in denen die Tat „bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers" begangen worden ist 462 . Das Fehlen der gesetzlich vorgeschriebenen Begründung führt auf die allgemeine Sachrüge hin zur Aufhebung des die Maßregel betreffenden Teils des Rechtsfolgenausspruchs 463 . Wird eine nur lückenhaft begründete Entscheidung des erkennenden Gerichts rechtskräftig, ist es der insoweit nicht gebundenen Verwaltungsbehörde nicht verwehrt, die Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 1 StVG zu entziehen 464 . 2. Wirkung der Entziehung. 113
a) Die Fahrerlaubnis wird für immer und in vollem Umfang entzogen. Vereinzelte frühere Versuche, neben der „totalen" auch eine umfang- oder zeitmäßig „beschränkte" Entziehung der Fahrerlaubnis zu entwickeln 465 , konnten sich nicht durchsetzen. Sie widersprechen dem Gesetz 466 ; denn nach § 69 Abs. 1 S. 1 ist die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn (und nicht: soweit) die Ungeeignetheit des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen festgestellt ist. Zum andern widerspräche eine nur teilweise Entziehung der Fahrerlaubnis dem (durch das 2. StraßenVSichG eingeführten) neuen § 69 a Abs. 2, wonach dem Gericht lediglich gestattet ist, unter näher genannten Voraussetzungen (dazu Rdn. 7 ff zu § 69 a) von einer mit der (zu ergänzen: in vollem Umfang entzogenen) Entziehung der Fahrerlaubnis verbundenen Sperre für die Neuerteilung durch die Verwaltungsbehörde bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen auszunehmen. Wie aus der Amtl. Begründung ersichtlich, hat sich der Gesetzgeber für die Konzeption der unbeschränkten Entziehung der Fahrerlaubnis zwecks Einheitlichkeit des straf- und des verwaltungsrechtlichen Entziehungsverfahrens, d. h. nicht zuletzt deshalb entschieden, um den mit der Maßregel verfolgten Sicherungszweck nicht zu gefährden 467 . Die Beurteilung einer nur bedingten Eignung des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen kann zudem eine eingehende medizinische, psychiatrisch-psychologische, charakterologische oder fahrtechnische Begutachtung erforderlich machen, auf die das unter geringerem Zeitdruck stehende behördliche Verfahren zur Neuerteilung der Fahrerlaubnis angesichts der Möglichkeiten 461
Näher dazu Warda MDR 1965 6 und Lackner JZ 1965 125. 462 OLG Hamm VRS 43 (1972) 21; ebenso Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 65. 4 « OLG Düsseldorf OLGSt § 69 StGB Nr. 1 = VRS 66(1984) 360. 464 Eine Anfechtung des Urteils ausschließlich zum Zweck, diesen Mangel in den Urteils gründen zu beheben, ist dem Angeklagten verwehrt. Insoweit fehlt es an der für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels erforderlichen Beschwer, die sich nach h. M./ Rechtsprechung aus dem Entscheidungstenor und nicht nur aus den Urteilsgründen ergeben muß (BGHSt. 16 374); ebenso Himmelreich/Hentschel Bd. 1 Rdn. 67. Zur Bindungswirkung (nur) der schriftlichen Entscheidungsgründe s. OVG Münster VRS 12(1957) 309.
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Vgl. etwa OLG Celle NJW 1954 1170 = DAR 1954 161, LG Mönchengladbach DAR 1953 158 und LG Gießen NJW 1954 612 sowie Händel NJW 1954 139 und Härtung JZ 1954 137. 466 So grundlegend BGHSt. 6 183; vgl. auch BGH VM 1957 39, NStZ 1983 168 sowie NJW 1983 1744. S. ferner OLG Karlsruhe VRS 63 (1982) 200, OLG Hamm NJW 1971 1193, OLG Celle NJW 1961 133 und OLG Köln NJW 1960 2255 sowie Cramer 51 bis 54, SchJSchröder/Stree 58, Horn SK 21, Lackner 11 sowie Dreher/Tröndle 16: je mit weiteren Nachweisen. 4 7 Vgl. BTDrucks. IV/651, S. 19: insofern völlig auf der Linie von BGHSt. 6 183.
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§69
der §§ 9 und 12 StVZO insgesamt besser geeignet erscheint als das Strafverfahren. Ungeachtet dessen sollte der Strafrichter in den Urteilsgründen auf die möglicherweise nur partielle Ungeeignetheit 468 des Verurteilten hinweisen, damit die Verwaltung bei Neuerteilung der Fahrerlaubnis ggf. von den Möglichkeiten des § 12 StVZO (beschränkte Fahrerlaubnis, zeitliche Begrenzungen in Form von Auflagen u. ä.) Gebrauch machen kann 469 . Entzug der Fahrerlaubnis nur für eine bestimmte Dauer ist demzufolge ebenso 114 unzulässig wie eine auf bestimmte Fahrzeugarten, bestimmte Tages-, Wochen- oder Jahreszeiten 470 , bestimmte Fahrzwecke (etwa Berufs- oder Privatverkehr) oder bestimmte räumliche Gebiete beschränkte Teilentziehung der Fahrerlaubnis. Hat das Gericht in seinem Rechtsfolgenausspruch (rechtsfehlerhafterweise) gleichwohl bestimmte Kraftfahrzeugarten von der Entziehung der Fahrerlaubnis ausgenommen, kann dies nicht in eine unbeschränkte Entziehung mit entsprechenden Ausnahmen von der Sperre umgedeutet werden; die für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis (allein) zuständige Verkehrsbehörde kann nicht gezwungen werden, dem Verurteilten ohne eigene Prüfung sofort eine neue Fahrerlaubnis mit dem von der Sperre ausgenommenen Inhalt erteilen zu müssen (zu Aspekten des Verschlechterungsverbotes s. nachfolgend Rdn. 243 ff) 471 . Ungeachtet dessen entfaltet auch eine teilweise Fahrerlaubnisentziehung die Bindungswirkung des § 4 Abs. 3 S. 1 StVG; eine solche Teilentziehung widerspricht zwar dem Gesetz, macht das Urteil aber nicht nichtig 472 . b) Die Fahrerlaubnis erlischt kraft Gesetzes (in vollem Umfang) mit Rechtskraft 115 des Urteils (§ 69 Abs. 3 S. 1) bzw. der ihr gleichgestellten Entscheidungen. Bei Entscheidungen, die außerhalb der Hauptverhandlung ergehen (ζ. B. Beschlußverwerfung nach § 349 Abs. 2 StPO), ist dies der Erlaß des Beschlusses mit Außenwirkung, was nach herrschender (doch nicht unbestrittener) Ansicht nicht erst der Zeitpunkt der Zustellung, sondern bereits der Tag ist, an dem die Entscheidung den räumlichen Bereich des Gerichts verlassen hat und damit unabänderlich geworden ist 473 . Erfaßt ist jede Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen (§ 2 StVG) 474 , die der Angeklagte besitzt, also grundsätzlich auch ausländische Fahrerlaubnisse; solange dem Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis im Inland entweder die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen worden ist oder auf Grund einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Entscheidung 475 keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden darf, umfaßt die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 2 Nr. b der VO 468
Weiterführend Stephan DAR 1989 1 ff und 125 ff („Bedingte Eignung, eine Chance für die Verkehrssicherheit und den alkoholauffälligen Kraftfahrer") sowie Bode DAR 1989 444 ff („Bedingte Fahreignung und Fahrerlaubnis"). 469 Näher dazu Himmelreich/Hentschel Bd. II Rdn. 327 und Jagusch/Hentschel 9 zu § 12 StVZO. 4 ™ Gegen AG Gießen NJW 1954 612 (Fahrerlaubnisentziehung nur für die Dauer einer alljährlich wiederkehrenden allergischen Gesundheitsbeeinträchtigung eines Kraftfahrers) zu Recht Booß NJW 1954 612. 471 BGH NStZ 1983 168; ebenso Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 69. VG Frankfurt a. M. VRS 81 (1991) 64. 471 Kleinknecht/Meyer-Goßner 9 vor § 33 und KKMaul 4 zu § 33 StPO: je mit weiteren Nachweisen. 474 Die Mofa-Prüfbescheinigung nach § 4 a Abs. 1 S. 1 StVZO (dazu bereits Rdn. 22) ist in diesem Sinn ebensowenig eine Fahrerlaubnis wie der Sportbootführerschein, der gemäß § 8 VO über die Eignung und Befähigung zum Führen von (67)
Sportbooten auf den Seeschiffahrtsstraßen vom 20.12.1973 (BGBl. I 1988), zuletzt geändert durch die 1. ÄndVO vom 21.3.1983 (BGBl. I 314), nur durch die zuständige Wasser- und Schiffahrtsftehörde entzogen werden kann. Gleiches gilt für die diversen Binnenschifferpatente; auch diese können nicht strafgerichtlich, sondern nur im Wege des Widerrufs durch die zuständigen Wasser- und Schiffahrtsämter entzogen werden: vgl. § 26 VO über Befähigungszeugnisse in der Binnenschifffahrt (Binnenschifferpatentverordnung — BinSchPatentV) vom 7.12.1981 (BGBl. I 1333). 475
Die Ausschlußregelung erfaßt nicht den Fall der behördlichen Fahrerlaubnisentziehung (§ 4 StVG); diese steht der Vergünstigung aus § 4 Abs. 1 IntVO nicht entgegen, wenn § 4 Abs. 2 Nr. a nicht erfüllt ist und die Verkehrsbehörde die Vergünstigung nicht nach § 11 Abs. 2 ausgeschlossen hat: OLG Köln VRS 67 (1984) 239 (zustimmend Janiszewski NStZ 1984 544). Ebenso Mühlhaus/Janiszewski 19 zu § 2 StVG; a.A. Slapmcar NJW 1985 2861.
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
über den internationalen Kraftfahrzeugverkehr (IntVO) in ihrer Neufassung vom 23. Dez. 1982 (BGBl. I 1533) zugleich das Verbot, von einer etwa vorhandenen oder erst nach der strafgerichtlichen Entscheidung erworbenen ausländischen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen 476 . Gleiches gilt ausweislich der — durch Art. 4 der 22. VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 14. Febr. 1996 (BGBl. I 216) — neu eingeführten Nr. c von § 4 Abs. 2 IntVO, wenn dem Inhaber einer ausländischen Fahrberechtigung diese im Inland von einer Verwaltungsbehörde sofort vollziehbar oder bestandskräftig entzogen oder die Erteilung einer Fahrerlaubnis bestandskräftig versagt worden oder die Entziehung nur deshalb nicht erfolgt ist, weil zwischenzeitlich auf die Fahrerlaubnis verzichtet wurde. Zur Entziehung ausländischer Fahrerlaubnisse s. ansonsten die Erläuterungen zu § 69 b; zu Besonderheiten von Fahrerlaubnissen, die von Behörden der ehemaligen DDR erteilt wurden, s. Rdn. 9 zu § 69 b. 116
Mit der Entziehung der allgemeinen Fahrerlaubnis erlöschen auch alle dem Täter erteilten Sonderfahrerlaubnisse, wie sie nach § 14 StVZO etwa bei der Bundeswehr, bei Bundesbahn oder Bundespost, bei Bundesgrenzschutz oder bei der Polizei für die Dauer des Dienstverhältnisses erteilt werden können 477 . Gleiches gilt für die Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung (§§ 15 d ff StVZO); mit der (auch insoweit unteilbaren) Entziehung der allgemeinen Fahrerlaubnis erlischt auch die Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung 478 . Die Entziehung nur der Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung ohne gleichzeitigen Entzug der allgemeinen Fahrerlaubnis ist dem Strafgericht nicht gestattet; eine solche Maßnahme obliegt allein der Verkehrsbehörde (vgl. § 15 k Abs. 1 S. 1 StVZO und Umkehrschluß aus § 4 Abs. 2 S. 2 StVG).
117
Ist die Fahrerlaubnis erloschen, lebt sie nach Ablauf oder vorzeitiger Abkürzung der Sperrfrist nicht wieder auf 479 ; wie aus § 15 c Abs. 1 StVZO folgt, bedarf es hierzu einer neuen Fahrerlaubnis, die beantragt werden muß und deren Wiedererteilung (§§ 2 ff StVG, 4 ff StVZO) davon abhängt, daß die in § 15 c Abs. 2 und 3 StVZO genannten Voraussetzungen erfüllt sind 480 . Hat die Verkehrsbehörde in Unkenntnis einer noch laufenden Sperrfrist eine neue Fahrerlaubnis erteilt, ist der darin liegende Verwaltungsakt zwar fehlerhaft, jedoch nicht nichtig; die irrtümlich erteilte Fahrerlaubnis ist bis zu ihrer Rücknahme gültig, so daß der Inhaber einer solchen Fahrerlaubnis sich nicht nach § 21 StVG strafbar machen kann 481 . Wird ein rechtskräftiges Urteil, das die Fahrerlaubnis entzogen hat, im Wiederaufnahmeverfahren (rechtskräftig) aufgehoben, ist der Verurteilte nach BayObLG (NJW 1992 1120 = NStZ 1992 42) so zu behandeln, wie wenn ihm die Fahrerlaubnis nie entzogen worden wäre; das habe zur Folge, daß der zu Unrecht Verurteilte rückwirkend auch nicht wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG) bestraft werden könne, wenn er in der Zeit zwischen Rechtskraft des Urteils und dessen rechtskräftiger Aufhebung im Wiederaufnahmeverfahren 482 ein Kraftfahrzeug geführt hat, 476
In diesem Sinn bereits vor Einführung von § 4 Abs. 2 IntVO n.F. OLG Hamm VRS 55 (1978) 344 = NJW 1978 1757; gegenteiliger Ansicht OLG Hamburg (1 Ss 36/82): nach Janiszewski NStZ 1982 504 (ablehnend). 477 BayObLG NZV 1990 364; vgl. auch Eben VD 1985 106. 47 8 So bereits BGHSt. 6 183; ebenso BGH (4 StR 526/ 70) VRS 40 (1971) 263, BGH (2 StR 754/81) nach Holtz MDR 1982 623 sowie OLG Stuttgart VRS 50 (1976) 28. 479 Unbestritten: statt vieler OLG Frankfurt NJW 1973 1335 und VGH Mannheim NZV 1992 87. 480 Gleiches gilt bei Begnadigung; ein Gnadenerweis
kann die erloschene Fahrerlaubnis nicht rückwirkend wieder zur Geltung bringen, sondern nur die Sperre beseitigen, die einer Neuerteilung im Wege steht; ebenso Jagusch/Hentschel 25. « i OLG Hamm VRS 26 (1964) 345; ebenso Jagusch/ Hentschel 25. 482 Anders ist die Rechtslage in der Zeit zwischen Rechtskraft des Urteils und Wirksamwerden des Beschlusses nach § 370 Abs. 2 StPO; weil der endgültige Ausgang des Wiederaufnahmeverfahrens hier noch offen ist, beseitigt dieser Beschluß die Wirkung des rechtskräftigen Urteils lediglich für die Zukunft (BayObLG NJW 1992 1120).
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§ 6 9
das er auf Grund dieser Fahrerlaubnis führen durfte. Dem ist zu widersprechen: Die im Schrifttum überwiegend mit Zustimmung aufgenommene Entscheidung 483 verkennt, daß die frühere Fahrerlaubnis mit ihrer rechtskräftigen Entziehung endgültig erloschen ist und nach der Systematik des Gesetzes nur durch die Verwaltungsbehörde neu erteilt werden kann. Sie lebt auch dann nicht wieder auf, wenn das die Fahrerlaubnis entziehende Urteil im Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben wird; zum Ausgleich für zu Unrecht auferlegte strafrechtliche Rechtsfolgen sieht das StrEG (nur) entsprechende Entschädigungen vor. Zudem handelt es sich bei der Verurteilung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis nicht um eine direkte Folgewirkung des später aufgehobenen Urteils, sondern um neues Unrecht des Verurteilten, der bewußt gegen ein (damals) rechtskräftiges Urteil verstoßen hat, das aus Rechtssicherheitsgründen bis zu seiner Aufhebung in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu respektieren ist 484 . Die Fahrerlaubnis bleibt nach Abs. 3 S. 1 mit Rechtskraft des die Entziehung aussprechenden Urteils auch dann erloschen, wenn ein späteres Urteil die Maßnahme in Anwendung von § 55 Abs. 2 zwar nicht ausdrücklich im Tenor der neuen Entscheidung aufrechterhält, in den Gründen aber hinreichend deutlich zum Ausdruck bringt, daß insoweit nicht in die Rechtskraft des früheren Urteils eingegriffen werden sollte 485 ; s. dazu auch Rdn. 60 ff zu § 69 a. c) Zur Bindung der Verwaltung im Wiedererteilungsverfahren. Ob die Verkehrs- 118 behörde in entsprechender Anwendung des § 4 Abs. 3 StVG (Bindung der Verwaltung danach an sich nur für die Entziehung der Fahrerlaubnis) auch bei Neuerteilung der Fahrerlaubnis nach Ablauf der Sperrfrist an die Beurteilung des Strafrichters gebunden ist, ist umstritten 486 : (1) Die in Rechtsprechung und Schrifttum herrschende Ansicht geht davon aus, daß die Verwaltungsbehörde in der Beurteilung der Eignungsfrage grundsätzlich frei ist und unabhängig von der früheren strafgerichtlichen Entscheidung völlig selbstverantwortlich zu prüfen hat, ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer Fahrerlaubnis im Zeitpunkt ihrer Entscheidung vorliegen, d. h. ob nach Ablauf der Sperrfrist die erforderliche Eignung nunmehr wieder vorhanden ist 487 ; da der Strafrichter wegen seiner auf die Tat (§ 69 Abs. 1: „wenn sich aus der Tat ergibt...") und auf den Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidungsfindung beschränkten Prüfung nicht in der Lage und auch nicht gehalten sei, Feststellungen hinsichtlich der Eignung nach Ablauf der Sperrfrist zu treffen, könne seine Beurteilung auch nicht in das allein der Verwaltung obliegende Ertei483
Zustimmung vor allem bei Asper NStZ 1994 171 (gegen Groß NStZ 1993 221; s. auch die Entgegnung von Groß in NStZ 1994 173); ebenso Dreher/ Tröndle 18 zu § 69, Jagusch/Hentschel 6 zu § 21 StVG und Janiszewski 622. 484 Wie hier Groß NStZ 1993 221 und 1994 173 (hier gegen Asper NStZ 1994 171). 485 BayVGH NZV 1995 205 = VRS 88 (1995) 269. 48 6 Weiterführende Literatur: Beine Zur Problematik der Entziehung der Fahrerlaubnis für die Führung von Kraftfahrzeugen durch die Gerichte und der Wiedererteilung der Fahrerlaubnis durch die Verwaltungsbehörden, Festschrift Richard Lange (1976) S. 839 (845 ffl; Czermak Versagung und Entziehung der Kraftfahrerlaubnis durch die Verwaltungsbehörde wegen charakterlicher Ungeeignetheit, NJW 1963 1225; Friedrich Erteilung einer Fahrerlaubnis nach Ablauf der Sperrfrist, DVB1 1957 523; Krieger Die Bindung der Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichte durch den Strafrichter bei Entscheidungen über die Fahrerlaubnis, DAR 1963 7; Martens Verweigerung der (69)
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Fahrerlaubnis nach Ablauf der Sperrfrist?, NJW 1963 139; Schmid Die Neuerteilung der Fahrerlaubnis nach Ablauf der strafgerichtlichen Sperrfrist, DAR 1968 1; Theuerkauf Erteilung der Fahrerlaubnis nach Ablauf der Sperrfrist, DÖV 1964 446. Für die Rechtsprechung s. insofern BVerfGE 20 365 (krit. Rupp NJW 1968 147), BVerwG NJW 1964 608 = VRS 26 (1964) 229 = DÖV 1964 203 = MDR 1964 351, NJW 1964 1686 und NJW 1987 2246, BGHSt. 15 399 = DAR 1961 199, OVG Münster NJW 1956 966 = VRS 11 (1956) 75, KG VM 1957 41, OVG Bremen DÖV 1963 621 und VRS 70 (1986) 307, VGH Kassel NJW 1965 125, BayObLG DAR 1970 78 sowie OVG Hamburg und OVG Lüneburg: je nach Krieger DAR 1963 11. Für das Schrifttum s. Beine R.Lange-Festschrift S. 845 ff, Härtung NJW 1965 88, Krieger DAR 1963 11, Kulemeier S. 144, Mogele ZRP 1982 102; Schendel Doppelkompetenz S. 51 (insb. S. 56 ff), Sch./Schröder/Stree 2 zu § 69 a sowie Theuerkauf DÖV 1964 447.
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. R e c h t s f o l g e n der Tat
lungsverfahren hineinwirken. (2) Demgegenüber will eine andere Auffassung der strafrichterlichen Beurteilung durch analoge Anwendung von § 4 Abs. 3 StVG auch für das Wiedererteilungsverfahren nach abgelaufener Sperrfrist den Vorrang einräumen 488 : Die Versagung der Neuerteilung komme einer nachträglichen Verlängerung der Sperrfrist gleich und bedeute demzufolge eine unzulässige Urteilskorrektur. Zudem sei es Sinn und Zweck des § 4 Abs. 3 StVG, im Hinblick auf die bei Entziehung der Fahrerlaubnis gesetzlich bewußt beibehaltene Doppelkompetenz von Strafgericht und Verwaltung aufwendige und unökonomische Doppelprüfungen und widersprüchliche Entscheidungen möglichst zu vermeiden 489 , was gleichermaßen für das Entziehungs- wie für das Wiedererteilungsverfahren richtig sei. (3) Eine vermittelnde Ansicht schließlich bejaht eine Bindungswirkung nach Vorbild des § 4 Abs. 3 StVG zwar nicht generell, wohl aber bei nachträglicher Abkürzung der Sperrfrist 490 : Die nach § 69 a Abs. 7 zulässige nachträgliche Entscheidung des Gerichts hebe nicht nur das frühere Verbot der Wiedererteilung der Fahrerlaubnis auf, sondern bejahe — insofern anders als die frühere Entscheidung — auf Grund neu festgestellter Tatsachen nunmehr die Eignung des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen und sei demzufolge für die Verwaltung bindend. 119
(4) Eigene Stellungnahme. Das bloße Ende der — insoweit gleichgültig, ob regulären oder nach § 69 a Abs. 7 abgekürzten — Sperrfrist verpflichtet die Verwaltungsbehörde nicht automatisch zur Neuerteilung der Fahrerlaubnis; dies liefe auf ein Modell der Befristung hinaus, das der Gesetzgeber (zwar für die kurzfristige Denkzettelstrafe des Fahrverbotes, aus guten Gründen) für die länger wirkende Maßregel der Fahrerlaubnisentziehung ganz bewußt nicht gewollt hat. Da der Strafrichter nicht über die Eignung des Täters nach Ablauf der Sperrfrist zu befinden hat, liegt in seiner Prognoseentscheidung folgerichtig auch keine positive Aussage über die Geeignetheit des Verurteilten nach Fristablauf; nach Fristablauf ist die Verwaltungsbehörde vielmehr verpflichtet, zur Beurteilung der Eignung unter allen (und nicht nur auf die „Tat" beschränkten) rechtlich relevanten Gesichtspunkten eine umfassende Gesamtwürdigung der Person des Fahrerlaubnisbewerbers vorzunehmen und dabei grundsätzlich eigenverantwortlich zu prüfen, ob im Augenblick ihrer Entscheidung die Voraussetzungen für eine Wiedererteilung der Fahrerlaubnis gegeben sind. Davon zu trennen ist die Frage, in welchem Umfang die Verkehrsbehörde dabei an die frühere Beurteilung des Strafgerichtes gebunden ist 491 . Diesbezüglich hat das BVerfG, auch wenn es das gesetzliche Nebeneinander von strafgerichtlicher Maßregel und schutzrichtungsgleicher behördlicher Präventivmaßnahme verfassungsrechtlich für grundsätzlich unbedenklich erklärt, deutlich gemacht, daß das präventive Erlaubnisverfahren den Grundsätzen rechtsstaatlichen Verwaltungshandelns und damit dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprechen muß, es jedoch „nicht unverhältnismäßig (ist), wenn die Behörde früheres Verhalten der Betroffenen in ihre Prüfung einbezieht, um zu einer sach488
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So im Anschluß an Friedrich DVB1 1957 523 vor allem OVG Berlin VRS 24 (1963) 149 sowie tendenziell BayVGH VRS 53 (1977) 477. Ebenso Cramer 13, Czermak NJW 1962 1265, Martens NJW 1963 139, Schmid DAR 1968 8, Seiler DAR 1974 265 sowie tendenziell auch Jagusch/Hentschel 19 zu § 69 a. S. hierzu auch BTDrucks. 1/2674, S. 8 und S. 24 (zum Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Unfällen im Straßenverkehr). So vor allem Schendel Doppelkompetenz S. 60 ff; dem folgend Beine R.Lange-Festschrift S. 849 f und Oberpottkamp Diss. jur. Göttingen S. 138 sowie tendenziell offenbar auch Dreher/Tröndle 16
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zu § 69 a. Nachdrücklich gegenteiliger Ansicht jedoch BVerfGE 20 371; ebenso VGH Kassel NJW 1965 125, OVG Bremen DÖV 1963 620 und VG Würzburg VRS 18 (1960) 77. Hier liegen die Rechtspositionen nicht so weit auseinander, wie der Streitstand vermuten läßt. Selbst die Anhänger der oben dargestellten Minderansicht plädieren für eine Bindung der Verwaltung an die Beurteilung des Strafrichters nur dann, „wenn sich im Erteilungsverfahren keine neuen Tatsachen ergeben, die das Strafgericht nicht berücksichtigen konnte oder nicht berücksichtigt hat" (OVG Berlin VRS 24 (1963) 156); ebenso Cramer 12 zu § 69.
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§69
gerechten Beurteilung zu kommen" (BVerfGE 20 365 372 f). Vor diesem Hintergrund hat auch das BVerwG die Verwaltungsbehörde für den Fall, daß im Wiedererteilungsverfahren keine für die Beurteilung der Eignung maßgeblichen neuen Umstände hervortreten, für verpflichtet erklärt, bei ihrer Entscheidung über die Eignung eines Kraftfahrers „besonderes Gewicht" der Beurteilung beizumessen, die der Strafrichter im Entziehungsverfahren vorgenommen hat 492 . Demzufolge besteht für die Verwaltungsbehörde eine Art „Achtungspflicht" (Hentschel DAR 1979 320) gegenüber der Beurteilung durch den Strafrichter, derzufolge sie sich bei ihrer Entscheidung auch mit den Gründen der strafrichterlichen Beurteilung auseinandersetzen muß und aus Gründen rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes bei ansonsten unverändertem Sachverhalt die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis nicht aus Gründen versagen darf, die der Strafrichter bei seiner Entscheidung bereits berücksichtigt hat. Ihrem umfassenden Prüfungsauftrag entsprechend ist die Verwaltungsbehörde jedoch nicht auf die Prüfung nur neuer Tatsachen beschränkt; dies würde dem Schutzzweck des § 2 Abs. 1 StVG nicht gerecht 493 . 3. Zugleich mit der Entziehung der Fahrerlaubnis hat das Gericht im Urteil auch die 120 Einziehung des Führerscheins (mit anschließender Vernichtung) anzuordnen (Abs. 3 S. 2); zur Fassung der Urteilsformel s. Rdn. 110. Auch die Einziehung des Führerscheins kann nicht auf bestimmte Kraftfahrzeugarten beschränkt werden 494 . Von der Einziehungsentscheidung erfaßt werden alle von einer deutschen Behörde ausgestellten Führerscheine, also allgemeine Führerscheine (§§ 4 und 5 StVZO), Sonderführerscheine des öffentlichen Dienstes (§ 14 StVZO) und der Führerschein zur Fahrgastbeförderung (§ 15 d StVZO) ebenso wie die von einer deutschen Behörde ausgestellten internationalen Führerscheine (§ 11 Abs. 3 IntVO). Hat der Verurteilte mehrere solcher Führerscheine oder besitzt er neben einem Originalführerschein eine Ersatzausfertigung 495 , erstreckt sich der Ausspruch über die Einziehung auf alle diese Fahrnachweise; eines besonderen Ausspruchs im Tenor bedarf es nicht 496 . Auch ein nach § 94 Abs. 3 StPO bereits sichergestellter oder beschlagnahmter Führerschein ist (nicht etwa nur „einzubehalten", sondern) im Urteil „einzuziehen" 497 . Gleiches gilt für (angeblich?) verlorene oder verlegte Führerscheine. Ist in einem solchen Fall noch keine Ersatzausfertigung ausgehändigt worden, muß auf Entziehung der Fahrerlaubnis (und nicht etwa nach § 69 a Abs. 1 S. 3 auf eine isolierte Sperrfrist) und auf Einziehung des Führerscheins erkannt werden; andernfalls bestünde keine Möglichkeit, den nachträglich aufgefundenen Führerschein einzuziehen 498 . Abs. 3 S. 2 setzt den Besitz eines gültigen Führerscheins voraus. Somit unterliegen (nicht mehr durch eine gültige Fahrerlaubnis gedeckte, also kraftlos gewordene und eine solche danach nur vortäuschende) „Scheinführerscheine" nicht der Einziehung nach Abs. 3 S. 2; als Tatwerkzeuge können solche Scheinführerscheine jedoch nach § 74 Abs. 1 eingezogen werden 499 . Ausländische Führerscheine sind nicht einziehungsfähig (Umkehrschluß aus § 69 b); s. hierzu die Erläuterungen zu § 69 b. Da Führerscheine der ehemaligen DDR nach den Bestimmungen des Einigungsvertrages im innerdeutschen wie im internationalen Verkehr den von Behörden der Bundesrepublik ausgefertigten Fahrnachweisen gleichgestellt werden, gelten DDR-Führerscheine seit dem 3. Oktober
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2 BVerwG NJW 1964 610; ähnlich BayVGH VRS S3 (1977) 478 und VGH Kassel NJW 1965 125. 493 VGH Kassel NJW 1965 126. 41,4 BGH (1 StR 601/65) nach Martin DAR 1967 96. •»5 Vgl. OLG Köln VRS 26 (1964) 201. 496 Danach geht ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 458 StPO (zwecks Urteilsergänzung (71)
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oder -berichtigung) aus Rechtsgründen fehl: vgl. AG Wuppertal DAR 1961 340. BGH VRS 65 (1983) 361. OLG Köln VRS 26 (1964) 199 = VM 1964 12 sowie OLG Karlsruhe VRS 59 (1980) 111; ebenso Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 91. BayObLG VRS 51 (1976) 26.
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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
1990 als von einer deutschen Behörde ausgestellt (näher dazu Rdn. 116 zu § 44 sowie Rdn. 9 zu § 69 b); somit können auch sie nach § 69 Abs. 3 S. 2 eingezogen werden. 121 Die Einziehung des Führerscheins (Abs. 3 S. 2) ist weder Strafe noch selbständige Maßregel, sondern unselbständige Vollzugsmaßnahme polizeilicher Art, der als solcher keine konstitutive Wirkung zukommt; sie soll vor Mißbrauch des Führerscheins schützen und dem Verurteilten die Zuwiderhandlung gegen die Fahrerlaubnisentziehung erschweren 500 . Somit unterliegt die Einziehung des Führerscheins nicht dem Verschlechterungsverbot (s. dazu nachfolgend Rdn. 251); anders als die Fahrerlaubnisentziehung oder die isolierte Sperre kann der Ausspruch über die Einziehung des Führerscheins im Rechtsmittelzug also auch dann nachgeholt werden, wenn das Rechtsmittel nur vom Angeklagten eingelegt worden ist 501 . Analog §§ 463 Abs. 5 und 462 StPO kann die Einziehung des Führerscheins folglich durch gerichtlichen Beschluß nachgeholt werden, wenn im Urteil (zwar nicht die Entziehung der Fahrerlaubnis als solche, wohl aber) die Einziehung des Führerscheins versehentlich unterblieben ist. Dies bedeutet für den Verurteilten keine rechtsrelevante Beschwer; da der Führerschein lediglich eine Urkunde zum Nachweis einer gültigen Fahrerlaubnis ist, hat ein Kraftfahrer, dem die Fahrerlaubnis entzogen worden ist, keinen Anspruch auf weitere Belassung des Ausweispapiers. Bei Untätigkeit des Gerichts kann auch die Verwaltungsbehörde die Ablieferung des Führerscheins anordnen (§ 4 Abs. 4 S. 2 StVG). 4. Durchsetzung der Maßregel. 122
a) Da die Entziehung der Fahrerlaubnis mit Rechtskraft der Entscheidung automatisch wirksam wird (Abs. 3 S. 1), bedarf sie zu ihrer Durchsetzung keiner förmlichen Vollstreckung. Gleiches gilt für die isolierte Sperrfrist (§ 69 a Abs. 1 S. 3). Aus diesem Grund unterliegt die Maßregel auch nicht der Vollstreckungsverjährung 502 . Dem Zweck, die Durchführung der Maßregel in der Praxis zu sichern, dienen verschiedene Registrierungs- und Mitteilungspflichten (dazu nachfolgend Rdn. 260 f).
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b) Hinsichtlich der Durchsetzung der Einziehung ist zu unterscheiden: (1) Wird der Führerschein vom Verurteilten freiwillig herausgegeben (und zwar in aller Regel an die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde), regelt sich das Verfahren nach § 56 Abs. 1 StVollstrO. Danach übersendet die Staatsanwaltschaft den ihr übergebenen Führerschein an die Behörde, die für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis am Wohnsitz des Verurteilten zuständig ist (Satz 1). Hat der Verurteilte im räumlichen Geltungsbereich der StPO keinen Wohnsitz, wird der Führerschein zu den Strafakten genommen (Satz 2). Sonderführerscheine (§ 14 StVZO) werden der betreffenden Dienststelle zugeleitet (Satz 3). In allen diesen Fällen ist der Führerschein mit einem Vermerk über die Einziehung zu versehen und durch Einschneiden unbrauchbar zu machen (Satz 4) und der Behörde der nach § 69 a Abs. 5 und 6 zu berechnende Zeitraum mitzuteilen (Satz 5). (2) Wird der im Urteil eingezogene Führerschein nicht freiwillig herausgegeben, wird die Einziehung durch Wegnahme der Führerscheinurkunde vollstreckt (§ 459 g Abs. 1 S. 1 StPO) 503 . Die Durchführung der Wegnahme wird in § 61 StVollstrO näher geregelt 504 ; es gelten dabei 500
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BGHSt. 5 178; ebenso Lackner 13 und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 92. So grundlegend BGHSt. 5 178; ebenso BGH NStZ 1983 168 sowie OLG Karlsruhe NJW 1972 1634 und OLG Köln NJW 1965 2310. SchJSchröder/Stree 2 und Dreher/Tröndle 2: je zu §79. Dies verbietet sich jedoch, wenn trotz Vorhanden-
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seins einer Fahrerlaubnis fehlerhafterweise nur eine isolierte Sperrfrist ausgesprochen wurde, die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Einziehung des Führerscheins aber unterblieben sind: LG Mannheim StV 1995 460. Zu „Fallstricken", die sich aus dieser Vorschrift im Berufungsrechtszug ergeben können, aus der Sicht des Verteidigers Tondorf OhR 1992 160.
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
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die Vorschriften der Justizbeitreibungsordnung (§ 459 g Abs. 1 S. 2 StPO). Für die Wegnahme des Führerscheins nach vorangegangener strafgerichtlicher Entziehung der Fahrerlaubnis ist somit nicht der Gerichtsvollzieher, sondern die Polizei als Vollzugsorgan der Staatsanwaltschaft zuständig 505 . (3) Wird der Führerschein bei dem Verurteilten nicht vorgefunden, hat dieser auf Antrag der Vollstreckungsbehörde beim Amtsgericht eine eidesstattliche Versicherung über den Verbleib des Führerscheins abzugeben (§ 459 g Abs. 1 StPO i. V. mit §§ 56 Abs. 3 und 62 StVollstrO und 6 Abs. 1 Nr. 1 JBeitrO). V. Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111 a StPO) 1. Rechtsnatur und Zweck. Liegen dringende Gründe für die Annahme vor, daß 124 einem Täter durch Urteil oder Strafbefehl nach § 69 die Fahrerlaubnis entzogen werden wird, kann der zuständige Richter dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis vorläufig entziehen (§ 111 a Abs. 1 S. 1 StPO); bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen können ausgenommen werden (Satz 2) 506 . Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis 507 ist weder vorweggenommene Strafe (daher auch gegen schuldunfähige Täter statthaft) noch verfolgt sie Verfahrens- oder beweissichernde Zwecke; sie dient vielmehr ausschließlich dem Ziel, im Interesse der Verkehrssicherheit den ungeeigneten und deshalb gefährlichen Kraftfahrer durch Vorwegnahme der in § 69 vorgesehenen Maßregel schon vor Rechtskraft dieser Entscheidung von der Teilnahme am Straßenverkehr auszuschließen 508 . Insofern den Präventivmaßnahmen der §§ 112 a, 126 a und 132 a StPO ähnlich, stellt sie im System der strafprozessualen Zwangsmaßnahmen als rein vorbeugende Maßnahme zwar einen Fremdkörper dar; doch hat das BVerfG Bedenken aus der Sicht des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips im Hinblick auf die Gefahren, die der Verkehrssicherheit durch einen ungeeigneten Kraftfahrer drohen, zu Recht ebenso zurückgewiesen 509 wie angesichts von Art. 74 Nr. 22 GG (Gesetzgebungskompetenz des Bundes für Fragen des Straßen Verkehrsrechts) den Einwand fehlender Gesetzgebungskompetenz 510 . Als Sofortmaßnahme hat die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (einschl. der ihr meist
505 AG Berlin-Schöneberg DGVZ 1995 123. Da über die Eignung jedenfalls im Rahmen des § 111 a StPO noch nicht abschließend befunden wird, stellt diese Regelung auch keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Unteilbarkeit der Eignung dar (ebenso Janiszewski 752 e). 507 Zur Entstehungsgeschichte s. ausführlich Linß Die vorl. Entziehung der Fahrerlaubnis S. 1 ff: Die Vorschrift wurde durch Art. 3 Nr. 1 des 1. StraßenVSichG vom 19.12.1952 (BGBl. I 832) eingefügt und durch Art. 2 Nr. 1 des 2. StraßenVSichG vom 26.11.1964 (BGBl. I 921) neu gefaßt und teilweise erweitert (Absätze 3 bis 5). Art. 2 Nr. 5 EGOWiG vom 25.5.1968 (BGB1.1 503) hat dem Abs. 1 den Satz 2 beigefügt. Art. 21 Nr. 28 EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I 469 und 502) hat die Vorschrift dem StGB in seiner ab 1.1.1975 geltenden Fassung angepaßt und Abs. 6 S. 2 neugefaßt. Zur Amtl. Begründung s. BTDrucks IV/651, S. 31.
Absatz 3 von § 111 a StPO den folgenden Satz anzufügen: „Dies gilt auch, wenn der Führerschein von einer Behörde eines Mitgliedsstaates der Europäischen Gemeinschaften oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens Uber den Europäischen Wirtschaftsraum ausgestellt worden ist, sofem der Inhaber seinen ordentlichen Wohnsitz im Inland hat." Der abschließende Absatz 6 von § 111 a StPO soll demzufolge wie folgt geändert werden: „In anderen als in Absatz 3 Satz 2 genannten ausländischen Fahrerlaubnissen ist die vorläufige Entziehung der Fahrlaubnis zu vermerken. Bis zur ..."
