Stefan George – Werkkommentar 9783050094212, 9783050059594

The Commentaries on the Works of Stefan George provide systematic access to all of the author’s poetic works and transla

447 76 32MB

German Pages 899 [900] Year 2017

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Die Fibel
Interpretation der Legende Der Schüler (SW I, 91–93)
Hymnen
Interpretation der Nachthymne (SW II, 20)
Pilgerfahrten
Interpretation von Siedlergang (SW II, 32–33)
Algabal
Interpretation von Ihr hallen prahlend in reichem gewande (SW II, 60)
Das Buch der Hirten- und Preisgedichte
Interpretationen von Abend des Festes (SW III, 25) und An Menippa [I und II] (SW III, 30–31)
Das Buch der Sagen und Sänge
Interpretationen von Im unglücklichen tone dessen von … (SW III, 49) und Das lied des zwergen (SW III, 64–65)
Das Buch der hängenden Gärten
Interpretation von Vorbereitungen (SW III, 80)
Das Jahr der Seele
Nach der Lese · Waller im Schnee · Sieg des Sommers
Interpretation von Komm in den totgesagten park und schau (SW IV, 12)
Überschriften und Widmungen
Interpretationen von Lieder wie ich gern sie sänge (SW IV, 49) und Des sehers wort ist wenigen gemeinsam (SW IV, 51)
Traurige Tänze
Interpretation von Mir ist kein weg zu steil zu weit (SW IV, 102)
Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod. Mit einem Vorspiel
Vorspiel
Interpretationen der Vorspiel-Gedichte XI (SW V, 20) und XII (SW V, 21)
Der Teppich des Lebens
Interpretationen von Der Täter (SW V, 45) und Wahrzeichen (SW V, 52)
Die Lieder von Traum und Tod
Interpretationen von Tag-Gesang III (SW V, 81) und Traum und Tod (SW V, 85)
Der Siebente Ring
Zeitgedichte
Interpretation von Böcklin (SW VI/VII, 14–15)
Gestalten
Interpretationen von Die Führer (SW VI/VII, 38–39) und Templer (SW VI/VII, 52–53)
Gezeiten
Interpretationen von Flammen (SW VI/VII, 85), Wellen (SW VI/VII, 86) und Lobgesang (SW VI/VII, 87)
Maximin
Interpretationen von Einverleibung (SW VI/VII, 109) und Entrückung (SW VI/VII, 111)
Traumdunkel
Interpretationen von Eingang (SW VI/VII, 115) und Rosen (SW VI/VII, 124)
Lieder
Interpretationen von Im windes-weben (SW VI/VII, 137) und An baches ranft (SW VI/VII, 138)
Tafeln
Interpretationen zu den Bild- und Skulpturengedichten (SW VI/VII, 176–177 und 180)
Der Stern des Bundes
Eingang
Erstes Buch
Interpretationen von Als sich dir jüngling dein beruf verkündigt (SW VIII, 22), Auf stiller stadt lag fern ein blutiger streif (SW VIII, 32) und Fragbar ward Alles da das Eine floh (SW VIII, 47)
Zweites Buch
Interpretationen von Wie man zurücksieht nach dem klippensteg (SW VIII, 68) und Vor-abend war es unsrer bergesfeier (SW VIII, 74)
Drittes Buch
Interpretation von Hier schliesst das tor: schickt unbereite fort (SW VIII, 100)
Das Neue Reich
Interpretationen von Goethes lezte nacht in Italien, Hyperion, An die Kinder des Meeres, Der Krieg, Der Dichter in Zeiten der Wirren und Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg (SW IX, 7–33)
Interpretationen von Die Winke, Gebete, Burg Falkenstein und Geheimes Deutschland (SW IX, 35–49)
Interpretationen von Der Gehenkte, Der Mensch und der Drud, Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann und Der Brand des Tempels (SW IX, 51–69)
Sprüche an die Lebenden / Sprüche an die Toten
Interpretation von VICTOR * ADALBERT (SW IX, 94–96)
Das Lied
Interpretation von Das Wort (SW IX, 107)
Dante-Übertragungen
Interpretation der Übertragung vom Abschied Vergils (SW X/XI, 80–81)
Shakespeare-Übertragungen
Baudelaire-Übertragungen
Interpretation von vier Übertragungen aus Verlaines Galanten Festen
Übertragungen aus dem Englischen
Interpretationen der Übertragungen von Dowsons Seraphita (SW XV, 44), Rossettis Der Liebe Erlösung (SW XV, 11) und Swinburnes Fragoletta (SW XV, 32–34)
Übertragungen aus den skandinavischen Sprachen
Übertragungen aus dem Niederländischen
D’Annunzio-Übertragungen
Übertragungen aus dem Polnischen
Tage und Taten
Interpretationen von vier Prosatexten aus dem Zyklus Tage und Taten (SW XVII, 18–21)
Kurzdramen und dramatische Fragmente
Einleitungen und Merksprüche
Siglenverzeichnis
Ausgewählte Forschungsliteratur
Namensregister
Werkregister
Die Beiträger
Recommend Papers

Stefan George – Werkkommentar
 9783050094212, 9783050059594

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Stefan George – Werkkommentar

Stefan George – Werkkommentar Herausgegeben von Jürgen Egyptien

ISBN 978-3-05-005959-4 e-ISBN (PDF) 978-3-05-009421-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038065-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Jürgen Egyptien Einleitung   1

Jürgen Egyptien/Elke Kasper Die Fibel   4 Interpretation der Legende Der Schüler (SW I, 91–93) 

 15

Franziska Merklin Hymnen   23 Interpretation der Nachthymne (SW II, 20) 

Maurizio Pirro Pilgerfahrten 

 37

 43

Interpretation von Siedlergang (SW II, 32–33) 

 56

Mario Zanucchi Algabal   60 Interpretation von Ihr hallen prahlend in reichem gewande (SW II, 60) 

Wolfgang Christian Schneider Das Buch der Hirten- und Preisgedichte 

 89

 97

Interpretationen von Abend des Festes (SW III, 25) und An Menippa [I und II] (SW III, 30–31)   117

VI 

 Inhalt

Jutta Schloon Das Buch der Sagen und Sänge 

 124

Interpretationen von Im unglücklichen tone dessen von … (SW III, 49) und Das lied des zwergen (SW III, 64–65)   139 Christophe Fricker Das Buch der hängenden Gärten 

 149

Interpretation von Vorbereitungen (SW III, 80) 

 161

Das Jahr der Seele Mario Zanucchi Nach der Lese · Waller im Schnee · Sieg des Sommers 

 173

Interpretation von Komm in den totgesagten park und schau (SW IV, 12) 

Torsten Voß Überschriften und Widmungen 

 207

Interpretationen von Lieder wie ich gern sie sänge (SW IV, 49) und Des sehers wort ist wenigen gemeinsam (SW IV, 51)   225

Franziska Merklin Traurige Tänze   240 Interpretation von Mir ist kein weg zu steil zu weit (SW IV, 102) 

 250

 199

Inhalt 

Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod. Mit einem Vorspiel Ludwig Lehnen Vorspiel   257 Interpretationen der Vorspiel-Gedichte XI (SW V, 20) und XII (SW V, 21) 

Jürgen Egyptien Der Teppich des Lebens 

 272

 280

Interpretationen von Der Täter (SW V, 45) und Wahrzeichen (SW V, 52) 

Nina Herres Die Lieder von Traum und Tod 

 307

Interpretationen von Tag-Gesang III (SW V, 81) und Traum und Tod (SW V, 85)   322

Der Siebente Ring Achim Aurnhammer Zeitgedichte   335 Interpretation von Böcklin (SW VI/VII, 14–15) 

 349

Tina Winzen Gestalten   356 Interpretationen von Die Führer (SW VI/VII, 38–39) und Templer (SW VI/VII, 52–53)   374

 299

 VII

VIII 

 Inhalt

Tina Winzen Gezeiten   385 Interpretationen von Flammen (SW VI/VII, 85), Wellen (SW VI/VII, 86) und Lobgesang (SW VI/VII, 87)   404

Gunilla Eschenbach Maximin   414 Interpretationen von Einverleibung (SW VI/VII, 109) und Entrückung (SW VI/VII, 111)   428

Gunilla Eschenbach Traumdunkel   433 Interpretationen von Eingang (SW VI/VII, 115) und Rosen (SW VI/VII, 124) 

Torsten Voß Lieder   442 Interpretationen von Im windes-weben (SW VI/VII, 137) und An baches ranft (SW VI/VII, 138)   457

Anika Meier Tafeln   467 Interpretationen zu den Bild- und Skulpturengedichten (SW VI/VII, 176–177 und 180)   475

Der Stern des Bundes Bruno Pieger Eingang   485

 437

Inhalt 

Bruno Pieger Erstes Buch 

 IX

 502

Interpretationen von Als sich dir jüngling dein beruf verkündigt (SW VIII, 22), Auf stiller stadt lag fern ein blutiger streif (SW VIII, 32) und Fragbar ward Alles da das Eine floh (SW VIII, 47)   523

Jürgen Egyptien Zweites Buch   531 Interpretationen von Wie man zurücksieht nach dem klippensteg (SW VIII, 68) und Vor-abend war es unsrer bergesfeier (SW VIII, 74)   543

Achim Aurnhammer Drittes Buch   548 Interpretation von Hier schliesst das tor: schickt unbereite fort (SW VIII, 100)   563

Das Neue Reich Armin Schäfer Interpretationen von Goethes lezte nacht in Italien, Hyperion, An die Kinder des Meeres, Der Krieg, Der Dichter in Zeiten der Wirren und Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg (SW IX, 7–33)   569

Bruno Pieger Interpretationen von Die Winke, Gebete, Burg Falkenstein und Geheimes Deutschland (SW IX, 35–49)   588

Ray Ockenden Interpretationen von Der Gehenkte, Der Mensch und der Drud, Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann und Der Brand des Tempels (SW IX, 51–69)   609

X 

 Inhalt

Simon Reiser Sprüche an die Lebenden / Sprüche an die Toten 

 628

Interpretation von VICTOR * ADALBERT (SW IX, 94–96) 

 642

Ray Ockenden Das Lied   651 Interpretation von Das Wort (SW IX, 107) 

Francesco Rossi Dante-Übertragungen 

 668

 675

Interpretation der Übertragung vom Abschied Vergils (SW X/XI, 80–81) 

Antje Hartje Shakespeare-Übertragungen 

Ludwig Lehnen Baudelaire-Übertragungen 

 685

 692

 712

Interpretation von vier Übertragungen aus Verlaines Galanten Festen 

Antje Hartje Übertragungen aus dem Englischen 

 725

 733

Interpretationen der Übertragungen von Dowsons Seraphita (SW XV, 44), Rossettis Der Liebe Erlösung (SW XV, 11) und Swinburnes Fragoletta (SW XV, 32–34)   742

Angela Beuerle Übertragungen aus den skandinavischen Sprachen 

Günter Baumann Übertragungen aus dem Niederländischen 

 770

 753

Inhalt 

Francesco Rossi D’Annunzio-Übertragungen 

 780

Robert Rduch Übertragungen aus dem Polnischen 

Jürgen Egyptien Tage und Taten 

 786

 797

Nina Herres Interpretationen von vier Prosatexten aus dem Zyklus Tage und Taten (SW XVII, 18–21)   817

Bruno Pieger Kurzdramen und dramatische Fragmente 

Christophe Fricker Einleitungen und Merksprüche 

Siglenverzeichnis 

 851

Ausgewählte Forschungsliteratur  Namensregister 

 838

 873

Werkregister 

 881

Die Beiträger 

 885

 855

 821

 XI

Jürgen Egyptien

Einleitung

Der Anstoß zu diesem Werkkommentar kam vom Verlag und erreichte den Herausgeber zu Beginn des Jahres 2011. Er wurde im Blick auf das seinerzeit noch in Entstehung begriffene und im Herbst 2012 erschienene dreibändige Handbuch Stefan George und sein Kreis als folgerichtiges Anschlussprojekt konzipiert, das den Fokus explizit auf das dichterische und übersetzerische Werk Georges richten sollte. Durch Reaktionen auf das Handbuch, in denen diese Perspektive als Desiderat benannt wurde, durfte sich die konzeptionelle Ausrichtung des Werkkommentars bestätigt fühlen. Seine Beiträge konnten (und sollten) indes von der vorgängigen Erschließung der Kontexte von Georges Werk profitieren. Freilich ist das Handbuch nur ein, wenngleich gewichtiges Referenzwerk unter anderen innerhalb der mittlerweile erfreulich umfangreichen und lebendigen George-Forschung, der der Werkkommentar weitere neue Impulse geben möchte. Der Aufbau des Werkkommentars orientiert sich an demjenigen der George’schen Gesamt-Ausgabe (1927–1934) beziehungsweise der Sämtlichen Werke (1982–2013). Ausgehend von der Überzeugung, dass George zu den Autoren gehört, die ihre Werke von Beginn an bewusst anordnen und zu größeren Einheiten fügen, werden seine Gedichtbände zunächst unter dem Gesichtspunkt der Zyklizität beziehungsweise ihres inneren Zusammenhangs vorgestellt. In einem zweiten Schritt folgt darauf die textanalytische Interpretation einzelner oder mehrerer repräsentativer Gedichte aus dem jeweiligen Zyklus. Abweichend wurde aus sachlichen Gründen in den folgenden Fällen verfahren: Die Aufteilung der Beiträge zum Neuen Reich orientiert sich am Inhaltsverzeichnis des neunten Bands der Gesamtausgabe von 1928, das die Gedichte von Goethes lezte Nacht in Italien bis zu Der Brand des Tempels durch zwei größere Durchschüsse in drei Textgruppen gliedert. Bei den beiden Bänden Zeitgenössische Dichter (SW XV u. SW XVI), die jeweils Übertragungen Georges aus mehreren Sprachen enthalten, schien es sinnvoller, sich von der Bandeinteilung zu lösen und nach Ausgangssprachen zu gruppieren. Das erlaubte zudem, die in den Abschnitten Übertragungen im Band Tage und Taten (SW XVII) wie auch im Schlussband (SW XVIII) aufgenommenen Übertragungen Georges in den Beiträgen zu berücksichtigen, die der jeweiligen Ausgangsssprache gewidmet sind. Gleiches gilt für die Ibsen-Übertragungen, die im Anhang des Schlussbands unter den Jugenddichtungen geboten und im Beitrag zu den Übertragungen aus den skandinavischen Sprachen behandelt werden. Dadurch ergab sich, dass der Kernbestand des Schlussbands in einem Beitrag zu Georges Kurzdramen und dramatischen Fragmenten vorgestellt werden konnte. Ebenso schien es opportun, ausgehend von dem Abschnitt Betrachtungen im Band Tage und Taten einen Beitrag aufzunehmen, der das Textcorpus der Sämtlichen Werke durch den Einbezug von George zuschreibbaren poetologischen und programmatischen Texten aus den Blättern für die Kunst überschreitet.

2 

 Jürgen Egyptien

Im Regelfall stammen die zusammengehörigen Beiträge zum Zyklus und zu den Beispieltexten vom selben Verfasser. Bei einem Projekt dieser Größenordnung war es unvermeidlich, dass nicht alle, die der Herausgeber für eine Mitwirkung zu gewinnen suchte, zusagen konnten und manche, die zugesagt hatten, sich zu einem späteren Zeitpunkt zurückzogen. Umso glücklicher macht es den Herausgeber, dass er sein ursprüngliches Ziel, in diesem Werkkommentar neben etablierten Stimmen aus der George-Forschung solche zu präsentieren, die sich erstmals zu diesem Autor äußern, und neben erfahrenen Wissenschaftlern auch viele jüngere zu beteiligen, dennoch, ja vielleicht noch mehr als anfangs erwartet, realisieren konnte. Gleichzeitig besitzt der Kreis der Mitwirkenden der Herkunft wie der Wirkungsstätte nach einen internationalen Charakter. Bei der Zusammenstellung dieses Kreises ging es dem Herausgeber weiterhin darum, ein breites Spektrum an Zugängen zu Georges Dichtung zu bieten. Keineswegs sollte eine monolithische Werkauslegung vorgelegt werden, die mit dem Anspruch von Deutungshoheit auftritt. In diesem Sinne reicht die Spannbreite des Werkkommentars von dezidiert George-kritischen bis zu dezidiert George-nahen Beiträgen. Entscheidend war für den Herausgeber allein der Maßstab der Plausibilität einer auf genaue Lektüre gestützten Argumentation. Nur reine Polemik und Apologie blieben ausgeschlossen. Es muss dem Leser des George’schen Werks überlassen bleiben, ob er in ihm ein bloß noch historisches Phänomen erblickt oder in ihm eine utopische Qualität wahrnimmt, deren dichterische Substanz noch unabgegolten ist. Ebenso wird es vom jeweiligen Verständnis dessen, was ‚die Moderne‘ ausmacht und ob man zu ihrer Bestimmung eher ästhetische oder gesellschaftliche Kriterien heranzieht, abhängen, ob man George als Repräsentanten der literarischen Moderne oder als einen Vertreter der antimodernen Moderne ansieht. Aufgrund der Heterogenität des Kreises der Beiträger und Beiträgerinnen verbietet es sich an dieser Stelle auch, seitens des Herausgebers ein Fazit zu ziehen oder gar ein (eigenes) Gesamtbild des Dichters Stefan George zu entwerfen. Es machte auch keinen Sinn, hier die jeweils leitenden Aspekte und wesentlichen Thesen der annähernd siebzig Aufsätze zu referieren. Noch die verknappteste Form wirkte ermüdend und wäre ohnehin dem Verdacht der Verzeichnung ausgesetzt. Eine Synthese lässt sich aus der Summe der Aufsätze nicht bilden, und der Versuch dazu wäre wohl schon im Ansatz eine Verfehlung der Komplexität und Widersprüchlichkeit dieses Autors. Ich widerstehe hier der Versuchung, dies mit einigen sentenziösen Wendungen aus Georges Dichtung zu belegen. Ohnehin sollte man seine gnomischen Abbreviaturen nicht wie auf Flaschen gezogene Formeln einsetzen, man liefe sonst Gefahr, das Dichterische zu verfehlen. Nichtsdestotrotz mögen ein paar wenige Beobachtungen hier festgehalten werden, die sich – wenigstens beim Herausgeber – bei der Lektüre des Werkkommentars eingestellt haben. Ein roter Faden, der Georges Werk als eines im Zeitalter der literarischen Moderne kenntlich macht, besteht in der seit seinen Anfängen anzutreffenden Selbstreflexivität des dichterischen Sprechens. Mit anderen Worten: George ist ein Autor, bei dem die poetologische Dimension einen integralen Bestandteil des dichterischen Produk-

Einleitung 

 3

tionsprozesses bildet. Diese Lesart begegnet in nahezu allen Beiträgen. Sie verbindet sich oft mit einer bis ins Mikrostrukturelle reichenden Analyse der sprachlichen Gesten und der ästhetischen Gestaltungsverfahren. Auf diese Weise erschließt der Werkkommentar implizit Georges Arbeit an seinen Texten, von der sich nur wenige Zeugnisse erhalten haben. Zumindest einen Spalt weit kann der Werkkommentar auf diesem Weg den Blick in die dichterische Werkstatt öffnen. Auf eigene Weise tragen dazu die Beiträge zu Georges Übertragungen bei. Die poetologische Komponente wirkt in Auswahl und Technik weit in Georges Übersetzungspraxis hinein. Vielfach verbunden in Gestalt von Abstoßung, Umformung und Attraktion ist die poetologische Dimension mit derjenigen der Intertextualität. Sie erstreckt sich sowohl auf die Auseinandersetzung mit Formen als auch mit dichterischen Grundpositionen. Der Werkkommentar liefert hier eine Reihe von Beispielen für intertextuelle Konstellationen, die in der bisherigen Forschung noch nicht gesehen oder noch nicht in ihrer Qualität erkannt wurden. Auf diesem Gebiet ergeben sich ebenso Kontinuitäten, die zumindest hier durch Wandlungen des Sprechgestus hindurch ein gemeinsames Konstituens verschiedener Werkstufen sichtbar machen. Auffällig ist auch die (zumal im früheren Werk) existierende Perseveranz der Problematik von Askese, Entsagung und sinnlicher Anfechtung. Thematisch und poetologisch lässt sich die Genese einer religiomorphen Dichtung nachvollziehen, die mit der Ausbildung eines sowohl von Mallarmé wie Hölderlin inspirierten Selbstverständnisses korrespondiert. Wissenschaftlicher Fortschritt besteht in der Vermehrung der Fragemöglichkeiten. Je näher ich beim Aufstieg zum Gipfel der Erkenntnis dem Ziel komme, desto weiter wird der Blick. Je ferner der Horizont rückt, umso mehr tritt mir als Kontext, als Bedingungs- und Wirkfeld offen vor die Augen, offen freilich dergestalt, dass ich erstmals seine Existenz wahrnehme und mich seiner Erschließung zuzuwenden vermag. In diesem Sinne hofft der Herausgeber, dass der Werkkommentar durch seine Erweiterungen des Blickfelds mehr Aspekte sichtbar gemacht und die Möglichkeiten, weiterzufragen und -forschen, in nennenswertem Maß vermehrt hat. In den Beiträgen des Werkkommentars wird von einer Reihe von Siglen Gebrauch gemacht, die auf einschlägige Publikationen der George-Forschung und der Erinnerungsliteratur des George-Kreises sowie auf wichtige Periodika, Editionen und Quellenwerke verweisen. Eine Liste dieser mit Siglen versehenen Texte steht am Beginn des Anhangs. Darauf folgt ein Literaturverzeichnis, in das diejenigen Titel aufgenommen wurden, die wenigstens einmal im Werkkommentar vorkommen und in einem nahen thematischen Bezug zu Georges Werk stehen. Allgemeine Literatur oder Sekundärliteratur zu anderen Autoren sowie geläufige Quellentexte aus dem George-Kreis werden nicht erfasst. Das Namensregister führt alle Nennungen im Haupttext an, das Werkregister alle Erwähnungen von Gedichtbänden, Zyklen oder einzelnen Texten Georges außerhalb des auf sie bezüglichen Beitrags. Für ihre engagierte Hilfe danke ich meiner Mitarbeiterin Tina Winzen.

Jürgen Egyptien/Elke Kasper

Die Fibel

Bereits 1898 wurde der Gedichtband Die Fibel im Verlag Georg Bondi als ‚in Vorbereitung‘ befindlich angekündigt. Am 16. August 1899 schrieb George in einem Brief an Melchior Lechter, Die Fibel sei fertig zusammengestellt und sie solle gleichzeitig mit dem Teppich des Lebens erscheinen, allerdings in der von Lechter „so geliebten ‚gewöhnlichen‘ ausgabe“ (L/G 90). Auch in einem Brief Friedrich Gundolfs, den er Ende 1899 unmittelbar nach einem Besuch bei George an Karl Wolfskehl sendet, ist davon die Rede, dass Die Fibel im Februar 1900 veröffentlicht werden solle (G/W 350). Die schließlich im Januar 1901 mit dem Untertitel Auswahl erster Verse erschienene Fibel ist den Eltern mit den Worten „Meinem Vater und meiner Mutter als schwachen Dankes-Abtrag“ gewidmet. Auf die Widmung folgen eine Vorrede und die Geleitverse. Morwitz teilt den Gedichtband anhand „der Druckordnung und Buchstabengrösse im Inhaltsverzeichnis“ (EM  II, 78) in drei Bücher auf: Das erste enthält die zweiteilige Fibel und den Zyklus Übertragungen. Die erste Abteilung der Fibel umfasst elf Gedichte, die zweite siebzehn. Der Zyklus Übertragungen, der, wie George in der nur wenige Zeilen langen Vorrede zum ersten Band der Gesamt-Ausgabe (1927) mitteilt, den Erstdruck erweitert, umfasst sieben Gedichte. Das zweite Buch mit zwölf Gedichten trägt den Titel Von einer Reise. Daran schließen sich als drittes Zeichnungen in Grau und Legenden an. Den acht Gedichten der Zeichnungen in Grau wird 1927 ein neuntes hinzugefügt. Der Zyklus Legenden besteht aus drei Langgedichten. Den Abschluss des Gedichtbands im Rahmen der Gesamt-Ausgabe bildet ein Anhang. Er dokumentiert handschriftliche Fassungen der Gedichte Ikarus, Menschen und Kinder und Gelbe Rose aus den Jahren 1887 bis 1889. Von Letzterem und von den fünf Schlusszeilen der Legende Der Schüler bietet er Versionen in Georges selbst geschaffener lingua romana. Das früheste Dokument des Anhangs ist eine Petrarca-Abschrift des etwa Vierzehnjährigen. Einige Gedichte aus der Fibel waren bereits zuvor publiziert worden. Von der ersten Folge der Blätter für die Kunst enthält der erste Band die Legende Erkenntnis, der zweite die Legende Frühlingswende, beide unter dem Pseudonym Edmund Lorm. Im fünften Band eröffnen die vier mit ‚G.‘ gezeichneten Gedichte Die Najade, Der Blumenelf, Die Rose und Ikarus eine mit Rosen und Disteln überschriebene Textgruppe, die für die gleichnamige Schülerzeitung vorgesehene Gedichte mehrerer Verfasser präsentiert. Georges Schulkamerad Georg Fuchs eröffnete als Redakteur der Münchner Zeitschrift Allgemeine Kunstchronik Ende 1894 die Möglichkeit, den Kreis der Blätter für die Kunst vorzustellen. Unter Georges Gedichten finden sich erneut die Legenden Erkenntnis und Frühlingswende, daneben noch Gelbe Rose und – im Rahmen eines George-Porträts von Karl Wolfskehl – Drunten zieht mit bunten wimpeln. In der Vorrede zur ersten Ausgabe der Fibel thematisiert Stefan George sein Unbehagen, „seine frühen schöpfungen der mitwelt zu übergeben“. Für „seine freunde und



Die Fibel 

 5

verehrer“, fürchtet George, sind diese Gedichte eher eine „enttäuschung“. Der bloße Rezipient erwarte „eine schöne offenbarung“. Selbstkritisch erkennt George, dass seine frühen Gedichte diesen Anspruch wohl nicht erfüllen können (vgl. HA 34). In der George-Forschung wird die Sammlung und Herausgabe der Jugendgedichte „vor Erreichen der Lebensmitte“ als ein „ungewöhnliche[s] Faktum“1 konstatiert, zumal George seine „zerstreut herumliegenden dichterischen erstlingsfrüchte“ (SW I, 98) in einem Brief an Arthur Stahl im Mai 1888 als „schon unterhalb meines jetzigen horizonts“ (SW I, 99) bezeichnet. Doch trotz dieser Geringschätzung bekommen sie nach Georges „entscheidende[m] Durchbruch“ (GHb I, 95) mit dem Gedichtband Teppich des Lebens 1899/1900 einen neuen Stellenwert. George sind „die eigenen Anfänge zum historischen Besitz geworden“ (HA 34) und ihre Zusammenstellung „dient vor allem den Dichtern, George selbst, und zwar ganz sentimentalisch als Bewahrung von Erinnerung an eine frühe Lebens- und Erlebnisstufe“ (SW  I, 97). Die Dichter benennt George denn auch als seine idealen Leser, bergen die „zarten erstlinge[]“ doch selbst im Stadium der Unreife für sie „das für die zukunft bedeutsame“: „wir [die Dichter] sehen in ihnen die ungestalten puppen aus denen später die falter leuchtender gesänge fliegen und lassen uns gern durch sie erinnern an die zeit unsrer reinsten begeisterung und unsrer vollen blühwilligkeit.“ (SW I, 7) Hier geht die captatio benevolentiae über ihren ursprünglichen Status als Stil­ figur hinaus. Selbstbewusst definiert George die Fibel als Ort des Selbstbegreifens der eignen Dichtung in ihren Anfängen, die somit einen hohen vorausweisenden Wert enthält. Zudem reflektieren die Gedichte des Zyklus Fibel ihr ‚Nichtgelingen‘ und betrauern ihre Unvollkommenheit. Das lyrische Ich formuliert seine Wut über sein „eigne[s] unvermögen[]“ (SW I, 18). Trotzdem bleibt es immer von der lyrischen Entwicklungsfähigkeit überzeugt, ohne den Grund des Scheiterns schon benennen zu können. Es wird also deutlich, dass die Gedichte ihr lyrisches Entwicklungspotenzial in sich verborgen tragen und es nicht in der Vorrede nachträglich eingepflanzt wird. Die sechs vierzeiligen Strophen der Geleitverse wurden, wie der Anhang von 1927 mitteilt, „gelegentlich der zusammenstellung des ersten drucks“ verfasst. Das Gedicht schlägt einen Bogen von der frühen glücklichen Kindheit über die schwierige Jugendzeit mit Selbstzweifeln und Fehlversuchen bis hin zur Gegenwart als Zeit des Gelingens. Dem Reifungsprozess kommt im Vergleich mit der Traube, die am Rebstock „[e]rst mählich duft und farbe“ (SW I, 9) gewinnt, eine symbolische Bedeutung zu, die den Entwicklungsgedanken der Vorrede noch einmal verstärkt. Den Geleitversen fallen als Paratext neben dem autopoietischen Kommentar noch weitere Aufgaben zu. Die frühen Gedichte erhalten Geleitschutz („besondere obhut“), da sie quasi wie Kinder dem Schutz und der Anleitung bedürfen. Die Verse schla-

1 Gabriel Simons: Die zyklische Kunst im Jugendwerk Stefan Georges. Ihre Voraussetzungen in der Zeit und ihre allgemeinen ästhetischen Bedingungen. Masch. Diss. Köln 1965, S. 96.

6 

 Jürgen Egyptien/Elke Kasper

gen nicht nur eine Brücke zwischen Vorrede und innerer Struktur des Gedichtbands, sondern auch zum Titel. Unter dem Genre ‚Fibel‘ versteht man generell ein einfaches, häufig mit Bildern versehenes Kinderbuch zum Lesen- und Schreibenlernen. George inszeniert die Gattung, indem er sich selbst in ein Kind zurückverwandelt. In der Widmung dankt er seinen Eltern und das volksliedhafte Ritornell Erinnerung gedenkt seiner glücklichen Kindheit im heimatlichen Bingen. Die Exklamation „O“ (SW I, 19), die jede der vier dreizeiligen Strophen einleitet, kann als Anrede beziehungsweise Anrufung gelesen werden, wie sie z.  B. aus alten Kirchenliedern bekannt ist. Gleichzeitig erinnert das ‚O‘ an die Kinderfibel, mit der ja die Buchstaben des Alphabets eingeübt werden. Dieser Fibel-Charakter wird in der zeitgenössischen Rezeption auch wahrgenommen, wie etwa der Dankesbrief von Max Dessoir an Stefan George zeigt: Ich bin Ihnen sehr dankbar fuer die Zusendung Ihrer ‚Fibel‘, mit welchem fuer das Buchstabieren bestimmten Wort Sie die doch schon sehr respektable Wort- und Gedankenleistung bezeichnet haben. Um so dankbarer bin ich, als an diesen Versen sich erkennen laeßt, wie allmaehlich sich der neue Stil zur voelligen Einheit zwischen Inhalt und Ausdrucksmittel entwickelt hat.2

Mit dem im Gedicht Erinnerung folgenden ‚Du‘ werden das Haus, der Bach, der Wald und der Kindheitsort überhaupt angesprochen. Die Adjektive evozieren einen idyllischen, fast paradiesischen Ort (‚lieblich‘, „lachende landschaft“), in dem das lyrische Ich eine unbeschwerte Zeit „arglos und froh“ verbringt. Das Ende der Kindheit, „[e]rnst und sinnend“, fällt mit dem Verlassen des Elternhauses zusammen. Die erste Strophe der Geleitverse beschreibt das Zeitempfinden in der Kindheit: „Das sind die langen stunden / Wo jede fast ein jahr begreift“ (SW I, 9). Dass die Kindheit sich unvergesslich ins Gedächtnis einschreibt, zeigt der dritte Vers „Von efeulaub umwunden“, gilt doch die immergrüne Pflanze als eine der langlebigsten in Westeuropa. Im Vers „Von reinem demanttau bereift“ sieht Morwitz die „Reinheit“ und Kostbarkeit des „frühen Erlebens“ (EM II, 79) festgehalten. In der zweiten Strophe der Geleitverse ändert sich die Stimmung. In dem Moment, in dem das Kind seine künstlerischen Möglichkeiten ausprobiert („Das seine flöte prüft im rohr“), verbünden sich „Gebüsch“, „strom und wind“ zu einem „chor“, der den zarten Versuchen „dumpf entgegenschall[t]“. Da Georges Instrument die Sprache ist, verweist dies auf eine erste Sprachfindungsphase. Als König im Spiel erfindet das Kind im Alter von acht oder neun Jahren eine Geheimsprache. Von dieser ersten künstlichen Sprache ist außer den vier Worten „Amhara alai tunis enis alsa“ (RB I, 19) nichts weiter überliefert, als dass sie ‚Imri‘ genannt und in einem Fantasiereich namens ‚Amhara‘ gesprochen wurde. Laut den Erinnerungen von Carl August Klein

2 Max Dessoir an Stefan George, Berlin, 21.  1. 1901. StGA George, III, 2697. Wir danken der Stefan George-Stiftung für die Genehmigung zum Abdruck des Briefzitats.

Die Fibel 



 7

handelte es sich um eine „seltsame, dem Nichteingeweihten völlig unverständliche Geheimsprache“3, die „nach einem höchst sinnreichen System erdacht“ worden war. Da George – eigener Aussage nach – bereits ab seinem sechsten Lebensjahr Verse verfasste und „ganz früh – acht-, neunjährig – Gefühl für die Süssigkeit der Sprache […] bekommen“4 habe, wäre es denkbar, dass er bereits in der Kunstsprache ‚Imri‘ Gedichte geschrieben hat. Jedenfalls handelte es sich bei Georges Geheimsprache schon damals nicht primär um ein bloßes Spiel mit der Sprache, das keinen anderen Zweck als den der Informationsverschlüsselung gehabt hätte. Der Vers „Das seine flöte prüft im rohr“ spielt auf den Pan-Mythos an und verweist auf das erste Buch der Ovid’schen Metamorphosen und damit intratextuell auf das Gedicht Ikarus, das den Abschluss des zweiten Teils des Zyklus Die Fibel bildet. In diesem Zusammenhang kann auf eine weitere Bedeutung des Wortes ‚Fibel‘ hingewiesen werden. Wie George schon in seiner Vorrede andeutet, finden sich Motive der Fibel ausgereift in späteren Werken. Dieses Prinzip der Verknüpfung lässt sich auch innerhalb des Gedichtbands selbst entdecken. Genauso wie die Kleiderspange, deren Name sich von dem lateinischen Wort ‚fibula‘ ableitet und die seit der frühen Bronzezeit eine praktische und eine schmückende Funktion besaß, zum Zusammenhalten eines Kleidungsstückes dient, hält die Fibel das George’sche Werk zusammen. Gräber II gehört zu den Gedichten, die unter werkgeschichtlicher Perspektive von Interesse sind. Es schildert in elegischem Ton die Klage einer Mutter am Grab ihres jung verstorbenen Sohnes. Aus den umstehenden Trauerweiden tönt das Flüstern eines Geisterchors und belehrt sie, die Perspektive zu ändern: Weisst du nicht mutter: Früh ruft der himmel Zum glanz seines thrones Wer sich erfreut seiner höchsten huld. (SW I, 35)

Darin manifestiert sich eine Sichtweise, wie sie etwa im Gedicht Der Infant (SW II, 26) in den Hymnen wiederkehrt und sich generell im Konzept des kindlichen Königtums verfestigt. Noch der ganze Komplex der ästhetischen Transfiguration der MaximinGestalt steht in diesem Zeichen und kann nur unter der Voraussetzung des Todes Maximilian Kronbergers im Knabenalter funktionieren. Im Bild des Ikarus reflektiert das Ende des ersten Zyklus das Scheitern des Dichters. Der Dichter klagt sich an, aus Hybris zu waghalsig gewesen zu sein. Die zweite Hälfte des ersten Verses, „auf jenen leichten flügeln“ (SW I, 41), weist jedoch darauf hin, dass die Flügel aus einem falschen Material hergestellt wurden, die dem „heissen

3 Carl August Klein: Die Sendung Stefan Georges. Erinnerungen. Berlin 1935, S. 8. 4 Vgl. Kurt Breysig: Stefan George. Gespräche. Dokumente. Amsterdam 1960, S. 13.

8 

 Jürgen Egyptien/Elke Kasper

sonnenkuss“ nicht standhielten. Genau dies benennt das Problem, das George in den frühen Gedichten umtreibt. Ovid zeigt, während Dädalus die Flügel herstellt, die Entwicklung des kindlichen Ikarus zum pubertierenden Jugendlichen, also zu jemandem, der flügge wird.5 Diese Entwicklung und Reifung demonstriert der Dichter an Ikarus’ Verhalten während des Flugs. Das Selbständig-werden-Wollen bedingt in Georges frühen Gedichten wie bei Ikarus einen Generationenkonflikt, dessen Zündstoff die Suche nach der genuin eigenen Sprache bildet. Das Fliegen, das zeigt sich im Mythos, ist allein den Göttern vorbehalten, das Dichten, so vermittelt die frühe Lyrik Georges den Eindruck, auch. Dadurch werden die vielen Erweckungsmythen verständlich, die sich in den Gedichten des Zyklus Fibel finden lassen. Bereits im ersten Gedicht Ich wandelte auf öden düstren bahnen (SW I, 13) wird das alltägliche Leben, das „planlos“ und ohne „hohes streben“ verläuft, durch das Erscheinen eines „himmelsbild[s]“ aus seiner Trivialität befreit und der gewöhnliche Mensch wird für einen kurzen Augenblick geadelt. Dieser eine Moment aber verändert das Dasein grundlegend und für immer. Die Erweckungsmythen thematisieren jedoch gleichzeitig die dichterische „Abhängigkeit vom Unverfügbaren“6. Es ist von „täuschung“ und „schmerz“ die Rede. Zurück bleibt eine demütige Dankbarkeit, den kurzen Moment der Erweckung überhaupt erfahren zu dürfen: „So muss ich doch das gütige schicksal loben“. Wenn man bedenkt, dass George das Erscheinen der Fibel bewusst in die unmittelbare zeitliche Nähe seines Teppichs des Lebens rücken wollte, ergibt sich für das erste Gedicht im Titel-Zyklus ein aufschlussreicher Bezug. Der Beginn dieses Gedichts („Ich wandelte auf öden düstren bahnen“) liest sich dann als Parallele zur ersten Vorspiel-Zeile „Ich forschte bleichen eifers nach dem horte“ (SW V, 10), insofern beide ein Fehlgehen und ein Ungenügen des Sprechers thematisieren. Dem Mangel an Sinn für Schönheit, dessen sich das lyrische Ich in der Fibel anklagt, wird zwar bereits dort durch das ‚vorüberschwebende Himmelsbild‘ abgeholfen – es ist natürlich auch die Präfiguration der „herrin“ (SW II, 10) aus der Weihe –, aber ihre plastische Verkörperung erhält diese Schönheit erst im ersten Vorspiel-Gedicht. So verhält sich dieses zum ersten Fibel-Gedicht wie die Vollendung zur Verkündung. Einen geradezu erstaunlich prospektiven Charakter besitzt das erste Fibel-Gedicht auch durch seine Schlussverse. Sie sprechen davon, dass die erweckte Liebe zur Schönheit das Ich „zur tat getrieben / Und zu den sternen mich emporgehoben“ habe; es fallen hier also bereits Schlüsselbegriffe, die seit dem Teppich des Lebens im gedanklichen und bildsprachlichen Zentrum von Georges Werk stehen.

5 Vgl. dazu Rudolf Henneböhl: Ovids Daedalus und Ikarus. Der Vater-Sohn-Konflikt im Zeitraffer. In: Anregung 40 (1994), S. 293–302, u. Peter Isépy: Ovids Dädalus und Ikarus in den Metamorphosen. ­Interpretation und didaktische Umsetzung. München 2008, S. 1–23. 6 Norbert Hummelt u. Klaus Siblewski: Wie Gedichte entstehen. München 2009, S. 19.



Die Fibel 

 9

George erklärt hier sein „demütige[s] Einverständnis mit der Unverfügbarkeit der himmlischen Gaben“7. Obwohl er quasi akzeptiert, dass sich das dichterische „Werk der Planbarkeit entzieht“, stellt er immer wieder „diese schwer begreifliche, aber deutlich fühlbare Gesetzmäßigkeit“8 in Frage. Ein korrespondierendes Thema ist nach Arbogast „das Erweckt- und Enttäuscht-Werden durch die Liebe“ (HA 36). So buchstabiert George in seinem Frühwerk das gesamte Alphabet der dichterischen Tradition mit Sujets wie vergebliche Liebe, Sehnsucht, Tod, Jahreszeiten oder Klage. Der Charakter der Fibel als eines Übungsbuchs dokumentiert sich darin, dass George sich hier in der Aneignung gängiger lyrischer Formen erprobt. So findet man Sonette (SW I, 13, 63), Balladen wie Die Najade, Der Blumenelf oder Seefahrt, narrative Legenden sowie Gedichte im Volkslied- und Gebetston. Außerdem übt der junge Dichter die gängigen metrischen und Strophenformen ein, etwa Ritornelle (SW I, 25, 28). Zugleich werden in den Gedichten viele rhetorische Mittel angewendet. Bloße Anverwandlung lässt die eigene Dichtung stagnieren und mehr als stilistische Fingerübung daherkommen. Goldsmith kritisiert „the lack of originality in these early poems“9. Tatsächlich dokumentieren etliche Gedichte der Fibel, dass George auf dieser frühen Entwicklungsstufe noch über kein eigenständiges Ausdruckssystem verfügte. So ahmt das Gedicht Die Najade noch sowohl in der Motivik, in der Wortwahl wie auch im leicht balladesken Tonfall sichtlich romantische Muster nach. Gleichzeitig weist es mit seinem Bild von den hingeschütteten Blumen auch bereits auf ein stehendes Motiv in Georges Lyrik voraus, das in bekannten Gedichten aus dem Algabal (SW II, 69), dem Jahr der Seele (SW IV, 60), dem Teppich des Lebens (SW V, 10) oder dem Siebenten Ring (SW VI/VII, 103) wiederkehren wird. Dieser Mangel an Originalität wird von Goldsmith und Arbogast auf fehlende Lebenserfahrung zurückgeführt. Dagegen erkennt Karlauf in den frühen Gedichten weniger Epigonalität als vielmehr „[d]ie sexuellen Verwirrungen der Pubertät, Scham, Ekel, Wut“, die „in allen Abstufungen thematisiert“ werden: „[k]ichernde Najaden, die den Jüngling ins Wasser locken, Sirenen, deren ‚heisses verderbliches sehnen‘ die Männer ins Unglück stürzt, Nymphen, in deren Kuss sich Verwesung mischt“ (TK 68). In den Geleitversen spricht der Dichter die Schwäche der frühen Gedichte selbst an. Im Rückblick moniert er das Fehlen der richtigen Worte. „[G]efügt“ erscheinen sie „wirr und schwach“ (SW I, 9), als „weisen dürftig und gewohn“. Den Grund dafür sieht er in der übermächtigen Tradition. Die „viele[n] fremde[n] töne“ verunsichern. Arbogast erkennt zu Recht, dass es sich hier nicht um „die Unfähigkeit des Dichters“ handelt, sondern um die „Unbrauchbarkeit der Mittel“ (HA 34).

7 Ebd., S. 24. 8 Ebd., S. 19. 9 Ulrich K. Goldsmith: Stefan George: A Study of his Early Work. Colorado 1959 (Series in Language and Literature 7), S. 18.

10 

 Jürgen Egyptien/Elke Kasper

Um 1890 dominierten in der Lyrik einerseits die Tradition der klassischen und romantischen Lieddichtung, die von Epigonen wie Geibel oder Bodenstedt auf einfallslose und technisch eher mangelhafte Weise fortgeführt wurde, und andererseits die rein stoffliche Öffnung des Gedichts für die neue soziale Wirklichkeit durch die Naturalisten, die ästhetisch das konventionelle Ausdruckssystem übernahmen. Den eigenen Ton zu finden, hieß daher für George, sich von den als unpoetisch empfundenen herrschenden Literaturcodes zu befreien.10 In den Gedichten der Fibel finden sich einige, die diesen Versuch wagen. Unter stilistischem Gesichtspunkt fallen Gedichte wie Der See und Gelbe Rose auf, die bereits in ihrem malerischen Charakter auf symbolistische Techniken vorausweisen. Als Akte der Befreiung von der Tradition wirken auch Gedichte wie Mir ist es wie Titanien ergangen und Sei stolzer als die prunkenden pfauen. In ihnen lehnt sich George zwar an seine unbestrittenen Ideale Shakespeare und Goethe an, doch die Kontrafaktur gerade des Goethe-Gedichts beweist, dass George nicht vor dem Olympier den Kotau macht. Sie kann als kreative Befreiung verstanden werden, in der das getriebene Ich endlich ein lyrisches11 werden will. Im Gedicht Mir ist es wie Titanien ergangen (SW I, 15) vergleicht das lyrische Ich die eigene Situation mit der Titanias aus Shakespeares Sommernachtstraum. Wie Titania wurde es Opfer eines „falsche[n] spuk[s]“. Der eselsköpfige Zettel symbolisiert die obsolete lyrische Tradition. Das lyrische Ich schämt sich seiner „torheit“ und bereits im übernächsten Gedicht mahnt die Vernunft: „du tor nun endlich wende / Dich ab von dem was dir den frieden raubt!“ (SW I, 17) Besonders radikal erscheint das Gedicht Sei stolzer als die prunkenden pfauen (SW I, 29), das Bezug auf Goethes Gedicht Das Göttliche (SW I, 114) nimmt. George wendet den Vers „Edel sei der Mensch, / Hülfreich und gut“ durch die anaphorische Wiederholung des Imperativs „Sei stolzer“, „Sei tückischer“, „Sei launischer“ in sein Gegenteil: „Nichts edel sei an dir und nichts gut“. Steht das Goethe’sche Gedicht nachdrücklich für einen „anthropomorphische[n] Gottesbegriff“12 und für ein Dichten auf „Gott-komm-raus“13, so übernimmt das lyrische Ich in Georges Gedicht den Part des advocatus diaboli und dichtet auf ‚Teufel-komm-raus‘. In Anlehnung an Goethe gelingt George in einer Geste des Unmuts, die „fragwürdigen Konventionen“ und damit die lyrische Konfektionsware abzustreifen. Denn „ungerührt“ in ihr weiterschreiben,

10 „Der Gewinn der ‚Fibel‘ ist daher nicht ein neuer Stil, sondern die Ausdruck gewordene Anstrengung, den alten zu überwinden; das Bedeutsame sind die Unstimmigkeiten im Gewohnten, die Dissonanzen zwischen Altem und Neuem, der Zusammenprall widerstreitender Tendenzen auf engstem Raum; das allerletzte Ergebnis ist das Bewußtsein der Sprachnot.“ (HA 44). 11 Vgl. dazu Franz Schuh: Goethe verstehen. In: www.zeit.de/2003/14/Goethe_verstehen [Stand 24. 4. 2016]. 12 Terence James Reed: Das Göttliche. In: Goethe Handbuch. Bd. 1: Gedichte. Hg. v. Regine Otto u. Bernd Witte. Stuttgart u. Weimar 1996, S. 202–205, hier S. 202. 13 Ebd., S. 203.



Die Fibel 

 11

kann „nur ein schlechter Autor“14. Sich zu diesen zu zählen, davon ist George weit entfernt, was der selbstbewusste letzte Vers des Ikarus deutlich macht: „Sankst du hinab – nun hilf dir Ikarus!“ (SW I, 41) Verblüffend ist übrigens die Koinzidenz, dass Goethe das Gedicht Das Göttliche am Vorabend seiner Italienischen Reise geschrieben hat, George sieht im Weggehen ebenfalls den Ausweg. Er verlässt Deutschland nach dem Abitur und übersetzt fremdsprachige Gedichte. Für ihn wie für Goethe gilt, dass sich eine „neue Sicht- und Dichtweise“ anbahnt. Beide Dichter stehen vor einer wichtigen Reise, die, wie Reed für Goethe ausführt, „den Dichter in so mancherlei Hinsicht sich selber zurückgeben“15 wird. Die beiden folgenden Zyklen Übertragungen und Von einer Reise können als zwei Seiten einer Medaille gelesen werden. Die Übertragungen aus dem Spanischen, Ita­ lienischen, Englischen und Norwegischen stellen eine Art mentaler Reise dar, und wie wichtig George selbst die Übertragungen für seine dichterische Lernzeit einschätzt, zeigt die Aufnahme der sieben Gedichte in die Fibel. Nach Oelmann gehört zu den Merkmalen George’schen Dichtens, dass der Transfer eines Fremden in die eigene Sprache […] immer wieder aufs Neue in Zeiten der Krise der Einübung neuer Stile und Töne [dient,] die dann dem Eigenen anverwandelt werden. Weniger sichtbar ist das noch im Falle der Übertragungen aus den Jahren 1886 bis 1888, hier wird vor allem Klang- und Reimtechnik geübt (SW I, 101).

Für Arbogast bilden die Übertragungen eine „sinnvolle Überleitung von der Eingeschränktheit und dem sich gleichbleibenden Gegenstand der ‚Fibel‘ zu der erweiterten Thematik des neuen Gedichtkreises.“ (HA 45) Nach Henne führt die Umdichtung George in die „eigene ‚Literatursprache‘“, sie sei ein Weg zur „eigene[n] Handschrift“16. Der Zyklus Von einer Reise enthält „Spiegelungen“ (HA 44) der Reisen nach England (vom Mai bis zum Oktober 1888), nach Montreux (Herbst 1888) und nach Oberitalien (Februar 1889). Welche Befreiung das Verlassen der Heimat bedeutete, wird im Einleitungsgedicht Die Glocken deutlich. Waren die Glocken in Bingen noch Zeugen einer bedrückenden Glaubenskrise (SW I, 120), die die zentrale mittlere Strophe thematisiert, verbindet diese jetzt als Achse die erste und dritte Strophe, die beide in ihrem Tenor positiv gestimmt sind. In der ersten Strophe erzeugt das Läuten der Glocken eine „sondere freude“ (SW I, 55). Es weckt als akustisches Signal Reminiszenzen an „bekannte stimmen“, die „[w]underbar ineinander zu schwimmen“ scheinen. Dieser Gleichklang erinnert daran, dass Glocken im Christentum als Sinnbild der Harmo-

14 Rolf Grimminger: Der Sturz der alten Ideale. Sprachkrise und Sprachkritik um die Jahrhundertwende. In: Funkkolleg. Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Studienbrief 3. Tübingen 1993, S. 8. 15 Terence James Reed: Das Göttliche (Anm. 12), S. 205. 16 Helmut Henne: Sprachliche Spur der Moderne. In Gedichten um 1900: Nietzsche, Holz, George, Rilke, Morgenstern. Berlin u. New York 2010 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 137), S. 67.

12 

 Jürgen Egyptien/Elke Kasper

nie gelten. In der dritten Strophe fürchtet das gereifte lyrische Ich den „schall“ der Glocken nicht länger. Ihre letzten beiden Verse lauten „Ich höre nichts aus euren tönen / Als hoffen vergessen versöhnen“. Die Hoffnung als innere Zuversicht gehört zu den drei christlichen Tugenden. Das letzte Wort des Verses „versöhnen“ nimmt die spirituelle Kraft des Glockenläutens auf. Ihr Geläut soll die Fähigkeit haben, Himmel und Erde, also Getrenntes, miteinander zu verbinden. Das Wort „vergessen“ kann bedeutungsgleich mit ‚verzeihen‘ oder ‚vergeben‘ verstanden werden. Es verweist aber auch zurück auf die zweite Strophe. Das lyrische Ich besitzt jetzt die mentale Stärke, die verstörende Situation des Zweifelns und der Schwäche hinter sich zu lassen. Das Gedicht Die Schmiede (SW  I, 58) nimmt das gleiche Thema profaniert auf. Hier sind es die Arbeitsgeräusche des „hauen und hämmern“, die das lyrische Ich an eine ungeliebte Vergangenheit – Morwitz nennt als konkreten biografischen Anlass die Darmstädter Schulzeit (EM II, 92) – erinnern, in der der Schmied „einen neuen nagel […] [i]n das zwangskleid der seele“ schlägt. Die bedrückende Situation ist überwunden. In der Freiheit mahnt der Lärm „nicht mehr an die finstere zeit“. Es ist „derselbe ton“, aber die affektive Stilfigur der exclamatio zeigt den Grund für den Wahrnehmungswandel: „[…] zeit und ort sind verändert!“ Den Glaubensaspekt greift das Gedicht Seefahrt auf. Das Gedicht erinnert an das Markus-Evangelium, als Jesus am Abend ein Boot besteigt. Während der Fahrt über den See Genezareth beherrscht er den Sturm und stellt seinen ängstlichen Jüngern die zentrale Frage: „Habt ihr noch keinen Glauben?“ (Mk 4, 40). Auch die im Gedicht beschriebene Fahrt über den See ist bedrohlich. Es ist ein Winterabend, an dem der Schnee „[i]n dicken flocken flog“ (SW I, 60) und „nebel verhüllten rings das land“. See und Himmel sind gleichermaßen dunkel. Einzig der Klang der Ave-Glocken deutet in dieser verwaisten Gegend auf andere Menschen hin. Es sind „mütter“, die den „rosenkranz“ beten und von den jungen Männern verlacht werden. Das lyrische Ich selbst „verlezt ihr spottend wort“, denn im Gespräch mit Ernst Robert Curtius definiert George den „echte[n] Katholizismus“ als „etwas Ehrwürdiges, Reines und Richtiges“, von dem er sich allerdings in seinem achtzehnten Lebensjahr entfernt habe.17 Übersetzungen besonderer Art leiten den Gedichtzyklus Zeichnungen in Grau ein. Die Gedichte wurden ursprünglich „in einer vom Dichter eigens hierfür ersonnenen Sprache“ (EM II, 95) verfasst und für die Fibel ins Deutsche übertragen. Als George nach seiner Reifeprüfung (im März) im Mai 1888 auf ausgedehnte Reisen durch Europa geht, entwickelt er seine dritte Geheimsprache, die er lingua romana nennt. Der Name dürfte sich an die Bezeichnung lingua franca anlehnen. So hieß die aus vorwiegend italienischen und arabischen Bestandteilen zusammengewachsene Verkehrssprache des Mittelmeerraums, die sich im Mittelalter herausgebildet hatte. Die Entstehung dieser lingua romana scheint mit einer Art Sprachkrise Georges

17 Ernst Robert Curtius: Stefan George im Gespräch. In: Ders.: Kritische Essays zur europäischen Literatur. Frankfurt/M. 1984, S. 138–157, hier S. 156  f.



Die Fibel 

 13

verknüpft gewesen zu sein. In einem Brief an den ehemaligen Schulfreund Arthur Stahl vom 2. Januar 1890 klagt George jedenfalls darüber, dass er schon seit Monaten nichts mehr geschrieben habe, weil er nicht weiß, in welcher Sprache er schrei­ben soll. Das Deutsche zieht er erst gar nicht in Betracht. Es heißt in diesem Brief: Jetzt noch ein geständnis das mir schwer wird niederzuschreiben: Der gedanke, der mich von jugend auf geplagt und heimgesucht hat, der in gewissen perioden sich wieder und wieder aufdrängte hat mich seit kurzem wieder erpackt: Ich meine der gedanke aus klarem romanischem material eine eben so klingende wie leicht verständliche literatur sprache für meinen eigenen bedarf selbst zu verfassen. […] Ich ahne, diese idee wird entweder bei mir verschwinden oder mich zum märtyrer machen. (Zitiert nach RB II, 38)

Georges Selbstdarstellung lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Drang, eine künstliche Sprache zu schaffen, keineswegs aus einem spielerischen Antrieb erfolgte, sondern zwanghafte, quälende Züge hatte. Die Alternative, die er am Ende seines Briefes andeutet, entweder diese Idee zu überwinden oder an ihr zum Märtyrer zu werden, schließt durchaus die Möglichkeit einer katastrophalen Zuspitzung der Krise mit ein. Trotz des Risikos, das der Gebrauch einer künstlichen Sprache in sich birgt, legt der Beginn dieses Briefes an Arthur Stahl bereits Zeugnis von Georges Entscheidung dafür ab. Er ist in der lingua romana abgefasst und verrät das Bemühen, aus spanischen, italienischen und französischen Anleihen eine klangvoll tönende Sprache zu destillieren. („Amico de meo cor! El tono elegico con que parlas en tua letra de nostra corespondencia longamente interrompida“, RB II, 37.) Die Ähnlichkeiten zum Vokabular der romanischen Sprachen erlaubt es, diese Sätze ohne große Schwierigkeit zu verstehen.18 Die Bedeutung dieser Sprache liegt in der Verdeutlichung einer Sprachkrise Georges. Auffällig ist, dass sich diese Sprachkrise mit einer Distanzierung von der Wirklichkeit verbindet oder genauer gesagt: aus der Distanzierung von der Wirklichkeit und ihrer sprachlichen Verfasstheit erwachsend zum Medium der Weltflucht in ‚künstliche Paradiese‘ wird. Der spezifische Klangcharakter der lingua romana hat zudem einen biografischen Aspekt, der auf Georges weltflüchtigen Eskapismus in dieser Phase aufmerksam macht. Im Wortmaterial dieser Sprache scheinen die Anklänge an das Spanische zu dominieren. George hatte Spanien im Sommer 1889 besucht und war von der Landschaft, der historischen Architektur und besonders der Sprache sehr beeindruckt. Er verspürte beinahe so etwas wie eine Wahlverwandtschaft und glaubte, in eine längst entschwundene Heimat zurückzukehren. Die Bedeutung, die Spanien und das Spanische für George dadurch erlangten, nahm noch durch die enge Freundschaft mit drei Mexikanern zu, die George im Sommer 1889 in Paris kennen gelernt und zufällig im Herbst desselben Jahres in Berlin wieder

18 Vgl. zur lingua romana und allgemein zu Georges ‚Poetik der Mehrsprachigkeit‘: Giulia Radaelli: Stefan Georges lingua romana und „das dichten in fremdem sprachstoff“. In: GJb 11 (2016/2017), S. 59-87.

14 

 Jürgen Egyptien/Elke Kasper

getroffen hatte. In dieser Situation wurde Mexiko ihm zum Idealbild einer neuen Wirklichkeit, einer Art Gegenwelt (MD 38). Er trug sich sogar mit Auswanderungsplänen nach Mexiko. Es ist bezeichnend, dass das Bild Mexikos, das ihn lockte, keineswegs der geschichtlichen Situation Mexikos entsprach, sondern eher ein bloßes Negativ der von ihm als bedrückend empfundenen Zustände in Deutschland bildete. Mexiko trat gewissermaßen als diesseitiges Phantasma an die Stelle des Kalifentums Amhara in der ersten und des ‚schilfpalastes‘ in der zweiten Phase seiner sprachvermittelten utopischen Weltflucht. Die Entscheidung Georges, die zuerst in der lingua romana geschriebenen Gedichte in deutscher Sprache in die Fibel aufzunehmen, scheint ein Bekenntnis zur Muttersprache zu implizieren. Morwitz wehrt sich dagegen, die Zeichnungen in Grau als Grisaillen zu verstehen. Er sieht sie als „Zeichnungen mit Silberstift oder Kreide auf grau getöntem Papier“ (EM  II, 95). Jedoch scheint das Gedicht Wechsel gerade die Bedeutung des Graus als Farbreiz hervorzuheben. In dieser Grauzone findet sich das noch nicht Definierte. Die Personifikation der Sprache als Frau, der das lyrische Ich nahekommt, fasst wie im Zeitraffer Georges Verhältnis zur Muttersprache zusammen. „Ich sah sie zum erstenmal .. sie gefiel mir nicht: / Es ist an ihr nichts schönes“ (SW I, 77). Doch nach Phasen der behutsamen Annäherung gibt es letztendlich nichts mehr, was nicht gefällt. Im Medium der Übertragung, ganz gleich, ob aus realen oder künstlichen Sprachen, hat sich Georges Dilemma gelöst. Er entscheidet sich, in der deutschen Sprache zu dichten. Den Abschluss des Gedichtbands bildet der Zyklus Legenden, der aus den drei Langgedichten Erkenntnis, Frühlingswende und Der Schüler besteht, „von denen jede[s] sechs bis neun verschiedenartig gebaute Strophen mit einer wechselnden Zahl reimloser Verse enthält“ (EM II, 99). Morwitz datiert alle drei Legenden auf 1889 und ordnet die in den drei Legenden beschriebenen Adoleszenzphasen verschiedenen Kulturepochen zu. Legenda bedeutet ‚die zu lesenden Texte‘. Sie berichten vom Leben und Wirken Heiliger,19 können aber auch „in einem weiteren, auch nichtchristliche oder profane Legenden umfassenden Sinn verstanden werden“20. Der Form nach ist die profane Legende der Vita vergleichbar, in deren Zentrum ein außergewöhnlicher Mensch steht, „während der Protagonist einer Legende v.  a. als exemplarische Projektionsfläche bestimmter Ideen fungiert“21. Frühlingswende zählt zu den Gedichten, die Georges Neigung erkennen lassen, den Übergang von einer Lebensstufe zu einer höheren in die Form der rituellen Initiation zu kleiden.22 Ort, Atmosphäre, Einkleidung und 19 Dieter Burdorf: Legende. In: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender u. Burkhard Moennighoff. Stuttgart u. Weimar 2007, S. 424. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 425. 22 Diese Thematik soll in der folgenden Interpretation der Legende Der Schüler ausführlich entfaltet werden.

Die Fibel 



 15

Opferhandlung dieser ‚Legende‘ verleihen ihr den ersten Platz in einer langen Reihe von Gedichten, die diese Thematik entfalten und in der Aufnahme in den Orden auch eine szenische Ausgestaltung gefunden haben. Der Text steht zudem mit dem Beginn seiner letzten Strophe in engem Zusammenhang mit Weihe aus den Hymnen und dem ersten Unterreich-Gedicht aus dem Algabal: Er springt die schattige böschung hinunter Zum lieben orte wo er nur herr ist. Er rastet auf niedergeschlagenen ästen Die hohlen rohre kunstvoll er schneidet[.] (SW I, 90)

Dies erinnert zum einen an das „Hinaus zum strom! wo stolz die hohen rohre / im linden winde ihre fahnen schwingen“ (SW II, 10), aber auch an den ‚Schilfpalast‘ der Ursprünge (SW VI/VII, 117), zum anderen an die Zeile „Wo ausser dem seinen kein wille schaltet“ (SW II, 60).

Interpretation der Legende Der Schüler (SW I, 91–93) In der Forschungsliteratur wird Der Schüler als autobiografischer Text gelesen. Mit dem Titel des letzten Gedichts knüpft George noch einmal an den Titel des Lyrikbands an. Erstaunlich ist, wie genau Der Schüler die in der Entwicklungspsychologie benannten Phasen der körperlichen und psychosozialen Reifung aufzeigt. Der Schüler durchläuft während der Adoleszenz eine normative und individuelle Krise, die als Subtext den gesamten Gedichtband durchzieht. Der Schüler Dass ich nun bald den höheren grad erringe Versprechen mir die väter die mich lieben Ja ehren und zu manchem rate ziehn. Mir öffnen sich gemach und hof und garten Sowie der dichten schriften nachtgewölbe Die sich den Einfach-Frommen nie erschliessen. Fast bin ich herr wenn auch im zöglingskleid .. Und stolzen pochens hört ich längst das raunen Der beiden Ältesten: dass ich dereinst Die zierde sei der ganzen bruderschaft.

16 

 Jürgen Egyptien/Elke Kasper

Sehr selbstbewusst erscheint der Schüler in der ersten Strophe „Fast bin ich herr wenn auch im zöglingskleid“. Sein Selbstwertgefühl resultiert aus dem Zusammenspiel von eigener Kompetenz und gesellschaftlicher Akzeptanz: Dass ich nun bald den höheren grad erringe Versprechen mir die väter die mich lieben Ja ehren und zu manchem rate ziehn.

Ein besonderes Phänomen der Adoleszenzphase ist gleichzeitig ein übersteigertes Selbstbewusstsein, das ebenfalls in dieser Strophe zum Ausdruck kommt. Das lyrische Ich sieht sich als zukünftige „zierde […] der ganzen bruderschaft“, was stolzes Herzklopfen erzeugt und es zum Ausnahmemenschen stilisiert, der sich von den „Einfach-Frommen“ unterscheidet. In dieser Strophe kann die narzisstische Selbstüberschätzung durchaus positiv gelesen werden. Die Entwicklungspsychologie1 setzt voraus, dass der Jugendliche ein über sein momentan fremdbestimmtes Leben hinausweisendes Selbstkonzept braucht, um eigene Ansprüche an seine Zukunft formulieren zu können. Der Verzicht auf dieses Konzept bedeutete den Verlust des Prinzips Hoffnung und hätte eine fehlende Selbstakzeptanz zur Folge. Dies ist das zentrale Thema der ersten Legende, die treffend den Titel Erkenntnis trägt. Sie endet nach einer Phase der Selbstüberschätzung, die mit starker Kränkbarkeit und Aggression einhergeht, voll Selbstverachtung in einer Umkehrung des Narziss-Mythos, der als Metapher der gleichzeitigen Abwertung und Idealisierung dient. Statt einer Quelle wirft ein vom Gewitter und Sturm aufgewühlter Gebirgsbach „hässlich mein bild“ (SW I, 86) zurück und kündigt die „verdammnis“ des lyrischen Ich an. Die zweite Strophe des Gedichts Der Schüler beschreibt ein stark reglementiertes, asketisches Dasein, das mit dem Vers „Fern von der menschen sündigem eitlem streben“ das ‚normale‘ Leben moralisch abwertet. Der Schüler wendet hier den Blick aus der Gegenwart und auf eine zukünftige Karriere in den Geleisen der Väter auf seine Ausbildung in der Vergangenheit: In düstren hallen flossen meine tage Bei frommer übung .. und in schwerem sinnen Auf manches dunklen Weisen blatt gebeugt Entschwanden mir die nächte .. unterbrochen Nur hie und da vom lauten festes-chor. Mir klar erschienen alle dinge droben Und hier von einst und jezt mit jener klarheit Wie sie die lehre bringt .. mir ward zum lohn Fern von der menschen sündigem eitlem streben

1 Vgl. zu allen Aspekten der Entwicklungspsychologie: Psychiatrie und Psychotherapie des Kindesund Jugendalters. 2., vollst. überarb. u. aktualisierte Aufl. Hg. v. Jörg M. Fegert, Christian Eggers u. Franz Resch. Berlin, Heidelberg, New York 2012.

Die Fibel 



 17

Die friedlichkeit der frommen wo allein Der zweifel blieb: wie solche helle leuchte Nicht alle sterblichen durchdringen müsse.

Die Maxime des ora et labora denunziert den Müßiggang als aller Laster Anfang. Die asketische Lebensweise diszipliniert das Denken und die Triebe. Trotzdem kann selbst das mönchische Leben den „zweifel“ nicht gänzlich tilgen und der Jugendliche fragt nach der Ursache, warum nicht „alle sterblichen“ frei von „sündigem eitlem streben“ sind. Die Antwort wird in der dritten Strophe gegeben. Es ist die Erfahrung der Sexua­ lität, deren Entwicklung die Crux der Pubertät bildet, und die der Philosoph Walter Schubart zusammen mit der Religion als eine der beiden stärksten Lebensmächte bezeichnet.2 Was bringt nun diese wandlung? doch nicht einzig Mein schweifen in den unbetretenen erkern Wo ich bei manchem seltsamen gerät Den spiegel glänzenden metalls entdeckt Vor dem ich meines eigenen leibs geheimnis Und anderer zuerst bedenken lernte. Auch wäre frevel länger noch zu glauben Dass jenes blonde kind der jüngste schüler Das oft mich mit den grossen augen sucht So gänzlich meinen sinn erschüttern könne.