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Zwecks gegenseitiger Anerkennung von EU-Führerscheinen, wie sie durch die Zweite EU-Führerscheinrichtlinie (91/439/EWG) bis zum I.Juli 1996 innerstaatlich umgesetzt werden soll, sieht der (Referenten-)Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des StVG und anderer Gesetze (Stand: 20 . Mai 1996) in seinem Art. 4 Abs. 1 vor, dem bisherigen (73)
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OLG Karlsruhe VRS 68 (1985) 360 und BayObLG NJW 1980 1860. S. insofern vor allem BVerfG NStZ 1982 78; vgl. neuerdings auch BVerfG NZV 1995 77 = DAR 1995 104 = VRS 88 (1995) 104. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit trägt im übrigen auch § 111 a Abs. 1 S. 2 StPO zusätzlich Rechnung (s. nachfolgend Rdn. 131). Zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit präventiver Haft bei Wiederholungsgefahr (§ 112 a StPO) s. BVerfGE 19 349 und 35 185 ff. 510 Gegen entsprechende Bedenken von Seebode (ZRP 1969 25) zu Recht LG Heidelberg NJW 1969 1636. 509
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§ 6 9
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
vorausgehenden Sicherstellung/Beschlagnahme des Führerscheins: dazu nachfolgend Rdn. 158 ff) erhebliche kriminalpolitische Bedeutung; nicht zuletzt wegen ihrer individual· und allgemeinabschreckenden Wirkung wird sie im Interesse der Verkehrssicherheit allenthalben für unverzichtbar gehalten. Die Notwendigkeit einer präventiven Sofortmaßnahme ist wohl maßgeblicher Grund dafür, daß der Gesetzgeber die Entziehung der Fahrerlaubnis (nicht nur bei körperlich-geistigen oder fahrtechnischen Eignungsmängeln, sondern) auch bei charakterlich begründeter Ungeeignetheit nicht als langfristiges Fahrverbot, sondern als Sicherungsmaßregel konzipiert hat; eine vorweggenommene Strafe wäre mit der rechtsstaatlichen Unschuldsvermutung nicht zu vereinbaren 5 ". 125
Literatur (speziell zu § 111 a StPO): Angerbauer Nochmals: Ausnahmen für bestimmte Fahrzeugarten bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis, NJW 1966 2003; Bender Die Bedeutung der Sicherstellung und Beschlagnahme von Führerscheinen ohne vorläufigen Entzug der Fahrerlaubnis, DAR 1959 260; Bruns Die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 42 m StGB, § 111 a StPO), GA 1954 161; von BubnoffOer vorläufige Fahrerlaubnisentzug und die Möglichkeit von Ausnahmen für bestimmte Kraftfahrzeugarten, JZ 1968 318; Cloppenburg Vorläufige Fahrerlaubnisentziehung bei Abgeordneten?, MDR 1961 826; Dahs Ausnahmen für bestimmte Fahrzeugarten bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111 a StPO, NJW 1966 238; Engel Vorläufige Maßnahmen gegen Täter von Verkehrsdelikten, die nicht im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis sind, DAR 1984 108; Feller Gedanken zur vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis, DAR 1953 231; Geppert Schwierigkeiten der Sperrfristbemessung bei vorläufiger Entziehung der Fahrerlaubnis, ZRP 1981 85; Gollner Verschlechterungsverbot bei vorläufiger und endgültiger Entziehung der Fahrerlaubnis, GA 1975 129; Grohmann § 111 a StPO in der Revisionsinstanz - ungelöste Probleme, DRiZ 1989 138; Guelde Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und die Beschlagnahme des Führerscheins nach dem Straßenverkehrs-Sicherungsgesetz, RdK 1953 57; Hentschel Beschwerde gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis — Zurückweisung an den iudex a quo wegen nicht ausreichender Begründung?, DAR 1975 265; derselbe Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111 a Abs. 2 StPO, DAR 1976 9; derselbe Fortbestand der vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung trotz Ablaufs der Führerscheinsperre in der Revisionsinstanz?, MDR 1978 185; derselbe Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, DAR 1980 168; derselbe Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis — eine Übersicht zur Anwendung des § 111 a StPO, DAR 1988 89; Hering Zweifelsfragen bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis, DAR 1954 178; Koch Die Anhörung des Beschuldigten im Rahmen des § 111 a StPO, besonders bei Alkoholdelikten, DAR 1968 178; Lienen Fragen der Praxis zur Anwendung des § l i l a StPO, DAR 1958 261; Linß Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, Diss, jur Göttingen (1991); Maatz Anrechnung der Dauer einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis auf das Fahrverbot, StV 1988 84; D.Meyer Ist das Gericht an einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis gebunden?, DAR 1986 47; Mollenkott Relative Fahruntüchtigkeit, vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und der Grundsatz „in dubio pro reo", DAR 1978 68; Rößler Zur Problematik der vorläufigen Führerscheinentziehung, NJW 1953 1820; Vogel Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach freiwilliger Herausgabe des Führerscheins?, NJW 1954 1921; Wittschier Antrag der Staatsanwaltschaft auf Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis im Ermittlungsverfahren, NJW 1985 1324.
126
2. Voraussetzungen. Nach § 111 a Abs. 1 S. 1 StPO setzt die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis dringende Gründe für die Annahme voraus, daß dem Beschuldigten nach § 69 die Fahrerlaubnis entzogen werden wird. Da die Maßnahme schon begrifflich das Vorhandensein einer (gültigen) Fahrerlaubnis voraussetzt, kann sie nicht die Anordnung einer isolierten Sperrfrist (§ 69 a Abs. 1 S. 3) sichern; bei Fehlen einer Fahrerlaubnis ist der Verwaltungsbehörde somit verwehrt, unter den Voraussetzungen des § 111 a StPO
511
Unberechtigt sind somit auch die Bedenken, die Loos (JR 1990 438) aus der Sicht der Unschuldsvermutung gegen § 111 a StPO vorbringt; speziell
zum Spannungsverhältnis der Unschuldsvermutung zu § l i l a StPO s. Linß Vorl. Entziehung der Fahrerlaubnis S. 52 ff.
Stand: 31. 5. 1996
(74)
Entziehung der Fahrerlaubnis
§69
die Erteilung einer Fahrerlaubnis durch Beschluß vorläufig zu untersagen 512 . Während die endgültige Entziehung bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen angeordnet werden muß (Rdn. 107), liegt der vorläufige Entzug der Fahrerlaubnis im pflichtgemäßen Ermessen des Richters („kann"). Anders als bei der endgültigen Fahrerlaubnisentziehung können von der vorläufigen Entziehung demzufolge auch bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen ausgenommen werden (Abs. 1 S. 2); davon macht die Praxis jedoch nur verhalten Gebrauch. Im einzelnen: a) Da die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis dringende Gründe für die Annahme 127 voraussetzt, daß dem Beschuldigten nach § 69 die Fahrerlaubnis im Urteil entzogen wird (Abs. I S. 1), ist ihre Anordnung grundsätzlich an die gleichen Voraussetzungen gebunden wie die endgültige Fahrerlaubnisentziehung. Ist nur die Verhängung eines Fahrverbotes zu erwarten, kommt vorläufiger Fahrerlaubnisentzug ebensowenig in Betracht, wie wenn die Voraussetzungen für eine spätere Entziehung der Fahrerlaubnis nicht gegeben sind (etwa mangels Zusammenhangs der Anlaßtat mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges, mangels Führens eines „Kraftfahrzeuges oder weil sich die Ungeeignetheit nicht „aus der Tat" ergibt)513; auf die obigen Erläuterungen (Rdn. 15 ff) wird verwiesen. Seit die (endgültige) Entziehung der Fahrerlaubnis auch gegenüber Inhabern einer ausländischen Fahrerlaubnis nicht mehr davon abhängig ist, daß die Anlaßtat gegen Verkehrsvorschriften verstößt (dazu Rdn. 10 zu § 69 b), ist eine solche Einschränkung folgerichtig auch im Rahmen von § 111 a StPO entfallen; gegenüber früherer Judikatur ist insoweit Vorsicht angebracht. Zum andern müssen „dringende Gründe" für die Annahme vorhanden sein, daß die 128 Fahrerlaubnis endgültig entzogen wird. Dieser Begriff entspricht dem „dringenden Verdacht" i. S. von § 112 StPO 514 ; ein lediglich „genügender" oder nur „hinreichender" Verdacht (§§ 170 Abs. 1 oder 203 StPO) genügt nicht. Ebenso wie beim Erlaß eines Haftbefehls muß auch bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Ermittlungsstand im Zeitpunkt der Entscheidung ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, daß die Fahrerlaubnis im späteren Urteil/Strafbefehl entzogen wird 515 . Daraus folgt ein Doppeltes: (1) Zum einen muß der Beschuldigte auf Grund bestimmter Tatsachen dringend verdächtig sein, die Anlaßtat begangen zu haben 516 . Während der Grundsatz „in dubio pro reo" im endgültigen Entziehungsverfahren hinsichtlich der die Eignungsprognose tragenden Tatsachen volle persönliche Überzeugung des erkennenden Gerichts verlangt (dazu schon Rdn. 66), genügt für die Überzeugungsbildung des Gerichts im Rahmen des § 111 a StPO bereits ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit517. Die Annahme, die Fahrerlaubnis werde endgültig entzogen werden, kann jedoch nicht auf Angaben gestützt werden, die der Beschuldigte ohne vorherige Belehrung über sein Schweigerecht gemacht hat 518 . (2) Zum andern muß eine ausreichend hohe Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, daß das Gericht dem Beschuldig512
Gegenteiliger Ansicht L G M ü n c h e n I D A R 1 9 5 6 249; e b e n s o Engel D A R 1984 108 und KMR-Afä/ler 7 zu § 111 a S t P O . W i e hier O L G H a m m V R S 51 ( 1 9 7 6 ) 4 3 ; d e m f o l g e n d Kleinknecht/MeyerGoßner 1 und LR-G.Schäfer 8 - j e zu § 111 a S t P O - und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rd. 229.
513
Da § 6 9 eine Straftat im Z u s a m m e n h a n g mit d e m Führen eines „ K r a f t f a h r z e u g e s " voraussetzt, ist die v o r l ä u f i g e E n t z i e h u n g der Fahrerlaubnis w e g e n F ü h r e n s einer E i s e n b a h n unter Alkohol ( § 3 1 5 a) a u s g e s c h l o s s e n : g e g e n LG M ü n c h e n II N Z V 1 9 9 3 83 zu Recht B a y O b L G D A R 1993 304.
514
(75)
Die unterschiedliche T e r m i n o l o g i e ist darauf zur ü c k z u f ü h r e n , d a ß die M a ß n a h m e nach § 111 a S t P O sich auch gegen einen s c h u l d u n f ä h i g e n T ä t e r richten kann.
515
Kleinknecht/Meyer-Goßner 2, LR-G.Schäfer 13, KMR-Müller 8, KK-Nack 3: j e zu § 111 a. W o h l zu streng Henlschel („hohe, fast an G e w i ß h e i t grenz e n d e W a h r s c h e i n l i c h k e i t " ) : vgl. Himmelreich/ Henlschel Bd. I Rdn. 221 und Jagusch/Hentschel 4 zu § 111 a S t P O .
516
Z u t r e f f e n d LG Z w e i b r ü c k e n V R S 8 8 ( 1 9 9 5 ) 4 3 6 . Z u r A n w e n d u n g von „in d u b i o pro r e o " im R a h m e n von § 111 a S t P O s. vor allem Mollenkott DAR 1978 6 8 und Henlschel D A R 1980 168: z u s a m m e n f a s s e n d Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 224.
517
518
Z u t r e f f e n d A G H o m b u r g Z f S 1994 29: im Ans c h l u ß an B G H S t . 3 8 2 1 4 (zur U n v e r w e r t b a r k e i t einer polizeilichen B e s c h u l d i g t e n v e m e h m u n g bei unterlassener Belehrung).
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
ten auf Grund der Tat die Fahrerlaubnis entziehen wird; insoweit gilt für die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nichts grundsätzlich anderes als für den endgültigen Entzug. Weil die Verurteilungsprognose vom jeweiligen Ermittlungsstand auszugehen hat, werden die Anforderungen an die Beweisdichte zu Beginn der Ermittlungen in aller Regel geringer sein als in der Hauptverhandlung 519 ; mögliche Fehler bei der provisorischen Beweiswürdigung müssen durch Aufhebung der vorläufigen Maßnahme korrigiert werden (dazu nachfolgend Rdn. 140 ff). 129
b) Obgleich § 111 a StPO dem Wortlaut des Gesetzes nach eine „Kann"-Bestimmung enthält, bleibt dem Richter nur wenig Raum für eine Ermessensausübung. Dem Sicherungszweck der Vorschrift entsprechend wird sich das Ermessen besonders in den Fällen des § 69 Abs. 2 weithin auf Null reduzieren: und zwar grundsätzlich unabhängig davon, ob die vorläufige Maßnahme (was die Regel sein dürfte) alsbald nach der Tat oder erst später angeordnet wird (zu Besonderheiten im Berufungsrechtszug s. nachfolgend Rdn. 151 ff). Da es für die Beurteilung der Ungeeignetheit auf den Zeitpunkt der (tatrichterlichen) Entscheidung ankommt, muß zwar auch bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis das Verhalten des Beschuldigten nach der Tat und damit der Umstand berücksichtigt werden, daß der Angeklagte längere Zeit und ggf. über eine beträchtliche km-Fahrleistung hinweg unbeanstandet am Straßenverkehr teilgenommen hat; ein „Vertrauen" des Beschuldigten darauf, daß eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nun nicht mehr zu erwarten ist 520 , besteht aber nicht. Ebensowenig entspricht es dem Gesetz, in solchen Fällen von einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis etwa mit der Begründung absehen zu wollen, eine Entziehung mehrere Monate nach Begehung der Anlaßtat sei mit dem Zweck des § 111 a StPO als einer Eil- oder Sofortmaßnahme nicht zu vereinbaren 521 . Wenn die Gesamtwürdigung eine endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis rechtfertigt und nicht etwa besondere Umstände in oder nach der Tat oder in der Persönlichkeit des Täters den seiner generellen Natur nach schweren Verstoß in einem weniger gefährlichen Licht erscheinen lassen (dazu bereits Rdn. 87 ff), sind auch für die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis grundsätzlich gleich strenge Maßstäbe wie bei der endgültigen Maßregel angebracht 522 . Außerhalb der Regelfälle des § 69 Abs. 2 legt die Kann-Bestimmung des § 111 a Abs. 1 S. 1 StPO einen zurückhaltenderen Einsatz des scharfen Instruments der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nahe; hier ist generell und nicht zuletzt im Hinblick auf die Ausnahmemöglichkeit des § 111 a Abs. 1 S. 2 (dazu nachfolgend Rdn. 131 ff) zu prüfen, ob der Sicherungszweck der Maßnahme eine Ausschaltung des Kraftfahrers aus dem Straßenverkehr schon vor Rechtskraft der Entscheidung rechtfertigt 523 . 519 Vgl. LR-G.Schäfer 13 und Rudolphi SK 5 - je zu § 111 a StPO; ausfuhrlich Linß Vorl. Entziehung der Fahrerlaubnis S. 94 ff. 520 So aber in einem Fall, in dem die Anlaßtat 14 Monate vor der vorl. Entziehung der Fahrerlaubnis lag, LG Trier VRS 63 (1982) 210; dagegen Janiszewski NStZ 1982 505. 521 So aber LG Mainz DAR 1974 53 (acht Monate unbeanstandeter Teilnahme am Straßenverkehr); auf dieser Linie auch LG Darmstadt StV 1982 415 (sogar nur vier Monate) und DAR 1989 473 = StV 1990 104, LG Trier VRS 63 (1982) 210 (14 Monate), LG Hannover StV 1988 521 = NZV 1989 83 (fünf Monate bei ca. 56.000 gefahrenen Km) sowie AG Homburg ZfS 1991 214 (acht Monate); dagegen Janiszewski NStZ 1991 578. 522 Vgl. OLG Karlsruhe VRS 59 (1980) 432 und OLG
523
Düsseldorf DAR 1992 187 = NZV 1992 331 = StV 1992 219; ebenso Janiszewski NStZ 1982 506, NStZ 1984 115 und NStZ 1991 578, Himmelreich/ Hentschel Bd. I Rdn. 221 sowie Hentschel NJW 1990 1463 und NJW 1995 636, Kulemeier S. 129 sowie KK-Wack 4 zu § 111 a StPO. Vgl. OLG Düsseldorf DAR 1992 187 = NZV 1992 331 = StV 1992 219. Ähnlich liegt der Fall, wenn im Fall unerlaubten Entfernens vom Unfallort die Erheblichkeitsgrenze des § 69 Abs. 2 Nr. 3 nicht erreicht wird (LG Baden-Baden NZV 1989 405). Auf dieser Linie deutlicher Zurückhaltung jedenfalls bei Zusammenhangstaten (und wenn die Anlaßtat verhältnismäßig lange vor erstmaliger Antragstellung nach § 111 a StPO liegt) neuerdings auch LG Hagen NZV 1994 334 (ablehnend Hentschel NJW 1995 636).
Stand: 3 1 . 5 . 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§69
Die Anordnung einer vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung ist entbehrlich, wenn 130 der Ausschluß des Kraftfahrers aus dem Straßenverkehr auf andere Weise hinreichend sichergestellt ist. Anders als bei der endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis, bei der es keiner zusätzlichen „Erforderlichkeits"-Prüfung bedarf (Rdn. 59), wird dies besonders dort der Fall sein, wo tatsächliche Hindernisse (ζ. B. längerdauernde Krankheit, schwere Verletzungen mit Dauerfolgen oder langjährige Inhaftierung, nicht aber nur vorübergehende Krankheiten, kurzfristiger Freiheitsentzug oder das bloße Abmelden des Fahrzeugs) es dem Berechtigten nach Lage der Dinge unmöglich machen (strenger Maßstab), von seiner Fahrerlaubnis über längere Zeit hinweg Gebrauch zu machen 524 . Ferner kann eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis entbehrlich sein, wenn der Beschuldigte den Führerschein nach § 94 StPO freiwillig herausgegeben (näher dazu nachfolgend Rdn. 162) oder der Beschlagnahme nicht widersprochen und später auch keine gerichtliche Entscheidung beantragt hat (dazu im folgenden Rdn. 166)525; die nach § 94 Abs. 3 StPO erfolgte Sicherstellung durch freiwillige Herausgabe ist der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis und der Beschlagnahme des Führerscheins nämlich rechtlich weithin gleichgestellt 526 , eine Zuwiderhandlung ebenfalls strafbewehrt (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 StVG). Verzichtet das Gericht in diesem Fall auf die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, wird es von der Pflicht zur Rückgabe des Führerscheins (§ l i l a Abs. 5 S. 1 StPO) befreit; dem Wortlaut der Vorschrift und ihrem Sinn entsprechend (dazu nachfolgend Rdn. 168) trifft die dort geregelte Rückgabepflicht das Gericht nur, wenn die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis „wegen Fehlens der in Abs. 1 bezeichneten Voraussetzungen" abgelehnt wurde. Damit ist nur eine Sachentscheidung, nicht aber der Fall der freiwilligen Herausgabe des Führerscheins zwecks Abwendung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis gemeint 527 . Verlangt der Beschuldigte seinen Führerschein später zurück, ist eine gerichtliche Sachentscheidung nach § 111 a Abs. 1 geboten 528 . 3. Ausnahmen für bestimmte Kraftfahrzeugarten (Abs. 1 S. 2). a) Während die Fahrerlaubnis endgültig nur im ganzen entzogen werden kann (s. dazu 131 Rdn. 113), sieht § 111 a Abs. 1 S. 2 StPO die Möglichkeit vor, bestimmte Kraftfahrzeugarten von der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis auszunehmen; damit soll dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen werden 529 . Ausnahmen in diesem Sinn sind nur gestattet,,,wenn besondere Umstände die Annahme rechtfertigen, daß der Zweck der Maßnahme dadurch nicht gefährdet wird". Dies wird zu bejahen sein, wenn sich aus Umständen (die besonders zu erläutern sind) ergibt, daß eine Gefährdung der Sicherheit des Straßenverkehrs auch dann nicht zu befürchten ist, wenn der Beschuldigte ein Kraftfahrzeug der freizugebenden Art benutzt; insoweit ist nicht nur an körperliche Eignungsmängel zu denken, die sich nur beim Führen bestimmter Kraftfahrzeugarten auswirken, sondern (unter anerkanntermaßen strengen Voraussetzungen) auch an Fälle charakterlicher Ungeeignetheit. Allein wirtschaftliche Härten für den Betroffenen reichen in 524
525
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Anderer Ansieht Cramer 62 zu § 69 sowie KKNack 4 und LR-G.Schäfer 14 (je zu § 111 a StPO), da nicht hinreichend sicher auszuschließen sei, daß derartige Hindernisse Uber Monate hinweg gewährleistet seien. Wie hier Rudolphi SK 6, Kleinknecht/ Meyer-Goßner 3 — je zu § 111 a StPO — sowie Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 226. Davon scheint auch die Amtl. Begründung zum 2. StraßenVSichG auszugehen (BTDrucks. IV/651, S. 30. Gegenteiliger Ansicht Schulz in HK-StVR 3 und KK-Nack 4 (wegen der im Vergleich zu § 21 Abs. I Nr. 1 StVG geringeren Strafdrohung) — je
526 527
528
529
zu § 111 a StPO; wie hier LR-G.Schäfer 14, Rudolphi SK 6, Kleinknecht/Meyer-Goßner 3 und Jagusch/Henlschel 5 — je zu § 111 a StPO — sowie Kulemeier S. 128 und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 226 Dazu LR-G.Schäfer 60 zu § 111 a StPO. Ebenso Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 226 a und LR-G.Schäfer 72 - je zu § 111 a StPO (a.A. noch LR-Vorauflage: Meyer 51 zu § 111 a StPO). So schon Vogel NJW 1954 1921; ebenso Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 226 a. BVerfG NStZ 1982 78.
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
aller Regel zur Widerlegung der Ungeeignetheit aber nicht aus; anders kann es (ausnahmsweise) dann sein, wenn der Eignungsmangel (ζ. B. die Neigung zum Alkoholgenuß) sich nur im privaten Lebensbereich ausgewirkt hat, nach Lage der Dinge (ζ. B. langjährige unbeanstandete Teilnahme am Straßenverkehr als Berufskraftfahrer) und nicht zuletzt unter wirtschaftlichem Druck (ζ. B. drohender Arbeitsplatzverlust oder berufliche Existenzvernichtung) jedoch gewährleistet ist, daß der Beschuldigte seinen Beruf als Berufskraftfahrer 530 oder landwirtschaftlicher Treckerführer 531 auch weiterhin ohne Beanstandungen ausüben wird 532 . Die Voraussetzungen zur Beschränkung der vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung entsprechen im übrigen den Umständen, unter denen bei der (endgültigen) Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 a Abs. 2 Ausnahmen von der Sperre möglich sind; auf die dortigen Erläuterungen wird verwiesen (Rdn. 9 ff zu § 69 a). 132
Nur bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen können von der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis ausgenommen werden. Damit sind vor allem solche Kraftfahrzeugarten gemeint, auf die nach § 5 Abs. 1 S. 2 StVZO die Fahrerlaubnis beschränkt werden kann; Fahrzeugart ist mit Fahrerlaubnisklasse dabei nicht identisch. Maßgeblich für den Begriff der Kraftfahrzeug-„Art" sind nicht technisch-konstruktive Besonderheiten und auch nicht unterschiedliche Antriebsarten, sondern allein der Verwendungszweck, soweit er sich in bauartlichen Unterschieden auswirkt; auf die Erläuterungen zu § 44 (dort Rdn. 47 ff) und zu § 69 a (dort Rdn. 8) wird verwiesen. Ebenso wie dort sind somit andere Beschränkungen (etwa auf bestimmte Zeiten, Orte, Zwecke oder Fahrzeuge bestimmter Eigentümer/ Halter) auch im Rahmen des § 111 a Abs. 1 S. 2 StPO unzulässig 533 .
133
b) Auch wenn nach § 111 a Abs. 1 S. 2 bestimmte Kraftfahrzeugarten von der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis ausgenommen werden, wirkt diese als Anordnung oder Bestätigung der Beschlagnahme des (von einer deutschen Behörde ausgestellten) Führerscheins (§ 111 a Abs. 3 StPO); der Führerschein muß somit in amtliche Verwahrung genommen werden. Anders als bei § 69 a Abs. 2, wo die Fahrerlaubnis endgültig und in vollem Umfang entzogen wird (näher dazu Rdn. 14 zu § 69 a), bleibt diese unter den Voraussetzungen des § 111 a Abs. 1 S. 2 StPO in dem Umfang erhalten, in dem bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen ausgenommen sind. Somit ist die Verwaltungsbehörde gehalten, im Umfang der beschränkten Fahrerlaubnis einen Ersatzführerschein auszustellen 534 . Nach Wegfall der vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung oder bei Rechtskraft der endgültigen Entscheidung ist der Ersatzführerschein wieder einzuziehen 535 . Zur Rückgabe des Führerscheins s. nachfolgend auch Rdn. 166 ff. 4. Anordnung, Wirkung und Durchsetzung.
134
a) Die Anordnung erfolgt (nur) durch richterlichen Beschluß (Abs. 1 S. 1); eine Notzuständigkeit der Staatsanwaltschaft oder der Polizei gibt es nicht. Sofern die Voraussetzungen des § 111 a Abs. 1 gegeben sind, können Staatsanwaltschaft und Polizei den Führerschein jedoch am Tatort oder alsbald danach in der Wohnung des Beschuldigten 530
Statt vieler: OLG Düsseldorf MDR 1984 165 = VRS 66 (1984) 42, OLG Köln VRS 68 (1985) 278, LG Bielefeld NZV 1989 366 (Panzerfahrer der Bundeswehr), LG Nürnberg DAR 1982 26 (Trunkenheitsfahrt eines Lkw-Fahrers: im rein privaten Bereich und unter dem Eindruck familiärer Schwierigkeiten), LG Kempten DAR 1984 127 sowie AG Neuss ZfS 1984 160, AG Dortmund DAR 1987 30 und AG Monschau DAR 1990 310. Auf dieser Linie jüngst auch LG Hamburg DAR 1996
S3' LG Köln DAR 1982 275. 532 Deutlich strenger als die tatrichterliche Praxis insoweit meist die Position der Obergerichte: vgl. OLG Hamm NJW 1971 1618, OLG Karlsruhe VRS 55 (1978) 122, OLG Koblenz VRS 60 (1981) 44 und BayObLG VRS 63 (1982) 271. 533 OLG München NJW 1992 2777 (keine Ausnahme nur für bestimmte Probe- und Kontrollfahrten). 534 v g Mainz NJW 1986 3158. 535 Janiszewski 753.
108.
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§69
sicherstellen (§ 94 Abs. 3 StPO), (nur) bei „Gefahr im Verzug" notfalls auch beschlagnahmen (§§ 94 Abs. 3 mit Abs. 1 und 98 Abs. 1 S. 1 StPO); dazu nachfolgend Rdn. 160 ff. Ermittlungsverfahren, in denen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet wurde, sind mit besonderer Beschleunigung zu führen (zu den Folgen eines Verstoßes nachfolgend Rdn. 146)536. Die richterliche Anordnung ist grundsätzlich während des ganzen Verfahrens möglich, also vom Beginn der Ermittlungen bis zur Rechtskraft der Entscheidung (zu Besonderheiten im Rechtsmittelzug nachfolgend Rdn. 150 ff). Da es sich bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis um eine Untersuchungshandlung (§ 162 StPO) handelt, ist im Ermittlungsverfahren ein entsprechender Antrag der Staatsanwaltschaft nötig; nach Erhebung der Anklage kann das zuständige Gericht die Fahrerlaubnis ohne einen solchen Antrag von Amts wegen vorläufig entziehen. Zu Fragen der Zuständigkeit im einzelnen s. nachfolgend Rdn. 147 ff. Weil der Beschluß über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis mit der 135 Beschwerde angegriffen werden kann (nachfolgend Rdn. 173 ff), ist er ausweislich von § 34 StPO zu begründen. In den Regelfällen des § 69 Abs. 2 kann die Begründung verhältnismäßig knapp und nur durch mehr oder weniger summarische Angaben der Tatsachen erfolgen, aus denen sich der dringende Tatverdacht für die Anlaßtat ergibt; es genügt aber nicht, letztlich bloß den Wortlaut des Gesetzes zu wiederholen 537 . Auch in diesen Fällen muß der Beschluß jedoch, soll er nicht unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbotes (Art. 3 Abs. 1 GG) sogar verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegen, jedenfalls nachvollziehbar begründet sein (BVerfG VRS 90 [1996] 1). Außerhalb der Regelfälle und bei Einschränkungen nach § 111 a Abs. 1 S. 2 StPO ist eine etwas ausführlichere Begründung geboten, die sich vor allem auf die Umstände zu erstrecken hat, aus denen sich die Annahme ergibt, daß es in der späteren Entscheidung zur endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis kommen werde. Eine fehlende/unzureichende Begründung kann mit der Beschwerde angefochten werden (§ 304 Abs. 1 StPO); dabei muß das Beschwerdegericht in der Sache selbst entscheiden (§ 309 Abs. 2 StPO), darf die Sache also nicht an den iudex a quo zurückverweisen 538 . Das Fehlen einer Begründung ist unschädlich, wenn der Beschluß zugleich mit einem die endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis aussprechenden Urteil ergeht 539 . Im Hinblick auf den dem Beschuldigten (ggf.) auszuhändigenden Ersatzführerschein ist in der Beschlußformel eine möglichst detaillierte Beschreibung der nach § 111 a Abs. 1 S. 2 von der vorläufigen Entziehung ausgenommenen Kraftfahrzeugart angebracht 540 . Wird die Entscheidung außerhalb einer Hauptverhandlung getroffen, ist — jeweils vor 136 Erlaß des Beschlusses — sowohl die Staatsanwaltschaft zu hören (§ 33 Abs. 2 StPO) als auch dem Beschuldigten rechtliches Gehör zu verschaffen (§ 33 Abs. 3 StPO). Zwar 516
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So erklärtermaßen auch das BVerfG NZV 1995 77 = DAR 1995 104 = VRS 88 (1995) 5; vgl. auch OLG Köln DAR 1991 229 = NZV 1991 243 = StV 1991 248 sowie OLG Düsseldorf ZfS 1994 186. Zustimmend Janiszewski NStZ 1994 577. OLG Hamm DAR 1954 63. Ausführlich Hentschel DAR 1975 265 sowie zusammenfassend Himmelreich/Henlsche! Bd. I Rdn. 229 a; vgl. auch Lienen DAR 1958 261. Ausführlich Hentschel DAR 1975 265. So für den Fall eines Berufungsurteils OLG Koblenz VRS 71 (1986) 39 und VRS 73 (1987) 292; zustimmend Kleinknecht/Meyer-Goßner 6 zu § 111 a StPO. In der Praxis hat sich folgende Tenorierung be-
währt: „Dem Beschuldigten wird die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen vorläufig entzogen. Ihm wird gestattet, im öffentlichen Straßenverkehr weiterhin... (dann folgt eine möglichst detaillierte Beschreibung der jeweiligen Kraftfahrzeugart: ζ. B. landwirtschaftliche Traktoren, Sanitätsfahrzeuge zum Transport von Behinderten, Panzer der Bundeswehr, Container- und Müllfahrzeuge Uber 7,5 t o. ä.) zu fahren." Zu den einzelnen Beispielen s. LG Köln DAR 1982 275 (landwirtschaftlicher Traktor), LG Hamburg NJW 1987 3211 (Sanitätsfahrzeug), LG Bielefeld NZV 1989 366 (Panzer der Bundeswehr) sowie AG Homburg ZfS 1994 185 (Müllfahrzeuge über 7,5 t: dazu auch Janiszewski NStZ 1994 577).
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
sieht § 33 Abs. 4 StPO eine Ausnahme vom Grundsatz vorheriger Anhörung vor, wenn diese den Zweck der Maßnahme gefährden würde; doch weil in Eilfällen die Beschlagnahme des Führerscheins möglich (§§ 94 Abs. 3, 98 und l i l a StPO) und erfahrungsmäß auch erfolgversprechend ist 541 , wird der nur für Notfälle vorgesehene Ausweg des § 33 Abs. 4 StPO von der in Rechtsprechung und Schrifttum h. M. vorliegend zu Recht abgelehnt 542 . 137
Auch wenn die Anforderungen an die Durchführung rechtlichen Gehörs angesichts der Eilnatur der Maßnahme nicht überzogen dürfen, muß das Verfassungsgebot rechtlichen Gehörs angesichts bekannt strenger Judikatur des BVerfG zu Art. 103 Abs. 1 GG (BVerfGE 57 250 273) auch bei einfachen Sachverhalten ernstgenommen werden; es darf jedenfalls nicht nur als „sinnloser, das Verfahren unnötig verzögernder und damit für den Beschuldigten selbst nachteiliger leerer Formalismus" abgetan werden 543 . Selbst wenn das rechtliche Gehör nicht unbedingt durch das Gericht selbst erfolgen muß, sondern von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft „vor Ort" gewährt werden kann 544 , muß sichergestellt sein, daß der Beschuldigte in Kenntnis des ihm vorgeworfenen Unrechts sich zu allen maßgeblichen Tatsachen und Beweisergebnissen äußern kann, auf die sich das Gericht bei seiner Entscheidung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis stützen kann. Umgekehrt muß das Gericht aus den Akten erkennen können, in welcher Weise sich der Beschuldigte gegen die ihm gemachten Vorwürfe eingelassen hat 545 . Daher wird allein die polizeiliche Vernehmung nach einem Verkehrsunfall, bei der dem Beschuldigten das positive Ergebnis eines Alcotests mitgeteilt und ihm die Möglichkeit gegeben wurde, Angaben über den Alkoholgenuß und den Tathergang zu machen, die Anhörung vor dem zur Entscheidung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis berufenen Richter in aller Regel nicht ersetzen können; dem Beschuldigten wird vielmehr auch die Möglichkeit einzuräumen sein, zum (späteren) Ergebnis der Blutuntersuchung Stellung nehmen zu können 546 . Der bloße Vermerk der Polizei, der Betroffene sei mit der Sicherstellung des Führerscheins einverstanden, genügt selbst in einfach gelagerten Fällen den Anforderungen rechtlichen Gehörs nicht 547 .
138
b) Wirkung des Beschlusses. Die Bezeichnung „vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis" ist mißverständlich; die richterliche Anordnung hebt nämlich nicht die Fahrerlaubnis als solche auf (die ausweislich von § 69 Abs. 3 S. 1 erst mit Rechtskraft der Hauptentscheidung erlischt: dazu bereits Rdn. 115 ff), sondern begründet nur ein durch § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG strafbewehrtes Gebot, von ihr Gebrauch zu machen (zu den strafund ordnungswidrigkeitenrechtlichen Folgen der Nichtbeachtung nachfolgend Rdn. 184 f)548 wird die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis vor Rechtskraft der Entscheidung 541
542
543
Sofern der Beschuldigte noch im Besitz des Führerscheins ist, gegenteiliger Ansicht LR-G.Schäfer 50 zu § l i l a (mit der Begründung, daß bei vorherigem rechtlichem Gehör die Beschlagnahme des Führerscheins in der Praxis häufig durch angeblichen „Verlust" vereitelt oder zeitlich maßgeblich verzögert werden könne); in dieser Richtung auch LR-Wendisch 40 zu § 33. Beide fordern aber jedenfalls nachträgliches rechtliches Gehör. LG Mainz NJW 1968 414. Ebenso Koch DAR 1968 178, Dahs NJW 1968 414 und Hentschel DAR 1988 90 sowie derselbe in Himmelreich/ Hentschel Bd. I Rdn. 225; zustimmend auch Kleinknecht/Meyer-Goßner 6 zu § 111 a StPO. So aber LG Mainz NJW 1968 414 (berechtigte Kritik von Dahs aaO).
544
So im Ergebnis auch LG Mainz NJW 1968 414. In dieser Richtung jedenfalls im Ergebnis wohl auch LG Mainz NJW 1968 414; insoweit zustimmend Dahs NJW 1968 414. Mit weiteren Einzelheiten hierzu Koch DAR 1968 178 und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 225. 546 Weniger streng LG Mainz NJW 1968 414; zustimmend Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 225 sowie LR-Meyer, StPO (23. Aufl.), 25 zu § 111 a StPO. Wie hier jedoch LR-G.Schäfer 54 zu § 111 a StPO. 5« Koch DAR 1968 178, Dahs NJW 1968 414 und Himmelreich/Hentschel Bd. 1 Rdn. 225. 548 Vgl. auch Kleinknecht/Meyer-Goßner 8 zu § 111 a StPO. 545
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§69
wieder aufgehoben, bedarf es keiner neuen Fahrerlaubnis. Sofern die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis in Abwesenheit des Beschuldigten verkündet wird, wird sie erst mit Bekanntgabe des Beschlusses an ihn wirksam 549 ; die Zustellung des Beschlusses wird vom Gericht veranlaßt (§ 36 Abs. 1 StPO). Obgleich nach § 35 Abs. 2 S. 2 StPO an sich eine formlose Mitteilung genügt, empfiehlt sich (im Hinblick auf Beweisfragen zu § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG) die förmliche Zustellung 550 ; dabei sollte der Beschuldigte zweckmäßigerweise zugleich über das damit verbundene strafbewehrte Fahrverbot belehrt werden 551 . Erforderlich ist eine schriftliche Mitteilung; die bloß mündliche Information durch Dritte (etwa durch einen Polizeibeamten anläßlich einer Verkehrskontrolle) genügt nicht 552 . c) Durchsetzung der Maßnahme. Da die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis 139 ihre Wirkung (als strafbewehrtes Fahrverbot) bereits mit Zustellung des EntziehungsBeschlusses an den Beschuldigten entfaltet (Rdn. 138), bedarf sie zu ihrer Durchsetzung an sich keiner weiteren Vollstreckung; der Sicherung des Fahrverbotes dient insofern allein § 21 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Abs. 2 Nr. 2 StVG sowie zur Absicherung dieses Straftatbestandes die Einziehung des Führerscheins, die unter den Voraussetzungen des § 111 a Abs. 1 StPO auch im vorläufigen Entziehungsverfahren zulässig ist (§ 111 a Abs. 3 StPO). Zur Sicherung der Einziehung kann der Führerschein nach § 94 Abs. 3 StPO bereits vor der richterlichen § 111 a StPO-Entscheidung sichergestellt werden (dazu nachfolgend Rdn. 164 f)· Ist der Führerschein bereits beschlagnahmt oder durch freiwillige Herausgabe an die Polizei sichergestellt worden, erübrigen sich weitere Vollstreckungsmaßnahmen durch die Staatsanwaltschaft. Andernfalls ist der Entziehungs-Beschluß der Staatsanwaltschaft zur Veranlassung der erforderlichen Vollstreckungsmaßnahmen zuzuleiten (§ 36 Abs. 2 S. 1 StPO); dies geschieht zweckmäßigerweise auch dann, wenn der Führerschein (wie in der Praxis meist der Fall) bereits vorher nach § 94 Abs. 3 StPO in Verwahrung genommen worden ist 553 . Zu besonderen Registrierungs- und Mitteilungspflichten s. nachfolgend Rdn. 182 f. 5. Aufhebung der Anordnung. Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist von 140 Amts wegen aufzuheben (§ 111 a Abs. 2 StPO), wenn ihr Grund weggefallen ist (dazu nachfolgend Rdn. 142 ff) oder die Fahrerlaubnis in der späteren Hauptentscheidung endgültig nicht entzogen wird (dazu Rdn. 141); unter strengen Voraussetzungen kann auch das aus dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip herzuleitende Beschleunigungsgebot zu einer vorläufigen Aufhebung führen (dazu Rdn. 146). Bestimmte Prüfungsfristen sind im Gesetz nicht vorgesehen. Da das nach dem Stand des Verfahrens mit der Sache befaßte und cjamit grundsätzlich auch für die Aufhebung zuständige Gericht (zu Zuständigkeitsfragen im einzelnen nachfolgend Rdn. 147 ff) Verfahren, in denen die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen wurde, mit besonderer Dringlichkeit zu betreiben hat 554 , hat es auch die Frage einer vorzeitigen Aufhebung der Maßnahme in jedem Stadium des Verfahrens im Auge zu behalten; eine solche Prüfungspflicht obliegt auch der Staatsan-
BGHZ 38 86 = NJW 1962 2104 = VRS 23 (1962) 433; ebenso OLG Köln NZV 1991 360 und VRS 52 (1977) 271, OLG Stuttgart VRS 79 (1990) 303, KG VRS 42 (1972) 210, BayObLG bei Rüth DAR 1966 262 sowie OLG Hamm DAR 1957 25. Vgl. auch Hentschel DAR 1988 91. LG Hildesheim NdsRpfl 1988 251 = NStE Nr. 1 zu § 35 StPO; ebenso Kleinknecht/Meyer-Goßner 6 und Schulz in HK-StVR 6 - je zu § 111 a StPO. (81)
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Kleinknecht/Meyer-Goßner 8 zu § 111 a StPO. OLG Hamm VRS 57 (1979) 125. OLG Stuttgart VRS 79 (1990) 303 und VRS 35 (1968) 138 sowie OLG Karlsruhe VRS 53 (1977) 461. Vgl. KK-Nack 6 und LR-G.Schäfer 57 - je zu § 111 a StPO. So zuletzt nachdrücklich BVerfG NZV 1995 77 = VRS 88 (1995) 5; vgl. auch OLG Düsseldorf NZV 1994 291 und OLG Köln NZV 1991 243.
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§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat 555
waltschaft . Ungeachtet dessen ist umstritten, ob das Gericht an Aufhebungsanträge gebunden ist, die die Staatsanwaltschaft vor Erhebung der öffentlichen Klage gestellt hat. Während die einen die Frage mit Rücksicht auf die Verfahrensherrschaft der Staatsanwaltschaft jedenfalls für dieses Stadium bejahen und für eine entsprechende Anwendung von § 120 Abs. 3 S. 1 StPO plädieren 556 , lehnt die h. M. eine solche Bindung mit Recht ab 557 : dies vor allem deshalb, weil die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis — insofern anders als die Untersuchungshaft — nicht der Sicherung des Verfahrens, dessen „Herrin" bis zur Erhebung der öffentlichen Klage die Staatsanwaltschaft ist (§ 156 StPO), sondern als vorweggenommene Maßregel der Sicherheit des Verkehrs dient und damit ausschließlich zum Verantwortungsbereich des für Anordnung und Aufhebung allein zuständigen „Richters" (§ 111 a Abs. 1 S. 1) gehört. Danach darf die Staatsanwaltschaft auch nicht von sich aus (etwa durch Rückgabe des beschlagnahmten/sichergestellten Führerscheins) die vorläufige Fahrerlaubnisentziehung „faktisch" aufheben 558 . Da mit Rechtskraft der verfahrensbeendenden Entscheidung automatisch auch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis erlischt, bedarf es diesbezüglich an sich keines besonderen Beschlusses; soweit die abschließende Hauptentscheidung jedoch keine (endgültige) Entziehung der Fahrerlaubnis ausspricht, empfiehlt es sich, durch (getrennten) Beschluß aus Klarstellungsgründen zugleich auch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufzuheben (deklaratorische Wirkung) 559 . Zu den Auswirkungen des § 111 a Abs. 2 StPO auf die (erstmalige oder erneute) Anordnung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis in der Rechtsmittelinstanz nachfolgend Rdn. 151 ff. 141
Folgende Aufhebungsgründe kommen in Betracht: a) Ausweislich der 2. Alt. von § 111 a Abs. 2 (insofern Spezialfall der vorangestellten 1. Alt.) muß die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufgehoben werden, „wenn das Gericht im Urteil die Fahrerlaubnis nicht entzieht" (Nichtentziehung der Fahrerlaubnis); weil mit Rechtskraft der verfahrensbeendenden Entscheidung auch die Wirkung einer vorläufigen Entziehung erlischt (Rdn. 140), kann damit nur der Fall eines noch nicht rechtskräftig gewordenen Urteils 560 gemeint sein, in dem der Angeklagte entweder freigesprochen oder (möglicherweise sogar zu einem Fahrverbot) verurteilt worden ist, von einer Entziehung der Fahrerlaubnis aber endgültig abgesehen wurde 561 . Die Regelung bedeutet eine Art gesetzlicher Vermutung dafür, daß die „dringenden Gründe" für eine spätere (endgültige) Entziehung der Fahrerlaubnis nach instanzabschließender gerichtlicher Überprüfung entfallen sind 562 . Folglich zwingen auch alle verfahrensbeendenden Beschlüsse (einschließlich der Einstellungen nach §§ 153 ff StPO) zur Aufhebung der vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung; auch insoweit kann es nicht mehr zu einer Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 1 kommen (dazu Rdn. 20) 563 . 555
Kohlhaas in HK-StVR 8 zu § 111 a StPO. 556 So vor allem Willschier NJW 1985 1324; dem folgend LG Bückeburg NdsRpfl 1987 200 sowie KKNack 7 zu § 111 a StPO und Janiszewski 755. 557 AG Münster Μ DR 1972 166; auf dieser Linie (und nachdrücklich gegen Willschier NJW 1985 1324) vor allem D.Meyer DAR 1986 47. Ebenso LRG.Schäfer 45 a, KMR-MUller 20, Kleinknecht/Meyer-Goßner 14 — je zu § 111 a StPO — sowie Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 233. 558 D.Meyer DAR 1986 48. 559 OLG Karlsruhe NJW 1960 2113 = DAR 1961 173; ebenso LR-G.Schäfer 29 und 39, Kohlhaas in HKStVR 11 und KK-Nack 8 - je zu § 111 a StPO sowie Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 240.
560
Dem gleichzustellen: eines Strafbefehls (LG Stutt, gart StV 1986 427). LR-G.Schäfer 39 zu § 111 a StPO und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 562 Dies entspricht der Regelung im Haft- und Unterbringungsverfahren, wonach die Einlegung eines Rechtsmittels zuungunsten des Angeklagten nach instanzabschließender gerichtlicher Prüfung die Beseitigung der zuvor nur vorläufig getroffenen Anordnung nicht verzögern darf (§§ 120 Abs. 3 S. 1 und 126 a Abs. 3 StPO). 563 AG Münster MDR 1972 166; zustimmend Wittschier NJW 1985 1324. Ebenso LR-G.Schäfer 39 zu § 111 a StPO. 561
Stand: 31.5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§69
b) Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist ferner aufzuheben, „wenn ihr 142 Grund weggefallen ist" (1. Alt.), d. h. wenn auf Grund weiterer Aufklärung des Sachverhalts der Verdacht oder jedenfalls der „dringende" Verdacht für die Anlaßtat entfallen ist oder angesichts abgeschwächter Prognosegrundlagen keine ausreichende Wahrscheinlichkeit (dazu bereits Rdn. 128) für eine endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis mehr besteht. Dies kann vor allem in Betracht kommen, wenn die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis schon verhältnismäßig lange gedauert hat und demzufolge (ggf. im Zusammenwirken mit der Teilnahme an einem Nachschulungskurs) die „dringende" Erwartung nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, daß es in der Hauptverhandlung zu einer endgültigen Fahrerlaubnisentziehung kommen wird (dazu bereits Rdn. 94 ff) 564 . Dies gilt auch dann, wenn die Verzögerung des Verfahrens durch Beweisanträge oder das Prozeßverhalten des Angeklagten verursacht worden ist; der gegenteilige Rechtsstandpunkt wäre nicht maßregelgerecht und liefe auf eine unstatthafte „Prozeßstrafe" hinaus 565 . Wenn sich die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach Lage der Dinge auf den Beschuldigten jedoch nicht belastend ausgewirkt hat, ihre spezialpräventive Wirkung somit überhaupt nicht entfalten konnte (etwa bei langem Auslandsaufenthalt, Krankheit oder Verbüßung einer Strafe 566 , aber auch bei permanenter Verletzung des Fahrverbotes 567 ), führt die lange Dauer der vorläufigen Entziehung für sich allein nicht zur Aufhebung der Maßnahme 568 . Angesichts der nur summarischen Prüfungsmöglichkeiten im Verfahren nach § 111 a StPO wird die Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis außerhalb einer Hauptverhandlung nur in Ausnahmefällen zugelassen 569 ; die Rechtsprechung stellt insoweit zu Recht strenge Anforderungen 570 . Besondere Schwierigkeiten entstehen, wenn die Zeit, innerhalb derer die vorinstanzlich 143 festgesetzte Sperrfrist bei Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung bereits abgelaufen wäre, während des Rechtsmittelverfahrens verstreicht (Zeitablauf im Rechtsmittelverfahren)571. Diesbezüglich ist zwischen Berufung und Revision zu unterscheiden: (1) Auch die besondere Länge des Berufungsverfahrens zwingt nur dann zur Aufhebung des vorläufigen Fahrerlaubnisentzugs, wenn unter prognostischer Berücksichtigung der Dauer der vorläufigen Entziehung (ggf. unterstützt durch zwischenzeitliche Nachschulung) zu erwarten ist, daß es im Berufungsurteil nicht zu einer endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis kommt; der „Zeitablauf' als solcher ist nicht maßgeblich572. In aller Regel hat das Berufungsgericht keinen Anlaß, in dem nur summarischen Verfahren nach § 111 a die vorinstanzlich (unter den Kautelen einer Hauptverhandlung) getroffene Entscheidung zu korrigieren, wenn seit Verkündung der erstinstanzlichen Entscheidung eine der dort festgesetzten Sperrfrist entsprechende Zeit überhaupt noch nicht verstrichen ist573. Dabei bleibt es grund564
Dazu auch Janiszewski 755 sowie Himmelreich/ Hentschel Bd. I Rdn. 235; vgl. auch Schneble BA 1980 290 und Gebhardt DAR 1981 111. 565 AG Emmerich DAR 1969 247; ebenso Hentschel DAR 1976 9 und Janiszewski DAR 1989 137. 566 LG Hamburg Μ DR 1973 1034. OLG Düsseldorf NZV 1988 194. 568 Gegenteiliger Ansicht offenbar LG Hamburg MDR 1973 1034 (langjähriger Auslandsaufenthalt des Beschuldigten); zustimmend Linß S. 106 ff. Wie hier OLG Düsseldorf NZV 1988 194 (bei permanenter Verletzung eines Fahrverbotes); ebenso Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 239. 569 Vgl. LG Hanau DAR 1980 25 sowie LG Köln BA 1980 289 (zustimmend Gebhardt DAR 1981 111) und BA 1982 377 (nur „in eindeutigen Fällen minderen Gewichts und objektiv erheblicher Auswir(83)
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kungen" des vorläufigen Zwangsausschlusses aus dem Straßenverkehr: für folgenlose Trunkenheit im Verkehr bei einer BÄK von 2.035?< verneint). Speziell zur (damals noch recht zurückhaltenden) Berücksichtigung zwischenzeitlicher Teilnahme an Nachschulungskursen s. vor allem LG Köln BA 1980 289 (zustimmend Schneble aaO 290) und BA 1982 377 sowie LG Hanau DAR 1980 25; vgl. auch Himmelreich DAR 1989 9. Weiterführend Hentschel DAR 1976 9, Linß Die vorl. Entziehung der Fahrerlaubnis S. 104 ff und AK/StPO-Achenbach 12 ff zu § 111 a StPO. Bedenklich OLG Hamm JMB1 NW 1964 191. Vgl. OLG Hamburg NJW 1966 2373 = VM 1966 79 und OLG München DAR 1977 50; so im Ergebnis auch OLG Koblenz VRS 67 (1984) 256. Ebenso Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 237.
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§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
sätzlich auch dann, wenn die im angefochtenen Urteil festgesetzte Sperrfrist zwischenzeitlich „abgelaufen" ist 574 . Ein Schematismus scheidet schon deshalb aus, weil das Gesetz selbst die spezialpräventive Wirkung der vorläufigen Entziehung derjenigen der endgültigen nicht gleichsetzt; sonst hätte es der Regelung in § 69 a Abs. 4 S. 2 nicht bedurft 575 . Ungeachtet dessen hat das Berufungsgericht in einem solchen Fall besonders sorgfältig zu prüfen, ob der frühere Eignungsmangel entgegen ursprünglicher Prognose noch andauert. Es darf sich der Prüfung, ob noch immer „dringende Gründe" für die Annahme einer Fahrerlaubnisentziehung vorhanden sind, jedenfalls nicht mit dem nicht näher substantiierten Hinweis entziehen, bloßer Zeitablauf während des ΒerufungsVerfahrens rechtfertige die Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nicht 576 ; in gleicher Weise darf es nicht maßgeblich darauf abstellen, daß jeder, der gegen ein die Entziehung der Fahrerlaubnis anordnendes Urteil Berufung einlegt, zwangsläufig mit einer Verlängerung der erstinstanzlich festgesetzten Dauer des Zwangsausschlusses aus dem Straßenverkehr rechnen müsse 577 . Die Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis ist somit nur dann zwingend geboten, wenn die endgültige Entziehung in der Berufungsverhandlung wegen erheblichen Zeitablaufs unwahrscheinlich wird 578 ; da es sich dabei jedoch nicht um eine Billigkeitsgrenze handelt 579 , bleibt es dem Berufungsgericht unbenommen, substantiiert darzulegen, weshalb es trotz erheblicher Überschreitung der vorinstanzlich vorgesehenen Dauer der Fahrerlaubnisentziehung in der bevorstehenden Hauptverhandlung vermutlich bei einer Entziehung der Fahrerlaubnis bleibt580. Zu Ausnahmen aus der Sicht des Verhältnismäßigkeitsprinzips s. nachfolgend Rdn. 146. 144
(2) Im Revisionsverfahren führt § 69 a Abs. 5 S. 2 an sich dazu, daß die seit Verkündung des angefochtenen Urteils verstrichene Zeit einer wegen der Tat angeordneten vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis in die Sperrfrist eingerechnet wird (s. dazu Rdn. 71 ff zu § 69 a). Ungeachtet dessen bleibt zu klären, ob die vorläufige Entziehung jedenfalls dann nach § 111 a Abs. 2 StPO aufgehoben werden muß, wenn jene Zeit abgelaufen ist, bevor über die Revision entschieden ist und die Sperre zu laufen beginnen kann (§ 69 a Abs. 5 S. 1). In dieser nach wie vor umstrittenen Frage 581 mehren sich seit Beginn der 80er Jahre vor allem in der Rechtsprechung die Stimmen, die sich insoweit gegen eine (obligatorische) Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis aussprechen582: eine Aufhe574 Vgl. Statt vieler OLG Hamburg NJW 1966 2373, OLG München DAR 1977 49 sowie OLG Koblenz VRS 67 (1984) 256 und VRS 68 (1985) 42; ebenso Hentschel DAR 1976 9. 575 Vgl. LR-G.Schäfer 35 zu § 111 a StPO. 576 Bedenklich OLG Düsseldorf VRS 79 (1990) 23. 577 Bedenklich KG NJW 1960 2112 und OLG Hamm J M B 1 N W 1964 191. 578 S. statt vieler KG NJW 1960 2112 („ungewöhnlich lange": im konkreten Fall mehr als doppelt so lange), OLG Hamm JMB1 NW 1964 191 (fast doppelt so lang), OLG Hamburg NJW 1966 2373, OLG Bremen VRS 31 (1966) 454 (rund zehn Monate länger), OLG München DAR 1975 133, OLG Koblenz VRS 67 (1984) 256 und VRS 68 (1985) 41 sowie OLG Zweibrücken NZV 1989 442. Auf dieser Linie weithin auch das Schrifttum: vgl. Janiszewski DAR 1989 137 sowie Hentschel (DAR 1976 9, DAR 1988 331 und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 236) sowie KK-Nack 10, Kleinknecht/Meyer-Goßner 11, LRG.Schäfer 35 und AKJStPO-Achenbach 13 - je zu § 111 a StPO. Zur Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis im Berufungsrechtszug
(dort: nach 17-monatiger Dauer) neuerdings auch BVerfG NZV 1995 77 = DAR 1995 104 = NStZ 1994 577 (bei Janiszewski). 579 So im Anschluß an die berechtigte Kritik von Hentschel DAR 1976 10 (an OLG München DAR 1975 132) zutreffend OLG München DAR 1977 50 (seine frühere Entscheidung korrigierend). 580 S. hierzu KG VRS 35 (1968) 292 und OLG Düsseldorf NZV 1988 194. 581 Weitere Nachweise bei Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 241 — 241b, Janiszewski 757, Linß aaO S. 108 ff sowie Grohmann DRiZ 1989 138 ff. 582 So im Einklang mit der damals h. M. im Schrifttum noch OLG Celle NdsRpfl 1967 182, OLG Karlsruhe VRS 34 (1968) 347 = NJW 1968 460 und NJW 1975 455 = VM 1975 68, OLG Saarbrücken MDR 1972 533, OLG Frankfurt (2. Senat) NJW 1973 1335 sowie VM 1978 47 (3. Senat), OLG Bremen DAR 1973 332, OLG Zweibrücken NJW 1977 448, OLG Hamburg DAR 1978 256, OLG Koblenz MDR 1978 337 sowie OLG Köln ZfS 1981 188: je mit Nachweisen auch für die einschlägige Kommentarliteratur.
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§ 6 9
bung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis in diesem Stadium des Verfahrens komme einer Neuerteilung der Fahrerlaubnis gleich, für die nicht das Gericht, sondern ausweislich der §§2 Abs. 1 StVG und 15 c StVZO ausschließlich die Verwaltungsbehörde zuständig sei 583 ; zudem habe der Strafrichter mit Festsetzung der Sperrfrist gerade keine Entscheidung darüber zu treffen gehabt, daß der Angeklagte nach Ablauf der Sperre wieder geeignet sei 584 . Etwas anderes ergebe sich (ausnahmsweise) allenfalls dort, wo sich das Revisionsverfahren außergewöhnlich in die Länge zieht und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Aufhebung der vorläufigen Entziehung verlangt; dazu nachfolgend Rdn. 146585. Von der hier befürworteten Gegenposition aus, die vorwiegend im Schrifttum vertre- 145 ten wird 586 , vereinzelt aber auch in der Rechtsprechung Zustimmung findet587, ist darauf hinzuweisen, daß die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis mit Ablauf der der tatrichterlichen Sperre entsprechenden Zeit ihre Berechtigung verloren hat. Es bleibt daher auch bei Verstreichen der Sperrfrist vor Rechtskraft bei der Pflicht des Revisionsgerichtes, die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis analog § 111 a Abs. 2 StPO aufzuheben; ein Angeklagter darf auch über den Weg des § 111 a StPO insgesamt nicht länger aus dem Verkehr ausgeschlossen werden, als der letztentscheidende Tatrichter dies für geboten gehalten hat. Nach dem Erfordernis der geringstmöglichen Beeinträchtigung erlaubt die vorläufige Maßnahme zudem keinen weitergehenden Eingriff in die Rechtsposition des Betroffenen als die endgültige Maßnahme, die zu sichern ihre alleinige Aufgabe ist 588 . Die hier befürwortete Rechtsansicht bedeutet keinen unzulässigen Eingriff in die Kompetenz der Verwaltungsbehörde; denn hat die Revision des Angeklagten Erfolg und bestätigt das Revisionsgericht die tatrichterlich angeordnete Entziehung der Fahrerlaubnis nicht, kommt mangels strafgerichtlich entzogener Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 3 StVG auch keine behördliche Entziehung in Betracht. Bestätigt das Revisionsgericht jedoch die tatrichterliche Entscheidung, bleibt es bei der rechtskräftigen Entziehung, selbst wenn das Revisionsgericht die vorläufige Entziehung zwischenzeitlich durch Beschluß (analog § 111 a Abs. 2 StPO) aufgehoben hat. In diesem Fall folgt die Neuerteilung der Fahrerlaubnis durch die Verkehrsbehörde wiederum den §§ 2 Abs. 1 StVG und 15 c StVZO; die Kompetenz der Verwaltung ist also auch bei dieser Variante nicht beeinträchtigt. c) Ebenso wie Haftsachen sind auch Verfahren, in denen die Fahrerlaubnis vorläufig 146 entzogen wurde, mit besonderer Dringlichkeit durchzuführen 589 . Ungeachtet dessen 583
584
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So die deutlich im Vordringen begriffene herrschende Position in der obergerichtlichen Judikatur: s. im Anschluß an OLG Schleswig VRS 53 (1977) 121 = DAR 1977 193 und KG VRS 53 (1977) 278 auch OLG München MDR 1979 1042 = NJW 1980 1860, OLG Frankfurt (4. Strafsenat) VRS 58 (1980) 419 (insoweit gegen den 3. Strafsenat: VRS 55,42), OLG Hamburg NJW 1981 2590 = DAR 1981 27 = JR 1981 337 (zustimmend Rüth aaO S. 338), OLG Düsseldorf VRS 64 (1983) 262 = MDR 1983 220 = DAR 1983 62, OLG Stuttgart VRS 63 (1982) 363, OLG Hamm VRS 69 (1985) 221 und OLG Koblenz VRS 71 (1986) 40 sowie MDR 1986 871 (unter Aufgabe seiner gegenteiligen früheren Ansicht: vgl. MDR 1978 337). Auf dieser Linie im Schrifttum auch SchJSchröder/Stree 17 a und Dreher/Tröndle 13 - je zu § 69 a - sowie LR-G.Schäfer 37 f, Kleinknecht/ Meyer-Goßner 12 und KK-Nack 11 — je zu § 111 a StPO; s. ferner Grohmann DRiZ 1989 138 ff. Dreher/Tröndle 13 zu § 69 a und LR-G.Schäfer 37 zu § 111 a StPO.
585
So schon KG VRS 53 (1977) 278. Vgl. vor allem Henlschel (DAR 1980 172, NJW 1981 1081, DAR 1988 92 sowie in Himmelreich/ Henlschel Bd. I Rdn. 241 - 241 b und Jagusch/ Henlschel 11 zu § 69 a), Janiszewski (Rdn. 757, NStZ 1981 471, NStZ 1983 111 und DAR 1989 139), Dencker NStZ 1982 461, AK/StPO-.4c/ienbach 16 und Rudolphi SK 20 - je zu § 111 a StPO; vgl. auch Linß S. 108 ff. 587 S o i n ständiger Rechtsprechung vor allem OLG Frankfurt a. M.: zuletzt in DAR 1990 311. 588 Im übrigen darf die Revision nicht zu einem „Strafzuschlag" für den Angeklagten fuhren, der sich zu diesem in sein Belieben gestellten Rechtsmittel entschieden hat (AK/SlPO-Achenbach 16 zu § 111 a StPO). 589 So schon LG Hannover DAR 1969 247; vgl. auch LG Hildesheim NStZ 1988 569. Ebenso LRG.Schäfer 7, Kleinknecht/Meyer-Goßner 10 — je zu § 1 1 1 a StPO - sowie Himmelreich/Henlschel Bd. I Rdn. 223 und Janiszewski NStZ 1994 577. 586
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
zwingt der (an sich auch im Rahmen des § 111 a StPO gültige 590 ) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit über das bisher Gesagte hinaus nur dann zur Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis, wenn zur erheblichen zeitlichen Verzögerung des Verfahrens eine gravierende Mißachtung des rechtsstaatlichen Beschleunigungsgebotes (Art. 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 MRK) hinzukommt 591 . Vor diesem Hintergrund geht auch das BVerfG von einer Verletzung des in Art. 3 Abs. 1 GG ausgeprägten Willkürverbotes aus, wenn das Berufungsgericht lediglich nach Aktenlage und ohne neue Erkenntnisse noch vor der Berufungsverhandlung (wiederum) eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis anordnet, ohne dabei die zwingende Aufhebungsvorschrift des § 111 a Abs. 2 StPO zu beachten, nachdem und obwohl der erstinstanzlich entscheidende Richter die Fahrerlaubnis bewußt nicht entzogen und die vormals angeordnete vorläufige Entziehung (im konkreten Fall: nach insgesamt 17 Monaten) ausdrücklich aufgehoben hat 592 . 147
6. Zuständigkeit. Sachlich zuständig zur Entscheidung über die Anordnung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis ist ausweislich von § 111 a Abs. 1 S. 1 StPO „der Richter"; vorbehaltlich von Ausnahmen, die sich aus Besonderheiten im Rechtsmittelzug ergeben (dazu nachfolgend Rdn. 150 ff), ist dies im Vorverfahren der Ermittlungsrichter und nach Anklageerhebung im allgemeinen das Gericht, das nach dem jeweiligen Stand des Verfahrens mit der Sache befaßt ist 593 . Dies gilt grundsätzlich auch für die Aufliebung der vorläufigen Entziehung 594 . Im übrigen ist zu unterscheiden:
148
a) Bis zur Erhebung der öffentlichen Klage ist sachlich zuständig der Ermittlungsrichter des Amtsgerichtes; als „Untersuchungshandlungen" i. S. von § 162 Abs. 1 StPO gelten auch Maßnahmen, die der Förderung des Verfahrens durch präventive Vorwegnahme einer zu erwartenden Sanktion dienen 595 . Ist der Führerschein (von Polizei oder Staatsanwaltschaft) bereits beschlagnahmt oder sichergestellt, wirkt die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis als Bestätigung der Beschlagnahme (§ 111 a Abs. 3 StPO), für die nach § 98 Abs. 2 S. 3 StPO örtlich zuständig das Gericht ist, in dessen Bezirk die Beschlagnahme stattgefunden hat 596 . Nicht einheitlich beantwortet wird die Frage, welches Gericht für die Anordnung der vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung im Vorverfahren örtlich zuständig ist, wenn der Führerschein des Beschuldigten noch nicht sichergestellt/ beschlagnahmt ist. Im Hinblick darauf, daß die vorläufige Entziehung strukturell mit der Beschlagnahme/Sicherstellung des Führerscheins zusammenhängt und § 162 Abs. 1 S. 1 StPO für ermittlungsrichterliche Maßnahmen einen ausschließlichen Gerichtsstand (mit Vorrang vor den allgemeinen Gerichtsstandsregeln der §§ 7 ff StPO) begründet 597 , geht die wohl h. M. auch in diesem Fall von der Zuständigkeit allein des Amtsgerichtes aus, in
590 Vgl. aus jüngerer Zeit O L G Zweibrücken N Z V 1989 4 4 2 und O L G Koblenz V R S 71 (1986) 4 0 sowie früher schon KG N J W 1960 2112; s. auch Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 223. 59" Vgl. O L G Köln N Z V 1991 243 = StV 1991 248 sowie O L G Düsseldorf N Z V 1994 291 = V R S 87 (1994) 36 = StV 1994 233 = ZfS 1994 186 = StVE § 6 9 Nr. 39. 592 N Z V 1995 77 = D A R 1995 104 = V R S 88 (1995) 159; zustimmend Janiszewski N S t Z 1994 577. 593 S . s t a t t vieler O L G Celle N J W 1961 1417, O L G H a m m N J W 1969 149, O L G Karlsruhe V R S 68 (1985) 360, O L G Düsseldorf V R S 7 2 (1987) 370 und LG Zweibrücken N Z V 1994 293.
594 Vgl. Himmelreich/Henlschel Bd. I Rdn. 215 m.w.Nachw. 595 Zu eng LG M ü n c h e n II N J W 1963 1216 sowie (für den gleichgelagerten Fall des vorläufigen Berufsverbotes) wohl auch L R - H a n a c k 9 zu § 132 a StPO; wie hier L R - G . S c h ä f e r 41 zu § 111 a sowie Kleinknecht/Meyer-Goßner 4 sowie K K - W a c h e 4 - j e zu § 162 StPO. 596 L G Siegen N J W 1955 274; LG Braunschweig D A R 1975 132; LG Zweibrücken N Z V 1994 293. 597 Dazu vor allem AG G e m ü n d e n N J W 1978 770 = D A R 1 9 7 8 25.
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§69
dessen Bezirk der Führerschein beschlagnahmt werden soll 598 . Ist unklar, in welchem Bezirk die Beschlagnahme durchzuführen ist, gelten ergänzend zu § 162 Abs. 1 S. 1 StPO die allgemeinen Gerichtsstandsregeln (§§ 7 ff StPO) 599 . Zuständig für die Aufhebung der Maßnahme bleibt das Gericht, das die Anordnung getroffen hat 600 ; wohin der Führerschein nach der Beschlagnahme gelangt ist, spielt keine Rolle 601 . Die Entscheidung eines örtlich unzuständigen Gerichts ist aufzuheben 602 . b) Nach Anklageerhebung (und den ihr gleichstehenden Anträgen der Staatsanwalt- 149 schaft) trifft die nach § 111 a StPO erforderlichen Entscheidungen das nach dem Stand des Verfahrens befaßte Gericht; ob der Führerschein bereits beschlagnahmt ist oder nicht oder wo er sich gerade befindet, ist dabei unerheblich. Ergeht die Entscheidung zu § 111 a StPO als Anhangbeschluß zusammen mit dem Urteil, muß sie in der für die Hauptverhandlung vorgesehenen Besetzung (§ 76 Abs. 2 GVG) und somit unter Mitwirkung der Schöffen erfolgen 603 . Als Gericht der Hauptsache kann auch das Landgericht für die Entscheidungen nach § 111 a StPO zuständig werden, wenn bei ihm Anklage erhoben oder c) Berufung eingelegt worden ist. Als Berufungsgericht wird das Landgericht jedoch 150 erst zuständig, wenn ihm die Akten nach § 321 S. 2 StPO vorgelegt sind 604 ; bis dahin entscheidet der erstinstanzliche Richter, selbst wenn gegen sein Urteil bereits Berufung eingelegt worden ist 605 . Das Landgericht kann aber auch als Beschwerdegericht mit der Sache befaßt sein; in diesem Fall kann seine Entscheidung ausweislich von § 310 Abs. 2 StPO nicht mehr angefochten werden. Diesbezüglich ist jedoch zu beachten, daß die Strafkammer nach ganz herrschender Ansicht jedenfalls dann ausschließlich als Gericht der Hauptsache (also nicht als Beschwerdegericht!) tätig wird, sobald die Anklage bei ihr eingegangen ist oder die Akten ihr nach § 321 S. 2 StPO vorgelegt worden sind; dies wiederum hat zur Folge, daß ihre Entscheidung nach §§ 304 und 305 S. 2 StPO (erneut) beschwerdefähig wird 606 . Wegen des engen Sachzusammenhangs zwischen vorläufiger und endgültiger Fahrerlaubnisentziehung gilt dies selbst dann, wenn die Strafkammer an sich als Beschwerdegericht tätig werden wollte; es wäre unzuträglich, wenn eine Beschwerdekammer noch in einer Sache entscheiden müßte, die als Teil der Hauptsache 598
LG Siegen NJW 1955 274 (Tatort des Wohnsitzes) sowie mit besonders ausführlicher Begründung AG Gemünden NJW 1978 770 = DAR 1978 25 (vom LG Würzburg mit Beschl. v. 30.11.1977 bestätigt: nach NJW 1978 771); ebenso LG Köln BA 1982 89 = ZfS 1982 96 sowie wohl auch LG Heilbronn Justiz 1982 139 (teilweise kritisch Janiszewski NStZ 1982 239). Zustimmung im Schrifttum bei LRG.Schäfer 41, YMR-Miiller 19 sowie Jagusch/ Hentschel 6 — je zu § 111 a StPO — sowie bei Himmelreich/Henlschel Bd. 1 Rdn. 220. Offengelassen bei LG Zweibriicken NZV 1994 293. 599 Ebenso LG Bochum VRS 78 (1990) 355; auf dieser Linie auch Kleinknecht/Meyer-Goßner 7, SK/ StPO-Rudolphi 12 und Mühlhaus-Janiszewski 1— je zu § 111 a StPO. Verfehlt LG München II (NJW 1963 1216), das von einem zu engen Begriff der „Untersuchungshandlung" (§ 162 Abs. 1 StPO) aus nur die §§ 7 ff StPO für einschlägig hält; dagegen zu Recht Rüth NJW 1963 1216. 600 Kleinknecht/Meyer-Goßner 14 zu § 111 a StPO. w LG Zweibrücken NZV 1994 293 und LG Braunschweig DAR 1975 132; ebenso Hentschel DAR 1988 90. Bedenklich KK-Nack 6 zu § 111 a (maß(87)
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geblich sei der Verwahrungsort des beschlagnahmten Führerscheins). LG Braunschweig DAR 1975 132; LG Köln BA 1982 89. OLG Karlsruhe VRS 68 (1985) 360; OLG Oldenburg NZV 1992 124; ebenso Kleinknecht/MeyerGoßner 7 zu § 111 a StPO. OLG Hamm NJW 1969 150; OLG Frankfurt NJW 1981 1680; OLG Zweibrücken VRS 61 (1981) 38. OLG Düsseldorf NZV 1992 203; ebenso LRG.Schäfer 43 zu § 111 a StPO und Himmelreich/ Hentschel Bd. I Rdn. 219. Gegenteiliger Ansicht OLG Stuttgart NZV 1990 122 = NStZ 1990 141 = VRS 78 (1990) 283 (andernfalls sei entgegen dem Verbot des § 310 Abs. 2 StPO damit eine vom Gesetz hier nicht gewollte dritte Beschwerdeinstanz eingeführt); dagegen zutreffend Himmelreich/Henlschel Bd. I Rdn. 219. Zu einer ähnlichen Konstellation (bei der unklar war, ob ein an das AG gerichteter Aufhebungsantrag nach § 111 a Abs. 2 oder eine Beschwerde zum LG gemeint war) s. jüngst OLG Braunschweig NZV 1996 122.
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
bereits bei einer (nach Geschäftsverteilungsplan möglicherweise) anderen Kammer anhängig ist 607 . In diesem Fall ist die „Beschwerde" als Anregung an das mit der Hauptsache befaßte Gericht zu behandeln, die weitere Notwendigkeit einer vorläufigen Führerscheinmaßnahme sorgfältig zu bedenken und im Sinne des Beschwerdebegehrens zu entscheiden 608 . 151 Da die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens zulässig ist und im Rahmen ihrer Zuständigkeit alle Gerichte von Amts wegen zur Prüfung nach § 111 a Abs. 1 StPO verpflichtet sind, stellt sich für das Berufungsgericht die Frage, ob ihm durch den zwingenden Gesetzesbefehl des § 111 a Abs. 2 StPO verwehrt ist, die Fahrerlaubnis vorläufig zu entziehen, wenn die Vorinstanz von einer Entziehung der Fahrerlaubnis im Urteil abgesehen hat. Diesbezüglich ist zu unterscheiden: 152
(1) Soweit die Fahrerlaubnis im angefochtenen Urteil nicht entzogen worden ist, ist entgegen vereinzelter (meist früherer) Judikatur 609 weithin anerkannt, daß dem Berufungsgericht (jedenfalls) bei unveränderter Sachlage eine vorläufige Entziehung verwehrt ist; bei anderer Auslegung wäre die Bindungswirkung des § 111 a Abs. 2 StPO letztlich überflüssig. Die (erstmalige oder erneute) Anordnung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis ist dem Berufungsgericht somit nur gestattet, wenn neue, d. h. nach Verkündung der angefochtenen Entscheidung entstandene oder bekanntgewordene Tatsachen oder Beweismittel die besondere Dringlichkeit der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis rechtfertigen 610 . Dabei bleibt es, auch wenn die vorinstanzliche Nichtentziehung der Fahrerlaubnis nach Ansicht des zweitentscheidenden Gerichtes fehlerhaft war 611 . Gleiches gilt für die Beschlagnahme des Führerscheins; auch diese ist nur zulässig, soweit die Voraussetzungen des § 111 a Abs. 1 StPO gegeben sind und der Gesetzesbefehl des § 111 a Abs. 2 StPO einer vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung nicht entgegensteht 612 . Demzufolge trifft die Sperr- und Bindungswirkung des § 111 a Ab. 2 StPO auch das Gericht selbst, das die Fahrerlaubnis im Urteil/Strafbefehl nicht entzogen hat 613 ; so ist es dem Amtsrichter, der bei Erlaß eines Strafbefehls Gründe für eine Entziehung der Fahrerlaubnis nicht gesehen hat, nach Einspruch gegen den Strafbefehl verwehrt, bei unveränderter Sachlage eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis auszusprechen 614 .
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Vgl. OLG Hamm VRS 21 (1961) 283, NJW 1969 149 und VRS 49 (1975) 111; OLG Celle NJW 1961 133 und NJW 1961 1417 (jeweils 3. Senat; a.A. der 1. Senat: vgl. GA 1956 358 = NdsRpfl 1956 211); OLG Karlsruhe MDR 1974 159; OLG Frankfurt a. M. NJW 1981 1680; OLG Düsseldorf VRS 72 (1987) 370 und NZV 1992 202 = VRS 82 (1992) 350; LG Zweibrücken NZV 1992 499. Weithin zustimmend auch das Schrifttum: vgl. Bender DAR 1958 202, Henlschel DAR 1988 90 und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 219, Kleinknecht/Meyer-Goßner 7 und 19, LR-G.Schäfer 43 und 90 sowie SKJStPO-Rudolphi 12 - je zu § 111 a StPO. OLG Hamm VRS 21 (1961) 283; ebenso Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 219 und LR-G.Schäfer 90 zu § 111 a StPO. So vor allem OLG Oldenburg NJW 1953 1883 = DAR 1953 215 (in NJW 1963 826 = NdsRpfl 1963 115 jedoch aufgegeben), OLG Karlsruhe DAR 1954 302 und NJW 1957 1247 (aufgegeben in NJW 1960 2113 = DAR 1961 173) und OLG Saarbrücken DAR 1959 214: jeweils im Hinblick auf den Sicherungszweck der Vorschrift und weil bei
§ 111 a Abs. 2 eine dem § 120 Abs. 2 StPO entsprechende Regelung fehle. So offenbar auch OLG Hamm (Beschl. v. 20.7.83 - 1 Ws 103/83), nach Janiszewski NStZ 1984 115. 610 OLG Frankfurt NJW 1955 1043, OLG Hamm DAR 1957 190, OLG Hamburg DAR 1959 129, OLG Bamberg DAR 1959 215, OLG Karlsruhe NJW 1960 2113 = DAR 1961 173, OLG Schleswig SchlHA 1962 222, OLG Köln NJW 1964 1287, OLG Düsseldorf VRS 41 (1971) 285 sowie LG Heidelberg DAR 1975 334; allgemeine Zustimmung im Schrifttum: mit weiteren Nachweisen vor allem Himmelreich/Hentschel Bd. 1 Rdn. 242. 611 Anderer Ansicht OLG Koblenz VRS 73 (1987) 290 und VRS 55 (1978) 45. Wie hier jedoch Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 242; unklar KK-Nack 8 und Kohlhaas in HK-StVR 11 - je zu § 111 a StPO. 612 OLG Köln DAR 1954 64, OLG Hamm DAR 1957 190 und OLG Hamburg DAR 1959 129. 613 So zutreffend schon LG Heidelberg DAR 1975 334. 614 LG Stuttgart StV 1986 427.