Zwei wichtige Entwicklungspunkte werden in dieser Strophe benannt. Einmal die Entdeckung und die Betrachtung des eigenen Geschlechts, zum anderen die Entdeckung des erotischen Gegenübers.3 Das lyrische Ich sucht die Einsamkeit und entzieht sich damit der sozialen Überwachung. Der Spiegel ermöglicht die Selbstbetrachtung – wie bereits zuvor im Narziss-Mythos – und Selbsterkenntnis. C. G. Jung interpretiert den Spiegel als Ort der Begegnung mit sich selbst, in dem bisher unbewusste Aspekte der Persönlichkeit, die sogenannten Schattenaspekte, wahrgenommen werden. Das narzisstische Verhalten wird in den Versen „Vor dem ich meines eigenen leibs geheimnis / Und anderer zuerst bedenken lernte“ dadurch geschwächt, dass mit dem „jüngste[n] schüler“ ein Gegenüber auftritt. Mit dessen „grossen augen“ tritt ein zweiter Spiegel in das Gedicht. Seit Hildegard von Bingen gilt das Auge als Spiegel der Seele und als wichtiges Kommunikationsorgan von Liebenden, was an Goethes Gedicht Warum gabst du uns die Tiefen Blicke erinnert. Zwar hat das „blonde kind“ den „sinn“ des lyrischen Ich „erschüttern“ können, aber ebenso wie im Gedicht Erkenntnis, in dem die Liebesnacht mit einer Frau zu einem verstörenden Erlebnis wird, wendet sich das 2 Vgl. Walter Schubart: Religion und Eros. Hg. v. Friedrich Seifert. München 2001 (Beck’sche Reihe 400), S. 7. 3 Vgl. zum Folgenden: http://www.symbolonline.de/index.php?title=Spiegel [Stand 13. 12. 2015].

18 

 Jürgen Egyptien/Elke Kasper

Ich ab. Es sind gerade die Legenden, für die Friedrich Gundolfs Charakterisierung der Fibel als „Kampf zwischen Weihe und Leidenschaft“ (FG1, 247) besonders zutrifft. Dann kam die reise .. welch ein wink der fügung! Nur selten merkte ich in meiner zelle Der wandel der gestirne und der jahre Und ob ich gleich durch unsre gärten ging Ich gab nicht acht auf blühen und auf welken .. Ein tiefer freund des denkens fühlt das kaum. Doch dort in andrer luft in andrem land Entdeckt ich als ein andres fluss und flur. Ich sah die hellen und die bleichen himmel Die wälder gaukelten mir bilder vor Und aus dem duft der morgendlichen wiesen Aus ferne winkenden gekrönten mauern Und aus der menschen schritten und gebaren Und ihrer sänge rätselvollem sehnen Erhoben sich mir unbekannte welten.

Doch nicht Liebe beziehungsweise sexuelles Begehren verändern das Leben, sondern eine Reise hebt es aus den gewohnten Angeln. Die vierte Strophe, die die Achse des Gedichts bildet, reflektiert noch einmal in den Versen zwei bis fünf die Bedeutung von Einsamkeit und intellektueller Arbeit. Das Leben stand ganz im Zeichen der Askese, die als Medium der Selbstkontrolle und der Charakterfestigung dient. Auffallend ist auch die intellektuelle Gleichgültigkeit gegenüber dem ‚natürlichen‘ Leben. Dessen Ablauf wird lediglich mit den Vergänglichkeitsmetaphern „wandel der gestirne“, „blühen“ und „welken“ erfasst und interessiert den „tiefe[n] freund des denkens“ nicht. In der Unterdrückung und Nichtachtung der Naturkräfte erscheint das lyrische Ich gefestigt und sich seiner Identität gewiss. Die Reise in ein fremdes Land zeigt, dass die bisherige Identität eine nur übernommene, eine fremdbestimmte war. Das lyrische Ich ändert „in andrem land“ den Blick auf Dinge und Menschen. Die Natur verzaubert und offenbart bislang verschmähte Schönheit. Gleichzeitig verleihen „der menschen schritte[] und gebaren“ ihnen einen neuen Stellenwert. Besonders deren ,Sänge rätselvollen Sehnens‘ eröffnen einen neuen Horizont, den das lyrische Ich euphorisch als „unbekannte welten“ herausstellt. Die Reise wird zu einer Grenzüberschreitung mit dem Stellenwert einer Initiation, wie sie Hans Peter Duerr in Traumzeit beschreibt. Das fantastische Fremde untergräbt die bekannte und bislang akzeptierte Lebensform.4 Sie verliert ihre Selbstverständlichkeit und das intellektuelle Ich seine kalte Überheblichkeit und es ver­ wandelt sich in ein fühlendes und erlebendes.

4 Vgl. dazu Hans Peter Duerr: Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. Frankfurt/M. 1978.

Die Fibel 



 19

Die drohende Rückkehr löst eine adoleszente Krise so „schmerzlich dass ich selbst mich nicht mehr kannte“ aus. Für die Entwicklungspsychologie ist die Ausbildung der eigenen Identität eine fundamentale Herausforderung. Im Gedicht überfällt den Jugendlichen „wilde angst“, dass sein bisheriges Leben unter falschen Vorzeichen gestanden haben könnte, dass er bislang mit „verbundnen augen“ durch das Leben gegangen sei und „die feste welt der lehrer“ eine viel zu eingeschränkte war. Noch in der ersten Strophe erschien ein lyrisches Ich, das mit sich identisch war, da es seine soziale Umgebung und deren Werte fraglos akzeptierte und so auch gleichermaßen akzeptiert war. In dieser Strophe ist die Kohärenz zwischen Individuum und sozialem Verband zerstört. Dass die Welt des Ich in ihren Grundfesten erschüttert wurde, kommt in dem Vers „Es gäbe glück von dem kein wissen redet“ vehement zum Ausdruck: Und als der neue mond die rückkehr heischte Befiel mich eine wilde angst: ich wäre Gegangen nur wie mit verbundnen augen .. Es gäbe glück von dem kein wissen redet Und enge sei die feste welt der lehrer. Ich schlürfte trunken jeden laut von aussen Ich fühlte innres rasen .. meine glieder Als drängten sie zu neuen diensten bebten Und schauerten .. es drang in mich ein hauch Und wuchs zu solchem brausen so gewaltig Und schmerzlich dass ich selbst mich nicht mehr kannte.

Trotzdem suggeriert der Beginn der nächsten Strophe zunächst, dass die eingeübten Mechanismen „mit fasten und gebeten“ wieder greifen. In der Retrospektive erscheint die neue Welterfahrung sogar als eine Art Krankheit, von der das lyrische Ich zu genesen hofft. Zur Interpretation dieser Verse kann einmal mehr die Entwicklungspsychologie hinzugezogen werden. Identitätserwerb erfolgt durch positive emotionale Identifikation als ein Akt des Nacheiferns. Dass jedoch für das lyrische Ich dieser identifikatorische Prozess an sein Ende gelangt ist, zeigt der Vers „Nichts mehr ist hier mir wert – auch nicht dies kleid“. Die Inhalte sind verlorengegangen. Die Adoleszenzkrise erscheint unter dem Deckmantel einer depressiven Phase, die sich in Resignation („Ich folge stumpf den täglichen gebräuchen“) und Rückzug („Von denen ich mich täglich mehr entfernte“) äußert:5 Ich kehrte heim und hoffte zu genesen In dem gewohnten leben .. rief mir freuden Erhebungen und pflichten alle vor. Auch dachte ich mit fasten und gebeten

5 Vgl. Ulrich Hegerl, David Althaus u. Holger Reiners: Das Rätsel Depression. Eine Krankheit wird entschlüsselt. 2. Aufl. München 2005.

20 

 Jürgen Egyptien/Elke Kasper

Zu bannen was vielleicht versuchung war .. Mit doppelter ergebung alle freuend Von denen ich mich täglich mehr entfernte. Mein widerstand bleibt schwach und ohne hilfe Nichts mehr ist hier mir wert – auch nicht dies kleid. Ich folge stumpf den täglichen gebräuchen Und harre nur der stunde wo ich einsam Befreit von allen blicken durch den abend Der blauen ferne meine seufzer sende.

Die zur Depression gehörige Einsamkeit wird aber in diesem Gedicht positiv gewendet, sie wird zum produktiven Ort des Sich-selbst-Wahrnehmens und der Reflexion. Diesen fundamentalen Prozess der Selbstfindung bezeichnet C. G. Jung als Indivi­duation. Sie impliziert den Mut, einsame Entscheidungen zu treffen, sich bedrohlichen Gefühlen auszusetzen und eine eigene, innere Leere aushalten zu können.6 Die Krise stellt alle bisherigen Ziele und Normen radikal in Frage und sucht eine Befreiung aus den lähmenden Denkroutinen („Doch es treibt mich auf / Der alten toten weisheit zu entraten“). Nach Längle7 bildet sich das Selbst in Auseinandersetzung mit der Gemeinschaft. Doch das lyrische Ich ist stark und selbstbewusst. Wie im Ikarus-Gedicht gibt es nicht auf, sondern formuliert noch einmal den Imperativ „nun hilf dir Ikarus“. Es entscheidet sich für einen harten Schnitt. Die Zäsur manifestiert sich im erneuten Wechsel des Tempus ab dem Vers „Mein widerstand bleibt schwach und ohne hilfe“. Der Beginn der letzten Strophe markiert den Zeitpunkt der Wende als Entschluss an der Schwelle zum neuen Tag: „Morgen im frührot lass ich diese stätte.“ Die Zeit der Lehrer und Vorbilder ist zu Ende: Der Schüler ist kein Schüler mehr. Er verlässt ohne ein Wort, ohne das nächste Ziel zu kennen, die bisherige Wirkungsstätte. Die Selbstwerdung ist nach Längle dann geglückt, wenn es eine innere Zustimmung zu dem gibt, was man tut, wenn man sein Leben riskiert und so den Zustand der inneren Zerrissenheit überwindet. Morgen im frührot lass ich diese stätte. Kein wort wird mich entschulden .. von den vätern Ist keiner mir gewiss der es begriffe. Sie hatten meinen dank solang ich weilte. Ich weiss nicht ganz was mich auf einmal so Von ihnen und den früheren freunden trennt Noch welchem nächsten ziel ich mich ergebe. Ich weiss nur dass ich einen ort des friedens Verlasse und vielleicht jezt vielen leiden Entgegengehe … Doch es treibt mich auf

6 Vgl. Peter Maier: Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Bd. 1: Übergangs­rituale. Münster 2011, S. 176. 7 Vgl. Alfried Längle: Die grandiose Einsamkeit. Narzißmus als anthropologisch-existentielles Phänomen. In: Existenzanalyse 19 (2002), H. 2/3, S. 12–24, hier S. 15.

Die Fibel 



 21

Der alten toten weisheit zu entraten Bis ich die lebende erkannt: der leiber Der blumen und der wolken und der wellen.

Helmut Prang erkennt in den letzten vier Versen des Gedichts „charakteristische Leitmotive“, „die das gesamte Werk Stefan Georges durchziehen.“8 Er sieht in diesen Versen die Aufhebung der Spaltung von Geist und Körper: Leib und Seele stellen also keine Gespaltenheit oder gar gegensätzliche, sich ausschliessende Wesenheiten dar, sondern sind vom Dichter gesehen ein sich gegenseitig bedingendes Ineins. Daher ist auch an den Leibern die lebendige Weisheit zu erfahren, nach der sich der Schüler der frühen Legende sehnt.9

Die Stigmatisierung des Körpers und des weltlichen Lebens als sündhaft wird aufgehoben. Der Übertritt in die ‚lebende weisheit‘ der Leiber, Blumen, Wolken und Wellen muss zugleich als Sprengung einer weltflüchtigen klösterlichen Existenz gesehen werden. Denn es ist wohl zu vermuten, dass die Lehranstalt ein Kloster, der Schüler mithin ein Klosterschüler ist, nicht zuletzt die bestürzende Beobachtung vom Wertverlust des ‚Kleids‘ deutet darauf hin. Der Aufbruch in die Welt der sinnlichen Erfahrung („leiber“) ist zudem als eine Spätfolge der in Strophe drei geschilderten ‚Wandlung‘ zu sehen. Versteht man sie als Entdeckung des inneren Feuers der Triebe, so geht das Ich am Ende einer Art Taufe in den Elementen entgegen: den Blumen der Erde, den Wolken des Himmels, den Wellen des Wassers. Entwicklungspsychologisch würde dies das gelungene Erwachsenwerden bedeuten. Der junge Erwachsene handelt selbstbestimmt. Entschuldigung oder Dankesabtrag sind nicht erforderlich, denn solange das Kind unter den Fittichen der Väter war, hat es die erwartete Leistung erbracht. Die Zukunft ist ungewiss, das lyrische Ich verlässt einen „ort des friedens“, um dem Leben in all seinen Facetten zu begegnen. Auch Morwitz erkennt in den drei Legenden eine entwicklungspsychologische Reflexion: Die Verlegung der Vorgänge in vergangene Zeiten erlaubt dem Dichter, unumwunden und scheinbar unpersönlich vom eignen inneren Zustand und dessen altersbedingten Wandlungen zu sprechen, ist also keine poetische Verbrämung, gestattet vielmehr Präzisierung der Mitteilungen, ohne dass das in der Jugend besonders ausgeprägte und empfindliche Schamgefühl sich behindernd geltend macht. (EM II, 104)

Sieht Prang „charakteristische Leitmotive“, so weist Morwitz auf „bedeutsame Veränderungen des Stils. […] Der neue Stil des Sagens klingt klar und selbstverständlich, und damit ist der Übergang vom letzten der Juvenilia zu den ‚Hymnen‘ als dem

8 Helmut Prang: Doch es treibt mich auf. In: CP 7 (1957/1958), H. 34, S. 13–18, hier S. 13. 9 Ebd.

22 

 Jürgen Egyptien/Elke Kasper

ersten Werk einer neuen Kunst geschaffen.“ (EM II, 104) Auch für Arbogast gehört die dritte Legende einer anderen Stilschicht an. Er sieht sie als endgültige Befreiung von der „Epigonensprache“ (HA 54) und interpretiert den Abschied von den Vätern als Abschied von „der Vorstellungs- und Formenwelt der Epigonen“ (HA 54).

Franziska Merklin

Hymnen

Zur Entstehungsgeschichte Mit dem neuen, hohen Ton der Hymnen, des ersten, achtzehn Gedichte umfassenden Bandes, mit dem der 22-jährige George 1890 als Dichter an die Öffentlichkeit trat, beginnt Friedrich Wolters zufolge das Werk Georges (BG  23). In Wirklichkeit hatte George jedoch bereits als Gymnasiast zu dichten begonnen und sich in einer scharfen Reaktion von der ihm konventionell und museal erscheinenden Formenwelt der deutschen Dichtung seiner Zeit abgewandt: Weder die Werke der großen deutschen Erzähler des Realismus noch „ein im Epigonentum erstarrter Traditionalismus“1 oder die sich gegen Ende des Jahrhunderts bahnbrechende Bewegung des Naturalismus vermochten seinem Anspruch an das „NEUE“2 zu genügen. Um der „Not zu entgehen, die aus der Unüberwindlichkeit des Alten und aus den Ansprüchen des Dichters an sich selbst resultiert[e], entschl[oss] sich George zunächst, das sinnliche Substrat seiner Lyrik zu erweitern“ (HA 44). Bald nach dem Abitur zog es ihn 1888 ins Ausland: Vom Mai bis zum Oktober 1888 hielt er sich in England und im Herbst 1888 im Schweizer Montreux auf, im Februar 1889 bereiste er Oberitalien, kam im März 1889 nach Paris und reiste von dort im August weiter nach Spanien (RB I, 34). George hoffte, auf diesen Reisen im Austausch mit den europäischen Avantgarden Anregungen für seine eigene dichterische Entwicklung zu finden. Ihn plagte der Zweifel, „ob ein Dichten in deutscher Sprache überhaupt noch möglich sei“3. Der Schritt vom „tastenden zum entschiedenen Dichter“ und damit die „bedeutendste[] Verwandlung, die George jemals erfuhr“4, ereignete sich im Sommer  1889 in Paris. Die französische Hauptstadt, „in der man enthusiasmiert war für Dichtung“ (EL 76), sollte für die kommenden Jahre eine Art zweite Heimat für George werden, in die er jeden Sommer für ein paar Wochen zurückkehrte. In Paris lernte George 1889 das Werk Charles Baudelaires und die Dichter des Symbolismus kennen, „die Paul Verlaine und Stéphane Mallarmé zu ihren Meistern erkoren hatten“5. Als Mentor fungierte der in Toulouse geborene

1 Stefan George 1868–1968. Der Dichter und sein Kreis. Hg. v. Bernhard Zeller. München 1968, S. 11. 2 Vgl. Georges Brief an Arthur Stahl vom 22. November 1890 in RB II, 28. 3 Ebd., S. 27. 4 Bernhard Böschenstein: Magie in dürftiger Zeit. Stefan George: Jünger – Dichter – Entdecker. In: Ders.: Von Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan. München 2006, S. 93– 105, hier S. 93. 5 Albert Saint-Paul zu Georges sechzigstem Geburtstag. In: Neue Zürcher Zeitung, 8. Juli 1928 (Übersetzung), zitiert nach: Stefan George. 1868–1968 (wie Anm. 1), S. 47. Vgl. zum Einfluss der drei französischen Dichter auf das Werk Stefan Georges Freya Hobohm: Die Bedeutung französischer Dichter in Werk und Weltbild Stefan Georges (Baudelaire, Verlaine, Mallarmé). Marburg a.d. Lahn 1931.

24 

 Franziska Merklin

Dichter Albert Saint-Paul, der in Paris in derselben Pension wie George abgestiegen war und den jungen Deutschen, der sich zum Dichter berufen fühlte, aber noch keine dichterische Veröffentlichung vorzuweisen hatte, unter seine Fittiche nahm: SaintPaul las mit George allabendlich die Werke lebender und der Vergangenheit angehörender französischer Dichter, führte ihn durch den Louvre und in die berühmten Dienstagabendgesellschaften Mallarmés ein.6 Die französischen Freunde ermunterten George, der zu dieser Zeit noch keinen vergleichbaren deutschen Freundeskreis hatte, dazu, die Dichtungsmaximen des Symbolismus in Deutschland bekannt zu machen und erkannten im Dichter der eineinhalb Jahre später erscheinenden Hymnen einen Gleichgesinnten. Deren Lektüre veranlasste Mallarmé zu einem brieflichen Lob, das George mit Stolz erfüllt haben wird: „J’ai été ravi par le jet ingénu et fier, en de l’éclat et la rêverie, de ces Hymnes (nul titre qui soit plus beau); mais aussi, mon cher exilé (je dirai presque, oui) que vous soyez par votre main d’œuvre, si fine et rare, un des nôtres et d’aujourd’hui.“7 Diesem Urteil schloss sich Hugo von Hofmannsthal an, als er in einem Beitrag zum Symbolismus in Deutschland sieben Gedichte aus Georges Hymnen auflistete, die ihm in exemplarischer Weise die Prinzipien symbolistischer Dichtung zu veranschaulichen schienen und George als den Dichter bezeichnete, „der wirklich am meisten die Technik hat und auch persönlich die deutsche an die französische Bewegung bindet“8. Von Georges Bewunderung für den maître Mallarmé, den Paul Valéry als „ersten Dichter seiner Zeit apostrophierte“9, spricht neben der Lobrede in Tage und Taten auch der Umstand, dass George, der auf den Namen Stephan Anton getauft war und im Elternhaus Etienne gerufen wurde, nach der Begegnung mit dem französischen Dichter den eigenen Vornamen von Etienne zu Stefan änderte. In den handschriftlichen Überlieferungen der Hymnen lässt sich die Namensänderung nachvollziehen: Während ein von George selbst entworfenes Titelblatt der Hymnen den Vornamen noch mit Etienne bezeichnet, liest ein Titelblattentwurf von Richard Schmitz Stephan, der Berliner Erstdruck von 1890 dann Stefan.10 Der Erscheinungsort der Hymnen erklärt sich aus ihrer Entstehung: Obwohl die Hymnen deutlich den Einfluss der französischen Dichter, mit deren Werken George in Paris vertraut geworden war, und filigranartig sogar die Stationen seiner zweijähri-

6 Vgl. RB I, 31  f. Hier findet sich auch ein Verzeichnis der etwa 365 Seiten umfassenden Abschriften, die der junge George vor allen Dingen von französischen Gedichten und Prosadichtungen erstellte: RB I, 209  ff. 7 Brief Stéphane Mallarmés vom 28. Februar 1891, abgedruckt in RB I, 202. 8 Zitiert nach Steven P. Sondrup: Three Notes on Symbolism by Hugo von Hofmannsthal. In: Modern Austrian Literature 9 (1976), 2, S. 1–9, hier S. 4. Bei den von Hofmannsthal aufgelisteten Gedichten handelt es sich um die folgenden Titel: Weihe, Im Park, Nachmittag, Verwandlungen, Nachthymne, Strand und Der Infant. Das Zitat entstammt einem undatierten und nicht adressierten Brieffragment. 9 Paul Valéry: Lettre sur Mallarmé. In: Œuvres. Bd. I. Hg. v. Jean Hytier. Paris 1957 (Pléiade), S. 636. 10 SW  II,  93  f. Vgl. auch Robert E. Norton: Secret Germany: Stefan George and his circle. Ithaka (NY) 2002, S. 84.



Hymnen 

 25

gen Auslandsreisen erkennen lassen, entstanden die achtzehn Gedichte des Bandes im Jahr nach Georges Rückkehr aus Frankreich und zwar in dem relativ kurzen Zeitraum zwischen Frühjahr und Herbst 1890, als George in Berlin Geisteswissenschaften studierte.11 Die ersten Hymnen sollen „auf einsamen Wanderungen am Schlosse Bellevue“ (ZT 14) entstanden sein, weitere Gedichte der Sammlung verfasste George in Bingen und auf Reisen, die ihn zwischen Juli und September nach Bad Kreuznach, Kopenhagen und wiederum nach Paris führten.12 Bedeutsam ist Berlin als Entstehungs- und Erscheinungsort der ersten Gedichtsammlung Georges auch deshalb, weil der Dichter, den der maître und sein cénacle in Paris tief beeindruckt hatten, in Berlin seinen ersten treuen Gefährten kennenlernte: Der Kommilitone Carl August Klein sollte für fünf Jahre eine Art Privatsekretär Georges werden (vgl. TK 109). Zusammen verfolgten sie die Hervorbringungen des Berliner Naturalismus, auf den beide mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu reagierten, und Klein zeichnete als Herausgeber der Blätter für die Kunst, die sich dezidiert antinaturalistisch gaben und deren erste Ausgabe im Oktober 1892 gleich nach der Einleitung vier Gedichte der Hymnen – Weihe, Nachthymne, Gespräch und Die Gärten schliessen – brachte.13

Form, Gliederung und Titel Als die Hymnen bereits Anfang Dezember 1890 erschienen, schrieb George in das für Carl August Klein bestimmte Exemplar die Widmung „An Carl August, der mich zuerst warm empfunden und tief gerichtet hat“ (ZT 16). Drei weitere der nur 100 im Selbstverlag bei Wilhelm und Brasch in Berlin gedruckten Exemplare schickte George an Saint-Paul nach Paris (ZT 16  f.). Die achtzehn Gedichte vereinende Sammlung, mit der George seine literarische Laufbahn begründete, war in erster Linie für seine Freunde und Bekannten bestimmt.14 Wohlüberlegt ist neben der geringen Auflagenzahl und der Entscheidung, seine erste Gedichtsammlung als Privatdruck zu verlegen, auch die äußere Gestaltung des Bandes: Auf hochwertigem, grau-gelbem Papier in serifenloser Antiqua gedruckt, bediente sich George bereits in den Hymnen der für ihn charakteristischen Kleinschreibung und äußerst sparsamen Interpunktion. Noch Jahre später war George die minimalistische Ästhetik dieser ersten Hymnen-Ausgabe so wichtig, dass er deren Titelblatt, sogar entgegen dem Rat der Freunde, in der ab 1927 erscheinenden Gesamt-Ausgabe seiner Werke an prominenter Stelle zwischen Einband und Vorrede

11 Vgl. RB I, 40  ff. sowie SW II, 88. 12 Vgl. ZT 14  f. sowie SW II, 100  ff. 13 Bereits die Einleitung der ersten Nummer der BfdK grenzt sich 1892 von „jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang“ ab. 14 Vgl. Georges Brief an den ehemaligen Mitschüler und Jugendfreund Arthur Stahl vom 11. Dezember 1890, auszugsweise abgedruckt in SW II, 88.

26 

 Franziska Merklin

faksimiliert abdrucken ließ (SW II, 89)15. Im Übrigen übernahm George im zweiten Band der Gesamt-Ausgabe die Zusammenstellung der „drei Bücher“ von Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal, wie er sie bereits 1898 bei Georg Bondi in Berlin hatte drucken lassen.16 Die Vorrede dieser acht Jahre nach dem Privatdruck erschienenen, ersten öffentlichen Ausgabe der Hymnen „betont, dass der ‚erste[] druck seiner dichtungen‘ von George unter den ‚schutz der abgeschlossenheit‘ gestellt werden musste, weil von der ‚lesende[n] menge‘ kein adäquates Rezeptionsverhalten erwartet werden konnte“17. Der Bondi-Druck der Hymnen enthält zum ersten Mal die Widmung an den Studienfreund Carl August Klein als „den trauten und treuen seiner jugend“. Zudem erläutert eine Aufschrift in durchgängigen Majuskeln, die zugleich Rezeptionsvorgabe und Leseanleitung ist, den Inhalt und Charakter der Gedichtsammlung: Die Hymnen werden als „Traum in Blau und Gold“ bezeichnet, wobei der Traum in Georges Werk die geistige „Schau von Ideen“18 bezeichnet und eine Kunst charakterisiert, „in der der Unterschied von Traumbild und Wirklichkeit aufgehoben ist“ (HSS 12). Im Sinne der späteren Blätter-Maxime „Es bedeutet etwa dasselbe wenn wir sagen: traumbilder die bezaubern wie wirklichkeiten oder wirklichkeiten die bezaubern wie traumbilder“ (BfdK  VII, S. 8), ist es für den Dichter „nicht wesentlich, Traum und Wahrheit mit einander zu versöhnen oder das dichterische Bild an der Wirklichkeit zu messen“19. Die beiden Symbolfarben Blau und Gold verweisen auf die Transzendenz und kehren gleich in mehreren Gedichten des Zyklus wieder, in denen es um die Anrufung von

15 Erst in der ab 1927 entstehenden Gesamt-Ausgabe stellt George den Hymnen mit der Fibel Gedichte voran, die noch vor den Hymnen entstanden waren. Einige dieser später in der Fibel zusammengefassten Jugendgedichte hat George im Sinne einer Historisierung des eigenen Werks auch in den 1892 gegründeten Blättern für die Kunst veröffentlicht. 16 Carl August Klein schlug 1892 (BfdK I, 2, S. 49) vor, die drei Bände Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal als Trilogie aufzufassen. Vgl. zu Georges Vorliebe für starke Strukturierungen des eigenen Werks Dirk von Petersdorff: Stefan Georges Dichtung als Gegenreich. In: CP 53 (2004) H. 264/265, S. 51–72, bes. S. 52. Den vergleichbaren poetologischen und autothematischen Charakter der drei ersten Gedichtbände Georges untersucht Rolf Fieguth: Drei Gedichtbücher, drei Stadien der Ich-Überwindung um 1900. In: Die Architektur der Wolken. Zyklisierung in der europäischen Lyrik des 19. Jahrhunderts. Hg. v. dems.  u. Alessandro Martini. Bern 2005, S. 365–384. 17 Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin 2007, S. 528. 18 Edith Landmann: Georgika. Heidelberg 1920, S. 67. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Friedrich Gundolfs Deutung des Eröffnungsgedichts Weihe, in dem der „dichterische[] Zustand“ als „unmittelbare Schau des Seins“ (FG, bes. 62.) gestaltet sei. Wie weit entfernt Georges Hymnen von einem romantisch konnotierten Träumen sind, erweist bereits das zweite Gedicht des Zyklus Im Park, in dem der seltsam entrückt wirkende Dichter nicht etwa in den Anblick der Natur oder die Kontemplation der Geliebten versunken ist, sondern sich mit Ernst und Strenge der Arbeit am eigenen Werk widmet. Vgl. Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht: Definition zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen 1989, S. 149  f. 19 Ebd., S. 149.



Hymnen 

 27

Höherem geht.20 Die Gliederung der Hymnen wird mit dem Lauf der Jahreszeiten verglichen, wobei die letzte Zeile der Aufschrift mit den Worten „unsres volkes neuen söhnen“ (SW  II,  8) die idealen Rezipienten anspricht und den Wunsch nach einer nationalen Erneuerung erkennen lässt. Gliederungshinweise bietet auch die Druckgestaltung, die mit drei Leerseiten und zwei Gruppentiteln die achtzehn Gedichte in Untergruppen teilt: Nach dem Eröffnungsgedicht, das die Dichterweihe gestaltet, den Dichter als Melancholiker exponiert und „auf die richtige, würdige Haltung gegenüber dem Gedicht“ (WB 277) vorbereitet, handelt das zweite Gedicht Im Park von der Spannung, welcher der Dichter ausgesetzt ist, indem er den sinnlichen Verlockungen des Lebens trotzt, um in Einsamkeit und Askese sein Werk zu schaffen.21 Das „neue[] lied“ (Ein Hingang, SW II, 19) entsteht nicht aus romantischem Vereinigungsstreben von Geist und Natur, sondern wird in seiner strengen, formalen Konzeption in widerspenstiger Arbeit geformt: „Er hat den griffel der sich sträubt zu führen.“ (Im Park, SW II, 11). Dem zweiten Gedicht korrespondiert in einer Rahmenkomposition das letzte Gedicht des Zyklus, Die Gärten schliessen, mit dem „man wieder heraus aus den Gärten der Poesie“ (vgl. EM I, 23)22 tritt und das mit dem Bild des Pilgers endet, der sich in einer spätherbstlichen Landschaft erneut auf den Weg begibt und sich in melancholischer Resignation von den eigenen dichterischen Hervorbringungen zu distanzieren scheint. Dazwischen stehen die Gedichte, die vage auf den zyklischen Wechsel der Jahreszeiten als übergeordnetem Gliederungsprinzip Bezug nehmen und durch die beiden Diptychen der Neuländischen Liebesmahle23 und der Bilder eingefasst werden. Als Werk, das Georges literarische Laufbahn begründet, entfalten die Hymnen bereits ein anspruchsvolles dichterisches Programm, das sie selbst allerdings „nur in

20 Vgl. Nachmittag, das zweite der Neuländischen Liebesmahle, Verwandlungen, Ein Hingang, Nacht­ hymne, Der Infant, Ein Angelico. 21 Gundolf, der den Zwiespalt von „Weihe“ und „Sinnen“ als beherrschendes Thema der Hymnen identifiziert, fasst den Inhalt der einzelnen Gedichte als Variationen des Konflikts von dichterischer Sendung und sinnlicher Verlockung auf und betont die stilisierende Bedeutung von Perspektive und Raum: „Die Lockungen sind verschieden, von den lieblichen Stimmen eines Maitags im Park bis zu den verzehrenden Wunschbildern der Liebe und der Macht, von den leichten Spielen zärtlicher Geselligkeit bis zu den beschaulichen Wonnen des Frommen, von morgendlichen Hügellandschaften bis zu den schwülen Rauschnächten des Neusüchtigen […] immer gefangen und verhalten im rhythmischen Gefüge und in geberdeter oder räumlicher Sicht“ (FG 70  f.). Vgl. zur transzendierenden Funktion des Räumlichen bei George Armin Schäfers Deutung des Gedichts (AS 176  ff.). 22 Das letzte Gedicht der Hymnen leitet zugleich zum folgenden Gedichtband, den Pilgerfahrten, über, in denen das Wander- oder Reisemotiv strukturbildend ist. 23 Vgl. zur Deutung der Neuländischen Liebesmahle und der Bedeutung des in ihnen gestalteten Rituals, das die Welt nicht mehr zu ordnen vermag, sondern allenfalls „eine unter vielen Welten“ und somit „der Spannung von unbegrenztem Anspruch und subjektiver Genese“ unterliegt, Dirk von Petersdorff (DP 89).

28 

 Franziska Merklin

Intervallen“24 einzulösen vermögen: „Sie sind ein Jugendwerk, das eine Ästhetik eher verkündet, als daß es sie zur Vollendung führt.“25 Obwohl die Hymnen an Geschlossenheit den späteren Werken unterlegen sind, weisen sie doch bereits zentrale formale und inhaltliche Merkmale der späteren Dichtungen auf. Es überwiegen die formstrengen Gedichte, unter denen sich romanische Formen, Terzinen – Im Park – und drei Sonette – die Neuländischen Liebesmahle sowie das zweite der Bilder, Ein Angelico – finden, die Georges Affinität zum romanischen Sprachraum belegen.26 Zwölf der achtzehn Gedichte sind in jambischen Fünfhebern gehalten, acht derselben verbinden den jambischen Fünfheber mit vierzeiligen Strophen.27 Die Präferenz des jambischen Fünfhebers verbinden die Hymnen mit der allem Anschein nach bereits 1889 begonnenen Übertragung von Baudelaires Fleurs du Mal, die George vor die schwierige Aufgabe stellte, eine deutsche Entsprechung für den Alexandriner des französischen Originals zu finden, ohne den durch seine feste Zäsur und literarhistorische Konnotation steif wirkenden jambischen Sechsheber zu bemühen.28 Der Reim, dem George so außerordentliche Bedeutung beimaß, dass er in seinen Blättern für die Kunst das Originalitätspostulat aufstellte, derselbe Reim dürfe nur einmal verwendet werden (vgl. BfdK II, 2, S. 35), ist mit großer Kunstfertigkeit in einem Spektrum eingesetzt, das von strenger Reimreinheit bis zu freier Assonanz reicht.29 In den gesamten Hymnen findet sich nur eine Reimwiederholung30 und nur ein Gedicht mit einer Fülle unreiner Reime: Das einen Osterspaziergang auf dem Land beschreibende Gedicht Einladung handelt von

24 Bernhard Böschenstein: Magie in dürftiger Zeit (wie Anm. 4), S. 95. 25 CD 49. Vgl. auch das entsprechende Urteil von Friedrich Gundolf, der in seiner Würdigung der Hymnen die „Zwänge, Künstlichkeiten und Härten des Erstlingsbuchs“ (FG 65) hervorhebt. 26 Vgl. I simbolisti tedeschi. Edizione con testo a fronte a cura di Mario Santagostini. Roma  1996, bes. S. 16  f. Wie stark diese Affinität zur Zeit der Entstehung der Hymnen ausgeprägt war, illustriert im Sinne der anekdotischen Evidenz Georges Begegnung mit dem Französisch-Schweizer Maurice Muret, dem George sich im November 1889 in Berlin mit den Worten vorgestellt haben soll: „Je suis de la même race que vous.“ Er erzählte dem Kommilitonen von seiner selbst erfundenen Lingua Romana und schenkte ihm drei in dieser Sprache verfasste Gedichte, die er mit der Widmung „A meo amico e colegio apreciato Maurice Muret“ versah. Vgl. ZT 13. 27 Bei den aus jambischen Fünfhebern bestehenden Vierzeilern handelt es sich um die Gedichte Weihe, Von einer Begegnung, Ein Hingang, Auf der Terrasse und Gespräch; dazu kommen die drei Sonette des Zyklus, welche die Form zumindest in ihren Quartetten aufweisen: die beiden mit Neuländische Liebesmahle überschriebenen Gedichte sowie das zweite der Bilder, Ein Angelico. 28 Vgl. zur Datierung der Baudelaire-Übersetzung, zu den Spuren, die sie in den Hymnen hinterlassen hat sowie zu den Alternativformen, die George fand, um Baudelaires Alexandriner im Deutschen wiederzugeben, HA 56. 29 Vgl. zur Bedeutung des Reims für die Schönheit des sprachlichen Ausdrucks in Georges erstem Gedichtband Joachim Jacob: Stefan Georges „Hymnen“. In: GJb 5 (2004/2005), S. 22–44, bes. S. 30. 30 Nur das vierte Gedicht der Sammlung, Nachmittag, weist keinen durchgängigen Endreim auf. Allerdings wird der Eingangsvers zweimal, der Folgevers einmal refrainartig wiederholt. Zudem akzentuieren Anaphern, Epiphern und ein Binnenreim die Klangstruktur des Gedichts. Im Gedicht Auf der Terrasse kehrt das die erste Strophe beschließende Reimwort „vase“ in der dritten Strophe wieder.



Hymnen 

 29

Alltäglichem und kontrastiert damit bereits auf der inhaltlichen Ebene mit dem Großteil der Hymnen, der in Übereinstimmung mit dem Titel der Sammlung der Darstellung und Anrufung eines Höheren gewidmet ist. Indem George in Einladung gehäuft Assonanzen wie „staub“ – „glaubt“, „güte“ – „blüten“, „getobe“ – „oben“, „Gipfel“ – „wipfeln“, „steine“ – „scheinen“ und „rufe“ – „ufer“ verwendet, verdeutlicht er den Unterschied der Alltagsfreuden von der hohen Sphäre des rein Dichterischen, dem der „Dichter-Prophet“ (WB 276) sich in mühsamer Arbeit und Askese widmet. Georges Präferenz für ein semantisch motiviertes Reimen erweist sich damit auch noch in der Abwesenheit reiner Reime, denn das „Kunstmittel unstrenger, halbgültiger Reime oder Andeutungen von Reimen, sonst sorgfältig vermieden, dient [in Einladung] dazu, den Unterschied zwischen sieghaften Mußetagen und dem eigentlich Dichterischen klar zu machen.“ (HSS 21) Georges strenge Reimpoetik treibt ihn dazu, das Corpus verfügbarer Reimwörter durch Komposita, Neologismen und Fremdwörter zu erweitern (AS 76  ff.). In dem Paul Verlaines Fêtes galantes verpflichteten Gedicht Hochsommer evoziert eine Fülle von Fremdwörtern („eleganten“, „kavalieren“, „stil“, „parfümen“, „galanten“, „Pompadour“), von denen vier im Reim verwendet werden, die raffinierte und verlockende Welt des Rokoko.31 Zu den auf das spätere Werk vorausweisenden Merkmalen gehört neben der metrisch-formalen Gestaltung ein ausgeprägtes Streben nach Exklusivität, das die Autonomie der Kunst verschärfen soll.32 Dieses Streben zeigt sich auch in Georges Entscheidung, seinen ersten Gedichtband mit dem „für das 19. Jahrhundert durchaus unüblichen, vielleicht sogar von einer Geste der Opposition geprägten Titel Hymnen“33 zu versehen. Die Wahl des Titels scheint George erst recht spät getroffen zu haben: Zwei Handschriften tragen die unscheinbaren Titel Gedichte I und Gedichte II und ein von George selbst entworfenes Titelblatt trägt ebenfalls den Titel Gedichte (SW II, 88). Das später in Nachthymne umbenannte Gedicht ist dagegen in zwei erhaltenen Handschriften noch mit Hymne überschrieben (SW II, 105) Georges Entscheidung, die achtzehn Gedichte seiner ersten Sammlung unter dem Gattungsbegriff der Hymne zu vereinen, ist als „Wagnis“, ja als „Herausforderung an den Leser“34 bezeichnet worden

31 Freya Hobohm: Die Bedeutung französischer Dichter (wie Anm. 5), S. 65. Wie mit der Dichtung Baudelaires hat sich George „auch mit Verlaines Dichtung in der klassischen Weise einer imitatio auctorum auseinandergesetzt. Er hat sie von Hand abgeschrieben, […] übersetzt und […] poetisch ­adaptiert.“ ­( Joachim Jacob: Stefan Georges „Hymnen“ [wie Anm. 29], S. 41 unter Verweis auf RB I, 215  f.). An Verlaines À la Promenade gemahnt nicht nur die Motivähnlichkeit, sondern auch die „Sprachführung, die hier exemplarisch in ‚sanften takten‘ (V. 26), bis hin zum französisch intonierten Verklingen des Gedichts im letzten Vers, vorgeführt wird“ (Ebd.). 32 Vgl. Dirk von Petersdorff: Stefan Georges Dichtung (wie Anm. 16), bes. S. 51  f. 33 Ralf Simon: Hymne und Erhabenheit im 19. Jahrhundert, ausgehend von Stefan Georges „Hymnen“. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hg. v. Steffen Martus, Stefan Scherer u. Claudia Stockinger. Bern 2005, S. 357–385, hier S. 357. 34 Jeffrey Dean Todd: „Poetry is praise“. Beobachtungen zu Stefan Georges Dichtung. In: CP 52 (2003) H. 258/259, S. 45–66, hier S. 49.

30 

 Franziska Merklin

und hat manchen irritiert: „Dunkel bleibt es, warum der Dichter den Offenbarungen seiner einsamen Jugend den Namen des großen Volksgesanges gegeben hat, der Feier der Gesamtheit von Göttern, der Huldigung vor Held und Halbgott, als welche die Hymne uns aus dem Altertum überliefert ist.“35 Umstritten ist, ob George das Wort ‚Hymne‘ „hier nur in einem vagen liturgischen Sinne gebraucht, das die Gedichte mit dem Schleier eines Geheimnisses umgeben, sie in die Nähe eines religiösen Mysteriums rücken soll“,36 oder ob die Wahl des Titels nicht doch mehr als ein bloßer Kunstgriff ist.37 Für Letzteres lassen sich verschiedene Argumente anführen: H. Stefan Schultz sieht den Titel durch den Inhalt der Gedichte, von denen mindestens ein Drittel „als Anrufung eines Höheren zu deuten“ sei, und durch die etymologische Bedeutung des Wortes ‚Hymne‘ als „gewebte Rede“ und „kunstvolle Fügung des Gesanges“ gerechtfertigt.38 Kaum zu unterschätzen ist wohl auch die Bedeutung, die das Lob als rhetorische Haltung für Georges Werk besitzt, sowie der Umstand, dass George in seinem dichterischen Schaffen das Streben nach Innovation kontinuierlich mit einem ausgeprägten Traditionsbewusstsein verband.39 Bereits das Eingangsgedicht des Zyklus, Weihe, dem allein aufgrund seiner Stellung in der Erstveröffentlichung Georges eine besondere Bedeutung zukommt, „ist ein literatur- und motivgeschichtliches Sammelbecken, und es kann von hier aus gesehen kaum mehr verwundern, dass die Hymnen nicht auf Georges Reisen zu den Orten der europäischen Avantgarde in den Jahren nach seiner Schulzeit entstehen, sondern während seines Philologiestudiums in Berlin.“40 Als Eröffnungsgedicht ruft Weihe die Bénédiction in Erinnerung, die nach der Leseranrede am Anfang von Baudelaires Fleurs du Mal steht und mit der George seine deutsche Übertragung derselben einleitete (HA 86): Hinaus zum strom! wo stolz die hohen rohre Im linden winde ihre fahnen schwingen Und wehren junger wellen schmeichelchore Zum ufermoose kosend vorzudringen. (SW II, 10)

35 Eduard Lachmann: Die ersten Bücher Stefan Georges, eine Annäherung an das Werk. Berlin 1933, S. 22. 36 Norbert Gabriel: Studien zur Geschichte der deutschen Hymne. München 1992, S. 213. Vgl. in diesem Sinn bereits CD 46. 37 Ralf Simon schlägt vor, den gesamten Band der Hymnen als eine Hymne zu lesen, in der das „Programm einer ästhetizistisch invertierten antihymnischen Hymnik“ konsequent verwirklicht ist (Ralf Simon: Hymne und Erhabenheit [wie Anm. 33], S. 359). 38 HSS 12 unter Verweis auf Homers Odyssee 8, 429. 39 Vgl. die von John Ruskins „All true art is praise“ abgeleitete und bei Edith Landmann überlieferte Maxime Georges „All poetry is praise“. Ihren Ursprung und ihre Bedeutung für Georges Schaffen legt Jeffrey Dean Todd dar: „Poetry is praise“ (wie Anm. 34). 40 Steffen Martus: Werkpolitik (wie Anm. 17), S. 533. Vgl. zur sorgfältigen Verarbeitung literarischer Traditionen in Weihe HSS 12  ff.



Hymnen 

 31

Die metrische Gestaltung der kreuzweise gereimten jambischen Fünfheber mit der deutlichen Zäsur nach der zweiten Hebung des ersten Verses lassen zudem an Goethes selbstreflexive Zueignung denken, die der Autor selbst als so programmatisch verstand, dass er sie zwei Gesamtausgaben voranstellte.41 Während die Zueignung des reifen Goethe in ihrem prozessualen Duktus die geistige Entwicklung des Dichters mit all ihren Verirrungen nachzeichnet, die Stellung des Menschen wie des Dichters im Kontext der Gesellschaft bestimmt und die ethische Dimension der Dichtung betont, geht es George darum, „die schaffende Autonomie des Dichterischen“ (HSS  16) zu verherrlichen: Mit dem Gedicht Weihe, in dem der Dichter seine Reinigung und Heiligung selbst vollzieht, stellt der junge George sein Werk „von Anfang an […] unter das Zeichen einer von oben vollzogenen Segnung und Erwähltheit“ (HSS 15). Eklektisch verbindet Georges Weihe christliche, die Segnung, mit antiken Inspirationsvorstellungen, denn vor dem in der letzten Strophe gestalteten Musenkuss findet sich bereits in der ersten Strophe eine Allusion an den Mythos von Pan und Syrinx.42 Zudem „spielt [das Gedicht] mit Motiven der romantischen Flucht in die Natur als Dichtungsraum; es schließt an die Tradition der genialen Melancholie an, die durch die zumindest angedeutete Geste des in die Hand geschmiegten Kopfes eingespielt wird; es zitiert die empfindsame Inspirationsszene, die Klopstock in Die Stunden der Weihe gestaltet hat“43. Letztere Bezugnahme lässt es als nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass, wie Hubert Arbogast vermutet, George im Zusammenhang seiner Teilnahme am Kolleg des Germanisten Erich ­Schmidt mit dessen historisch-kritischer Ausgabe von Klopstocks Oden in Berührung kam, die im selben Jahr erschien (Vgl. HA 99)44. Da die Hymnen von der Kenntnis Klopstocks zeugen – neben Weihe enthält auch Im Park Anklänge an Klopstocks Die Stunden der Weihe  – und George später den dritten Band der Anthologie Deutsche Dichtung mit ebendieser Ode Klopstocks eröffnet, liegt der Gedanken nahe, dass George bereits mit dem Titel seines ersten Gedichtbandes eine dann im Eingangsgedicht virtuos kondensierte literarische Tradition aufruft, um unter deren hervorragenden Vertretern Pindar, Horaz, Klopstock und Goethe seinen Platz zu finden.45 Augenfällig verbindet George mit Klopstock nicht nur das Verdienst, die deutsche Dichtersprache erneuert zu haben,46 sondern auch die Instrumentalisierung des Religiösen, die den Dichter als einen zum Höchsten Beru-

41 Vgl. HSS 13. 42 Vgl. ebd. u. RK 16  f. sowie Steffen Martus: Werkpolitik (wie Anm. 17), S. 532  f. 43 Steffen Martus: Werkpolitik (wie Anm. 17), S. 352, unter Verweis auf Bernhard Böschenstein: „Weihe“. In: CP 50 (2001) H. 250, S. 7–16, hier S. 12), RK 17  ff. u. HA 99. 44 Vgl. zu den vor allen Dingen im  18. Jahrhundert oft synonym gebrauchten Begriffen ‚Ode‘ und ‚Hymne‘ Otto Knörrich: Lexikon lyrischer Formen. Stuttgart 1992, S. 96  ff., hier bes. S. 98. 45 Vgl. HA 99  f. und Rolf Fieguth: Drei Gedichtbücher (wie Anm. 16), S. 374. 46 Vgl. Karl Ludwig Schneider: Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1965 sowie HA.

32 

 Franziska Merklin

fenen ausweisen soll. In den Hymnen wird besonders in den beiden Gedichten Weihe und Ein Angelico das Göttliche gestreift: Die Herrin schwebt nieder, um dem Dichter seine dichterischen Weihen zu erteilen, Christus reicht Maria die erste Krone. Doch werden hier in diesen beiden malerischen Szenen nicht die göttlichen Wesen, die Herrin und Christus, gepriesen, sondern die mensch­ lichen, der Dichter und der Künstler, dessen ‚glorreich grosse tat‘ das Schaffen des Bildes ist.47

Mit Klopstock teilt George zudem die Bezugnahme auf die Hymnendichtung des Alten Testaments: Klopstocks freirhythmische Gedichte orientieren sich in ihrer Vorliebe für den intensivierenden, auf stärkste Eindringlichkeit angelegten Parallelismus an den Psalmen. Auf diese bezieht sich auch George, wenn er, und zwar ausgerechnet in dem die Gattungsbezeichnung des Bandtitels zunächst vorwegnehmenden Gedicht Nachthymne, das eigene in der Askese hervorgebrachte Werk als „psalter“ (SW II, 20) bezeichnet, das „einen Anspruch auf überindividuelle Dauerhaftigkeit erheben darf“48. Und doch besteht neben den Gemeinsamkeiten zwischen Klopstock und George, dem metaphysisch überhöhten Preis von Dichter und Künstler, ein erheblicher Unterschied im Pathos der beiden Dichter: Klopstock plädierte für eine vom Affekt gesteuerte Wortfolge, welche die innere Begeisterung und genialische Erhebung im Gefühlsüberschwang widerspiegeln sollte. Georges Pathos besteht dagegen in einer äußersten Zurückhaltung im Ausdruck, die jeden Bezug zum unmittelbaren Erleben unterbindet und Georg Simmel zu der These von der sich in Georges Werk vollziehenden Entpersönlichung des Lebens durch die Kunst veranlasst hat (vgl. TK 235  f.): die künstlerische Form wird umso bedeutsamer, als „aller Inhalt das bloße Mittel ist, um rein ästhetische Werte zu bilden“49.

Zum Inhalt Angesichts des prononciert poetologischen Gehalts des Eingangsgedichts kann es nicht überraschen, dass die Hymnen, in denen sich keine klar erkennbare innere Entwicklung abzeichnet, in erster Linie den ‚Dichterberuf‘ behandeln, der die Berufung des lyrischen Ich zum Dichter, dessen Konflikt zwischen Sendung und Leidenschaft, die Feier dichterischen Gelingens und den Gedanken der Verewigung durch die Dich-

47 Jeffrey Dean Todd: „Poetry is praise“ (wie Anm. 34), S. 49. 48 Jürgen Brokoff: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Göttingen 2010, S. 465. 49 Georg Simmel: Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie. In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen  1901–1908. Bd.  I. Hg. v. Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt u. Otthein Rammstedt. Frankfurt/M. 1995, S. 21–35, hier S. 22.



Hymnen 

 33

tung einschließt.50 In dem Maß, in dem die Gedichte die Ausnahmegestalt des Dichters evozieren und ihn majestätisch überhöhen, wie dies etwa im zweiten der Neuländischen Liebesmahle (SW II, 17) und in Gespräch (SW II, 25) geschieht, evozieren sie, ganz wie es die Aufschrift ankündigt, eine Art himmlisches Jerusalem – „Mit sternenstädten selige gefilde“ (SW II, 10) –, das sich nur in der Dichtung realisiert. Dabei filtern, verfremden und transzendieren die Gedichte die zur Darstellung kommende äußere Wirklichkeit, um „eine strenge, vom Willen gesteuerte Auswahl neuer dichterischer Realität [zu präsentieren], die sich von den Versuchungen und Verführungen der ‚Welt‘ absondert[].“51 Die ausgesprochene Indirektheit der Darstellung hat, wie auch die äußere Präsentation der Gedichte, hermetischen Charakter, der durch die sprachlich-stilistische Gestaltung noch verstärkt wird: Die schwere Lesbarkeit der Gedichtsammlung resultiert aus einem brachylogischen Stil, den der Dichter erreicht, indem er Artikel, Konjunktionen und Hilfsverben auslässt, finite Verbformen durch Partizipien und attributive Bestimmungen durch zusammengesetzte Substantive ersetzt. Bereits im vielgedeuteten Eröffnungsgedicht der Hymnen, Weihe, findet sich ein eindrückliches Beispiel für eine zum äußersten gestraffte Sprachform: „Im rasen rastend sollst du dich betäuben / An starkem urduft · ohne denkerstörung“ (SW II, 10).52 Die Selbstansprache des Dichters, dessen Ekstase das Erscheinen der Muse vorbereitet, ersetzt den konditionalen Nebensatz durch eine Partizipialbildung, vermeidet die Kopula sowie, durch die Verwendung eines Kompositums, das Genitivattribut. In der „herben Schönheit“53 dieser Verse drückt sich Georges künstlerische Haltung aus, die das Konventionalisierte und Verbrauchte ablehnt, eine Distanz zur „lesende[n] menge“ schaffen will und für eine durch ein intensives „neues schönheitsverlangen“ (SW II, 5) qualifizierte Leserschaft das Extreme und Exzeptionelle zu artikulieren sucht.54

50 Vgl. FG 59 sowie CD 41 und HA 87. 51 Vgl. Bernhard Böschenstein: „Weihe“ (wie Anm. 43), S. 8. Vgl. zur Deutung der Königsrolle des Dichters wie sie im zweiten der Neuländischen Liebesmahle zum Ausdruck kommt, MD 23. 52 Vgl. zur eingehenden Analyse des brachylogischen Stils in Weihe und anderen Gedichten der Hymnen HA 90  ff. 53 Wie Joachim Jacob ausführt, sah Norbert von Hellingrath in der „herben Schönheit“ eine Gemeinsamkeit zwischen Hölderlins Pindar-Übertragungen und der Dichtung Georges, dem es programmatisch um eine Renaissance des Schönen ging. Vgl. Joachim Jacob: „Hymnen“ (wie Anm. 29), bes. S. 43. 54 So wird dem Leser eine besondere Aufmerksamkeitsleistung abverlangt, um etwa die Redesituation der einzelnen Gedichte zu durchschauen, da Personalpronomina und possessive Adjektive ein bewusst verunklärendes Verweissystem bilden und gerade in den Liebesgedichten des Zyklus dem Ziel dienen, das Geschlecht des Liebesobjekts zu verhüllen. Vgl. die satirische Besprechung der frühen Gedichte Stefan Georges durch Oskar Panizza: Die deutschen Symbolisten. In: Die Gegenwart 47 (1895), S. 201–204. Vgl. auch die systematische Untersuchung von Marita Keilson-Lauritz: Von der Liebe die Freundschaft heißt: Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges. Berlin 1987, bes. S. 75–82.

34 

 Franziska Merklin

Indem George mit „den Konventionen einer realistischen Rede-Weise in der Tradition der Erlebnisdichtung“55 bricht, lässt er das Künstlerische im dichterischen Schaffensprozess hervortreten, sodass man „die Wirkung nicht mehr empfinden [kann], ohne den Entstehungsprozess zu denken“ (CD 39). Besonders deutlich wird dies in den Gedichten der Hymnen, die sich, wie die ersten beiden Gedichte Weihe und Im Park, zunächst als Naturgedichte präsentieren, um sich zugleich einer poetologischen Lesart zu öffnen: So wie der Dichter sich in seinen Versen die materielle Welt unterwirft, ihr Leben einhaucht oder entzieht, erscheint die äußere Natur in den Gedichten des Zyklus entweder anthropomorphisiert (SW II, 10 und 19) oder zum Artefakt erstarrt. Ein eindrückliches Beispiel für die Tendenz zum Letzteren ist das zweite Gedicht der Sammlung, Im Park: Die Preziosenmetaphorik der ersten beiden Strophen evoziert das Wasserspiel eines Brunnens auf einem Rasen, das mit dem Fallen von Edelsteinen auf einen kostbaren Seidenteppich verglichen wird, die umstehenden, schattenspendenden Bäume werden im Kompositum „schattensaal“ (SW II, 11) metonymisch aufgerufen und die titelgebende Naturszene zu einem Interieur verfremdet. Indem George die bereits im imperativischen Beginn des Einleitungsgedichts Weihe aufgerufene Natur (SW II, 10) systematisch artifizialisiert, schreibt er sich, wie Ralf Simon56 gezeigt hat, in die Erhabenheitsdiskussion des 19. Jahrhunderts ein: War das Sublime seit jeher mit der Gattung der Hymne verbunden, so provoziert der wachsende Einfluss der modernen Wissenschaft und Technik in der Moderne einen Wandel der geschichtlichen Bewusstseinslage, die auf die zunehmende Komplexität, Entgrenzung, Dynamisierung und entindividualisierende Erfahrung des Massenhaften und Seriellen reagiert. Für „das Gattungssystem Lyrik“ bedeutet dies, dass die alte Hymne nicht mehr schreibbar ist. Die philosophische Ästhetik ratifiziert im 19. Jahrhundert nicht nur den Erfahrungsverlust des Erhabenen. Sie raubt der Lyrik auch das Sujet der Naturerhabenheit, indem sie die gegen die Natur auftretende technische Macht anerkennt. […] Stefan Georges Hymnen […] artifizialisieren die Natur und lösen auf diese Weise den ästhetischen Erhabenheitsdiskurs von seinem ehemaligen Gegenstand.57

Indem George „die Natur stilisiert, entnatürlicht“, überlagert sich in seinen Gedichten der Welt das Irreale; „die Welt wird ein Kunstwerk“58. In den beiden am Ende der Hymnen stehenden Bildern geht George noch einen Schritt weiter, indem er die Kunst selbst zur Inspirationsquelle erklärt: Beide Gedichte sind angeregt von Gemälden, die George im Louvre und auf seiner Spanienreise gesehen hat, und gestalten auf besonders eindrückliche Weise den Sieg der Kunst über das Leben: Das erste der

55 Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht (wie Anm. 18), S. 148. 56 Ralf Simon: Hymne und Erhabenheit (wie Anm. 33). 57 Ebd., S. 371. 58 Guido Glur: Kunstlehre und Kunstanschauung des Georgekreises und die Aesthetik Oscar Wildes. Bern 1957, S. 21.

Hymnen 



 35

beiden Bildgedichte, Der Infant, scheint in einer sich der spanischen Espinela annähernden dreistrophigen Form mehrere Velazquez-Gemälde zu einer Darstellung des Balthasar Carlos (1629–1646) zu verschmelzen, der als „zwillingsbruder“ (SW II, 26) des historischen Königssohns apostrophiert wird und unter den Augen des Dichters, akzentuiert von wiederholt wechselnden Tempora, zu neuem Leben erwacht.59 Das zweite Gedicht, Ein Angelico, ist in Sonettform gehalten und der im Louvre ausgestellten Marienkrönung des Dominikaners Fra Angelico gewidmet, doch handelt es sich auch hier nicht um ein ‚Bildgedicht‘ im herkömmlichen Sinn, da der Dichter „die Elemente des Bildes, seine Farben vorab, als bewusste Artefakte des Malers deutet“60: Er nahm das gold von heiligen pokalen · Zu hellem haar das reife weizenstroh · Das rosa kindern die mit schiefer malen · Der wäscherin am bach den indigo. (SW II, 27)

Der im Gedichttitel metonymisch genannte, nahe Florenz geborene Maler der italienischen Frührenaissance erscheint „als Held, der die großen Taten seines Vorbilds, des heiligen Dominikus, in der ihm gewidmeten Malerei fortsetzt, indem er die Herrschaft der Kunst der Herrschaft Christi über Maria und die Heiligen angleicht.“61 In einer Handschrift hat George das Gedicht Albert Saint-Paul gewidmet, mit dem zusammen er wohl im Sommer 1890 die Bildvorlage seines Sonetts im Louvre gesehen hat (SW II, 108). Die hoch artifizielle Sprache, gesuchte Dunkelheit und das Streben nach Absolutsetzung der Kunst, das nicht nur die beiden Bilder, sondern einen Großteil der Hymnen kennzeichnet, lassen an den Einfluss Mallarmés denken, mit dem George durch SaintPauls Vermittlung in Paris bekannt wurde. Mit Mallarmé verband George außerdem das übergreifende dichterische Anliegen, der Sprache ihre verlorene Magie zurückgeben zu wollen, indem beide Dichter die Klangwirkung der Verse zu intensivieren und dem Wort so viel Musik wie möglich einzuverleiben suchten.62 Oft scheinen musikalische Forderungen George die Wahl seines Vokabulars zu diktieren, das im musikalischen Gewebe des zur wiederholten Vertiefung einladenden Gedichts aufgehen soll.63 Die intensive Klangwirkung der Hymnen empfand die mit George befreundete Ida Coblenz und griff ein Zitat aus dem ersten der Neuländischen Liebesmahle auf, indem sie den ganzen Zyklus als „melodienstrom“ beschrieb: „[D]er Klang der einzelnen Strophen

59 Vgl. Jörg-Ulrich Fechner: Erfahrungen spanischer Wirklichkeit in frühen Gedichten Stefan Georges. In: CP 28 (1979) H. 138, S. 52–76. 60 Ebd., S. 63. Vgl. zur Nähe von Georges Gedicht zur Beschreibung des Gemäldes durch Théophile Gautier in Guide de l’amateur au Musée du Louvre HSS 29. 61 Bernhard Böschenstein: Stefan George und Italien (wie Anm. 4), S. 106–119, hier S. 107. 62 Vgl. CD 53 sowie Bernhard Böschenstein: „Weihe“ (wie Anm. 43), S. 19. 63 Vgl. Bernhard Böschenstein: Magie in dürftiger Zeit (wie Anm. 4), S. 94.

36 

 Franziska Merklin

hat sich mir eingeprägt nachdem ich sie einmal gelesen, ehe ich die einzelnen Worte behalten hatte.“64 Wie sehr Vers und Strophe bei George klangliche Einheiten bilden, veranschaulicht die erste Strophe des Gedichts Auf der Terrasse, das von der tröstlichen Wirkung handelt, welche „die Gegenwart des Göttlichen“ auf den Dichter der Hymnen ausübt, dem das „gewöhnliche Glücklichsein“ (HSS 23) verwehrt ist: Die hügel vor die breite brüstung schütten Den glatten guss von himmelgrünem glase · Die wirren wipfel und des glückes hütten. Der göttin schatten rastet auf der vase. (SW II, 24)

Bevor in der zweiten Strophe das lyrische Ich auftaucht und sich in seinem Verhältnis zur Sonne, die mit einer kühnen Metapher („Entgegen eil ich einem heissen rade.“) umschrieben wird, als „ekstatische[r] Lichtsucher“ (HSS 25) erweist, beschreibt die erste Strophe das nachmittägliche Spiel von Licht und Schatten auf einer sommerlichen Terrasse: Überaus fein abgestimmte vokalische Akkorde folgen aufeinander, welche die Flut der optischen Sinneseindrücke in Wortmusik übertragen, der im Zusammenspiel mit dem Wortsinn eine die Naturbeobachtung objektivierende Funktion zukommt: So ist das „‚schütten‘ […] ein reines Produkt der ‚Instrumentierung‘“ (HA 108). Der Ausdruck ‚werfen‘ (‚einen Schatten werfen‘) war im klanglichen Kontext des Verses nicht verwendbar; es musste ein Wort gefunden werden, das den u-Umlaut und irgendeinen der bereits verwendeten Konsonanten (oder auch eine Kombination dieser Konsonanten) enthielt. So entstand das ‚schütten‘. Aber ‚schütten‘ erweckt die Vorstellung des Flüssigen, die der Sache ja eigentlich nicht angemessen ist, und in diese unangemessene Vorstellung wird in der Tat das physikalische Phänomen der Schattenbildung im zweiten Vers hineinverwandelt und damit der Natur entfremdet. (Ebd.)

Das Ausspielen der Kunst gegen die Natur geht, ebenso wie die „Verwandlung der Landschaft und der kosmischen Vorgänge in Interieurs“ (HA 49), die George in den Hymnen besonders eindrücklich in den Gedichten Nachmittag und Im Park gestaltet hat, auf Baudelaire zurück. In ähnlich indirekter Weise ist Baudelaires Werk auch in anderen Gedichten der Hymnen präsent: Bereits das Eingangsgedicht des Bandes, Weihe, das „die Reinigung und Heiligung der Dichterperson“65 gestaltet, verwies mit seinem sakralen Ton auf Baudelaires Bénédiction als Subtext. Von einer Begegnung, das fünfte, aus fünf Vierzeilern mit durch Kreuzreim verbundenen jambischen Fünf-

64 Ida Coblenz an Fritz George, Bingen, Anfang 1892. In: G/C 29. 65 Jürgen Brokoff: Geschichte der reinen Poesie (wie Anm. 48), S. 467. Zur Rolle der Auseinandersetzung mit Baudelaire für die Entwicklung von Georges Poetik vgl. jetzt auch: Maik Bozza: Genealogie des Anfangs. Stefan Georges poetologischer Selbstentwurf um 1890. Göttingen 2016 (Castrum Peregrini N.F. 9).



Hymnen 

 37

hebern bestehende Gedicht der Hymnen, ist wiederum eine Variation über das Thema des ebenfalls von George übersetzten Baudelaire’schen Gedichts A une Passante (vgl. HA 87). George wandelt jedoch die schönheitstheoretische Reflexion der Vorlage ab, indem er anstatt der Flüchtigkeit und Plötzlichkeit der Schönheit dieselbe „wieder substantiell und tiefgründig werden lassen will“66. Das lyrische Ich versucht, Dantes Vita Nuova (vgl. HSS 28) alludierend „[t]reu zug um zug“ (SW II, 15) das nur flüchtig geschaute Liebesobjekt im Kunstwerk nachzubilden. Dessen Geschlecht ist nicht, wie es im Fall des französischen Originals bereits im Titel geschieht, eindeutig identifiziert, sondern wird im ambivalenten, durch die Großschreibung hervorgehobenen ‚Du‘ und dem zugehörigen possessiven Adjektiv (V. 4, 12, 13, 16 u. 19) bewusst verunklärt. Das in den Hymnen dreimal gebrauchte Verb „malen“ (Von einer Begegnung, Neuländische Liebesmahle I, Ein Angelico) wird von George hier „im übertragenen Sinn für die Beschwörung eines geistigen Bildes“ (HSS 28) verwendet. Der Zweifel, der das lyrische Ich angesichts des Abstands von geahntem Ziel und künstlerischer Realisierung befällt und sich im exklamatorischen Parallelismus der Verse 13 und 14 zur Verzweiflung steigert, findet seinen Nachhall im letzten Gedicht des Zyklus, Die Gärten schliessen, dessen abschließende Strophe in einer rhetorischen Frage „hoffen“ und „habe“ (SW II, 28) einander antithetisch gegenüberstellt. Gefährdung, Trauer, Resignation und Erlösungsbedürftigkeit (vgl. HSS 26) gehören ebenso zur dichterischen Haltung der Hymnen wie die triumphale Verherrlichung dichterischer Autonomie.67 „Der ungeheure Ernst des Dichters, mit dem er immer wieder auf die Spannung zwischen leiblicher und geistiger Welt weist, drückt sich schon in den Selbstbezeichnungen aus und in der Darstellung des Abstands zwischen dem, was man (unausgesprochen) ist und dem, was man werden will: reif, rein, geheiligt.“ (HSS 26)

Interpretation der Nachthymne (SW II, 20) Das im Juli 1890 in Kopenhagen (ZT 15) entstandene und in den Hymnen an zehnter Stelle, also etwa in der Mitte, stehende Gedicht Nachthymne ist in zwei Handschriften mit ‚Hymne‘ überschrieben und nimmt damit den Titel der Sammlung vorweg (SW  II,  105). Der Titel wird umgehend durch den Inhalt gerechtfertigt, denn das Gedicht handelt von den antiken Göttern, von ihrem Preis durch die im Kult geeinte

66 Joachim Jacob: „Hymnen“ (wie Anm. 29), S. 39. 67 Vgl. Dirk von Petersdorff: Stefan George – ein ästhetischer Fundamentalist? In: Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft. Hg. v. Bernhard Böschenstein u.  a. Berlin 2005, S. 49–58.