Stand: 31. 5. 1996
(88)
Entziehung der Fahrerlaubnis
§ 6 9
(2) Anders liegt es, wenn das Berufungsgericht nach eigenverantwortlicher Prüfung 153 (unter Aufhebung des angefochtenen Urteils) nunmehr selbst die Fahrerlaubis (endgültig) entzieht. In diesem Fall ist das Berufungsgericht selbstverständlich nicht gehindert, mit der urteilsmäßigen endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis durch Beschluß (bis zur Rechtskraft der Entscheidung) die Fahrerlaubnis zugleich auch vorläufig zu entziehen 615 . (3) Umstritten ist der Fall, daß die Vorinstanz die Fahrerlaubnis zwar urteilsmäßig ent- 154 zogen, es dabei aber (bewußt oder irrtümlich) unterlassen hat, (bis zur Rechtskraft der Entscheidung) die Fahrerlaubnis durch Beschluß zugleich auch vorläufig zu entziehen. Mit Rücksicht auf § 111 a Abs. 2 StPO wollen einige Obergerichte einen nachträglichen Beschluß zur vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis auch hier nur zulassen, wenn neue Tatsachen die besondere Dringlichkeit der Maßnahme rechtfertigen 616 . In Fällen dieser Art ergibt die Bindungswirkung des § 111 a Abs. 2 aber keinen Sinn, schafft die Vorschrift für den Beschuldigten doch keinen Vertrauenstatbestand nach Art einer Rechtskraftgarantie, sondern stellt lediglich eine gesetzliche Vermutung dahin auf, daß die „dringenden Gründe" für die Annahme einer späteren urteilsmäßigen (endgültigen) Entziehung der Fahrerlaubnis entfallen sind (dazu bereits Rdn. 141). Wenn aber die Vorinstanz unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Angeklagten und unter Verwertung der in einer Hauptverhandlung durchgeführten Beweisaufnahme die Fahrerlaubnis wegen festgestellter Ungeeignetheit entzogen hat, sind die erwähnten „dringenden Gründe" gerade nicht entfallen, sondern nachdrücklich bekräftigt. Angesichts der Ähnlichkeit dieser Fallgruppe mit den in Rdn. 153 beschriebenen Fällen ist das Berufungsgericht somit selbst bei unveränderter Sachlage nicht gehindert, die Fahrerlaubnis noch während des Rechtsmittelverfahrens durch Beschluß vorläufig zu entziehen 617 . (4) Hat das Revisionsgericht das angefochtene Urteil aufgehoben und nach §354 1 55 Abs. 2 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen, spielt somit ebenfalls keine Rolle, ob die Vorinstanz die Fahrerlaubnis entzogen hat oder nicht. Da der neue Tatrichter sich insoweit überhaupt nicht mit einem Urteil in Widerspruch setzen kann, darf er die Fahrerlaubnis nach pflichtgemäßem Ermessen auch dann vorläufig entziehen, wenn keine neuen Tatsachen oder Beweismittel vorliegen 618 . d) In der Revisionsinstanz bleibt für die Anordnung der vorläufigen Entziehung der 156 Fahrerlaubnis der letzte Tatrichter zuständig. Dies gilt selbst dann, wenn die Akten dem Revisionsgericht nach § 347 Abs. 2 StPO bereits vorgelegt sind; nur der Tatrichter kann die genuin tatrichterlichen Feststellungen dazu treffen, ob eine Präventivmaßnahme dieser Art erforderlich ist 619 . Aus diesem Grund ist auch die Beschwerde gegen einen im Berufungsverfahren außerhalb der Hauptverhandlung ergangenen Beschluß nach § 111 a StPO unzulässig, nachdem gegen das Berufungsurteil Revision eingelegt worden ist: zum einen, weil auf diesem Weg keine inzidente Vorabentscheidung über die gegen das Berufungsurteil eingelegte Revision erreicht werden; dann aber vor allem, weil sonst die Gefahr 615
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OLG Karlsruhe NJW 1960 2113 = DAR 1961 173 sowie VRS 68 (1985) 360, OLG Zweibrücken NJW 1981 775 und OLG Koblenz VRS 65 (1983) 34, VRS 67 (1984) 254 = BA 1985 180 und VRS 71 (1986) 39. Ebenso KK-Nack 8 und LR-G.Schäfer 18 — je zu § 111 a StPO — sowie Himmelreich/ Hentschel Bd. I Rdn. 243. OLG Hamm (2 Ws 120/63) JMB1 NW 1962 158 und OLG Oldenburg NZV 1992 124 (unter Hinweis auf OLG Oldenburg OLGSt. 4 zu § 111 a StPO, S. 15). So zu Recht OLG Frankfurt NJW 1981 1680 und
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OLG Karlsruhe VRS 68 (1985) 361; ebenso Henlschel DAR 1988 333 und derselbe in Himmelreich/ Hentschel Bd. I Rdn. 243, Janiszewski NStZ 1981 472 sowie KK-Nack 8 zu § 111 a StPO. Wie hier Kleinknecht/Mexer-Goßner 13, LRG.Schäfer 21, KK-Nack 8 und Kohlhaas in HKStVR 4: je zu § 111 a StPO. OLG Hamm VRS 21 (1961) 284 und OLG Stuttgart Justiz 1969 256; ebenso Janiszenski 754 sowie LR-G.Schäfer 44, Kleinknecht/Mever-Goßner 1 und SK/StPO-Rudolphi 12 - je zu § 111 a StPO.
Klaus Geppert
§ 69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
widersprechender Entscheidungen im Beschwerde- und im Revisionsverfahren unausweichlich wäre und die Entscheidungskompetenz des Revisionsgerichts in unzuträglicher Weise unterlaufen würde, wenn während des Laufs eines Revisionsverfahrens über ein selbständiges Beschwerdeverfahren eine erneute Tatsachenprüfung vorgenommen werden könnte 620 . 157 Nach überwiegender (doch bedenklicher) Ansicht hat der letztzuständige Tatrichter auch über die Aufhebung des vorläufigen Fahrerlaubnisentzuges zu entscheiden, und zwar selbst dann, wenn das Revisionsgericht bereits mit der Revision gegen das die (endgültige) Entziehung der Fahrerlaubnis aussprechende Urteil befaßt ist 621 . Den Vorzug verdient demgegenüber jene Ansicht, die aus Gründen der Prozeßökonomie und zur Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen jedenfalls ab Vorlage der Akten (§ 347 Abs. 2 StPO) von einer (weithin) uneingeschränkten Zuständigkeit des Revisionsgerichtes ausgeht 622 : In analoger Anwendung von § 126 Abs. 3 StPO steht nämlich außer Streit, daß zur Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis ab Vorlage der Akten ausschließlich das Revisionsgericht und nicht das letztentscheidende Tatgericht jedenfalls dann zuständig ist, wenn die Notwendigkeit der Aufhebung nicht auf tatrichterlichen Überlegungen, sondern auf Rechtsgründen beruht 623 . Dies ist etwa anzunehmen, wenn das Revisionsgericht nach § 354 Abs. 1 StPO in der Sache selbst entscheidet und die vorinstanzlich angeordnete Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Entscheidung des Revisionsgerichtes endgültig in Wegfall kommt 624 oder das Verfahren eingestellt wird 625 . Dem gleichzustellen ist der Fall, daß das Revisionsgericht die vorläufige Fahrerlaubnisentziehung zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips oder wegen Mißachtung des Beschleunigungsgebotes aufzuheben verpflichtet ist (dazu bereits Rdn. 146). Umstritten ist somit letztlich nur noch die Frage, ob die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis überhaupt und von welchem Gericht aufzuheben ist, wenn die (tatrichterlich festgesetzte) Sperrfrist auf Grund der Einrechnungsvorschrift des § 69 a Abs. 5 S. 2 schon vor der revisionsgerichtlichen Entscheidung verstrichen ist. Zu diesem Streit: Wer von dem hier abgelehnten Rechtsstandpunkt aus die Notwendigkeit zur Aufhebung insoweit mehr an tatrichterlichen Überlegungen ausrichtet (s. Rdn. 144), wird folgerichtig dazu neigen, den (letzten) Tatrichter auch über die Aufhebung der vorläufigen Maßnahme entscheiden zu lassen 626 . Wer von der hier vertretenen Gegenposition aus der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis mit Ablauf der der tatrichterlichen Sperre entsprechenden Zeit jedoch die innere Berechtigung abspricht (dazu Rdn. 145), wird das Revisionsgericht auch in diesem Fall zur Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis für OLG Düsseldorf NZV 1995 459 = VRS 90 (1996) 45 = MDR 1995 1252 (gegen OLG Schleswig StV 1995 345 = NZV 1995 239 mit Anm. Schwarzer). Vgl. vor allem BGH NJW 1978 384; so zuvor schon OLG Celle NJW 1977 160, OLG Frankfurt a. M. (2. Strafsenat) DAR 1973 161 und NJW 1973 1335 sowie OLG Hamm VRS 21 (1961) 285. Dem folgend OLG Düsseldorf DAR 1983 62 = VRS 64 (1983) 262, OLG Zweibrücken VRS 69 (1985) 293 - unter Aufgabe von VRS 51 (1976) 110 - und OLG Stuttgart VRS 74 (1988) 188; auf dieser Linie auch LR-G.Schäfer 44, SYJStPO-Rudolphi 22, Kleinknecht/Meyer-Goßner 14, KK-Nack 12 und Kohlhaas in HK-StVR 1 2 - j e zu § 111 a StPO. So schon OLG Frankfurt (Beschl.v. 27.3.69 - 3 Ss 95/69: auszugsweise veröffentlicht bei Himmelreich/Hentschel Bd. 1 Rdn. 216), OLG Bremen DAR 1973 332 = VRS 46 (1974) 43 und OLG Köln
ZfS 1981 188 (zustimmend Hentschel aaO); in dieser Richtung auch OLG Koblenz MDR 1978 337 und MDR 1986 871 (jedenfalls dann, wenn mit einer „alsbaldigen Sachentscheidung" des Revisionsgerichtes zu rechnen sei). Auf dieser Linie im Schrifttum: Jcmiszewski 756 sowie DAR 1989 139, MJSlPO-Achenbach 18 zu § 111 a, Mollenkott BA 1985 74 sowie vor allem Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 216 f (s. denselben auch in DAR 1988 89). 621 Statt vieler: LR — Schäfer 44 und KMR-Miiller 19 - je zu § 111 a StPO. « 4 BayObLG NZV 1993 239 240 und zuvor schon bei Rüth DAR 1980 268 sowie OLG Bremen DAR 1973 332. 625 Vgl. Rüth JR 1975 338. 626 So denn auch weitgehend die in Fn. 621 genannten Nachweise.
Stand: 31. 5. 1996
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§69
Entziehung der Fahrerlaubnis
befugt halten; insofern wird von dem Revisionsrichter doch keine nur dem Tatrichter zustehende „Erforderlichkeits"-Diagnose, sondern letztlich nur eine einfache Berechnung abverlangt, die vorzunehmen auch einem Revisionsgericht nicht untersagt sein kann. Es ist somit nur vernünftig, wenn das Revisionsgericht, bei dem sich die Akten ohnehin befinden, die im Interesse des Angeklagten beschleunigt gebotene Maßnahme selbst trifft 627 . Zur Aufhebung einer Beschlagnahme (ohne vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis) s. nachfolgend Rdn. 167. 7. Beschlagnahme bzw. Sicherstellung sowie Rückgabe des Führerscheins (Abs. 3 bis 5). a) Ist die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen worden, ohne daß der Führerschein des 158 Beschuldigten zuvor durch amtliche Inverwahrungnahme sichergestellt oder beschlagnahmt worden ist (was in der Praxis eher selten vorkommt), „wirkt" die (durch den Richter) angeordnete vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ausweislich von § 111 a Abs. 3 StPO zugleich als Anordnung oder Bestätigung der Beschlagnahme des von einer deutschen Behörde ausgestellten Führerscheins (zu Besonderheiten bei ausländischen Fahrausweisen s. nachfolgend Rdn. 169 ff), ohne daß dies in der Formel oder in den Gründen des Beschlusses besonders ausgesprochen werden müßte 628 . Der Sache nach handelt es sich dabei um die Fiktion einer Sicherstellung/Beschlagnahme, die als solche der Durchsetzung des durch die vorläufige Maßnahme bewirkten Fahrverbotes (dazu Rdn. 138) sowie der Sicherung der späteren Einziehung des Führerscheins (Umkehrschluß aus § 111 a Abs. 5 S. 1 StPO) dient. Die in dem Beschluß nach § 111 a Abs. 1 enthaltene Beschlagnahmeanordnung kann nicht für sich allein, sondern nur zusammen mit der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis angefochten werden 629 und ist von der Staatsanwaltschaft nach § 36 Abs. 2 S. 1 StPO zu vollstrecken, indem diese den Führerschein (entweder selbst oder durch die Polizei) in amtliche Verwahrung nimmt 630 . b) Ausweislich des Gesetzes ist die Sicherstellung/Beschlagnahme des Führer- 159 scheins nicht nur zur Beweissicherung (§ 94 Abs. 1 StPO), sondern auch zur Sicherung seiner späteren Einziehung zulässig (§§ 94 Abs. 3 StPO i. V. mit 69 Abs. 3 S. 2 StGB). Die Sicherstellung des Führerscheins erfolgt durch seine amtliche Inverwahrungnahme (§ 94 Abs. 1 StPO); wird dieser nicht freiwillig herausgegeben, bedarf es der Beschlagnahme (§ 94 Abs. 2 StPO). Anders als die Beweismittelsicherstellung (§ 94 Abs. 1 StPO) 631 ist die Sicherstellung/Beschlagnahme des Führerscheins zur Sicherung seiner Einziehung nur zulässig, wenn zugleich die Voraussetzungen des § 111 a Abs. 1 S. 1 erfüllt, d. h. dringende Gründe für die Annahme der endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis vorhanden sind (dazu bereits Rdn. 126 ff) 632 . Dies folgt nicht nur daraus, daß die nach § 98 Abs. 2 StPO erforderliche nachträgliche richterliche Bestätigung einer bei „Gefahr im Verzug" (nachfolgend Rdn. 160) auch durch die Staatsanwaltschaft oder deren Hilfsbeamte angeordneten Beschlagnahme nur unter den Voraussetzungen des § 111 a Abs. 1 S. 1 erfolgen darf 633 , sondern ergibt sich auch aus einem Umkehrschluß 627
Z u t r e f f e n d O L G F r a n k f u r t (B.v. 2 7 . 3 . 6 9 - 3 Ss 95/ 69): zitiert nach Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 2 1 6 ; n a c h d r ü c k l i c h in dieser Richtung m e h r fach auch Hentschel (aaO, Z f S 1981 188 und D A R 1988 89). « 8 LR-G.Schäfer 5 9 und K M R - M ü l l e r 22 - j e zu § 111 a S t P O . 630
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VMR-MUller 22 zu § 111 a S t P O . K K - N a c k 13, K M R - M ü l l e r 22 und 5 9 - j e zu § 111 a S t P O .
6.1
Für diese reicht e i n f a c h e r Tatverdacht aus; z u d e m ist sie auch bei a u s l ä n d i s c h e n F a h r a u s w e i s e n m ö g lich und nicht nach § 21 Abs. 2 S t V G s t r a f b e w e h r t : näher K M R - M ü l l e r 25 und LR-G. Schaf er 60 - j e zu § 111 a StPO.
6.2
O L G Stuttgart NJW 1969 760. K M R - M ü l l e r 26 und LR-G.Schäfer § 111 a S t P O .
611
LR-G.Schäfer
Klaus Geppert
60 -
j e zu
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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
aus § 111 a Abs. 5; denn wenn der Führerschein unter den dort genannten Voraussetzungen zurückgegeben werden muß (näher dazu Rdn. 166 ff), darf richtigerweise schon seine Beschlagnahme nicht erfolgen 634 . 160 Auch für die Anordnung der Beschlagnahme ist an sich der Richter zuständig (§ 98 Abs. 1 S. 1 StPO); seine Primärzuständigkeit hat jedoch keine praktische Bedeutung 635 . „Bei Gefahr im Verzug" (und danach zeitlich meist vor der gerichtlichen Entscheidung nach § 111 a Abs. 1) darf der Führerschein jedoch auch durch die Staatsanwaltschaft oder deren Hilfsbeamte beschlagnahmt werden (§ 98 Abs. 1 S. 1 StPO). Mit BGHSt. 22 385 ff 6 3 6 und der ganz h. M. im Schrifttum 637 ist der Begriff „Gefahr im Verzug" in diesem Zusammenhang nicht auf die Fälle zu beschränken, in denen ohne sofortige Beschlagnahme des Führerscheins dessen Vernichtung oder sein Beiseiteschaffen zu besorgen ist 638 ; die Beschlagnahme des Führerscheins ζ. B. eines bei einer Trunkenheitsfahrt betroffenen Kraftfahrers ist vielmehr auch dann zulässig, wenn andernfalls die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte ohne die sofortige Abnahme des Führerscheins (durch Staatsanwaltschaftschaft oder deren Hilfsbeamte) weitere Trunkenheitsfahrten unternimmt oder sonst in schwerwiegender Weise Verkehrsvorschriften verletzt. Die Gegenansicht ist zu eng, würde sie doch nicht nur die Notkompetenz der Staatsanwaltschaft und ihrer Hilfsbeamten in der Praxis zur Bedeutungslosigkeit verkümmern lassen, sondern auch Sinn und Zweck des Gesetzes weitgehend verfehlen. Wie die Entstehungsgeschichte des § 111 a sowie der Zusammenhang dieser Vorschrift mit §§94 Abs. 3 und 98 StPO belegen und auch der Gesetzgeber des 2. StraßenVSichG durch die weitgehende Gleichbehandlung von Führerscheinbeschlagnahme und vorläufiger Entziehung der Fahrerlaubnis (vgl. §§ 111 a Abs. 3 bis 5 StPO und 69 a Abs. 4 bis 6 StGB) zum Ausdruck gebracht hat 639 , geht die Konzeption des Gesetzes dahin, mit Hilfe der §§94 Abs. 3 und 98 Abs. 1 S. 1 auch im präventiven Eilverfahren nach § 111 a StPO StPO sicherzustellen, daß kein „verkehrsuntüchtiger Kraftfahrer, dem im Strafverfahren voraussichtlich die Eignung zur Führung vori Kraftfahrzeugen abgesprochen werden wird, weiterhin am Verkehr teilnimmt und zum Nachweis seiner Berechtigung hierzu den Führerschein vorzeigt" 640 . 161
Wirksam wird die Beschlagnahme erst, wenn der Führerschein dem Berechtigten weggenommen worden ist; somit ist die bloße Anordnung oder (mündliche oder schriftliche) Mitteilung der Beschlagnahme an den Betroffenen nicht geeignet, eine Bestrafung nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 StVG zu begründen 641 . Rechtmäßig ist die Anordnung der Beschlagnahme nur, wenn der handelnde Amtsträger nach Sachlage von „Gefahr im Verzug" sowie von „dringenden Gründen" für die Annahme ausgehen konnte, daß es 634
635
636
«7
Dazu schon BTDrucks. IV/651, S.31; vgl. auch KK-Nack 14, AKJStPO-Achenbach 19 und Kleinknecht/Meyer-Goßner 15 - je zu § 111 a StPO. Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 111 a Abs. 1 S. 1 StPO wird der Richter sinnvollerweise sofort die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis anordnen, die dann zugleich als Beschlagnahme des Führerscheins wirkt (Rdn. 158). = NJW 1969 1308 (ablehnend Hruschka NJW 1969 1634); auf gleicher Linie OLG Stuttgart NJW 1969 760, OLG Karlsruhe Justiz 1969 255, OLG Hamm VRS 36 (1969) 66 sowie LG Münster NJW 1974 1008. Vgl. SKJStPO-Rudolphi 25, LR-G.Schäfer 63, KKNack 15, Kleinknecht/Meyer-Goßner 15 und KMRMiiller 26 - je zu § 111 a StPO - sowie Meier Po-
lizei 1964 234 und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 255 f. «8 So aber OLG Köln NJW 1968 666 = VRS 34 (1968) 380 (ablehnend Schweichel NJW 1968 1486) und NJW 1969 441 = VRS 37 (1969) 34; auf dieser Linie auch Fritz MDR 1967 723, Dahs NJW 1968 632, Hruschka NJW 1969 1634 und Ehlers MDR 1969 1023. 639 Ausführlich zur Entstehungsgeschichte auch BGHSt. 22 387. " 0 BGHSt. 22 393. 641 OLG Schleswig VRS 34 (1968) 460 sowie OLG Stuttgart VRS 35 (1968) 138 und VRS 79 (1990) 303; zustimmend LR-G.Schäfer 61 zu §111 a StPO und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 253.
Stand; 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§ 6 9
zunächst zu einer vorläufigen und dann zu einer endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis kommt 642 . Dabei ist dem Beamten ein grundsätzlich weiter Bereich pflichtgemäßer Beurteilung einzuräumen; in aller Regel werden nur grobe (tatsächliche oder rechtliche) Fehlbeurteilungen die Anordnung unwirksam machen 643 . Ist eine Beschlagnahme des Führerscheins im Eilverfahren demzufolge nur bei Vorliegen wirklich „dringender Gründe" statthaft, wird sie bei einem positiv ausgefallenen Alco-Test nur dann rechtens sein, wenn die Möglichkeit einer bloßen Ordnungswidrigkeit (§ 24 a StVG) hinreichend sicher auszuschließen ist 644 . Steht zu erwarten, daß der Richter von der Ausnahmemöglichkeit des § 111 a Abs. 1 S. 2 StPO Gebrauch machen wird, ist die Beschlagnahme im Wege des Eilverfahrens nur zulässig, wenn der dringende Verdacht besteht, daß der Beschuldigte bis zur Entscheidung des Gerichts die ihm unbeschränkt erteilte Fahrerlaubnis nutzen werde 645 . Liegt bereits eine die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ablehnende richterliche Entscheidung vor, entfällt bei unveränderter Sachlage auch die Berechtigung zu einer Beschlagnahme 646 . Der Beschlagnahme bedarf es nicht, wenn der Beschuldigte den Führerschein dem 162 Amtsträger (ausdrücklich oder in schlüssiger Weise) zur Sicherstellung der Einziehung freiwillig herausgibt (Umkehrschluß aus § 94 Abs. 2 StPO). Die Beschlagnahme ist jedoch auch dann zulässig, wenn an sich auch eine formlose Sicherstellung nach Abs. 1 möglich gewesen wäre 647 . Anderes gilt für die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis; diese ist unzulässig, wenn der Beschuldigte den Führerschein freiwillig herausgegeben hat (und solange er ihn nicht zurückverlangt); dazu bereits Rdn. 130. Von der Sicherstellung/Beschlagnahme des Führerscheins zur Sicherung seiner Ein- 163 ziehung zu unterscheiden ist seine Sicherstellung zwecks Abwehr einer unmittelbar drohenden Gefahr (etwa um zu verhindern, daß ein betrunkener Kraftfahrer seine Fahrt fortsetzt). Maßnahmen dieser Art richten sich nicht nach der StPO, sondern nach den einschlägigen Polizei- und Ordnungsgesetzen der Länder 648 . In derartigen Fällen ist der Führerschein dem Berechtigten alsbald nach Beseitigung der akuten Gefahr zurückzugeben 649 . Wer einen ihm nur zur Gefahrenabwehr weggenommenen Führerschein nicht mit sich führt, begeht nur eine Ordnungswidrigkeit (§§ 4 Abs. 2 S. 2 und 69 a Abs. I Nr. 5 a StVZO, 24 StVG) 650 . c) Kommt es wegen „Gefahr im Verzug" im Wege der Eilkompetenz (§ 98 Abs. I S. 1 164 StPO) zunächst nur zur Beschlagnahme des Führerscheins durch Staatsanwaltschaft oder deren Hilfsbeamte (was in der Praxis die Regel ist), hat der die Beschlagnahme anordnende/durchführende Amtsträger binnen drei Tagen die richterliche Bestätigung zu beantragen, sofem bei der Beschlagnahme weder der Betroffene noch ein erwachsener Angehöriger anwesend war oder wenn der Betroffene und im Fall seiner Abwesenheit ein erwachsener Angehöriger gegen die Beschlagnahme ausdrücklichen Widerspruch erhoben hat (§ 98 Abs. 2 S. 1 StPO). Dabei handelt es sich jedoch nur um eine Sollvorschrift (Wortlaut des Gesetzes; Umkehrschluß aus Abs. 3 S. 1); ein Verstoß gegen die Drei-Tage-
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O L G Köln N J W 1968 6 6 6 und O L G Stuttgart N J W 1969 760. W e i t e r f ü h r e n d Kleinknecht/Meyer-Goßner 7 und L R - G . S c h ä f e r 36 — j e zu § 9 8 ; speziell zu V e r k e n nung von „ G e f a h r im V e r z u g " s. Geppert DRiZ 1992 414. fr" E b e n s o LR-G. Schäfer Μ zu § 111 a StPO. M 5 Z u t r e f f e n d K K - N a c k 15 zu § 111 a S t P O . Mt > Z u t r e f f e n d YMR-MUUer 26 zu § 111 a S t P O . 647 B G H N J W 1956 1806 sowie B G H StV 1992 3 0 8 643
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3 1 1 ; e b e n s o KK-Nack 15, LR-G.Schäfer 26 und Kleinknecht/Meyer-Goßner 13 — j e zu § 94. W e i t e r f ü h r e n d : LR-G.Schäfer 6 8 zu § 111 a S t P O und Janiszewski 8 3 7 ; speziell zu (zulässigen und unzulässigen) Beispielen polizeilicher „Sicherstellung von K r a f t f a h r z e u g e n im Rahmen der V e r k e h r s ü b e r w a c h u n g " Geppert D A R 1988 12 ff. Dahs N J W 1968 6 3 3 ; Kleinknecht/Meyer-Goßner 16 zu § 111 a S t P O . O L G Köln N J W 1968 666.
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§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
Frist führt daher ebensowenig zur Unwirksamkeit der Beschlagnahme wie die Nichteinholung der richterlichen Bestätigung 651 . Ungeachtet dessen ist die Herbeiführung der richterlichen Bestätigung nach § 98 Abs. 2 S. 1 StPO in der Praxis meist entbehrlich, weil der Beschuldigte bei der Beschlagnahme des Führerscheins in aller Regel selbst anwesend ist und damit die Möglichkeit hat, vor, bei oder nach Durchführung der Beschlagnahme Widerspruch zu erheben. Zu diesem Zweck gibt § 98 Abs. 2 S. 2 StPO dem Beschuldigten das Recht, jederzeit die richterliche Entscheidung zu beantragen; dies auch dann, wenn er zunächst mit der formlosen Sicherstellung des Führerscheins einverstanden war und diesen freiwillig herausgegeben hat 652 . Zuständig ist das Gericht, das nach dem Stand des Verfahrens die Entscheidung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis zu treffen hat (dazu bereits Rdn. 147 ff) 653 · 165
Kommt es auf einem dieser Wege zur richterlichen Entscheidung über die Beschlagnahme, tritt an die Stelle der im Beschlagnahmeverfahren erforderlichen richterlichen Bestätigung die Entscheidung des Gerichts über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111 a Abs. 4 StPO). Der Beschluß nach § 111 a Abs. 1 wirkt wiederum ohne besonderen Ausspruch als Bestätigung oder Aufhebung der vorangegangenen Beschlagnahme; ebenso wie in Abs. 3 (dazu Rdn. 158) stellt das Gesetz auf diese Weise eine einheitliche Beurteilung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis und der zu ihrer Sicherung erlaubten Beschlagnahme des Führerscheins sicher.
166
d) Rückgabe des Führerscheins. An dieser Koppelung hält das Gesetz auch für den Fall der nach § 94 Abs. 3 StPO getroffenen Eilmaßnahmen fest. Daher ist ein zur Sicherung der Einziehung (bei freiwilliger Herausgabe: durch Sicherstellung, andernfalls durch Beschlagnahme) in amtliche Verwahrung genommener Führerschein dem Beschuldigten zurückzugeben (§ 111 a Abs. 5 S. 1 StPO), wenn das zuständige Gericht die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ablehnt oder nach § 111 a Abs. 2 nachträglich aufhebt (dazu bereits Rdn. 140 ff). Ungeachtet insoweit mißglückter Gesetzesfassung 654 ist anerkannt, daß die Rückgabepflicht des § l i l a Abs. 5 S. 1 StPO nur Fahrausweise erfaßt, die von einer deutschen Behörde ausgestellt, der Verfügungsgewalt des Berechtigten zur Sicherung möglicher Einziehung entzogen und (gleichgültig, ob nach freiwilliger Herausgabe oder durch Beschlagnahme) in amtliche Verwahrung genommen wurden. Wie bereits erläutert (Rdn. 130), wird § 111 a Abs. 5 S. 1 nur anwendbar, wenn die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis „wegen Fehlens der in (§ 111 a) Abs. 1 bezeichneten Voraussetzungen", d. h. aus Sachgründen abgelehnt wurde, nicht aber bei freiwilliger Herausgabe des Führerscheins zur Abwendung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis. In allen diesen Fällen enthält die Aufhebung des vorläufigen Fahrerlaubnisentzugs zugleich die Aufhebung der Beschlagnahme (Umkehrschluß aus § 111 a Abs. 3); eines besonderen Ausspruchs bedarf es nicht. Zur Beschlagnahme des Führerscheins und zu Ausstellung und Rückgabe eines Ersatzführerscheins im Fall von § 111 a Abs. 1 S. 2 StPO s. bereits Rdn. 133.
167
Die Rückgabe ist kein förmlicher Vollstreckungsakt, § 36 Abs. 2 S. 1 StPO somit nicht anwendbar 655 . Bis zu Anklageerhebung bzw. Strafbefehlsantrag ist die Staatsanwaltschaft zuständig, danach das nach Stand des Verfahrens mit der Hauptsache befaßte Gericht; nach Rechtskraft der Entscheidung wird wiederum die Staatsanwaltschaft zustän-
«1 KG VRS 42 (1972) 210; ebenso KMR-Müller 12 f, AK/StPO-Achenbach 25 und Kleinknecht/MeyerGoßner 14 - je zu § 98 StPO. Strenger LR-G.Schäfer 45 (Unwirksamkeit der Beschlagnahme nur bei „außergewöhnlicher" Fristüberschreitung).
652 So offenbar auch BGH NJW 1956 1806; vgl. auch YMR-Miiller 30 zu § 111 a StPO. 653 Vgl. auch KK-Nack 16 zu § 111 a StPO. 65" s. dazu LR-G.Schäfer 70 zu § 111 a StPO. 655 Kleinknecht/Meyer-Goßner 17 zu § 111 a StPO.
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§ 6 9
dig. Die Rückgabe des Führerscheins darf durch ein zu Ungunsten des Beschuldigten eingelegtes Rechtsmittel nicht verzögert werden 656 . Ist der Führerschein beschlagnahmt worden, eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aber nicht erfolgt und gegen das die endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis anordnende Urteil zugunsten des Angeklagten Revision eingelegt worden, ist die Beschlagnahme (durch das Revisionsgericht) aufzuheben, wenn zur Zeit der revisionsgerichtlichen Entscheidung die Zeit verstrichen ist, die der Sperrfrist des angefochtenen Urteils entspricht, und Anhaltspunkte dafür fehlen, daß im Fall der Aufhebung und Zurückverweisung nochmals auf die Mindestfrist der Sperre erkannt wird 657 ; zur Begründung s. schon Rdn. 157. Eine erneute Beschlagnahme kommt nur bei neuer Sachlage in Betracht 658 ; auf die Ausführungen in Rdn. 151 ff wird verwiesen. Sofern das Gericht der Hauptsache die Entziehung der Fahrerlaubnis endgültig ablehnt 168 und stattdessen nur ein Fahrverbot (§ 44) verhängt, kann die Rückgabe des Führerscheins aufgeschoben werden, sofern der Betroffene nicht widerspricht (§ 111 a Abs. 5 Satz 2 StPO). Damit soll vermieden werden, daß der Führerschein bis zur Rechtskraft des Fahrverbotes dem Berechtigten zunächst zurückgegeben werden muß, nur um ihn (nach Ablauf der Rechtsmittelfrist oder allseitigem Rechtsmittelverzicht) nach § 44 Abs. 3 S. 2 alsbald doch wieder in amtliche Verwahrung nehmen zu müssen (s. dazu Rdn. 54 ff zu § 44). Ein Nachteil für den Verurteilten entsteht daraus nicht; denn die Zeit der amtlichen Verwahrung bis zur Rechtskraft der Entscheidung wird unverkürzt auf das Fahrverbot angerechnet (§ 450 Abs. 2 StPO) 659 . Die Rückgabepflicht entfällt auch dann, wenn die das Fahrverbot anordnende Entscheidung sofort rechtskräftig wird und der Führerschein nach § 44 Abs. 3 S. 2 StGB amtlich zu verwahren ist 660 . 8. Ausländische Fahrausweise (Abs. 6). a) Auch ausländische Fahrberechtigungen können vorläufig entzogen werden 169 (Umkehrschluß aus § 111 a Abs. 6 S. 1 StPO). Seit die (endgültige) Entziehung der Fahrerlaubnis auch gegenüber Inhabern ausländischer Fahrberechtigungen nicht mehr davon abhängig ist, daß die Anlaßtat gegen Verkehrsvorschriften verstößt (dazu nachfolgend Rdn. 10 zu § 69 b), ist eine solche Einschränkung folgerichtig auch im Verfahren nach § 111 a StPO entfallen. Wer nur einen ausländischen Führerschein besitzt und die Voraussetzungen des § 4 IntVO (dazu bereits Rdn. 84 ff zu § 44 sowie nachfolgend Rdn. 4 ff zu § 69 b) nicht (mehr) erfüllt, besitzt überhaupt keine im Inland gültige Fahrerlaubnis (mehr); da mit der Unmöglichkeit einer endgültigen Entziehung zwangsläufig auch eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ausscheidet, kommt in diesem Fall nur eine isolierte Sperre in Betracht (§ 69 a Abs. 1 S. 3 StGB) 661 . DDR-Führerscheine sind durch den Einigungsvertrag inländischen Führerscheinen gleichgestellt (dazu schon Rdn. 116 zu § 44 sowie nachfolgend Rdn. 9 zu § 69 b). Zu dem in Betracht kommenden Personenkreis s. bereits die Erläuterungen zu § 44 (dort Rdn. 84 ff) sowie nachfolgend Rdn. 4 ff zu § 6 9 b. Mit der (ursprünglich bis spätestens 1. Juli 1996 vorgesehenen) innerstaatlichen 169 a Umsetzung der Zweiten EU-Führerschein-Richtlinie (91/439/EWG vom 29. Juli 1991), die (jedenfalls grundsätzlich) von einer wechselseitigen Anerkennung der von
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Ebenso LR-G.Schäfer 74 und KMR-Muller 33 - je zu § Π l a StPO. OLG Köln VRS 59 (1980) 43; zustimmend Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 261 a. Vgl. auch KMR-Müller 33 und 17 sowie LRG.Schäfer 74 und 19 - je zu § 111 a StPO.
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Zur amtl. Begründung durch das 2.StraßenVSichG s. Jagusch/Hentschel Rdn. 14 zu § l i l a StPO; vgl. auch War da MDR 1965 1 ff. Ebenso Himmelreich/Hemschel Bd. I Rdn. 244 und Warda MDR 1965 2. Ebenso Jagusch/Hentschel 15 zu § 111 a StPO.
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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union (EU) oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ausgestellten/erteilten gültigen Führercheine/Fahrerlaubnisse ausgeht, werden die Inhaber solcher Fahrerlaubnisse auch hinsichtlich der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis den Inhabern inländischer Fahrberechtigungen gleichgestellt werden müssen, sofern sie ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland haben. Aus diesem Grund sieht Art. 4 Nr. 1 des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des StVG und anderer Gesetze vor, dem Abs. 3 von § 111 a StPO folgenden Satz hinzuzufügen: „Dies gilt auch, wenn der Führerschein von einer Behörde eines Mitgliedsstaates der Europäischen Gemeinschaften oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ausgestellt worden ist, sofern der Inhaber seinen ordentlichen Wohnsitz im Inland hat." Solche Führerscheine sollen künftig also in der gleichen Situation wie inländische Führerscheine in Verwahrung genommen werden dürfen. Bei anderen ausländischen Fahrausweisen (d. h. bei Fahrausweisen aus einem Mitgliedsstaat der EU oder einem EWR-Staat, sofern der Inhaber des Fahrausweises seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Inland hat, oder bei Führerscheinen aus einem Drittstaat) soll es beim bisherigen Verfahren bleiben. Daher ist es nur folgerichtig, wenn Art. 4 Nr. 1 b des erwähnten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des StVG und anderer Gesetze (Stand: 20. Mai 1996) den Absatz 6 Satz 1 von § 111 a StPO wie folgt ändern will: „In anderen als in Absatz 3 Satz 2 genannten ausländischen Fahrausweisen ist die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis zu vermerken. Für die Zeit ab 1. Juli 1996 bis zur endgültigen innerstaatlichen Umsetzung der Zweiten EU-Führerschein-Richtlinie ist Übergangs weise eine Verordnung des Bundesverkehrsministers zur Umsetzung der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein und zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften (BRDrucks. 326/96 vom 2. Mai 1996) vorgesehen, die zum 1. Juli 1996 in Kraft treten soll. Näheres dazu nachfolgend in Rdn. 3 ff und Rdn. 18 ff zu § 69 b. 170
Weil außerdeutsche Fahrausweise (mit endgültiger Umsetzung der Zweiten EU-Führerschein-Richtlinie: Fahrausweise aus Staaten außerhalb der EU oder des Europäischen Wirtschaftsraumes) nicht der Einziehung unterliegen (Umkehrschluß aus § 69 Abs. 3 S. 2), hat die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis gegenüber Inhabern außerdeutscher Fahrberechtigungen (nur) die in § 69 b Abs. 1 geregelte Wirkung eines auf das Inland beschränkten Fahrverbotes. Zuständig bleibt das Gericht, das bei einer deutschen Fahrberechtigung die Entscheidung nach § 111 a Abs. 1 StPO zu treffen hätte.