38 

 Franziska Merklin

Volksmenge und kontrastiert in vier alternierenden vier- und sechszeiligen Strophen aus gereimten jambischen Vier- und Fünfhebern diesen Preis mit der Klage und Bitte des an seiner Antikenferne leidenden lyrischen Ich: Nachthymne Dein auge blau · ein türkis · leuchtet lange Zu reich dem Einen · ich verharre bange. Den kiesel tröstet deines kleides saum. Kaum tröstet mich ein traum. Die alten götter waren nicht so strenge. Wenn aus der schönen mutberauschten menge Ein jüngling angeglüht von frommem feuer Zu ihrem lobe liess des lichtes pfade: So war das reine opfer ihnen teuer So lächelten und winkten sie mit gnade. Bin ich so ferne schon von opferjahren? Entweiht mich süsses lüsten nach dem tode Und sang ich nicht zu dröhnenden fanfaren Der freudenliebe sonnen-ode? Geruhe du nur dass ein kurzer schimmer Aus deiner wimper brechend mich versehre: Des glückes hoffnung misst ich gern für immer · Nach deinem preise schlöss ich meinen psalter Und spottete dem schatten einer ehre Und stürbe wertlos wie ein abendfalter. (SW II, 20)

Nachthymne ist innerhalb der Hymnen eines von zwei Gedichten, das auf den antiken Götterglauben Bezug nimmt.1 Von der Anrufung eines Göttlich-Übermenschlichen handeln jedoch auch die Gedichte Weihe, Ein Hingang, Auf der Terrasse, Gespräch und „wandeln das gleiche Thema ab: der Kuss der Herrin, das göttliche Geschenk, ein kurzer Schimmer aus der Wimper, des Bundes kleine Dauer, der Labetrunk aus hoher Sphäre, sind die Kennworte des Verhältnisses des Dichters zu den persönlichüberpersönlichen Mächten“ (HSS 21). Das Gedicht Nachthymne, dessen Titel den Titel des ganzen Bandes variiert, gibt sich spätestens ab der dritten Strophe als poetologisches Gedicht zu erkennen, wenn es nach den „alten götter[n]“ und ihrem „lobe“ mit dem Singen der „ode“ und dem „psalter“ in selbstreflexiver Weise Kernbegriffe verbindet, die mit der Gattungspoetik

1 Nach HSS 18 scheint das zweite der Neuländischen Liebesmahle „Züge der eleusinischen Mysterien zu enthalten“.



Hymnen 

 39

der Hymne in enger Verbindung stehen. Zum programmatischen Charakter der Nacht­ hymne trägt auch der Umstand bei, dass bereits die erste Strophe zwei Wörter enthält, die George in der Aufschrift zur Charakterisierung seines gesamten ersten Gedichtzyklus verwendet: „blau“, gleich darauf noch einmal impliziert in der Farbqualität des Steines, den George besonders geliebt haben soll (EM I, 15), und „traum“2. Lässt bereits der Titel Nachthymne an Novalis’ Hymnen an die Nacht denken, so nähert die Gestaltung der goldenen Vorzeit in der zweiten Strophe zusammen mit der Erotisierung der Todessehnsucht in der dritten Strophe Georges Gedicht auch inhaltlich besonders der sechsten Hymne des Novalis an. Die letzte Strophe des Gedichts stellt zugleich, wie H. Stefan Schultz gezeigt hat (HSS 19), einen Bezug zu Goethes Selige Sehnsucht her, das im Wiesbadener Register den Titel Selbstopfer trägt und von George in den zweiten Band der zusammen mit Karl Wolfskehl herausgegebenen Anthologie Deutsche Dichtung aufgenommen wurde. Mit dem Goethe’schen Subtext teilt Georges Nachthymne zudem die nicht leicht zu entschlüsselnde Verwendung der Personalpronomina. Denn unklar ist zunächst, wer in der Nachthymne mit dem ominösen ‚Du‘ der ersten und letzten Strophe angesprochen ist. Wendet sich das lyrische Ich an die Nacht als Göttin nicht so sehr der romantischen Inspiration und Imagination, sondern der dunklen Sehnsucht des Dichters, seinem Leben ein Ende zu setzen, nachdem er sein Werk, das dem Preis eines Übermenschlichen gewidmet ist, voll­endet hat? Oder ist nicht die personifizierte Nacht angesprochen, sondern ein geliebtes menschliches Wesen, sodass in den folgenden Zeilen der Konflikt zwischen dem die Sammlung der Hymnen strukturierenden Zwiespalt aus ‚Dichterberuf‘ und Sendung auf der einen, Leidenschaft und Lockung auf der anderen gestaltet ist? Erschwert wird die Deutung der Personalpronomina noch durch die Großschreibung des Indefinitpronomens im zweiten Vers, die sich in der zweiten, 1898 bei Georg Bondi erschienenen Ausgabe nicht findet (SW II, 105): Im Bondi-Druck werden dafür das Subjektpronomen der ersten Person und das sich auf die antiken Götter beziehende possessive Adjektiv in durchgängigen Majuskeln geschrieben, wodurch der Dichter des „psalter“ mit den im freiwilligen Opfertod des Jünglings verherrlichten antiken Göttern grafisch auf eine Stufe gestellt wird.3 Diese Erhöhung des Dichters könnte als Hinweis darauf gelten, dass die im zweiten Vers als überwältigt dargestellte Wesenheit der Dichter selbst ist, der sich nach dem folgenden Hochpunkt, der bei George oft das Komma ersetzt, in der ersten Person zu erkennen gibt. Eine vergleichbare Form

2 Der Begriff des Traumes taucht auch in dem ersten der Neuländischen Liebesmahle auf, dessen Wendung „Zu träumen einen melodienstrom“ zusammen mit vergleichbaren poetologisch deutbaren Synästhesien in den Gedichten Strand („Dann rauschen alle stauden in akkorden“) und Die Gärten schließen („Dahlien levkojen rosen / In erzwungenem Orchester duften“) die Einheit des Zyklus betont und von Ida Coblenz zitiert wurde, um ihren Eindruck nach der Lektüre des gesamten Zyklus wiederzugeben. 3 Im Erstdruck der Hymnen von 1890 beginnen in der zweiten Strophe alle auf die Götter bezogenen Pronomen und das possessive Adjektiv mit einer Majuskel (SW II, 105).

40 

 Franziska Merklin

der Selbstdistanzierung findet sich im Eröffnungsgedicht Weihe, in dem der Dichter die Du-Form der Selbstanrede wählt (vgl. HSS  14). Ob die Apostrophe des ersten und dritten Verses der personifizierten Nacht, der „herrin“ des Einleitungsgedichts Weihe,4 einem anderen übermenschlichen oder aber einem geliebten menschlichen Wesen gilt, lässt sich kaum aus dem Gedicht heraus eindeutig bestimmen. Im Kontext des Zyklus finden sich vergleichbare Dunkelheiten und Unverständlichkeiten in den Gedichten Neuländische Liebesmahle I, Verwandlungen und Die Gärten schliessen.5 Der Blick des angesprochenen ‚Du‘ verbindet in Nachthymne die erste und die letzte Strophe. Während ihm in der hymnischen Epiklese eine überwältigende Wirkung attestiert wird, hat die letzte Strophe als hymnische Epiphanie den inständigen Charakter eines Gebets, dessen Erfüllung die vier hypothetischen Konjunktive der Verse 17, 18, 19 und 20 jedoch fraglich erscheinen lassen. Selbstopfer und Todessehnsucht sind der Inhalt der abschließenden Bitte. Doch das lyrische Ich ist sich des Unzeitgemäßen seines Anliegens bewusst und scheint selbst an dessen Rechtmäßigkeit zu zweifeln. Das Paradoxon eines sich der „freudenliebe“ widmenden lyrischen Ich, das doch den Tod herbeisehnt, weil ihm die Selbstaufgabe und -vernichtung das Kunstschaffen als die höchste Erfüllung zu bedingen scheint,6 kontrastiert mit der Beschreibung des Selbstopfers in der zweiten Strophe, die eine Art Aretalogie nicht nur der antiken Götter, sondern auch der idealisierten Gesellschaft enthält, deren Gottesdienst als enthusiastisches Gemeinschaftserlebnis gedeutet wird. „In den drei Worten [der „schönen mutberauschten menge“] kondensiert sich die Schönheitsvorstellung, die von Winckelmann bis Nietzsche elegisch mit der Antike verbunden ist, in der sich noch eine ‚schöne menge‘ rauschhaft im Kult zusammenschließen konnte.“7 Die Darstellung der Antike wird hier zur dichterischen Vision stilisiert: Nach der ganz im Präsens gehaltenen ersten Strophe stehen alle fünf Verben der zweiten Strophe im Präteritum. Die goldene Vorzeit wurde in einer eigenhändigen Niederschrift Georges noch durch einen Doppelpunkt am Ende des vierten Verses eingeleitet (SW II, 105). Doch auch in seiner endgültigen Gestalt enthält der letzte Vers der ersten Strophe den Kernbegriff zum Verständnis des in der zweiten Strophe Dargestellten. Die dichterische Schau der Vergangenheit wird als „traum“ bezeichnet, wobei der

4 Ist sie im Gedicht Verwandlungen angesprochen (vgl. EM I, 14.)? Zum Problem der Unbestimmtheit der metaphysischen Außeninstanz vgl. Dirk von Petersdorff (DP 86). 5 Auf wen beziehen sich „ihre worte“ (SW II, 28) im vorletzten Vers von Die Gärten schliessen, wer ist die Lenkerin des Wagens in Verwandlungen und wer die „Wissensvolle müd und wunderbar“ im ersten der Neuländischen Liebesmahle? Vgl. die Interpretationsversuche von Ernst Morwitz (EM I), HSS 16  ff. u. KH I. 6 Vgl. die Deutung der Nachthymne durch Jürgen Brokoff: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Göttingen 2010, bes. S. 463  ff. 7 Joachim Jacob: Stefan Georges „Hymnen“. In: GJb 5 (2004/2005), S. 22–44, hier S. 38. Zusammen­ fassend gedeutet ist die Antikenrezeption im Werk Georges in GHb II, 647–671.



Hymnen 

 41

Begriff des Traumes dadurch besonderes Gewicht erhält, dass er einmal die Aufschrift der Hymnen zitiert („der Traum in Blau und Gold“) und zum anderen als Reimwort gebraucht ist. Da George selbst eine strikte Reimpoetik proklamierte (BfdK II, 2, S. 35) und semantische Reime bevorzugte, ist anzunehmen, dass es sich bei dem einzigen männlichen Reim des Gedichts („saum“ – „traum“), den der Binnenreim („Kaum“ – „traum“) des vierten Verses noch zusätzlich intensiviert, um ein bewusst eingesetztes Schiller-Zitat8 handelt. In Schillers Gedicht Erwartung9, das bis in die metrische Gestaltung die innere Aufregung eines harrenden Liebhabers nachvollzieht, der auch im leisesten Geräusch das Nahen der Geliebten und damit die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches zu vernehmen meint, beschließt der männliche Reim „Saum“ – „Traum“ die zehnte Strophe. Wie Schillers Gedicht handelt auch Georges Nachthymne von einer Erwartung („ich verharre bange“). Doch anstelle der erhöhten akustischen Sensibilität, die Schiller gestaltet, überwiegt bei George das Optische. Während Schillers Liebender sich in einer Litotes nach der Berührung durch die Geliebte sehnt („Laß ihre Hand, die zärtliche mich fühlen! / Den Schatten nur von ihres Mantels Saum –“), stellt George in einem Parallelismus, der auch eine Litotes enthält, dem haptischen Trost, der noch nicht einmal dem lyrischen Ich selbst gilt, sogleich einen geistigen gegenüber („Den kiesel tröstet deines kleides saum. / Kaum tröstet mich ein traum.“). Genau wie die bei Schiller in der letzten Strophe gestaltete Erfüllung ist bei George der Inhalt des Traumes, die visionäre Schau der Antike, im Präteritum gehalten. Die idealisierte Vorzeit wird in ihrer positiven Qualität durch eine Reihe schmückender Adjektive und eine Fülle heller Vokale bestimmt. Die Lichtmetaphorik durchzieht das ganze Gedicht („leuchtet“, „angeglüht von […] feuer“, „des lichtes pfade“, „schimmer“) und erreicht ihren Höhepunkt im Kompositum der „sonnen-ode“, das die preisvollen Dichtungen des lyrischen Ich charakterisiert, auf die in der letzten Strophe noch einmal mit dem Wort „psalter“ Bezug genommen wird: „Dieser Begriff, mit dem traditionellerweise das Buch der Psalmen im Alten Testament bezeichnet wird, […] ist selbstreflexiv auf Georges eigenen Gedichtband der Hymnen bezogen, der wie das alttestamentarische Buch der Psalmen aus hymnischen Gesängen besteht.“10 Der Bezug zu den Psalmen erhellt auch aus der auffälligen Strophenform der Nacht­ hymne: George verbindet zwei Strophenformen, die in der deutschen Rezeption des französischen Hugenottenpsalters durch Melissus Schede Verwendung fanden.11 Auf einen Vierzeiler, dessen Zweiteilung die Abfolge von weiblichem und männlichem Paarreim betont und dessen Strophenschluss besonderen Nachdruck durch einen verkürzten vierten Vers erhält, lässt George eine gleichförmige sechszeilige Strophe 8 Vgl. HSS 20. 9 Friedrich Schillers Erwartung findet sich im dritten Band der von Stefan George zusammen mit Karl Wolfskehl herausgegebenen Anthologie Deutsche Dichtung (DD III, 24–26). 10 Jürgen Brokoff: Geschichte der reinen Poesie (wie Anm. 6), S. 465. 11 Vgl. die unter 6.47 und 4.107 erläuterten Strophenformen in Horst J. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. Zweite Aufl. Tübingen u. Basel 1993, bes. S. 328  f. u. 518.

42 

 Franziska Merklin

aus jambischen Fünfhebern folgen, die mit durchweg weiblichem Paarreim „ohne merklich strophischen Abschluss“12 aneinandergereiht sind. Zwar hat die zur Schwerfälligkeit neigende, breite Strophe kaum Anklang gefunden, doch wurde sie bereits von Conrad Ferdinand Meyer in Alle (1882) zur visionär umfassenden Darstellung verwandt.13 Der in Georges Nachthymne formal verankerte selbstreflexive Verweis auf die Gattungspoetik der Hymne setzt sich im wiederum verkürzten letzten Vers der dritten Strophe fort: Die Ode bezeichnet etymologisch den Gesang, ist aber, unter anderem bei Goethe, auch ein Synonym für die Hymne. Der Hymnendichter, als der sich das lyrische Ich zu erkennen gibt, betont die Nähe seiner dichterischen Hervorbringung zur antiken Haltung der Götterverehrung: antithetisch greift die rhetorische Frage der dritten Strophe „Bin ich so ferne schon von opferjahren? / Entweiht mich süsses lüsten nach dem tode“ auf das „reine opfer“ der vorangegangen Strophe zurück. Zudem betont das lyrische Ich im Präteritum („sang“), dem Tempus der zweiten Strophe, seine dichterischen Verdienste, die klanglich („lobe liess“ – […]liebe […]-ode“), grammatisch – die Verwendung von Komposita, die zugleich Neologismen sind („mutberauscht“, „freudenliebe sonnenode“) – und semantisch (die Lichtmetaphorik verbindet die Verse 7, 8 und 14), mit der heraufbeschworenen antiken Welt verbunden sind. Die Sehnsucht des Dichters sich „rein“ zu halten und die Rückbindung an ein Göttliches scheinen die sinnliche Erfüllung auszuschließen. Sein Dichten verwertet sinnliche Reize und lebt von der Sublimation. Indem der Dichter dieses Opfer „gern“ auf sich nimmt, ist er sich der Unversöhnlichkeit von Kunst und Leben bewusst: Die vom Sprecher angeführte eigene Wertlosigkeit ist weniger als provozierende Selbstaufgabe und Selbsterniedrigung im Rahmen eines sozialen Machtgefüges zu verstehen, sondern bildet vielmehr das konzeptuelle Gegenstück zum Wert des künstlerisch Produzierten, das im Unterschied zum ephemeren Dasein des Lebenden einen Anspruch auf überindividuelle Dauerhaftigkeit erheben darf.14

12 Ebd., S. 518. 13 Vgl. ebd. 14 Jürgen Brokoff: Geschichte der reinen Poesie (wie Anm. 6), S. 465.

Maurizio Pirro

Pilgerfahrten Wie ertragreich für Stefan George die ersten Monate des Jahres 1891 ausfielen, merkte schon Carl August Klein, als er in einem vor Ostern 1891 an den Freund adressierten Brief schrieb: „ich bin erfreut von Ihrer permanenten Fruchtbarkeit zu vernehmen. […] In Venedig schauten Sie viel? Ich denke mir, Sie haben wieder Ihr zweites werk vollständig concipirt sodass es bis frühherbst druckreif.“1 Nach dem Erscheinen der Hymnen im Oktober 1890 stand der Dichter in der Tat mitten in einer äußerst schöpferischen Phase, die nicht nur während des von Klein angesprochenen Aufenthalts in Venedig, sondern auch in den Wochen, die George zwischen April und Juni 1891 in Wien verbrachte, mit erheblichen Ergebnissen einherging. Ende Juni lagen die Pilgerfahrten konzeptionell vor, so wie die meisten Gedichte bereits fertig waren, die in diese Sammlung aufgenommen wurden. Die zweite Jahreshälfte sollte George der Niederschrift von Algabal und der Korrekturarbeit an den Pilgerfahrten widmen, die im Dezember 1891 beim Lütticher Verleger Vaillant-Carmanne mit der symbolträchtigen Ortsangabe Wien in 100 auf Büttenpapier gedruckten Exemplaren erschienen. Die vom Verlag ausgelieferten Bände wird Carl August Klein einer sorgfältigen Prüfung unterziehen, nach der er George am 30. 12. 1891 Nachlässigkeiten in der Verpackung („glücklicherweise waren nur 5 stück an der einen ecke zerdrückt“) sowie Mängel in der Ausstattung (z.  B. Druckfehler: „Möchten es nicht mehr sein.“)2 melden wird. Fünf der in den Pilgerfahrten gesammelten 21 Texte veröffentlichte George noch einmal im ersten Heft der Blätter für die Kunst im Oktober 1892. Dies leitete im Grunde die Rezeption des kleinen Werkes eigentlich erst ein, wenn man von vereinzelten Hinweisen in französischsprachigen Zeitschriften absieht, zu denen George über befreundete Mitarbeiter wie Albert Saint-Paul leichten Zugang hatte.3 Im Februar 1893 bescheinigte Stéphane Mallarmé diesen Gedichten, die in den Blättern zusammen mit Auszügen aus den Hymnen und Algabal zu lesen waren, einen kongenialen Ton, der sich ihm selbst über das Hindernde einer „langue ignorée“4 hinaus kenntlich machte.

1 StGA George, III, 6991. 2 Ebd. George, III, 7016. 3 Jörg-Ulrich Fechner verzeichnet drei Kurzbesprechungen aus dem Jahr  1892, die Adolphe Retté (in L’Ermitage), Albert Mockel (in La Wallonie) und Albert Saint-Paul (in L’Ermitage) zu verdanken sind. Saint-Paul übersetzt auch sechs Gedichte aus der Sammlung. Vgl. „L’âpre gloire du silence“. Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der „Blätter für die Kunst“ 1890– 1898. Hg. v. Jörg-Ulrich Fechner. Heidelberg 1998, S. 35  ff. Zum Kontext von Georges früher Rezeption in französischsprachigen Kulturräumen vgl. Christoph Perels: Stefan George in Paris. Rekonstruktion einer literarischen Szene. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 20 (2012), S. 173–197. 4 Stefan George – Stéphane Mallarmé: Briefwechsel und Übertragungen. Hg. v. Enrico De Angelis. Göttingen 2013, S. 65.

44 

 Maurizio Pirro

Wenige Monate später schrieb Max Dauthendey an Klein im Hinblick auf dasselbe Blätter-Heft, dass „Stephan [sic!] George’s Dichtungen wie tiefe Rubinen [sind]. Ihr Feuer verlöscht nie. Seine Sprache ist edel und geschmeidig gebogen wie die Linie einer gothischen Säule. über allen Poesien liegt vornehme stolze Dämmerung, wie in den Hallen eines Tempels.“5 Als die Pilgerfahrten 1898 (mit Erscheinungsdatum  1899) ihre zweite Ausgabe bei Bondi erleben, in der sie nun mit den Hymnen und Algabal wieder präsentiert werden, hat sich eine kreisinterne Rezeption etabliert, die das von dem Dichter selbst prädisponierte Paradigma, sie seien aus der Gegenüberstellung mit den anderen Jugendarbeiten Georges heraus als ganz bestimmte Entwicklungsstufe zur Reifung der Hauptwerke zu verstehen, nicht nur bedient, sondern weiter zuspitzt. Bekanntlich bekräftigt George dieses Kontinuitätsverhältnis innerhalb seiner ersten Sammlungen, indem er sie 1898 mit einer Aufschrift und einer Widmung versieht, die durch den Hinweis auf die drei Vertrauten Carl August Klein (Hymnen), Hugo von Hofmannsthal (Pilgerfahrten) und Albert Saint-Paul (Algabal) Querverbindungen und Entwicklungsstrukturen innerhalb von Georges früher Poetik in einen geselligen, auf die Gründung des Kreises bereits ausgerichteten Rahmen einbindet. Albert Saint-Paul selbst formuliert ein solches Interpretationsmodell eindeutig, als er  1894 die drei Sammlungen folgendermaßen gliedert: „ses trois poèmes: Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal, nous livrent, comme en une symphonie orchestrale, la vie sensationelle d’une âme supérieure­ment aristocratique: picturale dans Hymnen, idéale dans Pilgerfahrten, musicale dans Algabal.“6 Mit vergleichbarem Zugriff argumentiert Karl Wolfskehl ebenfalls 1894, indem er im Novemberheft der Münchner Allgemeinen Kunstchronik den Pilgerfahrten im Hinblick auf die Hymnen das Verdienst zukommen lässt, dass sich darin „Georges Können zum erstenmale völlig frei [zeigt]“7. Auch Friedrich Gundolf wird sich dieser Sichtweise anschließen, wenn er die Pilgerfahrten als eine Vorstufe zu Algabal bezeichnet, in dem George erstmals „zu einem runden Gesamtbild seines Gehalts über Ton und Wort hinaus kommt.“ Insofern seien sie „dazu der Übergang, noch wechselnd zwischen rhythmischen Ausklängen der Erregungen, landschaft­ lichen Spiegelungen der Zustände und Geberdenbildern der Gesinnung.“8

5 StGA George III, 2521. 6 Albert Saint-Paul: Portraits du prochain siècle. Bd. 1: Poetes er prosateurs. Paris 1894, S. 89  f. Zit. in „L’âpre gloire du silence“ (wie Anm. 3), S. 95. 7 Zit. ebd., S. 108. 8 FG 73. Zu Recht stellt Joachim Jacob Folgendes fest: „die vor allem in der älteren George-Forschung etablierte Auffassung, dass die drei Werke in ihrer Abfolge zugleich auch einen Entwicklungsprozess Georges zu einem ersten Höhepunkt künstlerischer Vollendung dokumentieren, sollte […] ein angemessenes Verständnis der drei Zyklen in ihrer jeweiligen Besonderheit nicht verstellen“ (GHb I, 107– 121, hier 107).



Pilgerfahrten 

 45

Die Überlieferung der Pilgerfahrten stützt sich auf mehrere Handschriftengruppen, innerhalb derer, neben verschiedenen Einzelblättern, drei Konvolute herausragen, die Abschriften von zahlreichen Gedichten enthalten und in zwei Fällen alternative Titel für die Sammlung nachweisen, die George gelegentlich erwogen haben soll. Eine in sechs Doppelblättern enthaltene Auswahl von zwölf Texten, die dem Zeitraum unmittelbar vor Manuskriptabschluss zuzuordnen ist und jedenfalls auf eine fortgeschrittene Ausgestaltung des der Sammlung zugrunde liegenden Gesamtkonzepts hindeutet, trägt die Titelbezeichnung „Braut- und Pilgerzüge“. Nur „Pilgerzüge“ ist dagegen in einem Konvolut ähnlicher Art zu lesen, in dem neun Gedichte auf beigem Büttenpapier von George eigenhändig präsentiert werden. Eine weitere Variante belegt Albert Saint-Paul, als er 1891 im Oktoberheft von L’Ermitage das Erscheinen von „un nouveau volume de vers: Braut und Wanderfahrten“9 für den Winter ankündigt. Semantisch überschneiden sich alle diese Varianten in der Vorstellung von Pilgerschaft als Metapher für das Wesen des Dichters. Zeitlich entsprechend mit einem solchen Wortgebrauch ist Georges Übertragung von Charles Baudelaires Gedicht Bénédiction, in dem das Wort „pèlerinage“ aufkommt, das der Dichter mit „pilgerzüge“ übersetzt. Ute Oelmann hat darauf hingewiesen, dass eine solche Übersetzungsoption die Überschrift der Pilgerfahrten beeinflusst haben könnte, da George Bénédiction noch vor Ende 1891 in deutscher Übersetzung (Segen) vorlegt (SW II, 109)10. Strukturell sind die Pilgerfahrten aufgrund der relativ großen Andersartigkeit der Texte hinsichtlich der metrischen und sonstigen formalen Eigenschaften hauptsächlich durch die Gliederungsfunktion der Leerseiten markiert, die in der ersten und der zweiten Ausgabe jeweils anders ausfallen. Beide Ausgaben weichen zunächst einmal wegen des Gedichts Beträufelt an baum und zaun voneinander ab, das erst 1898 in den Zyklus aufgenommen wird. Wird 1898 darüber hinaus nur den ersten und den letzten beiden Gedichten durch Trennung vom Hauptteil der Sammlung eine exponierte Stelle zugewiesen, so ist in der ersten Ausgabe ein solches durchsichtiges Gliederungsverfahren nicht vorhanden. Bleibt George in der zweiten Ausgabe bei der ursprünglichen Reihenfolge der Texte, so vereinfacht er dort deren räumliche Disposition nachdrücklich, indem er die 1891 noch neun Stellen, an denen ein Gedicht vom nächsten durch Einfügung von einer oder zwei weißen Seiten gekennzeichnet war, auf die zwei am Anfang und am Schluss der Sammlung gelegenen Stellen der letzten Fassung reduziert. Dabei ging es in der ersten Ausgabe um Gruppierungskriterien, die, wo sie überhaupt zu erkennen waren, mit dem Entstehungsort der entsprechenden Gedichte zusammenhingen, wie sich aus dem Vergleich mit der Braut- und Pilgerzüge betitelten

9 Zit. in „L’âpre gloire du silence“ (wie Anm. 3), S. 34. 10 Hubert Arbogast ist eine an philologischer Sorgfalt immer noch unübertroffene Untersuchung zur Art und Weise zu verdanken, wie sich bei George die Übersetzungsarbeit an Baudelaires Gedichten auf die eigene lyrische Tätigkeit auswirkt (HA).

46 

 Maurizio Pirro

Handschrift ergibt, in der solche Ortsangaben noch genannt werden. 1898 fällt die Gliederung der Texte nach deren Entstehungsumständen komplett weg. Die Korrekturarbeit an den Pilgerfahrten nimmt George in verschiedenen Momenten vor. Carl August Klein fungiert dabei als Gesprächspartner und Vermittler zwischen George und anderen Lesern, die ihre Meinung zum entstehenden Zyklus gegenüber dem Autor äußern wollen. Bereits im April 1891 bringt Klein in seinen Briefen an George Bemerkungen und Bedenken zu einigen Stellen in für die Pilgerfahrten bestimmten Gedichten zum Ausdruck, lobt Gelungenes, gesteht bisweilen auch Unverständnis ein. Im Rahmen dieser interpretatorischen Tätigkeit versucht sich Klein außerdem in einer systematischen Rechtfertigung der Sammlung gegenüber der Kritik, der der gemeinsame Freund Carl Rouge sie unterzogen hatte. Zwischen den beiden entflammt im Herbst 1891 eine rege Diskussion, die drei Briefe umfasst und deren eigentlicher Gegenstand eine absolute Legitimierung hinsichtlich der Auslegung von Georges Gedichten ist. Dieser kurze Briefwechsel ist insofern besonders interessant, als Klein seine Antwort an Rouge zu einer allgemeinen Darlegung der Poetik Georges ausformt, die George sicherlich kannte, wenn er sie nicht sogar direkt inspirierte. Rezeptionsgeschichtlich stellt der hermeneutische Konflikt zwischen den Mitstreitern Georges nicht nur einen sehr frühen Beleg für die Wirkung der Pilgerfahrten dar, sondern beide Interpreten führen ihre Aufgabe vielmehr mit derartiger philologischer Genauigkeit und tiefgehender Einsicht in die Absichten des Dichters aus, wie sie den Pilgerfahrten in ihrem kritischen Nachleben wohl nie wieder zukommen sollten, da sie meistens, wie auch nach Claude Davids eher skeptischem Diktum, als eines „der am schwersten zugänglichen Werke Georges“ (CD 58) angesehen werden sollten. Auch Rouge moniert, die Pilgerfahrten-Gedichte seien schwer verständlich, denn sie beriefen sich zwar auf allgemein menschliche Begebenheiten, indem in ihnen stimmungsbeladene Bilder dargestellt würden, stünden jedoch in keinerlei Zusammenhang mit der geistigen Situation eines deutlich bestimmbaren Einzelmenschen. Damit trifft Rouge den Nerv von Georges früher Poetik, nur dass dies paradoxerweise insofern gegen die Programmatik des Dichters geschieht, als die Ausblendung von jeglichem psychologischen und subjektiven Charakter der lyrischen Aussage gerade im Mittelpunkt der literarischen Auffassung beim jungen George steht.11 Daher Rouges Verbesserungsvorschläge, die oft schulmeisterlich anmuten, so wenn er z.  B. Veränderungen bei der Interpunktion in Siedlergang nahelegt und weiter ausführt: „Zweck der Interpunktion soll sein, gleich beim ersten Lesen die wünschenswerten Pausen klar zu machen. Da nicht immer am Versende auch der Gedanke schließt,

11 Einleuchtendes dazu im Hinblick auf den Streit von Klein und Rouge in Ute Oelmann: Das Gedicht als „Gebilde“. Zur Poetik des jungen Stefan George. In: „Sinnlichkeit in Bild und Klang“. Festschrift für Paul Hoffmann zum 70. Geburtstag. Hg. v. Hansgerd Delbrück. Stuttgart 1987, S. 317–325.



Pilgerfahrten 

 47

muß man sich an den nötigen Stellen zu einem Zeichen entschließen.“12 Die Irritation, die Rouge in seinem Schrei­ben mehrfach zum Ausdruck bringt, wird immer wieder von sprachlichen Verwendungsarten ausgelöst, die von allgemeinen Normen abweichen und das Verständnis des Lesers erschweren. So fragt Rouge in Bezug auf Lass deine tränen (SW II, 36) und insbesondere auf einen kühnen Reim, den George dann wieder zurücknehmen wird, „mit welchem Recht schreibt man ‚am bodem‘? Dann doch lieber ‚boden‘ und ‚odem‘ reimen.“ Seine Verwirrung über Georges Eigenart steigert sich dermaßen, dass er sich auf Verrisse von einzelnen Gedichten einlässt, die er aus der Sammlung lieber entfernen würde. Dies ist nicht nur bei Lass deine tränen der Fall, sondern auch bei Du folgst der horde, das „auch nicht glänzend [ist]. Fiele auch besser weg.“ Kleins Replik nimmt zu allen von Rouge erhobenen Einwänden in abweisendem Ton und nicht ohne bissige Randbemerkungen Stellung. Im Gestus des Eingeweihten legt Klein dar, wie Rouges Bedenken nichts als dessen Entfernung vom intendierten Sinn der Aussagen Georges bezeugen. Wollte Rouge bei Lass deine tränen nur die „Technik“ gelten lassen, so entgegnet ihm Klein: „Sie nahmen nur blindheit und kälte in der form wahr. Für mich ist sie von weicher wärme und wunderbarer transparenz. Eine instrumentation giebt Ihnen eine vereinigung von geräuschen und vermittelt Ihnen nichts?“13 Hatte Rouge in der Schlusszeile von Lass der trauer kleid und miene das Wort „klangdraht“ als „schauderhaft“ bezeichnet, so fühlt sich Klein dadurch berechtigt, ihm zu antworten, „eine schauderhaftere ausdrucksweise als Ihre verurteilungs-art des ‚klangdrahts‘ habe ich weder aus den schriften noch aus dem munde des gerügten verfassers je gehört.“ Was dann das Wort „bodem“ betrifft, so wird Rouge unter Rekurs auf Daniel Sanders’ Wörterbuch der Deutschen Sprache eines Besseren belehrt, da er dort nachlesen könnte, dass das betreffende Lemma „nicht nur im mhd. allgemein galt und im volksmund der neueren sprache fortlebt sondern heute von gebildeten leuten gesprochen wird.“ In einem weiteren Brief am 19. 10. 1891 kommt Rouge u.  a. auf Kleins Vorwurf zurück, er habe sich zu dem, was ihm als tadelhaft erschien, auf nicht angemessene Weise ausgedrückt, und thematisiert gegenüber dem Freund die Frage, welche Umgangsformen innerhalb des kleinen Kreises zu pflegen sind: Die Kritik an den noch nicht gedruckten Texten – so Rouge – „war nicht für fremde bestimmt sondern für den verfasser und den glaube ich genug zu kennen um annehmen zu dürfen dass er die bemerkungen die er ausbat nicht übel nimmt. Warum sollen Wir die meinungen in watte einwickeln – das braucht es hoffentlich zwischen uns nicht“14.

12 Im StGA sind von Rouges Brief sowohl die Handschrift des Verfassers (George IV, 820) als auch die Abschrift, die Klein für George verfertigte (ebd., 820a), aufbewahrt. 13 Von Kleins Antwortschreiben an Rouge ist im StGA eine Abschrift aufbewahrt, die Klein selbst eigenhändig anfertigte und mit dem Titel Rettungen der Pilgerfahrten versah (George IV, 812). 14 StGA George IV, 819.

48 

 Maurizio Pirro

Viel bedeutender als dieser Schlagabtausch zwischen Gleichgesinnten, die sich gegenüber einer von beiden verehrten Bezugsfigur möglichst günstig zu positionieren versuchen, ist mit Sicherheit Rouges Schlussschreiben, in dem er aus dem bisher Dargelegten eine Gesamtdarstellung der Poetik Georges auch über das Spezifische der Pilgerfahrten hinaus zu gewinnen versucht. Ausgehend von den PilgerfahrtenGedichten gelingt ihm eine erstaunlich frühzeitige Standortbestimmung von Georges Schreibweise, bei der er einige wichtige Tendenzen mit bemerkenswertem Scharfsinn erkennt, die er aber in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung dann alles in allem doch missversteht: Die Gedichte [Georges] sind meistens Gefühls-, Stimmungsbilder; seltener macht sich Reflexion geltend, die dann manchmal sogar störend wirkt, z.  B. in ‚Ich darf so lange nicht am thore lehnen‘. Gegen diese Gefühlslyrik ist nichts einzuwenden. Die plastische Anschauung und die glutvolle Darstellung erinnern an Boecklin (wenn man einen solchen Vergleich aus einer verwandten Kunst gestatten will): aber die Gedichte sind ganz individuelle, ganz subjective Empfindung (das tritt besonders in den ‚Pilgerzügen‘ hervor, mehr als in den ‚Hymnen‘), während wir bei Boecklin zwar auch Subjectivität haben, die sich jedoch mit dem Allgemeingefühl der Zeit durchaus berührt. Natürlich ist das auch bei George nicht ausgeschlossen, so daß einzelne Gedichte, aus dem Zusammenhang gerissen, vollen Genuß bereiten; viele bieten rein aesthetische Befriedigung, wenn wir darunter nur die Wirkung der Form verstehen. Es fehlt aber die Berührung des Gemüts, eben wegen der Subjectivität dieser Ergüsse. Und der Inhalt eines Kunstwerkes muß diese Wirkung haben, wenn er befriedigen soll. Die Gedichte sind trotzdem interessant: es verbindet sie die Persönlichkeit des Verfassers. Aber damit hören sie auf, zur Lyrik zu rechnen, sie werden zum Drama in ihrer Gesamtheit, nur daß diesem Drama die Aktivität fehlt. Das Passive, das in den Gedichten sehr stark hervortritt, ist dennoch von Ruhe sehr weit entfernt; die einzelnen Gedichte und Stimmungen selbst sind gewissermaßen die Personen des Dramas, die mit und gegeneinander kämpfen, sich verdrängen. Es fehlt aber eine einigende Person, ein Wille, der über ihnen stände, so daß sie uns verständlich würden. So stellt jedes Gedicht einen Zustand dar, und es wird verlangt, daß wir die Verknüpfung mit den übrigen selbst vornehmen. Dafür fehlt uns aber das Substrat, das allein uns wirklich bewegen und erregen könnte. Es sind und bleiben Bilder, die zwar teilweise unseren Empfindungen gleichen, teilweise aber uns unverständlich bleiben müssen, da wir für ihr Subject nichts zu empfinden vermögen. Gelegentlich kann es glücken, sich dies Subjekt mittelst der Verknüpfung zu construiren: das heißt aber dem Leser selbst productive Thätigkeit zumuten. Nun sind zwar die Bücher die besten, die zum selbsterschaffenden Denken anregen: aber mit der Kunst ist es doch etwas anderes. Man würde schwerlich sehr zufrieden mit dem Shakespeare sein, der seinem Hamlet statt des Monologs „To be or not to be“ nur ein „Hm!“ in den Mund legte. Der Leser könnte sich dabei zwar sehr viel denken – aber …15

Rouge wird mit sicherem Instinkt der Tatsache gewahr, dass Georges Gedichte ohne die Anbindung an die subjektive Gemütslage des Aussagenden kaum vorstellbar

15 Rouges Aufsatz, den George in den 1920er Jahren Friedrich Wolters im Rahmen der Vorbereitungsarbeiten zu dessen Blättergeschichte zur Verfügung stellte, hat Ute Oelmann ediert. Vgl. Das Gedicht als „Gebilde“ (wie Anm. 11), S. 319  f. (hier mit einigen Berichtigungen nach der handschrift­lichen Fassung).



Pilgerfahrten 

 49

sind. Jeder Bezug auf konkrete Lebenssituationen wird aber durch den zumal für den jungen George so charakteristischen Drang nach Abstraktion und Objektivität gleich aufgehoben. Seine Lyrik ist subjektiv bedingt, ohne ins Prokrustesbett der spezifischen Bezogenheit auf einen bestimmten Lebenslauf gedrängt werden zu können. Das Konturierende und zugleich Einengende des Individuellen vermisst Rouge, wenn er bei George das Fehlen jenes „Allgemeingefühls der Zeit“ beklagt, das er dagegen bei Böcklin für vorhanden hält. Im Mittelpunkt der Pilgerfahrten steht tatsächlich die Frage nach dichterischer Subjektivität im Hinblick auf die Art und Weise, wie ästhetisches Erleben Individualität steigert, sie aber auch Gefahren aussetzt. Typisch für die gesamte Sammlung ist ein identitätsstiftendes Anliegen, das hauptsächlich in der Erprobung von unterschiedlichen Subjektivitätsmodellen zum Ausdruck kommt. Maskierung und Verwandlung dienen sowohl zur Intensivierung geistiger Kräfte als auch zur Signalisierung der Grenze, die das Individuum nur auf die Gefahr der Selbstzerstörung hin überschreiten kann. George präsentiert Subjektivität als instabiles, integrationsbedürftiges Paradigma in einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen Entgrenzungsverfahren und auf Selbstbeschränkung angelegten Verhaltensformen. Die Übernahme verschiedenartiger Identitätskonstrukte läuft darauf hinaus, Subjektivität als labil und brüchig zu entlarven, solange sie an den Anforderungen des rein pragmatischen, unreflektierten Lebens gemessen wird. Insofern, als es bloß agieren soll, ist das Ich zum Versagen verurteilt. Steigerung ist für menschliche Individualität erst dann möglich, wenn sie sich über das Vergängliche zufälliger Zusammenhänge erhebt, wenn sie also zum ästhetischen Gebilde wird. Textualisierung von Subjektivität wird in den Pilgerfahrten als festigende Strategie mit entschiedener kulturkritischer Akzentuierung betrieben, da George die Ästhetisierung von identitätsbildenden Strukturen als eine Antwort auf die Fragmentarisierungsprozesse betrachtet, die ihm mit der Moderne aufs engste verbunden zu sein scheinen und denen er in dem für seine Poetik konstitutiven, abwehrenden Gestus durch eine neue, nur wenigen Auserkorenen zugängliche Kultur der Totalität entgegenarbeiten will. Semantisierung des subjektiven Erlebens erfolgt zunächst einmal über textimmanente Codierungen, denen eine ‚werkpolitische‘ Zielsetzung zugrunde liegt. Durch den im Titel der Sammlung enthaltenen Bezug auf den letzten Vers der Hymnen, in dem von einem „Pilger mit der hand am stabe“ die Rede ist, wird in den Pilgerfahrten eine Technik zum ersten Mal angewendet, derer sich George auch weiterhin in seiner Tätigkeit als Schriftsteller bedienen wird. Beabsichtigt wird ein höherer Grad der Kohäsion unter den verschiedenen Teilen des Gesamtwerks, was vom Leser einen entsprechenden Grad an Aufmerksamkeit und hermeneutischer Anstrengung erfordert. Intensive Textualisierung der dichterischen Subjektivität soll hier ein Verfahren von Entpersonalisierung einleiten, durch das poetische Aussagen von einer erkennbaren psychologischen Ausgangssituation abgekoppelt werden und einen nicht exakt konkretisierbaren, Allgemeingültigkeit anstrebenden Wahrheitscharakter erhalten sollen. Steffen Martus hat darauf hingewiesen, wie der Anspruch auf ganzheitliche

50 

 Maurizio Pirro

Gestaltung der auktorialen Souveränität, der in einer solchen Technik implizit ist, auch eine Semantik des Scheiterns insofern miteinschließt, als diese Programmatik den Leser mit „uneinlösbaren Zumutungen“16 konfrontiert. Dabei treten Spannung und Erregung, die das dichtende Subjekt prägen, nicht zuletzt in der Pflege konsensstiftender Ausdrucksweisen hervor, die für die Gedichte gleichsam einen eigenen sozialen Rahmen erschaffen. Ist Georges Erlesenheitsbegriff zu Beginn der 1890er Jahre von der streng normierten Pragmatik des Kreises noch sehr weit entfernt, so zeichnet die Suche nach freundschaftlicher Bindung den in den Pilgerfahrten heraufbeschworenen Zustand intensiven ästhetischen Erlebens auf markante Weise aus. Rückblickend wird George diesen Aspekt noch weiter zuspitzen, indem er die zweite Ausgabe der Pilgerfahrten mit einem biblischen Zitat einführt, das in klagendem Ton auf die Verlassenheit des durch die Kunst Stigmatisierten hindeutet,17 aber vor allem indem er die Sammlung Hugo von Hofmannsthal „im Gedenken an die Tage schöner Begeisterung“ widmet, damit geradezu überdeutlich auf einen misslungenen Versuch anspielend, Einsamkeit und Isolation zu überwinden.18 Dem Gestus der ‚Pilgerfahrt‘ wohnt eine Dynamik inne, die sich in der Sammlung als Übergang und Schwellenüberschreitung definieren lässt.19 Lyrische Subjektivität wird im Akt des Austretens aus der Enge einer überholten oder unerwünschten Lebenssituation dargestellt, was das Ich allerdings auch als Austritt aus sich selbst und als Suche nach einer neuen Identität erlebt. Eine solche Suche ist jedoch von der Angst um die eigene Integrität nicht zu trennen. Die Veränderung der eigenen Existenz konfrontiert das Subjekt mit der Möglichkeit einer geistigen Wandlung, die zwar die Faszination einer glücklichen Wiedergeburt, aber auch das Bedrohliche eines Identitätsverlustes in sich birgt. Die in die Ausgabe von 1898 aufgenommene Aufschrift thematisiert in einer knappen Erzählsequenz sowohl die Aufgeschlossenheit des Abschied Nehmenden („Also brach ich auf“), als auch die desillusionierende Entfremdung, der dieser ausgesetzt ist („und ein Fremdling ward ich“).20

16 Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin 2007, S. 573. 17 „ALSO BRACH ICH AUF / UND EIN FREMDLING WARD ICH / UND ICH SUCHTE EINEN / DER MIT MIR TRAUERTE / UND KEINER WAR“, SW II, 30. 18 Vgl. Jens Rieckmann: Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer ‚Episode‘ aus der Jahrhundertwende. Tübingen u. Basel 1997 u. RK 80–86. 19 Das Pilgern wird oft in einen religiös konnotierten Referenzrahmen eingebettet, in dem George Erfahrungen von Genesung und Erlösung verortet. Dies ist z.  B. im Anfangsgedicht des dreiteilig gegliederten Zyklus Verjährte Fahrten der Fall, SW II, 50. 20 Diese der gesamten Sammlung innewohnende Tendenz hat Jürgen Wertheimer (Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen. München 1978) pointiert aufgezeigt: „Monologisierendem Aufbruch folgt der Ansatz zu dialogischer Verständigung, der Versuch analytischer Durchdringung des Gegenübers, die detaillierte Registrierung eigener und fremder Regungen, die selbstquälerische Antizipation und Verwerfung potentieller Verhaltensmöglichkeiten – dennoch das

Pilgerfahrten 



 51

Einen solchen Grundkonflikt zwischen einem unbefriedigenden Zustand, der überwunden werden muss, und einem alternativen Zustand der psychischen Regenerierung, in dem aber das Subjekt, nachdem es ihn errungen hat, sich selbst nicht mehr wiedererkennen kann, thematisiert George in den Pilgerfahrten als Erfahrung der Selbsttherapie und der Bändigung von Leidenschaften. Disziplinierung der Affekte wird in betont spröder Art gefordert, die von charismatischer Machtausübung begleitet wird. Der ungleichen Beziehung zwischen einem übergeordneten Geist, der eine leitende Funktion übernimmt, und seinem unreifen Zuhörer, dem aus dem Leiden einer nicht mehr erträglichen Abhängigkeit geholfen werden muss, misst der Dichter pädagogischen Wert bei. Konzise Mahnungen im Imperativmodus sollen das Pathosbeladene an den Gefühlen entkräften und der Psychologisierung der Affekte entgegenarbeiten: Lass deine tränen Um ein weib · Falsch ist dein wähnen · Ruh und bleib! Merk ob am boden Schnee schon taut · Wärmender odem Beete baut! Vor seine feier Juni schliesst Ob ohne schleier Du sie siehst? Lass deine tränen Um ein weib · Falsch ist dein wähnen Ruh und bleib! (SW II, 36)

Lustvolle Hingabe an die verführende Kraft der sinnlichen Anziehung trägt zwar die Gefahr der Selbstauflösung in sich, bietet aber andererseits auch die Chance einer Genesung, die sich auf die befreiende Vorstellung einer radikalen Verjüngung stützt. In den Pilgerfahrten kommt die die Dichtung Georges prägende Ambivalenz der Erotik an mehreren Stellen zum Ausdruck.21 Das Bindende an den zwischenmenschlichen

Tasten nach dem Gegenüber …, schließlich – erneut, definitiv – die Loslösung von der Umwelt, der radikalisierte Rückzug in die Isolation“ (S. 66). 21 Robert Vilain (Stefan George’s Early Works 1890–1895. In: JR 51–77) bringt dies äußerst überzeugend auf den Punkt: „On one level the central figure seeks deeper understanding of himself and his calling, and to this end sometimes needs a companion or a lover; on another level, the companion-

52 

 Maurizio Pirro

Beziehungen gleicht den Verlust an Selbstständigkeit aus, den der Gebundene erleidet. Die Einsicht in die Notwendigkeit der Selbstopferung schränkt jedoch das Empfinden von Lustgefühlen erheblich ein und mischt den Affekten einen unüberhörbaren melancholischen Ton bei. Eine Steigerung wird durch das Aufkommen erotischer Anziehung ausgelöst, jedoch durch Unregelmäßigkeit und Formlosigkeit der körper­ lichen Verschmelzung konterkariert. Eine solche Dialektik wird für George im Laufe der Jahre wachsende Bedeutung annehmen, denn die für den Paideia-Begriff des Kreises konstitutive Ambiguität von erlebter Anziehung und Sublimierung der damit einhergehenden Körperlichkeit ist offensichtlich hier begründet. Im Zyklus schwankt die Repräsentation der Lust noch schrankenlos zwischen dem bedingungslosen Erstreben der eigenen Wunschvorstellungen und deren strenger Unterordnung unter das Absolute eines moralischen Gesetzes, wobei auch Ersteres nie ohne plagende Schuldgefühle und Bekundungen von Unsicherheit auftritt. So in den beiden Gedichten, die unter dem Titel Gesichte präsentiert werden: Dem selbstbewussten Auftreten einer adligen, sich selbst auf prunkhafte Weise stilisierenden Frau, die ihren sinn­ lichen Neigungen bedenkenlos nachgibt,22 wird eine zweifelnde Figur entgegengesetzt, die den direkten Kontakt mit dem geliebten Objekt scheut und das Aufflammen von Erotik nicht mit ihren gewohnten Wertvorstellungen in Einklang bringen kann: Ich darf so lange nicht am tore lehnen · Zum garten durch das gitter schaun · Ich höre einer flöte fernes sehnen · Im schwarzen lorbeer lacht ein faun. So oft ich dir am roten turm begegne Du lohnest nie mich mit gelindrem tritt · Du weisst nicht wie ich diese stunde segne Und traurig bin da sie entglitt. Ich leugne was ich selber mir verheissen.. Auch wir besitzen einen alten ruhm · Kann ich mein tuch von haar und busen reissen Und büssen mit verfrühtem witwentum? (SW II, 40)

figures, usually women, represent seductive distractions from or corruptions of his poetic mission or spiritual journey“ (S. 56). 22 „In schweren sammet hat sie sich gebauscht · / Den ersten hub aus unerhörten frachten / Und an dem reichen öle sich berauscht  / Das neulings ihr die Inderschiffe brachten.  // Nun hat sie in verhangenem gemach / Zu einem ruhmeslosen fant gesprochen: / Vermelde man am markte meine schmach · / Ich liege vor dir niedrig und gebrochen.“ (SW II, 39) Diese und weitere Formen von sinn­ licher Überladung der sprachlichen Führung und der poetischen Figuren haben die Sekundärliteratur zum Vergleich mit Jugendstil-Darstellungsweisen veranlasst. So Gabriel Simons: Die zyklische Kunst im Jugendwerk Stefan Georges, ihre Voraussetzungen in der Zeit und ihre allgemeinen ästhetischen Bedingungen. Köln 1965, S. 272  f.



Pilgerfahrten 

 53

Die Behauptung, über den Drang, neue Identitätsmodelle zu erproben, hinaus erlebe das lyrische Ich schließlich nichts als Enttäuschendes, wäre allerdings falsch. Die Therapie des verletzten Subjekts erfolgt nicht nur durch den Eintritt in die geborgene Dimension eines überpersönlichen Gesetzes, sondern fußt auch auf dem Vergnügen, das dadurch entsteht, ausgediente Selbstdarstellungsparadigmen zu verwerfen und selbst in völlig verändertem Gewand aufzutreten. Identitäre Metamorphosen werden mit sichtlicher Lust inszeniert. Ästhetisierung speist sich aus dem Gefallen, der durch die Übernahme divergierender Modelle hervorgerufen wird. Variation und Kontrafaktur gestalten sich in den Pilgerfahrten als durchaus kongeniale Elemente der ästhetischen Souveränität. In der Fähigkeit, die eigene Identität zu pluralisieren, erblickt George weniger eine korrumpierende Attitüde als vielmehr einen Beleg der geistigen Erlesenheit sowie eine spezifische Form des dichterischen Daseins. Die Querverbindungen zu der Diskussion um den ambivalenten Charakter der Dekadenz, die wenige Jahre zuvor in Nietzsches Fall Wagner (1888) einen Höhepunkt erlebt hatte, sind hier nicht zu verkennen. Die Vorstellung, dass Travestie und Aneignung des Fremdartigen, also jenes Talent zur Mimikry, das Nietzsche als die eigentliche Grundlage von Wagners Musik angeprangert hatte, zum Wesenhaften eines jeden Künstlers der Moderne gehören, durchdringt Georges Dichtungsbegriff von seinen ersten schriftstellerischen Versuchen an. Sämtliche Inszenierungsstrategien, die seine Lyrik, die Pflege seines hoch stilisierten Selbstbildes mit Hilfe verschiedener visueller Medien und die innerhalb des Kreises durchgeführte Kulturpolitik prägen, basieren zum größten Teil auf einem solchen Postulat. Autofiktion betreibt George bald durch die Vervielfältigung der Erscheinungsformen vom lyrischen Ich in seinen Gedichten, bald durch die Ritualisierung des Dienstes an der eigenen Person, der von den Kreis-Mitgliedern gefordert wird. Im Dekadenz-Diskurs um die Jahrhundertwende kritisierte man einerseits den selbstbezogenen Charakter dieser Praktiken als unfruchtbar, so wie man andererseits die technische Leistung, die ihnen zugrunde lag, als Ausdruck intensiver Gestaltungskraft ästhetisch legitimierte. George selbst registriert diese Ambivalenz, als er 1894 im zweiten Jahrgang der Blätter für die Kunst schreibt: Niedergang (dekadenz) in verschiedener hinsicht ist eine erscheinung die man unklugerweise zum einzigen ausfluss unsrer zeit machen wollte – die gewiss auch einmal in den rechten händen künstlerische behandlung zulässt sonst aber ins gebiet der heilkunde gehört. Jede niedergangs-erscheinung zeugt auch wieder von höherem leben (BfdK II, 2, S. 33).

Die Semantik der Dekadenz läuft auf seelische Verfeinerung hinaus, insofern als sie sich als künstlerisch wirksam erweist.23 Der entsprechende Affizierungszustand 23 Zum Dekadenz-Diskurs bei George vgl. Helmut Mojem: Algabal bei den Phantasten? Stefan George und Paul Scheerbart. In: GJb 4 (2002/2003), S. 36–78, sowie Dieter Kafitz: Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2004, S. 461  f.

54 

 Maurizio Pirro

grenzt zwar ans Pathologische, Krankheit wird dabei aber als erkenntnissteigernde Eigenschaft aufgewertet und über jedwede psychologische Bedingung subjektiver Art erhoben. Die Multiplizierung Identität schaffender Referenzen des lyrischen Ich ist unter dieser Bedingung sinnstiftend und ästhetisch produktiv. Die Entsubjektivierung dieser konstruktivistischen Strategie, die den Wahrheitsgehalt der dichterischen Existenz zum Gegenstand hat, setzt die Unterordnung der Ich-Maskierungen unter eine normative Instanz mit Absolutheitsanspruch voraus. Das Heterogene und Schauspielerische einer jeden künstlerischen Tätigkeit von hohem Niveau verlangt nach einem Korrektiv, um nicht in Fälschung und Hochstapelei umzuschlagen. Über diesen Weg kommt es in den Pilgerfahrten zum ersten Mal zu der für die Poetik Georges überaus charakteristischen Zusammenführung von Künstlertum und Herrschaft, Mimikry und Charisma. Das Unbeständige an der ästhetischen Souveränität, das mit der metamorphischen Natur des Künstlers zusammenhängt, wird unter Verweis auf dessen geistige Überlegenheit überboten, die wiederum über den Vergleich mit weiteren, als wertlos herabgesetzten Typologien von Existenz bzw. Weltauffassung definiert wird. Charismatische Machtausübung betreibt das lyrische Subjekt zunächst einmal, indem es für sich eine gegenüber der Unbestimmtheit des sinnlichen Lebens übergeordnete Stellung beansprucht. Dem Verharren im durch die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz bedingten Leiden wird das Vertrauen auf die genesende Kraft des Ästhetischen entgegengesetzt: Schweige die klage! Was auch der neid Zu den gütern beschied. Suche und trage Und über das leid Siege das lied! (SW II, 44)

Relativierung der seelischen Sorgen ergibt sich aus der Vertrautheit mit dem Unsichtbaren, das wegen seiner Resistenz gegenüber dem Sinnlichen nur über symbolisch beladene Ausdrucksformen wahrgenommen werden kann: Lass der trauer kleid und miene Wenn ich neuen trost auch meide: So versankest du im leide Dass er halb ein hohn erschiene. Aber mit dem grimme ringen Wann die menschen froh sich einen Dient es? wann die bronnen springen Ewig mit dem mond zu weinen? (SW II, 45)

Pilgerfahrten 



 55

Kritisch positioniert sich das Subjekt darüber hinaus auch zum Bereich der politischen Macht, indem das Ringen um weltliche Herrschaft zugunsten eines konkurrierenden Herrschaftsmodells geistiger Art abgelehnt wird. Willkürliche Machtausübung wird nicht mit einem ästhetisch geprägten Zustand in Verbindung gebracht, wie dies kurz danach in Algabal der Fall sein wird. In Mahnung wird ein durch die jubelnde Menge akklamierter König an einen höheren Wertehorizont erinnert, und die trügerischen Anzeichen seiner privilegierten Lage werden denjenigen der einzig wahren Erlesenheit gegenübergestellt: War so denn wirklich dein erstritten land? O überhöre jenen lockungschrei Und sag nicht dass dein leid dein führer sei Und wechsel nicht ein würdiges gewand. (SW II, 41)

Ästhetisierung steht auf jeden Fall im Zeichen von Exklusivität und stoischer Überwindung der Leidenschaften. Mit stark metapoetischer Ausrichtung evoziert Die Spange, das Schlussgedicht der Pilgerfahrten, die ideale Vorstellung von Dichtertum als Akt der Bewältigung von Affekten, wobei die moralische Relevanz einer solchen Praxis durch die sinnliche Wirkung und die Materialität der künstlerischen Komponenten, die zur Anfertigung der Spange angewendet werden sollen, weiter gesteigert wird: Die Spange Ich wollte sie aus kühlem eisen Und wie ein glatter fester streif · Doch war im schacht auf allen gleisen So kein metall zum gusse reif. Nun aber soll sie also sein: Wie eine grosse fremde dolde Geformt aus feuerrotem golde Und reichem blitzendem gestein. (SW II, 54)

56 

 Maurizio Pirro

Interpretation von Siedlergang (SW II, 32–33) Siedlergang So hat ihn nicht ein strahlenpfeil betrogen: Die mit der geissel eng aus eis geflochten Von jedem pfad zu bannen ihn vermochten Die winde lau nun um die stirn ihm bogen. ›Du klause manche stunden sei gemieden. In deinen schachten lohnest du mich nimmer Wie blau und rot auf weisser saat ein schimmer. O wie mein sinn entschläft in ihrem frieden‹ Ihn wirren leis die bunten sonnenmale · Den hellen bäumen folgt er ohne wende Und ohne wissen um ein strenges ende. Da stand er wieder in dem alten tale. ›Da tanzen sie mit grellen purpurschleifen. Ein fuss im rain! und schwer ist nur das wählen · Den kalten zunder brachten sie zum schwälen · Ich hasse sie und brenne sie zu greifen. Was aber schau ich nach des hügels kimme! Der treppenbogen mit den lichtgestalten Die edlen schrittes nicht im wege halten. Vor ihrer keine dränge meine stimme. Ich formte früher (emsig lief die rache) Nach meinem hange wuchs und aug und lippe · Im hohne rief ich unter froher sippe: Ist alle schöne so gering? ich lache. Nun gehrt mein gram nach jeder bleichen miene · Um eine braue steh ich nun geblendet · Um eine wimper ist mein geist gewendet · Um einen arm im schmuck der turmaline‹ Wie wird er heut des leides ort verlassen Sobald die ätherblumen sich betauen? Verschlungen in den tanz der roten frauen Mit unbedacht in lautem jubel prassen? Will er noch einmal missend ihre gabe Zurück wovon er sich am tage trennte: Ins leben seiner treuen pergamente Bis auf dem stillen lager traum ihn labe? (SW II, 32  f.)



Pilgerfahrten 

 57

Das Eröffnungsgedicht der Pilgerfahrten weicht schon auf den ersten Blick von den sonstigen, meistens viel kürzeren Texten der Sammlung deutlich ab, wobei die regelmäßige metrische Struktur der fünfhebigen Jamben dagegen einem oft praktizierten Muster entspricht, das wiederum durch etliche weitere Gedichte kontrastiert wird, die rhythmisch nach einem vergleichsweise komprimierten Maß aufgebaut sind. Thematisch bearbeitet George den für sein zweites Werk absolut entscheidenden Konflikt zwischen dem strengen Willen nach asketischer Selbstbestimmung und der Anziehungskraft des Sinnlichen, die jeden Drang nach Höherem zu vernichten droht.1 Erotik wird als ambivalentes Prinzip dargestellt, weil sie den Geist zwar ermüden, aber dem Menschen durch die Erfahrung der Körperlichkeit doch zugleich den Zugang zu tieferen Schichten des Vitalen ermöglichen kann. Dementsprechend erscheint die Lebensabstinenz, die sich der Einsiedler selbst auferlegt hat, einerseits als wirksame Praxis zur Konzentration auf das Wesentliche, andererseits jedoch als Verdrängungsstrategie, die verabscheuten Affekten schließlich ein noch intensiveres Verführungspotenzial zukommen lässt. Unbewältigte Leidenschaften gelangen mit destruktiver Energie ans Tageslicht und setzen sich desto mehr durch, je weniger sich das Subjekt mit ihnen kritisch auseinandergesetzt hat. Es wäre dennoch übertrieben, in Siedlergang ein programmatisches Gedicht zu sehen, in dem es um eine ideale Erziehung zur Kontrolle der Libido geht. Georges diätetisches Anliegen wird vielmehr in seinen ungelösten Widersprüchen dargelegt, wobei es weniger auf die Therapie des durch die Faszination des Sinnlichen ausgelösten Leidens als vielmehr auf die Konkretisierung eines solchen Leidens in einer bestimmten Lebenssituation ankommt.2 Die Gespaltenheit, die die seelische Verfassung des Einsiedlers prägt, wird als verallgemeinerbares Symptom eines existentiellen Krankheitszustandes betrachtet. Die Einsamkeit der handelnden Figur enthält offensichtlich identifikatorische Züge, die bei George mit der Isolation zusammenhängen, die er zwischen 1891 und 1892 zunehmend erleben muss.3 Diese Züge werden durch die 1898 hinzugefügte Aufschrift der Pilgerfahrten rückblickend verstärkt, die wiederum in einem direkten Verhältnis sowohl zu dem Typus Einsiedler als auch zu der in dem Gedicht entwickel-

1 Von einem „tormenting conflict between the life of the spirit and the life of the flesh“ sprechen Michael M. Metzger u. Erika Alma Metzger: Stefan George. New York 1972, S. 49. 2 Ernst Morwitz’ kanonische Interpretation stützt sich dagegen auf die dualistisch ausgerichtete Vorstellung, der Einsiedler sei durch die Einsicht in die Tatsache angewidert, dass die Erfahrung des Sinnlichen ihm keinen Zugang zur „volle[n], von ihm erträumte[n] Schönheit“ gewähren kann. EM I, 27. 3 Mattia Di Taranto (Il maestro e l’apostolo. Presenze del Simbolismo francese nell’opera giovanile di Stefan George. Pisa 2014) bezieht nach einem in der ästhetischen Kultur um die Jahrhundertwende omnipräsenten Diskurs das Einsiedlertum des Protagonisten auf die Weltabgewandtheit des Ästheten, führt allerdings nicht aus, ob ein solcher Bezug bei George als Kritik am Ästhetizismus im Sinne Hofmannsthals zu verstehen sei (vgl. im Besonderen S. 89). Auf vergleichbare Weise hatte bereits Werner Strodthoff (Stefan George. Zivilisationskritik und Eskapismus. Bonn 1976) argumentiert, als er in Siedlergang die Vereinigung von „Pilgertum und Duldertum […] auf dem Weg zum Altar der Kunst“ (S. 101) verwirklicht gesehen hatte.

58 

 Maurizio Pirro

ten Erzählsequenz steht, bei der es sich eben um den Versuch handelt, sich auf den Weg zu machen und eine schwer auszuhaltende Ausgangsposition zu verlassen. Jede erdenkliche Aufbruchsstimmung wird allerdings durch die Skepsis des Protagonisten gleich relativiert, der an dem durch etliche Zeichen sich anbahnenden Frühling zweifelt, was seiner Unentschlossenheit Ausdruck verleiht, ob dem Gewinn, den er sich vom Verlassen seiner Bleibe versprechen darf, das Festhalten an einer vertrauten Lage doch vorzuziehen sei. Die Entscheidung, von der Klause wenn auch für kurze Zeit Abschied zu nehmen, wird in der zweiten Strophe durch die Unwiderstehlichkeit der natürlichen Reize begründet, die mit Hilfe von Georges durchaus kongenialen Farbbestimmungen evoziert werden.4 „Magisch angezogen“5 durch die ungeahnten Möglichkeiten, die sich seinem Wahrnehmungsvermögen nun auftun, verfolgt der Einsiedler wie im Traum den Weg, der ins Tal führt, wo als dionysische Figurationen des formlosen, elementaren Lebens präsentierte Frauengestalten6 ihn zu ihrem lustvollen Tanz hinreißen wollen. Die Desillusionierung, die durch eine antizipierende Bemerkung in der dritten Strophe („strenges ende“) vorbereitet wird, erfolgt auf dem Höhepunkt eines Erregungszustandes, der offensichtlich sexuell konnotiert ist. Vor den Tänzerinnen sieht sich der Einsiedler einem Identitätsverlust ausgesetzt, der jedoch auch auf die Chance einer geistigen Erneuerung hinzudeuten scheint. Die Absage an alles Weltliche weicht dem plötzlichen Bedürfnis, Sinnlichkeit auszuleben und um Besitz zu ringen. Die Macht der Leidenschaften wird ab der vierten Strophe durch den Übergang zur ersten Person noch anschaulicher dargestellt, wobei die Fokussierung auf das Subjektive die Gespaltenheit des Einsiedlers, der im Banne regressiver Fantasien von Gewaltausbrüchen kompensatorischer Art träumt („Ich hasse sie und brenne sie zu greifen“), ins klare Licht rückt. Problematisch ist aber, dass das Schwinden der alten Identität, die nunmehr ausgedient hat, nicht durch ein neues Paradigma ausgeglichen wird. Die Dynamik, die den Protagonisten von seiner altvertrauten Umgebung zunächst einmal entfernt, vollzieht sich am Ende nicht, weil der Einsiedler keinen alternativen Lebensweg einzuschlagen in der Lage ist und ihm lediglich zwei entgegengesetzte Identitätsmodelle übrigbleiben, die miteinander nicht in Eintracht zu bringen sind. Dabei stehen allerdings aus der Perspektive Georges nicht Brauchbarkeit und Berechtigung solcher Modelle im

4 Mattia di Taranto: Il maestro e l’apostolo (wie Anm. 3) merkt, dass die Farben Blau, Rot und Weiß auf Frankreich hinzudeuten scheinen. Der im Gedicht beschriebene Ausgang aus einer beschränkten Lebenssituation könnte also mit dem von George Anfang der 1890er Jahre mehrfach in Betracht gezogenen Plan zusammenhängen, Deutschland zu verlassen und ins Nachbarland zu ziehen (vgl. S. 89). 5 Friedrich Lach: Stefan Georges Gedichtzyklus „Pilgerfahrten“ in Einzelanalysen. Frankfurt/M. 1974, S. 28. 6 Margherita Versari (Strategien der Liebesrede in der Dichtung Stefan Georges. Aus dem Italienischen v. Asta von Unger. Würzburg 2006) unterstreicht die Dominanz der Synekdoche bei der Darstellung des Weiblichen in den Pilgerfahrten unter besonderer Berücksichtigung von Siedlergang (SW II, 32).



Pilgerfahrten 

 59

Mittelpunkt, die der Dichter eigentlich nicht in Frage stellt, sondern die geistige Souveränität des Subjektes, das in seiner Orientierungslosigkeit keinen Absolutheitsanspruch mehr zu erheben weiß.7 Die lineare Bewegung von der Klause aus geht in ein pendelartiges Oszillieren zwischen zwei Gegenpolen über, aus denen keine Synthese möglich ist, wie der Sprechende in der sechsten Strophe mit forcierter Heiterkeit eingestehen muss („Ist alle schöne so gering? ich lache“). Die Unmöglichkeit, entweder in der geistigen oder in der sinnlichen Sphäre ausschließlich zu bestehen, wird noch einmal durch die drei Fragen betont, die in den letzten zwei Strophen gestellt werden, wobei eine Antwort in der Tat ausbleibt, denn es kommt darauf an, der Verwirrung, der der Einsiedler ausgesetzt ist, Ausdruck zu verleihen, und nicht darauf, das eine Lebensmodell zugunsten des anderen zu verwerfen. Die Erfahrung des Schwellenübergangs, die für die Pilgerfahrten im Allgemeinen so prägend ist, erscheint hier in ihrer unlösbaren Doppeldeutigkeit, so wie der Drang, eine unerträglich gewordene Existenz abzulegen, und sich in neue Verhältnisse vorzuwagen. Die Übernahme eines lebensbejahenden Habitus entpuppt sich als Ausdruck des Niedergangs, der nicht für eine Sinngebung des Lebens taugt, sondern nur Bitterkeit und kompensatorische Aggressionsgelüste hervorruft.

7 Von „resignative[r] Skepsis“ spricht Rainer Kolk (RK 27) im Hinblick auf den seelischen Zustand des Einsiedlers nach der Begegnung mit der Gruppe der Tänzerinnen.

Mario Zanucchi

Algabal

Entstehung und Überlieferung Der größte Teil des 22 Gedichte umfassenden Zyklus entstand vermutlich zwischen Juli und Dezember 1891. Den terminus post quem bildet Georges Besichtigung der Schlösser Ludwigs II., wie aus einem Brief an Saint-Paul aus Linderhof vom 11. Juli  1891 hervorgeht. Die zweite zeitliche Bestimmung ergibt sich aus Georges Brief an Hofmannsthal vom 9. Januar 1892, der den Abschluss der Dichtung mitteilt (G/H 12). Die handschriftliche Überlieferung ist spärlich. Die älteste überlieferte Handschrift ist eine eigenhändige Niederschrift (H1), welche die Jahresangabe „1892“ trägt1 und in der 17 der 22  Gedichte enthalten sind.2 In dieser Handschrift fehlen u.  a. noch das Initialgedicht sowie die Beschreibung des ersten Saals des Unterreichs. Die zweite Handschrift ist ein späteres Einzelblatt aus Karl Wolfskehls Nachlass (H2), das eine ebenfalls eigenhändige Niederschrift von drei Gedichten und gegenüber H1 ein neues Gedicht – Da auf dem seidenen lager – enthält.3 Algabal erschien 1892 in Paris, zunächst in Form einer privaten Vervielfältigung von 10 Exemplaren im August 1892, dann in einem Zweitdruck im November 1892. Im Mittelpunkt des Zyklus steht die Gestalt von Algabal, die dem römischen Kaiser Heliogabalus bzw. Marius Aurelius Antoninus (204–222) nachempfunden ist.4 ‚Elagabal‘5 bildete den Beinamen des bereits in der Antike für seinen maßlosen und

1 Der Titel in Versalien lautet: STEFAN GEORGE / ALGABAL / PARIS / 1892. 2 Daneben war der raum der blassen helle, Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme, Wenn um der zinnen kupferglühe hauben, Gegen osten ragt der bau, O mutter meiner mutter und Erlauchte, Becher am boden, So sprach ich nur in meinen schwersten tagen, Graue rosse muss ich schirren, Agathon knieend vor meinem pfühle, Schall von oben, Grosse tage wo im geist ich, Fern ist mir das blumenalter, Ich will mir jener stunden lauf erzählen, Am markte sah ich erst die würdevolle, Jahre und vermeinte schulden, Ob denn der wolken-deuter mich belüge und Vogelschau. Alle Gedichte sind in Kurrentschrift, einzig Vogelschau ist in Druckschrift verfasst. 3 Wenn um der zinnen kupferglühe hauben, O mutter meiner mutter und Erlauchte, Da auf dem seidenen lager SW (II, 97). Die Texte tragen die römischen Ziffern V, VII und IX, was zeigt, dass George zur Zeit der Niederschrift die endgültige Positionierung dieser drei Texte bereits entschieden hatte. H2 ist insofern älter als H1, als hier als neuntes Gedicht Da auf dem seidenen lager erscheint, das in H1 noch fehlt. 4 Vgl. dazu die Biografie von Martijn Icks: Elagabal. Leben und Vermächtnis von Roms Priesterkaiser. Aus dem Englischen v. Erwin Fink. Darmstadt 2014. 5 Dass die Gestalt des Algabal poetologische Bedeutung besitzt und nicht psychologisch misszuverstehen ist, hatte bereits Paul Gerhard Klussmann gegenüber Claude David betont: „Alle Züge Algabals haben symbolische Bedeutung und verweisen auf die besondere Daseinsform des Dichters […]. Überhaupt ist es abwegig, Algabal mit psychologischen Kategorien verstehen zu wollen […]“ (ders.: Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und des Dichters in der Moderne. Bonn 1961, S. 88).



Algabal 

 61

lasterhaften Lebensstil berüchtigten Kaisers. Ursprünglich hieß der Kaiser Varius Avitus und war Hauptpriester des syrischen Sonnengottes Elah-Gabal in Emesa. Nachdem er nach dem Sieg gegen Macrinus 218 Kaiser wurde, führte er den Kult seiner Gottheit, des Elah-Gabal, in Rom ein6 und trug den Namen seines Gottes als Beinamen.7 Trotz der nachweisbaren Nähe Georges zu den historischen Quellen ist Algabal keine Dichtung aus dem Geist des Historismus. Vielmehr betrachtet George die historischen Zeugnisse lediglich als Materialien, um durch manche Modifikation und Überzeichnung aus dem römischen Kaiser eine poetologische Reflexionsfigur zu machen, welche die dekadente Antithese von Kunst und Leben in Szene setzt und zugleich problematisiert.

Aufbau und Deutung Eröffnet wird der Zyklus von einer erst der zweiten Ausgabe hinzugefügten „Aufschrift“ zum „Gedächtnis Ludwigs des Zweiten“ sowie von einer Widmung an den Pariser Dichter-Freund Albert Saint-Paul (SW  II,  57). Darauf folgen die drei Sektionen Im Unterreich, Tage und Die Andenken sowie das Schlussgedicht Vogelschau, das als einziges Gedicht der Sammlung einen Titel trägt und insofern eine eigenständige Partie darstellt. Im Unterreich schildert die artifizielle Parallelwelt des römischen Kaisers, aus der die Natur verbannt ist, und präsentiert Algabal als Ästheten, der die Wirklichkeit verwirft und an ihre Stelle eine künstlerische Gegenwelt setzen will. Der Binnenzyklus Tage schildert Tage aus dem Leben des Kaiser-Künstlers und betont vor allem dessen ästhetischen Amoralismus, der einerseits mit hyperbolischen Tönen in Szene gesetzt, andererseits aber bereits durch Selbstmordgedanken getrübt wird. Der dritte Binnenzyklus, Die Andenken, enthält Erinnerungen und Reflexionen des Kaisers aus der Retrospektive. Das Epiloggedicht Vogelschau schließlich besitzt den Charakter

6 Vgl. H. D. Meyer: Elagabal. In: Lexikon der alten Welt. Hg. v. Carl Andresen u.  a. Bd. 1. Düsseldorf 2001, Sp. 797. Vgl. auch den Artikel von Maximilian Lambertz in: RE 8 A I (1955), 391–404, s.v. Varius Avitus sowie den Artikel von Karl Groß in: Reallexikon für Antike und Christentum IV, S. 987–1000. 7 Wörtlich bedeutet ‚Elagabal‘ ‚Gott (sem. ba’al: Herr) des Berges‘, da er allerdings als Sonnengott weit über Emesa hinaus verehrt wurde, entstand für ihn im Volk die Bezeichnung ‚Heliogabal‘. Auch als Kaiser blieb Elagabal Priester seines Gottes und erklärte den Elagabal-Kult zur Staatsreligion für das gesamte Reich. Gerade diese revolutionäre Religionspolitik bildet das markanteste Zeichen von Elagabals Regierungszeit. Die Kultriten des syrischen Sonnengottes wurden in Rom offiziell propagiert und vom Kaiser selbst als Oberpriester geleitet. Religiös fundiert ist möglicherweise auch Elagabals Transsexualität, als ein Streben, die Androgynie seines Gottes zu erlangen. Elagabals Religionspolitik, die mit altrömischen Sitten kollidierte, bildete auch den Grund für seinen Untergang. Als der unter der Bevölkerung unbeliebte syrische Sonnenkult die Herrschaft des Severerhauses gefährdete, ließ die Großmutter des Kaisers, Julia Maesa, ihn am 11. März 222 durch meuternde Soldaten umbringen, um seinen Vetter Severus Alexander an seine Stelle zu setzen.

62 

 Mario Zanucchi

einer existenziellen und poetologischen Bilanz in der Art einer Überschau über den Lebenswandel des Kaisers und die Poetik des Gesamtzyklus selbst. Das in der Forschungsliteratur vernachlässigte Epitaph zum „Gedächtnis Ludwigs des Zweiten“, Richard Wagners berühmtem Mäzen,8 markiert die Nähe der AlgabalGestalt nicht nur zum Kaiser Heliogabalus, sondern auch zum bayerischen Monarchen und bestätigt zudem indirekt die herausragende Bedeutung von Georges Besuch der fantastischen Schlossanlagen Ludwigs II. für die Entstehung des Algabal. Der bayerische König war eine Kultfigur bereits der französischen Décadence9 und wurde zu einer zentralen Oppositionsfigur gegen den bürgerlichen Zeitgeist.10 Der parnassische Dichter Catulle Mendès widmete dem bayerischen König noch zu dessen Lebzeiten den Kolportage-Roman Le Roi vierge (1881). Verlaines Sonett an den 1886 verstorbenen Monarchen erschien wenige Wochen nach dessen Tod in der Revue wagnérienne und wurde später in seinen Zyklus Amour (1888) aufgenommen.11 In Verlaines Sonett fällt Ludwig II. als Märtyrer der Poesie politischen Intrigen und der positivistischen Wissenschaft zum Opfer, die seine genialische Größe zur Psychopathologie erklärt. Als Märtyrer verherrlicht wurde der bayerische König auch in Gedichten Jean Lorrains,

8 Dazu Annette Kolb: König Ludwig II. und Richard Wagner. Frankfurt/M. 1983, sowie Verena Naegele: Ludwig II. und Richard Wagner: real- und kulturpolitische Konsequenzen einer ungewöhnlichen Beziehung. Zürich 1995. 9 Ich verdanke folgende Angaben der Studie von Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle. Berlin u. New York 1973, S. 297–303. Enid Lowry Duthie (L’Influence du symbolisme français dans le renouveau poétique de l’Allemagne: les Blaetter fuer die Kunst de 1892 à 1900. Paris 1933, S. 278) geht in ihrer Studie auf diesen wichtigen Aspekt kaum, Manfred Durzak (MD) überhaupt nicht ein. Einzig Christophe Fricker hat sich der Rolle Ludwigs  II. in Algabal angenommen (ders.: Ludwig II. in Stefan Georges Algabal. In: Weimarer Beiträge 52 [2006], H. 3, S. 441–448). 10 Ludwig II. selbst verheimlichte dies keineswegs: „Ich bin einfach ganz anders gestimmt als die Mehrheit meiner Mitmenschen. Ich kann nicht teilnehmen an dem, was sie Vergnügen nennen, denn es widert mich an und zerstört mein Wesen.“ (Zit. nach Walter Pache: Degeneration – Regeneration: Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte zwischen Dekadenz und Moderne. Würzburg 2000, S. 7). 11 „Roi, le seul vrai roi de ce siècle, salut, Sire, / Qui voulûtes mourir vengeant votre raison / Des choses de la politique, et du délire  / De cette Science intruse dans la maison,  // De cette Science assassin de l’Oraison / Et du Chant et de l’Art et de toute la Lyre, / Et simplement, et plein d’orgueil en floraison, / Tuâtes en mourant, salut, Roi! bravo, Sire! // Vous fûtes un poète, un soldat, le seul Roi / De ce siècle où les rois se font si peu de chose, / Et le martyr de la Raison selon la Foi. // Salut à votre très unique apothéose, / Et que votre âme ait son fier cortège, or et fer, / Sur un air magnifique et joyeux de Wagner“ (Paul Verlaine: Œuvres poétiques complètes. Texte établi et annoté par Y.-G. Le Dantec. Édition révisée, complétée et présentée par Jacques Borel. Paris 1962, S. 426  f., À Louis II de Bavière). Verlaines Gedicht erschien in der Revue wagnérienne am 8. 7. 1886 mit dem Titel: La Mort de S. M. le Roi Louis II de Bavière.

Algabal 



 63

Maurice Barrès’, Joséphin Péladans12 und Louis le Cardonnels.13 Der Protagonist von Huysmans’ À rebours (1884), des Esseintes, trägt Züge Ludwigs II.14 Jedoch nicht nur die Verehrung des bayerischen Monarchen, sondern auch die Vorstellung einer Bruderschaft zwischen ihm und Algabal ist bereits im französischen Symbolismus präformiert.15 Sie stammt von Robert de Montesquiou, der gerade den Künstlerkönig als Geistesverwandten der spätrömischen Kaiser, u.  a. Elagabals, in seinem  250 Verse umfassenden Gedicht Treizième César (1887) zelebriert.16 Bereits bei de Montesquiou klingt somit jene Verwandtschaft zwischen dem bayerischen König und Elagabal an, die George in den Mittelpunkt seines Epitaphs rückt: AUFSCHRIFT DEM GEDÄCHTNIS LUDWIGS DES ZWEITEN ALS MEINE JUGEND MEIN LEBEN HOB IN SOLCH EIN LICHT KAM SIE ERSTAUNEND DEINEM NAH UND LIEBTE DICH. NUN RUFT EIN HEIL DIR ÜBERS GRAB HINAUS ALGABAL DEIN JÜNGRER BRUDER O VERHÖHNTER DULDERKÖNIG (SW II, 56)

Durch das christologische Epitheton „verhöhnter dulderkönig“ bezieht sich George auf das reale Lebensschicksal Ludwigs II., der für unzurechnungsfähig erklärt wurde, und stilisiert den bayerischen König zum verkannten Märtyrer der Kunst.17 Algabal stellt sich in seine Nachfolge als dessen ideeller „jüngerer bruder“. „Übers grab hinaus“ entbietet er ihm einen Gruß und stiftet eine Wahlverwandtschaft, die der Chiasmus zusätzlich bekräftigt: „Nun ruft ein heil dir“, „Algabal“ – „Dein jüngrer bruder“, „verhöhnter dulderkönig“. Eine solche Affinität zwischen Ludwig  II. und Algabal zeigt

12 Emilien Carassus: Le Snobisme et les lettres françaises de Paul Bourget à Marcel Proust, 1884–1914. Paris 1966, S. 313–315. 13 Louis Pierre Philippe Le Cardonnel: À Louis II de Bavière. In: Ders.: Poèmes. Paris 1914, S. 53. 14 Walter Pache: Degeneration – Regeneration (wie Anm. 10), S. 8  f. Des Esseintes zieht sich in ein Schlösschen zurück und ersetzt die Realität durch eine künstliche Wirklichkeit; mit Ludwig II. teilt er ferner die Faszination für die künstliche Nachahmung natürlicher Phänomene und ist wie der baye­ rische Monarch ein leidenschaftlicher Wagnerianer. Auch seine Krankheit, einen fortschreitenden Zahnverfall, hat des Esseintes mit Ludwig II. gemeinsam. 15 Dieser wichtige Aspekt bleibt in Frickers zitiertem Aufsatz (wie Anm. 9) unbeachtet. 16 „Oh! Ce Roi Louis Deux! Incohérente image: / Demi-roi, demi-dieu, demi-preux, demi-mage: / Autocrate égaré dans nos modernités! / Goutte de sang-César, à leurs paternités / Reprise, en une fleur bizarre, et qui détonne; / Ô transposition neuve de Suétone! / Tyran délicieux, despote féminin: / Marc-Aurel-Néron et Tibère-Antonin. / Histoire Auguste: Héliogabale-Mécène, / Monstrueusement vierge et chastement obscène. / Statue énigmatique aux attraits mi-voilés / D’extase et de folie, et d’amour étoilés“ (Robert de Montesquiou: Les Chauves-souris. Paris 1893, S. 256, Hervorhebung d.V.). 17 Friedrich Wolters berichtet, George habe eine „dunkle Neigung“ zu Ludwig II. gespürt, „seit er am 13. Juni 1886 im Theater zu Mannheim während eines Zwischenaktes die Nachricht seines tragischen Todes unter der erschütterten Menge der Besucher miterlebte“ (BG 30).

64 

 Mario Zanucchi

Abb. 1

sich vor allem in der Konzeption von Algabals Unterreich. Denn die Architektur der Unterreich-Säle profitiert entscheidend von Georges Besuch von Schloss Linderhof im Juli 1891.18 Die erste Sektion des Zyklus, Im Unterreich, schildert Algabals unterirdische Schöpfung. Bereits im Eröffnungsgedicht besitzt das autonomieästhetische Postulat, die Lösung der Poesie von der Natur, zentrale Bedeutung, wie später zu zeigen sein wird: Das unterirdische Reich erscheint als eine ästhetische Gegen-Welt, die durch ihre Kostbarkeit die natürliche Schöpfung übertreffen soll. Auf das Initialgedicht folgt die Schilderung der zwei Säle des Unterreichs, die Algabals innere Gespaltenheit sowie Georges innere Skepsis angesichts des Ästhetizismus symbolisieren. Der „Saal 18 Vgl. Georges Brief an Saint-Paul vom Schloss Linderhof vom 11. 7. 1891 (ZT 19). Die ästhetische Vorbildfunktion der bayerischen Königsschlösser für die Gestaltung des Unterreichs wurde schon in den siebziger Jahren von Heinrich Neumann erkannt (ders.: Stefan Georges Algabal. Ein Hinweis zum Unterreich-Zyklus. In: CP 27 [1978], H. 134–135, S. 122–124) und ist seitdem aus der Forschungs­dis­kus­ sion verschwunden, sieht man vom erwähnten Beitrag von Christophe Fricker ab. So scheint der Überblicksartikel im George-Handbuch (GHb I, 107–121) davon keine Kenntnis zu haben.



Algabal 

 65

des gelben gleisses und der sonne“ veranschaulicht noch einmal das autonomie­ ästhetische Ideal, das diesmal aber als gewaltsame Unterwerfung des Lebens durch die Kunst erscheint. Die Decke des Saals – der Kuppel aus dem Thronsaal von Schloss Neuschwanstein nachempfunden – reproduziert ein künstliches Firmament, gekrönt von einer künstlichen Sonne, in welcher der Sonnenpriester Algabal sich selbst als Idol anschaut.19 Wände und Boden versammeln Kriegsbeute und Jagdtrophäen, Goldplatten sind als Spiegel an den Seiten aufgerichtet,20 Löwenhäute liegen am Boden.21 Die Sonne wird als Vulkan vorgestellt, dessen Eruptionen rohe Edelsteine auswerfen. Indem George Autonomie und Gewalt miteinander verbindet, radikalisiert er den Ästhetizismus zu einer brutalen Herrschaft über das Leben.22 Der zweite Saal, der „raum der blassen helle“, ganz auf den Grundton Weiß gestimmt, veranschaulicht dagegen Algabals latente Unschuldssehnsucht. Durchsichtige Materialien – das Dach aus Glas, Kristalle – assoziieren Reinheit. Eine Kugel aus Murra-Stein, mit der Algabal als Kind spielte, erinnert ihn an seine Kindheit und rührt ihn so sehr, dass er in Tränen ausbricht und an dem Tag von Freveltaten absieht (EM I, 47). Poetologisch symbolisiert der zweite Saal eine gänzlich andere Poetik, die nicht auf Herrschaft, sondern auf Verinnerlichung beruht. Die Antithetik der beiden Säle chiffriert die Spaltung in Algabals Innerem sowie eine metapoetische Dichotomie zwischen der Unmenschlichkeit des Ästhetizismus und der Sehnsucht nach einer

19 Das Vorbild der Apsis von Neuschwanstein für die künstliche Sonne „unter Sternen“ lässt sämtliche literarische Quellen hinfällig werden, welche in der Forschung immer wieder bemüht wurden, darunter Villiers de L’Isle-Adams Roman Ève Future (1886) (CD 414, Anm. 14) und Stanislaw Przybyszewskis Androgyne (Robert Vilain: Temporary Aesthetes. Decadence and Symbolism in Germany and Austria. In: Symbolism, Decadence and the Fin de siècle. French and European Perspectives. Ed. by Patrick McGuinness. Exeter 2000, S. 209–224, hier S. 222). Przybyszewskis Androgyne erschien erst 1900 und kommt daher schon allein aus chronologischen Gründen für einen Einfluss auf Algabal (1892) nicht in Frage. Es ist vielmehr Przybyszewskis Androgyne, die etliche Algabal-Anlehnungen aufweist (Jens Malte Fischer: Fin de siècle. München 1978, S. 225  f.). 20 Im ersten Saal sind unverzierte Goldplatten in der Form flacher römischer Ziegel als Spiegel an den Wänden des Saales aufgestellt: „An allen seiten aufgereiht als spiegel / […] Die ungeschmückten platten goldnen ziegel“ (SW II, 61). Ein mit Spiegeln getäfeltes Zimmer gibt es auch bei Huysmans: „Cette pièce où des glaces se faisaient écho et se renvoyaient à perte de vue, dans les murs, des enfilades de boudoirs roses, avait été célèbre parmi les filles […]“ (Joris-Karl Huysmans: À rebours. Texte présenté, établi et annoté par Marc Fumaroli. Seconde édition revue et augmentée. Paris 1977, S. 97). 21 Vgl. George: „Und an der erde breiten löwenhäute“ (SW II, 61) und Huysmans: „il se borna […] à joncher le parquet de peaux de bêtes fauves et de fourrures de renards bleus“ (Joris-Karl Huysmans: À rebours [wie Anm. 20], S. 95). 22 George zeigt sich auch der Konzeption des Genies als Barbar oder „blonder Bestie“ verpflichtet, die Nietzsche als Heilmittel gegen die Décadence beschworen hatte. Vgl. Jochen ­Schmidt: Die Ge­ schichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik  1750–1945.  2 Bde. Darmstadt 1985. Bd. 2: Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs, S. 144  f.

66 

 Mario Zanucchi

humaneren Kunstpraxis. Gerade diese Dichotomie relativiert den dem Zyklus gewöhnlich unterstellten Manifest-Charakter.23 In der Schilderung der beiden Säle greift George ferner auf eine der bedeutendsten Techniken der symbolistischen Poetik zurück: die audition colorée, in der Farben klanglich evoziert werden. So erweckt George im ersten Saal des Unterreichs den Eindruck des Farbwerts Gelb, indem er den Vokal ‚e‘ sowie die Konsonanten ‚g‘, ‚l‘ ‚b‘ von „gelb“ und ‚s‘ von „gleiss[]“ und „sonne“ unterschiedlich variiert (SW II, 61). Erneut auf symbolistische Art vermischt sich in der letzten Strophe mit der gelben Farbe der Duft der dem Gott gespendeten Rauchopfer, der aus dem Verbrennen wiederum gelber Stoffe – „amber weihrauch und zitrone“ (ebd.) – hervorgeht. Auch im zweiten Saal, dem „raum der blassen helle“, kommt die symbolistische Technik der audition colorée zum Einsatz. So kehren in der ersten Strophe die Vokale ‚a‘ und ‚e‘ von „blass“ und „hell“ sowie der Diphthong ‚ei‘ von „weiß“ in verschiedenen Variationen wieder, sodass die Helle des Saals klanglich ausgemalt wird: Daneben war der raum der blassen helle Der weisses licht und weissen glanz vereint · Das dach ist glas · die streu gebleichter felle Am boden schnee und oben wolke scheint. (SW II, 62, Hervorhebung d.V.)24

Auf die Beschreibung der beiden Säle folgt ein abschließendes Gedicht, das Algabals unterirdischen Garten schildert. Es liest sich wie eine Palinodie des Eröffnungsgedichts, welche die Kehrseite der artifiziellen Schöpfung, nämlich ihre Unfruchtbarkeit und Leblosigkeit diagnostiziert: Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme · Der garten den ich mir selber erbaut Und seiner vögel leblose schwärme Haben noch nie einen frühling geschaut.

23 Auf die immanente Selbstkritik, die Algabal durchzieht, hat bereits Aurnhammer aufmerksam gemacht (ders.: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln u. Wien 1986, S. 234). 24 Vgl. dazu Richard Meyer: „Eine unbefangene Leserin gab ihren Eindruck mit den Worten wieder: ‚wie ist da alles weiß!‘ In der That ist ohne die Geheimnisse der audition colorée, der Verbindung bestimmter Klänge mit bestimmten Farbvorstellungen, die Wirkung solcher Stellen nicht zu erklären. Ein einziges reines u mit seinem dunkeln Klang würde die ganze Helle verderben, die durch die hellen Vokale, vor allem die kunstvoll vertheilten a hervorgerufen wird. An der höchsten Stelle steigert sich der Klang zu dem grellen, weil bis dahin aufgesparten i in ‚Licht‘; am Schluß geht das weiße Gemach mit dem o von ‚Boden‘ und ‚oben‘, ‚Wolke‘ in eine weniger reine Färbung über.“ (Ders.: Ein neuer Dichterkreis. Rede in der Gesellschaft für deutsche Literatur am 17. März 1897. In: Preußische Jahrbücher 88 [1897], 1, S. 33–54, hier S. 38).

Algabal 



 67

Von kohle die stämme · von kohle die äste Und düstere felder am düsteren rain · Der früchte nimmer gebrochene läste Glänzen wie lava im pinien-hain. Ein grauer schein aus verborgener höhle Verrät nicht wann morgen wann abend naht Und staubige dünste der mandel-öle Schweben auf beeten und anger und saat. Wie zeug ich dich aber im heiligtume – So fragt ich wenn ich es sinnend durchmass In kühnen gespinsten der sorge vergass – Dunkle grosse schwarze blume? (SW II, 63)

Die kritische Dimensionierung des Abschlussgedichts ist in der Forschung oft verkannt worden, die den Text meist als Manifest des Ästhetizismus gedeutet hat.25 Der Text setzt sich aus vier Strophen zu jeweils vier Versen zusammen.26 Architektonisch zeigt der Text einige Ähnlichkeiten mit dem Eröffnungsgedicht. Mit ihm teilt er den triadischen Aufbau: Die einleitende erste Strophe geht der Schilderung des Gartens voraus, die in der zweiten und dritten Strophe entfaltet wird, während die letzte Strophe wie im Eröffnungsgedicht eine abschließende Reflexion formuliert. Gemeinsam ist beiden Texten auch die Wahl des Kreuzreims, auf den in der Schlussstrophe der umarmende Reim folgt. Trotz dieser Affinitäten bildet das Gartengedicht eine

25 Bezeichnend in diesem Sinne Friedmar Apel: „Wenn nun bei George das Ich des Gedichts seinen Garten aus anorganischen oder bereits abgestorbenen Materialien konstruiert und ihn der Einwirkung der Zeit und des umgebenden Raumes der Natur entzieht, so möchte die verbreitete Meinung zutreffend erscheinen, daß hier der Versuch gemacht ist, die Zeichen der Vergängnis aus dem Gedicht zu tilgen und der Kunst die Macht zur Verewigung zuzuschreiben“ (Friedmar Apel: Die Kunst als Garten. Zur Sprachlichkeit der Welt in der deutschen Romantik und im Ästhetizismus des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 1983, S. 44). Aus der Forschungsliteratur sei weiterhin besonders hingewiesen auf Hubert J. Meessen: Stefan George’s Algabal und die französische Décadence. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 39 (1947), 5, S. 304–321, hier S. 317; EM I, 45; Otto Hallen [ohne Titel]. In: CP 7 (1957/1958), H. 34, S. 26–31; Paul Gerhard Klussmann: Stefan George (wie Anm. 5), S. 102  f.; MD 213  f.; Hella Tiedemann-Bartels: Versuch über das artistische Gedicht. Baudelaire, Mal­ larmé, George. München 1971, S. 78–82; Ursula Franklin: The Quest for the Black Flower: Baudelairean and Mallarméan Inspirations in Stefan George’s Algabal. In: Comp. Lit. Studies 16 (1979), S. 131–140; Margherita Versari: „Blaue Blume“  – „Schwarze Blume“. Zwei poetische Symbole im Vergleich. In: Romantik und Ästhetizismus. FS Paul Gerhard Klussmann. Hg. v. Bettina Gruber u. Gerhard Plumpe. Würzburg 1999, S. 89–99; Dieter Hoffmann: Arbeitsbuch deutschsprachige Lyrik 1880–1916. Vom Naturalismus bis zum Expressionismus. Tübingen u. Basel 2001 (UTB 2199), S. 262–264. 26 Das Reimschema ist abab cdcd efef ghhg. Die Kadenzen sind in den ersten drei Strophen abwechselnd weiblich und männlich, während in der letzten Strophe die männlichen von den weiblichen Kadenzen umschlossen werden.

68 

 Mario Zanucchi

hypertextuelle Palinodie des Eröffnungstexts. Die künstliche Schöpfung, die vorher als der Naturwelt überlegen erschien, entpuppt sich jetzt als leblos und insuffizient. Darin zeigt sich der dialektische Charakter von Georges Poetik, welche die Flucht ins Artifizielle propagiert und zugleich als poetisch unfruchtbar reflektiert. Auf die Lösung der Poesie von der Natur folgt in der zweiten Sektion, Tage, die Ereignisse aus dem Leben des Kaisers schildert, die Lösung der Poesie von der Moral. Darin konvergiert George mit der französischen Décadence und mit dem frühen Nietzsche, dem zufolge das Dasein eine ausschließlich ästhetische Rechtfertigung besitzt.27 Die menschenverachtende Einstellung sowie die Ästhetisierung von Gewalt und Grausamkeit, die in den meisten Texten der Tage laut werden, haben einige Forscher dazu veranlasst, von einem Umschlag des Ästhetizismus in Faschismus zu sprechen.28 Bereits im ersten Gedicht, Wenn um der zinnen kupferglühe hauben, wird der amoralische Charakter der Kunst auf besonders brutale und unmenschliche Weise geschildert. So nimmt sich der lydische Sklave, der den exklusiven Kunstbereich seines Herrn profaniert hat, selbst das Leben. Und sein  – psychologisch übrigens nicht sonderlich plausibler – Selbstmord wird von Algabal nicht mit menschlicher Anteilnahme, sondern nur als ästhetisches Farbenspiel des Blutes auf dem grünen Porphyr goutiert.29 Die Eingravierung des Sklavennamen in den Weinpokal soll schließlich

27 Vgl. „nur als ästhetisches Phänomen [ist] das Dasein der Welt gerechtfertigt“ (Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. In: Kritische Gesamtausgabe. Bd. 1. Berlin u. New York 1972, S. 11). Die Konvergenz ist allerdings von einem starken Konkurrenzgedanken überschattet. So bemerkt George retrospek­tiv: „Nicht Nietzsche war jenseits von Gut und Böse, sondern Algabal.“ (EL 100) George freilich bestreitet, dass er zur Zeit der Entstehung des Algabal Nietzsches Schrift Jenseits von Gut und Böse (1885/86) kannte. Vgl. die von Breysig überlieferte Aussage Georges: „Nietzsche habe nicht auf ihn gewirkt. Er habe 1892 oder so Die Geburt der Tragödie gelesen: Zarathustra erst Jahre danach. Die Geburt der Tragödie habe auf ihn deswegen nicht einwirken können, weil er gar nicht unterrichtet genug gewesen sei“ (Kurt Breysig: Stefan George. Gespräche. Dokumente. Amsterdam 1960, S. 16). 28 Hans Albert Meier: Der Dritte Humanismus im Werk Stefan Georges und Thomas Manns. Diss. Bern 1938 [Druck 1946], S. 164; Georg Lukács: Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur. Neuwied-Berlin 1964, S. 5 u. 176; Richard Faber: Algabal George – George Mussolini. Ein wilhelminischer Dichter zwischen Ästhetizismus und Faschismus. In: Identitätskrise und Surrogatidentitäten. Zur Wiederkehr einer romantischen Konstellation. Hg. v. Cornelia Klinger u. Ruthart Stäblein. Frankfurt/M. u.  a. 1989, S. 216–239. 29 Vgl. „Mit grünem flure spielt die rote lache“ (SW II, 66). Der ‚grüne Flur‘ entspricht in den antiken Quellen dem grünen Porphyr des kaiserlichen Palastes: „stravit et saxis Laced[a]emoniis ac porphyreticis plateas in Palatio, quas Antoninianas vocavit“ (Aeli Lampridii Antoninus Heliogabalus. In: Histoire auguste: les empereurs romains des IIe et IIIe siècles: édition bilingue latin/français. Traduction du latin par André Chastagnol. Paris 1994, 34. 6). Vgl. auch die Jaspis-Fliesen in Jahre und vermeinte schulden. Das Detail, dass Algabal ein Kleid aus „Serer-Seide“ trägt, hat ebenfalls Entsprechungen in den Quellen: Lampridius erwähnt, dass das Gewand des Kaisers völlig aus Seide bestand („Primus Romanorum holoserica veste usus fertur, cum iam subsericae in usu essent“, ebd., 26. 1), während Herodian darauf hinweist, dass der Kaiser nur an den Gewändern der Serer, d.  h. der Seidenleute, Gefallen hatte: „τοῖϛ δὲ Σηρῶν ὑφάσμασι μόνοιϛ ἠρέσκετο“ (Herodiani ab excessu divi Marci libri octo. Ed. Kurt Stavenhagen. Leipzig 1922, 5. 5. 4).



Algabal 

 69

zeigen, dass das profane Leben erst vernichtet werden muss, um Aufnahme in die ästhetische Sphäre zu finden.30 Die Entwertung jeder moralischen Norm hat eine Vergöttlichung des Dichters zur einzigen normgebenden Instanz zur Folge: Inszeniert wird sie im Gedicht Gegen osten ragt der bau, das die Prozession zum Elagabalum, dem Tempel von Algabals androgynem Gott, schildert.31 Dass der Kaiser als einziger das innere Heiligtum betreten

30 Dazu auch Klussmann: „Die radikale Exklusivität des Algabal-Künstlers, der seinen Traumbezirk rein halten und vor jedem störenden Zugriff schützen will, steigert sich bis zur Feindschaft gegen das Leben, sofern es profan, d.  h. in diesem Zusammenhang: nicht im Kunstwerk aufgehoben und geheiligt erscheint. Daher ereignet sich in dem scheinbar so blutrünstigen Gedicht im Grunde nichts anderes als die Vernichtung eines profanen Subjekts um willen seiner Neuschöpfung und Erhöhung durch den Künstler.“ (Paul Gerhard Klussmann: Stefan George [wie Anm. 5], S. 89). 31 Von den Sommerprozessionen zum Elagabalum, dem im Osten Roms gelegenen Tempel des Sonnengottes, berichtet Herodian: „κατεσκεύασε δὲ καὶ ἐν τῷ προαστείῳ νεὼν μέγιστόν τε καὶ πολυτελέστατον, ἐϛ ὃν ἑκάστου ἔτουϛ κατῆγε τὸν θεὸν ἀκμάζοντοϛ θέρουϛ“ (Ab excessu, 5. 6. 6). Ebenso unterrichtet Herodian über die improvisierten Tänze des Kaisers, die auch bei George als Motiv wiederkehren – „Tänzer öffnen das geleit / In verführenden gewändern“ (SW II, 67). Dass der Gott bei George als „grosse[r] Zeus“ (SW II, 67) bezeichnet wird, rührt daher, dass der historische Kaiser den Heliogabal für die mächtigste Gottheit und die anderen Götter nur für dessen Sklaven hielt. Vgl. Lampridius: „omnes sane deos sui dei ministros esse aiebat, cum alios eius cubicularios appellaret, alios servos, alios diversarum rerum ministros“ (Antoninus Heliogabalus, 7. 4). Herodian erinnert daran, dass Heliogabal vor den anderen Göttern angerufen werden musste: „προσέταξέ τε πάνταϛ τοὺϛ ῾Ρωμαίων ἄρχονταϛ, καὶ εἴ τινεϛ δημοσίαϛ θυσίαϛ ἐπιτελοῦσι, πρὸ τῶν ἄλλων θεῶν οὓϛ δὴ καλοῦσιν ἱερουργοῦντεϛ, ὀνομάζειν τὸν νέον θεὸν Ἐλαιαγάβαλον“ (Ab excessu, 7. 5. 7) Auch einige andere Details der Prozession scheint George den antiken Quellen entnommen zu haben. So erinnern die „Knaben die ein opfer feit“ an die „praecisos fanaticos“ bei Lampridius (Antoninus Heliogabalus, 7. 2) sowie an die rituelle Beschneidung der Priester des Heliogabalus bei Cassius Dio: „ἐβουλεύσατο μὲν γὰρ παντάπασιν αὐτὸ ἀποκόψαι· ἀλλ’ ἐκεῖνο μὲν τῆϛ μαλακίαϛ ἕνεκα ποιῆσαι ἐπεθύμησε, τοῦτο δὲ ὡϛ καὶ τῇ τοῦ Ἐλεγαβάλου ἱερατείᾳ προσῆκον ἔπραξεν·ἐξ οὗ δὴ καὶ ἑτέροιϛ τῶν συνόντων συχνοῖϛ ὁμοίωϛ ἐλυμήνατο῞ (Historiae Romanae. Ed. U. P. Boissevain. Cassii Dionis Cocceiani historiarum Romanarum quae supersunt. 3 Bde. 1895–1901. Bd. 3. Berlin 1901, 79. 11. 2). Das Bestreuen des Weges bei der Prozession – „Streuet sand und silberstaub!“) – ist bei Herodian belegt: da der Kaiser rückwärtsgerichtet voranschritt – „πᾶσάν τε τὴν ὁδὸν ἤνυε τρέχων ἔμπαλιν ἑαυτοῦ ἀφορῶν τε ἐϛ τὸ πρόσθεν τοῦ θεοῦ“ –, wurde auf dem Weg Goldstaub gestreut, um für die Sicherheit seines Laufes zu sorgen: „πρόϛ τε τὸ μὴ πταῖσαι αὐτὸν ἢ διολισθαίνειν, οὐχ ὁρῶντα ὅπου βαίνει, γῆ τε ἡ χρυσίζουσα παμπλείστη ὑπέστρωτο, οἵ τε προασπίζοντεϛ ἑκατέρωθεν ἀντεῖχον, τῆϛ ἀσφαλείαϛ τοῦ τοιούτου δρόμου προνοούμενοι“ (Ab excessu, 5. 6. 8). Lampridius erzählt, dass der Kaiser Gold- und Silberpulver streute: „scobe auri porticum stravit et argenti dolens, quod non posset et electri, idque frequenter quacumque fecit i[n]ter pedibus usque ad equum vel carpentum, ut fit hodie de aurosa harena“ (Antoninus Heliogabalus, 31. 8), aber auch Lilien und Narzissen, wie bei George – „Tote lilien und narzissen!“ –: „stravit et triclinia de rosa et lectos et porticus ac sic ea dembulavit, idque omni florum genere, li

  • is, violis, hacnthis et narcissis“ (Antoninus Heliogabalus, 19. 7–9) Auch für die Narden – „Narden die verflüchtet irren“ – gibt es eine Entsprechung bei Lampridius: „momentarias de rosato et rosis piscinas exhibuit et vit cum omnibus suis caldarias de nardo exhibens“ (ebd., 24. 1).

    70 

     Mario Zanucchi

    darf,32 verrät, dass der von ihm eingeführte Kult einer narzisstischen Selbstvergöttlichung33 gleicht. Die nihilistischen Konsequenzen dieser Selbstüberhöhung stehen im Mittelpunkt des nächsten Gedichts, O mutter meiner mutter und Erlauchte.34 Dort hält der Kaiser seiner Großmutter Julia Maesa, die ihn wegen seines Müßigganges rügt, die Nichtigkeit des menschlichen Tuns entgegen.35 Die abschließende Vision des enthaupteten Bruders, auf die Algabal nur mit dem leisen Raffen seines Purpurmantels reagiert, bestätigt den inhumanen Charakter der von George inszenierten ästhetizistischen Poetik.36 Die Dichotomie von Kunst und Leben prägt auch das nächste Gedicht, Becher am boden, wo sich das Schöne als letal erweist. Bei einem kaiserlichen Bankett werden die Gäste nach dem Zechen vom Schlaf überwältigt, woraufhin Algabal sie im Schlaf

    32 „An der schwelle haltet rast / Wo das heilige bild entschleiert / Nur sich gibt dem einen gast / Der es oft und innig feiert“ (SW II, 67). 33 Die narzisstische Selbstbespiegelung Algabals in seinem Idol legt auch der Schluss des Gedichts nahe, der auf das berühmte Spiegel-Gedicht vorausweist: „Zu dem kuss der süssen mirren“ (SW II, 67, Hervorhebung d.V.). 34 Auch dieses Gedicht hat einen historischen Hintergrund. In der Tat entzog Julia Maesa, die gegen Elagabal konspirierte, dessen Vetter Alexander mit Hilfe seiner Mutter Mammea dem schädlichen Einfluss des Kaisers und ließ ihm eine Erziehung als künftigem Kaiser zukommen (Ab excessu, 5. 7. 4  f.), die Elagabal als knechtisch verwarf: „Du fesselst eifrig ihn an blödes werk · / Dein zwang verkleidet ihn mit sklavenhemden.“ (SW  II,  68) Als „Sklavenhemd“ bezeichnete der Kaiser nach Lampridius (Antoninus Heliogabalus, 20. 1) die Toga der Senatoren. Die Empörung des Kaisers über die angeblich knechtische Erziehung Alexanders ist bei Herodian belegt (vgl. Ab excessu, 5. 7. 5  f.). Für Bianca Maria Bornmann (Interpretazioni gheorghiane. L’Algabal e le sue fonti antiche. In: Studi germanici 8 [1970], S. 251–268, hier S. 262) ist der Bruder nicht Alexander, sondern Gannys, von dem Cassius Dio die Ermordung berichtet, nachdem er den Kaiser wiederholt zu einem keuscheren Leben gemahnt habe (Historiae, 79. 6. 2  f.). „Bruder“ wäre dann im erotischen Sinne zu verstehen, da Gannys der Favorit des Kaisers hätte werden sollen. 35 Darin nähert sich George Schopenhauer sowie dem frühen Nietzsche, der das Dionysische gerade als ein Hamlet’sches Bewusstsein von der Leere jeder Tat charakterisiert hatte: „In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten. Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion […]. Jetzt verfängt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht über eine Welt nach dem Tode, über die Götter selbst hinaus, das Dasein wird, sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den Göttern oder in einem unsterblichen Jenseits, verneint. […] Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt […].“ (Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie [wie Anm. 27], S. 57). 36 In O mutter meiner mutter und Erlauchte wurde der Einfluss von Baudelaires Une martyre: „Un cadavre sans tête épanche comme un fleuve / Sur l’oreiller désaltéré / Un sang rouge et vivant, dont la toile s’abreuve / Avec l’avidité d’un pré“ (Charles Baudelaire: Œuvres complètes. Bd. 1, S. 11) bereits von David (CD 415[wie Anm. 43]) konstatiert.

    

    Algabal 

     71

    durch Massen von Rosen ersticken lässt.37 Im Gedicht Da auf dem seidenen lager ist es dagegen der Kaiser selbst, der die ägyptischen Flötenspieler darum bittet, ihn in den Schlaf zu wiegen und symbolisch zu „töten“. Im nächsten Gedicht, So sprach ich nur in meinen schwersten tagen, steigert sich der amoralische Narzissmus zu einem wahnhaften Autismus.38 Das einzige Gegenüber, das für den die Masse verachtenden Kaiser in Frage kommt, bildet das eigene Spiegelbild als Kreation einer fiktiven weib­ lichen Identität, die ihn vollkommen autark machen und der Doppelgeschlechtlichkeit seines Gottes annähern würde. Gleichwohl bleibt die spekulative Selbstverdoppelung defizitär.39 Das Ende des Binnenzyklus ist durch wiederkehrende Selbstmordgedanken geprägt, welche die Aporie des Ästhetizismus veranschaulichen. Indem George die ästhetische Auslöschung der Realität bis zur letzten Konsequenz – der Selbstzerstörung des Künstlers – treibt, führt er sie zugleich ad absurdum. Schon im Gedicht Da auf dem seidenen lager wird der Schlaf, in den die Flötenspieler den Kaiser wiegen, als Tod metaphorisiert.40 Im Gedicht Graue rosse muss ich schirren sucht Algabal im Tod die Erlösung aus der Sinnlosigkeit des Daseins.41 Dennoch wird auch der heroische Tod vom Kaiser-Philosophen als absurdes Blutvergießen durchschaut.42 Einen meditativen Ton besitzt auch das nächste Gedicht, Agathon knieend vor meinem pfühle, ein Gespräch des Kaisers mit seinem Favoriten, das über die unabwendbare Vergänglichkeit des Schönen reflektiert und somit an der einzigen Grundlage von Algabals Existenz rüttelt. In Lärmen hör ich im schläfrigen frieden steht erneut der Suizid im Vordergrund, durch den der Kaiser der Ermordung bei einem Volksaufstand rechtzei-

    37 Dieser Vorfall wird von Lampridius überliefert: „oppressit in tricliniis versatilibus parasitos suos violis et floribus, sic ut animam aliqui efflaverint, cum erepere ad summum non possent“ (Antoninus Heliogabalus, 21. 5  f.). Die Szene liegt dem Gemälde The Roses of Heliogabalus (1888) des Lawrence Alma Tadema zugrunde. 38 Der Forschung ist bislang entgangen, dass Georges Vers: „ich will dass man im volke stirbt und stöhnt“, in seiner Baudelaire-Übersetzung präformiert ist: „sein volk das unterm fenster stöhnt“ (SW XIII/XIV, 89, Spleen). Die Verachtung von Baudelaires Infanten für seine Lehrer (ebd.) hat sich in Georges Algabal in einen universellen Hass verwandelt. Das Gedicht spielt aber auch auf Lampridius und Cassius Dio an: „Lampridius sagt, Algabal habe Volk und Senat verachtet, im Circus Spiele von ungeheurem Prunk veranstaltet, Korn an Unwürdige verteilt, sich, als Maultiertreiber verkleidet, unter das niederste Volk gemischt […] und Dio Cassius berichtet, dass der Kaiser sich zuweilen wie eine Frau gekleidet und als Frau mit Männern verheiratet habe“ (EM I, 50  f.). 39 „Und beinah einer schwester angesicht / Erwiderte dem schauenden ein spiegel“ (SW II, 71, Hervorhebung d.V.). 40 „Entrückt und tötet mich wieder“ (SW II, 70). 41 „Graue rosse muss ich schirren / Und durch grause fluren jagen / Bis wir uns im moor verirren / Oder blitze mich erschlagen“ (SW II, 72). 42 „Auf dem samenlosen acker / Viele helden stumm verbleichen · / Nur das russende geflacker / Loher fichten ehrt die leichen“ (SW II, 72).

    72 

     Mario Zanucchi

    tig zu entkommen gedenkt.43 Indessen wird der Selbstmord im letzten Gedicht aufgeschoben: Die Klänge und Gesänge der syrischen Priester, die der historische Elagabal verehrte und die er sogar in seiner Kleidung nachahmte,44 erwecken in Algabals Seele das gesamte Spektrum der Lebensempfindungen und „verführen“ ihn dazu, „noch im Leben zu verbleiben“45. Im Unterschied zu den vorausgehenden Teilzyklen besitzt die nächste Sektion, Die Andenken, einen anamnetischen Charakter. Algabal erscheint nicht als unmittelbar agierend, sondern in der Haltung eines Reflektierenden, der auf seine Vergangenheit zurückblickt.46 Im Medium von Algabals Rückschau wird Georges eigene Selbstreflexion über die Poetik des Algabal artikuliert. Die reflexive Distanzierung, die es dem Kaiser ermöglicht, sein eigenes Leben zu überschauen und ein Bewusstsein über sich selbst zu gewinnen, chiffriert Georges wachsende Distanz zu seiner eigenen ästhetizistischen Poetik. Die beiden ersten Dichtungen durchzieht Algabals melancholische Erinnerung an die eigene Kindheit. In Grosse tage wo im geist ich nur der herr der welten hiess wünscht sich Algabal wie vorher im Spiegel-Gedicht aus den Tagen ein Gegenüber (EM I, 52). Es handelt sich jedoch hier nicht um eine ästhetizistische Fiktion, sondern um sein eigenes früheres Ich, das in seiner Unschuld47 als Korrektiv der jetzigen Verdorbenheit herbeigewünscht wird.48 Gerade diese Umkehrung des früheren Spiegel43 „Euer gebieter ist von euch geschieden / Ehe die stadt sich zu murren vermisst.“ (SW II, 74) Das Gedicht spielt auf die prätorianische Revolte an, die Elagabal stürzen wird (Historiae, 19. 12  f.). Ein gewaltsamer Tod wurde dem Kaiser von syrischen Priestern geweissagt (Antoninus Heliogabalus, 33. 2). Von Elagabals Vorbereitungen für den Selbstmord, um einer geplanten Ermordung zuvorzukommen, berichtet Lampridius: „paraverat igitur funes blatta et serico et cocco intortos, quibus, si necesse esset laqueo, vitam finiret. paraverat et gladios aureos, quibus se occideret, si aliqua vis urgeret. paraverat et in cerauneis et in [h]yacinthis et in smaragdis venena, quibus se interimeret, si quid gravius inmineret. fecerat et altissimam turrem substratis aureis gemmatisque ante se tabulis, ex qua se pr[a]ecipitaret, dicens etiam mortem suam pretiosam esse debere et ad speciem luxuriae, ut diceretur nemo sic perisse“ (ebd., 33. 2–7). 44 „Καὶ μέντοι καὶ ὅτι τὴν ἐσθῆτα τὴν βαρβαρικήν, ᾗ οἱ τῶν Σύρων ἱερεῖϛ χρῶνται, καὶ δημοσίᾳ πολλάκιϛ ἑωρᾶτο ἐνδεδυμένοϛ· ἀφ’οὗπερ οὐχ ἥκιστα καὶ τὴν τοῦ Ἀσσυρίου ἐπωνυμίαν ἔλαβεν“ (Historiae, 79. 11. 2). 45 „Weise Syrer / Werd ich dankend euch vertreiben? / Ihr verführer / Noch im leben zu verbleiben!“ (SW II, 70). 46 „Algabal ist nicht mehr wie in den ‚Tagen‘ in die Ereignisse selbst verstrickt, sondern ordnet sie im erkennenden Rückblick“ (MD 263). 47 Die Unverdorbenheit zeigt sich darin, dass Algabals kindliches Ich nur „im geist“, also im kindlichen Spiel, „herr der welten“ war und sich nur von seinen Spielkameraden als Herrscher verehren ließ. Auch schreckte das kindliche Ich vor den eigenen Herrschaftsgedanken noch zurück. 48 Der Zusatz „schweren wechseljahres spur“ liefert die Angabe von Algabals Alter, als er den Tempel der Sonne verließ: vierzehn Jahre. Das „Wechseljahr“ – annus climacterius oder climacter, das im Leben eines Menschen eine jeweils entscheidende Stufe markiert – fiel für die Römer nämlich in das jeweils siebte Jahr. In den Noctes Atticae des Aulus Gellius wird berichtet, dass Varro in den Hebdomades bzw. De Imaginibus gesagt haben soll, dass die gefährlichsten Zeiten im Menschenleben alle

    

    Algabal 

     73

    Gedichts bestätigt noch einmal die palinodische Dialektik, die Algabal durchzieht. Beklagt wird der Verlust der Kindheit als Zeitalter unverdorbener Natürlichkeit auch in Fern ist mir das blumenalter durch die vergebliche Beschwörung des vielleicht bereits erloschenen Sommerfalters.49 In Jahre und vermeinte schulden ..50 wird die Schönheit als die den ganzen Zyklus tragende Kategorie problematisiert: Der Kaiser durchschaut die eigene Anmut, die ihm die Macht gesichert hat,51 als eine vergängliche Größe, welche die „hiebe“ der Jahre und der „vermeinten schulden“ bedrohen. Auch das nächste Gedicht, Am markte sah ich erst die würdevolle, lässt den symbolistischen Schönheitskult als problematisch erscheinen. Als Algabal sich seiner kapriziösen Verstoßung der Vestalin entsinnt,52 gesteht er sich durch ein paronomastisches Wortspiel ein, dass sein unmenschliches Schönheitsideal nur den ‚Quell‘ zu neuen ‚Qualen‘ birgt.53 Die Entwertung der Schönheit führt – wie bereits in dem Binnenzyklus Tage – zu einer Aufwertung des Todes als dem einzigen Ausweg. So vermag im darauf folgenden Gedicht nur das Gift aus dem kaiserlichen Ring dem prekären Glück des jungen Liebespaares Dauer zu verleihen und die Jugendlichen der Strafe ihrer Väter zu entziehen.54 Indes macht Algabals

    sieben Jahre eintreten: „Pericula quoque vitae fortunarumque hominum, quae ‚climacteras‘ Chaldaei appellant, gravissimos quosque fieri affirmat septenarios“ (Aulus Gellius: Noctes Atticae, III, 10, 9, 2). Im Falle Algabals handelt es sich bei seinem vierzehnten Lebensjahr um ein „schweres“, kritisches sowie gefährliches „Wechseljahr“, weil in diesem Jahr – 218 n.Ch. – Algabal seinen Tempel in Emesa verließ, um gegen Macrinus in die Schlacht zu ziehen. 49 „Kommt er wieder mit der meisen / Mit der lerchen erstem ton? / Wird er neu den juni preisen / Schläft er oder starb er schon?“ (SW II, 79). 50 Dort übernimmt George von Herodian die Vorstellung eines Wettbewerbs der Schönheit zwischen Elagabal und den Hermen: „ἐϛ τὸ αὐτὸ δὴ συνιόντων κάλλουϛ σώματοϛ, ἡλικίαϛ ἀκμῆϛ, ἁβροῦ σχήματοϛ, ἀπείκασεν ἄν τιϛ τὸ μειράκιον Διονύσου καλαῖϛ εἰκόσιν“ (Ab excessu, 5. 3. 7). Vgl. „Eh dein grösster ruhm ersterbe / Schmücke dich im weissen bade / Dass er noch zum wettbewerbe / Alle hermen vor sich lade“ (SW II, 80). 51 „Männer weinten frauen stöhnten / Unter deines tempels türe · / Glühend baten die gehöhnten / Dass dein kleid ihr haar berühre –“ (SW II, 80). 52 Belegt ist die Freveltat sowohl bei Cassius Dio (Historiae, 79. 9. 3  f.) als auch bei Herodian (Ab excessu, 5. 6. 2). Der Vers „Ich riss die priesterin von dem alter“ ist gar ein wörtliches Zitat aus Herodian (ebd.). 53 „Und zweifelnd ob das neue glück mir werde / Erfand ich nur den quell der neuen qual .. / Ich sandte sie zurück zu ihrem herde · / Sie hatte wie die anderen ein mal.“ (SW II, 81) Der letzte Vers, in dem die physische Unvollkommenheit – das „mal“ – der Vestalin erwähnt wird, ist ein wörtliches Zitat aus Cassius Dio, wo es heißt, dass der Kaiser die von ihm zur Frau genommene Julia Cornelia Paula gerade aufgrund von „κηλῖδά τινα περὶ τὸ σῶμα“ verstieß. Elagabal lebte daraufhin mit der Vestalin Julia Aquila Severa auf frevelhafte Weise zusammen: „εἶτα τὴν Παῦλαν ὡϛ καὶ κηλῖδά τινα περὶ τὸ σῶμα ἔχουσαν ἀποπέμψαϛ Ἀκυλίᾳ Σεουήρᾳ συνῴκησεν, ἐκφανέστατα παρανομήσαϛ· ἱερωμένην γὰρ αὐτὴν τῇ ῾Εστίᾳ ἀσεβέστατα ᾔσχυνε“ (Historiae, 79. 9. 3). 54 „Wol! da ich euch den starken tropfen gönnte / Aus meinem treuen ringe der mir diene / Wenn es bei einer dämmerung mir schiene / Dass ich die sterne nicht mehr schauen könnte“ (SW II, 82). Der

    74 

     Mario Zanucchi

    Nihilismus nicht einmal vor dem Tode halt. Im nächsten Gedicht verliert der Kaiser selbst die Achtung vor dem Tod: Anders als in seiner Jugend, wo er den Tod als Erlöser herbeiwünschte, hält Algabal ihn jetzt nur noch „in milder acht“ als den „trübste[n] tröster“ (SW II, 83). Der alle menschlichen Schranken überspringende Künstler kann durch seinen radikalen Nihilismus nicht einmal im Sterben Erlösung finden. Durch das von ihm erlangte absolute Bewusstsein durchschaut er Leben und Tod und verwirft beides. Diese existentielle und poetische Ausweglosigkeit erscheint im letzten Gedicht des Binnenzyklus  – Ob denn der wolken-deuter mich belüge  – umso fataler, als sie bereits durch Orakel vorausgesagt wurde und daher die unheimliche Konnotation des Unentrinnbaren erhält. Das vom Kaiser imaginierte Symbol seines Endes, das Verwelken der Knospe am kalten Marmor einer Säule,55 repräsentiert ein prägnantes Bild für die von George selbst reflektierte Sterilität der Algabal-Poetik. In dem Abschlussgedicht Vogelschau56 kulminiert die Bewusstwerdung, die sich bereits im Zyklus Die Andenken anbahnte. In der Antike repräsentierte die Vogelschau eine wichtige Technik der Zukunftsdeutung. Durch das Augurentum wurden die Auspizien über Künftiges gewonnen. Bei George hat die Vogelschau hingegen den Charakter eines Rückblicks auf Algabals Leben. In der Form der Vogelsymbolik ‚überfliegt‘ das Gedicht es: Die unschuldige Kindheit, die durch die „weissen schwalben“ symbolisiert wird, der ästhetische Narzissmus, im Symbol der bunten exotischen Vögel veranschaulicht, und die darauf folgende Depravierung, die in den Raben und schwarzen Dohlen chiffriert ist – Vögel, die sich im Unterschied zu den Schwalben nicht im Winde wiegen, sondern nah am Grunde, über Schlangen, flattern. Wie in Algabals Kindheit fliegen in der letzten Strophe, die durch das Präsens der Gegenwart zuzuordnen ist, noch weiße Schwalben, allerdings ist der Wind jetzt nicht länger „hell und heiss“, sondern „kalt und klar“. Darin sind sowohl die Klarheit des von Algabal erlangten Bewusstseins als auch die existenzielle Kälte seiner Isolation angedeutet. Trotz seiner souveränen Reflexivität vermag Algabal nicht, einen Ausweg aus der ästhetizistischen Aporie zu finden. Dem entspricht die Ratlosigkeit, über die George in seinem Brief an Hofmannsthal nach dem Abschluss seiner Dichtung schreibt: „was ich nach Halgabal noch schreiben soll ist mir unfasslich.“ (G/H 12)

    Ring mit dem Gift ist eine Reminiszenz an Lampridius: „paraverat et in cerauneis et in [h]yacinthis et in smaragdis venena, quibus se interimeret, si quid gravius inmineret“ (Antoninus Heliogabalus, 33. 5). 55 „Und flehend bis sie [die knospe] welke stehen bleibe / Vor einer säule sprödem marmorleibe“ (SW II, 84). 56 Zu Vogelschau vgl. WB 255–259.

    

    Algabal 

     75

    Form Auch in Algabal dominiert der für den Symbolismus typische Nominalstil. Dies bestätigt etwa eine Untersuchung der quantitativen Beziehung zwischen Substantiven und Verbformen. Im ersten Binnenzyklus, der ohnehin eher ekphrastisch angelegt ist, übersteigen die Substantive die Verben um fast zwei Drittel. Im Rest des Zyklus, der Szenen aus dem Leben des Kaisers schildert und daher einen dynamischeren Charakter als die besonders statische Eröffnung besitzt, überragen die Substantive die Verben nur noch um die Hälfte. Äußerst zahlreich sind die Komposita, die durch semantische Konzentration die emotionale Wirkung steigern. Es lassen sich nicht weniger als 36 zusammengesetzte Substantive zählen. Zum Nominalstil gehört auch Georges Vorliebe für die Substantivierung von Verbformen, z.  B. „[n]ach unbedachtem seligem vermählen“ (SW II, 82) sowie ihre nominale Erweiterung, z.  B. „haltet rast“ (SW II, 67) und „Nur sein mund gebete lallt“ (ebd.) für die nominal erweiterte Adjektivkomposita, z.  B. „windgeführt“ (SW  II,  84) oder „sonnenschlaff“ (SW  II,  67), für substantivierte Adjektive, z.  B. „[d]as nasse kühl“ (SW II, 62) „Erlauchte“ (SW II, 68) sowie für die Umwandlung finiter Verbformen in adverbiale Partizipialkonstruktionen (z.  B. „ermessend“ [SW II, 71], „wühlend“ [SW II, 72]). Wie in den Hymnen ist auch die Sprache in Algabal eine Kunstsprache. Hervorzuheben sind die Substantivierungen auf ‚-ung‘, Archaismen und Poetizismen (z.  B. „bronnen“ [SW  II,  60]), das bei Klopstock häufig belegte Adjektiv ‚freund‘,57 unter den Verben: ‚feien‘ (SW II, 67), ‚deuchen‘ (SW II, 83). Hinzu kommen Mots nobles wie „Topase“ (SW II, 61), „amber“ (ebd.), „murra“ (SW II, 62), „basalt“ (SW II, 66), „sarder“ (ebd.), „saffir“ (ebd.), ungebräuchliche Pluralformen („räuche“ [SW II, 67], „mirren“ [ebd.], erlesene Verneinungen auf -un („ungerühmt und ungehasst“ [SW II, 68]) sowie Verba simplicia („schrak“ [SW II, 66] für „erschrak“). Was die Techniken der Symbolbildung anbelangt, macht auch hier George von der verkürzten Metapher in absentia Gebrauch. Er evoziert Seelenzustände durch konkrete Schilderungen, wie in den beiden Sälen des Unterreichs, verwendet aber auch das umgekehrte Prozedere der metaphorischen Verschlüsselung eines Sachverhalts – etwa in der Charakterisierung der Wirbel als „gähnende Drachen“ (SW II, 60). Allerdings kommt letztere Technik seltener zum Einsatz als in den Hymnen. In der Tat weist Georges Stil in Algabal insgesamt realistischere Züge als in der Sammlung von 1890 auf. Für die oft übersehene Dialektik zwischen offener Realitätsverneinung und unterschwelliger -bejahung bezeichnend ist das fast völlige Fehlen von Synästhesien.58 Ebenfalls im Unterschied zu den Hymnen, in denen Ich-, Du-, Wir- und Er-Form einander abwechseln, dominiert in Algabal die Ich-Form. Die Verwendung des kollek-

    57 Vgl. „die freunden farbenstrahlen“ (SW II, 62). 58 Vgl. „Helle schläge · die brennenden freuden“ (SW II, 75); „In dem winde hell und heiss“; „In dem winde kalt und klar!“ (SW II, 85).

    76 

     Mario Zanucchi

    tiven ‚Wir‘ wird im Vergleich zu den Hymnen mehr denn halbiert.59 Stattdessen nehmen Formen der Polarisierung zu, und zwar als Entgegensetzung zwischen dem Künstler-Ich und der Masse.60 Der auffallendste Befund ist die hyperbolische Pointierung der IchForm, die sowohl in antithetischen Konstellationen als auch in monologischer Form ausgeprägt ist. Es lassen sich nicht weniger als 53 Belege für die Ich-Form aufzählen – fast dreimal so viel wie in den Hymnen, in denen das lyrische Ich lediglich 18 Mal zur Sprache kam.61 Auch Handlungen, die sozial dimensioniert sind und ein Gegenüber voraussetzen, wie das Erzählen, sind selbstreferentiell angelegt: So erzählt Algabal die Geschichte der zwei unter dem Feigenbaum Entschlafenen sich selber (SW II, 82). Insgesamt setzt George 16 reflexive Verbformen ein. Gerade in dieser hyperbolischen Pointierung der Ich-Form drückt sich der gesteigerte Solipsismus des Algabal aus. Was das Metrum anbelangt, zeigt sich eine größere metrische Lockerung im Vergleich zu den Hymnen. Der vers commun verliert seine Dominanz: Von 22 Gedichten sind lediglich acht in gereimten fünfhebigen Jamben. Häufig ist die Verwendung leicht unregelmäßiger Metren, um den jeweiligen Seelenzustand besser zu nuancieren. Wie in den Hymnen experimentiert George auch in Algabal mit der von Gustave Kahn ausdrücklich verteidigten symbolistischen Langzeile: „Grosse tage wo im geist ich nur der herr der welten hiess · / Arger tag wo in der heimat meine tempel ich verliess!“ (SW II, 78) Eines der metrisch freiesten Gedichte bildet Schall von oben! (SW II, 75), wo George in der Tradition des vers libéré das Gesetz der Isometrie verletzt und Verse von zwei und vier Hebungen alterniert: Schall von oben! Sind es hörner · sind es harfen Die mich hoben Und in grüfte niederwarfen? Wie betreten Und als ob ein gott mich zwänge Muss ich beten Syrer während eurer sänge.

    59 In den Hymnen in fünf Texten verwendet, wird die Wir-Form im Algabal lediglich in zwei Gedichten eingesetzt: Graue rosse muss ich schirren und Agathon knieend vor meinem pfühle. 60 Die Antithese zwischen dem Ich und einer in der dritten Person Plural als kollektives Subjekt charakterisierten Masse prägt drei Gedichte: So sprach ich nur …, Graue rosse …, Lärmen hör ich … Die Polarisierung ‚ich‘ vs. ‚ihr‘ kennzeichnet sechs Gedichte: O mutter meiner mutter …, Becher am boden, Da auf dem seidenen lager, Lärmen hör ich …, Schall von oben!, Ich will mir jener stunden lauf erzählen:. In fünf Texten erscheint das Ich im Dialog mit einem realen (O mutter meiner mutter …, Agathon knieend  …) oder imaginierten ‚Du‘. Letzteres erscheint als Fantasie der schwarzen Blume (Mein garten …), als Algabals kindlicher Doppelgänger (Grosse tage …) oder als Personifikation des Todes (Fühl ich noch …). 61 In Jahre und vermeinte schulden spricht sich das Ich – wie schon in Weihe – als ‚Du‘ an.

    Algabal 

    

     77

    Leise triller · verjüngen gesunden. Laute stösse · mit lachen vergeuden. Gelle striche · die bohrenden wunden Helle schläge · die brennenden freuden. Weise Syrer Werd ich dankend euch vertreiben? Ihr verführer Noch im leben zu verbleiben!

    Ausgeglichen werden die metrischen Lizenzen jedoch durch eine pointiert unsymbolistische formale Strenge, die den Strophenbau und den Reim betrifft. Die vierzeilige Strophe wird von George in  15 von  22 Gedichten eingesetzt. In Algabal lassen sich weder reimlose Gedichte noch die gezielte Verwendung unreiner Reime konstatieren. Zu den seltenen, typisch symbolistischen Experimenten mit wechselnden Strophenformen zählt Becher am boden (SW II, 69) – ein Gedicht, das eine alternierende Abfolge von neun- und fünfzeiligen Strophen mit dem extravaganten Reimschema abcddefcg afbeg hijikllmh nnjmk aufweist: Becher am boden · Lose geschmeide · Frauen dirnen Schlanke schenken Müde sich senken · Ledig die lende Busen und hüfte · Um die stirnen Der kränze rest. Schläfernder broden Traufender düfte · Weinkönig scheide! Aller ende Ende das fest! Rosen regnen · Purpurne satte Die liebkosen? Weisse matte Euch zu laben? Malvenrote · Gelbe tote: Manen-küsse Euch zu segnen.