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b) Die Maßnahme wird dadurch vollzogen, daß sie in dem ausländischen Fahrausweis (mit endgültiger Umsetzung der Zweiten Führerschein-Richtlinie: mit Ausnahme solcher Fahrausweise aus EU- oder EWR-Staaten, deren Inhaber ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland haben) vermerkt wird (Satz 1 von § 111 a Abs. 6 StPO); zur entsprechenden Regelung beim endgültigen Entzug der Fahrerlaubnis s. § 69 b Abs. 2 (mit dortiger Rdn. 13) sowie § 44 Abs. 3 S. 3 beim Fahrverbot (dort Rdn. 90 f)· Die Eintragung des Vermerks ist Vollstreckungshandlung; als solche ist sie von 'der Staatsanwaltschaft zu veranlassen (§ 36 Abs. 2 StPO) 662 . Zu Besonderheiten der Durchsetzung und zu denkbaren technischen Schwierigkeiten bei Anbringung des Vermerks s. die Erläuterungen zu § 44 (dort Rdn. 90). Da § 94 Abs. 3 StPO nur die Beschlagnahme von Führerscheinen erlaubt, die der Einziehung unterliegen, und diese Möglichkeit bei außerdeutschen FahrLR-G.Schäfer 80 und KK-Nack 19 - je zu § 111 a StPO. Stand: 3 1 . 5 . 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
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ausweisen nicht gegeben ist, wäre eine Beschlagnahme des außerdeutschen Führerscheins ohne eine Vorschrift wie diejenige des Satzes 2 von § 111 a Abs. 6 StPO, wonach eine Beschlagnahme des ausländischen Führerscheins bis zur Eintragung des Vermerks (doch nur zu diesem Zweck und nicht darüber hinaus) erlaubt wird (vgl. auch § 463 b Abs. 2 StPO), rechtlich nicht möglich. Bei „Gefahr im Verzug" kann die Beschlagnahme notfalls auch durch Staatsanwaltschaft oder deren Hilfsbeamte angeordnet werden (§ 111 a Abs. 6 S. 2 mit §§ 94 Abs. 3 und 98 StPO); in diesem Fall ist unverzüglich die richterliche Bestätigung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis einzuholen 663 . War der Führerschein nicht beschlagnahmt, muß die richterliche Entscheidung zusätzlich auch die Beschlagnahme des Führerscheins zwecks Eintragung des Vermerks bestätigen; denn die Fiktion des § 111 a Abs. 3 StPO bezieht sich nur auf die von einer deutschen Behörde ausgestellten Führerscheine. c) Für die Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis gelten keine 172 Besonderheiten; auf die Ausführungen in den vorangegangenen Rdn. 140 ff kann Bezug genommen werden. An die Stelle der Rückgabe des Führerscheins tritt bei Inhabern außerdeutscher Fahrausweise die Tilgung des Vermerks; somit ist die Eintragung (unverzüglich) zu löschen, wenn ein deutscher Führerschein dem Berechtigten nach Maßgabe von § 111 a Abs. 5 S. 1 StPO zurückgegeben werden müßte; auf Rdn. 166 ff wird verwiesen 664 . 9. Anfechtung richterlicher Entscheidungen. a) Richterliche Entscheidungen nach § 111 a StPO sind grundsätzlich in jeder Lage 173 des Verfahrens (zu möglichen Ausnahmen s. nachfolgend sowie Rdn. 174) mit der einfachen Beschwerde (§ 304 StPO) anfechtbar 665 . Nach §§ 304 Abs. 1 und 305 S. 2 StPO gilt dies nicht nur für die Entscheidungen des Amtsgerichts im Vorverfahren (§ 162 Abs. 1 S. 1 StPO) und als erstinstanzliches Gericht sowie die Entscheidungen des Landgerichts im ersten oder im zweiten Rechtszug, sondern ausweislich von § 304 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 und Abs. 5 StPO auch für Verfügungen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofes und des Oberlandesgerichtes sowie für Entscheidungen des erstinstanzlich tätigen Oberlandesgerichts; letzteres deshalb, weil der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis wegen der ihr durch § 111 a Abs. 3 gesetzlich zugewiesenen Wirkung (dazu Rdn. 158) die rechtliche Qualität einer Beschlagnahme zukommt 666 . Eine Beschwerde ist demzufolge ausgeschlossen, wenn das erstinstanzlich tätige OLG oder der Ermittlungsrichter bei BGH bzw. OLG die vorläufige Fahrerlaubnisentziehung gegenüber einem Täter mit außerdeutschem Fahrausweis angeordnet haben; da diesem gegenüber die Fiktion des § 111 a Abs. 3 nicht gilt, ist allenfalls die nach § 111 a Abs. 6 besonders anzuordnende Beschlagnahme anfechtbar 667 . Ausgeschlossen ist die Beschwerde ferner, wenn der angefochtene Beschluß über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis von einem Strafsenat als Rechtsmittelgcticht erlassen worden ist (§ 304 Abs. 4 S. 2 StPO) 668 oder die Hierzu und zum folgenden s. vor allem LR-G.Schäfer 79 zu § l i l a StPO. Vgl. auch LR-G.Schäfer 81, KK-Nack 19, SK/ StPO-Rudolphi 33 und AKJStPO-Achenbach 22 — je zu § 111 a StPO — sowie Himmelreich/Hentsehet Bd. 1 Rdn. 245. Zur nachträglichen richterlichen Kontrolle erledigter staatsanwaltschaftlicher oder polizeilicher Maßnähme s. die einschlägigen Erläuterungen zu § 98 StPO. Vgl. LR-G.Schäfer 83 und Kleinknecht/MeyerGoßner 19 - je zu § 111 a StPO. (97)
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Vgl. LR-G.Schäfer 83 zu § l i l a StPO. Wie bereits erläutert (obige Rdn. 158), kann die im Beschluß nach § 111 a Abs. 1 StPO enthaltene Beschlagnahmeanordnung nur zusammen mit der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis angefochten werden. In diesem Fall hebt der Senat (analog § 126 Abs. 3 StPO) zusammen mit dem Urteil auch den Beschluß nach § 111 a auf; vgl. LR-G.Schäfer 82 zu § 111 a StPO.
Klaus Geppert
§ 69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
Beschwerde dazu dient, im Revisionsverfahren eine Vorabentscheidung über die Revision zu erreichen, etwa indem der Beschuldigte beim LG die Aufhebung der vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung beantragt und gegen den ablehnenden Beschluß Beschwerde zum OLG einlegt; eine solche Beschwerde ist im Revisionsrechtszug rechtlich nicht möglich, weil eine tatrichterliche Prüfung der Erforderlichkeit der vorläufigen Maßnahme hier nicht mehr stattfindet 669 . 174
b) Eine weitere Beschwerde ist gesetzlich ausgeschlossen (§310 Abs. 2 StPO). Somit ist eine Entscheidung des Landgerichts als Beschwerdegericht nicht nochmals beschwerdefähig, d. h. eine weitere Anfechtung ist ausgeschlossen, wenn die angefochtene Entscheidung ihrerseits auf eine Beschwerde hin ergangen ist: dies jedenfalls, solange die Akten dem Landgericht nach § 321 S. 2 StPO noch nicht zur Berufung vorgelegt sind. Nach Aktenvorlage entscheidet die Strafkammer nach hier vertretener (doch nicht unbestrittener) Ansicht jedoch selbst dann als mit der Hauptsache befaßtes, d. h. Berufungsgericht, wenn es an sich als Beschwerdegericht tätig werden wollte; in diesem Fall wird seine Entscheidung wiederum beschwerdefähig (§§ 304 und 305 S. 2 StPO). Ausführlich dazu bereits Rdn. 150. Ein Antrag, nach welchem die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufgehoben und der Führerschein herausgegeben werden soll, kann entweder als Aufhebungsantrag an das AG oder als Beschwerde zum LG erscheinen. Wird jedoch in der Begründung des Begehrens klargestellt, daß keine Beschwerde, sondern ein selbständiger Aufhebungsantrag nach § 111 a Abs. 2 StPO gemeint sei, wird eine Erstentscheidung begehrt, die wiederum beschwerdefähig ist; in diesem Fall kommt § 310 Abs. 2 StPO nicht zur Anwendung (OLG Braunschweig NZV 1996 122).
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c) Besonderheiten des Beschwerdeverfahrens. Im Umfang seiner Beschwer beschwerdeberechtigt ist der Beschuldigte selbst sowie die Staatsanwaltschaft, sofern ihr Antrag auf Anordnung der vorläufigen Maßnahme abgelehnt oder nach § 111 a Abs. 1 S. 2 StPO nur beschränkt bestätigt worden ist. Kein Beschwerderecht steht dem Nebenkläger zu, da die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ausschließlich dem Schutz der Allgemeinheit vor ungeeigneten Kraftfahrern und nicht den Individualinteressen des Nebenklägers dient 670 . Das Beschwerdegericht muß in der Sache selbst entscheiden (§ 309 Abs. 2 StPO) und darf die Sache nicht (etwa wegen mangelhafter Begründung des angefochtenen Beschlusses 671 ) an das Gericht zurückverweisen, dessen Beschluß angefochten wird 672 . Durch Einlegung der Beschwerde wird der Vollzug der Maßnahme nicht gehemmt (§ 307 Abs. 1 StPO) 673 . Ob kraft ausdrücklicher Anordnung des zuständigen Gerichts nach § 307 Abs. 2 StPO eine Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Entscheidung möglich ist 674 , wird unterschiedlich beurteilt. Nach Ansicht insbesondere des LG Köln 675 wird dies wegen des Sicherungscharakters der Maßnahme und nicht zuletzt deshalb generell ausgeschlossen, weil die Wirkung der gerichtlichen Entscheidung kraft Gesetzes eintrete und somit keiner besonderen „Vollziehung" bedürfe. Dies ist jedenfalls dann richtig, wenn über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis im Wege 669 KG VRS 38 (1970) 127 und OLG Düsseldorf NZV 1991 165 = VRS 80 (1991) 214; zustimmend LRG.Schäfer 88 und Kleinknecht/Meyer-Goßner 19 je zu § 111 a StPO — sowie Himmelreich/Hent-
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Zur Abwendung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis gegen Sicherheitsleistung (nach dem Vorbild des § 116 StPO) de lege ferenda Linß Vorl. Entziehung der Fahrerlaubnis S. 145 ff.
schel Bd. I Rdn. 246. Ebenso LR-G.Schäfer 85 zu § 111 a StPO und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 246. BGH NJW 1964 2119; ebenso Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 229a und LR-G.Schäfer 87 zu §111 a StPO. OLG Karlsruhe VRS 68 (1985) 360; ebenso Hirnmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 246.
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So auch für § 111 a-Beschlüsse nachdrücklich Dencker ZfS 1984 29 (Parallele zu § 80 Abs. 1 S. 2 VwGO); differenzierend D.Meyer ZfS 1984 30 und ihm folgend Hentschel DAR 1988 92 und KMRAiü//er21 zu § 111 aStPO. ZfS 1984 29 und ZfS 1986 124; ebenso LRG.Schäfer 86 zu § 111 a StPO (mit Hinweis auf den Sicheruiigscharakter der Maßnahme).
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Stand: 31. 5. 1996
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der richterlichen Bestätigung der vorangegangenen Beschlagnahme entschieden wird (Konstellation von § 111 a Abs. 4 StPO); hier würde sich an der bereits erfolgten Beschlagnahme ohnehin nichts ändern. Anders liegt der Fall, wenn der Führerschein noch nicht beschlagnahmt worden ist und der Beschluß nach § 111 a Abs. 1 (auch) zur Anordnung der Beschlagnahme dient (Konstellation von § 111 a Abs. 3); hier kann es sinnvoll sein, die aufschiebende Wirkung der Entscheidung anzuordnen, was etwa den Vollzug der nach § 111 a Abs. 3 fingierten Beschlagnahmeanordnung und damit die Strafbarkeit nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG bis zur Entscheidung über die Beschwerde hinausschiebt 676 . 10. Sonstiges. a) Anrechnung vorläufiger Maßnahmen. Kommt es nicht zu einer endgültigen Ent- 176 Ziehung der Fahrerlaubnis, sondern nur zu einem Fahrverbot (§ 44), ist die Dauer der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis und der ihr gleichgestellten (bei freiwilliger Herausgabe: durch Sicherstellung, andernfalls durch Beschlagnahme erfolgten) amtlichen Verwahrung des Führerscheins zur Sicherung der Einziehung auf die Dauer des Fahrverbotes (§ 44) anzurechnen (§§ 51 Abs. 5 S. 1 und 2 i. V. mit Abs. 1 S. 1). Von der Ausnahme des § 51 Abs. 1 S. 2 abgesehen (s. dazu Rdn. 75 zu § 44), steht die Anrechnung nicht im Ermessen des Gerichts. Sie ist auch nicht auf die Entziehung einer ausländischen Fahrerlaubnis zu erstrecken, auch wenn diese nach § 69 b Abs. 1 nur die Wirkung eines Fahrverbotes hat 677 ; s. dazu schon obige Rdn. 170, nachfolgend Rdn. 12 zu § 69 b sowie die Erläuterungen zu § 44 (dort Rdn. 66 ff). Auf die Sperre einer endgültig entzogenen Fahrerlaubnis wird die Dauer einer vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung nicht „angerechnet", sondern ausweislich von § 69 a Abs. 5 S. 2 lediglich in die Sperre „eingerechnet", d. h. von ihr abgezogen, soweit sie nach Verkündung des letzten tatrichterlichen Urteils oder zwischen der Entscheidung und ihrer Rechtskraft verstrichen ist; s. dazu die Erläuterungen zu § 69 a (dort Rdn. 71 ff). In allen anderen Fällen kann die bisherige Zeit einer vorläufigen Führerscheinmaßnahme im Hinblick auf ihre Denkzettelwirkung nur diagnostisch-prognostisch berücksichtigt werden: so vor allem bei Beurteilung der Frage, ob der Beschuldigte im Augenblick der letzten tatrichterlichen Entscheidung noch „ungeeigent" ist (dazu schon Rdn. 94 ff), darüber hinaus aber auch bei Bemessung der Sperrfrist (dazu Rdn. 45 ff zu § 69 a) sowie unter den Voraussetzungen des § 69 a Abs. 7 im Wege nachträglicher Sperrfristverkürzung (dazu Rdn. 83 ff zu § 69 a). b) Als Strafverfolgungsmaßnahme fällt die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis 177 (gleiches gilt für die Beschlagnahme des Führerscheins zur Sicherung seiner Einziehung) trotz ihres präventiven Charakters unter das Verfolgungsverbot des Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG und der entsprechenden Vorschriften der Länderverfassungen 678 . Danach setzen diese Maßnahmen bei Abgeordneten die Aufhebung ihrer Immunität selbst dann voraus, wenn der Abgeordnete „bei Begehung der Tat oder im Laufe des folgenden Tages festgenommen" wird (Art. 46 Abs. 2 GG); denn als Flagranz-„Festnahme" in diesem Sinn sind wohl nicht alle freiheitsentziehenden/-beschränkenden Maßnahmen strafprozessualer Art zu verstehen 679 , sondern nur Festnahmen im engen Sinn der §§ 112 ff und 127 StPO 680 . Die 676
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Ausführlich dazu D.Meyer ZfS 1984 30; ihm folgend Hentschel DAR 1988 92 und derselbe in Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 246 a sowie KMRMüller 21 zu § 111 a StPO. LG Köln nach Janiszewski NStZ 1982 107. Gegenteiliger Ansicht (jedenfalls für die Rechtslage vor Inkrafttreten der Nr. 192 a RiStBV) Νau NJW 1958 1668; dagegen schon damals Reh NJW 1959 86 und Cloppenburg MDR 1961 826.
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So aber (jeweils zur Blutentnahme nach §81 a StPO) OLG Bremen NJW 1966 743 und OLG Oldenburg NJW 1966 1764: beide mit dem Hinweis, daß daraufhin auch das weitere Verfahren genehmigungsfrei sei; auf dieser Linie auch LR-ßiqß 23 und 26 zu § 152 a StPO (m.w.Nachw.). Wie hier LR-G.Schäfer 96 zu § 111 a StPO; so offenbar auch Maunz in Maunz/Dürig/Herzog, Fn. 1 bei Rdn. 53 zu Art. 46 GG.
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
verfassungsrechtliche Streitfrage hat jedoch kaum praktische Bedeutung; denn die allgemeine Genehmigung zur Durchführung von Ermittlungsverfahren gegen Abgeordnete, wie sie der Deutsche Bundestag und die gesetzgebenden Körperschaften der Länder (mit Ausnahme von Ermittlungen wegen Beleidigungen politischen Charakters) zu Beginn einer Wahlperiode im voraus zu erteilen pflegen, umfaßt nach Nr. 192 a Abs. 2 e S. 2 RiStBV ausdrücklich auch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis sowie (argumentum a maiore ad minus) die zu ihrer Sicherung gedachte Beschlagnahme 681 . Die Immunität der Mitglieder des Europ. Parlaments bestimmt sich ausweislich von § 5 Abs. 1 des Europaabgeordnetengesetzes (EuAbgG) 682 nach Art. 9 und 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europ. Gemeinschaften 683 . Danach steht den Europaabgeordneten im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die Immunität in dem Umfang zu, den der Staat seinen eigenen Parlamentariern zuspricht (Art. 10 S. 1 a); bei „Ergreifung auf frischer Tat", wie dies bei Beschlagnahme des Führerscheins zur Sicherung späterer Fahrerlaubnisentziehung häufig vorkommen dürfte, kann die Unverletzlichkeit jedoch nicht geltend gemacht werden (Art. 10 S. 3). Mitglieder des Europ. Parlaments, die zugleich Mitglieder des Deutschen Bundestages sind, verlieren ihre Immunität nur, soweit das Europ. Parlament und der Deutsche Bundestag die Immunität aufheben (§ 5 Abs. 2 EuAbgG) 684 . 178
Bei diplomatisch oder konsularisch bevorrechtigten Personen entscheidet sich nach §§ 18 bis 20 GVG und den dort genannten internationalen Übereinkommen, wann ihnen gegenüber die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis bzw. die Beschlagnahme des Führerscheins möglich ist (s. diesbezüglich auch die Nrn. 193 bis 200 RiStBV zur „Behandlung der von der deutschen Gerichtsbarkeit befreiten Personen"). Für Mitglieder der in der Bundesrepublik stationierten Nato-Truppen einschließlich ihres zivilen Gefolges und ihrer Angehörigen enthält Art. 9 Abs. 6 b des Zusatzabkommens 685 zum Nato-Truppenstatut eine Sonderregelung. Soweit diese eingreift, bleiben die Vorschriften des deutschen Strafrechts über ,die Entziehung der Fahrerlaubnis auf die nach Art. 9 Abs. 2 und 3 des Zusatzabkommens ausgestellten Nato-Sonderführerscheine anwendbar; entsprechend Gleiches (argumentum a maiore ad minus) gilt für die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und die Beschlagnahme des Führerscheins. Da es sich bei den genannten Zusatzbescheinigungen um ausländische Fahrausweise handelt, ist auch bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis eine amtliche Inverwahrungnahme ausgeschlossen; die (vorläufige) Entziehung ist auf dem (dem Inhaber zu belassenden) Führerschein zu vermerken (Art. 9 Abs. 6 b S. 2 des Zusatzabkommens). Entsprechend Gleiches gilt nach Maßgabe des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs vom 12. Oktober 1990 (BGBl. II 1256) auch für die Mitglieder der (ehemals) sowjetischen Truppen. Art. 18 Abs. 1 dieses Vertrages unterwirft auch strafbare Handlungen (und Ordnungswidrigkeiten), die von (militärischen wie zivilen) Mitgliedern der ehemals sowjetischen Truppen oder deren Familienangehörigen auf dem Gebiet der Bundesrepublik begangen werden, der deutschen Gerichtsbarkeit; da Art. 11 Abs. 4 S. 3 darüber hinaus die Vorschriften des deutschen Rechts über die Entziehung der Fahrerlaubnis „uneingeschränkt" auch für das Führen dienstlicher und priva681 Ebenso L R - G . S c h ä f e r 96, SYJStPO-Rudolphi 37 und Kleinknecht/Meyer-Goßner 20: j e zu § 111 a StPO. 682 V o m 6. April 1979 (BGBl. I 413). 83 V o m 8. April 1965 (BGBl. II 1453, 1482). 684 Zur A u f h e b u n g der Immunität eines Mitglieds des Europ. Parlaments s. auch Nr. 192 b RiStBV; dabei
ist zu beachten, daß das Europ. Parlament eine gemeine G e n e h m i g u n g zur Durchführung Ermittlungsverfahren (bisher) nicht erteilt (Nr. 192 b Abs. 2 RiStBV). « 5 V o m 18. August 1961 (BGBl. II 1183, 1190 1218).
Stand: 31. 5. 1996
allvon hat und
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ter Kraftfahrzeuge durch Mitglieder der sowjetischen Truppen und deren Familienangehörigen für anwendbar erklärt, sind auch die §§ 111 a und 94 Abs. 3 StPO anwendbar 686 . Nach Satz 4 von Art. 11 Abs. 4 wird der Entzug der dienstlichen und privaten Fahrerlaubnis (auf Antrag der deutschen Behörden) durch die militärische Kraftfahrzeuginspektion (Feldjäger) der sowjetischen Truppen vorgenommen. Da es sich um einen außerdeutschen Führerschein handelt, wird die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis durch Eintragung eines Vermerks vollzogen (§ 111 a Abs. 6 S. 1 StPO). Bis zur Eintragung des Vermerks kann der Führerschein beschlagnahmt werden (Satz 2); die Beschlagnahme (auf Antrag der deutschen Behörden) durchzuführen ist der militärischen Kraftfahrzeuginspektion der ehemals sowjetischen Truppen vorbehalten (Art. 11 Abs. 4 S. 4 des sog. Aufenthaltsvertrages). c) Die gerichtliche Entscheidung, mit der die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis 179 angeordnet/aufgehoben wird, bedarf keiner Kosten- und Auslagenentscheidung 687 . Dies folgt aus § 464 Abs. 1 und 2 StPO, wonach nur rechtszugbeendende Entscheidungen mit einer Kosten- und Auslagenentscheidung zu versehen sind 688 ; dazu gehören Maßnahmen nach § 111 a StPO nicht, da sie das Ermittlungsverfahren gerade nicht abschließen, sondern endgültig erst durch Urteil/Strafbefehl oder aber durch instanzbeendenden Einstellungsbeschluß entschieden werden. Anders ist die Rechtslage im Beschwerdeverfahren 689 . Daß auch in diesen Fällen 180 (jedenfalls) über die Gerichtskosten zu entscheiden ist, entspricht allgemeiner Ansicht, handelt es sich insoweit doch um ein in sich abgeschlossenes und vom Ergebnis des Hauptverfahrens unabhängiges Zwischenverfahren (§ 464 Abs. 1 StPO) 690 . Angesichts der etwas engeren Formulierung in Abs. 2 dieser Vorschrift ist umstritten, ob insoweit auch eine Entscheidung über die notwendigen Auslagen zu treffen ist (bei erfolgreicher Beschwerde wäre dann § 467 StPO entsprechend anzuwenden): Eine Minderansicht lehnt dies ab, da die Beschwerdeentscheidung den Entzug der Fahrerlaubnis nicht endgültig regele, sondern lediglich die Sicherungswirkung der vorläufigen Anordnung unterbreche und man demzufolge nicht von einem vom Ausgang des Hauptverfahrens unabhängigen Zwischenverfahren sprechen sprechen könne 691 . Demgegenüber ist im Interesse des im Beschwerdeverfahrens erfolgreichen Beschuldigten mit der wohl h. M. von der Notwendigkeit auch einer Auslagenentscheidung auszugehen 692 . Das Beschwerdeverfahren ist ein in sich abgeschlossenes Zwischenverfahren, dessen Kosten- und Auslagenentscheidung vom späteren Ausgang des Hauptverfahrens grundsätzlich unabhängig und insoweit auch endgültig ist, so daß auch die gesetzliche Konzeption einer notwendig einheitlichen Kostenentscheidung nicht beeinträchtigt wird. Zu Recht ist demzufolge das LG Hamburg (NJW 1973 719) in einem Fall, in dem das Amtsgericht die von ihm angeordnete vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis auf Beschwerde des Beschuldigten aufgehoben hat und das Verfahren daraufhin noch vor Erhebung der öffentlichen Klage eingestellt worden ist, 686 687
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Ebenso Schulz HK-StVR 18 zu § 111 a StPO. LG Mönchengladbach JurBUro 1978 1356; ebenso Huber NStZ 1985 18 Fn. 5. LR-Hilger 6, K M R - / W u s 17 und KK-Schimansky 2 - je zu § 464 StPO. Weiterführend Huber NStZ 1985 18 ff; vgl. auch LR-Hilger 13 ff zu §473, KK-Schimansky 3 zu § 464 sowie (speziell zu § 111 a StPO) Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 247 f. Mit weiteren Nachweisen LG-Hilger 13 zu §473 und Huber NStZ 1985 19; a.A. OLG Frankfurt MDR 1982 954. So vor allem OLG Frankfurt MDR 1982 954 und
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LG Osnabrück JurBUro 1978 1351; ebenso Schulz HK-StVR 18 zu § 111 a StPO sowie Kleinknecht/ Meyer-Goßner 11 und KMR-Püu/ms 23 — je zu § 464 StPO. Auf dieser Linie auch KG JR 1976 297 und StV 1985 449; offengelassen bei OLG Hamm NJW 1973 1515. So vor allem LG Hamburg NJW 1973 719 (§ 473 StPO analog), LG Flensburg JurBüro 1977 230 und LG Mönchengladbach JurBUro 1978 1356; ebenso LR-Hilger 14 zu § 473 StPO, KK-Schimansky 3 zu § 464 StPO, Himmelreich/Henlschel Bd. I Rdn. 247 und Huber NStZ 1985 18 ff.
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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
von der Notwendigkeit einer Auslagenentscheidung (für die dann § 473 StPO entsprechend angewendet wurde) ausgegangen; § 467 a Abs. 1 StPO steht dem nicht entgegen, handelt es sich insoweit doch um eine Art von Rechtsmittefoerfahren693. Hat kein Rechtsmittelverfahren stattgefunden, sondern ist nur (mit Erfolg) ein Antrag gestellt worden, von einer Maßnahme nach § l i l a StPO abzusehen (mit der Folge, daß der sichergestellte/ beschlagnahmte Führerschein wieder herausgegeben wurde), liegt nur ein Erfolg im Ermittlungsverfahren vor, für den nach der Konzeption des Gesetzes (§ 467 a StPO) notwendige Auslagen nicht gesondert erstattet werden 694 . 181
d) Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und die zur Sicherung der Einziehung erfolgte Beschlagnahme bzw. Sicherstellung des Führerscheins gehören zu den nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 und Abs. 3 StrEG entschädigungsfähigen Strafverfolgungsmaßnahmen. Die Entschädigungspflicht kann vor allem dort von großer Bedeutung sein, wo der Betroffene auf die Fahrerlaubnis beruflich angewiesen ist und durch den vorübergehenden Zwangsausschluß aus dem Straßenverkehr besonderen wirtschaftlichen Schaden erlitten hat. Näher dazu nachfolgend Rdn. 186 ff.
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e) Registrierung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis. Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist im Verkehrszentralregister des Kraftfahrt-Bundesamtes einzutragen (§ 13 Abs. 1 Nr. 2 i StVZO) und zu tilgen, sobald der Beschluß nach § 111 a StPO aufgehoben wird (§ 13 a Abs. 6 S. 1 StVZO). Wird die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nicht aufgehoben, sondern durch endgültige Entziehung in der abschließenden Entscheidung bestätigt, erlischt sie ohne besonderen Ausspruch allein mit Rechtskraft der Entscheidung zur Hauptsache (dazu bereits Rdn. 140); für diesen Fall schreibt das Gesetz vor, mit dem Vermerk über die rechtskräftige (endgültige) Entziehung der Fahrerlaubnis zugleich die Eintragung über die vorläufige Entziehung zu tilgen (Satz 2 von § 13 a Abs. 6 StVZO).
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Die im Verkehrszentralregister einzutragenden richterlichen Entscheidungen sind (nach § 13 d StVZO: auf besonderen Vordrucken) unverzüglich dem KraftfahrtBundesamt mitzuteilen (§ 13 b Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StVZO). Nach Nr. 46 Abs. 1 Nr. a MiStra sind die Beschlüsse nach § 111 a StPO zudem der nach § 68 Abs. 1 und 2 StVZO zuständigen Verwaltungsbehörde sowie nach Abs. 4 der für die Wohnung des Verurteilten zuständigen Polizeidienststelle mitzuteilen, sofern diese die Ermittlungen nicht selbst geführt hat. Ist der Betroffene Inhaber eines Sonderführerscheins (§ 14 StVZO), sind die Mitteilungen auch den betreffenden Dienststellen gegenüber zu machen (Nr. 46 Abs. 6 MiStra).
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f) Straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Folgen der Nichtbeachtung. Zuwiderhandlungen gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und die zu ihrer Sicherung erfolgte Beschlagnahme/Sicherstellung des Führerscheins sind nach § 21 StVG strafbewehrt. So macht sich nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG strafbar, wer vorsätzlich (Abs. 1) oder fahrlässig (Nr. 1 von Abs. 2) ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht hat 695 ; in diesem Sinn fehlt die Fahrerlaubnis auch bei ihrer nur „vorläufigen" Entziehung, obgleich sie im Fall des § 111 a StPO an sich bestehen bleibt (Rdn. 138)696. Wie bei der endgültigen kommt es auch bei der vorläufigen Ent693
Zustimmend Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 247. «o LG Hamburg NJW 1974 469; zustimmend Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 247. 695 Die gleiche Strafe trifft nach § 21 Abs. 1 Nr. 2 StVG denjenigen, der als Halter eines Kraftfahr-
zeuges anordnet oder zuläßt, daß jemand das Fahrzeug ohne die erforderliche Fahrerlaubnis führt. 696 OLG Koblenz VRS 50 (1976) 34, OLG Karlsruhe VRS 53 (1977) 461, OLG Hamm VRS 57 (1979) 125, BayObLG bei Rüth DAR 1966 262 und LG Braunschweig NJW 1953 1238.
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Entziehung der Fahrerlaubnis
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ziehung nicht darauf an, ob der Führerschein beschlagnahmt/sichergestellt ist oder sich noch im Besitz des Beschuldigten befindet, sofern der gerichtliche Entziehungs-Beschluß dem Beschuldigten nur wirksam bekanntgemacht worden ist. Erforderlich (und ausreichend) ist eine (ggf. sogar formlose) schriftliche Bekanntgabe; die bloß mündliche Mitteilung, etwa durch einen Polizeibeamten, genügt jedoch nicht (näher Rdn. 138). § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG ist auch dann verwirklicht, wenn der Beschuldigte eine Beschränkung nach § 111 a Abs. 1 S. 2 StPO nicht beachtet hat; im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG muß aber eindeutig erkennbar sein, ob es sich um eine Beschränkung der Fahrerlaubnis im (strengen) Sinn der §§ 111 a Abs. 1 S. 2 StPO und 12 Abs. 2 S. 2 StVZO oder nur um eine Auflage nach § 12 Abs. 2 S. 1 StVZO handelt; letzterenfalls liegt nur eine Ordnungswidrigkeit vor (§ 69 a Abs. 1 Nr. 6 StVZO) 697 . Nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG macht sich auch strafbar, wer mehrere (von verschiedenen Behörden zu verschiedenen Zeiten ausgestellte) Führerscheine besitzt, von denen aber nur einer beschlagnahmt worden ist 698 . Ob Fehlvorstellungen des Beschuldigten, auf Grund des noch nicht beschlagnahmten anderen Führerscheins weiterfahren zu dürfen, als Verbots- oder als Tatbestandsirrtum zu behandeln sind, ist Tatfrage 699 ; umso wichtiger ist es, daß der Beschuldigte bei der förmlichen Zustellung des Beschlusses (nach § 35 Abs. 2 StPO zwar nicht geboten, zur Vermeidung von Beweisschwierigkeiten jedoch zu empfehlen) über die strafrechtlichen Folgen der Nichtbeachtung einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis belehrt wird (dazu schon Rdn. 138). Nur nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 StVG (gegenüber § 21 Abs. 1 StVG mit einer geringeren 185 Strafe bedroht) macht sich strafbar, wer vorsätzlich oder fahrlässig ein Kraftfahrzeug führt, obwohl der vorgeschriebene Führerschein nach § 94 StPO durch Sicherstellung oder Beschlagnahme in amtliche Verwahrung genommen worden ist 700 . Ungeachtet des insofern zu weiten Gesetzeswortlauts ist damit nur der Fall des Absatzes 3 (von § 94 StPO) gemeint; die amtliche Verwahrung des Führerscheins muß also gerade zur Sicherung der Einziehung erfolgt sein 701 . Andernfalls ist nur von einer Ordnungswidrigkeit wegen Fahrens ohne Mitführen des Führerscheins auszugehen (§§ 4 Abs. 2 S. 2 und 69 a Abs. 1 Nr. 5 a StVZO) 702 . Sicherstellung und Beschlagnahme setzen die körperliche Wegnahme des Führerscheins voraus; die lediglich mündliche oder schriftliche Anordnung oder auch Mitteilung der erst noch vorzunehmenden Beschlagnahme/Sicherstellung genügt nicht 703 . Auch wer mehrere Führerscheine besitzt, macht sich nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 StVG strafbar, wenn er nach Sicherstellung nur eines Führerscheins mit dem ihm verbliebenen weiterfährt 704 . Die Möglichkeit zur Einziehung des Kraftfahrzeuges, die § 21 Abs. 3 StVG in den Vorsatzfällen des Abs. 1 (unter den zusätzlichen Voraussetzungen der §§ 74 ff StGB) zuläßt, gilt zwar auch für die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis 705 , ist jedoch bei amtlicher Inverwahrungnahme (nur) durch Sicherstellung oder Beschlagnahme ausgeschlossen. m
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BGHSt. 28 72 (= NJW 1978 2517). LG Köln VRS 15 (1958) 115; zustimmend Janiszewski 624. Für einen Verbots\ntam LG Köln VRS 15 (1958) 115 (im Anschluß an OLG Hamm DAR 1957 25); in dieser Richtung auch BayObLG VM 1975 91 (Fehlvorstellung über eine Betriebserlaubnis nach § 19 Abs. 2 S. 2 StVZO) und OLG Düsseldorf VM 1976 26 sowie Janiszewski 624. Für einen Tatbesrandsimum jedoch BayObLG VRS 62 (1982) 460 = NStZ 1982 371. Die gleiche Strafe trifft nach §21 Abs. 2 Nr. 3 StVG den Halter eines Kraftfahrzeuges, der anord-
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net oder zuläßt, daß jemand das Fahrzeug führt, obwohl der Führerschein sichergestellt oder beschlagnahmt worden ist. 701 KG VRS 42 (1972) 210 und OLG Karlsruhe VRS 53(1977) 461. 7 °2 OLG Köln NJW 1968 666 (mit Anm. Schweichel S. 1486). 703 OLG Schleswig DAR 1968 135 sowie OLG Stuttgart DAR 1968 247 und VRS 79 (1990) 303. 704 OLG Köln NZV 1991 360 sowie OLG Düsseldorf VM 1972 56. 7 °5 OLG Hamm NJW 1966 2373.
Klaus Geppert
§ 6 9
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
VI. Entschädigung nach vorläufigen Führerscheinmaßnahmen Schrifttum Crohmann Zur grob fahrlässigen Verursachung der Sicherstellung des Führerscheins i. S. von § 5 Abs. 2 StrEG, M D R 1976 541; derselbe Führerscheinmaßnahmen im Lichte des Strafrechtsentschädigungsgesetzes, Blutalkohol 1985 233; Händel Zur Anwendung des Gesetzes über die Entschädigung von Strafverfolgungsmaßnahmen, Blutalkohol 1972 281; derselbe Zur Anwendung des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen, Zeitschrift für Verkehrs- und Ordnungswidrigkeitenrecht (VOR) 1973 243; derselbe Die Rechtsprechung zum Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen, Blutalkohol 1975 238; Himmelreich/Hentschel Fahrverbot Führerscheinentzug Band I (Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht), 8. Aufl. (1995); Kleinknecht/Meyer-Goßner Erläuterungen zum StrEG, Anhang 5 zum StPO-Kommentar, 41. Aufl. (1993); Koch Entschädigung bei unbegründeter Beschlagnahme im Strafverfahren?, JR 1959 293; Kurz Die Entschädigungspflicht nach einer erfolgreichen Berufung des Angeklagten, Blutalkohol 1976 250; Loewe Keine Entschädigung bei vorläufiger Entziehung der Fahrerlaubnis für den KfzNutzungsentgang als solchen, D A R 1972 272; Dieter Meyer Strafrechtsentschädigung und Auslagenerstattung. Kommentar zum Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG), 3. Aufl. (1994); derselbe Wann ist bei Trunkenheitsfahrten grobe Fahrlässigkeit i. S. von § 5 Abs. 2 StrEG anzunehmen?, D A R 1976 67; derselbe Zur Frage der Entschädigung, wenn eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis sich durch Zeitablauf erledigt hat, aber unverhältnismäßig lange dauerte (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 StrEG), D A R 1977 68; derselbe Ausschluß der Entschädigung nach dem StrEG bei einem Wegfall der Strafbarkeit im Laufe des Verfahrens, M D R 1978 367; derselbe Die Regel des § 6 Abs. 1 Nr. 1 StrEG: Versagen der Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen bei Verschweigen eines wesentlichen entlastenden Umstandes trotz Zumutbarkeit der Offenbarung, D A R 1978 238; derselbe Z u m Ausschluß der Strafrechtsentschädigung bei Alkohol am Steuer, Blutalkohol 1980 276; derselbe Ausschluß und Versagung von Entschädigung nach dem StrEG wegen Aussageverhaltens eines Beschuldigten, M D R 1981 109; derselbe Z u m U m f a n g der Entschädigung für vorläufige Führerscheinmaßnahmen (§ 7 StrEG), JurBüro 1990 685; derselbe Zur Anwendung des StrEG auf Entscheidungen der Strafverfolgungsbehörden der ehemaligen DDR, JurBüro 1991 899; derselbe Strafverfolgungsentschädigung für vorläufige Führerscheinmaßnahmen bei einer B Ä K von weniger als 0,8 Prozent?, D A R 1992 235; Nickel Nutzungsentschädigung bei vorläufiger Entziehung der Fahrerlaubnis, D A R 1972 181; Schätzler Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (Kommentar), 2. Aufl. 1982; Sieg Teilweiser Ausschluß der Entschädigung nach dem StrEG bei leicht fahrlässiger Verursachung von Strafverfolgungsmaßnahmen, D A R 1976 11; derselbe Ausschluß und Versagung der Entschädigung wegen Aussageverhaltens eines Beschuldigten, M D R 1980 907.
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1. Generelle Entschädigungspflicht. War die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen worden (§ 111 a StPO) und hat der Beschuldigte dadurch einen Vermögensschaden erlitten, ist er aus der Staatskasse zu entschädigen (gesetzlicher Aufopferungsanspruch), wenn er freigesprochen wird oder das zuständige Gericht von der endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen, das Verfahren gegen ihn eingestellt 706 oder die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt hat (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 StrEG). Da zu den entschädigungspflichtigen Strafverfolgungsmaßnahmen nach § 2 Abs. 4 Nr. 4 StrEG 707 auch die zur Sicherung der Einziehung erfolgte Sicherstellung/Beschlagnahme eines (inländischen)
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Ausweislich eines Umkehrschlusses aus § 3 StrEG (Billigkeitsentschädigung bei Einstellung nach Ermessen) sind entschädigungspflichtig nur obligatorische Einstellungen (z.B. §§ 170 Abs. 2, 206 a oder 260 Abs. 3 StPO): gleichgültig, ob aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen, sofern nur als endgültig gewollt: näher D.Meyer 29 ff zu § 2 StrEG.
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Insofern subsidiär zu § 2 Abs. 2 Nr. 5 StrEG, wobei für Nr. 4 (Sicherstellung/Beschlagnahme) der Vollzug der Maßnahme und nicht ihre bloße Anordnung maßgeblich ist: OLG Hamburg MDR 1982 519 und LG Flensburg GA 1978 341; ebenso Kleinknecht/Meyer-Goßner 7 zu § 2 StrEG.
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
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Führerscheins gehört 708 , kommt eine Entschädigung auch in Betracht, wenn der Beschuldigte den Führerschein zur Vermeidung einer zwangsweisen Sicherstellung freiwillig herausgegeben 709 oder der zwangsweisen Sicherstellung nicht widersprochen und auch keine richterliche Entscheidung nach § 98 Abs. 2 StPO begehrt hat 710 . Voraussetzung einer Entschädigung ist in jedem Fall der Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis; besitzt der Beschuldigte trotz nicht vorhandener Fahrerlaubnis (noch) einen Führerschein, begründet dessen Beschlagnahme oder die in Unkenntnis der fehlenden Fahrerlaubnis angeordnete vorläufige Entziehung keine Entschädigungspflicht 711 . Entschädigungspflichtig ist auch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis gegen- 187 über Inhabern eines ausländischen Führerscheins 712 (dazu bereits Rdn. 169)7'3. Gleiches gilt für die auf § 111 a Abs. 6 S. 2 StPO gestützte (vorübergehende) Beschlagnahme/ Sicherstellung solcher Fahrausweise zwecks Eintragung eines Vermerkes über den vorläufigen Fahrerlaubnisentzug; auch wenn diese Maßnahme nur der Kontrolle der eigentlichen Strafverfolgungsmaßnahme (§ 111 a Abs. 1 StPO) dient, bleibt sie der Sache nach „Strafverfolgungsmaßnahme" und führt als solche (nach § 2 Abs. 2 Nr. 4 StrEG) zur Entschädigungspflicht 714 . Umstritten ist die Entschädigungspflicht bei Beschlagnahme/ Sicherstellung eines von einer inländischen Behörde ausgestellten Internationalen Führerscheins (zu dessen Erteilung s. § 8 IntVO). Weil ein solcher Führerschein nur zur Führung fahrerlaubnispflichtiger Fahrzeuge im Ausland berechtigt und anders als die Sonderführerscheine des § 14 StVZO im Inland nicht an die Stelle eines amtlichen Führerscheins (i. S. der §§ 4 Abs. 2 und 14 StVZO) tritt 7 '5, rechnet das AG Kassel (NZV 1992 499) die Sicherstellung eines (neben einem inländischen Führerschein ausgestellten) Internationalen Führerscheins nicht zu den entschädigungsfähigen Maßnahmen nach § 2 Abs. 2 Nr. 4 StrEG (weil es sich nicht um einen für das Inland „vorgeschriebenen" Führerschein handele, führe ein Verstoß gegen die Sicherstellung eines derartigen Fahrausweises auch nicht zu den Rechtsfolgen des § 21 Abs. 2 Nr. 2 StVG). Aus dem Gesamtzusammenhang der §§ 94 und l i l a StPO und ihrem Zusammenspiel mit § 21 Abs. 2 Nr. 2 StVG einerseits und den Vorschriften der IntVO andererseits hat Hentschel (NZV 1992 500) demgegenüber überzeugend ausgeführt, daß die Beschlagnahmewirkung des § 111 a Abs. 3 StPO alle von einer deutschen Behörde ausgestellten Führerscheine erfaßt, so daß als (i. S. von § 21 Abs. 2 Nr. 2 StVG) „vorgeschriebener" Führerschein jeder von einer zuständigen deutschen Behörde ausgestellte (noch gültige) Fahrausweis anzusehen ist. Hindert somit auch die Beschlagnahme (nur) eines inländischen Internationalen Führerscheins den Beschuldigten an der weiteren legalen Teilnahme am Straßenverkehr, führt dies dazu, daß bei Anordnung einer Sperre durch den Strafrichter nach § 69 a Abs. 5 S. 2 auch die Zeit der Beschlagnahme eines Internationalen Führerscheins in die Sperre einzu-
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OLG Stuttgart VM 1983 45. Nicht anwendbar ist § 4 Abs. 2 Nr. 4 StrEG auf die (in der Praxis eher seltene) präventiv-polizeiliche Beschlagnahme (D.Meyer 62 zu § 2 StrEG); vgl. LG Köln NJW 1987 1836 (zu einem präventiv-polizeilichen Schlachtverbot). BGHZ 65 170 = NJW 1975 348 = DAR 1975 79, OLG Hamm VRS 47 (1974) 201 und NJW 1972 1477, LG Frankfurt StV 1986 116 sowie AG Osnabrück DAR 1984 94; ebenso Janiszewski 164, Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 366 und Kleinknecht/Meyer-Goßner 7 zu § 2 StrEG. LG Memmingen NJW 1977 347; ebenso Janiszewski 1(A, Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 366 und D.Meyer 61 zu § 2 StrEG.
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OLG Zweibrücken VRS 54 (1978) 203: ebenso Himmelreich/Hentschel Bd. 1 Rdn. 366, Janiszewski 764 und D.Meyer MDR 1980 721. 712 Ebenso D.Meyer 68 zu § 2 StrEG. 713 Ebenso D.Meyer 63 zu § 2 StrEG. 714 Gegenteiliger Ansicht Schätzler 32 und Kleinknecht/Meyer-Goßner 8 — je zu § 2 StrEG — sowie Janiszewski 764; jedenfalls im Ergebnis wie hier (doch offenbar nur auf § 2 Abs. 2 Nr. 5 StrEG abstellend) D.Me\er 63 i. V. mit 68 zu § 2 StrEG. 7| 5 So schon OLG Celle VRS 51 (1976) 300; unter Hinweis auf eine amtl. Mitteilung des Bundesverkehrsministers (VB1 1962 146 Nr. 73); ebenso Hentschel NZV 1992 500.
Klaus Geppert
§ 69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
rechnen ist und bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen demzufolge auch eine Entschädigungspflicht nach § 2 Abs. 2 Nr. 4 StrEG besteht. Zur Anwendung des StrEG auf Entscheidungen der Strafverfolgungsbehörden der ehemaligen DDR s. §16 a StrEG 716 . 188
2. Der Ausschluß einer Entschädigung richtet sich nach § 5 StrEG. Soweit danach eine Entschädigung versagt ist, kommt auch eine Teilentschädigung nicht in Betracht (Alles-oder-nichts-Prinzip) 717 . Im Gesetz sind abschließend folgende Fälle genannt:
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a) Obligatorisch ausgeschlossen ist eine Entschädigung zum einen immer dann, wenn die „Anrechnung auf die verhängte Strafe unterbleibt" (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 StrEG). Damit ist der Fall gemeint, daß das Gericht die Anrechnung der vorläufigen Führerscheinmaßnahme auf das nach § 44 verhängte Fahrverbot im Hinblick auf das Verhalten des Verurteilten nach § 51 Abs. 5 (i. V. mit Abs. 1 S. 2) im Entscheidungstenor ausdrücklich ausgeschlossen hat (dazu Rdn. 66 ff und Rdn. 75: je zu § 44); damit ist bereits gerichtlich dokumentiert, daß der Beschuldigte sich die Strafverfolgungsmaßnahme selbst zuzuschreiben hat. In diesem wie in den nachfolgenden Fällen ist auch eine Billigkeitsentschädigung (§ 4 StrEG) ausgeschlossen 718 .
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b) Ausgeschlossen ist eine Entschädigung auch, wenn die Entziehung der Fahrerlaubnis endgültig angeordnet worden ist (1. Alt. von § 5 Abs. 1 Nr. 3 StrEG). Dieser gesetzliche Ausschlußgrund ist erforderlich, weil die endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis auch bei Freispruch wegen erwiesener oder nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit in Betracht kommen kann (dazu bereits Rdn. 19); auch hier ist die vorläufige Maßnahme durch die abschließende gerichtliche Entscheidung gedeckt.
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c) Eine Entschädigung ist ferner ausgeschlossen, wenn von der endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis wegen nachträglichen Wegfalls ihrer Voraussetzungen abgesehen wird (2. Alt. von § 5 Abs. 1 Nr. 3 StrEG). Dies ist der Fall, wenn die ursprüngliche Anordnung der vorläufigen Maßnahme zwar rechtens war, der Zweck der Maßregel durch nachträgliche Ereignisse und Entwicklungen (nicht zuletzt durch die Wirkung vorläufiger Führerscheinmaßnahmen, aber auch durch Nachschulung oder sonstige Ereignisse) im Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung aber als erreicht anzusehen ist (Rdn. 94 ff) 719 ; dabei macht es keinen Unterschied, ob von der endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis erst in der Hauptverhandlung (erster oder zweiter Instanz) abgesehen wurde oder ob die vorläufige Maßnahme wegen vorzeitiger Zweckerreichung außerhalb der Hauptverhandlung aufgehoben worden ist (dazu bereits Rdn. 140 ff) 720 . Auf den Fall, daß das Berufungsgericht nur durch das Verschlechterungsverbot (§ 331 StPO) an der Anordnung der Maßregel gehindert worden ist, findet § 5 Abs. 1 Nr. 3 StrEG seinem Wortlaut nach keine unmittelbare und wegen seines Ausnahmecharakters auch keine entsprechende Anwendung; in diesem Fall ist an eine Versagung der Entschädigung analog § 6 Abs. 1 Nr. 2 StrEG (Verfahrenshindernis) zu denken 721 .
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Ob unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 3 StrEG eine Entschädigung auch dann ausgeschlossen ist, wenn die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis erwiesenermaßen über den Wegfall des bei der Tat zunächst in Erscheinung getretenen Eignungs716
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S. dazu auch D.Meyer JurBUro 1991 899; vgl. auch BGH NStZ 1991 245). Kleinknecht/Meyer-Goßner 1 und D.Meyer 5 - je zu § 5. Kleinknecht/Meyer-Goßner 2 zu § 5 StrEG und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 370. Näher dazu Händel BA 1972 283; vgl. auch Him-
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melreich/Hentschel Bd. I Rdn. 371 und D.Meyer 24 und 24 a zu § 5 StrEG. D.Meyer 24 a zu § 5 StrEG. OLG Stuttgart NJW 1977 641 = MDR 1977 338; ebenso Schätzler 20 und Kleinknecht/Meyer-Goßner 4 — je zu § 5 StrEG — sowie Himmelreich/ HentschelBd. I Rdn. 371.
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Entziehung der Fahrerlaubnis
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mangels hinaus angedauert hat, ist umstritten. Eine literarische Minderansicht hält eine Entschädigung auch in diesem Fall für ausgeschlossen und den Schutz für ausreichend, wie er vom Gesetzesbefehl des § 111 a Abs. 2 StPO (Pflicht zu unverzüglicher Aufhebung) ausgeht 722 . Demgegenüber verneint die in Rechtsprechung und Literatur überwiegende Ansicht eine Entschädigung nur für die bis zum Wegfall des Eignungsmangels verstrichene Zeit, hält dem Sinn des § 5 Abs. 1 Nr. 3 StrEG entsprechend eine Entschädigung jedoch hinsichtlich der „überschießenden" Dauer der vorläufigen Führerscheinmaßnahme für möglich: dies jedenfalls dann, wenn die Dauer der vorläufigen Maßnahme, gemessen am endgültigen Ausgang des Verfahrens und der tatsächlichen Dauer des Eignungsmangels, unverhältnismäßig lange bestanden hat (zur Aufhebung der vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung wegen UnVerhältnismäßigkeit vgl. Rdn. 146)723. Ob die Überdauer „unverhältnismäßig" war, ist eine Frage des Einzelfalles und nach strengem Maßstab zu beurteilen 724 . Ungeachtet dessen bleibt auch bei Nichtanwendung von § 5 Abs. 2 Nr. 3 StrEG zu prüfen, ob die Entschädigung nicht aus anderen Gründen (etwa im Hinblick auf die Generalklausel des § 5 Abs. 2 StrEG: dazu nachfolgend Rdn. 193 ff) ausgeschlossen ist und ob die Entschädigung -sofern an sich möglich — nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 StrEG der Billigkeit entspricht 725 . d) Eine Entschädigung ist schließlich vor allem ausgeschlossen, soweit der Beschul- 193 digte die Strafverfolgungsmaßnahme vorsätzlich oder grob fahrlässig selbst verursacht hat (§ 5 Abs. 2 Satz 1 StrEG); dies ist jedoch zu verneinen, wenn der Beschuldigte sich darauf beschränkt hat, nicht zur Sache auszuzusagen 726 , oder es unterlassen hat, ein Rechtsmittel einzulegen (Satz 2). Da sich die Schweigebefugnis des Beschuldigten ausweislich von § 136 Abs. 1 S. 2 StPO nicht auf Angaben zur Person erstreckt 727 , gilt § 5 Abs. 2 S. 2 StrEG nur für das Schweigen des Beschuldigten zur Sache, allerdings nur für völliges Schweigen 728 ; beruht die Strafverfolgungsmaßnahme also darauf, daß der Beschuldigte seine Identität ganz oder teilweise verschwiegen hat, führt dies in aller Regel zum Ausschluß einer Entschädigung 729 . Nach der 2. Alt. dieses Satzes 2 wird eine Entschädigung auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Beschuldigte von einer Beschwerde gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis oder die Beschlagnahme des Führerscheins abgesehen hat; dem steht gleich, wenn der Beschuldigte die Sicherstellung des Führerscheins widerspruchlos hinnimmt, ohne durch entsprechenden Antrag eine für ihn günstigere gerichtliche Entscheidung zu § 111 a StPO herbeizuführen 730 . aa) Die Generalklausel des § 5 Abs. 2 StrEG beruht auf dem Gedanken mitwirken- 194 den Verschuldens (§ 254 BGB). Danach kann vom Staat keine Entschädigung für Straf722
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Schätzler 20 und Kleinknecht/Meyer-Goßner 4-je zu § 5 StrEG. Dazu vor allem BayObLG VRS 71 (1986) 386 = DAR 1987 89 und LG Bochum NJW 1972 501; zustimmend D.Meyer DAR 1977 68 und 25 zu § 5 StrEG sowie Janiszewski 766. OLG Düsseldorf JMB1 NW 1982 184 und LG Hamburg Μ DR 1973 957; s. auch D.Meyer 25 zu § 5 StrEG. BayObLG VRS 71 (1986) 388 (gegen D.Meyer DAR 1977 69). Dahinter steht das „Nemo-tenetur-Prinzip" (vgl. § § 1 3 6 Abs. I S. 2, 163 a Abs. 4 S. 2 und 243 Abs. 4 StPO), demzufolge das dem Beschuldigten eingeräumte umfassende Schweigerecht nicht unterlaufen und die gewünschte Verteidigungsstrategie nicht aus Rücksichtnahme auf die Entschädigungsfrage beeinflußt werden darf; dazu D.Meyer
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81 ff zu § 5 StrEG). Vgl. auch LG Flensburg BA 1985 184 = JurBüro 1984 1860 (mit Anm. D.Mever). S. dazu BGHSt. 25 13 und 21 364 sowie OLG Düsseldorf NJW 1970 1088 (zum OWi-Verfahren). Zum Ausschluß der Entschädigung bei Teileinlassung bzw. teilweise Schweigen s. D.Meyer 85 a bis d sowie 86 zu § 5 StrEG. D.Mever 84, Schätzler 59 und Kleinknecht/MeyerGoßner1 — je zu § 5 StrEG. Zur Zubilligung einer Entschädigung, wenn ein Verdächtiger freiwillig den Führerschein bei der Polizei vorlegt, nachdem er von gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen Kenntnis erlangt hat, der SicherStellung jedoch nicht widerspricht s. neuerdings LG Frankfurt a. M. NZV 1995 164. Vgl. dazu auch Händel BA 1972 284.
Klaus Geppert
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3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
verfolgungsmaßnahmen, die sich im nachhinein als unberechtigt herausstellen, beanspruchen, wer die Maßnahme ihrem Grund und/oder ihrer Dauer nach in schuldhafter und zurechenbarer Weise selbst verursacht hat 731 ; dabei ist zwischen Verursachung und Zurechenbarkeit einerseits und Verschulden andererseits zu unterscheiden 732 . Das für die Strafverfolgungsmaßnahme ursächliche Verhalten wird meist in der Tat selbst zu finden sein (ζ. B. alkoholbedingte Fahrfehler oder grob verkehrswidriges Verkehrsverhalten), kann aber auch zeitlich vor ihr liegen (ζ. B. trunkenheitsbedingtes Fehlverhalten vor Fahrtantritt) oder ihr erst nachfolgen (Nachtrunk, Unfallflucht, Verdunklungshandlungen u. ä.) 733 . Da es sich um Schadensersatzansprüche handelt, gelten für Vorsatz und Fahrlässigkeit zivilrechtliche Haftungsmaßstäbe (§§ 276 ff und 827 BGB) 734 ; kommt es somit auf objektive Kriterien und nicht auf persönliche Fertigkeiten/Fähigkeiten des Beschuldigten an, muß dieser sich Handlungen eines Dritten (ζ. B. seines Verteidigers) ebenso zurechnen lassen 735 wie eigenes Verhalten im Zustand alkoholbedingter Schuldunfähigkeit 736 . Vorsätzlich ist die Strafverfolgungsmaßnahme herbeigeführt, wenn sie (nicht etwa die Anlaßtat!) vom Wissen und Wollen des Beschuldigten gedeckt ist 737 ; bedingter Vorsatz genügt 738 . Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich großem Maße außer acht läßt, d. h. diejenige Sorgfalt vermissen läßt, die ein verständiger Mensch in gleicher Lage aufwenden würde, um sich vor Schaden durch Strafverfolgungsmaßnahmen zu bewahren 739 ; mutwilliges, mißbräuchliches oder sonst unlauteres Verhalten ist nicht erforderlich 740 . Leichte Fahrlässigkeit bleibt im Rahmen von § 5 Abs. 2 StrEG unberücksichtigt; hier ist die Entschädigung von Billigkeitskeitserwägungen abhängig (näher dazu Rdn. 204 ff) 741 . Da es sich bei § 5 Abs. 2 StrEG um einen Ausnahmetatbestand handelt, ist bei seiner Anwendung ein strenger Maßstab angebracht; in Zweifelsfällen ist von einer Entschädigungspflicht auszugehen 742 . 195
Die Schuldhaftigkeit des Verhaltens ist nicht aus der Warte späteren Wissens („ex tunc"), sondern nach dem Zeitpunkt zu beurteilen, an dem die Strafverfolgungsmaßnahme angeordnet/vollzogen oder ab dem sie aufrechterhalten wurde („ex ante") 743 . Aus diesem
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BGH (Z) NJW 1975 350; s. dazu auch den Bericht des Rechtsausschusses (BTDrucks. VI/1512, S. 3) sowie D.Meyer 35 bis 38 und Schätzler 31 bis 36 — je zu § 5 StrEG. Näher dazu Schätzler NStZ 1989 234. Vgl. OLG Düsseldorf JZ 1985 400, OLG Stuttgart NStZ 1981 484, OLG Karlsruhe MDR 1975 251 und BayObLG NJW 1973 1939. OLG Düsseldorf JZ 1985 400 und OLG Karlsruhe MDR 1975 251 = Justiz 1974 140. KG JR 1979 128; ausführlich D.Meyer JurBüro 1991 745 und 44a zu § 5 StrEG. OLG Frankfurt MDR 1978 514; zustimmend D.Meyer 44 b zu § 5 StrEG. Zur Beweislast hinsichtlich der Behauptung des Beschuldigten, sein Verhalten sei ihm wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit nicht zuzurechnen, s. OLG Zweibrücken VRS 69 (1985) 287 = NStZ 1986 129. Bei Geisteskranken oder sinnlos Betrunkenen genügt der natürliche Vorsatz (OLG Hamburg NStZ 1983 30). OLG Frankfurt NJW 1975 1895; vgl. auch D.Meyer 45 und 45 a sowie Schätzler 40 — je zu § 5 StrEG. Statt vieler: BGH (17.7.1974 - 2 StR 94/74), nach D.Meyer BA 1980 277; BayObLG NJW 1994
2428; OLG Düsseldorf JZ 1985 400; OLG Frankfurt NJW 1978 1017. 740 Überholt (da auf den später nicht verwirklichten Regierungsentwurf BTDrucks. VI/460 verweisend) OLG Schleswig BA 1972 285; dagegen bereits Händel BA 1975 241). So inzwischen allgemeine Ansicht: vgl. OLG Düsseldorf JZ 1985 400, OLG Stuttgart NStZ 1981 484 und BayObLG VRS 45 (1973) 195 sowie Grohmann BA 1985 235. 741 BGH (Z) NJW 1975 351; vgl. auch Sieg DAR 1976 11. 7 « OLG Düsseldorf StV 1988 446, LG Freiburg StV 1990 80 und LG Krefeld DAR 1972 247; vgl. auch Händel BA 1975 240 und D.Meyer 39 zu § 5 StrEG. 743 Statt vieler: OLG Düsseldorf JZ 1985 400, OLG Stuttgart NStZ 1981 484, OLG Frankfurt MDR 1978 514, OLG Karlsruhe MDR 1975 251 und OLG Braunschweig NdsRpfl 1971 285; vgl. auch Schätzler 37 und D.Meyer 44 - je zu § 5 StrEG sowie Grohmann BA 1985 235. Bedenklich OLG Hamm VRS 47 (1974) 201; zutreffend OLG Zweibrücken VRS 47 (1974) 443 und LG Verden DAR 1975 48. Zusammenfassend Händel BA 1975 242 ff.
Stand: 3 1 . 5 . 1996
(108)
Entziehung der Fahrerlaubnis
§69
Grund ist eine Entschädigung bei nachträglicher Gesetzesänderung (jedenfalls) für den Zeitraum der früheren Gesetzeslage ausgeschlossen; soweit gegen den Beschuldigten unter Geltung des früheren Rechts eine vorläufige Führerscheinmaßnahme angeordnet worden ist, war dies rechtens und dem Beschuldigten somit kein entschädigungspflichtiges Sonderopfer zugemutet worden 744 . Eine Entschädigungspflicht tritt in diesem Fall erst ab dem Zeitpunkt ein, an dem die vorläufige Maßnahme wegen nachträglichen Wegfalls ihrer Voraussetzungen von Amts wegen hätte aufgehoben werden müssen; (erst) ab diesem Zeitpunkt ist die Fortdauer der Maßnahme dem Beschuldigten nicht mehr zuzurechnen. Anders liegt die Rechtslage bei Änderung der Rechtsprechung (ζ. B. veränderter BAK-Grenzwert). Wird jemand wegen einer Handlung verfolgt, die nach (verbindlicher) späterer Rechtsprechung nicht strafrechtlich geahndet werden kann, darf dem Beschuldigten eine Entschädigung für die vorläufige Führerscheinmaßnahme nicht mit der Begründung versagt werden, im Tatzeitpunkt sei das festgestellte Verhalten von der weitaus überwiegenden Rechtsprechung als tatbestandsmäßig erachtet worden 745 . Selbst wenn der Beschuldigte nach vormaliger Rechtsprechung durch eigenes Verschulden in den Verdacht einer strafbaren Handlung geraten ist und jedenfalls damals in grob fahrlässiger Weise eine Strafverfolgungsmaßnahme auf sich gezogen hat, kann ihm diese insgesamt nicht zugerechnet werden, wenn sich später herausstellt, daß das Anlaßverhalten (ohne Änderung des Gesetzes!) überhaupt nicht als Straftat zu werten ist; man kann einem Beschuldigten nicht den Vorwurf machen, sich nicht darauf eingestellt zu haben, daß das Strafgesetz — zu seinem Nachteil — fehlerhaft angewendet wird 746 . bb) Der Zurechnungszusammenhang kann durch spätere Ereignisse wieder aufgeho- 196 ben werden (nachträgliches Entfallen des Zurechnungszusammenhangs); ab diesem Zeitpunkt entfällt für die nachfolgende Zeit der Ausschluß einer Entschädigung (§ 5 Abs. 2 S. I StrEG: „soweit"). Dies kommt vor allem dann in Betracht, wenn das zuständige Gericht es versäumt, die vorläufige Maßnahme wegen Wegfalls ihrer Voraussetzungen (etwa bei Ablauf der festgesetzten Sperrfrist zwischen den Instanzen oder unverhältnismäßig langer Dauer des Verfahrens) zu überprüfen und ggf. von Amts wegen aufzuheben (s. Rdn. 140 ff); soweit die Fortdauer der Führerscheinmaßnahme nicht mehr rechtens ist, ist sie dem Beschuldigten nicht mehr zuzurechnen und demzufolge zu entschädigen 747 . Gleiches gilt, wenn die Strafverfolgungsmaßnahme (allein oder jedenfalls überwiegend) infolge unrichtiger Angaben von Zeugen oder Mitbeschuldigten oder infolge anderer sich nicht als tragfähig erweisender Beweismittel angeordnet/vollzogen oder aufrechterhalten worden ist: dies jedoch nur, wenn diese unrichtigen Angaben bzw. nicht tragfähigen Beweismittel nicht ihrerseits auf das Verhalten des Beschuldigten zurückgehen und somit von ihm mitzuverantworten sind 748 . Bei der generellen Entschädigungspflicht infolge nachträglichen Entfallens des 197 Zurechnungszusammenhangs bleibt es schließlich auch dann, wenn Anordnung bzw. 744
745
So auch Schätzler GA 1990 37 sowie D.Meyer 42 zu § 5 StrEG und MDR 1978 367; so im Ergebnis auch KG JR 1977 334 (analoge Anwendung von Art. 9 des 4. StrRG). Gegen eine Entschädigungspflicht Kleinknecht/Meyer-Goßner 1 vor § 1 StrEG sowie KK-Treier 9 und LR-Rieß 16 - je zu § 206 b StPO. So zutreffend OLG Düsseldorf NZV 1989 204 = MDR 1989 845 = NStZ 1990 39 (ablehnend D. Meyer aaO S. 40) = GA 1990 34 (ablehnend Schätzler aaO S. 36); zustimmend Hentschel JR 1990 33 und Kleinknecht/Meyer-Goßner 10 zu § 5
(109)
746 747
748
StrEG. Gegenteiliger Ansicht obiter dictu offenbar auch OLG Frankfurt NZV 1990 277. Zutreffend Hentschel JR 1990 33. Weiterführend D.Meyer 69 bis 79 und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 383 bis 387; vgl. auch D.Meyer BA 1980 281 und Schätzler 56 zu § 5 StrEG. S. statt vieler BGH NStE Nr. 5 zu § 5 StrEG sowie OLG Düsseldorf StV 1988 446, OLG Oldenburg NdsRpfl 1983 253 und LG Freiburg StV 1990 80; vgl. auch Kleinknecht/Meyer-Goßner 7 zu § 5 StrEG.
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
Fortdauer der Maßnahme (allein oder überwiegend) auf groben Bearbeitungsfehlern der zuständigen Strafverfolgungsorgane beruht. Davon ist aber nur bei abwegiger oder schlechthin unvertretbarer Beurteilung der Sach- oder Rechtslage auszugehen, nicht jedoch bei („normalen") Fehlern, wie sie nicht nur bei Eilmaßnahmen vor Ort oder bei vorläufigen Führerscheinmaßnahmen außerhalb einer Hauptverhandlung, sondern letztlich auch in einer Hauptverhandlung selbst bei sorgfältiger Arbeitsweise nie ganz zu vermeiden sind 749 . Aus diesem Grund kann der Ansicht nicht gefolgt werden, die einem Angeklagten, der nach erstinstanzlicher (die vorläufige Entziehung bestätigender) endgültiger Entziehung der Fahrerlaubnis auf Grund im wesentlichen gleicher tatsächlicher Feststellungen im Berufungsrechtszug mangels Beweises freigesprochen wird, jedenfalls ab erstinstanzlicher Verurteilung mit der Begründung eine Entschädigung zubilligt, als Angeklagter habe er das von ihm „grob fahrlässig" verursachte Risiko einer Strafverfolgungsmaßnahme nicht bis zum Abschluß des gesamten Verfahrens, sondern nur bis zur ersten Instanz zu tragen 750 . Mit der h. M. ist vielmehr davon auszugehen, daß der Beschuldigte das Risiko der von ihm grob fahrlässig verschuldeten vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis in aller Regel für das gesamte Verfahren zu tragen hat und die Entschädigungspflicht somit erst wieder einsetzt, wenn im Ermittlungs- oder auch im Verfahren erster oder zweiter Instanz erhebliche Versäumnisse in der Beweisermittlung, grobe Fehler in der Beweiswürdigung oder gravierende Fehlleistungen in der rechtlichen Beurteilung des Geschehens vorgekommen sind und bei rechtlich zutreffender Behandlung der Sache schon deutlich früher zutage getreten wäre, daß die Fortdauer der vorläufigen Führerscheinmaßnahme nicht rechtens war 7 5 1 . 198
cc) Kasuistik. Der Ausschluß der Entschädigung infolge mindestens grob fahrlässiger Selbstverursachung (§ 5 Abs. 2 StrEG) kommt in der Praxis hauptsächlich bei Alkoholdelikten im Straßenverkehr in Betracht 7 5 2 . Maßgebliches Abgrenzungskriterium für grobe Fahrlässigkeit ist dabei der Grad der Alkoholisierung und die objektiv festgestellte Auffälligkeit des Verhaltens 7 5 3 ; lagen „dringende Gründe" für eine Maßnahme nach § 111 a StPO vor (Rdn. 126 ff), wird man im allgemeinen davon ausgehen können, daß eine Entschädigung ausgeschlossen ist 7 5 4 . Gleiches gilt für den Ausschluß der Entschädigung nach dem Genuß von Rauschmitteln: Wer in so engem zeitlichem Zusammenhang etwa mit dem Genuß von Cannabisprodukten (Haschisch) im Verkehr ein Fahrzeug führt, daß in einer ihm entnommenen Blutprobe Tetrahydrocannabinol (THC) nachgewiesen werden kann, hat eine allein darauf gestützte vorläufige Führerscheinmaßnahme „grob fahrlässig" verursacht; daß der Beschuldigte (derzeit) mangels wissenschaftlich begründbaren absoluten Grenzwertes oder mangels nicht nachweisba-
749
750
KG VRS 44 (1973) 124, OLG Hamm MDR 1975 167 und MDR 1984 253, OLG Karlsruhe Justiz 1976 376 und OLG Stuttgart NJW 1977 641; vgl. auch Schätzler 38, D.Meyer 56 und Kleinknecht/ Meyer-Goßner 1 — je zu § 5 StrEG — sowie Kurz BA 1976 253. So vor allem OLG Celle VRS 45 (1973) 371 = NdsRpfl 1973 266: weil die erstinstanzliche Hauptverhandlung der Zeitpunkt sei, in welchem die Voraussetzungen für eine Entziehung der Fahrerlaubnis erstmals umfassend geprüft werden könnten. Zustimmend Sieg MDR 1975 515 und wohl auch Hentschel in Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 387 und VM 1976 Nr. 98; zweifelnd Händel VOR 1973 245.
" 1 OLG Hamm VRS 49 (1975) 56 und BA 1976 290, OLG Karlsruhe Justiz 1976 367 und OLG Koblenz VRS 50 (1976) 303; ebenso Kurz BA 1976 250 ff sowie D.Meyer 73 und Kleinknecht/Meyer-Goßner 1 0 - j e zu § 5 StrEG. 752
Näher dazu D.Meyer DAR 1992 235, BA 1980 276 und DAR 1976 67 (zusammenfassend derselbe 56 ff zu § 5 StrEG), Schätzler 46 ff zu § 5 StrEG, Grohmann BA 1985 233, Händel BA 1975 246 und BA 1972 285 sowie Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 377 ff; s. auch die Rechtsprechungs-Übersicht in DAR 1989 312. 753 Schätzler 46 zu § 5 StrEG und Janiszewski 768. 7 5" D.Meyer BA 1980 281 und Janiszewski 768.
Stand: 31. 5. 1996
(110)
Entziehung der Fahrerlaubnis
§69
rer rauschbedingter Ausfallerscheinungen später nicht verurteilt werden kann, steht dem nicht entgegen 755 . Nicht selten fällt die später festgestellte Blutalkoholkonzentration (BÄK) geringer aus 199 als auf Grund entsprechender Vortests („Alcotests" u. ä.) zunächst vermutet 756 . Diesbezüglich ist zu unterscheiden: (1) Wird nach zunächst positivem Alkoholtest später eine BÄK über dem Grenzwert absoluter Fahruntüchtigkeit (derzeit 1,1 Promille) festgestellt, hat der Beschuldigte den vorläufigen Fahrerlaubnisentzug selbst dann „grob fahrlässig" verursacht, wenn er später aus subjektiven Gründen freigesprochen wird 757 oder nur eine Verurteilung wegen Volltrunkenheit (§ 323 a) erfolgen kann (erste Fallgruppe) 758 . (2) „Grob fahrlässige" Selbstverursachung der vorläufigen Führerscheinmaßnahme liegt aber auch dann vor, wenn die Auswertung der Blutprobe eine BÄK unter dem Grenzwert absoluter Fahruntüchtigkeit ergibt, der Beschuldigte jedoch durch sein Fahr- oder sonstiges Verhalten begründeten Anlaß zur Annahme alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit gegeben hat (zweite Fallgruppe) 759 . An die Gewichtigkeit solcher Indizien für die Annahme relativer Fahruntüchtigkeit sind dabei desto geringere Anforderungen zu stellen, je näher der tatsächliche BAK-Wert dem absoluten Grenzwert kommt 760 . (3) Umstritten ist die entschädigungsrechtliche Behandlung der dritten Fallgruppe, 200 daß nämlich ein positiver Alkoholtest zunächst zwar hinreichenden Anlaß für eine vorläufige Führerscheinmaßnahme gibt, die Auswertung der Blutprobe dann aber eine BÄK unter dem Gefahrengrenzwert des § 24 a StVG ausweist und Indizien für ein alkoholbedingtes Fehlverhalten (relative Fahrunsicherheit i. S. der §§ 315 c und 316) nicht feststellbar sind 761 . Nach Ansicht verschiedener Instanz- und auch einiger Obergerichte ist eine grob fahrlässige Selbstverursachung in dieser Konstellation selbst dann zu verneinen, wenn die später festgestellte BÄK nur geringfügig unter dem bußgeldrelevanten Gefahrengrenzwert liegt: da es von Gesetzes wegen nicht verboten sei, mit einer BÄK unterhalb von (derzeit) 0,8 Promille im öffentlichen Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug zu führen, dürfe ein Beschuldigter, der diese Grenze einhält und mangels zusätzlicher Beweisanzeichen für eine alkoholbedingte („relative") Fahrunsicherheit noch als fahrtüchtig anzusehen ist, nicht auf Grund ungenauer Alcotestverfahren Nachteile erleiden; in solchen Fällen könne das Verhalten des Beschuldigten, sich nach Alkoholgenuß an das Steuer eines Kraftfahrzeuges gesetzt zu haben, im Hinblick auf die dadurch verursachten vorläufigen Führerscheinmaßnahmen allenfalls als (leicht) „fahrlässig" angesehen werden, was ausweislich des Gesetzes für einen generellen Ausschluß der Entschädigung
BayObLG NJW 1994 2427 = NZV 1994 285 = DAR 1994 330 = VRS 87 (1994) 342 sowie OLG Düsseldorf NZV 1994 490 (zustimmend Janiszewski NStZ 1994 574) = VRS 88 (1995) 139. 756 Zu den Gründen hierfür und entsprechendem Zahlenmaterial s. Grohmann BA 1985 233. 757 OLG Hamburg MDR 1972 443; zustimmend D.Meyer 57 zu § 5 StrEG. " 8 OLG Oldenburg MDR 1972 349 und OLG Hamburg MDR 1972 443; zustimmend D.Mever 57 zu § 5 StrEG. 759 Ebenfalls im wesentlichen unbestritten: Für die Rechtsprechung vgl. OLG Celle NJW 1971 2322 = NdsRpfl 1971 286 sowie VRS 45 (1973) 375, OLG Hamm NJW 1972 1477 (4. Strafsenat), DAR 1972 165 (3. Strafsenat) und MDR 1975 167 (2. Strafsenat), OLG Stuttgart MDR 1972 539, KG (HD
760
761
VRS 44 (1973) 122, BayObLG NJW 1973 1938 = VRS 45 (1973) 195, bei Rüth DAR 1973 212 und NZV 1990 37 = JR 199« 436 (mit Anm. Loos aaO S. 438), OLG Koblenz DAR 1973 305 und OLG Düsseldorf MDR 1977 866 = DAR 1977 246. Für das Schrifttum s. D.Meyer 58 zu § 5 StrEG und BA 1980 278, Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 378 f, Kleinknechl/Meyer-Goßner 12 zu § 5 StrEG, Janiszewwsski 768, Händel BA 1975 247 und Grohmann NJW 1977 1114 und BA 1985 236. D.Meyer 58 zu § 5 StrEG: hier auch mit einer ausführlichen Übersicht über einschlagige Rechtsprechung. Zu dieser Fallgruppe vor allem D.Meyer 59 ff zu § 5 StrEG und BA 1980 278 sowie Grohmann BA 1985 236.
Klaus Geppert
§ 69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
jedoch gerade nicht ausreiche 762 . Dieser Ansicht ist aber zu widersprechen: Sie verkennt, daß es für die Beurteilung der „groben Fahrlässigkeit" entschädigungsrechtlich auf die Tatsachenlage ankommt, wie sie sich im Zeitpunkt der Anordnung/des Vollzugs der Maßnahme darstellt. Heutzutage weiß aber jeder gewissenhafte Kraftfahrer oder muß es wissen, bei „positivem" Alkoholtest auch ohne zusätzliche Anzeichen alkoholbedingter Fahrunsicherheit jedenfalls bis zur sicheren Aufklärung des dringenden Verdachts strafbarer Trunkenheit mit Sicherstellung/Beschlagnahme des Führerscheins rechnen zu müssen; folglich hat er in grob schuldhafter Weise auch ohne weitere Feststellungen alkoholbedingten Fehlverhaltens eine gegen ihn sprechende Verdachtslage geschaffen, wenn er mit immerhin so viel Alkohol im Blut oder im Körper am Straßenverkehr teilnimmt, daß ein Alcotest „positiv" ausfällt. Bei solcher Sachlage verdient ein Betroffener nach den Grundsätzen mitwirkenden Verschuldens keine Entschädigung für ein ihm im Interesse der allgemeinen Verkehrssicherheit zugemutetes (angebliches) Sonderopfer 763 . 201
(4) Ebenfalls „grob fahrlässig" selbstverursacht ist die vorläufige Führerscheinmaßnahme demzufolge, wenn die Auswertung der Blutprobe eine BÄK (nicht nur geringfügig unter, sondern) zwischen 0,8 Promille und dem Grenzwert absoluter Fahruntüchtigkeit ergibt, konkrete Anzeichen für eine alkoholbedingte Fahrunsicherheit aber wiederum nicht feststellbar sind (4. Fallgruppe) 764 . Ausweislich der Einschränkung „soweit" in § 5 Abs. 2 StrEG ist eine Entschädigung in den beiden zuletzt genannten Fällen jedoch nur solange ausgeschlossen, wie die vom Beschuldigten schuldhaft gesetzte Ursache in ihm zurechenbarer Weise fortwirkt. Sobald feststeht, daß die BÄK unter dem absoluten Gefahrengrenzwert liegt (andererseits aber auch weiterhin keine Anzeichen für eine alkoholbedingte Fahrunsicherheit feststellbar sind) und demzufolge mit einer Verurteilung und einer endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis nicht mehr zu rechnen ist, ist die Maßnahme von Amts wegen aufzuheben. Geschieht dies nicht unverzüglich, ist die Fortdauer der vorläufigen Führerscheinmaßnahme nicht mehr dem Beschuldigten zuzurechnen und somit ab diesem Zeitpunkt entschädigungspflichtig. Ist eine solche Klärung aber erst in der Hauptverhandlung möglich, bleibt es beim generellen Ausschluß der Entschädigung auch dann, wenn im Ergebnis nur eine Verurteilung nach § 24 a StVG herauskommt 765 .