    78 

     Mario Zanucchi

    Auf die schleusen! Und aus reusen Regnen rosen · Güsse flüsse Die begraben.

    Intertextualität In intertextueller Hinsicht profitiert Algabal vor allem von antiken Quellen. Von Heliogabalus berichten die Historiker Cassius Dio und Herodian sowie Aelius Lampridius in der Historia Augusta. Bei der Verfassung des Algabal hat George auf sie zurückgegriffen.62 Sogar der Name ‚Alagabalus‘ ist als seltene Variante in einigen epigraphischen Zeugnissen belegt.63 Gegenüber den antiken Quellen zeichnet sich Georges Algabal durch eine konsequente Ästhetisierung, eine Zurückdrängung der orgiastisch-sexuel­ len Maß- und Hemmungslosigkeit des historischen Heliogabalus, dem George eher melancholische und reflexive Züge verleiht, sowie durch eine grundsätzliche Ent­ politisierung aus.64 Andererseits knüpft Georges Algabal an eine im Fin de siècle

    62 Georges Behauptung, er habe vom historischen Elagabal bei der Entstehung seiner Dichtungen nichts gewusst (EM I, 44), widersprechen eindeutige Parallelen zwischen Algabal und den antiken Quellen. Näher untersucht wurde Georges Rezeption der römischen Historiker durch Herbert Marwitz: Stefan George und die Antike. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 1 (1946), S. 226–257; Victor A. Oswald: The historical content of Stefan George’s Algabal. In: The Germanic Review 23 (1948), S. 193–205; Bianca Maria Bornmann: Interpretazioni gheorghiane (wie Anm. 34) sowie Georgios Varthalitis: Die Antike und die Jahrhundertwende. Stefan Georges Rezeption der Antike. Diss. Heidelberg 2000, S. 14–40, sowie Volker Riedel: Ein problematischer ‚Einstieg‘. Zum Umgang Stefan Georges mit der antiken Überlieferung im Algabal. In: GJb 7 (2008/2009), S. 20–48. 63 Wie Victor A. Oswald (The historical content [wie Anm. 62, S. 196  f.] ausführt, könnte George die Namensvariante ‚Algabal‘ in einem von ihm möglicherweise benutzten Lexikon (Dictionnaire des ­Antiquités Grecques et Romaines. Ouvrage rédigé sous la direction de Charles Daremberg et Edmond Saglio. Paris 1892) gefunden haben. Dort werden zwei Inschriften wiedergegeben, in denen ‚Alagabalus‘ als Cognomen des Gottes erscheint: „TI · IULLO · BALBILLO · S · SOL · ALAGABALI · EUDEMON · LIB · PATRONO · OPTIMO“ und: „AQUILA · SOLI · ALAGABALO · IULIUS · BALBILLUS“. Beide Inschriften hätte George sowohl bei Daremberg und Saglio als auch direkt im folgenden Inschriftencorpus finden können: Inscriptiones Urbis Romae Latinae. Collegerunt Guilelmus Henzen et Iohannes Baptista de Rossi. Ediderunt Eugenius Bormann et Guilelmus Henzen. Pars Prima. Berolini 1876, jeweils: CIL. VI. 2269 (Rom) und CIL. VI. 708 (Rom). Auch Kippinger erwähnt die Namensvariante ‚Alagabalus‘: „Numinis huios sacris initiatus fuit Caesar ille, quem Alagabalum vocant Inscriptiones apud Petrum Appianum, Gruterum …“ (Henricii Kippingii Antiquitatum Romanorum Libri Quatuor. Lugdunum Batavorum 1713, S. 73). 64 Zu Georges Überformung der antiken Überlieferung vgl. Volker Riedel: Ein problematischer ‚Einstieg‘ (wie Anm. 62). Ob George auch den Aufsatz Elagabal aus Johannes Scherrs zehnbändigem Werk Menschliche Tragikomödie (Gesammelte Studien. Skizzen und Bilder. Bd. 1. 2. Aufl. Leipzig 1882, S. 81– 108) kannte, wie Werner Kraft vermutet (Stefan George. München 1980), sei dahingestellt.

    

    Algabal 

     79

    bereits stark literarisierte Gestalt an. Aufgrund seines ausschweifenden Lebensstils galt Heliogabalus in der französischen Décadence nämlich als ein Prototyp des modernen Dandys.65 Vor allem Joris-Karl Huysmans sah im verdorbenen und exzentrischen Kaiser den Ahnherrn des modernen Dekadenten. Vermutlich entdeckte George die Gestalt des Elagabal gerade durch Huysmans’ À rebours (1884),66 denn dort wird Elagabal zur Identifikationsfigur für den Dandy des Esseintes,67 dessen exzentrische Lebensführung ‚gegen den Strich‘ ein weiteres Vorbild für Georges Algabal darstellt.68 Wahrscheinlich kannte George auch den Elagabal-Roman L’Agonie (1888) des Jean Lombard (1854–1891).

    65 Dazu Hubert J. Meessen: Stefan George’s Algabal (wie Anm. 25). Verlaine erwähnt Heliogabalus in Résignation aus den Poèmes Saturniens (1866): „Tout enfant, j’allais rêvant Ko-Hinoor, / Somptuo­sité persane et papale / Héliogabale et Sardanapale!“ (Paul Verlaine: Œuvres poétiques complètes [wie Anm. 11], S. 60, Résignation, Hervorhebung d.V.). Angeblich arbeitete Jean Richepin (1849–1926) an einer Dichtung über den spätrömischen Kaiser. Dazu Gustave Kahn: „Jean Richepin, déjà, avait annoncé un Elagabal, dont quelques rares fragments parurent au Courrier français“ (Ders.: Symbolistes et Décadents. Paris 1902, S. 37  f.). Victor A. Oswalds Suche danach verlief jedoch ergebnislos (Oscar Wilde, Stefan George, Heliogabalus. In: Modern Language Quarterly 10 [1949], S. 517–525, hier S. 521). Auch Théophile Gautier (1811–1872) erwähnt ihn in seinem Vorwort zu den Fleurs du Mal (vgl. Charles Baudelaire: Œuvres complètes. Édition critique par Félix-François Gautier. Bd. 1. Paris 1918, S. xxviii– xxix) sowie in seiner Novelle Mademoiselle de Maupin (1835) (Théophile Gautier: Mademoiselle de Maupin.  Paris  1919, S. 154–156). Erwähnt wird Algabal auch bei Edgar Allan Poe: „That is the new Temple of Sun, who is adored in Syria under the title of Elah Gabalah. Hereafter a very notorious Roman emperor will institute this worship in Rome and thence derive a cognomen, Heliogabalus“ (The complete works of Edgar Allen Poe. Ed. By James A. Harrison. Bd. 2. New York 1965, S. 244  f.). Baudelaire hatte diese Stelle in seinen Nouvelles histoires extraordinaires übersetzt. 66 Dies ist auch die Vermutung von Ernst Morwitz (EM I, 44). Victor A. Oswald (Oscar Wilde [wie Anm. 65], S. 522) hingegen geht von einem Einfluss durch Gautier aus. 67 Des Esseintes stellt sich vor, wie der Kaiser, während dessen Zeitgenosse Tertullian Keuschheit predigte und sich in De cultu feminarum sogar gegen den Frauenschmuck wandte, sich den wildesten Ausschweifungen hingab: „Il [Tertullian] avait, en effet, vécu dans des temps houleux, secoués par d’affreux troubles, sous Caracalla, sous Macrin, sous l’étonnant grand-prêtre d’Émèse, Élagabal, et il préparait tranquillement ses sermons, ses écrits dogmatiques, ses plaidoyers, ses homélies, pendant que l’Empire romain branlait sur ses bases, que les folies de l’Asie, que les ordures du paganisme coulaient à pleins bords; il recommandait, avec le plus beau sang-froid, l’abstinence charnelle, la frugalité des repas, la sobriété de la toilette, alors que, marchant dans de la poudre d’argent et du sable d’or, la tête ceinte d’une tiare, les vêtements brochés de pierreries, Élagabal travaillait, au milieu de ses eunuques, à des ouvrages de femmes, se faisait appeler Impératrice et changeait, toutes les nuits, d’Empereur, l’élisant de préférence parmi les barbiers, les gâte-sauce, et les cochers de cirque“ (JorisKarl Huysmans: À rebours [wie Anm. 20], S. 116). 68 Sowohl Algabal als auch des Esseintes ziehen sich aus der Gesellschaft, die sie verachten, in die Isolation zurück: Der Kaiser in seinen unterirdischen Palast, der Herzog des Esseintes in sein abgelegenes Haus in Fontenay-aux-Roses. Beide scheuen die Nähe von Mitmenschen als Bedrohung ihrer narzisstisch kultivierten Isolation und sind vom ennui gequält. Sie konzipieren die Kunst in der striktesten Antithese zum Leben und lassen dem Artifiziellen freien Lauf, sei es in der bizarren Einrichtung ihrer Quartiere, sei es in der ständigen Suche nach neuen sinnlichen Reizen.

    80 

     Mario Zanucchi

    Ein anderer wichtiger Gesprächspartner Georges ist mit Sicherheit Stéphane Mallarmé. Im Unterschied zu einer vorherrschenden Forschungsposition ist Georges Dialog mit Mallarmé in Algabal nicht imitatorisch-reproduktiv, sondern steht im Zeichen einer transgressiv-kritischen Revision. Isabelle Durand-Henriot hat diesen Rezeptionsprozess zutreffend als ‚innere Aushöhlung‘ der Referenz bezeichnet, d.  h. als eine Aneignung, welche die Autorität der Vorlage zugleich unterminiert.69 Diese transgressive Überformung soll im Folgenden durch einen kontrastiven Vergleich des Algabal mit der Scène aus Mallarmés Fragment gebliebenen Noces d’Hérodiade (1865),70 von der George die erste deutsche Übersetzung verfasste, näher dargelegt werden. Die auffallendste Differenz zwischen beiden Werken betrifft zunächst deren Form. Mallarmés Noces d’Hérodiade waren ursprünglich als tragédie geplant, entwickelten sich jedoch immer stärker zum poème.71 Ihr Kompositionsprinzip steht nicht wie im Drama unter dem logischen Gesetz der Kausalität und Finalität, sondern ist ‚sym-

    69 „Assimiler la référence, puis la miner de l’intérieur – tel est le processus d’échange que l’on peut deviner entre les textes. […] Feignant d’accepter le divorce de l’art et de la vie, George invalide les options de Mallarmé dans un discours existentiel qui transforme l’ascèse en une crise douloureusement vécue“ (Isabelle Durand-Henriot: L’Algabal de George face à l’Hérodiade de Mallarmé: les stratégies d’une révision critique. In: Recherches germaniques 27 [1997], S. 143–164, hier S. 149). 70 Dazu Frederic Chase St. Aubyn: Hérodiade: Eine Frau mit Schatten? In: Revue de littérature comparée 99 (1959), S. 40–49; Nicola Di Girolamo: S. Mallarmé. Ouverture ancienne d’Hérodiade. Studio critico storico. Siena 1959; ders.: Cultura e coscienza critica nell’Hérodiade di Mallarmé. Bologna 1969; Peter Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Frankfurt/M. 1991, S. 31–138; Sylviane Huot: Le ‚Mythe‘ d’Hérodiade chez Mallarmé. Genèse et évolution. Paris 1977; Gardner Davies: Mallarmé et le Rêve d’Hérodiade. Paris 1978; Mary Ellen Wolf: Eros under glass. Psychoanalysis and Mallarmé’s Hérodiade. Columbus 1987; Monic Robillard: Le Désir de la vierge. Hérodiade chez Mallarmé. Genève 1993. Zur Rezeptionsgeschichte des Salomé-Stoffes vgl. Secundus Reimarus: Geschichte der Salome von Cato bis Oscar Wilde. Leipzig 1907/08. Neuausgabe: Stoffgeschichte der Salome-Dichtungen. Leipzig  1913. 71 Vgl. Mallarmés Brief an den Jugendfreund Aubanel vom 16. 10. 1865: „Je commence Hérodiade, non plus tragédie, mais poème“ (Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes. Édition présentée, établie et annotée par Bertrand Marchal. 2 Bde. Paris 1998–2003. Bd. 1, S. 683). Zwar ist sie weiterhin an den einmaligen dramatischen Augenblick gebunden: in der Ouverture ancienne und im Cantique de Saint Jean durch die situative Verankerung der Monologe der Amme und des Johannes des Täufers, die ein – unbestimmtes – Geschehen jeweils vorwegnehmen oder darüber reflektieren, und in der Scène durch den Dialog zwischen Hérodiade und der Amme. Im Übrigen sind die Noces d’Hérodiade der dramatischen Form entgegengesetzt. Mallarmé hat jeden weiteren Handlungsbezug und Verweis auf den Salomé-Stoff ausgespart. In den Entstehungsphasen der Hérodiade, wie sie Szondi rekonstruiert hat, lässt sich ein immer radikalerer Verzicht auf den äußeren Handlungsablauf feststellen. Herodes selbst findet keinen Eingang in das Gedicht, die Frau und die Tochter des Herodes werden zu einer einzigen Gestalt vereinigt, kein Handlungszusammenhang motiviert die Ermordung des Johannes etc. Mallarmé zitiert nur noch punktuell die als bekannt vorausgesetzte Handlung, um daraus ein Werk zu entwickeln, das, von der historischen Referenzebene losgelöst, sich nur noch als eine sprachliche Wirklichkeit darbietet.

    

    Algabal 

     81

    phonischer‘ Natur72 und besteht in der musikalisch-assoziativen Aneinanderreihung von Impressionen, die keiner vorgegebenen dramatischen Form mehr folgen, sondern deren Ordnung der Dichter aufgrund ihrer Verwandtschaft ad hoc und immer wieder von Neuem erschafft.73 Das Fortschreiten des Werkes erfolgt nicht am Leitfaden der dramatischen Handlung, sondern durch die kaleidoskopartige Metamorphose der Bilder.74 Somit ist Hérodiade ein Werk, das nicht nur reich an Metaphern ist, sondern das die Metapher zu ihrem Strukturprinzip erhebt.75 Dass sich das eigentliche Geschehen auf der metaphorischen Ebene abspielt, impliziert eine entschiedene Lyrisierung der dramatischen Form und eine konsequente Entwirklichung des Bühnengeschehens – was auch die prinzipielle Unaufführbarkeit der Hérodiade mit sich bringt. Während Mallarmés Drama lyrisch angelegt ist, weist Georges Algabal als lyrischer Zyklus narrative und dramatische Züge auf. Durch eine Auswahl markanter Stationen erzählt George Algabals Lebensgeschichte und verleiht seinem Zyklus einen markanten narrativen Charakter. Zuweilen macht George, wiewohl indirekt, auch vom dramatischen Dialog Gebrauch, indem er manche Gedichte als Antworten auf Fragen konzipiert, die dem Kaiser gestellt wurden.76 Die Narrativisierung und Dramatisierung beinhalten eine grundsätzliche Revision von Mallarmés areferentiellem Poesieideal. Mallarmés Dichtung gehorcht nicht einem kommunikativ-referentiellen Prinzip, sondern einzig einer metaphorisch-musikalischen Gesetzmäßigkeit. Mallarmé erkennt in der Poetizität die einzig gültige Funktion von Sprache. Daraus erwächst der ungeheuerliche Schock, den seine Dichtungen nicht nur bei ihren zeitgenössischen Lesern hinterließen. Mallarmés systematische Sabotage semantischer Zusammenhänge führt zur Abkoppelung der Sprache von der außersprachlichen Realität. Dagegen narrati-

    72 In Mallarmés Brief an Cazalis vom März 1865 heißt es: „toutes ces impressions se suivent comme dans une symphonie“ (Mallarmé: Correspondance. Bd. 1: 1862–1871. Recueillie, classée et annotée par Henri Mondor avec la collaboration de Jean-Pierre Richard. Paris 1959, S. 161). 73 Vgl. denselben Brief an Cazalis: „je suis souvent des journées entières à me demander si celle-ci peut accompagner celle-là, quelle est leur parenté et leur effet“ (ebd.). 74 Vgl. Mallarmés Brief an François Coppée vom 5. 12. 1866: „ce à quoi nous devons viser surtout est que, dans le poème, les mots – qui déjà sont assez eux pour ne plus recevoir d’impression du dehors – se reflètent les uns sur les autres jusqu’à paraître ne plus avoir leur couleur propre, mais n’être que les transitions d’une gamme“ (ebd., S. 234). 75 Vgl. Szondis Beobachtung in Bezug auf das Kompositionsprinzip der Scène: „Der Unterschied ihrer Sprache gegenüber der überlieferten besteht nicht in ihrem Reichtum an Bildern – alle Dichtung bedient sich der Metapher –, sondern darin, daß das metaphorische Prinzip selber, das Prinzip der Übertragung, zum Baugesetz des Gedichts wird.“ (Ders.: Das lyrische Drama [wie Anm. 70], S. 115). 76 So im Gedicht O mutter meiner mutter und Erlauchte, in dem der Kaiser auf den Tadel der Julia Maesa antwortet, im Gedicht Agathon knieend vor meinem pfühle, in dem der Dialog zwischen dem Kaiser und dem Sklaven inszeniert wird, der zwar stumm bleibt, aber seine Trauer durch seine Augen bekundet – „Deine wimper spricht da dein mund sich schloss“ (SW II, 73), oder in Lärmen hör ich im schläfrigen frieden, in dem eine direkte Frage an den Kaiser gerichtet wird: „›Schreckt dich das schlimme sternwort der Iden?‹“ (SW II, 74).

    82 

     Mario Zanucchi

    viert und dramatisiert George Algabals Lebensgeschichte mit dem Ziel, die Beziehung zwischen Sprache und Realität zu retten. Als zweite Überformungstendenz lässt sich bei George eine existentielle Aufladung des poetischen Diskurses konstatieren. Während Hérodiades Psychologie eher konturlos bleibt, bemüht sich George, Algabal psychologische Plausibilität zu verleihen und dessen ästhetischen Lebenswandel als existenzielle Krisensituation zu charakterisieren. Eindringlich schildert er, wie Algabals autistische Lebenseinstellung ihn in eine immer ausweglosere Lage verstrickt, aus der ihn nicht einmal der Selbstmord befreien kann. Das Pathos, mit dem Algabal die qualvolle Aporie seines ästhetischen Daseins reflektiert, durchbricht die Selbstreferentialität der Hérodiade und wirbt um die Anteilnahme der Leserschaft. Eine weitere Strategie, durch die George Mallarmés Hérodiade transformiert, ließe sich als hyperbolische Diskreditierung des Architexts bezeichnen. Sie besteht in einer Radikalisierung des ästhetischen Ideals, durch die Letzteres in ein fragwürdiges Licht gerät. So hat Georges Schilderung von Algabals Missetaten nicht nur das épater les bourgeois zum Ziel, sondern soll auch die Exzesse der poésie pure zeigen, sie als eine blutige und fragwürdige Praxis darstellen.77 Ein Beispiel dafür bietet das erste Gedicht des Binnenzyklus Tage. In der Scène aus den Noces d’Hérodiade wacht Hérodiade unerbittlich über die Wahrung ihrer absoluten Isolation, die in ihrer Jungfräulichkeit symbolisiert ist. In ihrem Autismus duldet sie nicht einmal die Nähe ihrer Amme, die sie als Profanierung ihres rein geistigen Wesens erlebt.78 Das Unberührbarkeitsmotiv hätte im geplanten weiteren Verlauf zur Achse der dramatischen Entwicklung werden sollen, die in Mallarmés Entwurf die Profanierung Hérodiades durch den Blick des Johannes und seine Enthauptung vorsah.79 Daran knüpft George an. Er radikalisiert jedoch die Vorlage dadurch, dass er den lydischen Sklaven, der die Intimität des Kaisers durch sein überraschendes Kommen verletzt hat, sich freiwillig das Leben nehmen lässt: Auf diese Weise wird der Unberührbarkeitstopos durch eine unglaubwürdige Überbietung der Vorlage ad absurdum geführt und unterschwellig

    77 Vgl. Durand-Henriot: „Cible d’une constante remise en question, l’œuvre en vient à dénoncer sa pratique absurde et sanguinaire de la poésie pure“ (L’Algabal [wie Anm. 69], S. 147  f.). Vgl. auch: „Chaque nouveau sacrifice doit simultanément ranimer et discréditer l’idéal aux yeux du lecteur. […] [T]ous les épisodes criminels du texte écartent l’idée que la destruction définitive du réel puisse engendrer le livre dont rêve Mallarmé“ (ebd., S. 152). 78 „Reculez. / Le blond torrent de mes cheveux immaculés / Quand il baigne mon corps solitaire le glace / D’horreur, et mes cheveux que la lumière enlace / Sont immortels. Ô femme, un baiser me tûrait“ (Mallarmé: Œuvres complètes. Bd. 1 [wie Anm. 71], S. 17, Hérodiade. Scène). 79 Über den geplanten Handlungsverlauf berichtet Mallarmés Freund Robert de Montesquiou: „elle [Hérodiade] ébauche le secret, lequel, je le tiens du poète lui-même, n’est autre que la future violation du mystère de son être par un regard de Jean qui va l’apercevoir, et payer de la mort ce seul sacrilège; car la farouche vierge ne se sentira de nouveau intacte et restituée tout entière à son intégralité, qu’au moment où elle tiendra entre ses mains la tête tranchée en laquelle osait se perpétuer le souvenir de la vierge entrevue“ (ders.: Diptyque de Flandre. Triptyque de France. Paris 1921, S. 235).

    

    Algabal 

     83

    diskreditiert. Die entgegengesetzte Strategie, die den Anspruch des Architexts herabsetzt, begegnet im Gedicht So sprach ich nur in meinen schwersten tagen. Dort gestaltet George das Motiv der narzisstischen Selbstverdoppelung, das aus der Scène stammt,80 stellt allerdings das Gelingen der androgynen Verdoppelung in Frage81 und weist somit auf die grundsätzliche Insuffizienz der ästhetischen Autarkie hin. Vor diesem Hintergrund überrascht schließlich nicht, dass die Entwicklung, die beide Gestalten durchlaufen, diametral entgegengesetzt ist. Hérodiades Vereinzelung schlägt in ein rauschhaftes Allmachtsgefühl um: „Ô charme dernier, oui! je le sens, je suis seule.“82 Das Finale von Mallarmés Hérodiade läuft auf eine hyperbolische Radikalisierung der narzisstischen Haltung hinaus. Hérodiade kehrt der Amme und der eigenen Kindheit den Rücken, um in sich selbst die Wahrheit zu suchen. Das Medium ihres Selbstbewusstseins bildet nicht mehr das über dem seraphischen Azur geöffnete Fenster, sondern der Spiegel.83 Algabals Entwicklung verläuft in die entgegengesetzte Richtung. Die ästhetische Lebenshaltung wird von ihm nicht als Bewahrung der Idea­ lität, sondern als gefährlicher Realitätsverlust, nicht als Jungfräulichkeit, sondern – in den beiden ersten Andenken-Gedichten – als Korruption der eigenen natürlichen Reinheit reflektiert.  Seinerseits erscheint der Tod nicht als Realisierung der poetischen Depersonalisation, sondern als verzweifelter Fluchtversuch aus den Aporien des ästhetischen Daseins – ein Ausweg, der letztlich von Algabal verworfen wird. Mit dem Abschlussgedicht schließlich – darauf weisen die Kälte und Klarheit der Luft in der letzten Strophe hin – tritt nach der ästhetischen Berauschung die Ernüchterung ein. In Vogelschau sagt Algabal dem ästhetizistischen Ideal ab, das ihm jetzt als eine endgültig überwundene Lebensstufe erscheint.

    80 Die Amme beobachtet nämlich zu Hérodiades Vereinsamung: „Triste fleur qui croît seule et n’a pas d’autre émoi / Que son ombre dans l’eau vue avec atonie“ (Mallarmé: Œuvres complètes. Bd. 1 [wie Anm. 71], S. 20, Hérodiade. Scène). 81 „Dann schloss ich hinter aller schar die riegel · / Ich ruhte ohne wunsch und mild und licht / Und beinah einer schwester angesicht / Erwiderte dem schauenden ein spiegel.“ (SW II, 71, Hervorhebung d.V.) Dazu Aurnhammer: „Algabal ersehnt das ewige Glück göttlicher Androgynie so sehr, dass er mangels wirklicher Möglichkeiten die weibliche Ergänzung aus sich selbst schafft, indem er eine schwester in sein Spiegelbild projiziert“ (Ders.: Androgynie [wie Anm. 23], S. 233). Die Quelle ist hier wiederum Cassius Dio (Historiae,  79.  13.  2  f.), der berichtet, dass der Kaiser sich nachts in Frauengewändern verkleidet in Bordelle begab und als Frau auch einen Mann heiratete. „Das Streben Algabals, selbst doppelgeschlechtlich zu erscheinen, von dem alle Historiker berichten, beruht auf seinem Wunsch, dieser allmächtig gedachten Form seines Gottes möglichst nahe zu kommen“ (EM I, 49). 82 Mallarmé: Œuvres complètes. Bd. 1 (wie Anm. 71), S. 21 (Hérodiade. Scène). 83 Vgl. den Kommentar von Bertrand Marchal in: ebd., S. 1165. Das Unbekannte, dessen Nahen sie am Schluss der Scène vorausahnt, ist ihre mystische Hochzeit mit dem Kopf des Johannes – eine Vereinigung, welche die Vermählung des völlig entpersönlichten Dichters mit seinem ästhetischen Ideal symbolisch umschreibt: „le mariage du génie sans nom, porté à l’ultime degré de perfection, et de son rêve de beauté idéale“ (Gardner Davies: Introduction. In: Stéphane Mallarmé: Les Noces d’Hérodiade. Mystère. Paris 1959, S. 17).

    84 

     Mario Zanucchi

    Auf diese Weise vollzieht George eine grundsätzliche Korrektur von Mallarmés Nihilismus, die dessen aporetischen Charakter diagnostiziert. Bereits im Algabal, der gemeinhin als Bekenntnis zum französischen Ästhetizismus gilt, werden die katastro­ phalen Folgen von Mallarmés nihilistischer Poetik problematisiert. Für die Entwicklung der symbolistischen Poetik in Deutschland erweist sich diese Problematisierung als richtungsweisend. Sie bereitet nämlich das Terrain für die Synthese des Symbolismus mit dem zeitgenössischen Vitalismus, d.  h. für eine mit dem ‚Leben‘ wieder versöhnte Form vor, welche vor allem Hofmannsthals sowie Rilkes Poetik charakterisieren wird. Der intertextuelle Dialog Georges mit C. F. Meyer, bislang von der Forschung überhaupt nicht ins Visier genommen,84 ist ebenfalls zentral. Hatte George bereits in den Hymnen eine deutsche protosymbolistische Tradition gestiftet, zu der vor allem Klopstock und Goethe gehörten und die den französischen Einfluss flankierte, so ist es in Algabal neben Novalis vor allem C. F. Meyer, den George in die Ahnengalerie des deutschen Symbolismus aufnimmt. Mit Meyer verbindet George nicht nur die Frankophilie,85 sondern auch eine poetische Affinität. Von Meyers Bedeutung für George zeugt bereits seine starke Präsenz in der von George und Wolfskehl herausgegebenen Anthologie Das Jahrhundert Goethes (1902), in der er mit fünfzehn Gedichten vertreten ist.86 In dieselbe Richtung weist die Würdigung, die ihm Friedrich Wolters in seiner George-Monografie zuteil werden lässt: Bei C. F. Meyer vollends, dem [im Vergleich zu Mörike] in noch südlicherer Landschaft geborenen, dem Liebhaber Italiens und der Maler der italienischen Wiedergeburt ist die Helle und Weite des südlichen Lichtes ganz in unsere Dichtersprache eingegangen. Dieser letzte unmittelbare Erbe Goethes ist zugleich der erste deutliche Vorklang der neuen Dichtung Georges. So tiefe Schatten, so satte Farben und helle Scheine konnten nur die von der großen Natur geweckten, von der ewig jungen Erde und der ewig jungen Sonne bezauberten Augen unter südlichem Himmel erfassen wo in heißer Glut die purpurne Veltliner Traube kocht und die lichtatmende Luft den Tönungen aller Dinge ein erhöhtes Leben gibt. (BG 226)

    84 Zwar wurde in der Forschung eine starke Affinität zwischen George und Meyer festgestellt, nirgendwo aber erwiesen, dass sich aufgrund dieser Affinität in Algabal ein intertextueller Dialog entwickelt. Zu George und Meyer vgl. Arnold Zweig: Standbild und Einsturz des Stefan George. In: Neue deutsche Literatur 2 (1957), S. 107–116; Peter Lutz Lehmann: Meditationen um Stefan George. Sieben Essays. Düsseldorf und München 1965, S. 25  f.; MD 28–30. 85 Aufgrund der Jugendjahre, die Meyer in Lausanne verbrachte, war er des Französischen so mächtig, dass er wie George in Erwägung zog, auf Französisch zu schreiben oder eine akademische Laufbahn als Romanist einzuschlagen. 86 Es handelt sich um folgende Texte: Schwarzschattende Kastanie, Nachtgeräusche, Ein Lied Chastelards, Schwüle, Die Veltlinertraube, Säerspruch, Ewig jung ist nur die Sonne, Neujahrsglocken, Unter den Sternen, Noch einmal, Die gegeisselte Psyche, Der Gesang des Meeres, Zwiegespräch, Das Ende des Festes, Der römische Brunnen und Chor der Toten. Wolfskehl kritisierte die Auswahl aus Meyers Dichtungen als „zu fett“, George aber verteidigte sie (vgl. G/KHW 479).

    Algabal 

    

     85

    Wolters’ Charakterisierung von Meyers Lyrik als „dem ersten deutlichen Vorklang der neuen Dichtung Georges“ wurde nachträglich auch von der Forschung ratifiziert. So porträtiert Heinrich Henel den Schweizer Dichter sogar als „the first of German symbolists“87. Mag diese Titulierung überzogen klingen, da der deutsche Symbolismus de facto erst mit Georges Rezeption des internationalen Symbolismus ansetzt,88 gebührt Meyer mit Sicherheit eine wichtige Vorreiterrolle, befindet sich dessen Lyrik doch an der Schwelle zur symbolistischen Poetik. Die zahlreichen Fassungen von Meyers Gedichten, die zuerst 1883 veröffentlicht wurden, dokumentieren eindrucksvoll den Übergang vom traditionellen Erlebnisgedicht zum symbolistischen, auf Distanz abzielenden Poesieideal: „Der reife Meyer steht nicht mehr wie die Romantiker im Bannkreis der Dinge, er bleibt außerhalb. Er hält den nötigen Abstand ein, um zu beobachten und zu ordnen.“89 Die Übereinstimmung mit dem symbolistischen Gedichttypus betrifft auch den hohen Selbstreferentialitätsgrad von Meyers Dichtungen und den damit einhergehenden Ausschluss der prosaischen Wirklichkeit. Bei Meyer kündigen sich auch die symbolistische Sakralisierung der Kunst und die Abscheu vor der Masse an: „Sie kennen mich und wißen“, schreibt der Dichter an Eliza Wille, „daß sich Etwas in mir sträubt gegen die Betastungen der Menge.“90 Die symbolistische Vorliebe für eine Kunst, die ausschließlich Kunst zum Gegenstand hat, ist im imaginären Museum von Meyers Lyrik vorgebildet. Technisch lässt sich bei Meyer noch ein Schwanken zwischen Allegorie und Symbol beobachten, die dem Schwellencharakter seiner Lyrik durchaus entspricht. George war sich Meyers Vorreiterrolle bewusst. Vor allem in Algabal ist der Dialog mit Meyer auffallend. Dies lässt sich etwa am Schlussgedicht aufzeigen, das Meyers Möwenflug verpflichtet zu sein scheint: Möwen sah um einen Felsen kreisen Ich in unermüdlich gleichen Gleisen, Auf gespannter Schwinge schweben bleibend, Eine schimmernd weiße Bahn beschreibend,

    87 Heinrich Henel: The Poetry of Conrad Ferdinand Meyer. Madison  1954, S. 56. Vgl. auch Claude David: „Der symbolistische Stil, den Stefan George einige Jahre später auf Umweg über die französische Lyrik entdecken sollte, war bei C. F. Meyer bereits vorgeformt.“ (Ders.: Zwischen Romantik und Symbolismus 1820–1885. Gütersloh 1966, S. 199 u. MD 29) 88 Es ist ungewiss, ob Meyer von Baudelaire überhaupt Kenntnis genommen hat (Beatrice SandbergBraun: Wege zum Symbolismus. Zur Entstehungsgeschichte dreier Gedichte Conrad Ferdinand Meyers. Zürich 1969, S. 102). Auch Marianne Burkhard spricht nur von „strukturellen Analogien“ zwischen Meyer und Baudelaire und schließt ein bewusstes Anknüpfen Meyers an Baudelaires Poetik aus (dies.: Ambivalence and Fragmentation: Structural Similarities in the Work of C. F. Meyer and Baudelaire. In: Nineteenth-Century French Studies 5 [1977], S. 261–268). 89 Beatrice Sandberg-Braun: Wege zum Symbolismus (wie Anm. 88), S. 68  f. 90 Conrad Ferdinand Meyer: Briefwechsel. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. v. Hans Zeller. 3 Bde. 1998–2004. Bd. 2: C. F. M., François und Eliza Wille: Briefe 1869–1896. Bearb. v. Stefan Graber u.  a. Bern 1999, S. 152 (Brief vom 12. 11. 1887).

    86 

     Mario Zanucchi

    Und zugleich in grünem Meeresspiegel Sah ich um dieselben Felsenspitzen Eine helle Jagd gestreckter Flügel Unermüdlich durch die Tiefe blitzen. Und der Spiegel hatte solche Klarheit, Daß sich anders nicht die Flügel hoben Tief im Meer, als hoch in Lüften oben, Daß sich völlig glichen Trug und Wahrheit.91

    Bei Meyer beobachtet ein lyrisches Ich Möwen, die hoch am Äther um einen Felsen kreisen und zugleich tief unten auf dem Meeresspiegel abgebildet werden. Die Spiegelung ist so vollkommen, dass sich Bild und Abbild, „Wahrheit“ und „Trug“ kaum voneinander unterscheiden. Der Schein, die Widerspiegelung der Möwen auf der Meeresoberfläche, wird von Meyer als „Trug“ betrachtet. In diametralem Gegensatz zum „Trug“ des Scheins steht die „Wahrheit“, die in diesem Kontext auch als existenzielle Authentizität zu verstehen ist. Gerade die beunruhigende, unheimliche Identität des lebendigen und des gespenstischen Möwenflugs veranlasst das lyrische Ich, sich die Frage nach der Echtheit seines bisherigen Daseins zu stellen. So fragt es sich, ob es zu den lebendigen Vögeln gehört oder vielmehr selber nur ein Revenant wie die tief im Meer fliegenden Möwen darstellt: Allgemach beschlich es mich wie Grauen, Schein und Wesen so verwandt zu schauen, Und ich fragte mich, am Strand verharrend, Ins gespenstische Geflatter starrend: Und du selber? Bist du echt beflügelt? Oder nur gemalt und abgespiegelt? Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen? Oder hast du Blut in deinen Schwingen?92

    Von Möwenflug scheint George das trochäische Metrum, die monologische Rede eines lyrischen Ich sowie die Vogelschau als Sinnbild der Selbsterkenntnis adaptiert zu haben – ein Motiv, das George stellenweise wörtlich nachgestaltet.93 Weisse schwalben sah ich fliegen · Schwalben schnee- und silberweiss · Sah sie sich im winde wiegen · In dem winde hell und heiss.

    91 Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Hans Zeller u. Alfred Zäch. Bd. 1: Gedichte. Bern 1963, S. 190. 92 Ebd. 93 Vgl. Meyer: „Möwen sah um einen Felsen kreisen / Ich“, George: „Weisse schwalben sah ich fliegen“ (SW II, 85), Meyer: „Eine schimmernd weiße Bahn“, George: „Schwalben schnee- und silberweiss“. Die anaphorische Stellung des „Sah“ (Meyer: V. 6, George: V. 3) hat George ebenfalls von Meyers Möwenflug übernommen.

    Algabal 

    

     87

    Bunte häher sah ich hüpfen · Papagei und kolibri Durch die wunder-bäume schlüpfen In dem wald der Tusferi.94 Grosse raben sah ich flattern · Dohlen schwarz und dunkelgrau Nah am grunde über nattern Im verzauberten gehau. Schwalben seh ich wieder fliegen · Schnee- und silberweisse schar · Wie sie sich im winde wiegen In dem winde kalt und klar! (SW II, 85)

    Die Synchronie von Wahrheit und Trug bei Meyer wird bei George zur diachronen Aufeinanderfolge von Vogelsymbolen, die Algabals innere Entwicklung widerspiegelt. Die erste Etappe bildet die von den Schwalben symbolisierte Unschuld der Kindheit. Abgelöst werden die Schwalben durch exotische und ominöse Vögel, welche die Faszination sowie die Depravierung von Algabals ästhetischer Existenz versinnbildlichen. Hier kommt auch die Dichotomie von Oben und Unten zur Geltung, die George von Meyer übernimmt: Der reine Flug der Schwalben spielt sich im Äther ab, während die Sinnbilder der Korruption, die Raben und Dohlen, nah am Grund in der Nähe der Schlangen flattern.95 Wie der gespiegelte Flug bei Meyer erscheinen auch die exotischen und unheilvollen Vögel bei George als fantastisch und irreal, denn sie symbolisieren Algabals Entfernung von der Realität. Die „wunderbäume“, durch welche die exotischen Vögel schlüpfen, ebenso wie das „verzauberte gehau“ der verhängnisvollen Raben und Dohlen verraten Meyers Vorbild: „Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen?“. Die Wiederkehr der Schwalben in der letzten Strophe symbolisiert Algabals wiedergewonnene existenzielle Integrität, seine Lösung vom ‚Phantom‘ des Ästhetizismus und die Rückkehr in die Wirklichkeit. Allerdings ist die Klarheit des erlangten Selbstbewusstseins mit der unaufhebbaren Kälte der eigenen Isolation gepaart: Der damals „hell und heisse“ Wind, in dem sich die Schwalben wiegten, ist „kalt und klar“ geworden. Eine letzte Transformation lässt sich als ‚symbolistische Durchformung‘ des Architexts charakterisieren. Während Meyers Möwenflug noch als traditionelle Allegorie konzipiert ist und ein Bild – den doppelten Möwenflug (mitsamt seiner Bedeu-

    94 „Neubildung aus dem Lateinischen ‚tus‘ (Weihrauch) und dem botanischen Fachausdruck ‚thurifer‘ (weihrauchtragend)“ (SW II, 127). 95 So wiegen sich die Schwalben im Wind, während die Raben und Dohlen am Grund über Nattern „im verzauberten gehau“ flattern (Hervorhebung d.V.).

    88 

     Mario Zanucchi

    tung) der Identität von Trug und Wahrheit – liefert und das Bild im zweiten Teil sogar einer ausdrücklichen Reflexion durch das lyrische Ich unterzieht, weist Vogelschau eine symbolistische Faktur auf und verzichtet auf eine explizite Deutung seiner Bildsprache. Georges Dialog mit Meyer in Algabal betrifft auch den Historismus. Angesichts des aufwändigen historischen Dekors des Algabal erstaunt es nicht, dass gerade Meyers Behandlung antiker Stoffe auf Georges Interesse stieß. Ein Beispiel dafür bietet Georges Gedicht Da auf dem seidenen Lager. Das dort entfaltete Motiv der Flöte, die den Schlaf und symbolisch auch den Tod ankündigt, ist bei Meyer oft belegt, u.  a. im Gedicht Das Ende des Festes – ein Titel, auf den George übrigens in Becher am boden anspielt.96 Das Ende des Festes wurde auch in Georges Anthologie aufgenommen: Da mit Sokrates die freunde tranken · Und die häupter auf die polster sanken · Kam ein jüngling · kann ich mich entsinnen · Mit zwei schlanken flötenbläserinnen. Aus den kelchen schütten wir die neigen · Die gesprächesmüden lippen schweigen · Um die welken kränze zieht ein singen .. Still! Des todes schlummerflöten klingen!97

    Der Ausgangspunkt von Meyers Gedicht ist Platons Symposion, nämlich die Ankunft des Alkibiades mit einer auletris, die in Sokrates’ Gastmahl erscheinen, um den Dichter Agathon zu feiern.98 Die Platon-Stelle wird von Meyer jedoch symbolisch überformt. Die Flötenbläserinnen, die leeren Kelche, das Schweigen der Symposiasten und die verwelkten Kränze nehmen Sokrates’ Tod symbolisch vorweg. Meyers zweistrophiges Gedicht könnte die palintextuelle Vorlage für Georges themenähnliches, ebenfalls zweistrophiges Da auf dem seidenen lager darstellen, das übrigens gleichfalls mit dem Adverb „Da“ anhebt: Da auf dem seidenen lager Neidisch der schlummer mich mied So bringt keine wundersager So will ich kein lullendes lied Der mädchen attischer lande Was mir vor monden gefiel. Nun schlingt mich in eure bande Flötenspieler vom Nil.

    96 „Aller ende / Ende das fest!“ (SW II, 69). 97 DD III, 187. 98 Symp. 212c-d. Dazu: Conrad Ferdinand Meyer: 1825–1898. Hg. v. Hans Wysling u. Elisabeth LottBüttiker. Zürich 1998, S. 438  f.

    Algabal 

    

     89

    Ich lag in äthergezelten Ich ass von himmlischem brot · Ihr sanget die flucht aus den welten Ihr sanget vom glorreichen tod Bevor die brennenden lider Endlicher schlummer befiel. Entrückt und tötet mich wieder Flötenspieler vom Nil. (SW II, 70)

    Wie Meyer – „Des todes schlummerflöten klingen!“ – reaktiviert George den Topos des somnium imago mortis, und wie bei Meyer stellt sich auch bei George der Schlaf durch die Flötenmusik ein: „Entrückt und tötet mich wieder  / Flötenspieler vom Nil“99. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass Georges Dialog mit Meyer die Auseinandersetzung mit einer deutschen protosymbolistischen Tradition darstellt, die den französischen Einfluss ausgleicht.100

    Interpretation von Ihr hallen prahlend in reichem gewande (SW II, 60) Ihr hallen prahlend in reichem gewande Wisst nicht was unter dem fuss euch ruht – Den meister lockt nicht die landschaft am strande Wie jene blendend im schoosse der flut. Die häuser und höfe wie er sie ersonnen Und unter den tritten der wesen beschworen Ohne beispiel die hügel die bronnen Und grotten in strahlendem rausche geboren. Die einen blinken in ewigen wintern · Jene von hundertfarbigen erzen Aus denen juwelen als tropfen sintern Und flimmern und glimmen vor währenden kerzen.

    99 Ebd. Bezeichnenderweise werden Meyers Flötenbläserinnen bei George männlich. 100 C. F. Meyer ist George zuweilen auch formal verpflichtet. So ist der achthebige und paargereimte Vers, den das erste Andenken-Gedicht aufweist, auch bei Meyer nachgewiesen (man siehe das von George in die Anthologie Das Jahrhundert Goethes aufgenommene Gedicht Ewig jung ist nur die Sonne). In Schall von oben! alterniert George zwei- und vierhebige Verse, genau wie Ein Lied Chastelards.

    90 

     Mario Zanucchi

    Die ströme die in den höheren stollen Wie scharlach granat und rubinen sprühten Verfärben sich blässer im niederrollen Und fliessen von nun ab wie rosenblüten. Auf seeen tiefgrün in häfen verloren Schaukeln die ruderentbehrenden nachen · Sie wissen auch in die wellen zu bohren Bei armige riffe und gähnende drachen. Der schöpfung wo er nur geweckt und verwaltet Erhabene neuheit ihn manchmal erfreut · Wo ausser dem seinen kein wille schaltet Und wo er dem licht und dem wetter gebeut. (SW II, 60)

    Das Initialgedicht des Unterreichs intoniert das Leitthema des Zyklus, das Ideal ästhetischer Autarkie, indem es Algabals artifizielle Parallelwelt inszeniert. In Anbetracht seiner Struktur lässt sich der Text in drei Partien gliedern. Die erste Strophe dient als Einleitung, die Strophen zwei bis vier schildern Algabals unterirdisches Reich, während die abschließende Strophe, vom Rest auch durch den umarmenden Reim abgehoben, die Beziehung des Kaisers zu seiner unterirdischen Schöpfung reflektiert. Das Gedicht besteht aus sechs kreuzgereimten Strophen zu jeweils vier Versen. Das Metrum ist vierhebig, meist jambisch-anapästisch, zuweilen – in den Versen 7, 10 und 18 – trochäisch-daktylisch. Die Kadenzen sind weiblich, mit Ausnahme der ersten Strophe, in der sie abwechselnd weiblich und männlich sind. Stilistisch liefert der Text ein weiteres Beispiel für Georges Nominalstil. Zu beobachten ist die Umwandlung finiter Verbformen in adverbiale Partizipialkonstruktionen – „prahlend“, „blendend“ – sowie ihre Substantivierung – „im niederrollen“. Im Einklang mit der nominalen Stiltendenz steht der stark elliptische Duktus.1 Zur Steigerung der semantischen Verdichtung und der symbolischen Suggestionskraft setzt George Komposita wie „hundertfarbig“, „rosenblüten“ und „ruderentbehrend“ ein. Das Gedicht benennt in der letzten Strophe das ‚Erhabene‘ als Schlüsselkategorie von Algabals Schöpfung. Erzielt wird die Erhabenheit stilistisch zum einen durch eine starke syntaktische Verfremdung: Dazu gehören die Epiphrase des Adjektivs in Vers 17 („Auf seeen tiefgrün“) wie auch das kühne Hyperbaton der letzten Strophe. Zum anderen wird der Eindruck des Erhabenen durch die zahlreichen Pluralformen hervorgerufen, die das mirum von Algabals Schöpfung evozieren: Von 39 Substantiven sind nicht weniger als 23 Pluralbildungen.2

    1 Vgl. die Ellipse der Kopula in den Versen 5, 7, 8, 21 und die Ellipse des finiten Verbs in Vers 10. 2 Sowohl das Hyperbaton als auch die Pluralbildungen gehören seit der Antike zum Repertoire der Erhabenheitsrhetorik (vgl. Anon.: De sublim. 22 [Hyperbaton] u. 23 [Polyptoton]).

    Algabal 

    

     91

    Wiewohl sich die Forschung seit langem mit Georges Gedicht auseinandergesetzt hat,3 wurde dessen klanglich-formale Textur vernachlässigt. Ferner ist der Text einer ‚Literarisierung‘ zum Opfer gefallen, welche zur Vernachlässigung seiner historischen Entstehungsbedingungen geführt hat. So wurde das Gedicht als eine Auseinandersetzung mit Novalis (Hubert Arbogast), mit Villiers de L’Isle-Adam (Enid Lowry Duthie, Hubert J. Meessen, Claude David) oder mit Baudelaire (Manfred Durzak und Hella Tiedemann-Bartels) interpretiert, während die Bedeutung außerliterarischer Impulse meist übersehen wurde. Gleich in der ersten Strophe wird eine grundsätzliche Antithese zwischen der Oberwelt und dem Unterreich aufgebaut. Oberhalb befindet sich die Alltagswelt, die eine nur ‚oberflächliche‘ Schönheit kennt: eine ebenso prunkvolle wie leere Repräsentationsästhetik (die „hallen“ „in reichem gewande“) oder eine rein naturwüchsige Schönheit („die landschaft am strande“). Die beiden Landschaften symbolisieren zwei unterschiedliche, von George gleichermaßen verworfene poetische Traditionen: die epigonale klassizistische Dichtung und die ebenso epigonale spätromantische Naturpoesie. Von beiden Formen poetischer Epigonalität wendet sich George ab, zugunsten einer neuen und exklusiven Poetik, die von der selbstgeschaffenen unterirdischen Sphäre symbolisiert wird. Die das Gedicht strukturierende Antithese zwischen Oberflächenwelt und chthonischer Sphäre ist – wie der Forschung bisher entging – in C. F. Meyers Chor der Toten präformiert, den George im ersten Unterreich-Gedicht auf intertextuelle Weise verarbeitet. Im Folgenden sei ein Auszug aus Meyers Gedicht angeführt, der Georges Anthologie Das Jahrhundert Goethes abschließt: Wir toten · wir toten sind grössere heere Als ihr auf der erde · als ihr auf dem meere! […]

    3 In ihrer thematisch konzipierten Untersuchung geht Enid Lowry Duthie ohnehin auf kein einziges Gedicht Georges näher ein, sondern beschränkt sich auch in diesem Fall darauf, allgemeine thematische Affinitäten zwischen dem Algabal und dem französischen Symbolismus festzustellen, ohne sie durch genaue Textanalysen zu vertiefen (zum ersten Unterreich-Gedicht vgl. die spärlichen Bemerkungen auf S. 224  f. u. 233  f.). Vgl. Enid Lowry Duthie: L’Influence du symbolisme français dans le renouveau poétique de l’Allemagne: les Blaetter fuer die Kunst de 1892 à 1900. Paris 1933. Morwitz bietet wie gewöhnlich nur eine knappe Inhaltsparaphrase (EM I, 45). Manfred Durzak (MD 202–208) gibt einen instruktiven Überblick über die Forschungsgeschichte und untersucht angebliche Parallelen zu Baudelaires Rêve parisien, geht aber ansonsten auf die konkrete Textgestalt des Gedichts nicht ein. Dieter Hoffmann (Arbeitsbuch deutschsprachige Lyrik 1880–1916: vom Naturalismus bis zum Expressionismus. Tübingen u. Basel 2001 [UTB 2199], S. 261  f.) fügt bereits Bekanntem kaum etwas Neues hinzu. Die bislang ausführlichste Interpretation stammt von Hella Tiedemann-Bartels, die das Gedicht ebenfalls mit Rêve parisien vergleicht (Versuch über das artistische Gedicht. Baudelaire, Mallarmé, George. München 1971, S. 63–68). HA 160  f. erkennt im Text hingegen Novalis-Parallelen.

    92 

     Mario Zanucchi

    Und was wir vollendet und was wir begonnen · Das füllt noch dort oben die rauschenden bronnen · […] Und unsere töne · gebilde · gedichte Erkämpfen den lorbeer im strahlenden lichte · (DD III, 187, Hervorhebung d.V.)

    Von Meyers Gedicht übernimmt George nicht nur das vierhebige jambische Metrum, sondern auch die zentrale Vorstellung einer chthonischen Dimension, die der Oberflächenwelt überlegen ist. Die Antithese zwischen oben und unten, die Meyers Gedicht strukturiert, besitzt bei George denselben zentralen Wert. Die Welt der Lebenden ihrerseits erscheint in der Zweiteilung von Erde und Meer – genau wie bei George, der die Oberfläche mit den Hallen und der Landschaft am Strand des Meeres identifiziert. Nicht weniger markant ist schließlich Georges Übernahme von Meyers Apostrophe ‚Ihr‘, die sich in beiden Fällen an die nichts ahnenden Oberflächenmenschen richtet. Auch einzelne Wendungen, wie die altertümlichen „bronnen“ in Reimstellung oder das „strahlende licht“, bildet George nach.4 Die häuser und höfe wie er sie ersonnen Und unter den tritten der wesen beschworen Ohne beispiel die hügel die bronnen Und grotten in strahlendem rausche geboren.

    Mit der zweiten Strophe verlässt das Gedicht endgültig die Welt über Tage.5 Die Grundantithese Nachahmung versus Autonomieprinzip wird jetzt durch die katego4 Stilistisch markant ist in der ersten Strophe Georges Tendenz zur Brachylogie, die sich in der Verkürzung der Prädikate durch partizipiale Verbformen ausdrückt: „Ihr hallen prahlend“, „jene blendend“. Altertümlich mutet die dreifache Paragoge an – „In reichem gewande“, „strande“ und „schoose“. Die Personifizierung der Hallen unterstützt George zusätzlich durch den dativus ethicus  – „euch“. Bemerkenswert sind vor allem die klanglichen Valeurs: Die Dichotomie zwischen Oben und Unten wird durch die Alternanz des strahlenden Vokals ‚a‘ – „hallen“, „prahlend“, „reichem gewande“, „landschaft am strande“ – und der dunklen Vokale ‚o‘ und ‚u‘ – „unter“, „fuss“, „ruht“, „schoose“, „flut“ zum Ausdruck gebracht. Metrisch auffallend ist, dass der letzte Anapäst in Vers 2 unvollendet ist: Die Brachykatalexe wirkt wie eine rhythmische Aposiopese, welche die Spannung erhöht. Der Leser harrt darauf zu erfahren, was unter den Hallen liegt, so wie er auf die metrische Vollendung des Verses wartet. – Die Umlaute und Diphthonge – „häuser“, „höfe“, „hügel“, „beispiel“, „rausche“ – geben das mirum von Algabals Palast klanglich wieder, während der dunkle Vokal ‚o‘ – „ersonnen“, „beschworen“, „bronnen“, „grotten“, „geboren“ – an dessen unterirdischen Charakter mahnt. 5 Zur Bezeichnung „wesen“ führt Tiedemann-Bartels aus: „Die ‚wesen‘ sind die Lebenden; nicht auf deren essentia, vielmehr auf die Unbestimmtheit bloßen Daseins und auf dessen Scheinhaftigkeit gegenüber der künstlichen Welt, die dem ‚Meister‘ das Wahre ist, zielt das Wort ‚wesen‘“ (Hella Tiedemann-Bartels: Versuch über das artistische Gedicht [wie Anm. 3], S. 64). Ob George bei „Wesen“ die scholastische Unterscheidung zwischen essentia und accidens bemüht hat, sei dahingestellt. Eher als die Unbestimmtheit evoziert die Bezeichnung ‚Wesen‘ wohl die Fremdheit der prosaischen ‚Ober-

    Algabal 

    

     93

    riale Opposition Natur versus Kunst weiter vertieft. Der natürlichen „landschaft am strande“ hält Algabal jene künstliche „im schoosse der flut“ entgegen, welche die Naturschönheit übertreffen soll. Es ist sicherlich paradox, dass die Schilderung der unterirdischen Schöpfung, die alles Sichtbare übersteigen soll, von der Besichtigung eines realen Orts ausgelöst wurde: der Venus-Grotte bei Schloss Linderhof – ein Besuch, der im Sommer 1891, kurz vor der Entstehung des Manuskripts erfolgte.6 Die Venus-Grotte wurde 1876/77 als künstliche Tropfsteinhöhle mit Wasserfall und See unter Leitung des Bühnenbildners August Dirigl am Abhang des Hennenbergkopfes im Park von Schloss Linderhof errichtet.7 Sie war Teil der Märchenwelt Ludwigs II. und zugleich ein Wunderwerk avanciertester Technik, an dem auch Werner von Siemens mitarbeitete. Sieben Öfen sorgten für eine konstante und angenehme Temperatur in der sonst recht kühlen Grotte, während ein Regenbogen-Projektions-Apparat und eine Wellenmaschine den Wechsel der Witterung simulierten. Als technische Besonderheit galt die elektrische Beleuchtungsanlage, die mit ihren 24 Dynamomaschinen als erstes bayerisches Elektrizitätswerk gilt. Der König ließ sich auf dem künstlichen See in einem muschelförmigen Kahn umherrudern, der speziell für die Verwendung in der Grotte angefertigt wurde. Damit sind mehr oder weniger sämtliche Requisiten genannt, mit denen auch Algabals Unterreich ausgestattet ist. Die Besichtigung der Venus-Grotte war für Georges Gedicht in der Tat ungleich bedeutsamer als Baudelaires Rêve parisien, der in der Forschung als Quelle immer wieder herangezogen wurde, aber eine nur sekundäre Relevanz besitzt.8 Ausdrücklich besteht das Unterreich aus mehreren „grotten“, in denen sich Temperaturunterschiede, ja Jahreszeiten künstlich reproduzieren lassen: Die einen blinken in ewigen wintern · Jene von hundertfarbigen erzen Aus denen juwelen als tropfen sintern Und flimmern und glimmen vor währenden kerzen.9

    flächenmenschen‘: Sie sind für Algabal keine Mitmenschen, sondern fremde ‚Wesen‘, die er nicht als seinesgleichen anerkennen will. 6 Dazu Heinrich Neumann: Stefan Georges Algabal. Ein Hinweis zum Unterreich-Zyklus. In: CP  27 (1978), H. 134–135, S. 122–124. 7 Abbildungen in: Gebaute Träume: Die Schlösser Ludwigs II. von Bayern. Hg. v. Michael Petzet. Aufnahmen v. Achim Bunz. München 1995. 8 Ein zentraler Unterschied ist, dass Baudelaires Rêve parisien die Schilderung eines Traums darstellt, während Georges Gedicht sich als Schilderung einer tatsächlich existierenden Schöpfung präsentiert. Indessen lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen beiden Texten nicht leugnen und sollen anschließend aufgezeigt werden. Die auffallendste besteht darin, dass wie in Algabals Schöpfung auch aus Baudelaires künstlicher Sonderwelt die Natur, „le végétal irrégulier“, verbannt ist: „J’avais banni de ces spectacles  / Le végétal irrégulier“ (Charles Baudelaire: Œuvres complètes. Édition critique par Félix-François Gautier. Bd. 1. Paris 1918, S. 101, Rêve parisien). 9 Das Bild der „währenden kerzen“ könnte einen Anklang an Mallarmés Scène bergen, in der Hérodiade mitten am Tage die Räume verdunkeln und durch Kerzen beleuchten lässt. Hérodiade fordert

    94 

     Mario Zanucchi

    Teils „blinken“ die Grotten „in ewigen wintern“, in anderen hingegen herrschen sommerliche Temperaturen. Wegen des Wärmezustandes bilden sich aus den „hundertfarbigen“ Metallen Juwele heraus, die wie Tropfen vor „währende[n] kerzen“ „flimmern und glimmen“, wobei die „Hundertfarbigkeit“ der Erze noch den Eindruck von Ludwigs Regenbogenmaschine auf George verrät. Wie die Venus-Grotte verfügt das Unterreich über einen artifiziellen Wasserfall, der genauso wie dort künstlich beleuchtet wird und daher mit changierenden Farben von einem ebenso künstlichen Hügel herunterrinnt: Die ströme die in den höheren stollen Wie scharlach granat und rubinen sprühten10 Verfärben sich blässer im niederrollen Und fliessen von nun ab wie rosenblüten.11

    Durch den Spagat vom leuchtenden Rot der Edelsteine bis zum Blass- und Zartrot der Rosenblüten12 wird symbolisch erneut die innere Zerrissenheit Algabals, seine Gespaltenheit zwischen Machtgier und Reinheitssehnsucht vorweggenommen.13

    die Amme am Ende der Scène dazu auf, die Kerzen anzuzünden: „Allume encore, enfantillage / Distu, ces flambeaux“ (Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes. Édition présentée, établie et annotée par Bertrand Marchal. 2 Bde. Paris 1998–2003. Bd. 1. Paris 1998, S. 22). 10 Eine Parallele zu Baudelaire könnte man in der vierten Strophe von Georges Gedicht erkennen, wo die unterirdischen Ströme mit Mineralien und Edelsteinen verglichen werden. Dazu gibt es ein Pendant bei Baudelaire, der einen Wasserfall von Edelsteinen gestaltet: „Insouciants et taciturnes, / Des Ganges, dans le firmament, / Versaient le trésor de leurs urnes / Dans des gouffres de diamant. // Architecte de mes féeries, / Je faisais, à ma volonté, / Sous un tunnel de pierreries / Passer un océan dompté“ (Charles Baudelaire: Œuvres complètes. Bd. 1 [wie Anm. 9], S. 102, Rêve parisien). 11 Kunstvoll veranschaulicht George das Herunterfließen der Metallströme nicht nur mit Hilfe von Alliterationen – „ströme“, „stollen“ – und wortinternen Alliterationen – „blässer“, „fliessen“ –, sondern auch mittels der Hinauszögerung des Hauptsatzes – „Die ströme […] Verfärben sich“ – durch einen langen Nebensatz – „die in den höheren stollen / Wie scharlach granat und rubinen sprühten“. Gerade diese Aufstauung führt dann zu einem umso lebendigeren Hinwegströmen des Rhythmus, der durch die beiden Enjambements zusätzlich dynamisiert wird und den Wasserfall-Effekt nachbildet. 12 Das Bild der herabfallenden Rosen dürfte von Mallarmés Sonett Victorieusement fui suggeriert worden sein, aus dem George in seiner Lobrede gerade die Schlussverse zitiert: „Wie eines kaiserkindes kriegerhelm / Aus dem dich zu bilden rosen sänken“ (SW XVII, 46). Vgl. auch Hella TiedemannBartels: Versuch (wie Anm. 3, S. 66). Die Rückverwandlung des Anorganischen ins Organische findet sich auch in der Ouverture ancienne: „Un arôme qui porte, ô roses! un arôme, / Loin du lit vide qu’un cierge obscurci cachait, / Un arôme d’os froids rôdant sur le sachet, / Une arôme de fleurs parjures à la lune“ (Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes [wie Anm. 10], Bd. 1, S. 136, Ouverture ancienne, premier état manuscrit 1866). 13 So kommentiert Algabal selbst an späterer Stelle seine innere Spaltung mit Hilfe der Antithese von blütenähnlicher Zartheit und metallischer Härte: „Sieh ich bin zart wie eine apfelblüte  / Und friedenfroher denn ein neues lamm · / Doch liegen eisen stein und feuerschwamm / Gefährlich in erschüttertem gemüte“ (SW II, 68).

    Algabal 

    

     95

    Die fünfte Strophe schildert die Szene, die sich in der Venus-Grotte jedem Besucher darbietet: ein künstlicher See mit stagnierenden, „tiefgrünen“ Gewässern und dem schaukelnden muschelförmigen Nachen, der von künstlichen Wellen – von der Wellenmaschine ausgelöst – bewegt wird: Auf seeen tiefgrün in häfen verloren Schaukeln die ruderentbehrenden nachen · Sie wissen auch in die wellen zu bohren Bei armige riffe und gähnende drachen.14

    Die letzte Strophe schließlich, welche Algabal emphatisch15 in Analogie zum Schöpfer-Gott setzt, enthält ebenfalls Anspielungen auf die unterirdische Venus-Grotte: Der schöpfung wo er nur geweckt und verwaltet Erhabene neuheit ihn manchmal erfreut · Wo ausser dem seinen kein16 wille schaltet Und wo er dem licht und dem wetter gebeut.

    Genau wie sein „jüngrer Bruder“ Algabal konnte bereits Ludwig II. „dem licht und dem wetter“ gebieten: zum einen durch die elektrischen Anlagen, die in der Venusgrotte einen Wechsel der Beleuchtungsfarben ermöglichten, zum anderen durch die Beheizungsanlagen, welche die Grotte von klimatischen Einflüssen unabhängig machten, sowie durch den Regenbogen-Projektions-Apparat und die Wellenmaschine, die eine Steuerung des Wetters innerhalb der simulierten Natur ermöglichten. Der Reiz der unterirdischen Schöpfung liegt in ihrer ‚erhabenen Neuheit‘, die Algabal allerdings nur „manchmal erfreut“. Darin liegt eine auffallende Parallele zu Baudelaires Rêve

    14 Die anthropomorph sich ausstreckenden Korallenarme der Riffe und die wie gähnende Drachen dargestellten Wirbel könnten auf die mythischen Ungeheuer Skylla und Charybdis anspielen. Die Verwendung des „bei“ des Nahens mit Akkusativ ist eine altertümliche Form, die im Mittelhochdeutschen, wie jetzt noch im Holländischen, durchaus gebräuchlich war. „Bei“ mit Akkusativ ist noch bei Luther bezeugt: „als sie ihn nun sahen von ferne, ehe denn er nahe bei sie kam“, 1. Buch Mos. 37, und wird auch von Klopstock verwendet: „trat dann dicht bey den engel“ (ders.: Der Messias. Altona 1780, 12. Gesang, S. 393). 15 Die dreifache Epanalepsis des Ortsadverbs „wo“ dient als pathetische Emphase und strukturiert die ganze Strophe durch ‚w‘-Alliterationen, die auch wortintern sind: „wo“, „geweckt“, „verwaltet“; „Wo“, „wille“; „wo“, „wetter“. 16 Metrisch tritt an die Stelle des zweiten Anapästs ein Jambus, damit „kein“ als die iktierte Silbe die Ausschließlichkeit des Machtanspruchs des Kaisers auf seine Schöpfung markieren kann. Wie Algabal inszeniert sich das träumende Ich bei Baudelaire als „architecte“ seiner Fantasiewelt, die er nach seinem Willen gestaltet: „Architecte de mes féeries, / Je faisais, à ma volonté, / Sous un tunnel de pierreries / Passer un océan dompté“ (Charles Baudelaire: Œuvres complètes [wie Anm. 9], S. 102, Rêve parisien, Hervorhebung d.V.).

    96 

     Mario Zanucchi

    parisien, in dem von der „terrible nouveauté“ der Traumschöpfung17 sowie – komplementär – von ihrer „enivrante monotonie“18 die Rede ist. Damit wird ein Grundproblem der symbolistischen Poetik reflektiert, welche die Realität als das Un-Ästhetische ausschließt, sich jedoch gleichzeitig der eigenen Öde bewusst wird. Der letztlich mimetische Charakter von Georges Beschreibung steht in markantem Widerspruch zu dem amimetischen Anspruch, den das Gedicht vorträgt. Die Landschaft „ohne beispiel“ hat in Wirklichkeit ein reales Vorbild. Dies zeigt, dass bereits der frühe George bei allem Eskapismus am Realen und Historischen festhält – wie übrigens auch seine minutiöse Verwertung der historischen Quellen bestätigt. Algabal repräsentiert nicht – darin ist Gundolf zuzustimmen – einen „Traum von Unwirklichem“, sondern die „Verwirklichung eines Traums.“ (FG 84) Die paradoxe ‚Mimesis des Fantastischen‘, die George im Unterreich-Zyklus praktiziert, ist für seine Distanz zu Mallarmés radikaler Entwirklichung symptomatisch.

    17 Ebd., S. 103 (Rêve parisien, Hervorhebung d.V.). 18 „Je savourais dans mon tableau / L’enivrante monotonie / Du métal, du marbre et de l’eau.“ Ebd., S. 101 (Rêve parisien, Hervorhebung d.V.).