202
Grob fahrlässig ist eine vorläufige Führerscheinmaßnahme schließlich verursacht, wenn der Beschuldigte sich durch Nachtrunk in einen alkoholisierten Zustand verFür die Rechtsprechung s. insofern vor allem OLG Hamm NJW 1975 790 (ablehnend D.Meyer NJW 1975 1791) = BA 1975 270, OLG Schleswig bei Ernesti/Jurgensen SchlHA 1975 168 und SchlHA 1986 121, OLG Köln DAR 1976 81, OLG Dusseldorf MDR 1977 866 = DAR 1977 246, OLG Zweibrücken (1. Strafsenat) VRS 53 (1977) 284 = BA 1978 138, LG Frankfurt DAR 1975 306,LG Memmingen NJW 1977 1114 (ablehnend Grohmann aaO), LG Aachen DAR 1977 219, LG Düsseldorf VRS 55 (1978) 51 = DAR 1978 166, LG Passau JurBüro 1987 559 und AG Osnabrück DAR 1984 94; auf dieser Linie im Schrifttum Schmidt NJW 1973 1662, Sieg NJW 1976 1163 sowie Schätzler 50 und Kleinknecht/Meyer 12 — je zu § 5 StrEG. Für die Rechtsprechung s. insofern vor allem LG Berlin VRS 42 (1972) 220, LG Nürnberg-Fürth NJW 1973 1661 (ablehnend Schmidt aaO S. 1662, zustimmend jedoch Bode aaO S.2039 und D.Meyer S. 2040), LG Münster NJW 1974 1008, LG Essen NJW 1975 2257 (ablehnend Sieg NJW 1976 1163), LG Krefeld DAR 1975 25 und DAR 1979 337, LG
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Mainz MDR 1975 601, LG Göttingen DAR 1976 166, LG Flensburg MDR 1976 954 (zustimmend DMeyer aaO), LG Osnabrück DAR 1985 94, LG Düsseldorf DAR 1991 272, AG Alzenau BA 1978 380 und AG Flensburg DAR 1980 281; auf dieser Linie im Schrifttum D.Meyer 62 bis 65 zu § 5 StrEG (s. denselben auch in DAR 1992 235, JurBüro 1987 1607, BA 1980 279, MDR 1976 954 und DAR 1976 67), Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 377 bis 377b, Grohmann BA 1985 236 und Händel BA 1972 294. Daß im Ergebnis hier nur eine Verurteilung wegen einer Ordnungswidrigkeit (§ 24 a StVG) möglich ist (was eine endgültige und damit zwangsläufig auch eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und die zu ihrer Sicherung vollzogene Beschlagnahme/Sicherstellung des Führerscheins ausschließt), steht dem nicht entgegen: OLG Zweibrücken VRS 55 (1978) 200. OLG Zweibrücken VRS 55 (1978) 200 = BA 1979 143; ebenso D.Meyer 66 zu § 5 StrEG und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 384; je mit weiteren Nachweisen.
Stand: 31. 5. 1996
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Entziehung der Fahrerlaubnis
§69
setzt 766 : jedenfalls, wenn und soweit er zum Zeitpunkt des Nachtrunks mit polizeilichen Ermittlungen rechnen mußte 767 ; dies wird insbesondere nach Beteiligung an einem nicht ganz unbedeutenden Unfall 768 , nach auffälligem Fehlverhalten im Straßenverkehr oder verkehrsbezogenen Auseinandersetzungen mit anderen Verkehrsteilnehmern 769 und nicht zuletzt nach einer Verfolgungsjagd durch Polizei oder andere Verkehrsteilnehmer anzunehmen sein 770 . In solchen Fällen mußte der Beschuldigte erkennen, daß sein Verhalten in hohem Maße geeignet war, ihn dem Verdacht strafbarer Trunkenheit im Verkehr auszusetzen und damit auch strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen, besonders vorläufige Führerscheinmaßnahmen, geradezu heraufzubeschwören. Umgekehrt stellt ein Nachtrunk (ausnahmsweise) keine grob fahrlässige Verursachung einer vorläufigen Führerscheinmaßnahme dar, soweit das Verhalten des Beschuldigten allenfalls als (leicht) fahrlässig zu bewerten ist: etwa wenn der Beschuldigte mangels ärztlicher Hilfe zur Schmerzbetäubung mehrere Schnäpse zu sich nimmt 771 oder nach Lage des Falles (ζ. B. unbedeutender Unfall oder eher harmlose verkehrsbezogene Auseinandersetzung) nicht (mehr) mit polizeilichen Ermittlungen rechnen mußte 772 . Grob fahrlässig ist die vorläufige Führerscheinmaßnahme bei Nachtrunk schließlich auch dann nicht verursacht, wenn der Beschuldigte bei Erscheinen der Polizei sofort Art und Menge des Alkoholkonsums vor und nach dem ihm als Straftat vorgehaltenen Ereignis mitteilt; hier ist den Ermittlungsbehörden ohne weiteres möglich, die für eine Entscheidung nach §§ 111 a und 94 StPO erhebliche BÄK zu errechnen 773 . Das Verschweigen eines Nachtrunkes ist entschädigungsrechtlich unschädlich, wenn der Beschuldigte sich überhaupt nicht zur Sache äußert (Umkehrschluß aus Satz 2 von § 5 Abs. 2 StrEG). Zum Verschweigen eines Nachtrunkes, wenn sich der Beschuldigte jedenfalls teilweise zur Sache einläßt, s. nachfolgend Rdn. 208; zur Frage, ob die Entschädigung in diesem Fall nach § 5 Abs. 2 StrEG kraft Gesetzes zwingend völlig ausgeschlossen ist oder unter den Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 1 StrEG nur eine fakultative (ggf. teilweise) Versagung in Betracht kommt, s. nachfolgend Rdn. 204 ff. Weitere Einzelfälle. Grob fahrlässig handelt ein unter dem Verdacht eines Trunken- 203 heitsdelikts (§§ 315 c Abs. 1 Nr. 1 a, 316) stehender Kraftfahrer, wenn er diesen Verdacht durch unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142) verstärkt774. Gleiches gilt für einen Kraftfahrer, der sich in übermüdetem Zustand an das Steuer seines Fahrzeuges setzt, sein Radio übermäßig laut einstellt und infolge dieser Umstände nicht nur schuldhaft einen Verkehrsunfall verursacht, sondern sich dadurch außerstande setzt, die Unfallgeräusche aufzunehmen und zuverlässig einzuordnen775. Grob fahrlässig verursacht ist die Sicherstellung 766
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Dies nicht nur, soweit der Nachtrunk zu einer BÄK in der Nähe des absoluten Gefahrengrenzwertes (so offenbar OLG Stuttgart MDR 1972 539; zustimmend Händel BA 1975 244) oder gar zu einem „hochgradig alkoholisierten Zustand" führt (OLG Braunschweig NdsRpfl 1971 285), sondern vor dem Hintergrund des soeben Ausgeführten (Rdn. 199 ff) schon dann, wenn der Nachtrunk so erheblich ist, daß er zu einem „positiven" Alkoholtest führt (ebenso Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 380). D.Meyer 67 zu § 5 StrEG, Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 380, Grohmann BA 1985 237 und Handel BA 1975 244: je mit weiteren Nachweisen. OLG Stuttgart MDR 1972 539 und KG VRS 44 (1973) 122. OLG Braunschweig VRS 42 (1972) 50 = NdsRpfl 1971 285 und LG Flensburg BA 1984 89.
(113)
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OLG Karlsruhe Justiz 1978 373 und OLG Hamm VRS 58(1980) 69. 77 1 OLG Stuttgart Justiz 1973 182. 772 OLG Schleswig bei Emesti/Jürgensen SchIHA 1986 221; zustimmend D.Meyer 67 a zu § 5 StrEG. 771 LG Flensburg BA 1984 90; ebenso Grohmann BA 1985 237. 774 KG VRS 64 (1983) 373; ebenso Händel BA 1975 244 und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 380a. 77 5 OLG Düsseldorf NZV 1989 364 = DAR 1989 312; ebenso Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 380a. S. auch die redaktionelle Übersicht mit zahlreichen Rechtsprechungsbelegen zum Ausschluß der Entschädigung nach § 5 Abs. 2 StrEG in DAR 1989 312.
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
eines Führerscheins/vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis schließlich, wenn der Kraftfahrer durch besonders schwere Verletzung der im Straßenverkehr üblichen Sorgfalt den Verdacht auf sich lenkt, den Straßenverkehr durch grob verkehrswidriges und rücksichtsloses Verhalten nach § 315 c Abs. 1 Nr. 2 gefährdet zu haben 776 . Bei Volltrunkenheit (§ 323 a) genügt für den Ausschluß der Entschädigung, daß sich der Beschuldigte grob fahrlässig in den Zustand der Zurechnungsunfähigkeit versetzt hat; hinsichtlich des Verdachts, in diesem Zustand eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen zu haben, genügen Handlungen des Volltrunkenen, die diesen Verdacht zu bestärken objektiv geeignet sind 777 . 204
3. Fakultative Versagung der Entschädigung. Unter den Voraussetzungen des § 6 StrEG kann das Gericht eine Entschädigung aus Billigkeitsgründen (ganz oder teilweise 778 ) versagen; ob dies in Betracht kommt, entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen. Auch die Versagungstatbestände des § 6 StrEG beruhen auf dem Gedanken mitwirkenden Verschuldens 779 ; somit kommt es auch hier maßgeblich darauf an, ob und inwieweit die Anordnung/Fortdauer der Führerscheinmaßnahme durch den Beschuldigten selbst verschuldet wurde oder der jeweils zuständigen Strafverfolgungsbehörde zuzurechnen ist. Die Ausführungen zu Rdn. 196 ff (nachträgliches Entfallen des Zurechnungszusammenhangs) gelten entsprechend.
205
a) Sind die Voraussetzungen des § 5 StrEG (und vor allem dessen Absatz 2) erfüllt, ist für eine Versagung der Entschädigung nach § 6 StrEG kein Raum (Vorrang des § 5 vor § 6 StrEG) 780 . Wie durch die Entstehungsgeschichte des Gesetzes belegt 781 , besteht der Unterschied zwischen beiden Möglichkeiten ausschließlich im Grad des Verschuldens 782 . Während „grobe Fahrlässigkeit" nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip des § 5 eine Entschädigung kraft Gesetzes schlechthin ausschließt, kann mitwirkendes Verschulden des Beschuldigten unterhalb der Haftungsschwelle grober Fahrlässigkeit nach den Vorstellungen des Gesetzgebers immerhin zu einer Versagung nach Ermessen des Gerichts führen; nach Lage des Einzelfalles kann dies jedoch ebenfalls zu einem völligen Ausschluß der Entschädigung oder immerhin zu einer Quotelung führen. Gegenüber den Versagungstatbeständen der §§ 3 und 4 StrEG 783 ist § 6 die speziellere Vorschrift 784 .
206
b) Selbstbelastendes Aussageverhalten 785 . Die Entschädigung kann insbesondere dann (ganz oder teilweise) versagt werden, wenn der Beschuldigte die gegen ihn gerich776 777
778
779 780
OLG Stuttgart VRS 50 (1976) 376. OLG Oldenburg MDR 1972 349 und LG Verden MDR 1974 512; ebenso Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 382. Die Teilversagung kann sich auf einzelne Maßnahmen oder Teile von ihnen, auf bestimmte Zeitabschnitte oder auf Bruchteile des Schadens beziehen: vgl. D. Meyer 5, Schälzier 3 und Kleinknecht/ Meyer-Goßner 1 — je zu § 6 StrEG. Vgl. D.Meyer 2 zu § 6 StrEG. So jedenfalls für das Verhältnis von § 5 Abs. 2 zu § 6 Abs. 1 Nr. 2 (und demgemäß wohl auch für Nr. 1) BGHSt. 29 168 = JZ 1980 241 = MDR 1980 417. Auf dieser Linie auch OLG Düsseldorf MDR 1988 887 (zu § 6 Abs. 1 Nr. 2) sowie - je zum Verhältnis von § 5 Abs. 2 zu § 6 Abs. 1 Nr. 1 - KG GA 1987 405, OLG Karlsruhe MDR 1977 1041 und LG Flensburg VRS 68 (1985) 46. Zustimmung bei D.Meyer 2 und 19 vor § 5 sowie MDR 1978 368, Schätzler 54 zu § 5 und 4 zu § 6, Kleinknecht/ Meyer-Goßner 1 zu § 6 StrEG sowie Himmelreich/
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783
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785
Hentschel Bd. 1 Rdn. 388. Zur Gegenposition, die den § 6 als abschließende Sonderregelung (mit Vorrang vor § 5 Abs. 2 StrEG) versteht, s. (je zu § 6 Abs. 1 Nr. 1) OLG Schleswig NJW 1976 1467 und KG GA 1975 177 (wohl Uberholt durch KG GA 1987 405). Nachweise bei D.Meyer 2 zu § 6. Ausführlich D.Meyer 17 ff vor § 5 und 6, 68 zu § 5 sowie 8 zu § 6 StrEG. OLG Frankfurt DAR 1973 161 (keine Entschädigung nach § 4 StrEG bei nur geringfügig verspäteter Rückgabe des Führerscheins) sowie LG Flensburg MDR 1979 76 mit Anm. D.Meyer (bei Einstellung nach § 153 StPO). LG Flensburg JurBüro 1976 1407; ebenso D.Meyer 11 zu § 4 und Kleinknecht/Meyer-Goßner 1 zu § 6 StrEG. Weiterführend vor allem D.Meyer DAR 1978 238 und MDR 1981 109 sowie Sieg MDR 1980 907; zusammenfassend D.Meyer 10 ff zu § 6 und Schätzler 54 zu § 5 und 5 ff zu § 6 StrEG.
Stand: 31. 5. 1996
(114)
Entziehung der Fahrerlaubnis
§ 6 9
tete Führerscheinmaßnahme „dadurch veranlaßt hat, daß er sich selbst in wesentlichen Punkten wahrheitswidrig oder im Widerspruch zu seinen späteren Erklärungen belastet oder wesentliche entlastende Umstände verschwiegen hat" (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 StrEG). Die der Kostenvorschrift des § 467 Abs. 3 StPO nachgebildete Bestimmung erfaßt wahrheitswidrige Selbstbelastungen (nachfolgend Rdn. 207) und das Verschweigen wesentlicher entlastender Umstände (nachfolgend Rdn. 208) ebenso wie widersprüchliche, lückenhafte oder mehrfach wechselnde Einlassungen (nachfolgend Rdn. 210). Die Vorschrift gilt für das gesamte Verfahren 786 , doch nur, wenn sich der Beschuldigte (mindestens teilweise) zur Sache eingelassen hat; sein gänzliches Schweigen darf ihm (auch) entschädigungsrechtlich nicht zum Nachteil gereichen (Umkehrschluß aus § 5 Abs. 2 S. 2 StrEG) 787 . Die Selbstbelastung muß aber einen „wesentlichen", d. h. für die Anordnung der Führerscheinmaßnahme entscheidungserheblichen Punkt betreffen und muß für die Strafverfolgungsmaßnahme (jedenfalls: mit-)ursächlich geworden sein; dabei genügt es, wenn die Anordnung/Fortdauer der Maßnahme auf der wahrheitswidrigen Einlassung bzw. dem Verschweigen des entlastenden Umstandes „beruht" (Anforderungen wie bei § 337 StPO) 788 . Auch hier kann der Zurechnungszusammenhang nachträglich entfallen, soweit das jeweils zuständige Strafverfolgungsorgan die Maßnahme bei rechtsfehlerfreiem Vorgehen hätte aufheben müssen; auf Rdn. 196 ff wird verwiesen. aa) Wahrheitswidrige Selbstbelastungen führen (meist) bereits nach § 5 Abs. 2 207 StrEG zum obligatorischen Ausschluß der Entschädigung; denn insoweit ist die Führerscheinmaßnahme vom Beschuldigten (jedenfalls) grob fahrlässig meist selbst verursacht worden 789 . Dies ist auch dann der Fall, wenn die Selbstbelastung auf (verschuldete) alkoholbedingte Beeinträchtigung der Urteilsfähigkeit zurückzuführen ist 790 . bb) Das Verschweigen wesentlicher entlastender Umstände (durch den jedenfalls 208 teilweise aussagebereiten Beschuldigten) kann nur zur Versagung einer Entschädigung führen, wenn der Umstand dem Beschuldigten bekannt war und es sich um einen für seine Verteidigung wesentlichen Punkt handelt 791 . Dies wird beim Verschweigen eines Nachtrunkes in aller Regel zu bejahen sein. Hat sich ein der Trunkenheit am Steuer verdächtiger Beschuldigter also teilweise zur Sache eingelassen (zum Verschweigen eines Nachtrunkes bei völligem Schweigen des Beschuldigten s. bereits Rdn. 202), dabei aber einen ihn entlastenden Nachtrunk verschwiegen, hat er die daraufhin gegen ihn angeordnete Führerscheinmaßnahme in grob fahrlässiger Weise selbst verursacht; nach hier vertretener Ansicht ist er demzufolge bereits nach § 5 Abs. 2 S. 1 StrEG kraft Gesetzes von einer Entschädigung ausgeschlossen 792 . Bei Verkehrs- und hier besonders bei Trunkenheitsdelikten behaupten verdächtige 209 Kraftfahrer häufig, eine andere Person habe das Fahrzeug gefahren, ohne dabei jedoch den Namen des angeblichen Fahrers zu nennen. Ganz abgesehen von der rechtstheore786
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Also bereits ab Aufkommen des ersten Verdachts, der zur Begründung der „Beschuldigten '-Eigenschaft führt: ebenso Schälzier 55 und D.Meyer 1 je zu § 6 StrEG. Insoweit wohl unbestritten: OLG Hamm MDR 1977 1042 und OLG Bremen (nach Janiszewski NStZ 1989 259). Dazu D.Meyer 12 und Schätzler 8 - je zu § 6 StrEG. OLG Karlsruhe MDR 1977 1041 (zum wahrheitswidrigen Geständnis einer Brandstiftung). OLG Zweibrücken VRS 69 (1985) 287 (ausgenommen sonstige krankhafte Beeinträchtigungen der Geistestätigkeit) sowie LG Flensburg MDR 1986
CIS)
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689; zustimmend Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 381. Vgl. auch OLG Karlsruhe Justiz 1977 438 und OLG Hamburg NStZ 1983 30. OLG Stuttgart MDR 1984 427 und OLG Hamm StV 1984 472; ebenso Kleinknechl/Meyer-Goßner 4 und D.Meyer 20 — je zu § 6 StrEG. OLG Frankfurt NJW 1978 1017 und KG VRS 44 (1973) 122 (jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Nachtrunkzeugen erstmals hätten vernommen werden können); ebenso D.Meyer 68 und Schätzler 53 — je zu § 5 StrEG — sowie Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 381. Vgl. auch KG VRS 72 (1987) 382 (Versagung der Entschädigung jedoch Uber § 6 Abs. I Nr. 1 StrEG).
Klaus Geppert
§69
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
tisch umstrittenen Frage, ob die entschädigungsrechtliche Lösung in Fällen dieser Art vorrangig über § 5 Abs. 2 S. 1 und nur subsidiär über § 6 Abs. 1 Nr. 1 StrEG zu suchen ist (so die hier vertretene Ansicht: s. bereits Rdn. 205) oder ausschließlich in § 6 StrEG, hat die Rechtsprechung diesbezüglich auch im Ergebnis noch zu keiner einheitlichen Linie gefunden. Einzelne Oberlandesgerichte (Minderposition) wollen eine Entschädigung des Beschuldigten bei späterem Freispruch nur dann ausschließen, wenn es dem Betroffenen zuzumuten gewesen wäre, den Namen des angeblichen Fahrers zu nennen: dies sei aber nur der Fall, wenn der Betroffene mißbräuchlich oder sonst in unlauterer Weise (gegen diese Kriterien bereits Rdn. 194), auf jeden Fall aber ohne verständlichen oder gar billigenswerten Grund gehandelt habe; letzteres sei allenfalls bei einer Berufung auf den „großen Unbekannten" zu bejahen, jedoch zu verneinen, wenn der Verdächtige den Namen ζ. B. eines langjährigen Freundes oder einer guten Freundin (möglicherweise sogar aus persönlicher Rücksichtnahme auf deren Ehe) oder gar eines Angehörigen verschweige 793 . Demgegenüber gewährt die in Rechtsprechung und Schrifttum wohl herrschende Ansicht bei dieser Sachlage in aller Regel keine Entschädigung 794 ; zu Recht: Sofern menschlich einleuchtende Gründe wie persönliche Rücksichtnahme auf Angehörige oder gute langjährige Freunde/Freundinnen fehlen, wird die Entschädigung schon nach § 5 Abs. 2 S. 1 StrEG ausgeschlossen sein (grobe Fahrlässigkeit). Unterhalb dieser Haftungsschwelle hat das Gericht über Ob und Umfang einer Entschädigung ausweislich von § 6 Abs. 1 Nr. 1 StrEG nach pflichtgemäßen Ermessen zu befinden, wobei strenge Anforderungen angebracht sind; die Bewilligung einer Entschädigung wird in aller Regel die Ausnahme sein 795 . Im übrigen geht es bei dieser Ermessensentscheidung weniger um Billigkeits- und „Zumutbarkeits"-Erwägungen als um die Berücksichtigung mitwirkenden Verschuldens und um „Zurechenbarkeits"-Aspekte. Insoweit mag es menschlich verständlich sein, einen guten Freund strafrechtlich nicht belasten zu wollen, und sogar ausdrückliches strafprozessuales Recht einer Aussageperson, gegen Angehörige nicht aussagen zu müssen. Dies alles kann jedoch (entschädigungsrechtlich) nicht dazu führen, daß der Beschuldigte seine menschlich durchaus verständliche (wenngleich nicht unbedingt „billigenswerte") Konfliktentscheidung auf Kosten der Staatskasse und damit des Steuerzahlers trifft; dieses sein Verhalten ist ausschließlich ihm allein und keinesfalls dem strafverfolgenden Staat zuzurechnen. 210
cc) Die gleichen Überlegungen gelten für den Fall, daß der Beschuldigte während des Verfahrens (ζ. B. über Art, Menge und Zeitpunkt von Alkohol-, Drogen- oder Medikamentengenuß) widersprüchliche, lückenhafte oder mehrfach wechselnde Angaben macht. Geschieht dies ausschließlich zur Selbstentlastung, wird die Anordnung bzw. Fortdauer der Führerscheinmaßnahme in aller Regel „grob fahrlässig" von ihm selbst verur™ OLG Hamm MDR 1977 1042 = GA 1977 372 (Lösung über § 6 Abs. 1 Nr. 1 StrEG); zustimmend Götz MDR 1977 1042, ablehnend D.Meyer DAR 1978 238. Auf dieser Linie offenbar auch OLG Schleswig ( 4 . 2 . 8 1 - 1 Ws 423/80), nach Emesti/ JUrgensen SchlHA 1982 105, OLG Düsseldorf JurBüro 1983 1849 und OLG Stuttgart Justiz 1987 116. 794 OLG Karlsruhe (24.4.73 - 2 Ws 62/73), nach Händel BA 1975 245 (Beschuldigter verschweigt den Namen seiner anderweitig verheirateten Freundin), OLG Hamm (8.6.79 - 1 Ws 146/79), nach Schätzler 10 zu § 6 (Berufung auf den „großen Unbekannten") und OLG Bremen (5.10.88 - Ws 138/ 88), nach Janiszewski NStZ 1989 259 (persönliche Rücksichtnahme auf die Ehe der angeblichen Fah-
795
rerin) sowie LG Frankenthal MDR 1979 165 (analoge Anwendung von § 6 Abs. 1 Nr. 1 in einem OWi-Fall), LG Flensburg VRS 68 (1985) 46 = VM 1985 39 (Lösung über § 5 Abs. 2 StrEG im Fall eines langjährigen guten Freundes) und LG Aachen MDR 1992 288 (Lösung über § 6 Abs. 1 Nr. 1 StrEG im Fall eines „großen Unbekannten"). Auf dieser Linie auch die wohl h. M. im Schrifttum: s. Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 389, Janiszewski NStZ 1989 259 und D.Meyer DAR 1978 238, MDR 1981 109 und 23 zu § 6 StrEG. Für eine Ausnahme bei Rücksichtnahme auf nahe Angehörige spricht.sich Schätzler 10 zu § 6 StrEG aus. Weiterführend D.Meyer 21 zu § 6 StrEG: dort auch mit Hinweisen auf die einschlägigen Gesetzesmaterialien.
Stand: 3 1 . 5 . 1996
(116)
Entziehung der Fahrerlaubnis
§69
sacht und die Entschädigung somit bereits nach § 5 Abs. 2 S. 1 StrEG ausgeschlossen sein 796 ; andernfalls bleibt es bei einer Versagung der Entschädigung nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 StrEG 797 . Unter diesen Voraussetzungen kommt eine (nach Lage des Einzelfalles ggf. nur teilweise) Entschädigung somit in aller Regel nur in Betracht, wenn der Beschuldigte irrtümlich nicht erkennt, daß es sich bei dem verschwiegenen Umstand um einen für seine Entlastung „wesentlichen" Punkt gehandelt hat oder seine Aussage in einem für die Anordnung/Fortdauer der Führerscheinmaßnahme erheblichen Punkt unwahr, lückenhaft oder widersprüchlich war. Somit ist der Grad der Vorwerfbarkeit des Irrtums von entscheidender Bedeutung für die Ausübung des Ermessens, ob und in welchem Umfang eine Entschädigung zuzubilligen ist 798 . 4. Gegenstand der Entschädigung ist der durch die Strafverfolgungsmaßnahme ver- 211 ursachte Vermögensschaden (§ 7 Abs. 1 StrEG), sofern dieser den Betrag von 50 DM übersteigt (Abs. 2) 799 . Der Begriff des Vermögensschadens bestimmt sich nach bürgerlichem Recht (§§ 249 ff BGB); erfaßt ist somit jede durch eine Strafverfolgungsmaßnahme verursachte Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, soweit sie sich in Geld ausdrükken läßt 800 . Wäre der Schaden auch ohne die Strafverfolgungsmaßnahme eingetreten, wird keine Entschädigung geleistet 801 . Die Beweislast für Entstehung und Umfang des Schadens trägt der Antragsteller 802 . a) Erstattungsfähig ist bei (unberechtigten) vorläufigen Führerscheinmaßnahmen vor 212 allem der Verdienstausfall einschließlich aller damit zusammenhängender wirtschaftlicher Nachteile (ζ. B. entgangene Naturalbezüge, sozialversicherungsrechtliche Nachteile 803 , entgangenes Urlaubsgeld, Verdienstausfall für erhöhten Zeitbedarf durch Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder Mehrkosten für doppelte Haushaltsführung), sofern diese Nachteile ihren Grund nachweisbar im (vorübergehenden) Verlust der Fahrerlaubnis haben 804 . Der Verlust des Arbeitsplatzes gehört nur dann zu den entschädigungspflichtigen wirtschaftlichen Nachteilen, wenn die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für den Arbeitgeber gerade wegen der gegen den Arbeitnehmer gerichteten Führerscheinmaßnahme unzumutbar geworden ist 805 ; als ersatzfähiger Vermögensschaden kommt aber auch in diesem Fall nur der erlittene Verdienstausfall als solcher in Betracht 806 . An dem
796
So OLG Hamm BA 1974 130, OLG Karlsruhe Μ DR 1977 1041 und LG Flensburg BA 1984 90; vgl. auch LG Flensburg Μ DR 1979 76 (mit Anm. D.Meyer). Auf dieser Linie auch D.Meyer 68 zu § 5 StrEG und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 381. 797 OLG Schleswig NJW 1976 1467 und KG VRS 44 (1973) 122 (teilweise kritisch Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 390). 798 Vgl. Schätzler 12 zu § 6 StrEG. 799 S. diesbezüglich auch die Ausführungsvorschriften zum StrEG in Anlage C zu den RiBStV. 800 vgl. BTDrucks. VI/460, S. 8 sowie grundlegend BGHZ 63 203 = NJW 1975 347 und BGHZ 65 170 = NJW 1975 2341 = DAR 1975 79; vgl. auch LG Stuttgart NJW 1973 631. S. dazu auch D.Meyer 10 und Schätzler 8 - je zu § 7 StrEG. 801 Gemeint ist damit die „haftungsausfüllende" Kausalität; die „haftungsbegründende" Kausalität steht durch die rechtskräftige Grandentscheidung des Gerichts bereits fest: BGHZ 103 113 = NJW 1988 1041 = MDR 1988 385 = DAR 1988 135 = StV 1988 444; s. auch D.Meyer 11 zu § 7 StrEG. (Π7)
802
Insoweit unbestritten: vgl. D. Meyer Rdn. 26 f und Schätzler Rdn. 12 ff — j e zu § 7 StrEG. 803 Speziell dazu Teil I/B II Nr. 2 d der Anlage C zu RiStBV. 8 aber auch dann von Bedeutung, wenn ein Rechtsmittel oder der Einspruch gegen einen Strafbefehl zurückgenommen oder ein Rechtsmittel (Berufung oder Revi237 218 239 240
Vgl. Hentsche! DAR 1976 291. Hentschel DAR 1976 291. OLG Köln NJW 1967 361. Ebenso Cramer Rdn. 22 und Rdn. 12; so auch schon Ceppert Sperrfrist S. 64.
(183)
241
Zur amtlichen Verwahrung durch Sichersteltung oder Beschlagnahme des Führerscheins s. bereits Rdn. 159 ff zu § 69.
Dreher/Tröndle Bemessung der
Klaus Geppert
§69 a
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
sion) durch Beschluß als unzulässig verworfen wird (§§ 322 Abs. 1 S. 1 und 349 Abs. 1 StPO). Würde man die Sperrfrist auch in diesen Fällen erst ab Rechtskraft der abschließenden Entscheidung berechnen, könnte die bessernde Wirkung der seit der letzten Tatsacheninstanz verstrichenen vorläufigen Maßnahme nicht mehr berücksichtigt werden; denn während es dem Tatrichter möglich ist, nach Prüfung aller (rechtlichen und tatsächlichen) Voraussetzungen die Dauer der Sperre dem in der Hauptverhandlung hervorgetretenen Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit anzupassen, sind die tatsächlichen Voraussetzungen der Maßregel im Revisionsverfahren und bei zurückgenommenem oder als unzulässig verworfenem Rechtsmittel einer weiteren Nachprüfung entzogen. Zur ratio legis der „Einrechnungs"-Regelung s. bereits Rdn. 45 ff. 72
a) Anwendungsbereich und Voraussetzungen. Der Sache stellt sich die Einrechnungsregelung des Satzes 2 als Vollstreckungsvorschrift dar, die von der (für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis allein zuständigen) Verwaltungsbehörde zu beachten ist 242 ; denn selbst wenn die Entziehung der Fahrerlaubnis mit Rechtskraft der Entscheidung automatisch wirksam wird und die (isolierte) Sperrfrist zu ihrer Durchsetzung an sich keiner Vollstreckung bedarf (dazu bereits Rdn. 122 f zu § 69), bleibt es (zunächst) Sache der Vollstreckungsbehörde, die Berechnung der Sperre vorzunehmen 243 ; der Tatrichter hat allein Absatz 4 zu beachten 244 . Da sich (ebenso wie der Beginn der Sperrfrist) auch die Einrechnung unmittelbar aus dem Gesetz ergibt, bedarf sie im Urteilstenor keiner besonderen Erwähnung 245 . Bei Zweifeln über die Berechnung kommt (auf Antrag der Vollstreckungsbehörde) eine Anrufung des Gerichts nach § 458 StPO in Betracht 246 . Ausweislich des Gesetzeswortlauts („einrechnen", nicht: „anrechnen") sowie nach Sinn und Zweck der Vorschrift handelt es sich bei der „einzurechnenden" Dauer der vorläufigen Maßnahme im übrigen nicht um eine Frist (i. S. der §§ 42 ff StPO), sondern um eine besondere Berechnungsart, derzufolge der Beginn der Sperrfrist (entgegen Abs. 5 S. 1) auf den Tag der letzten tatrichterlichen Entscheidung vorzuverlegen und von der festgesetzten Sperrfrist die Zeit zwischen der letzten tatrichterlichen Entscheidung und ihrer Rechtskraft in vollem Umfang abzuziehen ist; der Tag der Verkündung des (letzten) tatrichterlichen Urteils wird dabei mitgezählt 247 . Das Einrechnungsgebot des Satzes 2 gilt auch, wenn der Angeklagte im Besitze zweier Führerscheine, also beispielsweise zusätzlich auch eines Sonderführerscheines nach § 14 StVZO (dazu bereits Rdn. 116 zu § 69) war und nur einer davon beschlagnahmt/sichergestellt wurde; denn schon die amtliche Verwahrung nur eines der beiden Dokumente hindert den Angeklagten an der weiteren legalen Teilnahme am Straßenverkehr mit führerscheinpflichtigen Kraftfahrzeugen (zu den strafrechtlichen Folgen einer Nichtbeachtung s. bereits Rdn. 184 f zu § 69) 248 . Folglich wird unter den Voraussetzungen des Satzes 2 auch die Zeit seit Beschlagnahme/ Sicherstellung eines von einer deutschen Behörde ausgestellten Internationalen Führerscheins in die Frist eingerechnet 249 . Gleiches gilt für den Fall, daß die Fahrerlaubnis zwar vorläufig entzogen wurde, der Führerschein jedoch nicht sichergestellt/beschlagnahmt war 250 . 242
So auch Schulz HK-StVR Rdn. 41 zu § 69 a und Mühl DAR 1965 46; s. dazu auch OLG Bremen VM 1965 57, OLG Düsseldorf JMB1 NW 1967 91 und OLG Stuttgart NJW 1967 2072. 243 LG Coburg DAR 1965 245; dem folgend Diether Rpfleger 1968 179 und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 137. 244 OLG Düsseldorf JMB1 NW 1967 91. 245 Ebenso Mühlhaus/Janiszewski Rdn. 8. 24 LG Coburg DAR 1965 245; dem folgend Himmel-
reich/Hentschel Bd. I Rdn. 137 und Mühlhaus/ Janiszewski Rdn. 8 zu § 69 a. 247 Ausführlich Diether Rpfleger 1968 180 f; dem folgend Dreher/Tröndle Rdn. 13. 248 Vgl. auch Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 134 mit Rdn. 105 a. 249 Ebenso Hentschel NZV 1992 501 (teilweise gegen AG Kassel NZV 1992 499). OLG Köln VRS 52 (1977) 271; zustimmend Dreher/Tröndle Rdn. 13.
Stand; 31. 5. 1996
(184)
Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis
§69 a
Letzte tatrichterliche Entscheidung im Sinn dieser Regelung ist das Urteil des Beru- 7 3 fungsgerichtes auch dann, wenn die Berufung auf das Strafmaß und die Entziehung der Fahrerlaubnis (einschließlich Sperrfrist) beschränkt war; denn auch wenn die tatsächlichen Feststellungen, aus denen sich die Ungeeignetheit des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen ergibt, auf Grund des beschränkten Rechtsmittels letztmals im erstinstanzlichen Urteil geprüft werden konnten, richtet sich die Dauer der Sperrfrist nach Umständen, die zu prüfen Aufgabe gerade des zweitinstanzlichen Tatrichters war 251 . Entsprechendes gilt, wenn der Führerschein des Angeklagten während der gesamten Verfahrensdauer amtlich verwahrt war und das Berufungsgericht es trotz unbeschränkten Rechtsmittels unterlassen hat, sich auch zur Frage der Fahrerlaubnisentziehung und ihrer Dauer zu äußern. Auch in diesem Fall ist für die Einrechnung nach Abs. 5 S. 2 das zweitinstanzliche Tatsachenurteil maßgeblich; denn die tatsächlichen Grundlagen der Maßregel konnten hier nicht nur geprüft werden, sondern hätten auch geprüft werden müssen252. b) Umstritten ist, ob Absatz 5 Satz 2 auch im Fall isolierter Sperrfristen Anwen- 74 dung findet, d. h. auch dann (jedenfalls analog) anwendbar ist, wenn gegen den Angeklagten mangels Vorhandenseins einer gültigen Fahrerlaubnis keine vorläufige Führerscheinmaßnahme angeordnet werden mußte. Dabei geht es um den gleichen Streit wie bei der Frage, ob die Regelung des Absatzes 4 auch im Fall isolierter Sperrfristen analog angewendet werden kann (dazu bereits Rdn. 37). Ebenso wie dort lehnt die in Literatur und Rechtsprechung herrschende Ansicht eine entsprechende Anwendung auf die Fälle isolierter Sperrfristen auch hier ab 253 : Es fehle bereits an einer planwidrigen Regelungslücke, bestehe doch kein Grund zur Annahme, daß der Gesetzgeber bei Einführung der maßgeblichen Einrechnungsvorschrift durch das 2. StraßenVSichG die Fälle der gleichzeitig eingeführten isolierten Sperre übersehen habe 254 . Zudem gehe es bei einer tatsächlich vollzogenen vorläufigen Führerscheinmaßnahme um die strafprozessuale Entziehung innegehabter Rechtspositionen, während es sich bei einer isolierten Sperre lediglich um den ohnehin bestehenden faktischen Ausschluß des Täters aus dem Straßenverkehr handele; beides sei nicht miteinander zu vergleichen. — Dem ist erneut zu widersprechen (s. dazu bereits Rdn. 37) 255 : Weil die Strafverfolgungsorgane der für die Erteilung der Fahrerlaubnis zuständigen Verwaltungsbehörde nach Nr. 46 Abs. 1 und 2 MiStra die Einleitung eines Verfahrens mitzuteilen haben, bei dem „die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB in Betracht kommt", hat ein Täter vor Abschluß des Strafverfahrens praktisch keine Möglichkeit, eine Fahrerlaubnis zu erlangen; demzufolge wirkt sich die „faktische" Sperre letztlich wie eine vorläufige Führerscheinmaßnahme aus und muß aus maßregelrechtlicher Sicht auch wie eine solche behandelt werden. Zwar ist zuzugeben, daß die pädagogische Wirkung einer rechtlichen Fahrerlaubnissperre für jemanden, der schon ein-
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LG Aachen DAR 1968 330; zustimmend Himmelreich/Henlschel Bd. I Rdn. 134 und Dreher/ Tröndle Rdn. 13. Bedenklich daher AG Osnabrück Rpfleger 1983 71 (zustimmend Dreher/Tröndle Rdn. 13); wie hier Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 134. Für die Rechtsprechung s. vor allem OLG Düsseldorf VRS 39 (1970) 259, OLG Hamburg MDR 1979 73, OLG München (Beschl. v. 6.3.1984 - 1 Ws 648/84), OLG Nürnberg DAR 1987 28 und LG Gießen bei Janiszewski NStZ 1985 112; auf dieser Linie im Schrifttum vor allem Hentsehel DAR 1988 336 (vgl. auch Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 142 und Jagusch/Hentschel Rdn. 10), Jani-
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szewski NStZ 1984 112 (vgl. auch Mühlhaus/Janiszewski Rdn. 8), Dreher/Tröndle Rdn. 13, Horn SK Rdn. 11, Lackner Rdn. 6 (immerhin „zweifelnd"), Sch./Schröder/Stree Rdn. 18 sowie Rüth (Vorauflage Rdn. 26). Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil der Gesetzgeber trotz zahlreicher späterer Novellen an der ursprünglichen (engen) Regelung festgehalten habe (OLG Nürnberg DAR 1987 28). Wie hier auch LG Nürnberg-Fürth NJW 1977 446. LG Heilbronn NStZ 1984 263 (mit zust. Anm. Geppert aaO S. 264 f), LG Stuttgart bei Janiszewski NStZ 1985 113 und AG Bad Iburg NdsRpfl 1986 21; ebenso schon Krekeler NJW 1973 690.
Klaus Geppert
§69 a
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
mal eine Fahrerlaubnis besaß und sich in seiner Lebensführung darauf einrichten konnte, in aller Regel fühlbarer sein wird als für denjenigen, der noch nie eine Fahrerlaubnis besaß und für den das weitere Fernhalten aus dem Straßenverkehr demzufolge keine besonders intensive Beeinträchtigung seiner Lebensführung darstellt. Zugegebenermaßen kann (und muß) dieser Umstand bei Bemessung der (isolierten) Sperrfrist hinreichend berücksichtigt werden; es kann aber nicht rechtens sein und ist mit jener „Gerechtigkeit", von der die Amtl. Begründung zum 2. StraßenVSichG bei Einführung der umstrittenen Einrechnungsvorschrift ausdrücklich gesprochen hat 256 , kaum zu vereinbaren, die Sperrfrist auch in diesen Fällen erst ab (vielleicht sehr viel später eintretender) Rechtskraft der Entscheidung zu berechnen. Andernfalls würde ein Täter bei Anordnung einer isolierten Sperrfrist im Revisionsverfahren ohne maßregelrechtliche Notwendigkeit ungleich schlechter behandelt werden; insbesondere bei langer Dauer des Revisionsverfahrens müßte er sich zusätzlich „bestraft" fühlen. 75
c) Zu Besonderheiten, aa) zunächst im Revisionsverfahren: (1) Wird die Revision verworfen, wird die Sperrfrist ab Verkündungstag des (letzten) tatrichterlichen Urteils berechnet. Kommt es im Revisionsverfahren zur Zurückverweisung und steht die letzte tatrichterliche Prüfung somit noch aus, ist für die Anwendung des Abs. 5 S. 2 mangels Eintritts der Rechtskraft überhaupt kein Raum: in diesem Fall bleibt es Aufgabe des (neuen) Tatrichters, die Dauer einer vorläufigen Führerscheinmaßnahme bei Festsetzung der von ihm nach den zur Zeit seiner Entscheidung maßgeblichen Umständen unter Beachtung von Abs. 4 angemessen zu berücksichtigen 257 . Sofern die Revision allein auf die Sperrfrist beschränkt ist (zur ausnahmsweisen Zulässigkeit einer solchen Beschränkung s. bereits Rdn. 239 zu § 69) und die Entziehung der Fahrerlaubnis als solche in Rechtskraft erwachsen ist, ist zu differenzieren: Soweit der mit der Sache erneut befaßte Tatrichter die Dauer der vorläufigen Maßnahme bei Festsetzung der neuen Sperre berücksichtigen kann, bleibt es bei den Möglichkeiten des Abs. 4. Kommt der Tatrichter jedoch zu dem Ergebnis, daß auf Grund der erzieherischen Wirkung der vorläufigen Maßnahme selbst die Mindestsperre von drei Monaten (Abs. 4 Satz 3) noch zu lang ist, zwingt ihn die Rechtskraft der Entziehung als solcher, gleichwohl die Mindestsperre festzusetzen; (nur) in diesem Fall ist dann aber Abs. 5 S. 2 seinem Sinn entsprechend in der Weise anzuwenden, daß in die Frist die Zeit nach Verkündung des den Entzug der Fahrerlaubnis aussprechenden letzten tatrichterlichen Entscheidung einzurechnen ist 258 .
76
(2) Bestätigt das Revisionsgericht die Entziehung der Fahrerlaubnis (Verwerfung der Revision) oder wird das Urteil infolge Zurücknahme des Rechtsmittels rechtskräftig und ist die Sperrfrist wegen der Einrechnungsregelung des Abs. 5 S. 2 im Zeitpunkt der Revisionsentscheidung an sich schon verstrichen, bleibt es gleichwohl bei der Entziehung der Fahrerlaubnis und bei der tatrichterlich ausgesprochenen Sperre; denn es ist dem Revisionsgericht verwehrt, genuin tatrichterliche Aufgaben wahrzunehmen und von der ursprünglich berechtigten Entziehung der Fahrerlaubnis allein mit Rücksicht auf die zwischenzeitlich (d. h. seit der letzten tatrichterlichen Entscheidung) verstrichene Zeit vorläufiger Führerscheinmaßnahmen abzusehen. Andernfalls würde ein Angeklagter, der Revision eingelegt hat, gegenüber einem anderen, der auf ein solches Rechtsmittel verzichtet,
™ Vgl. Härtung 2. StraßenVSichG S. 41. 257 OLG Celle VRS 28 (1965) 190, OLG Karlsruhe NJW 1975 456 und OLG Düsseldorf JMB1 NW 1967 91. 258 OLG Bremen DAR 1965 216 = VRS 29 (1965) 17
und OLG Karlsruhe VRS 48 (1975) 427; zustimmend Cramer Rdn. 14, Schulz HK-StVR Rdn. 42, Horn SK Rdn. 11, Dreher/Tröndle Rdn. 13 und SchJSchröder/Stree Rdn. 16.
Stand: 3 1 . 5 . 1996
(186)
Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis
§ 69
a
259
in ungerechtfertigter Weise bevorzugt werden . Der Betroffene verliert in diesem Fall also zwar endgültig seine Fahrerlaubnis, kann bei der Verwaltungsbehörde aber sofort eine neue beantragen 260 . Da sich der Fristablauf schon aus dem Gesetz ergibt, ist ein ausdrücklicher Ausspruch über die Erledigung der Sperre im Entscheidungstenor entbehrlich 261 . Davon zu trennen ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen und durch welches Gericht eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis im Revisionsverfahren aufzuheben ist, wenn die im letzten tatrichterlichen Urteil festgesetzte Sperre verstrichen ist, bevor über die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision entschieden worden ist; s. dazu bereits Rdn. 144 f (dort zur Aufhebung nach § 111 a Abs. 2 StPO wegen nachträglichen Wegfall des Grundes) sowie Rdn. 156 f (zu Zuständigkeitsfragen) — je zu § 69. bb) Absatz 5 gilt (analog) mit beiden Sätzen auch im Strafbefehlsverfahren. Wie 77 auch aus § 410 Abs. 3 StPO ersichtlich, beginnt die Sperre in diesem Fall ebenfalls mit Rechtskraft der Entscheidung 262 . Nach zutreffender h. M. wird die nach Satz 2 einzurechnende Frist nicht erst auf die förmliche Zustellung des Strafbefehls 263 , sondern bereits auf den Tag seines Erlasses, d. h. auf den Zeitpunkt der richterlichen Unterschrift bezogen 264 . Auch wenn der in Satz 2 genannten „Verkündung" des Urteils im Strafbefehlsverfahren an sich erst die Zustellung des Strafbefehls entspricht (§ 35 StPO), kommt es nach Sinn und Zweck der Einrechnungsregelung auf den Zeitpunkt an, an dem der Tatrichter letztmals die Länge der Sperrfrist überprüfen konnte 265 ; das ist im Strafbefehlsverfahren nicht der Tag der förmlichen Zustellung, sondern der Zeitpunkt des Erlasses des Strafbefehls, der zeitlich deutlich vor der Zustellung liegen kann. Dies gilt auch bei Verwerfung des Einspruchs nach §412 StPO und bei Zurücknahme des Einspruchs. Die Beschränkung des Einspruchs gegen den Strafbefehl (§410 Abs. 2 StPO) auf bestimmte Beschwerdepunkte ist bis zur Verkündung des Urteils im ersten Rechtszug (§411 Abs. 3 S. 1 StPO) im gleichen Umfang statthaft wie die Beschränkung der Rechtsmittel gegen Urteile (§§318 und 344 Abs. 1 StPO) 266 ; auf die Ausführungen in den Rdn. 233 ff zu § 69 kann verwiesen werden. Bei wirksamer Beschränkung des Einspruchs auf den Schuldspruch unter Ausklämmerung der Maßregelentscheidung (speziell zu dieser Fallgestaltung s. bereits Rdn. 235 zu § 69) tritt hinsichtlich der Sperre Teilrechtskraft ein, so daß eine Neubemessung der Sperre entfällt; auch in diesem Fall wird die Sperre ab Erlaß des Strafbefehls berechnet 267 .
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OLG Frankfurt NJW 1973 1335, OLG Düsseldorf VM 1977 29 und OLG Koblenz VRS 5 3 (1977) 107; auf dieser Linie zu Recht schon LG Oldenburg DAR 1967 50 (gegen LG Hildesheim NJW 1966 684). Ebenso Dreher/Tröndle Rdn. 13 und Sch./ Schröder/Stree Rdn. 17 — je zu § 69 a — sowie Janiszewski Rdn. 727. Bedenken gegen diese Regelung bei Nüse JR 1965 44; s. dazu schon Lackner JZ 1965 123 und Kaiser NJW 1973 493. Gegen OLG Saarbrücken VRS 44 (1973) 192 (zustimmend insoweit Schulz HK-StVR Rdn. 44) und wie hier jedoch OLG Düsseldorf VM 1977 29; so auch die h. M. (vgl. Dreher/Γröndle Rdn. 13 und Sch./Schroder/Stree Rdn. 17). VG Köln ZfS 1984 382 (mit Anm. Mollenkott aaO S. 383): beide auch zu entsprechenden Tenorierungsfragen. So zunächst noch LG Düsseldorf NJW 1966 898 und LG Coburg DAR 1965 245 = VRS 29 (1965)
(187)
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267
270; ebenso Mittelbach Entziehung der Fahrerlaubnis S. 41. Offengelassen durch VG Köln ZfS 1984 383. LG Freiburg NJW 1968 1791, LG Köln DAR 1978 322, AG Düsseldorf NJW 1967 586 = DAR 1967 51 und AG Alsfeld BA 1980 466; s. im Schrifttum Dreher/Γröndle Rdn. 13, Lackner Rdn. 6 sowie Sch./Schröder/Stree Rdn. 14 — je zu § 69 a — und Geppert Bemessung der Sperrfrist S. 134, Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 135 und Seih DAR 1965 292. Auf dieser Linie in anderem Zusammenhang auch BGHSt. 33 232: bei nachträglicher Gesamtstrafenbildung sei bezüglich einer Verurteilung durch Strafbefehl dessen (richterlicher) Erlaß und nicht seine (nichtrichterliche) Zustellung maßgeblich. Vgl. LR-Gössel Rdn. 12, Kleinknecht/Meyer-Goßner Rdn. 4 und KK - Fischer Rdn. 16 - je zu § 410 StPO. Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 135.
Klaus Geppert
§69 a
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
VII. Vorzeitige Aufhebung der Sperre (Absatz 7) Schrifttum Bandemer Die Voraussetzungen einer nachträglichen Sperrzeitverkürzung im Rahmen des § 69 a Abs. 7 StGB, insbesondere bei Anwendung im Jugendstrafrecht, NZV 1991 300; Bender Zur Abkürzung der Sperrfrist (§ 42 m Abs. 4 StGB), DAR 1959 260; Bieler Zur vorzeitigen Aufhebung der Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis, Blutalkohol 1970 112; Eisenberg/Dickhaus Zu Fragen vorzeitiger Aufhebung der Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis im Jugendstrafverfahren, NZV 1990 455; Geiselbrecht Zu den Ablehnungsgründen bei Sperrfristverkürzungsanträgen von nachgeschulten alkoholauffälligen Kraftfahrern, Blutalkohol 1982 344; Grohmann Vorzeitige Aufhebung einer lebenslangen Sperrfrist nach Zeitablauf (§ 69 a Abs. 7 StGB), DAR 1983 48; Hentschel Die Abkürzung der Sperrfrist beim Entzug der Fahrerlaubnis in der Praxis, DAR 1979 317; Hiendl Zur Aufhebung der Sperrfrist gemäß § 42 m Abs. 4 StGB nach vorangegangener Entziehung der Fahrerlaubnis, NJW 1959 1212 (mit nachfolgendem „Schlußwort" von Händel NJW 1959 1213); Seehon Die Abkürzung der Sperrfrist beim Entzug der Fahrerlaubnis in der Praxis, DAR 1979 321; Seib Vorzeitige Aufhebung der Sperre, DAR 1965 209; Winkler Die Abkürzung der Sperrfrist beim Entzug der Fahrerlaubnis in der Praxis aus medizinisch-psychologischer Sicht, DAR 1979 323; Zabel/Zabel Vorzeitige Wiedererteilung der Fahrerlaubnis — zeitliche Grenzen gemäß § 69 a Abs. 7 StGB, Blutalkohol 1992 62.
1. Zweck der Regelung 78
Die vom Gericht (rechtskräftig) festgesetzte Sperrfrist kann nach Absatz 7 vorzeitig aufgehoben werden, wenn angesichts einer günstiger verlaufenen Entwicklung ein Sicherungsbedürfnis entgegen ursprünglicher Prognose des erkennenden Gerichts nicht mehr besteht268. Die schon in § 42 m Abs. 4 (a. F.) enthaltene und durch das 2. StraßenVSichG mit geringen Abweichungen übernommene Bestimmung 269 rechtfertigt sich aus dem Wesen der richterlichen Prognose als einer nur vorausschauenden Beurteilung und trägt dem präventiven Charakter des Fahrerlaubnisentzuges als einer Sicherungsmaßregel ebenso Rechnung wie dem Übermaßverbot (§ 62) 270 . Aus diesem Grund kann nach Absatz 7 auch eine für immer angeordnete Sperre aufgehoben werden 271 , jedoch nur nach besonders strenger Prüfung. Die Regelung spielt in der Praxis (bisher) keine bedeutsame Rolle 272 . 2. Voraussetzungen
79
a) Um zu verhindern, daß die Gerichte die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis häufig schon nach Ablauf kürzester Zeiträume gestatten und dadurch die sichernde Wirkung der Maßregel gefährden, ist die vorzeitige Aufhebung der Sperre nach Absatz 7 Satz 2 frühe268
270
271
Generalpräventive Zweck werden mit der Vorschrift nicht verfolgt: falsch insoweit Bandemer NZV 1991 302 (sich insoweit zu Unrecht auf Sch./ Schröder/Stree Rdn. 19 berufend, wo hinsichtlich der Regelung in Absatz 7 ersichtlich nur von „spezial"präventiver Zielsetzung die Rede ist). BTDrucks. IV/651, S. 20 f. Ebenso Sch./Schröder/Stree Rdn. 19 und Schulz HK-StVR Rdn. 48. OLG Düsseldorf DAR 1982 338 (kritisch Grohmann DAR 1983 48) und NZV 1991 477, OLG München MDR 1981 1035 und OLG Koblenz VRS 66 (1984) 446; allgemeine Zustimmung auch im Schrifttum: Dreher/Tröndle Rdn. 15, Lackner Rdn. 7, Sch./Schröder/Stree Rdn. 19 und Mühlhaus/Janiszewski Rdn. 9 sowie Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 182.
272
Seehon (DAR 1979 321) spricht von einer „in der Praxis toten Vorschrift". Nach Hentschel (DAR 1979 318) stellen nur etwa zwei bis drei (von etwa 180 bis 200) durch eine strafgerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis betroffene Personen einen Antrag auf vorzeitige Abkürzung der Sperre; etwas höher liegt die entsprechende Quote offenbar bei Jugendlichen und Heranwachsenden (vgl. Bussmann/Gerhard BA 1984 208). Die praktische Bedeutung der Vorschrift kann wachsen, wenn — wie der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des StVG und anderer Gesetze (Stand: 20. Mai 1996) es vorsieht — die bisherige Mindestsperre von sechs Monaten auf drei gesenkt wird; damit wird es möglich sein, künftig verstärkt auch die Teilnahme an Nachschulungskursen sperrfristabkürzend zu berücksichtigen.
Stand; 31. 5. 1996
(188)
Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis
§ 69
a
stens zulässig, wenn die für den konkreten Fall geltende gesetzliche Mindestfrist abgelaufen ist (formelle Voraussetzung). Bei der Berechnung der einschlägigen Mindestfristen sind die Vorschriften des Abs. 5 S. 2 und des Abs. 6, nicht jedoch diejenigen des Abs. 4 zu berücksichtigen (Umkehrschluß aus Abs. 7 S. 2/zweiter Halbsatz) 273 . Seit Verkündung der letzten tatrichterlichen Entscheidung muß die Sperre im Regelfall also mindestens sechs Monate 274 , im Wiederholungsfall des Abs. 3 mindestens ein Jahr gedauert haben. Ausweislich des 2. Halbsatzes von Satz 2 dieser Vorschrift („Absatz 5 Satz 2 und Absatz 6 gelten entsprechend") ist in die Mindestfristen jedoch (nur) die zwischen Verkündung/Erlaß der letzten tatrichterlichen Entscheidung und ihrer späteren Rechtskraft verstrichene Zeit einzurechnen, während deren die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen oder der Führerschein amtlich verwahrt war. Demzufolge kann die tatsächliche Sperre nach Rechtskraft der Entscheidung im Ergebnis nur dann kürzer sein als sechs bzw. zwölf Monate, wenn es (wie etwa im Revisionsrechtszug oder bei Zurücknahme eines Rechtsmittels) um die Zeit nach Verkündung der letzten tatrichterlichen Entscheidung geht. Die Einrechnung der Dauer einer vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung oder ihr gleichgestellter Maßnahmen ist dagegen ausgeschlossen, soweit diese Zeit vor Verkündung der letzten tatrichterlichen Entscheidung liegt; denn wie sich durch Umkehrschluß aus dem 2. Halbsatz von Satz 2 dieses Absatzes 7 ergibt, findet Absatz 4 (Verkürzung des gesetzlichen Mindestmaßes der Sperre um die Zeit einer vorläufigen Führerscheinmaßnahme: dazu bereits Rdn. 34 ff) im Rahmen von Absatz 7 nach der Konzeption des Gesetzes bewußt keine Anwendung 275 . Dies ist nicht zuletzt deshalb sinnvoll, weil die vor der letzten tatrichterlichen Prüfung liegende Zeit bei Bemessung der Sperrfrist berücksichtigt werden konnte. Der Verurteilte braucht nicht bis zum Ablauf der in seinem Fall maßgebenden Min- 80 destfrist zu warten, sondern kann seinen Aufhebungsantrag bereits vor Ablauf der Mindestfrist stellen, damit diese bei möglicher Arbeitsüberlastung des Gerichts oder wegen ggf. erforderlicher weiterer Ermittlungen im Fall positiver Bescheidung des Antragstellers nicht unnötig überschritten wird. In der Praxis scheint sich ein Zeitraum von etwa vier bis sechs Wochen eingespielt zu haben 276 . Die Aufhebungsentscheidung des Gerichts (für die Zeit nach Ablauf der Mindestfrist!) sollte jedoch allenfalls kurz vor Ablauf der Mindestfrist erfolgen 277 , damit in der Zwischenzeit auftretende und einer positiven Entscheidung entgegenstehende neue Umstände (ζ. B. ein erneutes Verkehrsdelikt) bei der gerichtlichen Entscheidung noch berücksichtigt werden können 278 . Ein zu früh gestellter Antrag ist abzulehnen 279 , kann jedoch wiederholt werden 280 . " 3 Vgl. auch BTDrucks. IV/651.S. 21. 274 Dies wirkt häufig der an sich sinnvollen Nachschulung (dazu bereits Rdn. 97 ff zu § 69 sowie Rdn. 28 zu § 69 a sowie speziell zur Berücksichtigung im Abkürzungsverfahren nach Absatz 7 nachfolgend Rdn. 88 zu § 69 a) entgegen; denn bei einer nur auf ca. sechs bis acht Monate festgesetzten Sperrfrist könnte eine solche Nachschulung ohnehin keine vorzeitige Abkürzung mehr bewirken. Um einen Anreiz für die Nachschulung zu setzen und das Gnadenverfahren von solchen Fällen zu entlasten, wird de lege ferenda in Absatz 7 eine Herabsetzung der Mindestsperrfrist auf drei Monate erwogen (vgl. Art. 3 Nr. 3 des Entwurfes eines Gesetzes zur Änderung des StVG und anderer Gesetze: Stand: 20. Mai 1996). 275 OLG Koblenz VRS 71 (1986) 27; so schon LG Berlin DAR 1965 und LG Freiburg NJW 1968 1791. Ebenso Seib DAR 1965 209 sowie Himmel(189)
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reich/Hentschel Bd. I Rdn. 183, SchJSchröder/ Stree Rdn. 21 und Schulz HK-StVR Rdn. 49; vgl. auch Gontard Rebmann-Festschrift S. 226. Für eine Zeitspanne von etwa vier Wochen LG Düsseldorf NJW 1966 897 und LG Köln DAR 1978 322; zustimmend Sch./Schröder/Stree Rdn. 21 a. Vgl. auch Miihlhaus/Janiszewski Rdn. 9 b (vier bis sechs Wochen), Zu streng insofern Rüth (Vorauflage Rdn. 38: Antragstellung vor Ablauf der Mindestsperrfrist sei abzulehnen). Zu weitgehend wohl AG Öhringen NJW 1977 447; zustimmend Mühlhaus/Janiszewski Rdn. 9 b. Wie hier jedoch Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 184 und Horn SK Rdn. 13. LG Düsseldorf NJW 1966 897; zustimmend Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 184. Ebenso Sch./Schröder/Stree Rdn. 21 a.
Klaus Geppert
§69 a
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
81
b) Sachliche Voraussetzung für die Anordnung einer vorzeitigen Aufhebung der Sperre sind neue Tatsachen, die Grund zur Annahme geben, daß der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht mehr ungeeignet ist. Maßgebender Beurteilungszeitpunkt hierfür ist der Tag, an dem das Gericht über den Abkürzungsantrag zu entscheiden hat 281 . Sind (neben den formellen auch) die sachlichen Voraussetzungen für eine vorzeitige Aufhebung der Sperre gegeben, liegt die Entscheidung nicht mehr im Ermessen des Gerichts 282 ; dies folgt nicht zuletzt aus dem auch hier gültigen verfassungsrechtlichen Erfordernis des geringstmöglichen Eingriffes (zur entspr. Problematik im Rahmen von Absatz 2 s. bereits Rdn. 10), das dem Richter die vorzeitige Abkürzung der Sperre zur Pflicht macht, wenn deren Voraussetzungen vollständig gegeben sind. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Wort „kann" in Absatz 7 283 ; mit dieser Formulierung bringt das Gesetz ersichtlich nur die Möglichkeit zum Ausdruck, eine an sich rechtskräftige Sanktionsentscheidung nachträglich korrigieren zu können.
82
aa) Ausweislich des Gesetzes muß sich „Grund zu der Annahme" ergeben, daß der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht mehr ungeeignet ist. Danach wird nicht Gewißheit i. S. voller persönlicher Überzeugung verlangt, wie sie für einen Schuldspruch erforderlich ist; es genügt die (auf Grund „neuer Tatsachen" zu gewinnende) hinreichende Wahrscheinlichkeit, daß der Täter sich im Straßenverkehr nicht mehr als gefährlich erweisen wird 284 . Demgemäß muß auch nicht die sichere Feststellung getroffen werden, daß der Verurteilte seine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen wiedererlangt hat, woraus ferner folgt, daß dieser die Wiedererlangung seiner Eignung auch nicht unbedingt positiv beweisen muß 285 . Es reicht aus, wenn die Einbeziehung der neuen Tatsachen in die Gesamtwürdigung aller für die Eignung maßgeblichen Umstände die Teilnahme des Verurteilten am Straßenverkehr jedenfalls wieder verantwortbar erscheinen läßt 286 . Ungeachtet dessen bleibt es dabei, daß es sich hier um eine Ausnahmevorschrift handelt, die grundsätzlich streng auszulegen ist. Die Rechtsprechung fordert das Vorliegen erheblicher neuer Tatsachen, aus denen sich offenkundig ergeben müsse, daß die Gründe für die frühere Feststellung des Eignungsmangels nicht mehr fortbestehen; verbleibende Zweifel gehen zu Lasten des Verurteilten 287 .
83
bb) Nach überwiegender (zutreffender) Ansicht kann der Antrag bzw. die Aufhebungsentscheidung nur auf neue Tatsachen gestützt werden, die dem erkennenden Gericht also noch nicht bekannt waren und aus denen sich ergibt, daß die Gründe für die frühere Feststellung des Eignungsmangels nicht mehr fortbestehen 288 . Nicht zu folgen ist einer von einzelnen Oberlandesgerichten vertretenen (Minder-)Ansicht, wonach im Rahmen der nach Absatz 7 gebotenen Entscheidung alle zu dieser Zeit bekannten Umstände 281
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283
284 285
286
OLG Köln DAR 1956 192 = VM 1956 44 sowie VRS 19(1960) 270. Anders Cramer Rdn. 26 (jedoch für eine „Ermessensschrumpfung" auf Null und damit ebenfalls für die Pflicht zur vorzeitigen Aufhebung der Spenre, wenn die Wahrscheinlichkeit künftigen Wohlverhaltens so groß geworden sei, daß sie zu vollständiger Überzeugung des Gerichts geführt habe). So aber Henlschel DAR 1979 318 und See hon DAR 1979 322. Cramer Rdn. 26 und Horn SK Rdn. 14. Zu streng insofern Bieler BA 1970 115; wie hier Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 186. Ebenso Lackner Rdn. 7, Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 186 und Bandemer NZV 1991 300 ff; so offenbar schon OLG Karlsruhe NJW 1960 587 und OLG Köln NJW 1960 2255 = DAR 1960 264.
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So vor allem OLG Düsseldorf NZV 1990 237 (aus jugendstrafrechtlicher Sicht kritisch Eisenberg/ Dickhaus NZV 1990 455) und NZV 1991 477 = DAR 1 9 9 1 4 6 6 = VRS 82 (1992) 20 sowie LG Kassel DAR 1992 32; auf dieser Linie auch Janiszewski Rdn. 734 und Sch./Schröder/Stree Rdn. 20. So zuletzt OLG Düsseldorf NZV 1991 477 = DAR 1991 466 = VRS 82 (1992) 20 sowie NZV 1990 237 und LG Kassel DAR 1992 32; vgl. zuvor schon OLG Hamm VRS 7 (1954) 364, OLG Karlsruhe NJW 1960 587 sowie OLG Koblenz VRS 65 (1983) 362. Auf dieser Linie auch Himmelreich/ Hentschel Bd. I Rdn. 187, Lackner Rdn. 7 und Sch./Schröder/Stree Rdn. 20.
Stand: 31. 5. 1996
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Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis
§ 6 9
a
berücksichtigt werden müssen, die dafür oder dagegen sprechen, daß der Verurteilte sich in Zukunft wieder verantwortungsbewußt im Straßenverkehr verhalten wird 289 . Zwar ist aus maßregelrechtlicher Sicht an sich immer auf den Zeitpunkt der letzten Entscheidung abzustellen (s. dazu bereits Rdn. 58 zu § 69), und richtig ist auch, daß der Zweck der Regelung nicht notwendig nach neuen Tatsachen verlangt. Ein solches Erfordernis beruht vielmehr auf der Überlegung, daß die Änderung einer rechtskräftigen Entscheidung dem erkennenden Gericht grundsätzlich versagt bleibt und eine zur Zeit der früheren Entscheidung bereits bekannte und bei Bemessung der Sperrfrist bereits berücksichtigte Tatsache demzufolge nicht noch einmal und vor allem nicht zur Korrektur einer rechtskräftig ausgesprochenen Rechtsfolge verwertet werden darf 290 . Im übrigen ist der abgelehnte Rechtsstandpunkt in der Sache von der hier vertretenen Ansicht der h. M. nicht weit entfernt. So scheint auch das OLG Düsseldorf im Rahmen der Entscheidung nach Absatz 7 nur solche Tatsachen berücksichtigen zu wollen, die den Schluß zulassen, daß die Entwicklung des Verurteilten anders als vom erkennenden Richter angenommen verlaufen sei 291 . Und auch die vom OLG Köln in diesem Zusammenhang als zulässig genannten Kriterien (ζ. B. Lebensführung nach der Verurteilung, Veränderungen in den Lebensverhältnissen in der Zeit zwischen Verurteilung und späterer Beschlußfassung, Persönlichkeitsänderungen infolge der Haftzeit oder erfolgreiche Legalbewährung während einer längeren Bewährungszeit) belegen durchweg Tatsachen und Umstände, die entweder überhaupt erst nach der Verurteilung eingetreten/entstanden sind oder zwar schon früher bekannt waren, auf Grund zwischenzeitlich veränderter Bedingungen aber in anderem Licht erscheinen. Ausgeschlossen ist somit nur eine abweichende Beurteilung der bei Anordnung der 84 Maßregel/Bemessung ihrer Dauer bereits verwerteten Tatsachen; der bloße Zeitablauf, eine zwischenzeitliche Strafverbüßung oder die Tatsache, daß ein Verurteilter nach Teilverbüßung der Strafe vorzeitig entlassen wird, rechtfertigt danach für sich allein eine vorzeitige Aufhebung der Sperre ebensowenig wie ζ. B. wirtschaftliche oder berufliche Nachteile, soweit diese bereits bei Anordnung der Maßregel berücksichtigt wurden. Auch wenn es sich bei Absatz 7 um eine Ausnahmevorschrift handelt und diese im Interesse der Verkehrssicherheit insgesamt restriktiv zu handhaben ist (s. bereits Rdn. 82), dürfen an das Merkmal der „Neuheit" auch keine zu strengen Anforderungen gerichtet werden. „Neu" im Sinn der hier umschriebenen Voraussetzung sind bereits früher bekannte und bei Anordnung/Bemessung der Maßregel berücksichtigte Tatsachen also auch dann, wenn sie sich für den Verurteilten anders oder früher auswirken als ursprünglich angenommen 292 . cc) Kasuistik (1) Im Bereich körperlich-geistiger oder fahrtechnischer Eignungsmängel (dazu 85 bereits Rdn. 51 ff zu § 69) wird eine vorzeitige Aufhebung der Sperrfrist vor allem bei nachträglicher Heilung der körperlich-geistigen Defizite oder bei nachträglicher Beseitigung der fahrtechnischen Unzuträglichkeiten in Betracht kommen 293 . Weil solche Mängel bzw. deren Beseitigung behördlicherseits meist schon im Fahrerlaubniserteilungsverfahren ermittelt bzw. beseitigt werden können, sind diese Gründe für das vorzeitige Abkürzungsverfahren in der (strafgerichtlichen) Praxis selten, doch im Fall ihres Vorliegens meist erfolgversprechend. 28' So etwa OLG Köln NJW 1960 2255 sowie OLG Düsseldorf VRS 63 (1982) 273 und VRS 66 (1984) 347. 290 S. dazu vor allem Hentschel DAR 1979 319 (vgl. auch Himmelreich/Henlschel Bd. I Rdn. 187), Bieler BA 1970 114 und Bandemer NZV 1991 302. (191)
2 " VRS 66 (1984) 348; ebenso OLG Düsseldorf VRS 63 (1982) 273. 292 So zutreffend auch Hentschel DAR 1979 319. 293 OLG Köln VRS 21 (1961) 112.
Klaus Geppert
§69 a
3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat
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(2) Weil nur „neue Tatsachen" eine Abkürzung der Sperrfrist rechtfertigen, ist die Bedeutung dieser Vorschrift jedoch auch im Bereich charakterlicher Ungeeignetheit in der Praxis eher gering. Wie bereits ausgeführt (Rdn. 83), reicht der Umstand, daß seit Entziehung der Fahrerlaubnis bereits ein Großteil der festgesetzten Sperre beanstandungsfrei verstrichen ist 294 , für sich allein zur vorzeitigen Aufhebung der Sperre in aller Regel ebensowenig aus wie eine zwischenzeitliche Strafverbüßung 295 oder beruflich-wirtschaftliche Nachteile 296 ; sofern diese Umstände bereits bei Anordnung der Maßregel bzw. Bemessung ihrer Dauer prognostisch berücksichtigt wurden, sind sie für das nachträgliche Abkürzungsverfahren verbraucht. Zeitablauf als solcher kann somit selbst bei beanstandungsfreiem Verhalten allenfalls dann zu vorzeitiger Abkürzung der Sperre führen, wenn er mit substantiiert belegtem verändertem Verantwortungsbewußtsein des Verurteilten verbunden ist; ein solcher nachträglicher (!) Gesinnungswandel kann indiziell durch langjährige Straffreiheit und zwischenzeitlich vollzogene soziale Eingliederung 297 , durch eine erfolgreiche Alkoholentziehungskur 298 oder durch freiwillige soziale Arbeitsleistungen nachgewiesen werden 299 , im Einzelfall aber auch durch ernsthafte Erkrankung des Verurteilten, die diesen zu einer Änderung seiner Lebensführung zwingt, mitbedingt sein 300 . Angesichts des Ausnahmecharakters der Vorschrift sind die Anforderungen der Rechtsprechung diesbezüglich zu Recht streng; allenfalls bei jahrelang straffreier Führung in Fällen lebenslanger Sperren erscheint eine weniger rigide Handhabung der Vorschrift angebracht 301 . Auch dringende berufliche oder wirtschaftliche Interessen können eine vorzeitige Aufhebung der Sperre somit allenfalls dann rechtfertigen, wenn sich die Entziehung in der zurückliegenden Zeit für den Verurteilten schwerer als ursprünglich angenommen ausgewirkt hat 302 . Zur vorzeitigen Aufhebung der Sperre kann insoweit auch die Aussicht eines Arbeitslosen auf eine Arbeitsstelle, für die ein Führerschein benötigt wird, führen, sofern davon nach Lage der Dinge positive Auswirkungen auf die Geeignetheit des Verurteilten zum Führen von Kraftfahrzeugen zu erwarten sind; eine solche Aussicht muß hinreichend konkret nachgewiesen sein 303 .
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(3) Auch der Umstand, daß der Verurteilte wegen der Erwartung künftigen Wohlverhaltens nach § 57 bedingt aus der Strafhaft entlassen wurde und sich seither eine nicht ganz unerhebliche Zeit beanstandungsfrei in Freiheit befindet 304 , rechtfertigt für sich allein keine vorzeitige Aufhebung der Sperre 305 ; denn abgesehen davon, daß selbst die an 294
Vgl. OLG Hamm VRS 7 (1954) 364, OLG Köln VRS 21 (1961) 112, OLG Koblenz VRS 45 (1973) 348 und VRS 69 (1985) 29, OLG München NJW 1981 2424, OLG Düsseldorf NZV 1991 477 und LG Konstanz DAR 1957 46; auf dieser Linie auch Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 187 (vgl. auch Hentschel DAR 1979 318) und Janiszewski Rdn. 734. M5 OLG Düsseldorf NZV 1991 478 und OLG Koblenz VRS 45 (1973) 348; s. dazu auch Bandemer NZV 1991 300 ff. Zu einem Fall, wo die Besserung gerade durch den Strafvollzug erreicht ist, s. OLG Schleswig VM 1957 91. ™> OLG Köln VRS 19 (1960) 271 und VRS 21 (1961) I I I , OLG Hamm VRS 30 (1966) 94, OLG Düsseldorf NZV 199« 238 und NZV 1991 478, LG Konstanz DAR 1957 46 und LG Kassel DAR 1992 32: je mit weiteren Nachweisen; vgl. auch Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 186 und 187. 297 LG Bamberg StV 1984 518. 29 » Zu streng wohl OLG Koblenz VRS 68 (1985) 354; wie hier Janiszewski Rdn. 734.
299
S. dazu auch Bandemer NZV 1991 301. 3M LG Karlsruhe DAR 1958 137. 301 So jedenfalls OLG Düsseldorf VRS 63 (1982) 273; strenger demgegenüber (selbst bei Sperren für immer) OLG München NJW 1981 2424 (zustimmend Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 187). 302 OLG Saarbrücken VRS 19 (1960) 31, OLG Koblenz VRS 65 (1983) 363 und VRS 68 (1985) 354 sowie OLG Düsseldorf VRS 66 (1984) 348. 303 OLG Koblenz VRS 69 (1985) 29. 304 OLG Düsseldorf (NZV 1995 479) verlangt in einem Fall lebenslanger Sperrfrist in aller Regel einen beanstandungsfreien Zeitraum von mindestens fünf Jahren seit der letzten Entlassung aus der Strafhaft. 305 OLG Hamm VRS 30 (1966) 93, OLG Koblenz VRS 45 (1973) 348, VRS 65 (1983) 363, VRS 67 (1984) 343 und VRS 68 (1985) 353, OLG München NJW 1981 2424 und OLG Düsseldorf NZV 1991 478; vgl. auch Dreher/Tröndle Rdn. 15 a und Himmelreich/Hentschel Bd. I Rdn. 188.
Stand: 3 1 . 5 . 1996
(192)
Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis
§69 a
strengere Voraussetzungen geknüpfte Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56) die gleichzeitige Annahme charakterlicher Ungeeignetheit des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht generell ausschließen kann (dazu bereits Rdn. 18 und 60 zu § 69), verlangt § 57 (Aussetzung des Strafrestes) — insofern anders als § 56 — nicht die hinreichend sichere Erwartung künftiger Legalbewährung, sondern lediglich die in ihren Anforderungen deutlich geminderte Prognose, daß es „verantwortet werden (könne) zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen wird" (Abs. 1 Nr. 2). Zudem ist zu berücksichtigen, daß die Einstellung des Verurteilten zu den Anforderungen im Straßenverkehr in aller Regel aus seinem Verhalten in der Freiheit besser zu beurteilen ist als unter den Bedingungen des Strafvollzuges 306 und gerade die Fortdauer der Sperre häufig erforderlich ist, um der günstigen Voraussicht künftig straffreier Lebensführung des Verurteilten die nötige prognostische Sicherheit zu geben 307 . Ob diese Überlegungen auch für die Entlassung aus dem Jugendstrafvollzug gelten, wird nicht einheitlich beurteilt. Während das OLG Düsseldorf dies generell zu bejahen scheint und dem Verhalten des jugendlichen oder heranwachsenden Verurteilten im Strafvollzug offenbar allenfalls „mittelbare" Bedeutung für die Eignungsfrage beizumessen bereit ist 308 , kritisieren andere die darin liegende Vernachlässigung täterstrafrechtlicher Besonderheiten des Jugendstrafrechts und bemängeln die Überbetonung reinen Sicherheitsdenkens zum Nachteil des das gesamte Jugendstrafverfahren und damit auch die Entscheidungsfindung nach § 69 a Abs. 7 beherrschenden Erziehungsgedankens 309 . (4) Als Nachweis für den nachträglichen Wegfall der Ungeeignetheit kann, sofern 88 nicht schon im Erkenntnisverfahren (dazu bereits Rdn. 97 ff zu § 69) oder bei Bemessung der Sperrfrist berücksichtigt (dazu Rdn. 28 zu § 69 a) und demzufolge für das Verfahren nach Absatz 7 „verbraucht", schließlich auch die Teilnahme an einer Nachschulung für alkoholauffällige Kraftfahrer in Betracht kommen; hier liegt derzeit wohl sogar der Hauptanwendungsbereich des nachträglichen Abkürzungsverfahrens. Wie bereits in anderem Zusammenhang erläutert (Rdn. 97 ff zu § 69 und Rdn. 28 zu § 69 a), sind die Gerichte zwar nur zögerlich bereit, den erzieherischen Wert solcher Kurse schon bei Entziehung der Fahrerlaubnis als solcher indiziell zu berücksichtigen, akzeptieren sie jedoch (wenngleich auch nicht als vollwertigen Ersatz, so doch) als wertvolle Ergänzung zur Entziehung der Fahrerlaubnis. Von hier aus scheinen die Gerichte den therapeutischen Nutzen der Kurse und die in ihnen liegende Chance zunehmend höher bewerten zu wollen als das bloße Fortbestehenlassen der Sperre aus Sicherheitsgründen; folgerichtig dazu wächst dann auch ihre Bereitschaft, die aktive Teilnahme an einer Nachschulung (wenigstens) im Verfahren nach Absatz 7 zu berücksichtigen 310 : Eine rein schematische Handhabung, 306
In dieser Richtung auch OLG Düsseldorf NZV 1990 238 und 1991 478 (zu eng dabei jedoch die Überlegung des Gerichts, während des Strafvollzuges könnten im allgemeinen keine „neuen Tatsachen" eintreten, welche die Eignung des Verurteilten als Kraftfahrzeugführer betreffen). 3