    Wolfgang Christian Schneider

    Das Buch der Hirten- und Preisgedichte Nach den Algabal-Dichtungen, so bekennt George, empfand er sich als an ein Ende gekommen, ohne zu wissen, was er nun noch schreiben, sagen könne.1 In diesem Band hatte George mit den dunklen Erfahrungen der Moderne gerungen, dem Zerfall jeglicher Sinnordnung, der ein grundlegend haltloses Entsetzen zeitigte. Mit der Figur des jugendlichen Algabal, dessen Sicht allein sämtliche Gedichte bestimmt, hatte der Dichter den Versuch der Selbstsetzung, Selbstermächtigung des einzelnen Menschen gespiegelt und in seinem Scheitern vor Augen geführt: Einblicke in eine düster funkelnde, aber reglose Kunstwelt. Mühsam war es da, einen neuen Ort, ein neues Sprechen zu finden. George fand dies schließlich über die Hinwendung zum ‚Einfach-Unmittelbaren‘ vergangener und ferner Kulturen, der Antike einer ländlichen Poliswelt, des ritterlichen Mittelalters, des ‚Orients‘: Der auf die Algabal-Dichtungen folgende Band verleiht dieser dreifachen Bezugnahme Ausdruck, wenn der Titel eine Trias von Büchern nennt: Dem zumeist antike Motive aufnehmenden Buch der Hirten- und Preisgedichte folgen das mittelalterlich gestimmte Buch der Sagen und Sänge und schließlich das orientalisch klingende Buch der hängenden Gärten. In keinem Falle aber geht es um die Wirklichkeit dieser Kulturen, lediglich in zeichenhaften Erscheinungen, in einzelnen Gestalten werden diese in den Blick genommen. Das zeigt insbesondere der erste Abschnitt der Hirten- und Preisgedichte, in dem – anders als im Algabal – jedes Gedicht seine eigene Perspektive, ein eigenes Ich hat. Sie führen eine nachklassische Antike vor Augen, wie sie sich dem neuen subjektiven Blick der Menschen der Welt nach Alexander dem Großen darstellte und die Dichter des Hellenismus sie fassten, dann nach deren Vorbild die Dichter Roms.2 In der jeweils aufgerufenen Szenerie aber erscheint Eigenes, Zeitgenössisches. Das sagt George auch ausdrücklich in der ersten veröffentlichten Äußerung zu der Sammlung: in der Vorrede zu den Büchern der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten, die im Oktober 1894 im 4. Band der II. Folge der Blätter für die Kunst erschien – also noch vor der Veröffentlichung des auf das Jahr 1894 datierten (jedoch ohne Vorrede erst im Dezember 1895 erschienenen) Privatdrucks der Sammlung. Er sagt darin: „spiel und übung bedeute das scheinbare ausbilden verschiedener stile für solche die nur auf den einen hinzuarbeiten raten: den unsrer zeit oder der kommenden.“ Deutlicher als in der korrigierenden ergänzten Fassung, die dann mit

    1 Brief an Hugo von Hofmannsthal übergeben am 10. Januar 1892, G/H 12. 2 Auch George blickte vor allem auf die griechischen Dichter, wie die Mehrzahl der Namen zeigt, die die hellenische Welt (wenn teilweise auch die der römischen Kaiserzeit) aufrufen.

    98 

     Wolfgang Christian Schneider

    der Widmung an Paul Gérardy, Wacław Lieder und Karl Wolfskehl in der öffentlichen Ausgabe von 1899 (eigentlich November 1898) stand, die ein Treffen der vier Dichter in München im November 1894 vergegenwärtigt (ZT 44),3 wird in der Blätter-Fassung des Vorworts eine gewisse Vorläufigkeit, ja gleichsam Vorstufenhaftigkeit der vorgelegten Dichtungen beschrieben, die „spiel und übung“ für ein erwartetes Kommendes darstellen: eben eine Dichtung, die ganz auf das Zeitgenössisch-Moderne und sogar das Zukünftige zielt. Der entsprechende Satz in dem der öffentlichen Ausgabe der drei Bücher vorangestellten Vorwort nimmt das in gewissem Maße zurück, wenn George darin auf eine allgemeine Zeitgebundenheit beim Aufgreifen älterer und fremder Welten eingeht, in der dann auch – geradezu zwangsläufig – das eigene ‚Persönliche‘ und das ‚Heutige‘ in der Dichtung hervortreten.4 Dieses Ineinander von Vergangenem und Gegenwärtigem erläutert George: Er bewertet die im Band gebotenen Dichtungen als „spiegelungen einer seele die vorübergehend in andere zeiten und örtlichkeiten geflohen ist und sich dort gewiegt hat“ (SW III, 7).5 Abstand hatte er also genommen von der künstlichkalten Welt des Algabal,6 um sich nun in den verschiedenen Vergangenheiten zu ‚wiegen‘, sich auszuruhen und im Spiel zu erholen, zu üben (wie die Fassung von 1894 sagt), ja vielleicht sogar neugeboren zu werden: zu neuem, modernem, zukünftigem Werk. Abstand hatte der Dichter zugleich im Äußerlichen genommen, indem er sein Dichten in Auseinandersetzung mit der Literatur anderer Sprachen formte, in Paris lebte und einige der Gedichte zuerst in französischer Sprache gestaltete. Ja, George soll zu dieser Zeit geschwankt haben, ob er auf Deutsch oder auf Französisch dichten solle – eine Überlegung, die – wie das Beispiel des Griechen Ioannis Papadiamantopoulos zeigt, der als Jean Moréas ein französischer Dichter wurde und mit George Umgang pflegte – zur damaligen Zeit nicht abwegig schien. Ähnlich verhält es sich mit dem Kubaner José María de Heredia y Girard. Erst Rückkehr im Jahr der Seele (SW IV, 58) dokumentiert die endgültige Rückkehr in die deutsche Sprache, das aber stammt aus ebendieser Zeit.

    3 Bericht über dieses Treffen gibt Wolfskehl in seinem Brief an Boehringer: Wacław Rolicz-Lieder und Stefan George. Gedichte und Briefe. Hg. v. Annette Landmann. Düsseldorf 1968, erweitert Stuttgart 1996, S. 140  ff. 4 Zu den Varianten des Vorworts vgl. Joachim W. Storck: Das Bild des Mittelalters in Stefan Georges „Buch der Sagen und Sänge“. In: Mittelalter-Rezeption II. Hg. v. Jürgen Kühnel u.  a. Göppingen 1982, S. 419–437, hier S. 424–427; Ute Oelmann im Anhang zu SW III, S. 116. 5 Vorwort und Widmung vor den Gedichten erscheinen erst in der öffentlichen Ausgabe vom November 1898 (Jahresangabe 1899). Die Doppelung der Ortsangabe – für die Widmung München, für die Buchausgabe Berlin – ist wohl nicht allein durch das Treffen der Widmungsempfänger bedingt, sondern absichtsvoll, um eben das – wenig geschätzte – preußische Berlin durch die Nennung einer süddeutschen Stadt zu relativieren. 6 Claude David hat diese düstere Kunstwelt überzeugend umrissen, bes. CD 88  ff., vielleicht aller­ dings den Einfluss der französischen Literatur zu sehr hervorgehoben gegenüber den Werken der ‚Nachtseite‘ der Romantik. Vgl. dazu schon die Widerrede von C. A. Klein in Über Stefan George, eine neue Kunst. In: BfdK I, 2, S. 46  f.

    

    Das Buch der Hirten- und Preisgedichte 

     99

    Die Vergangenheit der hellenischen Dichter und ihrer Folger – ebenso auch die der Ritterwelt und des Orients – ist freilich kein Fremdes, sie ist Teil des Eigenen, ist Erbe, wie es in Manchem noch lebt, und bietet so vertraute Vorstellungen, die sich dem Dichter mit der wirklichen Umgebung seiner Zeit verbinden: mit den landschaftlichen Elementen (den ‚unentweihten Tälern und Wäldern‘), den seit alters bedeutsamen ‚Strömen‘, schließlich den ‚verehrten Städten‘. Angesprochen ist somit nichts Geschichtliches, wie es der im ausgehenden 19. Jahrhundert herrschende Historismus suchte, selbst in seiner verinnerlichten Form, sondern zum Gegenwärtigen hin transparente Vergangenheitsteile, die ein Bild im Jetzigen zu formen noch lebendig sind. Nachdem die Dichtungen um Algabal ihre Sprache in der Auseinandersetzung mit der französischen Moderne suchten, auch gerade in den Übersteigerungen der AlgabalGedichte, greift George nun als Formhintergrund auf das Fremdnahe der noch immer im Eigenen mitlebenden Vergangenheiten zurück.

    Bildungswelten Den Titel Das Buch der Hirten- und Preisgedichte für das erste der drei Bücher des Bandes griff der Dichter offenkundig also deswegen auf, weil er sich in einer spezifisch getönten geistigen Atmosphäre erneuern und dies dem Leser und Hörer vermitteln wollte: die Welt der Antike, einerseits die städtisch gegründete Bukolik der griechischen Literatur hellenistischer Zeit, insbesondere Theokrit und sein Umkreis sowie ihre augusteischen Nachfolger, zumal Horaz und Vergil, ohne doch eine bukolische Stimmung im Eigentlichen erwecken zu wollen, andererseits die des mythischen und religiösen Erlebens archaischer und klassischer Zeit. Zu einem beträchtlichen Teil scheinen diese Vergangenheitsteile sich zunächst frühen Lektüreerlebnissen zu verdanken, etwa Werken über antike Sagen.7 Anderes, etwa die Kenntnisse der antiken Dichtung, wird auf die Unterrichtung des jungen George durch seinen antikebegeisterten Pfarrer8 und die Studien der Gymnasialzeit zurückgehen, als das Erlernen der klassischen Sprachen einen neuen Vorstellungsraum öffnete, der durch das anschließende literaturwissenschaftliche Studium Georges erweitert und vertieft wurde. Schließlich fächerten diesen Raum die Reiseerfahrungen und die Auseinandersetzungen mit den großen literarischen Werken, auch solchen von Zeitgenossen mit deren Rezeptionen früherer Welten, weiter auf. Diese für ein geistiges Werden geradezu notwendigen Gestalt- und Sinnzusammenhänge und Einzelheiten sind die vom Dichter genannten noch lebendigen ‚Bildungswelten‘, die er aufgreift, nutzt und umformt, um das Eigene im Zeitgenössischen 7 Wie EM I, 91 mitteilt, las George noch in späteren Jahren gerne Abenteuer- und Reisebücher. 8 Diesen meist übersehenen Einfluss erwähnt aufgrund von Bingener Angaben Nobutoshi Aoyama: Meine Begegnung mit Stefan George. In: CP 21 (1972), H. 101, S. 24–48, hier S. 31.

    100 

     Wolfgang Christian Schneider

    auszusprechen. In keiner Weise zielt sein Bemühen auf irgendwie geschlossene Darbietungen von Vergangenheiten, vielmehr nimmt George nur einzelne Motive auf, die dem eigenen Formgedanken eingeschrieben werden. Es geht dem Dichter um die Formung aussagekräftiger Momente: um Sinn-Bilder. Wenn ein solches Vorgehen als ‚eklektizistisch‘ bezeichnet wird (GHb II, 649),9 so geht das grundlegend fehl, wenn dieser Begriff halbwegs ernst genommen wird. Für George sind die antiken Momente reines Material, das bearbeitet, dem Eigenen eingestaltet wird. Damit liegt im Rahmen der frühesten der drei genannten Bildungswelten, in denen des Dichters ‚Seele sich wiegte‘, insgesamt ein ganz gegenwärtiges kreatives Verhalten vor – das ist aber zugleich die Bildungswelt, die dem Dichter dazu verhalf, die spätrömisch inszenierte kalte Welt des Algabal-Erlebens zu verlassen. Immer wieder nämlich sind in den Gedichten hinsichtlich der jeweils aufgerufenen Zeitpunkte und Sachlichkeiten innere Unstimmigkeiten, ja Widersprüche zu beobachten: Es werden Momente aufgegriffen, die zu den schon aufgerufenen Inhalten nicht wirklich passen. Angesichts der von George durchweg beobachteten Genauigkeit im Sachlichen muss das beabsichtigt sein. Tatsächlich ist kaum etwas so geeignet, die Aussagen des Dichters von jeder abbildhaften und eklektizistischen, historistischen Einfühlung, wie sie das 19. Jahrhundert kannte,10 deutlich abzurücken, wie derartige sachliche Widersprüche. So spricht er im Gedicht Meine weissen ara haben safrangelbe kronen (SW III, 78) davon, dass diese von ‚Dattelbäumen träumen‘. Das ist jedoch sachlich kaum möglich, da die Aras aus Amerika stammen, die Dattelpalmen aber nur im Raum des Nahen Ostens und Nordafrikas gedeihen und daher den Vögeln von Grund auf unbekannt sein müssten.11 In ähnlicher Weise verwundert in Flurgottes Trauer (SW III, 15) mit seiner antiken Atmosphäre der Hinweis auf die rieselnden Weißdornblüten, in deren Betrachtung der in sich ruhende Naturgott versinkt. Denn der Weißdorn spielt in der Dichtung der Antike keine besondere Rolle, wohl aber in der der Trobadors; möglicherweise wollte George an diese, deren Erforschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufblühte, erinnern. In Der Tag des Hirten (SW III, 14) überrascht das – offenkundig gefahrlose – Zurücklassen der Herde, das

    9 Operational bleibt der Begriff nur dann, wenn er – im Sinne einer geringeren Durcharbeitung des Ausgewählten – abgesetzt gedacht wird von einem kreativen Arbeiten mit aufgegriffenem Material. Sonst müssten Goethes Römische Elegien auch ‚eklektizistisch‘ genannt werden, was unsinnig ist. Rezeption wäre dann per se ‚eklektizistisch‘. 10 Erinnert sei etwa an die als authentisch inszenierten Dichtungen Friedrich von Bodenstedts (insbesondere Mirza Schaffy von 1851). 11 Bemerkenswert ist auch die Farbgebung bei George, denn Aras haben durchweg sehr buntes Gefieder, meist von blauer und grüner Farbe mit roten und gelben Flecken. George führte Edith Landmann, die Aras nicht kannte, im Zoo von Basel vor deren Voliere (EL 87), er meinte also tatsächlich die zoologischen Aras. Natürlich ist es möglich, dass George neuzeitliche weiße Züchtungen kannte, doch der Widerspruch zwischen Herkunfts-Habitat und Traum-Habitat bleibt bestehen.

    

    Das Buch der Hirten- und Preisgedichte 

     101

    ebenso auf neuzeitliche Gegebenheiten wie die gänzlich modern anmutende innerliche Naturfrömmigkeit des Hirten hinweist. Es geht also ausdrücklich nicht um Äußeres, sondern darum, wie sich im Vorstellungsraum des Einzelnen, des Dichters, Erscheinungen und Bilder verbinden – gänzlich unabhängig von ihren tatsächlichen Wirklichkeitsbezügen. Er sucht innere Denk- und Bildräume vor Augen zu stellen, um innere Vorgänge, ein internes Sinnspiel, zu entfalten.

    Die Hirtengedichte Die Benennung des ersten der drei im Band von 1895/1899 zusammengeschlossenen Bücher als Das Buch der Hirten- und Preisgedichte ist gleichwohl zunächst etwas überraschend. Denn ungeachtet des in der antiken Literatur sinnvollen integrierenden Titels12 besteht das ‚Buch‘ aus zwei recht verschiedenen Teilen, von denen nur der erste Teil, durch eine Leerseite in zwei Gruppen von je sieben Gedichten geschieden, antike Wirklichkeiten aufgreift, und zwar auf recht unterschiedliche Weise. Hirten im Eigentlichen treten dabei kaum auf, nur in einem Gedicht, Der Tag des Hirten, begegnet ein einzelner Hirt, ohne dass die Welt der Hirten wirklich in den Blick kommt. Dieser ‚Hüter‘ führt kein Gespräch mit einem Zweiten, singt nicht vor Gleichgesinnten, wie es für die antike Hirtendichtung typisch ist,13 er verlässt die nur zweimal kurz erwähnte Herde, um ganz dem Eigenen zu leben: eine gänzlich moderne Erscheinung. Hinzu kommt, dass die in den drei einleitenden Gedichten auftretenden Frauen ebenfalls nicht der Hirtenwelt zugehören. Denn sie tauschen sich über ‚unser Haus […] und Geschlecht‘ aus, was, sobald beides in seiner kennzeichnenden Doppelung griechisch gehört wird, als oikos und genos, eine edle Abkunft der Auftretenden zu erkennen gibt, sich also durchaus nicht in der arkadisch gestimmten schlichten Hirtenwelt der antiken Literaturtradition bewegt, die gleichwohl durch sprachliche Anklänge an Horaz aufgerufen wird.14 Das Gleiche gilt für die beiden auf Der Tag des Hirten folgenden Gedichte, Flurgottes Trauer und Zwiegespräch im Schilfe (SW III, 16  f.), die trotz ihrer antik-bukolisch

    12 In der antiken Dichtung, insbesondere der römischen, enthalten die Hirtengedichte nicht selten auch preisende Passagen, George jedoch trennt hier. Wenn Horaz etwa Augustus preist oder Calpurnius Nero, so entspricht das nicht dem, worauf George mit seinen Preisgedichten zielt: auf die individuelle Person des Gepriesenen in seinem unmittelbaren persönlichen Verhältnis zum Dichtenden. Das gilt allenfalls für Horaz’ lobende Reden auf Maecenas. 13 Zur Anlehnung an antike Wendungen vgl. HSS 90–124, hier S. 95  ff. Das Buch von Georgios Varthalitis: Die Antike und die Jahrhundertwende. Stefan Georges Rezeption der Antike. Diss. Heidelberg 2000, bringt demgegenüber wenig Spezifisches. 14 Vgl. Horaz, Carm. II, 3 („Wo die mächtige Fichte und die Weißpappel gern ihre Äste zu gastlichem Schatten vereinen.“).

    102 

     Wolfgang Christian Schneider

    und orientalisch getönten Formung nicht wirklich von antiken Gegebenheiten sprechen, sondern eher der nordeuropäisch-romantischen Tradition, der Welt von Nöck und Nixe verpflichtet sind, diese aber zugleich zur Moderne hin überschreiten.15 Gerade der Rückgriff auf die an Antikes rührende Verschränkung von Menschlichem und Göttlichem mit Natursinnigem trägt dazu bei, die gegebenen Bilder unbestimmt in schwebender Spannung zu halten. Auch das letzte Gedicht dieser Reihe, Der Herr der Insel (SW III, 18), folgt dieser Linie; wenngleich es eine schon mittelalterlich-orientalische Motivik aufgreift, bildet es doch gleicherweise das Schwinden einer eigenberechtigten Natur ab, was dieser Tradition nicht eignet, sondern der Moderne geschuldet ist. Alle drei Gedichte verstehen sich in ihrer Gestaltung als reine Kunstgebilde, die sich lediglich in äußeren Linien an die angespielten Traditionen anschmiegen, um von der Natur zu sprechen. Mit diesem Eigengewicht der Naturwelt steht Georges Dichtung nicht allein da, sie findet sich auch in Gestaltungen der zeitgenössischen Kunst, seien es Werke von Arnold Böcklin (etwa Pan im Schilf; Faune, eine schlafende Nymphe belauschend oder Faun, einer Amsel zupfeifend) oder Gustave Moreau (Hercules und die Lernaeische Schlange; Galatea; Hesiod und die Musen), die gleicherweise ein In­einan­der von Natur, Menschengeist und kulturellen Vergegenwärtigungen bieten. Auch wenn die Dichtung und das Verhältnis des Dichters zur Welt sicherlich eine Aussagekomponente von Georges Gedichten bilden, dürfte die von Morwitz wiederholt geäußerte Festlegung auf das Poetologische doch zu kurz greifen. Gegenstand aller Gedichte der ersten Siebenergruppe des ersten Teils ist vielmehr wesentlich auch die vom Dichter verkündete natürliche Ordnung des Ganzen, in die die Menschen eingebettet sind mit einer entwickelten, Antikes überschreitenden inneren Gefühlswelt. Durchgängig ist in der Folge der ersten sieben Gedichte ein fast melancholischer Ton spürbar, der von dem feierlichen Lied des sich bekränzenden Hirten im mittleren Gedicht nicht wirklich gemildert wird. Für die erste Siebenergruppe ergibt sich damit auch eine innere Einteilung: Drei Gedichten, die unmittelbar von der Welt der Menschen sprechen, folgt am Ende eine Dreiergruppe von Gedichten, die wesentlich eine mythisch-märchenhaft gefasste Naturwelt schildern. Zwischen ihnen steht, trennend und vermittelnd, Der Tag des Hirten, in dem die geglückte Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur vor Augen geführt wird, was aber allein im beispielhaften Einzelnen verankert ist, der auf eine innerlich empfundene höhere Ordnung verweist, die im Ritus, in Bekränzung und im Gebetslied anerkannt, ja verkündet wird.

    15 So greift die Nennung des „Herrn der Ernte“ (SW  III,  15) gleichzeitig auf Neutestamentliches (Mt 9, 38 – danach in manchem Kirchenlied) wie auf Baudelaire (La Muse malade) zurück, der seinerseits Antikes (Pan) aufnahm; vgl.HSS 96. Die Antwort der Nymphe auf die Drohung mit einer Selbstverletzung oder Selbsttötung (antik belegt in der hellenistischen Liebesdichtung) tönt mit ihrem ästhetizistischen Argument ganz modern.

    

    Das Buch der Hirten- und Preisgedichte 

     103

    Die zweite Siebenergruppe der Hirtengedichte spiegelt dann zumeist die hellenische Poliswelt und deren Heiligtümer, nur das letzte Gedicht, Das Ende des Siegers (SW III, 26), setzt dagegen mit seinem archaisch-mythischen Geschehen, das Momente der Erzählung von Philoktet aufgreift, einen eigenen Akzent, rückt von der Poliswelt ab und weist schon voraus auf die mittelalterliche Welt der Sagen und Sänge. Auch diese sieben Gedichte sind von einer inhaltlichen Rhythmik bestimmt: Zwei Gedichten, die ein – wenngleich nicht einfaches – Gelingen und Standhalten des Menschen vor der höheren Macht schildern, folgen drei Gedichte, die das menschliche Geschick gleichsam in kritischer Schwebe zeigen, worauf zwei Gedichte des menschlichen Scheiterns vor der höheren, göttlichen Ordnung die Folge abschließen. Die Gedichte Der Herr der Insel der ersten Siebenergruppe und Das Ende des Siegers der zweiten Siebenergruppe stehen somit in einer inneren Entsprechung zueinander: während die ersten sieben Gedichte mit dem Hinsterben des Naturwesens vor dem Druck der Menschenwelt abschließen, enden die zweiten sieben Gedichte mit Hinsiechen und Todeserwartung des Menschen, der der Macht des Naturwesens, der geflügelten Schlange im Wolkengebirge, also der Himmelsschlange, die der Held nicht scheiden konnte von den Drachen in giftigen Sümpfen, nicht standhalten kann. Keines der Hirtengedichte wie auch der Preisgedichte ist gereimt, alles ist auf den Rhythmus abgestellt. Dementsprechend weist – mit einer Ausnahme – kein Gedicht eine Strophenteilung auf,16 die ja auch eigentlich eine Folge der mittelalterlichen Liedkultur ist und sich für antikisch tönende Dichtungen verbietet. Insgesamt herrscht das jambische Versmaß entschieden vor, acht der vierzehn Hirtengedichte sind in Blankversen geschrieben.17 Aber es finden sich auch immer wieder Daktylen, das Gedicht Zwiegespräch im Schilfe etwa besitzt eine hexametrische Form. Die Verslänge wechselt, schwankt häufig zwischen fünf und sechs Metren. Eine besondere Form bietet das Gedicht Das Geheimopfer (SW III, 21). Es ist das einzige Gedicht der Hirten- und Preisgedichte, das sich mit seinem hymnisch-liedhaften Inhalt in Anordnung, Rhythmik und Klang strophenförmig darstellt, also eine eigentlich mittelalterliche Form aufgreift. Die jeweils erste Zeile jeder Strophe gibt einen Vokalklang vor, der dann in der rhythmisch betonten verlängerten Schlusszeile jeder Strophe aufgegriffen wird. Die erste Strophe tönt auf ‚ö‘, die zweite auf ‚a‘, die dritte auf ‚e‘. Auch in den Versen dazwischen sind diese Klänge bevorzugt gesetzt. Die Strophenform ist also nicht etwas Äußerliches, sondern durchzieht das Gedicht und bildet zugleich Inhaltliches ab, wenn die erste Strophe den Weg zum Heiligtum fasst, die zweite die Vorbereitung im heiligen Hain, die dritte aber die Vorgänge im Heilig16 Die vergrößerten Zeilenabstände in Zwiegespräch im Schilfe nach jeweils vier Versen markieren den Sprecherwechsel, nicht Strophen, denn in der zweiten Vierergruppe ist, wie der Satz zeigt, nach „oberen erden“ ebenfalls eine Leerzeile vorhanden, um den Sprecherwechsel zu markieren, wegen des Seitenendes fällt sie jedoch nicht auf. 17 Vgl. HSS 94, der im Weiteren wiederholt auf die Bewusstheit der rhythmischen Gestaltung hinweist.

    104 

     Wolfgang Christian Schneider

    tum selbst. Durch diese gewählte Klangstruktur scheint das Gedicht wie abgerückt vom Alltäglichen das rituelle Geschehen hörbar werden zu lassen, aber doch auch – im internen Widerspruch von mittelalterlicher Form und antikem Gehalt – absichtsvoll einen konkreten Zeitbezug zu überschreiten. Der Titel Hirten- und Preisgedichte legt nahe, an die in den entsprechenden Dichtungen der Antike zumeist herausgestellte Heiterkeit des bukolischen Lebens zu denken. Doch die Hirten- und Preisgedichte Georges sind sämtlich, wenngleich teilweise verdeckt, von Einsamkeit in verschiedenen Spielarten durchzogen. Und mit einer Ausnahme (Der Tag des Hirten) ist diese Einsamkeit von Trauer und Resignation geprägt. Schon in der Folge der drei zusammengehörigen Gedichte der beiden Frauen am Anfang (Jahrestag, Erkenntag, Loostag) tritt das hervor, obwohl dort die eine der – eingangs in Gemeinschaft – Einsamen, die Nichtsprechende, ein Dämmern von Hoffnung erfährt. Nach diesen ersten vier Gedichten aber steigert sich die Einsamkeit der dargestellten Figuren in den naturbildhaften Gedichten (Flurgottes Trauer, Zwiegespräch im Schilfe, Der Herr der Insel), auch wenn der fast neckische Ton des Wasserwesens in Zwiegespräch im Schilfe das zu überspielen scheint. Nach der Leerseite setzen dies die Gedichte mit den Bildern aus dem sozialen und religiösen Leben der Antike fort, vielleicht sogar noch entschiedener. Schon die beiden ersten Gedichte Der Auszug der Erstlinge (SW III, 20) und Das Geheimopfer reißen das schlaglichtartig an: Obzwar einsichtig und willig dargeboten, sprechen die Worte des ‚Wir‘ im einen wie im anderen Fall wesentlich von einem Ausgesetztsein.18 Auch wenn die antike Motivik einen tragenden religiösen Grund anzuzeigen scheint, bilden die Gedichte doch wesentlich ein weitgehend gestaltloses Entzogensein ab, stellen Bewegungen auf einer ausgedünnten Oberfläche dar, unter der ein anonymes Nichts klafft. So ist es denn auch bezeichnend, dass der wohl in Anlehnung an Ludwig Uhland als Vorlage für Der Auszug der Erstlinge gewählte Ritus des ver sacrum (‚Heiliger Frühling‘ oder auch ‚Weihefrühling‘)19 dem im Gedicht Beschriebenen gerade nicht entspricht: Nach den antiken Quellen sind von diesem  – recht seltenen  – Brauch niemals Knaben betroffen, bei Uhland sind es junge Paare. Die Einsamkeit setzt sich in den beiden nachfolgenden scheinbar preisenden Gedichten, die nahezu antike Statuen wiederzugeben scheinen, in milderem Licht fort, selbst noch in Erinna (SW III, 24)20, das mit

    18 Ob in Das Geheimopfer das nach Kraft, Beben und Rausch folgende Sterben ein Sterben im Vollsinn meint, sodass das im Titel genannte Opfer ein Opfer des Lebens anspricht, oder ob ein Sterben hin zu einer neuen Identität gemeint ist, wie es die Mysterien kannten, sodass eine Verschränkung von Odysseus’ Sirenen-Erlebnis und Schillers Das verschleierte Bild zu Sais aufschiene, bleibt ungeklärt – zweifellos absichtsvoll. 19 Darauf weist HSS 99 hin. Zum Vorgang: Jacques Heurgon: Trois études sur le ‚Ver sacrum‘. Brüssel 1957. ‚Weihefrühling‘ übersetzt Ludwig Uhland den Begriff ver sacrum in seinem gleichnamigen Gedicht von 1829 (Werke. Bd. 1. München 1980, S. 244–247), das George gekannt haben dürfte. 20 Vom Werk der von George aufgerufenen Dichterin Erinna (4. Jh. aus Telos), Alakata (‚Die Spindel‘, auch Elakate), Kindheitserinnerungen an ihre 19-jährige Freundin Baukis (sie selbst wird ähnlich alt

    

    Das Buch der Hirten- und Preisgedichte 

     105

    dem Bericht von der Sehnsucht der Dichterin nach dem schönen Eurialus,21 der davon nichts weiß, nahezu gelöst erscheint, bevor die beiden abschließenden Gedichte, Abend des Festes (SW III, 25) und Das Ende des Siegers alles wieder verdüstern. Die vordergründige Bukolik wie das angespielte religiöse Brauchtum verschleiern, dass trotz aller Verschiedenheit die Bilder und Ahnungen der Algabal-Welt auch in der Gedichtfolge der Hirtengedichte noch wirksam sind. Element dieser Düsternis ist gerade auch die wiederholt aufgerufene Schönheit: Sie schimmert auf, doch entweder als Unerreichbares (Zwiegespräch im Schilfe, Das Geheimopfer) oder als Unvollendetes (Abend des Festes), ist damit aber, trotz aller Beschwörung der Verleiblichung der Schönheit, als Wirklichkeit aufgehoben  – zu einem Nichts hin. So verstärkt, was aufzuhellen scheint, nur das dunkle Bild einer Verlassenheit des Einzelnen; selbst wenn er als ‚Wir‘ redet oder vor einem ‚Du‘ spricht, steht er einsam vor einer letztlich entzogenen übergestaltlichen Schönheit. Für dieses Darstellen und Entziehen nutzt der Dichter das im antiken Denken wurzelnde inhaltliche Widerspiel von körperlicher und geistiger Schönheit. Dieser durchaus kultivierten Abgehobenheit stehen aber immer wieder implizit oder explizit sehr konkrete Bezüge und Verweise gleichsam signalhaft entgegen. So wird im Saitenspieler, einem der Lieblinge des Volkes (SW III, 22  f.), erwähnt,22 dass die Kunde dieses Spiels sich weithin verbreitet, soweit, wie der „heilge[] baum[]“ mit seinen Früchten gedeiht, zweifellos der Ölbaum. Das scheint zwar in Anschluss an Homer (Od. 13, 372) unmittelbar aus der antiken Anschauung zu fließen, dürfte aber eher aus dem in der Vegetationsgeografie des 19. Jahrhunderts bedeutsamen Begriff der ‚Ölbaumgrenze‘ entwickelt sein. Ähnlich liegen die Dinge im Gedicht Der Herr der Insel, das antike und orientalische Traditionen aufgreift, die einerseits – wie Tacitus (ann. VI 28), aber auch der Physiologus und eine Laktanz zugeschriebene Dichtung (de ave phoenice) – vom Phönix berichten, andererseits vom Vogel Rock erzählen, der in den Märchen aus 1001 Nacht auftritt.23 Der Phönix, hinter dem ägyptische Vorstellungen zu stehen scheinen, soll alle 500 Jahre zurückkehren, sich verbrennen und aus der Asche verjüngt wieder aufsteigen. Der Vogel Rock (auch Roch, Ruch) tritt in der Geschichte Sindbads des Seefahrers (544. Nacht) auf und wird dort als so groß wie ein gewesen sein), sind nur Fragmente (37 Verse von rund 300) auf Papyri (erst 1928 gefunden) überliefert; in der Anthologia Palatina stehen drei Epigramme von ihr (zwei davon für Baukis). Noch im 19. Jahrhundert galt Erinna als Freundin und Schülerin Sapphos. 21 Eurialus tritt in Vergils Aeneis auf; zur Schönheit vgl. Aen.  5,  286  ff. (Kampfspiel für Anchises); 9, 176  ff. (Kampf gegen die Rutuler); vgl. Euryalos in Ilias 23,677  ff. (Kampfspiele für Patroklos); Odyssee  8,  115  ff., bes.  126  f. (Wettkämpfe bei den Phäaken). Die von Morwitz (EM  I,  67) gesehene Andeutung einer Orientierung des Jünglings an einer tathaften Außenwelt und eines Empfindens der Zugehörigkeit zu einer anderen Gottheit sehe ich nicht. 22 EM I, 66 bezieht das Erröten auf die Greise, doch steht hinter Greise ein Punkt, während hinter entzündet nur ein Hochpunkt steht, sodass die Aussage über das Erröten zu dem nachfolgenden „dess gedenkt man“ gehört (SW III, 23). 23 Die antiken Belege aufgeführt von Adolf Rusch: in RE XX-1 (1941), S. 414–423.

    106 

     Wolfgang Christian Schneider

    Elefant beschrieben.24 Stefan George schließt sich in seiner Dichtung freilich keiner dieser Traditionen ganz an, sondern entlehnt ihnen nur jeweils einzelne Momente. Allerdings besitzt die Erzählung über den süß singenden Wundervogel25 doch noch einen konkreteren Bezug im Zeitgenössischen. Denn hinter der Sage vom Vogel Rock steht offensichtlich der früher auf Madagaskar lebende Elefantenvogel (madagassisch: Vorompatra), den Étienne de Flacourt (1607–1660) von der französischen Ostindienkompanie noch als lebend beschrieb mit dem Hinweis, dass dieser wegen der Bedrohung durch den Menschen entlegenste Regionen aufsuche. Der Vogel starb dann aber doch aus, allerdings gelang es dem Franzosen Alfred Grandidier (1836–1921) während seines Forschungsaufenthalts auf Madagaskar (1865 und 1870) erstmals Fossilien dieses bis zu 3 Meter großen und über 400 Kilogramm schweren flugunfähigen Tieres zu entdecken.26 Da Frankreich gerade in der Zeit, in der George wiederholt in Paris weilte, Madagaskar seiner Herrschaft stufenweise unterwarf (durch einen ersten Krieg erzwang Frankreich 1887 Herrschaftsrechte neben der Königin Ranavalona III., errichtete 1896 ein Protektorat und setze 1897 die Königin ab), dürfte George seinerzeit von diesen madagassischen Dingen gehört haben und so auch auf den Vogel und sein Schicksal aufmerksam geworden sein. Die Angaben zur Größe des Vogels und zu seiner Menschenscheu, die George in der Darstellung vom Tod des Vogels beim Herannahen eines – wie die weißen Segel andeuten – wohl europäischen Schiffes umsetzt, scheinen somit geradezu aus den französischen wissenschaftlichen Berichten (oder dem Gespräch darüber) gezogen zu sein. Diese Berichte waren geeignet, die Anklänge an den Albatros von Baudelaire und seinen Verweis auf das Dichterdasein zu bestärken, erweitern aber zugleich dessen Zielrichtung: Zum Verweis auf das Poetische tritt eine allgemeinere kulturkritische, ja vielleicht sogar antikolonialistische Wendung, die zwar vordergründig in der Schwebe bleibt, aber eben damit eine nachhaltige Intensität gewinnt. Auch in diesem Gedicht werden erneut einander widersprechende Sachverhalte aufgerufen, denn Zimt gibt es (abgesehen von Indochina) nur in Ceylon, wo Großvögel allerdings nicht vorkommen.

    24 Auch Marco Polo berichtet derartiges. Die Ostküste von Madagaskar stand lange Zeit unter dem Einfluss arabischer bzw. indisch-islamischer Händler, über sie dürfte der Vogel Rock in die arabische Literatur gelangt sein. 25 Vom Phönix und seinem Singen berichten ausführlicher Plinius, Nat. hist. X 2 und Philostrat, Vit. Apoll. III 49; nach De ave Phoenice dient er Phoibos mit seinem Gesang. 26 Ein Skelett des ‚Aepyornis maximus‘ befindet sich im älteren Bestand des Muséum national d’histoire naturelle in Paris. In SW III, 119 notiert Ute Oelmann ohne weitere Erläuterung einen Hinweis von G. P. Landmann auf einen Großvogel („Solitaire“) auf der Insel Rodrigues, von dem holländische Seeleute 1598 berichteten und der bald ausgerottet wurde.

    

    Das Buch der Hirten- und Preisgedichte 

     107

    Die Preisgedichte Mit den Preisgedichten des Doppelbuches der Hirten- und Preisgedichte stellt sich George noch strikter in die Tradition der Antike. Diese kannte Gedichte auf einzelne Personen; nach verstreuten Vorläufern und den Preisgesängen Pindars auf Wettkampfsieger war es vor allem die Dichtung hellenistischer Zeit mit ihrer Beachtung des je Einzelnen, die preisende Gedichte auf Menschen in ihrer einmaligen Persönlichkeit schuf. Beispielhaft dafür steht die von George in den Hirtengedichten aufgerufene Erinna mit ihren Gedichten auf die Freundin Baukis. An dieser Tradition orientiert sich die lateinische Dichtung, vor allem in spät- und nachrepublikanischer Zeit, einsetzend mit Catull und Horaz bis hin zu Martial.27 George kannte deren Werke zweifellos, sie wurde ihm nicht nur durch den Unterricht in den klassischen Sprachen vermittelt, sondern auch durch die Dichter-Übersetzer der deutschen Klassik, etwa Herder. Schließlich begegnete George dieser lyrischen Tradition erneut durch die Werke der Freunde und Bekannten der Pariser Zeit, etwa Pierre Louÿs mit seinen Liedern der Bilitis oder Jean Moréas mit seinen hellenistisch getönten Gedichten. Doch George schlägt einen eigenen Weg ein. Bei ihm geht es weniger um ein Formenspiel als vielmehr um eine verdeckende Verschiebung des Persönlichen in eine antikische Bildwelt. So eröffnen die Preisgedichte trotz mancher formaler Anschlüsse an die Hirtengedichte, etwa in der Vergegenwärtigung der antiken Welt in Namen und Geschehen, eine andere Wirklichkeit. Die Szenerie ist durchweg städtisch geprägt, selbst die Gedichte, die ländliche Dinge erwähnen, setzen das Städtische voraus, sprechen nur vom Vorland der Städte oder ländlichen Kleinstädten. Die dargestellten Gespräche sind dementsprechend von einer urbanen Sicht geprägt, gerade auch, wenn – wie in An Luzilla (SW III, 35) – wirkliche Landleute beschrieben werden, eine bukolische Stimmung im Eigentlichen entsteht nicht. Der Dichter kennzeichnet – das scheinbar Integrierende des Titels auflösend – diese Andersartigkeit: Trotz der Unterordnung unter den Gesamttitel des Buches erhalten die Preisgedichte einen weiteren, nur wenig kleineren und geringfügig enger gesetzten Titel, der sie ausdrücklich „auf einige junge männer und frauen dieser zeit“ (SW III, 27) bezieht. Bei den Gedichten des zweiten Teils des ‚Doppelbuches‘ der Hirten- und Preisgedichte geht es also  – in Spannung zu den antiken Namen – ausdrücklich um die Lebenswelt des Dichters, um Lebensmomente und Erlebnisse des Dichters in seinem Verhältnis zu den Gepriesenen. Es handelt sich im Kern um gelegenheitsgebundene Freundesgedichte, die das Gewohnte aber durch die ihnen eingeformte Verallgemeinerung übersteigen. Denn sie verbinden mit dem Menschlichen geistige, ja philosophische Fragen. Schon in den (teilweise latinisierten und modernisierten) griechischen Benennungen der Widmungsempfänger klingt dies an: Der Dichter wählt sie jeweils aus inhaltlichen Gründen, um die Art

    27 Zum Beispiel Catull 6, 9, 35; Horaz z.  B. Carm I, 11, 18, 22, 23, 26.

    108 

     Wolfgang Christian Schneider

    seiner Beziehungen zu den gemeinten Personen oder einen Charakterzug von diesen anzudeuten, schließlich auch, um eine geistige Haltung anzuerkennen – oder implizit zu fordern, wie es etwa im Gedicht An Sidonia (SW III, 33) geschieht. Diese unmittelbare Bezugnahme, die das Inhaltliche wesentlich bedingte, führte dazu, dass die Frage, wer mit den gepriesenen Personen gemeint war, die Überlegungen zu den Preisgedichten weitgehend bestimmte. Selbst als durch die Angaben von Ernst Morwitz die meisten der zehn Gepriesenen benannt werden konnten – lediglich Sidonia und Appollonia bleiben für uns jenseits der sie würdigenden Gedichte unbekannt –, änderte sich daran wenig.28 Dabei bietet gerade diese Gedichtfolge entscheidende Einblicke in Georges Welt – zunächst schon äußerlich: Als Gepriesene begegnen die, die George ein Heraustreten aus seiner Einsamkeit ermöglichten, einerseits im rein Persönlichen, andererseits als Dichter. George ehrt in den elf Dichtungen zehn Personen mit Preisgedichten, und zwar abwechselnd fünf Männer und fünf Frauen, Letztere erhalten ein Übergewicht, weil eine von ihnen, Menippa, die Ida Coblenz vertritt, zwei Gedichte erhält.29 Auffällig ist die unterschiedliche Akzentuierung der Gedichte an Frauen gegenüber denen auf männliche Vertraute. Bei den männlichen Gepriesenen steht die Gemeinsamkeit im Ringen um die Dichtung im Vordergrund, auch und gerade im Ringen um das Werk der gemeinsamen ‚Lehrer‘ (so in An Kallimachos) oder ‚Meister‘ (so in An Phaon), darüber hinaus die jeweils verschieden begründete Bezogenheit und Vertrautheit. Besonders ausführlich wird dies im ersten Gedicht der Folge,30 An Damon (SW  III,  29), das Albert Saint-Paul würdigt, herausgestellt und in eine Nähe zum Himmlischen gerückt. Georges Lehrer Dr.  Gustav Lenz hatte im April  1889 seinen ehemaligen Schüler und den ihm schon von früher her vertrauten französischen Schriftsteller in der gemeinsamen Pension in der Rue de l’Abbé du l’Epée 14 einander vorgestellt.31 Das Gedicht rühmt die innige geistige Freundschaft der beiden Dichter wohl im späten Winter (Februar und März) 1892,32 spricht von den gemeinsam auf-

    28 Noch in der Behandlung der Preisgedichte im GHb I, 131  f., steht das im Vordergrund. 29 Auch in der Auslese der Preisgedichte in den BfdK II, 1, S. 4–6, wird Menippa herausgestellt, da die Folge mit dem ersten Gedicht an Menippa beginnt und mit dem zweiten endet. 30 In der Auswahl der Preisgedichte in den BfdK war An Menippa (I) dem Gedicht An Damon vorausgegangen, während – nach An Sidonia und An Kallimachos – An Menippa (II) die Reihe abschloss. 31 StG hatte diese Anschrift (das Haus lag bei der Kirche St.-Jacques-du-Haut-Pas, knapp 200  m östlich des Jardin du Luxembourg und nur wenig mehr als 1000 m bergab von der Sorbonne entfernt) schon am 15. Februar 1892 (s. Bassenge-Auktion 108, 13.–15. 10. 2016: Los 2220) Marie Herzfeld (Wien) und Ende Juli 1892 Hugo von Hofmannsthal mitgeteilt; Helmut A. Fiechtner: Hugo von Hofmannsthal. Die Gestalt des Dichters im Spiegel der Freunde. Wien 1949, S. 26; G/H 31  f., vgl. auch S. 36. Für Albert Saint-Paul ist diese Anschrift durch Briefsendungen bestätigt. Leider fehlt im GHb III eine Lebensskizze zu Gustav Lenz. 32 Oelmann verweist in SW III, 122, für „heiligen Winter“ auf den Winter 1889/1890, doch das dürfte kaum zutreffen, da George 1889 nach dem Pariser Sommer nur noch kurz im September auf der Durch-

    

    Das Buch der Hirten- und Preisgedichte 

     109

    gesuchten Kunstwerken, dem Vorlesen, den Gesprächen. Unter Rückbezug auf das beispielhafte antike Freundespaar Damon und Phintias aus Syrakus,33 das Schiller in der Bürgschaft gerühmt hatte, würdigt George den neu gewonnenen Freund. Er hatte George nicht nur mit der französischen Literatur und der mittelalterlichen Malerei vertraut gemacht, sondern zusammen mit dem belgischen Dichter Albert Mockel, der ebenfalls in der erwähnten Pension wohnte,34 ihn auch im Sommer 1889 oder – wahrscheinlicher – 1890 in den Kreis um Mallarmé eingeführt.35 So könnte der Name Damon auch Saint-Pauls Rolle als Mentor ansprechen, denn nach Diogenes Laertios war ein Damon Lehrer des Sokrates.36 George erlebt dieses Zusammensein im Geistigen als ein Verweilen im „himmlische[n] glanz“, als „Sinneverklärende ruh“ (SW II, 29). Zweimal setzt der Dichter das Wort ‚himmlisch‘, in aufeinanderfolgenden Zeilen, und zwar unübersehbar im Druck untereinander gestellt. Das kennzeichnet zunächst die Intensität dieses Gesprächs über ‚himmlische Dinge‘, das – im Sinne von Schillers Gedicht Die Teilung der Erde – das dichterische Verweilen im ‚Himmel‘ einschließt, verweist dabei zugleich auf das Ineinander von Freundeserleben und Gottesgegenwart, von der schon Euripides spricht.37 Zeuge dieser geistigen Vertrautheit war schweigsam dienend und liebend die Frau von Albert Saint-Paul, Marguerite, bei deren Heirat im September 1892 George anwesend war, wie er Hofmannsthal am 30. des Monats mitteilte.38 Wenn George sie Lamia nennt, so dürfte auch das ein sie anerreise von Spanien in Paris weilt, um den Winter in Berlin zu verbringen. Auch passt der Hinweis auf Lamia eher auf die Zeit nach der Heirat Alberts mit ihr im September 1892 (ZT 12–14). 33 Überliefert von Aristoxenos (bei Iamblichos von Chalkis: De vita Pythagorica 233–236; Porphyrios: Vita Pythagorae 59–61 und Diodor 10.4.2–6). Vgl. Ernst Gegenschatz: Die ‚pythagoreische Bürgschaft‘ – zur Geschichte eines Motivs von Aristoxenos bis Schiller. In: Begegnungen mit Altem und Neuem. Hg. v. Peter Neukam. München  1981, S. 90–154. Damon und Phintias gehörten beide zu einer pythago­ reischen Gemeinschaft, was ihrem Freundesbund Tiefe gab. 34 Weitere Bewohner der Pension waren die Dichter Jean Moréas und Gustave Kahn sowie der Literaturkritiker Paul Souday, vgl. Fritz Usinger: Stefan George. In: Blätter der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft, 9 (1983), 4 („Zum Gedenken: Stefan George“), S. 145–156, hier S. 145. 35 Das Jahr der Anbindung an den Kreis um Mallarmé ist unsicher; Albert Mockel setzt die Begegnung mit Mallarmé ins Jahr 1890; vgl. ZT 11. Zu bedenken ist, dass George 1889 noch nichts veröffentlicht hatte und solches auch nicht bevorstand  – anders als im Oktober  1890, als die Hymnen gedruckt wurden. Dass ein völlig unbekannter ausländischer Student ohne Werk 1889 Zugang zum Kreis um Mallarmé erlangte, scheint trotz der Anbindung an Albert Saint Paul wenig wahrscheinlich. 36 Diogenes Laertios, II 19. EM I, 69, erinnert auch noch an Damon als Ratgeber und Musiklehrer des Perikles (Plutarch Perikles 4; Isocrates XV, 236), von ihm (schon pol. III 11: 400 b erwähnt) stammte die von George geschätzte, in Platons Politeia IV, 3 (424 b) zitierte Aussage, dass eine musische Änderung eine politische Veränderung nach sich ziehe. 37 Euripides’ Helena 560; vgl. auch Mt. 18, 20. 38 ZT 28  f.; G/H 42; irrtümlich spricht Oelmann SW III, 122, von einer Begegnung von George und ‚Lamia‘ erst 1893. Das Paar wohnte ab November in der Rue Cassini 18, rund 850 m zu Fuß entfernt von der Rue de l’Abbé de l’Epée  14, wo George wohl erneut wohnte. GHb  III, S. 1598, unterschlägt Marguerite und die Heirat von 1892, spricht nur von einer Heirat Saint Pauls mit Angèle Stella Canonge im Jahr 1930.

    110 

     Wolfgang Christian Schneider

    kennender Name sein. Denn Lamia hieß die Geliebte von Demetrios Polyorketes, eine Flötenspielerin und überaus geistvolle Frau, von der witzige Aussprüche überliefert sind.39 Dergleichen schätzte George ja, wie es aus seinen Bemerkungen zu Menippa im gleichen Zyklus hervorgeht. Diese abgeschiedene Welt endet, als die beiden Freunde im Frühling aus ihrem ‚himmlischen‘ Glanz ‚herabsteigen‘, also die Höhe des Observatoriums, wo Saint-Paul seit seiner Heirat wohnte, verlassen. Nahezu unwillkürlich kam dieser Weg zurück ins Gewimmel, das besagt der Einwurf „warum nur“ (ebd.), der die beiden dichterischen Freunde nun als gewöhnliche Sterbliche erscheinen lässt, als ebensolche, die „eilen sich einzurichten“, wie Schiller es sagt. Eine ähnliche Bedeutung hat das Preisgedicht auf Kallimachus (SW  III,  32), in dem George den Abschied von seinem Pariser Freund Wacław Rolicz-Lieder bei dessen Zwischenaufenthalt in Berlin im Juli 1892 auf der Fahrt nach Warschau schildert.40 In dem hellenistischen Dichter (geboren zwischen 320 und 303, gestorben nach 245 v. Chr.), dessen Name ‚Schöner Streiter‘ bedeutet, preist er den Freund froher Gelage als Gast der gemeinsamen Lehrer und Zögling der Freiheit.41 Ihn und die Freunde vereinte ein gleiches dichterisches Bemühen, selbst der verwöhnten Phyllis gefiel sein formbewusster Gesang, seine gefeilten Sprüche. Diese ist zwar nicht eindeutig bestimmbar, der Name bezeichnet in der antiken Dichtung mehrfach liebende Hirtinnen, doch könnte der zeitliche Zusammenhang auf die dichtungssinnige Ida Coblenz verweisen.42 Denn als George Mitte März 1892 nach der Zeit vertrauten Umgangs mit Lieder in Paris nach Bingen zurückkehrte,43 besuchte er erstmals Ida Coblenz, der er vor seiner Parisfahrt über seinen Bruder Gedichte hatte zukommen lassen. So ist anzunehmen, dass der Dichter nach seiner Rückkehr der neuen Vertrauten von der eben erfahrenen Freundschaft mit Lieder berichtet und ihr Beispiele von dessen Dichtungen vorgestellt hat, die sie dann zustimmend aufnahm. Von der Mutterseite her stammte Wacław Lieder aus adliger Familie,44 der deutsche Name erklärt sich durch den deutschen Großvater Franz Lieder, der in Warschau als Deutschlehrer gearbeitet

    39 Fritz Geyer, Lamia 5, RE Bd. XII-1 (1924), Sp. 546–547; Aussprüche: Machon bei Athenaios 13,577 d–f; Plutarch, Demetrios 27; Aelian, varia historia 13,8  f. EM I, 69, bringt den Namen mit einer von ihm 1908 (also 16 Jahre nach der Heirat) wahrgenommenen ‚Farblosigkeit‘ in Verbindung, was wohl eher seine Sicht als ‚Lamia‘ charakterisiert. 40 George verschränkte dichterisch die Verabschiedung Lieders auf dem Bahnhof in Berlin im Juli 1892 mit der Verabschiedung von mexikanischen Freunden (Antonio, Julio und Porfirio Peñafiel) im Hafen von Bremen im Dezember 1890. Morwitz dachte an einen Abschied auf dem Bahnhof in Paris, doch war bei keiner Abfahrt Lieders aus Paris George gegenwärtig. Dazu RB I, 232. 41 George würdigt Lieder wiederholt als ‚ritterlichen Menschen‘, so etwa auch noch im Jahr der Seele, SW IV, 72: W. L. 42 EM I, 71, denkt an eine Musikerin, da der Name Phillis sich an den des Musiktheoretikers Phillis anlehnen könnte. 43 George war Lieder zwar wohl schon 1891 bei Mallarmé begegnet, lernte ihn aber erst – vielleicht durch Vermittlung von Albert Saint-Paul – im März 1892 in Paris näher kennen. 44 Zum Verhältnis zwischen George und Rolicz-Lieder: Georg Peter Landmann: Eine Chronik der

    

    Das Buch der Hirten- und Preisgedichte 

     111

    hatte. George übertrug von Lieder insgesamt 31 Gedichte, die in den Blättern für die Kunst erschienen, davon nahm er 22 in den Band Zeitgenössische Dichter II auf.45 Dieselbe innere Vertrautheit bestimmt das Gedicht An Phaon (SW III, 34), das dem Deutsch-Wallonen Paul Gérardy gilt, dessen Heimat, die von drei Flüssen durchzogene Landschaft um Tilff und Lüttich, George bei den Wegen der Freunde zwischen den reifen Feldern skizziert. Tatsächlich weilte der Dichter dort im Sommer 1892 (Ende Juli, Anfang August), wo er Gérardy kennenlernte.46 Dieser war dann nicht nur einer der ‚Geladenen in T..‘47, und neben Wacław Lieder und Karl Wolfskehl der dritte der Widmungsempfänger der drei Bücher, sondern George widmete ihm auch im Jahr der Seele ein Gedicht.48 Schon der von George im Preisgedicht gewählte griechische Name, ‚Der Leuchtende‘, bringt dementsprechend eine Zuwendung zum Ausdruck: Er verweist auf den jugendlichen Geliebten Aphrodites, von dem der Komödiendichter Kratinos erzählte, dass die Göttin ihn in Lattich oder junger Gerste versteckte, um allein seine Schönheit genießen zu können. Mit An Antinous (SW III, 38), dem Namen von Hadrians Liebling, würdigt George den Gastgeber des Treffens in Tilff, Edmond Rassenfosse, den er im März  1894 in Brüssel wiedertraf. Offensichtlich im Wissen um die weiteren Planungen des Dichters für die folgenden Monate, hatte er George beim Scheiden freundschaftlich-tröstend auf die landschaftlichen Reize hingewiesen, die seiner nun warteten. Aber bei seinen Aufenthalten in München und Wien, Gegenden, die mit Wäldern, Feldern und Flüssen verbunden sind, schließlich im Sommer am Tegernsee, trauerte George doch der Stadtwelt und der Freundschaft nach. Aus dieser Wehmut spricht er den Freund vorgeblich vorwurfsvoll an, um ihm nachdrücklich zu vermitteln, wie er ihn und seine Freundschaft vermisse. Dieselbe Entgegensetzung gestaltet George auch zu Beginn des ersten Briefs des Dichters Arkadios an Kaiser Alexis,49 sie ist demnach als ein den Dichter häufiger bestimmendes Empfinden anzusehen. Tatsächlich zeigt sowohl das Werk als auch das Leben Georges, dass das Landschaftliche als solches ihm nicht viel bedeuten konnte. Das Landschaftliche verbindet sich bei ihm immer mit MenschlichPersönlichem.

    Freundschaft zwischen Stefan George und Wacław Rolicz-Lieder. In: Wacław Rolicz-Lieder und Stefan George. Hg. v. der Stefan George Stiftung. Stuttgart 1996, S. 138–147. 45 Damit ist Lieder der am meisten Vertretene in den Zeitgenössischen Dichtern; die darin enthaltenen Übertragungen von Lieders Gedichten gab George in einem Sonderdruck in 25 Exemplaren (1905) heraus. Lieder seinerseits übersetzte 18 Gedichte Georges, bis auf Widmungsgedichte aus dem Jahr der Seele und Der Siebente Ring sämtlich aus den Büchern der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten. 46 In den Sommern 1891 und 1893 war George in Gegenden, auf die die landschaftliche Beschreibung kaum passt. 47 Vgl. Sprüche für die Geladenen in T.. (SW IV, 53–56). 48 SW IV, 73: P. G. 49 BfdK V, S. 131  ff.; SW XVII, 30.

    112 

     Wolfgang Christian Schneider

    Im Gegensatz zu diesen ganz von Freundschaft bestimmten Gedichten zeigt An Isokrates (SW III, 36), das im Namen die große Zeit Athens aufruft, zwiespältige Züge. Ein Heilruf für Isokrates mit dem Preis seiner Jugend zeigt an, dass der Dichter mit dem Namen und Geschick des antiken Rhetorikers auf einen anderen weisen will, denn der historische Isokrates (geboren 436 v. Chr.) war, als er sein Wirken mit der Gründung einer Schule 390 v. Chr. begann, schon im vorgerückten Alter. George preist das weitreichende Planen dieses Jüngeren, sein Feuer, das auch die Kühlen mitreißt. Doch damit sind Vorbehalte verbunden: der unbedingte Glauben des Gepriesenen an sich selbst lässt keine Zweifel zu, und ihm fehlt die Selbstrücknahme gegenüber einem überwundenen Gegner. Morwitz legt überzeugend dar, dass mit Isokrates Ludwig Klages gemeint ist, den George im Juli 1893 kennenlernte und dessen jugendliches Feuer, dessen Tatendrang George bewunderte, dessen Haltung er aber zugleich – wie es auch die letzten Zeilen von An Isokrates zeigen – kritisch sah. So wird die Linie sichtbar, die später zur Trennung von Lobendem und Gelobtem führt. Steht bei den Gedichten auf männliche Personen das von Freundschaft getragene gemeinsame Ringen im Geistigen und das Bemühen um das Dichterische im Vordergrund, berühren die Preisgedichte auf Frauen meist Beziehungsfragen. Dies führt dazu, dass in ihnen wiederholt unverdeckt Haltung und Meinung Georges hervortreten, insbesondere sein unbürgerliches oder auch antikonventionelles Dafürhalten hinsichtlich des sozialen Miteinanders. Das setzt mit den beiden Preisgedichten An Menippa ein, die bezeichnenderweise Ida Coblenz gelten, die dadurch, dass allein sie zwei Gedichte erhält, hervorgehoben ist. Eine ähnliche Auszeichnung fand sich schon in der ersten Teilveröffentlichung der Preisgedichte in den Blättern für die Kunst II, 1 (1894), dort bildeten die beiden Menippa-Gedichte den Rahmen (S. 4 u. 6). In ihnen skizziert der Dichter im – bedingten – Preis der geliebten Frau seine Haltung im Zeitgenössischen: die Forderung, der eigenen inneren Stimme zu folgen, gegen alle äußeren, entfremdenden Konventionen, selbst wenn das eine Sonderung von den bisherigen „gespielen“ (SW III, 33) bedeutet und vordergründig in Einsamkeit führt.50 Das Preisgedicht auf Sidonia (SW III, 33) führt dies im Einzelnen aus: Der Dichter sieht sich von einer allgemein verehrten Frau hoheitlichen stolzen Gebarens beeindruckt, die „mit weise gehobener schönheit“ – wie der Dichter, um das etwas vorgerückte Alter zu kennzeichnen, sagt – alle anderen, jüngeren Frauen überstrahlt. Doch ein berechnender Zug der Lippe, ein stählerner Blick lassen ihn Abstand halten. Ihr heimliches, auf die Polemik des Dichters gegen bürgerliche Nutzenerwägungen eingehendes Bekenntnis aber, dass sie einem jungen Mann, offenbar – wie der Name Demotas wohl anzeigt  – einfacherer Herkunft,51 unter Aufgabe aller Sicherheiten

    50 Siehe auch die folgende Modellinterpretation. 51 Demotas ist als Name in der Antike kaum bedeutsam, EM I, 72, legt nahe, ihn als Übersetzung des von George gelegentlich gebrauchten abwertenden privaten Neologismus „Volkser“ aufzufassen.

    

    Das Buch der Hirten- und Preisgedichte 

     113

    und Bindungen in Dürftigkeit zu folgen bereit war, was der Betreffende ablehnte, verändert alles: In der unbedingten Bereitschaft zu einer vollen Autonomie gegen alle Konventionen, unter Annahme des Risikos zu scheitern, erkennen beide einander als Gleichgesinnte, ihre Hände gleiten ineinander. Auffällig ist die Veränderung der Rede von Sidonia im Gedicht in der Buchfassung gegenüber der Erstveröffentlichung in den Blättern für die Kunst. Diese bot: Wie zu dem jungen Demotas der stumme verehrung mir zahlte Solche begier mich ergriff dass ich preise und siege und schätze Glückliche hallen verliess um ihm dürftig nach Pherä zu folgen52

    – schilderte also unverhüllt eine Begierde der Frau und den Vollzug des Verlassens, was George in der Fassung von 1895 abschwächte. Wem der Preis An Sidonia gilt, ist – vielleicht auch um sie zu schützen – nicht zu erschließen. Der von der phönikischen Stadt Sidon abgeleitete Name bietet keinen eindeutigen Aufschluss, erinnert aber an den Beinamen der unbedingt liebenden phönikisch-punischen Dido in der Aeneis (XI  74)53 und ist geeignet, die Entschiedenheit der  – wohl verheirateten  – älteren Schönen zu beleuchten, das bei einer Verbindung mit dem jungen Liebhaber zu erwartende gesellschaftliche Skandalon auf sich zu nehmen, das die implizite Logik des Gedichts ausmacht. Im Kontrast dazu steht An Luzilla (SW III, 35), das einen römischen Akzent setzt, dann aber eine hellenische Szenerie zeichnet. Unter den Preisgedichten auf Frauen nimmt es wegen seiner Gelöstheit eine Sonderstellung ein, nähert sich fast den Gedichten an die Dichterfreunde. Der Dichter spricht Luzilla als die Königin von Phlius an, einer Stadt unweit von Korinth am oberen Asopos gelegen (auch Phleious, Phlious), deren Gemeindegebiet wegen seines Weins berühmt war. Zum Abschied gekommen erinnert sich der Dichter an die mit Luzilla erlebten Freuden in der Kleinstadt, in die er in der Zeit der Mahd, also im Sommer, verschlagen wurde. Von der von Blau­ regen umrankten Laube Luzillas aus betrachteten Gast und Gastgeberin das ländliche Treiben, sodass der Gast die Stadt seiner Wonnen, den Schönklang und die Weisheit attischer Rede weniger vermisste, was auf Paris zielt, wo George mehrere Wochen des August und September 1892 verbracht hatte und wohin ihn Saint-Paul im Mai 1893 erneut eingeladen hatte. All das verweist im Konkreten auf den Sommer 1893, in dem George für längere Zeit in Bingen weilte, gerade auch zur Zeit der Mahd, zu der auch der Blauregen, vom Dichter der Blütenform wegen mit „bläuliche ähren“ umschrie-

    52 BfdK II, 1, S. 5. Pherai ist der Name einer Stadt in Thessalien, meint also – von Athen her gesehen – Abgelegenheit. 53 Vgl. Ovid Met. 14, 80. An die Frau eines Künstlers zu denken, wie EM I, 72, vorschlägt, ist nicht zwingend, da Ende des 19. Jahrhunderts die Bildung von Nischen mit ‚Persergewebe‘ in bürgerlichen Wohnungen, auf die er hinweist, allgemein Mode war. Sicherlich nicht gemeint ist die 1893 erst 23-jährige Ida Coblenz; „weise gehobener schönheit“ kann nur einer älteren Frau gelten.

    114 

     Wolfgang Christian Schneider

    ben, zum zweiten Male blüht. Hinter der Kleinstadt Phlious steht somit Bingen, das gleicherweise durch seinen Wein, einen leicht moussierenden, bekannt ist und am Fluss liegt. George dürfte Phlius durch Platons Phaidon gekannt haben, denn der dort eingangs sprechende Echekrates, dem Phaidon von Sokrates und seiner Unsterblichkeitslehre berichtet, stammt, wie er selbst sagt (Phaidon 57A), aus dieser Stadt. Möglicherweise spielt der teilweise pythagoreisch getönte Dialog sogar in Phlious,54 denn Echekrates vertrat pythagoreisches Gedankengut, und Diogenes Laertios bezeugt eine Gruppe von Pythagoreern in Phlious (Diog. Laert. VIII 46), wobei er auch Echekrates erwähnt. Mit Luzilla ist wohl die am Rhein unweit der Nahemündung wohnende Luise Brück gemeint, von der Ida Coblenz am 18. März 1893 als einer neu gewonnenen „Bundesgenossin“ in Bingen geschrieben hatte.55 In der Folgezeit lernte George sie kennen, woraus sich ein überaus freundschaftlicher Umgang ergab, was den Dichter von Scherzen, die ein wahres Bedauern beim Abschied überdecken, sprechen lässt. An Kotytto (SW III, 37) gilt einer Sängerin, die dem Dichter widersprüchliche Empfindungen erweckt, schon in der ersten Zeile stellt der Dichter in diesem Sinne den süßen Duft und den herben Geschmack einer Blüte einander gegenüber. Er rühmt den Klang ihrer Stimme, wenn er sich im Liede löst, Behagen erweckt und die Hörerschaft begeisternd in Atem hält. Ihre Rede aber ist herb, ja hart, selbst gegenüber den Treuen, die sie loben. Düster spricht sie davon, dass sie Sanftes in Wort und Gebärde nicht kenne, mahnt auch, sie zu fliehen. Und doch drängt es den Dichter, vor ihrer Tür zu lauschen, Festaufzüge meint er dann zu hören und goldene Barken auslaufen zu sehen. Diese vieldeutige Frau fasst der Dichter mit dem Namen der Kotytto (auch Kotys), einer thrakischen Fruchtbarkeitsgöttin mit orgiastischem Kult, der in Korinth von Männern in Frauenkleidern vollzogen wurde. Pierre Louÿs, den George im Umkreis Mallarmés kennenlernte, wählte diesen Namen für die Liebesgöttin in seinem Buch Aphrodite (EM I, 76). Beide semantischen Bezüge unterstreichen also die doppelwertige Anziehung dieser Frau. George erzählte Morwitz von der Bekanntschaft mit einer Sängerin in den frühen Münchner Jahren, und aus den Erinnerungen von Georg Fuchs, der auch mit Gedichten zu den Blättern für die Kunst beitrug, geht hervor, dass es sich um Friederike (Frieda) Zimmer-Zerny handelt. In zweiter Ehe heiratete sie den Darmstädter Karl Hallwachs, dem George 1892 in München (wieder) begegnete, einen Komponisten, der dann auch Vertonungen von Gedichten Georges schuf, von denen eine in den Blättern für die Kunst  1894 erschien.56 George muss Frieda Zimmer-Zerny bei seinem längeren Aufenthalt in München im November 1893 begegnet sein, die ihr eigene unkonventionelle Abgründigkeit und die Intensität, mit der sie ihre Hörer durch den Vortrag des Liedes Köhlerweib in einen bacchantischen

    54 Dazu z.  B. Platon: Phaidon. Übers.  u. komm. v. Theodor Ebert. Göttingen 2004, S. 98. 55 George gedenkt ihrer gegenüber Edith Landmann, EL 44. ‚Lucilla‘ spielt klanglich mit ‚Luise‘. 56 EM  I,  76. Das Geburtsjahr  1868 im GHb  III,  1413, ist wohl falsch, das Bayerische Musiklexikon gibt 1870 an.

    

    Das Buch der Hirten- und Preisgedichte 

     115

    Taumel versetzt haben soll, müssen George gefesselt haben, entsprachen sie doch seiner Vorstellung vom Außenseiterdasein des Künstlers. Das letzte Gedicht der Preisgedichte trägt die Widmung An Apollonia (SW, III, 39), nennt somit einen von Apoll abgeleiteten, erst in der römischen Kaiserzeit gängigen Namen. Der Sprechende ermuntert die vertraute Frau, das gegenwärtige, als unabdingbar bezeichnete Leid mit der ihr eigenen Schmiegsamkeit und Stärke zu überwinden. Sie ist verheiratet mit Tros, den sie tröstete, als er Pirras – einer offenbar rotblonden Frau – wegen, klagte. Zugleich steht sie gegenüber dem von Tros brüderlich geliebten Sprecher in wertherhafter Verstrickung, gar zu nah haben sich Fuß, Wange und Hand von ihr und dem Sprecher einander gefühlt. Nun aber sichert der Sprecher zu, fern zu sein, wenn sie wieder aufblüht, nicht ohne ein letztes Mal sie zu preisen. Wer in dem Preisgedicht gemeint ist oder dazu Anlass gab, ist unbekannt. Die aufgeführten Namen tragen nichts bei, verweisen auch auf verschiedene Felder: Der Name „Tros“, der an den Begründer der troischen Herrschaft erinnert, legt nahe, an eine bedeutende, geradezu herrscherliche Person zu denken. Die rotblonde Pyrrha ist die Tochter des Epimetheus und Frau des Deukalion, Mutter des Hellen, des Stammvaters der Hellenen. Vorläufig fügen sich diese Momente nicht zu einem Gesamtbild. Auch wenn die Preisgedichte einzelne Personen aus Georges Umkreis ansprechen, erschöpfen sie sich doch nicht darin. Das ergibt sich schon aus ihrem zeitlichen Entstehungszusammenhang: Sie fallen alle in den Zeitraum zwischen Ende 1892 und Ende 1893, allenfalls für das Gedicht auf Antinous (Edmond Rassenfosse) kann eine Zeit kurz nach dem März 1894 angenommen werden.57 Das heißt, die Gedichte fallen in die Zeit, in der George bewusst nach außen ging, in eine – wenngleich absichtsvoll beschränkte – Öffentlichkeit, ein Moment, in dem sich das Persönliche und das Poetische aufs Engste verschränken. Alle männlichen Gepriesenen sind, als George ihnen Gedichte widmete, dichterisch tätig, während die gelobten Frauen – soweit sie bekannt sind – sich nachdrücklich mit Dichtung beschäftigten und sie nach außen vermitteln. Dieser ‚entlastende Zugewinn‘ aber war nun auch auf Dauer zu verpflichten und zugleich nach außen abzubilden. Und hierfür waren die Preisgedichte sowie die Widmung des Bandes von 1894 an die drei genannten Dichterfreunde ein wesentliches Mittel: Die Betroffenen wurden so spürbar bzw. sichtbar mit dem aufstrebenden Dichter, seinen Vorstellungen und Absichten verbunden. Das durchaus Abgezirkelte der Folge der Gepriesenen bildet das Intentionale ab. Die erfreute Reaktion der mit Gedichten beschenkten Dichter zeigt die Richtigkeit von Georges Überlegungen: Die Gepriesenen setzten sich in ihren Lebenskreisen für George und sein Werk ein, sei 57 Gedicht für Albert Saint-Paul: nach Februar und März 1892, da Lamia erwähnt, vielleicht nach September  1892; für Ida Coblenz: nicht vor Jahresbeginn  1893; für Wacław Lieder: nicht vor Ende Juli 1892, aber vor Januar 1894; für ‚Sidonia‘: vor Januar 1894; für Paul Gérardy nach August 1892; für Luise Brück: nach Ende September 1893; für Ludwig Klages: wohl nicht vor Spätherbst 1893; für Frieda Zimmer-Zerny: nicht vor Spätherbst 1893; für Edmond Rassenfosse: wohl nach dem Brüssel-Besuch im März 1894; für ‚Apollonia‘: unsicher; vgl. Oelmann in SW III, 121–126.

    116 

     Wolfgang Christian Schneider

    es nun in Belgien, in Paris oder Warschau, stießen Veröffentlichungen über George und seine Dichtungen an, was wiederum auf Georges Lebenskreis und sein Wirken in Deutschland zurückstrahlte. Es überrascht freilich nicht, dass George in späterer Zeit die konkreten Zusammenhänge der Preisgedichte in den Hintergrund schob und hervorhob, „es sei ihm mehr auf Preisen als Ausdruck seiner Kunst als auf die Gepriesenen angekommen.“ (EM I, 69) George pflegt konkretere Bezüge immer zu verwischen. Tatsächlich hat all dies nicht nur als ein äußeres Geschehen zu gelten, vielmehr ist es mit dem Persönlichen und Dichterischen verflochten – und auch das zeigt sich in den Preisliedern. Ebenso wie die Hirtenlieder schlagen sie einen neuen Ton an: Nach der kühlen Künstlichkeit der Algabal-Gedichte erscheinen sie lebensvoller, ja fast wärmer; ohne dass die Herbheit in Gestaltung und Gedanke schwindet, zeichnet die Werke dieser Zeit ein unmittelbarer und wiederholt geradezu gelassener Blick auf das konkret Umgebende aus. Das dürfte tatsächlich mit den neu gewonnenen Beziehungen in Frankreich und Belgien und den Erlebnissen in Bingen, die alle in den Preisgedichten ihren Niederschlag finden, zusammenhängen. Der vertrautere Umgang mit den Dichterfreunden in Paris führte zu einer breiteren Aufnahme der in Paris lebendigen neuen Poesie, die sich eben zu dieser Zeit auffächerte, neben den Kreis der Symbolisten trat der des Parnasse, der – wie schon Mallarmé mit L’Aprèsmidi d’un faune – einen neuen Blick auf die antike Dichtung öffnete. Beispielhaft dafür stehen der Grieche Ioannis Papadiamantopoulos, der sich als Dichter Jean Moréas nannte,58 und Pierre Louÿs,59 die sich für ihre Dichtungen an die frühe griechische und die hellenistische Lyrik anlehnten, schließlich auch José Maria de Heredia,60 der nach Ansicht von Henri de Régnier (seinem Schwiegersohn) mit seinen Les trophées (1893) die Ansätze der Parnassiens und der Symbolisten verband. Mit Vertretern beider pflegte George in Paris Umgang,61 und das schlug sich dann auch darin nieder, dass die griechische Dichtung für George aufs Neue bedeutsam wurde und maßgeblich dazu beitrug, dass sein lyrisches Sprechen leichter, gelöster wurde. Und eben das prägt die Hirtengedichte ebenso wie die Preisgedichte. Die hellenische Dichtung wurde damit – unmittelbar und mittelbar über deren Rezeption durch die neue französische (und italienische) Lyrik – gleichsam der Katalysator für ein neues Dichten Georges, das die gegenüber Hofmannsthal beklagte Ratlosigkeit überwand. So erinnert die Szenerie von Der Tag des Hirten an das Gedicht L’oubli in den Trophées (1893) von José Maria de Heredia, freilich ist bei George alles Vergangenheitsbefangene in

    58 George kennt ihn als einen der Bewohner der Rue de l’Abbé de l’Epée 14 und als Teilnehmer des Mallarmé-Kreises. 59 George kennt ihn vom Mallarmé-Kreis her. 60 Von den drei Töchtern Heredias heiratete Marie (unter dem Namen Gérard d’Houville selbst Schriftstellerin) Henri de Régnier, die jüngere Louise aber Pierre Louÿs, sodass George Heredia begegnet sein könnte. 61 George begegnete Henri de Régnier ebenso wie Jean Moréas im Rahmen von Festen der Zeitschrift La Plume; vgl. ZT 11.

    Das Buch der Hirten- und Preisgedichte 

    

     117

    Überzeitlich-Gegenwärtiges umgeformt. George hatte ein neues Sprechen gefunden, und der Antikes aufrufende Titel Das Buch der Hirten- und Preisgedichte fasst den dafür bestimmenden komplexen sozialen und literarischen Quellgrund.

    Interpretationen von Abend des Festes (SW III, 25) und An Menippa [I und II] (SW III, 30–31) Abend des Festes Nimm auch von deinem haupt den kranz · Menechtenus! Entfernen wir uns eh der flöten ton entschläft · Zwar reicht man ehrend uns noch frohe becher dar · Doch seh ich mitleid schon durch manchen trunknen blick. Wir beide wurden von den priestern nicht erwählt Zur schar die sühnend in dem tempel wirken darf. Von allen zwölfen waren wir allein nicht schön Und dennoch sagte uns die quelle deine stirn Und meine schulter seien reinstes elfenbein. Wir können mit den schäfern nicht mehr weiden gehn Und mit den pflügern nicht mehr an der furche hin Die wir das werk der himmlischen zu tun gelernt. Gib deinen kranz! ich schleudr’ ihn mit dem meinen weg · Ergreifen wir auf diesem leeren pfad die flucht · Verirren wir uns in des schwarzen schicksals wald. (SW III, 25)

    In der zweiten Siebenergruppe der Hirtengedichte, den sieben Polis-Gedichten, kommt dem vorletzten Gedicht Abend des Festes eine besondere Bedeutung zu: Es greift die in den ersten beiden Gedichten der Gruppe angeschlagene religiöse Thematik auf und verbindet diese mit der Frage von Auslese und Erwähltheit, was George immer wieder beschäftigt. Das Gedicht wendet sich – wie schon Das Geheimopfer und Der Auszug der Erstlinge, dessen Metrum aufgegriffen wird – der Lebenswelt der Jugendlichen in der Antike zu, den Epheben. Ein Ephebe spricht Menechtenus an, einen offenkundig Gleichaltrigen, gleichfalls den Kranz abzunehmen, den sie beide bislang am Tage des hohen Festes getragen haben. Denn von den Zwölfen, die sich lange Zeit für den Dienst im Tempel vorbereitet hatten, ließen die Priester allein sie nicht zum sühnenden Dienst im Tempel zu, allein sie waren „nicht schön“. Dies und die an dieser Stelle kaum zufällige Zwölfzahl legt zunächst nahe, dass ursprünglich an die ganze Zahl als für den Dienst im Tempel Bestimmte gedacht war, sodass die Aussonderung von

    118 

     Wolfgang Christian Schneider

    Menechtenus und seinem Leidensgenossen nicht einfach nur eine äußerlich begründete Auslese hinsichtlich der vorhandenen Plätze darstellte, sondern eine wertende Auslese und damit ein wirkliches Ungenügen der beiden vorlag: Sie hatten den an die Kandidaten gestellten Anforderungen nicht entsprochen. Dabei hatte, wie der ausgeschiedene Menechtenus versichert, die spiegelnde Quelle seine Schulter und die Stirn des Freundes als reinstem Elfenbein gleich erwiesen. Doch was der Freund Menechtenus nennt, sind Merkmale äußerer Schönheit, die die beiden offenbar auch im Spiegel überprüften. Dies Äußere freilich genügt nicht, das verkennen die beiden: Der Blick in den Spiegel entlarvt sie als eitel. Obzwar nämlich äußere Schönheit höchst bedeutsam ist, ist sie nicht das Entscheidende, so schon in Platons Lehre, auf die der Dichter hier wie schon im Gedicht Das Geheimopfer anspielt.1 Ebendiese mangelnde Einsicht in die Verschränktheit von äußerer und innerer Schönheit, die eben nicht im Spiegel überprüfbar ist, mochten die Priester, die sie nicht aufnahmen, bei ihrer Beurteilung der beiden gesehen haben: Es liegt – wie der prüfende Blick in den Quellspiegel offenbart – bei den Ausgesonderten keine reine Anheimgabe an das Göttliche vor. Der eitle Blick in die spiegelnde Quelle verrät es, die Aussage gegenüber Menechtenus bestätigt es, dass beide von der inneren Schönheit und der dem Göttlichen erst entsprechenden, umfassenden Schönheit, die Wahres und Gutes einschließt, nicht wissen. Erst nach Ausschluss aus dem Kreis der Berufenen wendet sich der Freund des Menechtenus dem zu, was ihm obliegt, dem freiwilligen Verzicht auf das Höhere. Ein solches Tun stellt George in einem Gedicht im Stern des Bundes dar (SW VIII, 67).2 Der Verzicht der beiden Epheben aber kommt nicht aus Eigenem, auch darin liegt ein Versagen, sondern von außen her: Das Urteil der Priester besagte es, und wenn die nicht Erlesenen auch beim Fest noch freundliche Ehrengaben erfahren und einen „frohen becher“ erhalten, zeigt doch manch trunkener Blick unverhüllt Mitleid mit ihrem kommenden Geschick. Für die landwirtschaftlichen Dienste nämlich sind sie nicht mehr tauglich, da sie die ‚Werke der Himmlischen‘ zu tun erlernt hatten, zu denen sie aber nun doch nicht erwählt wurden. Und so fordert der Freund Menechtenus auf, noch im Festtrubel die Kränze wegzuwerfen und noch „eh der flöten ton entschläft“ zu scheiden, auf leerem Pfad auf die Flucht zu gehen, um sich in „des schwarzen schicksals wald“ zu verirren. Doch selbst dieses scheinbare Eingeständnis entlarvt die Gescheiterten ein zweites Mal: Sie haben sich an das Auserwähltsein so gewöhnt, dass sie noch immer am Abstand gegenüber dem einfachen ländlichen Tun ‚an der Furche‘ festhalten. Der Gang in den ‚schwarzen Wald‘ ist eine Flucht, denn Eitelkeit verbietet ihnen, aus dem Eingeständnis ihres Nicht-Genügens die Konsequenz zu ziehen und sich ländlichem Werk zuzuwenden.

    1 Damit entspräche die Aussage des Gedichts der Wendung im Teppich des Lebens (SW V, 49): über den, der „wol geschmückt doch nicht geheiligt“ zum „großen lebensfest“ kam; was an den Gehalt des Gleichnisses (Mt 22, 1–22) anschließt. 2 Dort die Verse 1–4, die aber vom Dichter-Mentor eine positive Antwort erhalten.

    

    Das Buch der Hirten- und Preisgedichte 

     119

    Rhythmisch findet das Erzählte seinen Niederschlag darin, dass das weitgehend jambisch gehaltene Gedicht an zwei Stellen eine Unregelmäßigkeit aufweist: im ersten Vers bei den einsetzenden Wörtern „Nimm auch von deinem haupt den kranz“ und im dreizehnten Vers bei den beiden Wörtern „Gib deinen kranz!“ Damit ist der Kern des Geschehens hervorgehoben, das Scheitern und dessen notwendiger Vollzug. Inhalt des Gedichts ist somit eine – im Gesellschaftlichen durchaus relevante – fast dualistische Welt, in der Himmlisches kaum vermittelt einem nachgeordneten weltlichen Bereich, dem Tun in der Furche, gegenübergestellt wird. Das Eintreten in den Bereich des Himmlischen ist Auserlesenen vorbehalten, sie werden von einer dem Himmlischen verpflichteten Autorität erwählt, nach Maßgabe der Schönheit, die aber nicht einfach äußerlich gesehen ist, sondern auch als von der Haltung, vom Tun und Streben des Einzelnen abhängig erscheint. Es gibt keine einfache Durchlässigkeit zwischen den geschiedenen Bereichen. Damit verflochten prägt das Gedicht deshalb zugleich ein Zwiespalt von Berufung und Erwählung im Sinne des „Viele sind berufen, Wenige aber auserwählt“ (Mt 22,14). Der trotz einer anfänglichen Berufung nicht Auserwählte hat dies  – mag es auch hart anmuten  – als Schicksal anzunehmen, als Feststellung seines Ungenügens zu werten und sich zurückzuziehen. Auf die Nichterwählten wartet ein schweres Geschick, das sie gleichwohl anzunehmen haben; das Eintreten in das eigene Scheitern ist das letzte dem Himmlischen Entsprechende, das Menechtenus und sein Freund leisten können. Eine schicksalsverpflichtete Ethik steht somit im Gedicht Abend des Festes vor Augen, eine ‚harte Ethik‘, wie sie auch in der Stoa gepflegt wird, Texte dieser philosophischen Tradition waren George vertraut.3 Mit der Scheidung von Himmlischem und Profanem, von Erwählung und Ungenügen der Vielen und der Schicksalsverfallenheit taucht hier somit erstmals das auf, was dann den Stern des Bundes bestimmt, ausdrücklich sprechen davon die Gedichte VIII, 60 u. 84. Grundlegend für dieses Modell scheint eine Kunstauffassung gewesen zu sein, die das künstlerische Tun von der ‚Normalität‘ abhob, das dann – über die Zwischenstufe einer ‚Kunst um der Kunst willen‘ – ethisch gewendet und mit dem Bezug zum Himmlischen neu begründet wurde. Von Abend des Festes aus gesehen erscheinen nun auch viele der anderen Gedichte der zweiten Siebenergruppe der Hirtengedichte in einem besonderen Licht: Die – mit Ausnahme von Erinna – durchweg grundlegend bestimmenden Motive der Sonderung, der Scheidung, auch der Schicksalsverfallenheit stellen – gleichsam vorbereitend – Erscheinungsformen dieser ‚harten Ethik‘ vor, während das letzte Gedicht, Das Ende des Siegers, das weitere Leben, das Ende eines Gescheiterten aufweist, der die ‚geflügelte Schlange im Wolkengebirg‘ (SW III, 26) von den „drachen der giftigen sümpfe“ (ebd.) nicht zu scheiden wusste. Mit den Dichtungen der Hirtengedichte war George also tatsächlich in eine andere Welt aufgebrochen, geschult von den Dichtungen der Symbolisten und des Parnass, dann aber doch in eine andere Richtung gegangen,

    3 Den epikureisch-stoisch geprägten Lukrez nennt George „göttlich“ (EL 135).

    120 

     Wolfgang Christian Schneider

    die – untergründig die kalte Welt von Algabal aufnehmend – zu der Unbedingtheit und ‚harten Ethik‘ im Stern des Bundes führte. Wenn der Dichter also „vorübergehend in andere zeiten und örtlichkeiten“ (SW III, 7) floh, so nicht einfach, um sich in Vergangenheiten zu wiegen, sondern um die ihn im Weiteren bestimmenden Richtwerte zu finden. Damit reagierte er auf den Zerfall der bis dahin tragenden Ordnung, die nun durch selbst gesetzte und verantwortete Richtwerte ersetzt werden musste. An Menippa Menippa! wenn auch deines auges sich bewusster glanz Wie früher noch mich lockt: verstreichen liessest du die frist Wo du mich hättest lenken können einem kinde gleich Wo jedes deiner worte mir ein süsser hauch gedäucht Und jeder deiner mäkel nur ein frischer reiz · mir gilt Nun vor der deinen die gebärde jener tänzerin · Kein wunderding erscheint mir mehr die narbe deines kinns Und wenig bin ich in gefahr an deiner seite ob Du auch bei unsrem gange unter dunklen uferbäumen Den sklaven fortbefohlen der vor uns die fackel trug. (SW III, 30) An Menippa Die lämmer für den dienst der götter seien rein von flecken. Das andre weisst du: dass die schar der müssigen und eitlen Zerstiebt vor deiner zunge schärfe · meinen geist zu wetzen Nur deiner taugt · ich jüngst vor dir gestockt · dein haar verglichen Mit dem der fürstin das berühmt nun unter sternen flimmert. Doch seh ich dich im staub und regen unsrer tage schreiten (Nicht unterschieden von gespielen die du doch verachtest) Und zwang und sorge wäre dir davor dich zu bewahren. Du kannst mir nimmer – wohl begreif ich deinen wirren vorwurf – Der hehren seherin begeisterte verkündung werden Noch in den heiligen gebüschen das beredte rauschen. (SW III, 31)

    Die beiden Preisgedichte An Menippa wenden sich an eine Frau, der der Dichter sich eng verbunden fühlt, nicht ohne zugleich eine eingetretene Distanzierung anzusprechen. Beide Gedichte, nicht vor Jahresbeginn 1893 geschrieben und erstmals in den Blättern für die Kunst vom Januar 1894 erschienen, gelten Ida Coblenz, die George im März 1892 in Bingen kennengelernt hatte.4 Es entstand ein vertrautes Verhältnis, ja – von George aus gesehen – ein Liebesbezug. Schon die Eingangszeile des ersten

    4 Das überliefert Ida Coblenz selbst, und dem wurde nicht widersprochen; vgl. EM I, 69, der in der Folge allerdings keine rechte Begründung für die Namenswahl anzugeben vermag.

    

    Das Buch der Hirten- und Preisgedichte 

     121

    Gedichts bringt diese Ambivalenz zum Ausdruck, wenn der Dichter, gleich nach dem Anruf der Gepriesenen, ein „wenn auch“ setzt und die empfundene anhaltende Lockung durch den Glanz der Augen einschränkt mit der Bemerkung, dass dieser seiner selbst bewusst ist, die Frau also um die Wirkung ihrer Augen weiß, sie – so ist zu ergänzen – absichtsvoll nutzt. Dieser tadelnde Akzent wird verstärkt durch den abschließenden Doppelpunkt, dem ein Vorwurf folgt. Menippa hat die Frist, zu der sie den Sprecher beliebig hätte lenken können, die Zeit der anfanghaften umfassenden Zuneigung, verstreichen lassen. Jedes der von ihr gesprochenen Worte war ihm seinerzeit „ein süsser hauch“ gewesen, was – im Hinblick auf die Konnotation von Hauch im Sinne des geistigen Pneuma – wesentlich auch als ‚geistvoll‘ zu verstehen ist, selbst ihre Fehler5 waren ihm voll Reiz. Nun aber gilt ihm die Gebärde einer Tänzerin, die jedoch nicht weiter vorgestellt wird, mehr als die ihre. Die Ambivalenz der Ansprache spiegelt sich in der rhythmischen Struktur des Gedichts. Während die ersten Zeilen nach dem Anruf ruhig jambisch hingehen, bringt die fünfte Zeile einen Bruch; vor den letzten beiden Wörtern steht ein Hochpunkt und markiert ein Innehalten: Auf die Länge von „reiz“ muss das nachfolgende „mir gilt“ spondeisch gelesen werden. Das fällt besonders auf, weil der darauf folgende Vers gleichfalls spondeisch beginnt. So folgen vier lange Silben aufeinander. Damit wird der bislang gültige Rhythmus des Gedichts gestört, eben an der Stelle, an der die Rede auf eine andere Frau kommt. So wird die Aussage, dass deren Gebärde nun mehr gilt, hervorgehoben und damit auch die im ersten Vers schon verklausuliert angedeutete Distanzierung unmittelbar abgebildet. Der anschließende eine Pause fordernde Hochpunkt macht die eingetretene Entzauberung vollständig, und so folgt nun zunächst ein äußeres Merkmal dieser Entzauberung, die Narbe am Kinn ist ihm kein Wunderding mehr, dann auch, in drei Versen gefasst, das Gewichtigere: Selbst bei einem verschwiegenen Zusammensein ohne Zeugen sieht sich der Dichter ‚ungefährdet‘. Der mittlere der drei letzten Verse bietet folgerichtig die zweite rhythmische Störung des Gedichts, da das „Du auch“ gegen den sonst vorherrschenden Auftakt wie an der ersten Störungsstelle betont zu lesen ist. Das zweite Gedicht an Menippa zeugt von einer Vertiefung des Fernerrückens. Die zunächst im Äußerlichen erläuterten Regungen werden nun gleichsam vertieft begründet und in einen größeren Zusammenhang gestellt. Der Dichter spricht zwar lobend von der Schärfe des Verstandes der Geliebten, der die Eitlen und Müßigen zerstieben lässt, eines scharfen Geistes, der allein den eigenen zu wetzen vermag. Doch er setzt dem die ihr eigentlich aufgegebene Pflicht („zwang und sorge“) gegenüber,

    5 Bocks Wortkonkordanz ordnet ‚mäkel‘ dem Lexem ‚makel‘ zu, offenkundig als Plural, was auf die Deutung als ‚Fehler‘ führt. Nicht ausgeschlossen scheint aber auch eine von ‚mäkeln‘ abgeleitete Auffassung von ‚mäkel‘, sodass „mäkelnde Äußerungen“ gemeint wären; vgl. dazu Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 12, 1885, Sp. 1468  ff. Dann ergäbe sich ein Parallelismus in den Zeilen 4 und 5.

    122 

     Wolfgang Christian Schneider

    die in dem vom Dichter gerühmten Haar der Geliebten, das er dem an den Sternenhimmel versetzten Haar der Berenike verglichen hatte,6 gleichsam vorgezeichnet ist: den Dienst am Göttlichen. Die dem Göttlichen Geweihten, genannt werden sie Lämmer, was an spätantike Mosaiken denken lässt, in denen Lämmer zur Verehrung Christi heranziehen,7 haben rein zu sein. Und mit dieser Reinheit ist die Notwendigkeit verbunden, einen gesonderten Pfad zu wandeln und eben nicht – wie die doch verachteten („müssigen und eitlen“) Gespielen – „im staub und regen unsrer tage“ zu gehen, sich also auf dem breiten Weg der Alltagsgegenwart zu versäumen. So kann der Dichter nur feststellen, dass die verehrte Frau, der doch oblegen hätte, sich zu wahren, ihm nicht mehr das sein kann, was Not tut, aber Reinheit voraussetzt: Sie vermag nicht mehr „Der hehren seherin begeisterte verkündung“ zu vergegenwärtigen, das beredte heilige Rauschen zu deuten, in dem sich das Göttliche dem Menschen zuspricht. Damit ist nicht einfach nur die oft angesprochene, nahezu entleerte Stellung einer ‚Muse‘ angesprochen, sondern Wesen und Tun der Muse wieder in vollem Sinne als Vermittlerin des Heilig-Göttlichen verstanden. Nur so erklärt sich die – zunächst fast irritierende – isolierte Aussage im ersten Vers über die Reinheit als Voraussetzung für den Dienst am Göttlichen. Das Wirken der Muse aber wird zugleich mit dem Tun der begeisterten Seherin von Göttlich-Gesandtem verbunden: mit der Kündung der delphischen Pythia aus dem Rauch, der aus der Erdspalte steigt; mit der Ausdeutung des Rauschens der Eiche von Dodona durch den Priester. Letzteres, in der Druckfassung in den Blättern für die Kunst noch genannt,8 wird von George wohl getilgt, weil es allzu konkret erschien, als Zeichen eines Historismus gesehen werden konnte. Zweifellos absichtsvoll offen bleibt die parenthetische Aussage über den „wirren vorwurf“, den der Dichter zwar begreift, aber gleichsam unbeantwortet stehen lässt. Die Stellung der Äußerung im Gefüge des Gedichts scheint anzudeuten, dass dieser Vorwurf einem Abrücken des Dichters von einer Teilhaberschaft der verehrten Frau an den entstehenden Gedichten galt. Die rhythmische Struktur des zweiten, gleichfalls jambischen Gedichts auf Menippa ist inhaltlich weniger bestimmt als die des ersten. Bemerkenswert aber ist, dass jeweils an den entscheidenden Stellen der Aussage der Versauftakt durch einen spondeischen Eingang ersetzt wird: so in Vers 4: „Nur deiner taugt“, in Vers 7: „Nicht unterschieden“, in Vers 9: „Du kannst mir nimmer“ und in Vers 11: „Noch in den heiligen gebüschen“. Gleichwohl kommt es nicht zu solchen jähen Störungen des jambischen Rhythmus wie im ersten Menippa-Gedicht. Geprägt ist das Gedicht von einer

    6 Vgl. Catull 66, bes. 7  ff., 51  ff. 7 Ravenna, St. Apollinaris in Classe, ähnlich: Rom, St. Praxedis, St. Maria in Trastevere, St. Caecilia in Trastevere, St. Marcus. Bei den bedeutenden Opfern der Antike wurden erwachsene Tiere bevorzugt, bei denen auch die Reinheit wichtig war. Lämmer sind ländliche Opfertiere. 8 BfdK II, 1, S. 6: „Noch das beredte rauschen in dem laube von Dodona“. ‚Reine Lämmer‘ kennt das alttestamentliche Judentum und danach das Christentum.

    

    Das Buch der Hirten- und Preisgedichte 

     123

    diskursiven Unruhe, in der die spondeischen Verseingänge gleichsam ein Neueinsetzen markieren. Die gelobte Gedankenschärfe, die gegenüber den Müßigen und Eitlen als Scharfzüngigkeit in Erscheinung tritt, gibt zu erkennen, warum der Dichter die Geliebte als Menippa preist. Der Name stellt die weibliche Form von Menippos dar, und offensichtlich denkt George bei seiner Menippa an den kynisch gestimmten philosophischen Spötter dieses Namens aus Gadara. Allerdings dürfte der Dichter damit kaum die sprachliche Form des Gedichts gemeint haben,9 den Ansatz für seine Namenswahl bildet vielmehr die Auffassung des Menippos, die Lukian in seinen Totengesprächen bietet: In elf von den überlieferten dreißig Gesprächen tritt Menippos auf,10 dabei fällt er in allen Szenen durch sein loses kritisches Mundwerk und seine Spottlust gegenüber den von den Toten bisher beachteten sozialen Selbstverständlichkeiten auf. Krates, Kyniker wie Menippos, nennt diese Haltung dann „die Aufrichtigkeit und die Freiheit des Geistes und der Zunge“ (XI). Dies alles will George mit seiner Benennung aufrufen, das Zerstieben der „müssigen und eitlen“ vor der geistvollen Schärfe von Menippas Zunge, das antibürgerliche kritisch-distanzierte ‚Verachten‘ der Gespielen, das sieht George als ‚menippisch‘ an. Doch während ihn die darin angezeigte und von ihm geteilte geistvoll-antibürgerliche Haltung anzog, seinen Geist schärfte, muss er nun sehen, dass Menippa den Weg des verachteten bürgerlichen Lebens geht. So kann sie ihm nicht mehr Mittlerin wahrer, begeisterter Kündung sein. Trotz dieses ausgesprochenen Fernerrückens sind beide Gedichte von anerkennenden Äußerungen durchzogen. Was in dem einen Gedicht der – allerdings seiner selbst bewusste – Glanz ihrer Augen ist,11 ist im andern Gedicht die Schönheit des Haars und die Schärfe des Geistes, die dem Dichter half, das Eigene zu entwickeln. Auch in diesem Fall dient dem Dichter der antike Name dazu, die gemeinte Person feinsinnig zu kennzeichnen, „die Aufrichtigkeit und die Freiheit des Geistes und der Zunge“ von Ida Coblenz in der damaligen bürgerlichen Zeit, unter der der Dichter litt, zu würdigen. Tatsächlich bewahrte George gegenüber Ida Coblenz, wenngleich ihm Einzelnes missfiel und obwohl er das angesprochene Scheitern der Beziehung als durch sie verursacht ansieht, zeitlebens ein anerkennendes Gedenken.

    9 EM I, 70 weist auf das harte jambische Versmaß als „menippisch“ hin. 10 Lukian, Nekrikoi dialogoi II, III, X, XVII, XVIII, XX, XXI, XXII, XXV, XXVI, XXVIII; vgl. auch Lukian, Menippos e Nekyomanteia („Höllenfahrt des Menippos“). Lukian setzte mit dieser Deutung des Menippos an dessen bezeugter, aber nicht erhaltener satirischer Schrift Nekyia (‚Totenopfer‘) an. 11 Noch Paul Thiersch spricht 1907 von Ida Dehmels „sehr faszinierende[n] Augen, ganz merkwürdig“, tadelt dann freilich, dass sie „den Rest des Abends bei den Ringkämpfern im Varieté von Mannheim“ verbrachte; Rudolf Fahrner: Lebenszüge. In: Paul Thiersch. Leben und Werk. Hg. v. dems. Berlin 1970, S. 13–46, hier S. 29.

    Jutta Schloon

    Das Buch der Sagen und Sänge Zur Entstehungsgeschichte Von Winter 1892 bis Herbst 1894 durchlebte Stefan George eine schwierige Zeit mit verschiedenen Krisen: Nach der Fertigstellung des Algabal (1892) fehlten ihm zunächst Ideen für neue Gedichte, er war gesundheitlich angeschlagen und unglücklich verliebt in Ida Coblenz, eine Freundin aus seiner Heimatstadt Bingen.1 Über die Schaffenskrise rettete sich George mit Prosa- und Dramenexperimenten hinweg, vor allem aber übersetzte er Gedichte aus europäischen Fremdsprachen ins Deutsche und begann, selbst auf Französisch zu dichten.2 Im Januar 1893 schrieb George an seinen Pariser Freund Albert Saint-Paul, er fühle sich regelrecht „angeekelt“ von Deutschland: „L’Allemagne commence à me dégouter.“3 Dem Brief legte George ein auf Französisch verfasstes Gedicht mit dem programmatischen Titel Variations sur thèmes germaniques bei,4 das eine imaginierte Mittelalter-Szenerie mit einem drachentötenden Knappen entwarf.5 Bis Herbst 1894 sollten zahlreiche weitere Gedichte mittelalterlichen Kolorits folgen,6 von denen einige „zunächst französisch gedichtet dann vom verfasser selbst übertragen“ wurden, wie es in den Blättern für die Kunst zu lesen ist (BfdK I, 4, S. 97). George veröffentlichte einzelne Gedichte zunächst in den Blättern für die Kunst7 und fasste sie später unter den Überschriften Sagen und Sänge eines fahrenden Spielmanns als Mittelteil der Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten (1895; im Folgenden abgekürzt als Bücher) zusammen. Nicht nur sprachlich orientierte sich George in den frühen 1890er Jahren am frankophonen Raum, sondern er knüpfte auch an die Poetik der französischen und bel-

    1 Vgl. CD 101–108, und den Anhang zu SW III, 102. 2 Zur Bedeutung des Französischen für George siehe Ute Oelmann: Das Mittelalter in der Dichtung Stefan Georges. In: Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft. Hg. v. Barbara Schlieben, Olaf Schneider u. Kerstin Schulmeyer. Göttingen 2004, S. 133–145, hier S. 141. 3 Vgl. George an Albert Saint-Paul vom 5. 1. 1893, StGA (abgedruckt in SW III, 128). 4 SW III, 128  f. Später übersetzte George das Gedicht ins Deutsche und nannte es Die Tat (SW III, 45). 5 Im StGA befindet sich ein Bild des belgischen Malers Auguste Donnay, der den „Drachentöter St. George“ als mittelalterlichen Ritter malte (Ute Oelmann: Das Mittelalter [wie Anm. 2], S. 140. Vgl. Jan Andres: Mittelalter als Modell? Gedanken zu Stefan George. In: Modell Mittelalter. Hg. v. Victoria von Flemming. Köln 2010, S. 145–167, hier S. 152  f.). 6 Anhang zu SW III, 106. 7 BfdK I, 4, BfdK II, 1, BfdK II, 2, u. BfdK II, 4. Zu den Vorveröffentlichungen in den BfdK siehe Gabriel Simons: Die zyklische Kunst im Jugendwerk Stefan Georges, ihre Voraussetzungen in der Zeit und ihre allgemeinen ästhetischen Bedingungen. Diss., Köln 1965, S. 395  ff.

    

    Das Buch der Sagen und Sänge 

     125

    gischen Symbolisten an.8 Gemäß einer Vorrede zu den drei Büchern wollte George seine Gedichte als „spiegelungen einer seele die vorübergehend in andere zeiten und örtlichkeiten geflohen ist“ verstanden wissen, d.  h. im Sinne einer symbolistischen Programmatik als Sinnbilder von Seelenzuständen (états d’âme).9 Die Vorrede veröffentlichte George zunächst 1894 in den Blättern für die Kunst (BfdK II, 4) während die Erstausgabe der drei Bücher, die 1895 in einer Auflage von 200 Exemplaren als Privatdruck im Verlag der Blätter für die Kunst erschien, keine Vorrede enthielt.10 Als 1899 die zweite, diesmal öffentliche Ausgabe im Bondi-Verlag erschien, stellte George den Gedichten eine revidierte Fassung voran (November 1898).11 In dieser Fassung betont George nochmals die Subjektivität seines Zugriffs und bezeichnet Antike, Mittelalter und Orient als „unsre[] drei grossen bildungswelten“: Jede zeit und jeder geist rücken indem sie fremde und vergangenheit nach eigner art gestalten ins reich des persönlichen und heutigen und von unsren drei grossen bildungswelten ist hier nicht mehr enthalten als in einigen von uns noch eben lebt. (SW III, 7)

    Als „Bildungswelt“ hatte George das Mittelalter bereits in Schule und Studium kennengelernt,12 denn Kenntnisse mittelalterlicher Geschichte, Sprache und Literatur gehörten im 19. Jahrhundert zum selbstverständlichen Bildungsrepertoire des kulturell interessierten Bürgertums. Aus diesem Wissen um mittelhochdeutschen Minnesang, Heldenepen des deutschen sowie französischen Mittelalters und ebenso zu romantischen Mittelalter-Adaptionen bediente sich George für die Sagen und Sänge auf sehr selektive und unbefangene Weise. Zu diesen Bildungsbeständen kam die sinnliche Anschauung als Inspirationsquelle: George nannte in der Vorrede „unsere mittelalterlichen ströme“, womit er wohl vor allem auf die ihm vertrauten Flüsse Rhein und Nahe mit ihren mittelalterlichen Burgen, Schlössern und Kirchen anspielte.13 Stoffliche Anregungen fand George auch bei seinen Dichter-Freunden in Paris und 8 Enid Lowry Duthie: L’influence du symbolisme français dans le renouveau poétique de l’Allemagne. Les Blätter für die Kunst de 1892 à 1900. Paris 1933, S. 329–333. Vgl. CD 110 u. 115. Vgl. Natasha Grigorian: The Poet and the Warrior. The Symbolist Context of Myth in Stefan George’s Early Verse. In: The German Quarterly 82 (2009), 2, S. 174–195. 9 Joachim W. Storck: Das Bild des Mittelalters in Stefan Georges „Buch der Sagen und Sänge“. In: Mittelalter-Rezeption II. Hg. v. Jürgen Kühnel u.  a. Göppingen 1982, S. 419–437, hier S. 425  f. Ähnlich formulierte es George auch in einem Brief an Edmond Rassenfosse, dabei die Kontinuität zu seinen früheren Werken betonend: „Vous aurez un peu de peine à comprendre parce que dans ces trois l­ivres plus encore que [dans] mes œuvres publiés l’âme ne voit pas directement [mais] sous un certain angle – l’époque culturelle.“ (abgedruckt im Anhang zu SW III, 106.) 10 Anhang zu SW III, 104  f. 11 Zu den Varianten des Vorworts siehe Joachim W. Storck: Das Bild des Mittelalters (wie Anm. 9), S. 424–427. 12 Eine Aufstellung der Schul- und Studienlektüren gibt Ute Oelmann: Das Mittelalter (wie Anm. 2), S. 134–136. 13 Joachim W. Storck: Das Bild des Mittelalters (wie Anm. 9), S. 426.

    126 

     Jutta Schloon

    Belgien, die ihre Gedichte gerne in historische oder exotische Ambientes versetzten. Paul Gérardy, einem dieser Freunde mit Faible für das Mittelalter, hat George die drei Bücher sogar gewidmet (neben Wacław Lieder und Karl Wolfskehl). All dies mag erklären, warum George laut Aussage von Ernst Morwitz bei den Sagen und Sängen „mehr an französisches als deutsches Mittelalter“ gedacht habe (EM I, 79). Durch das „Dichten in fremden Sprachen“ und das „Dichten in fremden Formen“ (TK 185) distanzierte sich George in den Jahren 1892 bis 1894 von Deutschland und suchte Auswege aus seiner eigenen krisenhaften Situation. Als „Kostümierung“ persönlicher Befindlichkeiten hinter historischen „Masken“ ist dieses Verfahren häufig gedeutet worden.14 Dieser biografische Aspekt bildet jedoch nur eine von mehreren Bedeutungsdimensionen der Sagen und Sänge ab. Nicht nur besitzen die Gedichte Eigenständigkeit als künstlerische Gebilde,15 sondern auch eine Mehrfach-Codierung durch vielfache Bezüge zu literarischen, ästhetischen und religiösen Traditionen und durch Zusammenstellung zu einem sorgfältig durchkomponierten Zyklus.

    Titel, Anlage und Form Schon im Titel Buch der Sagen und Sänge klingt eine märchenhafte, vergangene Zeit an. Mit der Wendung ‚Sagen und Sänge‘ variierte George die seit dem Mittelalter geläufige dichterische Alliterationsformel ‚singen und sagen‘.16 Zugleich charakterisiert der Titel die Gattungen: Die Abteilung Sagen enthält Gedichte mit erzählerischem, balladeskem Charakter, die ihre Themen aus einer imaginierten höfischen Welt des Mittelalters beziehen. Die Sänge sind dagegen liedhafte Gedichte genuin lyrischer Art. Als George die ersten Gedichte aus „einem buch sagen und sänge“ im Mai 1893 in den Blättern veröffentlichte, hieß der Zwischentitel Sänge / im Geschmack eines fahrenden Spielmanns (BfdK I, 4). George kennzeichnete die Gedichte also zunächst als Stil­ imitationen, Gedichte im Stile eines Spielmanns.17 In der fertigen Ausgabe von 1895

    14 CD 117 u. 119. Gabriel Simons: Die zyklische Kunst (wie Anm. 7), S. 368; Joachim W. Storck: Das Bild des Mittelalters (wie Anm. 9), S. 433; Hubert Arbogast: Stefan Georges „Buch der hängenden Gärten“. In: JbDGS 30 (1986), S. 494–510, hier S. 498; Anhang SW III, 103; Hubert Arbogast: Nachwort. In: Stefan George: Sagen und Sänge. Faksimile der Handschrift. Hg. v. Hubert Arbogast und Ute Oelmann. Stuttgart 1996, S. 20–23, hier S. 20; Gunilla Eschenbach: Musik als emotiver Verstärker in Stefan Georges Sänge eines fahrenden Spielmanns. In: Lied und Lyrik um 1900. Hg. v. Dieter Martin u. Thomas Seedorf. Würzburg 2010, S. 129–139, hier S. 130. 15 Vgl. Gerhard Kaiser: „Dichten selbst ist schon Verrat“. Gibt es Kritik an Dichter und Dichtung im Werk Georges? In: GJb 5 (2004/2005), S. 1–21, hier S. 6. 16 Vgl. Julius Schwietering: Singen und Sagen. Göttingen 1908; Gustav Thurau: Singen und Sagen. Ein Beitrag zur Geschichte des dichterischen Ausdrucks. Berlin 1912. 17 Zum Ausdruck „im Geschmack von“ siehe Dominik Brückner: Geschmack. Untersuchungen zu Wortsemantik und Begriff im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin u. New York 2003, S. 208.

    

    Das Buch der Sagen und Sänge 

     127

    radikalisierte George dieses Konzept, indem er die Abteilung Sänge eines fahrenden Spielmanns nannte und somit die Gedichte als Rollengedichte markierte. Mit der Figur des Spielmanns wählte George einen bestimmten Dichtertypus aus, der ein „vormodernes Kunstverständnis“ (WB 199) repräsentiert: Der Spielmann war im Mittelalter ein fahrender Sänger, der seinen Lebensunterhalt durch Darbietung von Kunststücken, Musik und Gesang verdiente. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts interessierten sich besonders die Philologen der Romantik für den Spielmann, da sie in ihm den Träger oder sogar Schöpfer der Volkspoesie zu erkennen glaubten. Auf diese mittelalterlichen und romantischen Prägungen der Figur spielt George an.18 Das Buch der Sagen und Sänge bildet den mittleren Teil der Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten. Mit 25 Gedichten weist das Buch der Sagen und Sänge genau gleich viele Gedichte wie das vorausgehende Buch der Hirten- und Preisgedichte auf, während das darauf folgende Buch der hängenden Gärten mit 31 Gedichten der umfangreichste Teil des Gesamtbandes ist.19 Die ersten beiden Bücher sind zudem jeweils zweigeteilt, mit einer gespiegelt-symmetrischen Anordnung von Gedichten: 14 Hirtengedichte, 11 Preisgedichte, 11 Sagen und 14 Sänge.20 Alle drei Zyklen sind zudem über vielfache motivische Ähnlichkeiten und Variationen eng miteinander verschränkt.21 Auch die beiden Untergruppen Sagen und Sänge eines fahrenden Spielmanns sind symmetrisch gerahmt: Beide Zyklen eröffnen jeweils mit poetologischen Gedichten (Sporenwache bzw. Worte trügen · worte fliehen, SW III, 43  f. bzw. 58) und schließen mit Anrufungen von Marienbildern (Das Bild bzw. Lilie der Auen, SW III, 56 bzw. 67). In gleicher Weise korrespondieren weitere Gedichte innerhalb der beiden Untergruppen miteinander, etwa Vom ritter der sich verliegt (SW III, 54) in den Sagen mit Erwachen der braut (SW III, 66) aus den Sängen, die beide akustische Eindrücke zwischen Traum und Wirklichkeit schildern. Das zentrale Motiv des Dienstes zieht sich durch den gesamten Zyklus – in der Form von Ritterdienst, Gottesdienst und Minnedienst. Die Sagen sind in Gruppen von fünf, drei und nochmals drei Gedichten strukturiert:22 In den ersten fünf Gedichten ist das Dienstmotiv mit dem Liebesmotiv verbunden (Sporenwache, Die Tat, Frauenlob, Tagelied, Im unglücklichen Tone dessen von …, SW III, 43–49). Die nächsten drei Gedichte zeigen Entwürfe von männlicher Gemeinschaft (Irrende Schar, Der Waffengefährte I und II, SW III, 50–53). Die letzten

    18 Vgl. Gerhard Kaiser: „Dichten selbst ist schon Verrat“ (wie Anm. 15) S. 9. Zur Figur des Spielmanns in der Jugendbewegung siehe Andrea Neuhaus: Das geistliche Lied in der Jugendbewegung. Zur literarischen Sakralität um 1900. Tübingen 2005, S. 151  f. 19 Für den dreigliedrigen Aufbau des Gesamtbandes hat die Forschung auf mögliche französische Vorbilder hingewiesen, z.  B. Henri de Régniers Poèmes anciens et romanesques (Anhang zu SW III, 115) oder Heredias Les Trophées (Natasha Grigorian: The Poet and the Warrior [wie Anm. 8], S. 178). 20 Anhang zu SW III, 107. 21 Vgl. CD 117 und Gabriel Simons: Die zyklische Kunst (wie Anm. 7). 22 Gabriel Simons: Die zyklische Kunst (wie Anm. 7), S. 414.

    128 

     Jutta Schloon

    drei Sagen haben einen ausklingenden, Distanz- und Abschied-nehmenden, resignativen Charakter (Vom ritter der sich verliegt, Der Einsiedel, Das Bild, SW III, 54–56). Die Sänge lassen sich ebenfalls unterteilen: Die ersten acht Gedichte sind Liebeslieder (Worte trügen · worte fliehen, Aus den knospen quellen sachte, Dass ich deine unschuld rühre, Heisst es viel dich bitten, So ich traurig bin, Sieh mein kind ich gehe, Dieses ist ein rechter morgen, Ist es neu dir was vermocht, SW III, 58–61). Die folgenden fünf sind jeweils einem bestimmten Sprecher zugeschrieben – einem „edelkind“, einem „zwerg“ und einer „braut“ – und duplizieren somit die Rollenfiktion vom fahrenden Spielmann (Ein edelkind sah vom balkon, Das lied des zwergen I, II und III, Erwachen der braut, SW III, 63–66). Das Abschlussgedicht der Abteilung Sänge, Lilie der Auen (SW III, 67), ist ein Mariengedicht, das in der Figur der „Herrin“ die Ambivalenz des Liebeswerbens in den Sagen und Sängen noch einmal pointiert aufgreift. Manche Interpreten nehmen an, dass der fahrende Spielmann und der „fiedler“ aus dem Gedicht Ein edelkind sah vom balkon (SW  III,  63) und das „edelkind“ mit dem in den vorhergehenden acht Gedichten adressierten ‚Du‘, das einmal auch „kind“ genannt wird (Sieh mein kind ich gehe, SW III, 60), identisch seien.23 Die Unbestimmtheit der Personalpronomen ‚Ich‘ und ‚Du‘ in den ersten acht Sängen lässt diese Möglichkeit offen. Allerdings stellt sich dann die Frage, welchen Status die letzten Gedichte des Zyklus besitzen (Das lied des zwergen I, II und III, Erwachen der braut, Lilie der Auen, SW III, 64–67).24 Plausibler erscheint es, dass ausnahmslos alle Gedichte der Sektion Sänge von dem fahrenden Spielmann gesungen werden. Zugespitzt formuliert stehen sich die beiden Halbbücher Sagen und Sänge antithetisch gegenüber.25 Während George in den Sagen die Welt des höfischen Mittelalters mit seiner Ritterkultur, heroischen Abenteuern und seelischen Konflikten heraufbeschwört, wechselt er in den Sängen eines fahrenden Spielmanns die Stilkategorie: In volksliedhaftem Ton singt der Spielmann von Liebeserwartung und Liebesleid. In den Sagen geht es vor allem um Ritter, Helden und Ungeheuer, in den Sängen um Frauen, Kinder und Zwerge.26 Statt der Ritterkultur in den Sagen spendet in den Sängen die Natur die passenden Bilder und Symbole für die Stimmungen der vorgestellten Personen (vgl. EM I, 87). In den Sängen eines fahrenden Spielmanns experimentierte George vor allem mit Assonanzen, Reimen und Refrainstrophen: „Das Neue liegt bei George ganz in der Form“, schreibt Schultz.27 In der Tat sind die Sagen und Sänge kein Beispiel einer Rezeption mittelalterlicher Strophen- und Versformen, sondern ein Zeugnis symbolis-

    23 Gunilla Eschenbach: Musik als emotiver Verstärker (wie Anm. 14), S. 130. Auch Anderson erwägt diese Möglichkeit, verwirft sie jedoch (Dennis R. Anderson: Metrics and meaning in the early poetry of Stefan George. Diss. Buffalo 1975, S. 277). 24 Gunilla Eschenbach: Musik als emotiver Verstärker (wie Anm. 14), S. 130. 25 Dennis R. Anderson: Metrics and meaning (wie Anm. 23), S. 288. 26 Vgl. ebd. 27 HSS 50.

    

    Das Buch der Sagen und Sänge 

     129

    tischer Klangkunst.28 Im Sinne eines „simulierenden Historismus“29 versuchen die meisten Gedichte ‚Mittelalterliches‘ nur sehr frei in Tonlage und Stil zu treffen. Es ging George vor allem um Motive und Begriffe mit möglichst großem Assoziationspotential. Konkrete stoffliche Bezüge und Eigennamen vermied er, um den sinnbildlichen Gehalt der gezeigten Bilder zu erhöhen.30 Das Buch der Sagen und Sänge handelt von drei zentralen Themen: (1) Dichtung und Kunst, (2) Heldentum und (3) Liebe. Quer dazu zieht sich als Leitmotiv die Idee des Dienstes durch den gesamten Zyklus, in Form von Ritterdienst, Gottesdienst und Minnedienst. Mit dem Motiv des Dienstes eng verwoben sind die für George insgesamt wichtigen Motive Entsagung und Abschied.31 Wie auch in seinen anderen frühen Werken gestaltet George im Buch der Sagen und Sänge besonders paradoxe Gefühle und Konstellationen sowie ambivalente Figuren und Verhältnisse (JR 51).

    Dichtung und Kunst Georges Parole „eine kunst für die kunst“ (BfdK I, 1) ist auch in Bezug auf das Buch der Sagen und Sänge wörtlich zu nehmen. Zum einen ist Georges ‚Mittelalter‘ vor allem ästhetisch vermittelt, etwa in einem kunstvoll gestalteten Sarkophag (Sporenwache, SW III, 43), der Architektur einer mittelalterlichen Stadt (Frauenlob, SW III, 46–47) oder einer Skulptur bzw. einem Bild Marias (Sporenwache, Das Bild, Lilie der Auen, SW III, 44, 56, 67).32 Zum anderen sind die Sagen und Sänge größtenteils Dichtung über Dichtung, d.  h. poetologische Gedichte.33 Unmittelbar evident ist die poetologische Ebene, wenn Dichterfiguren selbst auftreten: In den Sagen im Dichtergedicht Frauenlob (SW  III,  46–47) und im Brief eines ritterlichen Minnesängers an seine Dame (Im unglücklichen Tone dessen von …, SW III, 49). In Frauenlob (SW III, 46–47) greift George die im 19. Jahrhundert populäre

    28 Vgl. Gabriel Simons: Die zyklische Kunst (wie Anm. 7), S. 347, 352 u. 359. Joachim W. Storck: Das Bild des Mittelalters (wie Anm. 9), S. 430. Anhang SW III, 103  f. 29 Moritz Baßler: Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996, S. 29–31. Ähnlich bereits Dennis R. Anderson: Metrics and meaning (wie Anm. 23), S. 183, und Gabriel Simons: Die zyklische Kunst (wie Anm. 7), S. 375. 30 Vgl. Natasha Grigorian: The Poet and the Warrior (wie Anm. 8), S. 192. Vgl. GHb I, 127. 31 Hans Christian Kosler: Suche nach der schönen Seele. Stefan George: sieh mein kind ich gehe. In: Frankfurter Anthologie 30 (2007), S. 81–84, hier S. 83. 32 Zur Darstellung Marias in Georges Dichtung siehe Karl-Josef Kuschel: Maria in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Handbuch der Marienkunde. Hg. v. Wolfgang Beinert u. Heinrich Petri. 2., völlig neu bearbeitete Aufl. Bd. 2. Regensburg 1996/97, S. 215–269, insbes. S. 225. Vgl. WB 200  f. 33 Vgl. Dennis R. Anderson: Metrics and meaning (wie Anm. 23), S. 184  f.; Gunilla Eschenbach: Musik als emotiver Verstärker (wie Anm. 14), S. 135.

    130 

     Jutta Schloon

    Begräbnislegende über den historischen Minnesänger Heinrich von Meissen auf.34 In dem zweigeteilten Gedicht, das zunächst Frauenlob in seiner Todesstunde sprechen lässt35 und dann von seinem Begräbnis erzählt, erscheint der Dichter als Schönheitspriester und einsamer Dulder in der Art eines poète maudit (HSS 37). Diese Charakterisierung entsprach nicht der mittelalterlichen Überlieferung, sondern vielmehr Victor Hugos Sicht auf Frauenlob als ‚Tasso von Mainz‘.36 Ein ähnliches Dichterbild, einen ähnlichen „Gestus der Pflichterfüllung“ (GHb I, 133) zeigt das Gedicht Im unglücklichen Tone dessen von … (SW III, 49): Wieder ist die Todesstunde als Zeitpunkt angedeutet, wieder zeigt der Minnesänger unerschütterliche Haltung angesichts von Spott und Undank. Diesmal aber ist der Kontrast so stark überzeichnet, dass ein ironischer Unterton mitschwingt.37 In den Sängen werden „poetologische Rollenkonzepte“38 sogar auf zwei verschiedenen Ebenen verhandelt: zum einen in der Rollenfiktion des fahrenden Spielmanns selbst, zum anderen in den Gedichten Ein edelkind sah vom balkon (SW III, 63) und Lied des zwergen (SW  III,  64  f.), in dem Kindern Schicksale verheißen werden und eines von ihnen die Gabe der Dichtung erhält. Dem Typus des verzichtenden, dienenden und einsamen Dichters fügt George in Ein edelkind sah vom balkon noch weitere Dichtertypen hinzu: den Dichter als „Verführer“39 und als Handwerker. Diese Typen begegnen in Gestalt von einem „fiedler“, der von einem Mädchen als „trugvoller schmied“ gescholten wird (SW III, 63). In der Schmiedemetapher scheint nicht nur Georges Verständnis von Kunst als Handwerk und „mache“ durch, wie er es in Die Spange (SW II, 54), das an Théophile Gautiers poetologisches Gedicht L’Art angelehnt ist, zum Ausdruck brachte. Zudem steht der Fiedler in der Tradition anderer kunstvoller, latent ambivalenter oder unheim­ licher Schmiede, etwa Daedalus, Wieland oder Mime in Wagners Ring des Nibelungen. Bei George ist der Ring ein Symbol für den verführerischen Gesang, durch den der Fiedler das Mädchen „mit fesseln umfing“ (SW III, 63).

    34 EM I, 82. H. Stefan Schultz: Überlieferung und Ursprünglichkeit in Stefan Georges Buch der Sagen und Sänge. In: CP 71 (1966), S. 28–39, hier S. 30; HSS 37. 35 Ein besonders beliebtes Verfahren historischer Rollengedichte überhaupt: siehe Dirk Niefanger: Das historische Rollengedicht. In: Geschichtslyrik. Ein Kompendium. Bd. 1. Hg. v. Heinrich Detering u. Peer Trilcke. Göttingen 2013, S. 251–268, hier S. 254. 36 Ebd., S. 37  f. Vgl. Ute Oelmann: Das Mittelalter (wie Anm. 2), S. 138. Vgl. Judith Lange u. Robert Schöller: Von Frauen begraben. Zur Generierung des Frauenlob-Bildes in Mittelalter und Neuzeit. In: Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur. Hg. v. Mathias Herweg u. Stefan Keppler-Tasaki. Berlin 2012, S. 210–225, hier S. 224. 37 Siehe auch die folgende Modellinterpretation. 38 Jan Andres: Mittelalter als Modell? (wie Anm. 5), S. 153. 39 Gunilla Eschenbach: Musik als emotiver Verstärker (wie Anm. 14), S. 134  f. (Da Eschenbach den „fiedler“ mit dem fahrenden Spielmann gleichsetzt, hält sie auch den fahrenden Spielmann für eine Verführer-Figur.)

    

    Das Buch der Sagen und Sänge 

     131

    Neben der konkreten Darstellung bestimmter Dichtertypen enthalten die Sagen und Sänge noch subtilere poetologische Anspielungen und Reflexionen. Welches Verhältnis zur Tradition ist in den Sagen und Sängen implizit ablesbar? Was sagen die Gedichte über ihre eigene Machart aus? George hat in seinen Gedichten auch eine gewisse historische Distanz markiert: Der dösende Ritter träumt „Ahnungsloser schöner zeiten  / Scheues gleiten“ (SW III, 54); der Einsiedler sieht von seinem dahinziehenden Sohn „nur fern noch seinen schild im feld“ (SW III, 55) und der traurige Spielmann vernimmt die Stimme der Geliebten in Gedanken: „Ferne singt sie nach“ (SW III, 60). Auch die Gräber des Ahnen (Sporenwache) und Frauenlobs im Dom, die „steinernen gräber“ und „frostigen pfeiler“ (Das Bild, SW III, 56) sowie die „verwischten wappenschilder“ in der „stadt mit alten firsten und giebelbildern“ (Frauenlob, SW III, 46) signalisieren Vergangenheit. Die Distanz, die in allen diesen Gedichten angedeutet wird, ist symptomatisch für die Art der Vergegenwärtigung der Geschichte im Zyklus Sagen und Sänge: George sieht das Mittelalter nur noch aus der Ferne. Der Schild des ausziehenden Sohnes ist zugleich Sinnbild des Abstands, den der Einsiedler zur Welt hat, und Sinnbild eines entschwundenen Zeitalters von Heldentum und Dienst.40 Auffallend häufig zeigt George seine Figuren im Zustand des Traums oder des HalbWachens: Der Knappe sieht das schöne Mädchen in einer Vision (Sporenwache), der Mönch in Das Bild „wartete träumend“ auf „sichtliche lohnung“ (SW III, 56), der Spielmann hat die Geliebte „im traum gesehen“ (SW III, 58), das Edelkind will „träumen im stillen gelass“ (SW III, 63), die Braut fragt „Bin ich im traum noch?“ (SW III, 66). Dieses Halbdunkel entspricht der Vagheit von Georges Mittelalter-Bildern, die als verinnerlichte und subjektivierte ‚mittelalterliche‘ Stimmungen erscheinen. Diese Vagheit hat George auch in der Vorrede zu den drei Büchern beschrieben: „ererbte vorstellungen“ seien es gewesen, die ihm bei der Imagination der historischen und exotischen Räume „zu hilfe“ gekommen seien (SW III, 7). In poetologischer Hinsicht besonders ergiebig sind die Eröffnungs- und Schlussgedichte der beiden Halbbücher. Sporenwache (SW III, 43  f.), das erste Gedicht der Sagen, schildert eine rituelle Initiationsszene, die nach dem französischen Motiv der veillée des armes als Nachtwache vor dem Ritterschlag gestaltet ist.41 In dem Verhältnis des Edelknechts zum Ahnen, vor dessen prachtvoll gestaltetem Sarkophag er betet, spiegelt sich poetologisch das Verhältnis des jüngeren Dichters zur literarischen Tradition des Mittelalters wider. Der „ahn“ ist tot und liegt „in grauen stein gehauen“ (SW III, 43). Die Tradition muss aktualisiert werden, der Geist des toten Helden geht in der Schlussstrophe auf den jungen Edelknecht selbst über und lebt durch ihn weiter: „Des Tapfren einfalt und des Toten ruhe“ (SW III, 44).42 Bevor dies geschieht, muss

    40 Vgl. Jan Andres: Mittelalter als Modell? (wie Anm. 5), S. 155. 41 Vgl. H. Stefan Schultz: Überlieferung und Ursprünglichkeit (wie Anm. 34), S. 33. 42 Vgl. ebd., S. 29.

    132 

     Jutta Schloon

    der Edelknecht jedoch der sinnlichen Versuchung widerstehen, die ihm in der Vision eines schönen Mädchens erscheint. Die Erlösung bringt nach erfolgreichem Gebet der Anblick einer Marienskulptur mit dem Jesuskind auf dem Arm. Sporenwache zeigt nicht nur den „Triumph einer asketischen Ethik über die Anziehungskraft des Erotischen“ (GHb I, 133), sondern rückt in den widerstreitenden bildlichen Visionen von Ahnengrab, Mädchentraum und Marienskulptur auch das Ästhetische selbst in den Mittelpunkt (GHb I, 133).43 Das letzte Gedicht der Sagen, Das Bild (SW III, 56), variiert das Motiv der Bilderliebe und zugleich das Motiv des Musenkusses in Weihe (SW II, 10), mit dem Unterschied, dass der Musenkuss hier ausbleibt.44 Im Gegenteil: Der Mönch selbst gibt dem Marienbild einen „flehenden kuss“ (SW III, 56). Die ersehnte, aber ausbleibende Erlösung kann sowohl religiös als auch ästhetisch ausgelegt werden.45 Insofern ist der „Zusammenfall von Kunst und Religion zur Kunstreligion […] dem Gedicht zumindest ahnungsweise eingeschrieben“46. Das Bild greift die poetologischen Anspielungen in Sporenwache wieder auf und blickt auf das poetische Unterfangen der Sagen zurück: „Nachdem ich auf steinernen gräbern – an frostigen pfeilern – / Gesungen – gewandelt bei würdiger väter zunft“ (SW III, 56), setzt die Rede eines erschöpften Mönchs in seiner Klosterzelle ein.47 Auch hier wird die Tradition als steinern, kalt und damit unbefriedigend umschrieben.48 Die Wendung „würdiger väter zunft“ deutet auf das Handwerkliche hin, ein Kunstverständnis, wie es die Minnesänger und erst recht die in Zünften organisierten Meistersänger pflegten. Aber nicht nur die erwähnten Grabmäler bilden eine Parallele zu Sporenwache, sondern auch die Art des Gebets, das der Mönch in seiner Zelle spricht. Dieses Gebet ist genauso frei und unkonventionell wie das des Edelknechts: „Entflossen gebete mir ohne anfang und schluss / Wie nie in dem sammtenen buch ich sie ähnlich gefunden“ (SW III, 56) – ein Ausdruck für Georges Wertschätzung für das persönlich Gefühlte im Gegensatz zum bloß Nachgebeteten (HSS 34). Ebenso frei wie Knappe und Mönch mit den Gebettexten geht George selbst mit der mittelalterlichen Texttradition um. In seiner Hoffnung auf ein Zeichen des Bildes ist der Mönch durch Literatur angespornt worden: „bestärkt von den wundergeschichten“ (SW III, 56). Auch die erhoffte Reaktion des Bildes wird als 43 Pirro geht darin allerdings von einem Widerstreit nur von Ahnengrab und Mädchentraum aus – stärker ist der Kontrast zwischen Mädchentraum und Marienskulptur angelegt, die auch ikonographisch angenähert sind (s.  u., Abschnitt Liebe). 44 Joachim W. Storck: Das Bild des Mittelalters (wie Anm. 9), S. 429. 45 Ebd. 46 Bastian Schlüter: Explodierende Altertümlichkeit. Imaginationen vom Mittelalter zwischen den Weltkriegen. Göttingen 2011, S. 264. 47 Der Einstieg in Das Bild entspricht dem Einstieg in Das Ende des Siegers, dem letzten der Hirtengedichte. Vgl. Dennis R. Anderson: Metrics and meaning (wie Anm. 23), S. 261. 48 Vgl. EM I, 86. Zur antiken rhetorischen Topik von Kälte siehe Melanie Möller: „Willst du den leuch­ ten­den himmel […] / Wieder vertauschen […]?“. Zur Antikensymbolik in Stefan Georges „Preis­gedichten“. In: GJb 7 (2008/2009), S. 49–73, hier S. 66.

    Das Buch der Sagen und Sänge 

    

     133

    eine zum Teil textliche imaginiert: Entweder solle sich das Bild „neigen“ oder „erlösende zeichen“ schreiben (SW III, 56). Die Sänge eines fahrenden Spielmanns setzen mit einem Gedicht ein, das eine romantische Poetik reformuliert: „Worte trügen · worte fliehen · / Nur das lied ergreift die seele“ (SW III, 58). In der Skepsis gegenüber dem trügerischen Wesen des rein sprachlich-logischen Ausdrucks und im Glauben an die emotionale Kraft der Verbindung von Wort und Musik finden sich „Relikte einer Poetik der Unmittelbarkeit“49. In einem solchen Verständnis ist der wörtliche Inhalt weniger wichtig als die künstlerische Durchformung an sich.50 Das Gedicht propagiert eine kindlich-einfache, d.  h. ursprüngliche und unberührte Sageweise: „Lass mich wie das kind der wiesen / Wie das kind der dörfer singen“ (SW III, 58). Die Sehnsucht nach Schlichtheit schlägt sich hier auch formal nieder: drei Vierzeiler im Romanzenvers, einfache Sprache, parataktische Syntax.51 Hinter dieser scheinbaren Schlichtheit kommt in den Sängen allerdings eine raffinierte Sprachmusikalität zum Tragen, die ihre Wirkung in diversen Klangfiguren und im kunstvollen Spiel mit verschiedenen Reimkombinationen entfaltet.52 Das Lied erscheint in den Sängen vor allem als Mittel der Liebeswerbung, aber auch als Medium des Trostes: So ich traurig bin Weiss ich nur ein ding: Ich denke mich bei dir Und singe dir ein lied. (SW III, 60)

    Auf die Kraft des Nennens, Andeutens und Aussprechens weist auch das vielschichtige Gedicht Sieh mein kind ich gehe hin (SW III, 60). Es kann auf verschiedenen Ebenen gelesen werden: als Liebeslied, als pädagogisches Lied und als poetologisches Lied.53 In poetologischer Lesart erscheint das Kind „als ausgespart sprachlich umkreiste Geniusfigur für eine Poesie des seelenhaft Ursprünglichen und des Volksgeists“54,

    49 Gerhard Kaiser: „Dichten selbst ist schon Verrat“ (wie Anm. 15), S. 15. Vgl. Gunilla Eschenbach: Musik als emotiver Verstärker (wie Anm. 14), S. 134  f. 50 Vgl. Gabriel Simons: Die zyklische Kunst (wie Anm. 7), S. 392. 51 Vgl. Dennis R. Anderson: Metrics and meaning (wie Anm. 23), S. 265  f. 52 Vgl. Gerhard Kaiser: „Dichten selbst ist schon Verrat“ (wie Anm. 15), S. 13. Vgl. Gunilla Eschenbach: Musik als emotiver Verstärker (wie Anm. 14), S. 135. Zur „berechneten Schlichtheit“ siehe CD 119. 53 Joachim W. Storck: Das Bild des Mittelalters (wie Anm. 9), S. 431  f.; Wolfgang Braungart: „Sieh mein kind ich gehe“. In: CP  50 (2001) H.250, S. 21–27; Ute Oelmann: Anklänge: Stefan George und Ernest Dowson. In: Goethezeit – Zeit für Goethe. Hg. v. Konrad Feilchenfeldt u.  a. Tübingen 2003, S. 313–321; Gerhard Kaiser: „Dichten selbst ist schon Verrat“ (wie Anm. 15); Hans Christian Kosler: Suche nach der schönen Seele (wie Anm. 31); Harald Hartung: Spange, Zwerg, Lied. Über einige Gedichte von Stefan George. In: JbDSG 52 (2008), S. 647–656, hier S. 650. 54 Gerhard Kaiser: „Dichten selbst ist schon Verrat“ (wie Anm. 15), S. 12.

    134 

     Jutta Schloon

    von dem sich der Dichter „unter Schmerzen“ verabschiedet.55 Das Gedicht inszeniert in dieser Lesart ein paradoxales Wechselspiel von vorgeblichem Verschonen und beredtem Verschweigen: Sieh mein kind ich gehe Dass auf deiner wange Nicht der duft verwehe. (SW III, 60)

    Indem der Sprecher durch die mehrfach wiederholte Zeigegeste „Sieh mein kind ich gehe“ ein geheimes Wissen andeutet und ausspricht, tut er letztlich genau das, was er nicht zu tun vorgibt: die Unschuld des Kindes zu verletzen.56 Als „kindliches gemüt“ beschreibt sich auch das lyrische Ich im Mariengedicht Lilie der Auen, dem Abschlussgedicht der Sänge (SW III, 67). Die proklamierte Schlichtheit der Sänge spiegelt sich hier in der Materialästhetik wider: Mit „geäst und moos“ (SW III, 67), einfachen Naturmaterialien, will das lyrische Ich das Marienbild umflechten.57 Aber das Gedicht ist nicht das kindliche Gebet, als das es sich ausgibt:58 Die Rollen- und Machtverhältnisse zwischen Maria und lyrischem Ich sind hier anders verteilt, als es auf den ersten Blick scheint. Der Sprecher schreibt sich selbst die maria­ nische Eigenschaft der Sündenlosigkeit zu und inszeniert sich als Verkünder: „Wenn ich ohne sünde / Deine macht verkünde“ (SW III, 67). Das Gedicht spricht „von Maria in einem Ton inszenierter Innigkeit und Naivität,“ jedoch „tatsächlich subtil vom Anspruch des lyrischen Subjekts selbst“ (WB 202). Solche Paradoxien und Ambivalenzen sind konstitutiv für viele der Sagen und Sänge.

    Heldentum Dichtertum und Heldentum hängen bei George eng zusammen: Sowohl Dichter als auch Held erfüllen einen Dienst, zugunsten dessen sie sinnlichen Versuchungen entsagen müssen. Heldenfiguren spielen in Gestalt ritterlicher Helden vor allem in den Sagen eine wichtige Rolle, entsprechend dem üblichen Personal des Genres Sage. In den Sängen eines fahrenden Spielmanns klingt das Helden-Thema dann nur noch vereinzelt nach: Im Lied des zwergen wird eines der Kinder zum Ritter bestimmt („Dir ein schwert – dir ein speer –“, SW III, 65), und in Erwachen der braut erklingt das Lied der „himmelshelden“ (SW III, 66).

    55 Ebd., S. 18. 56 Ebd., S. 10  f. Vgl. auch RK 41. 57 Es ist möglich, dass dies auf einer sehr konkreten Ebene auch auf einen realen lokalen Brauch verweist (HSS 54). 58 Vgl. CD 119; WB 202.

    

    Das Buch der Sagen und Sänge 

     135

    In den Sagen sind die Helden typischerweise jung (Sporenwache, Die Tat, Der Einsiedel), vollbringen Heldentaten wie die Tötung eines Drachens (Die Tat, Im unglücklichen Tone dessen von …), ziehen aus in unwirtliche Gegenden und ferne Länder (Die Tat, Im unglücklichen Tone dessen von …, Der Waffengefährte, Der Einsiedel) und sind bereit, körperliche Versehrungen in Kauf zu nehmen (Im unglücklichen Tone dessen von …, Irrende Schar) oder sogar den Heldentod zu sterben – etwa im Kampf gegen die Überzahl, wie in Der Waffengefährte geschildert. Damit greift George typische Strukturmerkmale von Heldensagen auf: Ausfahrt, Bewährungsprobe, Kontrast zwischen zivilisierter und unzivilisierter Welt (beispielsweise symbolisiert durch Burg und Wald in Die Tat, SW III, 45). Im Kontrast zu den aktiven Helden zeigt George zum Abschluss des Zyklus Heldenfiguren in Situationen der Schläfrigkeit und Einkehr: In Vom Ritter der sich verliegt (SW III, 54) deutet George den ursprünglich erotisch besetzten mittelalterlichen Ausdruck aus Hartmanns Erec-Roman im Sinne von bloßer Unfähigkeit zur Tat um.59 Das Gedicht Der Einsiedel (SW III, 55) zeigt, vielleicht in Abstraktion einer Szene aus Parzival, neben dem jungen Ritter den mönchischen Einsiedler. Diese beiden Typen repräsentieren die zwei Formen mittelalterlichen Lebens, das ritterliche und das mönchische Leben (vita activa und vita contemplativa, FG3 99). Aber auch das Heldentum selbst ist in Sporenwache und Irrende Schar religiös aufgeladen, entlang des Ideals des christlichen Ritters orientiert. Während Sporenwache und Irrende Schar Helden zeigen, die sich in ein Kollektiv einfügen oder im Kollektiv agieren, steht in Die Tat (SW III, 45) ein einzelgängerischer Held im Mittelpunkt. Helden- und Liebesmotiv überlagern sich hier, denn die Heldentat des Knappen ist aus „trotz und trauer“ über seine unglückliche Liebe zur Nachbarstochter geboren, die in Anspielung auf die ambivalente Wasserfrau der altfranzösischen Sage „Melusine“60 genannt wird (SW III, 45). In der Metapher „der bodenblumen heer“ im ersten Vers fallen militärische und amouröse Konnotation zusammen, wenn man die zahlreichen „bodenblumen“ als Bild für all die Frauen liest, die an Melusine nicht heranreichen und dem Knappen deshalb gleichgültig sind.61 Die Demütigung durch Melusine kompensiert der Knappe durch eine Machtfantasie, die ihm beim Blick in den Brunnen aufscheint: „Vielleicht darin sich sehend ruhm- und blutbedeckt“. George zeigt den Knappen als einen eigenmächtigen, sogar blutrünstigen Drachentöter,62 der durch die Heldentat am Ende seinen Weg gefunden hat: „Verfolgt er seine bahn erhellt vom fackelbrand · / Die schönen blicke still und grad zum himmelrand“ (SW III, 45). Eine ähnliche Verklärung findet in der Schlussstrophe von Irrende Schar statt: 59 Vgl. EM I, 85, und Jan Andres: Mittelalter als Modell? (wie Anm. 5), S. 152. 60 Anhang SW III, 129. 61 Vgl. zur militärischen Konnotation: EM I, 81, und zur amourösen Konnotation Natasha Grigorian: The Poet and the Warrior (wie Anm. 8), S. 183. 62 Vgl. Robert E. Norton: Secret Germany. Stefan George and his circle. Ithaca  2002, S. 180  f. und HSS 36.

    136 

     Jutta Schloon

    In sänge fliesst ihr erdenwallen Bei festlich rauschendem getön · Sie werden selig unter hallen Die unvergänglich neu und schön. (SW III, 51)

    In dieser „Heldenballade“63, die vage auf den mittelalterlichen Orden der Tempelritter und die Gralssage anspielt (EM I, 84), hat George die Apotheose der Helden im Medium des Gesangs beschrieben: Erst die dichterische Vergegenwärtigung macht die Helden unsterblich.64 Hierin zeigt sich das traditionell komplementäre Verhältnis von Dichter und Held: Der Dichter sichert den Nachruhm des Helden durch literarische Verewigung und der Held liefert im Gegenzug dem Dichter den Stoff für seine Dichtung.65 Als „Gründungsurkunde des George-Kreises“ lässt sich Irrende Schar zwar nicht direkt ansehen (RK 39), wohl aber sind die in den Sagen gezeigten Modelle heroischer Gemeinschaften und des „Heroismus des verlorenen Postens“ (RK 40) symptomatisch für ein „Minderheitenbewusstsein“ (DP 90), das sich auch in vielen späteren Gedichten Georges ausspricht.

    Liebe Liebe erscheint im Buch der Sagen und Sänge als zutiefst problematisches Unterfangen. Konstitutiv sind die für George typischen Motive von Liebesverzicht und Liebessehnsucht66 sowie die Überlagerung von erotischer und religiöser Dimension. Schon in Sporenwache (SW III, 43  f.) wird die Liebesproblematik paradigmatisch als Konflikt zwischen zwei Frauentypen inszeniert, welche die irdische und die himmlische Liebe repräsentieren. Der Edelknecht hat zwei gegensätzliche Visionen: In Gedanken sieht er ein Mädchen in einem Garten, worauf wenig später die Vision Marias mit dem Jesuskind folgt. Das Mädchen ist Maria ikonographisch angenähert durch das Motiv des Gartens bzw. hortus conclusus, durch ihre Jungfräulichkeit („viel mehr ein kind als eine maid“) und ihre ästhetisierte Gestalt („In ihrem haare goldne flocken schienen / Sie trug ein langes sternbesticktes kleid“ [SW III, 44]). Trotzdem erscheint dem Edelknecht die Vision des Mädchens als Versuchung, die ihm der Teufel eingege63 Vgl. Markus Neumann: „Irrende Schar“: Brechts „Ballade von den Seeräubern“ als George-Kontrafaktur. In: Germanistik 15 (2005), 2, S. 387–394, hier S. 391. 64 Vgl. Markus Neumann: „Irrende Schar“ (wie Anm. 63), S. 391. Vgl. Jan Andres: Mittelalter als Modell? (wie Anm. 5), S. 157. Auch der prunkvolle Sarkophag des Ahnen in Sporenwache verewigt die Taten des verstorbenen Helden in der Form eines Kunstwerks, das als „zeugnis echten heldenhaften wertes“ (SW III, 43) die Zeiten überdauert. 65 Zum Motiv ‚Dichter und Held‘ siehe Gerhard Kaiser: „Dichten selbst ist schon Verrat“ (wie Anm. 15), S. 6. 66 Vgl. Gabriel Simons: Die zyklische Kunst (wie Anm. 7), S. 383.

    

    Das Buch der Sagen und Sänge 

     137

    ben hat und die es abzuwehren gilt. Er entsagt der irdischen Liebe und gelobt, „zum lezten male schwach“ (SW III, 44) gewesen zu sein.67 Andeutungsweise zeigen sich hier bereits die beiden stereotypen Frauenbilder, zwischen denen auch die meisten anderen Sagen und Sänge oszillieren: die Verführerin und die Heilige – Melusine und Maria. Das Weibliche wird dämonisiert, weit häufiger jedoch sakralisiert. Die in beiden Fällen große Distanz zwischen dem Liebenden und der Geliebten kommt auch räumlich zum Ausdruck, wenn die Dame etwa in einem Turm wohnt (Die Tat, SW III, 45) oder von einem Balkon herunterschaut (Ein edelkind sah vom balkon, SW III, 63). Die Idee des Minnedienstes und die dazugehörige Lehensterminologie von „dienen“, „knien“ und „lohn“ verleihen den Sagen und Sängen eine speziell mittelalterliche Tönung. Neben dem Genre der Minneklage (Im unglücklichen Tone dessen von …)68 greift George auch das Genre Tagelied auf (SW III, 48). Im Gattungsgefüge des mittelalterlichen Minnesangs ist das Tagelied diejenige Gattung, in welcher der morgendliche Abschied zweier Liebender nach einer glücklichen Liebesnacht besungen wird. George verwandelt die Eindeutigkeit der typischen Tageliedsituation in ein changierendes Bild. Er gestaltet ein Wechselspiel zwischen Anziehung und Rücknahme, Sakralisierung und Körperlichkeit. Sowohl die Keuschheit als auch die Heiligkeit des Liebespartners werden in das Auge des Betrachters verlagert: „Dein ganzer leib mir lieb und heilig ist“ (SW III, 48). Wie hier die erotische Liebe in religiöser Einkleidung erscheint, so ist die religiöse Liebe in Das Bild mit erotischen Zügen versehen: Der Mönch stellt sich die Reaktion des Bildes fast wie eine körperliche Vereinigung vor, jedenfalls deutet das Vokabular dies an: Und wenn es endlich auf meine lagerstatt Sich neigte oder erlösende zeichen mir schriebe .. Ich glaube mein arm ist bald zum umfangen zu matt · Auf meinen lippen erlosch die brennende liebe. (SW III, 56)

    Vor dem Hintergrund der Liebesgedichte in den Sagen und Sängen erscheint die Frage des lyrischen Ich an die „Herrin“ in Lilie der Auen genauso zweideutig: „Schenkst du mir worum ich lange bat?“ (SW III, 67). Es bleibt unklar, ob das lyrische Ich sich von Maria wünscht, seine Geliebte möge ihn erhören, oder ob sich dieser Wunsch wie in Das Bild sogar auf Maria selbst richtet. In der Figur der „Herrin“ verbinden sich bei George „geliebte Frau, Heilige (Maria) und Muse und somit Eros, Religion und Dichtung“69. 67 Das Motiv der sinnlichen Versuchung und des Liebesverzichts ist neben Sporenwache auch in Die Tat und in Der Waffengefährte geschildert, wo der ältere Freund den jüngeren vor den „süssen stimmen“ aus dem „sündeschloss“ beschützt (SW III, 52). 68 Siehe auch die folgende Modellinterpretation. 69 Ute Oelmann: Das Mittelalter (wie Anm. 2), S. 141. Vgl. Hubert Arbogast: Nachwort (wie Anm. 14), S. 22.

    138 

     Jutta Schloon

    Die Sänge eines fahrenden Spielmanns entwickeln das Liebesthema aus den Sagen in stärker subjektivierter Form weiter: Ein Spielmann singt Lieder an die Geliebte, die er „im traum gesehen“ hat (SW III, 58). Er schwankt dabei zwischen Traurigkeit, Hoffnung, Verzweiflung und Resignation. Auffallend ist die ausgeprägte Naturmetaphorik, die an die Natureingänge des frühen Minnesangs denken lässt und im gesamten Zyklus konsequent eingesetzt wird.70 Tautropfen sind mit Tränen parallelisiert (Aus den knospen quellen sachte, SW III, 58), warme Morgenluft mit dem Atem des raunenden Geliebten (Dieses ist ein rechter morgen, SW III, 61). Ebenso korrespondiert die Frühlingskulisse mit der inneren Stimmung des Edelkinds (Ein edelkind sah vom balkon, SW III, 63).71 In diesem Gedicht sowie in Erwachen der braut kommen erstmals Frauenfiguren selbst zu Wort.

    Das Buch der Sagen und Sänge in seiner Zeit Anfang der 1890er Jahre geschrieben, erscheint Georges Buch der Sagen und Sänge als Produkt eines geschichtsversessenen Jahrhunderts, in dem das Mittelalter in Philologie, Geschichtsschreibung und Literatur omnipräsent war. Auf die „Versatzstücke historistischer Bildungsbestände“72 konnte George zurückgreifen wie jeder andere auch. Jedoch unterschieden sich seine ästhetischen Imaginationen vom Mittelalter fundamental von dem nationalromantisch gefärbten Mittelalter seiner deutschen Zeitgenossen.73 Den deutschtumsfixierten Definitionsversuchen einer Nationalkultur im Wilhelminischen Kaiserreich setzte er den Verweis auf die übernational-katholische romanische Kulturtradition entgegen. Im Anschluss an die literarische Avantgarde Frankreichs und Belgiens fand George Ausdrucksformen, die damals in Deutschland etwas vollkommen Neues und Eigenes darstellten. Diese symbolistischen Gestaltungsmittel zu erproben, war sein wesentliches Anliegen. Dabei war es gleichgültig, ob die zugrunde liegenden Stoffe aus dem Mittelalter oder aus dem 19. Jahrhundert, aus dem höfischen Roman oder aus dem Märchen stammten: „wesentlich ist die künstlerische umformung eines lebens – welches lebens? ist vorerst belanglos.“ (BfdK III, 1, S. 1) Es kam George also nicht auf den Entwurf von historischen und korrekten Geschichtsbildern an, vielmehr diente ihm das Mittelalter als Bildinventar und Imaginationsraum. Seine ganz eigene Weise, diesen Raum poetisch zu öffnen und zu erschreiben, ist letztlich auch Ausdruck eines ästhetischen und ideologischen Sich-Verwahrens: In ihm

    70 Vgl. Gunilla Eschenbach: Musik als emotiver Verstärker (wie Anm. 14), S. 131. 71 Vgl. ebd., S. 131  f. 72 Bastian Schlüter: Explodierende Altertümlichkeit (wie Anm. 46), S. 262. 73 Joachim W. Storck: Das Bild des Mittelalters (wie Anm. 9), S. 433.

    Das Buch der Sagen und Sänge 

    

     139

    erkennt man deutlich Züge eines rheinischen Katholizismus,74 mit privat wirkenden Szenen in einer Bilderfolge, die Salier und Staufer, ja überhaupt namentlich genannte Herrscher noch geradezu konsequent ausblendet.

    Interpretationen von Im unglücklichen tone dessen von … (SW III, 49) und Das lied des zwergen (SW III, 64–65) Viele Gedichte des Buchs der Sagen und Sänge changieren zwischen Konventionalität und Ambivalenz. Sie spielen auf Elemente der Tradition an, auf mittelalter­liche Namen, Topoi, Motive und Formen. Gleichzeitig erscheinen diese Elemente in moderner Brechung, mit individuellen Noten und Pointen. Diese Überblendungseffekte, das Zwielichtige und Uneindeutige sind es, die einen Großteil der Faszination und Anziehungskraft von Georges Dichtungen ausmachen. Exemplarisch sollen nun zwei Gedichte ausführlich interpretiert werden, in denen das Charakteristische des mediävalisierenden Zyklus Sagen und Sänge besonders gut zum Ausdruck kommt: Im unglücklichen Tone dessen von … (SW III, 49) aus den Sagen und Das lied des zwergen (SW III, 64  f.) aus den Sängen eines fahrenden Spielmanns. Die ersten fünf Gedichte der Sagen behandeln die Themen Ritterdienst und Frauen­dienst (s.  o.). Das Gedicht Im unglücklichen Tone dessen von … (SW III, 49) ist das fünfte und letzte dieser Reihe: Im unglücklichen Tone dessen von … Löset von diesem brief sanft den knoten · Empfanget ohne groll meinen boten · Denket er käme von einem toten! Als ich zuerst euch traf habt ihr gesprochen: ›Dort haust ein wurm der jeden feind verachtet‹ Zu seinen klüften bin ich flugs gesprengt · Nach heissem ringen hab ich ihn erstochen · Doch seitdem blieb mein haar versengt – Worob ihr lachtet.

    74 Vgl. Bernhard Böschenstein: Georges widersprüchliche Mittelalter-Bilder und sein Traum der Zukunft. In: Ist mir getroumet mîn leben? Vom Träumen und Anderssein. Festschrift für Karl-Ernst Geith zum 65. Geburtstag. Hg. v. André Schnyder u.  a. Göppingen 1998, S. 207–213, hier S. 207.

    140 

     Jutta Schloon

    ›Ich hätte gern den turban des korsaren‹ So scherztet ihr – ich folgte blind Und bin aufs meer in lärm und streit gefahren · Mit meinem linken arme musst ich’s büssen · Den turban legt ich euch zu füssen · Ihr schenktet ihn als spielzeug einem kind. Ihr saht wie ich mein glück und meinen leib In eurem dienst verdarb · Euch grämte nicht in fährden mein verbleib · Ihr danktet kaum wenn ich in sturm und staub Euch ruhm erwarb Und bliebet meinem flehen taub. Nun leid ich an einer tiefen wunde · Doch dringt euer lob bis zur lezten stunde · Schöne dame · aus meinem munde.

    Bereits der Titel signalisiert, dass es sich bei diesem Gedicht um ein Pastiche einer bestimmten Sageweise handelt, um das Weiterdichten eines konventionalisierten ‚Tons‘. George formuliert den Titel so, dass neben der allgemeinen Verwendung von ‚Ton‘ im Sinne von Klangweise oder Musikart auch die mittelalterliche Bedeutung des Terminus aufscheint. In der mittelalterlichen gesungenen Dichtung und im Meistersang meint ‚Ton‘ (don) die metrisch-musikalische Einheit von Strophenform und Melodie. Die Erfindung neuer Töne und das Weiterdichten in bekannten Tönen gehörten zu den formalen Eigenheiten des Minnesangs. George schreibt den ‚unglücklichen Ton‘ vorgeblich einem einzelnen Autor zu, verschweigt aber dessen Namen hinter Auslassungspunkten – ein vor allem in der erzählenden Literatur bekannter Kunstgriff, um historische Authentizität zu suggerieren und gleichzeitig die Identität des Erzählers oder einer erzählten Figur zu verschleiern. Imitiert wird die Sitte, vor manche Eigennamen den definiten Artikel zu setzen, und die für viele Minnesänger typische Namensbildung mit Orts- oder Adelspartikel ‚von‘ (Der von Kürenberg). Die Benennung eines ‚unglücklichen Tons‘ ist offensichtlich ein Nullverweis ohne reales Korrelat in der mittelhochdeutschen Lyrik – einen ‚unglücklichen Ton‘ hat es nicht gegeben. Das Adjektiv ‚unglücklich‘ gibt also lediglich die Grundstimmung des Gedichts vor. In der Tat handelt es sich um ein Klagelied: Das männliche lyrische Ich bedauert die abweisende Haltung der umworbenen Dame, die sein Werben nicht erhört. George wählte dafür die aparte Form eines fiktiven Minnebriefs, einer vor allem im höfischen Epos verbreiteten und seit dem Spätmittelalter auch selbständigen lyrischen Form.1 Das lyrische Ich spricht die Dame zwar direkt an („ihr“), aber die Kommunikation ist durch zwei

    1 Otto Knörrich: Lexikon lyrischer Formen. Stuttgart 1992, S. 148.

    

    Das Buch der Sagen und Sänge 

     141

    Instanzen vermittelt: zum einen durch den Brief, zum zweiten durch die Figur des Boten, die ebenfalls zum typischen Personal des Minnesangs gehört. Im unglücklichen Tone dessen von … besteht aus fünf Strophen, von denen die erste und die letzte jeweils nur drei Verse umfassen, während die drei inneren Strophen die doppelte Versanzahl aufweisen.2 Der Minnebrief gliedert sich in vier Abschnitte: einleitende Anrede (V. 1–3), Aufzählung der Klage-Gründe (V. 4–15), Zusammenfassung der Klage (V. 16–21) und Schlussfolgerung (V. 22–24). Die rhythmisch unregelmäßigen Verse der umschließenden Strophen unterlaufen die Contenance, die hier inhaltlich fingiert wird, und weisen bereits auf die affektive Dissonanz zwischen den beiden Partnern hin. Die mittleren drei Strophen bestehen aus unterschiedlich langen, aber rhythmisch gleichmäßig jambischen Versen. Das wechselnde Reimschema sorgt für spannungsreiche Verknüpfungen. George verleiht diesem Gedicht durch sparsam verwendete Archaismen historisches Kolorit: interkonsonantisches ‚e‘3 (V. 1–3), das mittelhochdeutsche Wort „wurm“ für Lindwurm/Drachen und der altertümliche Ausdruck „in fährden“ für „in Gefahr“ (von mhd. værde).4 In der ersten Strophe versucht das lyrische Ich, die Briefempfängerin zu besänftigen und sie für die Aufnahme der Botschaft gewogen zu machen. Die Aufforderung, die Dame solle ihn für tot halten, spitzt die Sprechsituation dramatisch zu, was typografisch noch durch ein Ausrufezeichen unterstrichen wird: Das lyrische Ich sendet sozusagen seine ‚letzten Worte‘. Dies wird in der Schlussstrophe noch ein zweites Mal angedeutet: „bis zur lezten stunde“. In ähnlicher Weise hat George das historische Rollengedicht Frauenlob inszeniert, das den sterbenden Dichter dabei zeigt, wie er noch in seinen letzten Atemzügen die Frauen lobt. In der zweiten und dritten Strophe zitiert das lyrische Ich jeweils einen Wunsch der Briefempfängerin und berichtet von den Strapazen, welche die Erfüllung dieses Wunsches mit sich brachte. Der nur fünfsilbige Vers, der die zweite Strophe abschließt, spiegelt die Verstörung des lyrischen Ich angesichts der Reaktion der Angebeteten wider: „Doch seitdem blieb mein haar versengt – / Worob ihr lachtet.“ Die Diskrepanz zwischen dem hartherzigen Verhalten der Dame und dem treuen Liebesdienst des lyrischen Ich ist drastisch geschildert, ja erscheint fast grotesk übersteigert. Die Dame erscheint hier leichtfertig („So scherztet ihr“), grausam, vielleicht sadistisch – eine femme fatale in mittelalterlichem Gewand oder auch eine Inkarnation der bei den fran-

    2 Anderson meint hierin eine freie Madrigalform zu erkennen. Vgl. Dennis R. Anderson: Metrics and meaning in the early poetry of Stefan George. Diss. Buffalo 1975, S. 248. 3 Vgl. Ingrid Leitner: Sprachliche Archaisierung. Historisch-typologische Untersuchung zur deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. u.  a. 1978, S. 11. 4 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde.. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig  1971. Bd. 3,  Sp. 1247. Vgl. den Ausdruck „In Fährden und Nöten“ in Ludwig Uhlands Gedicht Der Überfall im Wildbad. Die nach dem Befund der handschriftlichen Korrekturen erhobene Annahme, George habe ‚fährden‘ synonym zu ‚fahren‘ benutzt, ist also nicht zwingend (Anhang zu SW III, 132).

    142 

     Jutta Schloon

    zösischen Symbolisten so beliebten Figur der belle dame sans merci.5 Zweimal stellt die Dame den liebenden Mann auf die Probe und fordert Taten als Liebesbeweise. Sie wünscht sich, dass er einen Drachen tötet und ihr „den turban des korsaren“ bringt. Zwei gefährliche Taten, für die der Minnesänger in widrige und fremde Landschaften vordringen muss – in die Tiefe der „klüfte[]“ und auf die Weiten des Meeres. Die raue Natur spiegelt die Widerspenstigkeit der Dame wider, und zugleich spielen diese Ausfahrten auf die Abenteuerfahrten der Ritter in den höfischen Romanen des Mittelalters an (aventiûren). Mit der Nennung des „turban[s] des korsaren“, der vielleicht einem der berüchtigten sarazenischen Piraten gehört, beschwört George zudem eine diffus orientalische Atmosphäre herauf und weist damit bereits auf die Szenerien im Buch der hängenden Gärten voraus. Die Grausamkeit der Dame kontrastiert mit dem steten Dienst des Liebenden, der auf seinen Fahrten schwere körperliche Schäden davonträgt, wie das Gedicht drastisch schildert: verbranntes Haar und Verlust des linken Arms. Die beiden letzten Strophen bewegen sich in einer Spannung zwischen Konventionalität und Ambivalenz. Konventionell begreift sich das lyrische Ich als Minne-Diener und beklagt die Unnahbarkeit der Dame („[Ihr] bliebet meinem flehen taub“), wobei pointierte Doppelformeln („mein glück und meinen leib“, „in sturm und staub“) die Klage intensivieren. Aber die beiden Schlussverse lassen die Konventionalität des Bildes ambivalent erscheinen: „Doch dringt euer lob bis zur lezten stunde · / Schöne dame · aus meinem munde.“ Wie H. Stefan Schultz (HSS  41) gezeigt hat, entsprechen Georges Haufenreim „wunde“  – „stunde“  – „munde“ Reimworte in Schillers Ballade Der Handschuh („Munde“ – „Kunigunde“ – „Stunde“).6 Im unglücklichen Tone dessen von … ist also zugleich auch eine Antwort auf Schillers Ballade, in der das gleiche Motiv gestaltet ist:7 Eine Dame fordert vom liebenden Ritter einen gefährlichen Liebesbeweis. Bei Schiller reagiert der Ritter auf diese Provokation, indem er voll stolzer Verachtung den Dank der Dame zurückweist: „Den Dank, Dame, begehr ich nicht“. Im Gegensatz zu Schiller, wo der Ritter nach überstandener Gefahr als strahlender Held unverletzt zurückkommt, hat jedoch Georges Held heftige Einbußen erlitten. Man kommt nicht umhin, sich den Ritter bildlich vorzustellen: ein angekokelter Glatzkopf ohne linken Arm. Die äußere Versehrung des Ritters gerät in immer größeren Kontrast zu seiner inneren Idealität  – dieser Gegensatz hat durchaus ironisches Potential.8 Die inter-

    5 Zum Mythem der ‚belle dame sans merci‘ siehe Natasha Grigorian: European Symbolism. In Search of Myth (1860–1910). Oxford u.  a. 2009, S. 184  f. 6 Die Ballade Der Handschuh findet sich in Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Bd 1. Gedichte. Dramen 1. München 1987, S. 376  f. 7 H. Stefan Schultz: Über das Verhältnis Stefan Georges zu Schiller. In: Friedrich Schiller 1759–1959. Bern u. München 1961 (Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung 4), S. 109–129, hier S. 117. 8 Zu Georges Verhältnis zu Parodie und Satire siehe Gunilla Eschenbach: Imitatio im George-Kreis. Berlin u. New York 2011, S. 17  f. u. S. 142–145.

    

    Das Buch der Sagen und Sänge 

     143

    textuelle Referenz verstärkt den Eindruck einer Persiflage sowohl auf Schiller als auch auf den mittelalterlichen Minnedienst, der hier pervertiert erscheint als vergeblicher Dienst an einer Art femme fatale. Aber auch Trotz schwingt mit, denn der Geschundene spricht selbst und hält an seinen Idealen fest, auch wenn es ihn Leib und Leben gekostet hat. Er beweist dadurch „ritterliche Haltung“9, wie sie ähnlich auch in Jean Moréas’ Gedicht Pleurer un peu aus der Sammlung Les Cantilènes (1886) geschildert ist, das George sich abgeschrieben hat.10 Am Ende behält der Briefschreiber das letzte (gedichtete) Wort: „aus meinem munde“. Er stirbt sozusagen mit einem Lied auf den Lippen, als Ausweis seiner Entscheidung zu dichten. Der Dichter beweist dadurch auch seine Macht und Souveränität: Nur durch sein Lob, durch seinen Gesang wird aus der grausamen Dame eine „schöne dame“. So führt diese Strophe neben unerschütterlicher Treue zum Ideal auch die Macht des Dichterwortes vor. Insofern oszilliert Im unglücklichen Tone dessen von … zwischen dem Ironischen und Nicht-Ironischen. Das Briefgedicht präsentiert sich als ambivalente Minneklage, die zunächst die sadistische Grausamkeit der Dame mit dem steten Dienst des Liebenden kontrastiert, um am Ende in einer poetologischen Wendung die Macht des Dichterwortes zu verkünden. Der verrätselnde Titel prätendiert das Weiterdichten eines überlieferten ‚Tones‘ und verweist damit auf die Tradition des Minnesangs. George dichtet aber nicht nur die mittelalterliche Tradition weiter, sondern auch die Tradition der modernen Mittelalter-Rezeption seit etwa 1800, wie der intertextuelle Bezug auf Schillers Der Handschuh und die Ähnlichkeit mit symbolistischen Motiven beispielsweise eines Jean Moréas zeigt. Insofern bedeutet der Titel Variations sur thèmes germaniques der als erstes geschriebenen Sage ein ganzes Programm. Während George in den Sagen die Welt des höfischen Mittelalters mit seiner Ritterkultur, heroischen Abenteuern und seelischen Konflikten heraufbeschwört, wechselt er in den Sängen eines fahrenden Spielmanns die Stilkategorie: In volksliedhaftem Ton singt der Spielmann von Liebeserwartung und Liebesleid. Als „kind“ (SW III, 60) spricht der Spielmann das geliebte Wesen an, ein Fiedler trägt Lieder vor einem „edelkind“ vor (SW III, 63), der Spielmann singt von einer „braut“ (SW III, 66) und zum Schluss sogar ein an Maria, die Himmelsbraut, gerichtetes Lied (SW III, 67). Zu dieser von Kinder- und Frauenfiguren geprägten Welt tritt in den Sängen eines fahrenden Spielmanns zudem noch ein singender Zwerg. Das aus drei kurzen Gedichten11 bestehende Lied des zwergen (SW III, 64  f.) zählte Walter Benjamin zu den „reinsten und

    9 HSS 41 und H. Stefan Schultz: Über das Verhältnis Stefan Georges zu Schiller (wie Anm. 7), S. 118. Vgl. RK 40 und Natasha Grigorian: European Symbolism (wie Anm. 5), S. 184. 10 H. Stefan Schultz: Über das Verhältnis Stefan Georges zu Schiller (wie Anm. 7), S. 118. Zum Vergleich der beiden Gedichtschlüsse von George und Moréas siehe Natasha Grigorian: European Symbolism (wie Anm. 5), S. 185. 11 Nur das erste Gedicht ist handschriftlich überliefert. Das zweite und dritte Gedicht hat George zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt (siehe Anhang zu SW III, 127).

    144 

     Jutta Schloon

    vollkommensten Gedichte[n] von George“12. In seinem Rückblick auf Stefan George aus dem Jahr 1933 beklagte Benjamin Georges Wandlung zum Propheten einer „Priesterwissenschaft“ – denn es war der „Spielmann“ George, den Benjamin schätzte, der Spielmann, dessen Gedichte der Jugend zu Beginn des 20. Jahrhunderts „Trostgesang“ gewesen seien.13 Aber wie kam George auf die Idee, dem Spielmann ausgerechnet ein Zwergen-Lied in den Mund zu legen, da doch alle anderen Sänge auf die eine oder andere Art Liebeslieder sind? Eine naheliegende Antwort gibt Georges Nachlass: In diesem befindet sich eine Reclam-Ausgabe mit dem Titel Zwergkönig Laurin. Ein Spielmannsgedicht aus dem Anfang des  13. Jahrhunderts.14 Es erscheint zumindest nicht unplausibel, dass die Genrebezeichnung „Spielmannsgedicht“ im Untertitel bei George für eine assoziative Verknüpfung der Spielmannsdichtung mit der Figur des Zwergen gesorgt hat und der Zwerg ihm deshalb ins Stoffrepertoire eines fahrenden Spielmanns zu passen schien. Das Lied des zwergen lautet: I Ganz kleine vögel singen · Ganz kleine blumen springen · Ihre glocken klingen. Auf hellblauen heiden Ganz kleine lämmer weiden · Ihr fliess ist weiss und seiden. Ganz kleine kinder neigen Und drehen sich laut im reigen – Darf der zwerg sich zeigen? II Ich komme vom palaste Zu eurer kinder tanz In ihrem frohen kranz Will eines mich zu gaste?

    12 Walter Benjamin: Rückblick auf Stefan George. Zu einer neuen Studie über den Dichter. In: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Hg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt/M. 1972, S. 392–399, hier S. 399. 13 Ebd., S. 398  f. Zu weiteren Bezügen Benjamins auf Das Lied des zwergen siehe Jan Andres: Mittelalter als Modell? Gedanken zu Stefan George. In: Modell Mittelalter. Hg. v. Victoria von Flemming. Köln 2010, S. 145–167, hier S. 159. 14 Zwergkönig Laurin. Ein Spielmannsgedicht aus dem Anfange des 13. Jahrhunderts. Aus dem Mittelhochdeutschen übers. v. L. Brückmann u. H. Hesse, Leipzig o.  J. Siehe die Auflistung der Quellen bei Ute Oelmann: Das Mittelalter in der Dichtung Georges. Ein Versuch. In: Geschichtsbilder im GeorgeKreis. Wege zur Wissenschaft. Hg. v. Barbara Schlieben, Olaf Schneider u. Kerstin Schulmeyer. Göttingen 2004, S. 133–145, hier S. 134  f.

    Das Buch der Sagen und Sänge 

    

     145

    Der ich mich scheu verberge Ich habe kron und thron · Ich bin der feien sohn Ich bin der fürst der zwerge. III Dir ein schloss · dir ein schrein – Fülle aller schätze und ihr glanz sei dein! Dir ein schwert · dir ein speer – Zarter gunst der schönen sei dein weg nie leer. Dir kein ruhm · dir kein sold – Dir allein im liede liebe und gold. (SW III, 64  f.)

    Handelt es sich bereits bei den Sängen eines fahrenden Spielmanns um Rollenlyrik, so potenziert George hier die Rollenfiktion, indem er die Gedichte einem Zwerg in den Mund legt – die Überschrift war von George dazu gedacht, „mitgesungen oder mi­trezitiert zu werden“ (EM I, 90). Die Sprechsituation, zumal die des ersten Gedichts, ist jedoch nicht ganz eindeutig: Zum einen ist denkbar, dass der Zwerg das gesamte Lied spricht bzw. singt. Zum anderen ist das Lied aber auch als eine Art szenisches Spiel mit verschiedenen Rollen denkbar, bei dem das erste Gedicht von einem Erzähler und die beiden anderen Gedichten von einem Zwergen-Darsteller gesprochen werden. Das lied des zwergen lebt aus dem Kontrast zwischen augenscheinlicher äußerer Kleinheit und verborgener innerer Größe (Machtfülle). Zunächst entwerfen die drei Strophen des ersten Gedichts (I) das Bild einer idyllischen ‚kleinen Welt‘. Die nur durch Bindestrich vermittelte Frage nach dem Erscheinen des Zwergs im letzten Vers des ersten Gedichts leitet über zum zweiten Gedicht: Der Zwerg zeigt sich. Im dritten und letzten Gedicht beweist der Zwerg seine Machtfülle, indem er drei Kinder mit Gratifikationen bedenkt, die über ihr weiteres Schicksal bestimmen werden. Die Dreizahl bestimmt den Aufbau des Lieds des zwergen: Das erste und das dritte Gedicht bestehen aus jeweils drei Strophen; jede Strophe des ersten Gedichts hat wiederum drei Verse und schließlich sind alle Verse der ersten zwei Gedichte jambische Dreiheber (mit Ausnahme von I, 3 u. 9). Diese zahlenspielerischen Dreieranalogien in der Makro- und Mikrostruktur halten die drei Gedichte des Zwergen-Liedes aber nur unvollständig zusammen. Das zweite Gedicht mit seinen zwei Strophen zu jeweils vier Versen schafft in der Mitte des Lieds eine Symmetrie. Im dritten Gedicht sind die Strophen auf jeweils nur zwei Verse verknappt, dafür ist jedoch jeder einzelne Vers zum Langvers mit vier, fünf oder sechs Hebungen erweitert. Auch die Reime variieren: Auf die Haufenreime des ersten Gedichts folgen die umarmenden Reime des zweiten und die Paarreime des dritten Gedichts. Von der überwiegend jambischen Gestaltung

    146 

     Jutta Schloon

    des Lieds heben sich die trochäischen Verse des ersten Gedichts (I, 3 u. 9) und des dritten Gedichts (III, 1–6) ab, indem sie gravitätische Schlusspunkte setzen. Insgesamt weist Das lied des zwergen eine disparate, aber dennoch formierte metrische und strophische Gestaltung auf. Die Gedichte scheinen einen Volkslied-Ton zu imitieren und gleichzeitig zu unterlaufen: Jamben (I + II), Vierzeiler (II), Haufenreim (I) deuten darauf hin, aber die Verkürzung auf Dreiheber lässt im Vergleich zur geläufigen Volksliedstrophe eine Hebung vermissen. Die Naivität der Volksliedstrophe wird hier demonstrativ vorgeführt, jedoch modern gebrochen durch das symbolistische Formpostulat der Kürze. Das erste Gedicht stellt eine Art Exposition dar und gleicht dem ‚Natureingang‘ vieler mittelhochdeutscher Minnelieder: Visuelle, akustische und taktile Eindrücke werden zu einer idyllischen Szenerie verwoben, in der Mensch- und Tierwelt eine harmonische Koexistenz führen. Vogelgesang und Blumen deuten einen locus amoenus an. Die exzessive Häufung von Diminutiven, der wiederholte Einsatz von anaphorischen Parallelismen und der parataktische Satzbau verstärken den Eindruck einer primitiven Idealität, den diese Szene unwillkürlich hervorruft. Alles in dieser Welt ist klein, ins Niedliche gerückt: Die Tiere, die Blumen, die Kinder. Selbst die ätherischen Farben (hellblau und „weiss“), in denen diese Idylle gezeichnet ist, suggerieren Reinheit und Unschuld. Assonanzen auf „ei“ durchziehen das ganze erste Gedicht und erinnern damit an den stereotypen Auftakt von Kinderreimen „Ei, ei, ei“. Es entsteht somit ein Effekt von Kindlichkeit. Die Frage des Zwergs im neunten Vers markiert zugleich den Abschluss des ersten Gedichts und den Übergang zum folgenden. Im zweiten Gedicht stellt sich der Zwerg selbst vor und fragt die tanzenden Kinder, ob er ihnen noch näherkommen darf. Die Frage an die Kinder, ob „eines“ ihn „zu gaste“ wolle, ist wie die Probe im Märchen, ob sie sich gut und freundlich verhalten – wenn ja, gibt es einen Lohn. Der Zwerg will sich nicht etwa dem Reigen anschließen, sondern Individuen aus der Gruppe auswählen. Versmaß und Strophenform unterstreichen die Heimlichkeit der Ansprache.15 Der höflichen Frage und dem expliziten Hinweis des Zwergen auf seine eigene Scheu („der ich mich scheu verberge“) folgen selbstbewusste Machtgesten, seine „Mimikry kaschiert nur die wahre Souveränität und Macht“16. Die dreigliedrige, sich steigernde Argumentation mit Insignien, Abstammung und Status wird syntaktisch durch Parallelismen bekräftigt („Ich habe […] / Ich bin […] / Ich bin […]“). War das erste Gedicht des Lieds des zwergen durch die Bildlichkeit der Natur bestimmt, so dominiert im zweiten Gedicht die Bildlichkeit der Kultur („palast[]“, „kron und thron“), ein Rückverweis auf den Zyklus der Sagen, aber ins Kleine verzerrt. Der Reichtum und die hierarchische Organisation des Zwergenreichs treten in Kontrast zu der undifferenzierten Gemeinschaft der tanzenden Kinder.

    15 Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. München 1980, S. 105. 16 Harald Hartung: Spange, Zwerg, Lied. Über einige Gedichte von Stefan George. In: JbDSG 52 (2008), S. 647–656, hier S. 652.

    

    Das Buch der Sagen und Sänge 

     147

    Aus dieser Gemeinschaft wählt der Zwerg im dritten Gedicht drei verschiedene Kinder aus und begabt sie mit Schicksalssprüchen. Diese drei Kinder sind aus der großen Schar ‚Erwählte‘ – und somit variiert das Lied des zwergen auch das in Georges Dichtung allenthalben artikulierte Thema der Selektion. Der dreifache Einsatz von parallel gebauten Trikola mit Zäsur und Hebungsprall zwischen den beiden ersten Kola verleiht dem Gedicht den Rhythmus eines Abzählreims. Der Zwerg wendet sich direkt an die drei ‚Erwählten‘: Während er dem ersten Kind Reichtum, dem zweiten Glück im Krieg und in der Liebe verspricht, beruft der Zwerg das dritte Kind zum Dichter.17 In dieser Abfolge lässt sich eine Hierarchie erkennen, fast, als würde der Zwerg eine Art Ständeordnung imitieren: Herrscher – Ritter – Dichter; in jedem Fall rekurriert die gestufte Dreizahl auf mythische Modelle, die auch als Erzählmuster im Märchen wiederkehren. Diese „Ordnungsdichte und Strukturiertheit“ können insgesamt als typisch für „Georges Vergangenheiten“ gelten (DP 82). Das dritte Los erscheint als Verwünschung und Segen zugleich: Das irdische Glück bleibt dem Dichter versagt („Dir kein ruhm ‧ dir kein sold“), aber „im liede“ kann er „liebe und gold“ erhalten. Besonderen Nachdruck erhält diese Botschaft durch das Fehlen der letzten Hebung: Der letzte Vers bleibt unvollendet, die Prophezeiung wird sich erst in der Zukunft erfüllen. Das Geschenk ist nicht ungetrübt: Das dritte Kind wird das Schicksal eines Dichters zu tragen haben, das bei George immer auch mit Ideen wie Verzicht auf persönliches Glück, Dienst, Außenseitertum und Verkennung verbunden ist (vgl. den Dichtertypus des poète maudit in Frauenlob). Der Reim „sold“ – „gold“ (III, 5–6) in der Schlussstrophe entspricht wohl nicht zufällig folgenden Versen aus Richard Wagners Oper Parsifal, auf die George in seinem gesamten Werk mehrmals referiert:18 „wir spielen nicht um Gold, / wir spielen um Minne’s Sold.“ (II,  652/653) So sprechen die Blumenmädchen in Klingsors Zaubergarten zu Parsifal, der sich ihrer Gruppe nähert. Das Lied des zwergen hat mit dieser Opernszene einige Motive gemeinsam: die unwirkliche Gegenwelt von Zauber und Märchen, die Blumen, den Reigen der Kinder bzw. Mädchen und den Fremden, der sich der Kinderbzw. Mädchengruppe nähert. Auch sonst greift George einige Motive aus der literarischen Tradition auf. In seinem Verhalten ist Georges Zwerg durchaus ein typischer Zwerg, denn er ist mit Merkmalen ausgestattet, wie sie aus Sage, Mythologie, epischer Literatur des Mittelalters und nicht zuletzt Märchen bekannt sind: Zwerge sind zwar klein, aber deshalb nicht unbedingt schwach – sie können im Gegenteil außerordentlich stark sein und bewaffnet wie etwa der geißel-schwingende Zwerg in Hartmanns Erec. Zwerge leben meist in unterirdischen Höhlen oder Palästen im Inneren eines Bergs  – so berichtet auch Georges Zwerg: „Ich komme vom palaste“. Aufgrund ihrer besonderen Nähe

    17 Vgl. EM I, 90; HSS 49, Dennis R. Anderson: Metrics and meaning (wie Anm. 2), S. 279. 18 Wolfgang Osthoff: Stefan George und „Les deux musiques“. Tönende und vertonte Dichtung im Einklang und Widerstreit. Stuttgart 1989, S. 126.

    148 

     Jutta Schloon

    zu Bodenschätzen, Gold und Edelmetallen treten Zwerge in vielen Erzählungen als Schatzhüter oder außerordentlich talentierte Schmiede auf, die wunderkräftige Waffen herstellen können. Hierauf spielen die kostbaren Geschenke an, die der Zwerg im dritten Zwergengedicht an die Kinder verteilt. Auch die Scheu, mit der sich der Zwerg den Kindern nähert, kann als eine typische Eigenschaft von Zwergen gelten, die sich manchmal auch mithilfe einer Tarnkappe unsichtbar machen. Dass der singende Zwerg sich als „fürst der zwerge“ vorstellt, lässt an andere bekannte Zwergenkönige wie Laurin oder Oberon denken. Wie Oberon ist auch der Zwerg in Georges Gedicht „der feien sohn“ (II, 8), ein Sohn der Feen (vgl. Irrende Schar, SW III, 50  f.). Mythologisch sind Zwerge in der Tat verwandt mit Wichten, Elben und Feen.19 Diese Wesen lieben Tanz und Musik,20 wie auch der Zwerg in Georges Gedicht. Wichtiger noch: Gleich den Feen, deren Name bereits etymologisch auf ‚fatum‘ verweist, können manche Zwerge weissagen.21 Dies erklärt die Fähigkeit des Zwergen im Lied, die Kinder zu ‚begaben‘ und ihre Zukunft zu prophezeien.22 Das Lied des zwergen setzt also für George typische Themen wie Auslese und Dichterweihe in mediävalisierendem Rollen-Spiel um. Mit der Figur des Zwergen greift George – neben Riesen, Ungeheuern und Rittern – ein weiteres Motiv aus mittelalterlichen Heldenepen, aber auch Märchen und Sagen auf. Allerdings verweist der Zwerg auf kein bestimmtes Vorbild, sondern dient zur Gestaltung moderner Dilemmata wie beispielsweise des Daseins als poète maudit. Kleinheit, Kindlichkeit und Naivität sind hier auf die Spitze getrieben und werden durch die Positionierung des Gedichts im Zyklus der Sänge eines fahrenden Spielmanns auf das Mittelalter projiziert. Dieses reizvolle Gedicht spielt mit seiner Nähe zum Volkslied, zum Märchen und zum Kindergedicht (vgl. auch das Zitat einer Liedzeile aus einem englischen Kinderlied „Mary had a little lamb“23) – Gattungen, die in der Romantik populär waren. Die Figur des Zwergen fügt der kindlichen Idylle allerdings dämonische Züge hinzu,24 indem seine Intentionen in ambivalenter Schwebe bleiben. Sein scheues Auftreten kontrastiert mit seiner Macht, die Kinder mit Schicksalen zu begaben. Dabei sind seine Gratifikationen zugleich Segen und scheinbare Verwünschung.

    19 Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. Unveränd. reprogr. Nachdr. der 4. Ausg. Bd. 1. Berlin 1875– 1878. Hg. v. Elard Hugo Meyer. Darmstadt 1965, S. 363–391. 20 Ebd., S. 389. 21 Ebd., S. 389  f. 22 Morwitz weist auf die motivähnlichen Sprüche für die Geladenen in T.. hin, die ursprünglich zum Buch der Sagen und Sänge gehören sollten (EM I, 90). 23 Siehe Anhang zu SW III, 138. 24 Vgl. Harald Hartung: Spange, Zwerg, Lied (wie Anm. 16), S. 651.

    Christophe Fricker

    Das Buch der hängenden Gärten Stefan Georges gesamtes Werk durchzieht die Frage, wie innige zwischenmenschliche Beziehungen aufgebaut, erhalten, zur Sprache gebracht und fruchtbar werden können. Diese Problematik ist im Buch der hängenden Gärten in die drei Dimensionen Örtlichkeit, Herrschaft und Leiblichkeit eingelassen. Die drei werden im Folgenden im Zusammenhang der orientalisierenden Handlung der Gedichte und in ihrer Abhängigkeit voneinander nachvollzogen. Voran geht ein Überblick zu übergeordneten und formalen Aspekten, und am Schluss dieses Beitrags steht eine durch die motivischen Untersuchungen angeregte These zur werk- und literaturgeschichtlichen Position dieses dritten Buches.

    Struktur, Genre und Form Das Buch der hängenden Gärten besteht aus fünf überschriftlosen, durch Leerseiten voneinander abgesetzten Teilen.1 Der erste enthält acht Gedichte, von denen nur das siebte (Kindliches Königtum) eine Überschrift trägt; es folgen die beiden Gedichte Vorbereitungen und Friedensabend; die 15 Gedichte des dritten Teils wurden von Ida Coblenz ‚Semiramis-Lieder‘ genannt (vgl. G/C 48) und erlangten durch Arnold Schönbergs Vertonung für Singstimme und Klavier Bekanntheit und an der Schwelle zur Atonalität musikgeschichtliche Bedeutung.2 Es folgen fünf Gedichte, deren letztes mit einem Doppelpunkt endet und auf das einzeln stehende Schlussgedicht Stimmen im Strom vorausweist. Diese Grobstruktur ergibt kein regelmäßiges Gesamtbild, bezeugt aber einen ausgeprägten Gestaltungswillen. Der mittlere Teil hat am stärksten zyklische Qualitäten. Erwartung, Erfüllung und Abschied sind die Stationen einer erotischen und wohl auch sexuellen Beziehung.

    1 Zur Überlieferung und Druckgeschichte vgl. den Kommentar in SW III u. GHb I, 122  ff. 2 Der ausführlichste analytische Beitrag ist Allen Forte: Concepts of Linearity in Schoenberg’s Atonal Music. A Study of the Opus 15 Song Cycle. In: Journal of Music Theory 36 (1992), 2, S. 285–382. Mit dem Gedicht Sprich nicht immer und seiner Vertonung beschäftigt sich Reinhold Brinkmann: Schönberg und George. Interpretation eines Liedes. In: Archiv für Musikwissenschaft 26 (1969), S. 1–28. Einige musik- und kulturhistorische Denkanstöße liefert Albrecht Dümling: Die fremden Klänge der hängenden Gärten. Die öffentliche Einsamkeit der Neuen Musik am Beispiel von Arnold Schönberg und Stefan George. München 1981. Anmerkung: Die Arbeit an diesem Beitrag wurde mir ermöglicht unter anderem durch ein IntraEuropean Fellowship im Rahmen der Marie Curie Actions des von der Europäischen Kommission aufgelegten Seventh Framework Agreements. Für diese Förderung bin ich außerordentlich dankbar.

    150 

     Christophe Fricker

    Indem der erste Teil den Leser in einen Herrschaftsraum einführt und die beiden eng miteinander verbundenen Schlussteile die Machtlosigkeit des zum Sklaven gewordenen lyrischen Subjekts ins Werk setzen, ergibt sich insgesamt wiederum eine zyklische Struktur. Der Spannungseinsatz ist die Ankunft im „lande […] / Das dir von früh auf eigen war“ (SW III, 71) und in dem der Sprecher waltet; Angelpunkt ist seine Erklärung „Jedem werke bin ich fürder tot“ (SW III, 85)3 und die vollkommene Hingabe an die Geliebte („Wenn ich heut nicht deinen leib berühre / Wird der faden meiner seele reissen“, SW III, 86); Lösungspunkt ist nach qualvollem Abschied von seinem Reich wiederum ein Empfang, diesmal in einem Wasserreich, in dem das Subjekt „hinab und hinauf“ gleitet (SW III, 99). Dem Buch liegt insofern eine epische Handlung mit dramatischem Verlauf und symbolträchtigem Ausgang zugrunde. Sie wird in ihrer lyrischen Realisierung vielfach aufgefächert: Die handlungsleitende Person spricht in der ersten Person Singular und wird sowohl in der zweiten als auch in der dritten Person Singular angesprochen. Sie ist in wechselnden Konstellationen Teil eines ‚Wir‘, das gleich eingangs eine kleine Gemeinschaft andeutet, in die vielleicht sogar der Leser einbezogen ist: „Wir werden noch einmal zum lande fliegen“ (SW  III,  71). Es bezieht sich einmal auch auf eine feste, in sich offenbar nicht hierarchisch gegliederte Gemeinschaft („Vergiss mit uns im bund / Die würde so dir anvertraut“, SW III, 73). Und im Mittelteil bezieht sie sich auf die lang erträumte, kurzzeitig verwirklichte und wehmütig erinnerte Liebesbeziehung zu einer Dame. Die Gedichte sind teils recht dicht bevölkert, es gibt „heer“ und „volk“, „mägde“ und „priester“ – aber nur wenige Einzelne treten hervor, vor allem der „pascha“ (SW III, 94). Formal ebenso uneinheitlich wie die fünf Teile des Buches sind die 31 Gedichte. 19 von ihnen sind einstrophig, die weiteren bestehen aus zwei bis sechs Strophen. Von den insgesamt 65 Strophen bzw. einstrophigen Gedichten sind die meisten, nämlich 19, vierzeilig, gefolgt von zwölf achtzeiligen Strophen. Die Bandbreite reicht von zwei einzeln stehenden Versen (im vorletzten Gedicht) bis zu einer vierzehnzeiligen Strophe (dem vorletzten Gedicht des Mittelteils). Alle Gedichte sind metrisch (wie Georges Werk überhaupt) und gereimt, aber die Metren und Reimschemata variieren ebenso wie die Strophenlängen erheblich.4 14 Gedichte sind jambisch, zehn trochäisch, zwei daktylisch, eines (SW III, 72) ist bis auf die vierhebige Schlusszeile dreihebig mit wechselnder Senkungszahl. Die übrigen vier Gedichte sind, auch wenn man die üblichen Substitutionen in Rechnung stellt, Mischformen, bei denen sowohl jambische als auch trochäische Zeilen vertreten sind. In nur 18 Gedichten ist die Zeilenlänge gleichbleibend (meist Tetrameter oder

    3 Mit dem ‚Werk‘ sind, wie zu zeigen sein wird, sowohl staatliches Handeln des Herrschers als auch poetische Produktion gemeint. 4 Vgl. Hubert Arbogast: Stefan Georges ‚Buch der hängenden Gärten‘. In: JbDSG 30 (1986), S. 493–510, bes. S. 507–509 u. HSS 56–62.

    

    Das Buch der hängenden Gärten 

     151

    Pentameter, einmal Dimeter), in den anderen wechselt sie, wobei auch ein kurzes Gedicht wie das sechszeilige Wir werden noch einmal zum lande fliegen (SW III, 71) drei verschiedene Versformen (hier Tetrameter, Pentameter und Dimeter) umfassen kann. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass in fünf aus Pentametern bestehenden Gedichten nur jeweils eine oder zwei Zeilen vierhebig und damit markiert sind. Gerade im Kontext gereimter Zeilen fällt der Tempowechsel stark ins Gewicht: Der Tetra­meter zumal innerhalb der vier anaphorischen Zeilen in Angst und hoffen wechselnd mich beklemmen (SW III, 86) gibt einer emotional aufgeladenen Passage zusätzliche Dringlichkeit; die verlängerte, mit Hebungen beginnende und endende Schlusszeile von Als durch die dämmerung jähe verleiht der Kernaussage des Gedichts Stabilität; die verkürzte Schlusszeile von Wir bevölkerten die abend-düstern (SW III, 90) bezeugt die Sprachlosigkeit, die mit dem Beziehungsabbruch einhergeht. Nur sieben Gedichte folgen durchgehend einem konventionellen Reimschema (vier kreuzgereimte, ein paargereimtes, ein umarmend und ein verschränkt gereimtes). In den meisten anderen wechselt das Schema von Strophe zu Strophe oder Abschnitt zu Abschnitt. In manchen klingen die Terzine, der Schweifreim, das Quartett des Sonetts oder die Stanze an. Es gibt im Buch der hängenden Gärten keinen nicht gereimten Vers. Acht Gedichte weisen durchgehend weibliche Endungen auf, alle anderen wechselnd männliche und weibliche. Wo sich, besonders in den fünfund siebenzeiligen Strophen, Reime zwar durchgehend ergeben, ohne sich aber in ein etabliertes Schema zu fügen, entsteht der Eindruck, der Reim ergebe sich wie nebenbei, wodurch die Sprecherinstanz noch einmal sprachmächtiger wirkt.

    Orte Das besondere Augenmerk, das George im Buch der hängenden Gärten – schon mit dem Titel – auf die Topografie richtet, hat nichts damit zu tun, dass etwa ein leerer Raum nach und nach vermessen oder gefüllt würde. Ein solches modernes, schematisches, objektivierendes Raumdenken ist George fremd. Örtlichkeit ist, zumal im Buch der hängenden Gärten, erfahrener und begangener Ort, der sich dadurch konsti­tuiert, dass etwas stattfindet, das bald verortet wird. Insofern sind Georges Orte „Sinnhorizonte, Affektionsmodi, […] Felder, Perspektiven, Reliefs, Achsen, Dimensionen und Gefüge, die in einer Zwischensphäre von Praktiken, Techniken und Medien ihre wechselnde Ausgestaltung erfahren“5. Georges im Folgenden zu analysierende Ortsbestimmungen haben nicht das Ziel, relativ zueinander zu berechnende Koordinaten verfügbar zu machen; sie wollen vielmehr das Okkasionelle und Emphatische eines

    5 Bernhard Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung. Frankfurt/M. 2009, S. 10  f. – Der vorliegende Absatz stützt sich besonders auch auf ebd., S. 43 u. 69.

    152 

     Christophe Fricker

    statt-habenden oder statt-findenden Geschehens zur Sprache bringen. Jede Raumordnung ist überdeterminiert, und so wird die folgende Bestandsaufnahme bereits auf Fragen von Herrschaft und Leiblichkeit vorausdeuten, die anschließend zu erörtern sind. In räumlicher Hinsicht geht es im Buch um die Wahrnehmung der Grenzen einzelner Bereiche und der Grenzen zwischen Bereichen, um die gelingende oder scheiternde Überwindung solcher Grenzen und um den Gewinn oder Verlust von Orientierung, also Raumerfahrung. Dass es sich bei den Orientierungspunkten im Raum nicht um fixierbare, einmalige Gegebenheiten handelt, die zu Sehenswürdigkeiten werden könnten, sondern um symbolisch aufgeladene Betroffenheitsformen und Gestaltungsoptionen, zeigt sich an der hohen Zahl der Ortsattribute, die im Plural stehen: Paläste, Zelte und Gärten, Mauern und Pfade, Lauben und Tempel sind meist nicht als einzelne bestimmbar. Diese Worte zeigen vor allem Erfahrungsqualitäten an, die Raum greifen. Den Anfang macht ein Gedicht des Eingangs: Die Sprecherinstanz nimmt sich eine Reise vor, und sechs Zeilen später verkündet sie schon selbstbewusst die Ankunft: Wir werden noch einmal zum lande fliegen Das dir von früh auf eigen war: Du musst dich an den hals des zelters schmiegen · [.] (SW III, 71)

    Die Reise geht an einen Ort, der dem Sprecher „eigen“ ist, über den er also Macht ausübt und den er auf einem geschmückten Pferd betritt. Die Reise selbst ist emotional aufgeladen und mit dem körperlichen Akt des Schmiegens verbunden. Die Grenzen des Landes selbst und der Orte darin sind durchlässig: In vier Gedichten ist davon die Rede, dass Licht eindringt („[b]reite röte“, SW III, 72, „des lichtes von oben ergossene flut“, SW III, 74, „ein breites licht aus wolkenreichen“, SW III, 75, die Dauer „sengend heisser stiche“, SW III, 81). Der Sprecher schaut immer wieder auf; er beobachtet die Lichterscheinungen, aber auch „offne bahnen / Nach den ersehnten höchsten stufen“ (SW III, 73), das „weisse banner“ und die „blaue wolke“ (SW III, 76) über sich. Gleichwohl liegt der Schwerpunkt, was Gesten und Bewegungen angeht, eher auf dem Niedrigen und dem Innenraum: Der Sprecher soll „froh den grund“ küssen (SW III, 73), er beobachtet die „leiber“ im Innern von „palästen“ und „zelten“ (SW III, 74), sitzt „in den niederungen“ im „saale voll von zweigen“ (SW III, 76) und beobachtet eine erhabene Frau in einem „bad“, auf das „Palast und schmuck und mägde“ ausgerichtet sind (SW III, 80). Der zweite Teil schließt geradezu mit einem Inventar jener sinnlich aufgeladenen Gegebenheiten, die in den vorigen Gedichten verortet wurden. Auch der dritte Teil beginnt mit einer Ortsbestimmung: „Unterm schutz von dichten blättergründen“ (SW III, 83). Der geschützte Raum, in dem der Sprecher sich aufhält, weitet und öffnet sich im Laufe dieses und des nächsten Gedichts. Die sicher

    

    Das Buch der hängenden Gärten 

     153

    niedrigen „blättergründe[]“ führen auf ein „gewässer“; in den „paradiesen“ gibt es einen „Hain“, schließlich auch „Hallen“, die zwar Innenräume sind, aber ihrer Funktion nach offenstehen. Von diesem ausgedehnten Ort wendet sich der Sprecher ab – er „verfolgt“ ein Ziel. Die folgenden dreizehn Gedichte bezeugen die Auseinandersetzung mit Grenzen, deren problematischer Überschreitung und der Frage, was stattfinden kann, wenn man fehl am Platz ist – was also unstatthaft ist. Der Sprecher begibt sich in das „gehege“, den umzäumten Schutzraum der von ihm Verehrten, aber er „strauchelt“, weil ihm der Ort fremd ist und er sich nicht zu benehmen weiß (SW III, 84). Auch das mit sexuellen Symbolen ausgestattete, die Geliebte evozierende „beet“ ist „umzäunt“, und er kann es nur „betracht[en]“ (SW III, 87). Er ist in „andrer herren prächtiges gebiet“ eingedrungen und sieht sich mit „gitterstäbe[n]“ konfrontiert (SW III, 84). Einmal ins Innerste, zu den durchaus doppeldeutigen „matten“ vorgedrungen, reichen die Gedanken über die schützende Trennwand des Gebäudes hinaus auf den bedrohlichen Außenraum, an dessen Rand die ex-zentrische Gefahrenzone liegt, wo „der weisse sand“ das Blut der Liebenden aufsaugen wird, wenn sie für ihre Übertretung bestraft werden (SW III, 88). Die Liebe endet damit, dass beide in unterschiedlichen Räumen nebeneinander existieren – sie am Ufer und ‚umschirmt‘ von ihrem Fächer, er in einem Boot auf dem Wasser unter „laubgewölbe[n]“ (SW III, 89). Der dritte Teil endet wie der zweite mit einem Ortsinventar – mit der Erinnerung an die „Lauben · lichten tempel · pfad und beet“. Der Sprecher muss fliehen, ist aber erst auf dem Weg nach „[d]raussen“ und tritt, da er nun nicht mehr hierher gehört, „fehl“ (SW III, 90). Der Fehltritt ist nicht eine vereinzelte Unaufmerksamkeit, sondern Anzeichen eines längeren Irrwegs. Zweimal büßt der Sprecher im vierten Teil Raum ein: Er verliert seinen Realitätssinn und flieht in ein „träumen“, was seine Feinde dazu nutzen, die Hälfte seines Königreichs zu erobern. Aus Überdruss verlässt er den Ort seiner Herrschaft („Den saal […] Die höfe […] Und meinen thron“) und begibt sich an den Hof des „pascha[s]“, den er aber ebenfalls verlässt, offenbar aus Eifersucht auf den umschwärmten Herrscher. Örtlichkeit wird angesichts all dieser Abschiede nun selbst problematisch. Der Sprecher beginnt, sie zu reflektieren, und bezeichnet in kurzer Folge zwei Stellen als „den ort wo seine seele brach“ (SW III, 95) und seinen „lezten rastort“ (SW III, 96). Von seinen ausgedehnten Ländern ist ihm nur ein „stein[]“ übriggeblieben (SW III, 97) auf den er sich resigniert zurückzieht. Die Möglichkeit zur Raumerfahrung ist auf einen Punkt zusammengeschrumpft. In dieser Situation laden die „Stimmen im Strom“ den Sprecher ein, einen neuen „palast“ bei ihnen zu suchen. Es handelt sich um eine virtuelle Örtlichkeit, in der nicht mehr Fuß zu fassen ist. Der Anschein des „hinab und hinauf“ bleibt gewahrt, die Bewegungen verschmelzen aber zu einer immer stärker entreferenzialisierten Beweglichkeit, in der sich der entmachtete, nicht mehr verortbare und als Subjekt nicht mehr dingfest zu machende Sprecher, der zum Schluss auch nicht mehr spricht, schließlich „löst“ (SW III, 99). Für die Topografie von Georges Buch der hängenden Gärten gilt also, was Waldenfels in größerem, philosophiegeschichtlichem Zusammenhang beobachtet: „Die

    154 

     Christophe Fricker

    Phänomenalisierung des Raumes führt uns auf die Bahnen einer Problematisierung des Raumes.“6

    Herrschaft Der Sprecher des Buches der hängenden Gärten besitzt ausweislich dreier Stellen im Vorausblick und im Rückblick ein Bewusstsein eigener herausgehobener Würde: Im Eingangsgedicht nennt er das zu besuchende Land sein Eigentum (SW III, 71), in einer autobiografischen Reminiszenz erinnert er sich an sein ‚kindliches Königtum‘ (SW III, 76) und auf der Flucht betrauert er den Verlust seines Königtums (SW III, 97). Er fühlt sich mit seinem Land verbunden und freut sich an – vermutlich seines eigenen – „Stammes boden und mauern“ (SW III, 72). Er wird nach einem Beutezug begeistert begrüßt (SW III, 73), könnte also selbst jener „Bezwinger“ der Feinde des Landes sein, von dem einmal die Rede ist (SW III, 75). Dagegen spricht allerdings, dass er an der Ausübung von Macht, an Repräsentation und öffentlichem Auftreten kein Interesse hat. Es ist wahrscheinlicher, dass der Beutezug unter anderer Führung vor seiner Ankunft stattfand und er ihn sich in einer ausgedehnten Machtfantasie vergegenwärtigt. ‚Königtum‘ ist für den Sprecher des Buches ein Leben in Luxus und Einsamkeit, die an die Stelle von Arbeit und Verantwortung treten. Der Sprecher weist die ihm anvertraute „würde“ zurück und erhält das Angebot, sich einem „bund“ anzuschließen. Ein solcher Rückzug geht ihm offenbar nicht weit genug – er beschließt, sich von den Menschen in seinem Umfeld überhaupt „zu trennen“. Es handelt sich bei diesen wohl um Angehörige der Elite; der mit der Trennung folglich einhergehende soziale Abstieg rückt die Gruppe seiner „gewappneten“, bisher unsichtbaren Dienerschaft in den Blick (SW III, 74). Die beiden letzten Gedichte des ersten und das letzte Gedicht des zweitens Teils sind menschenleer, und diese „einsamkeit“ reklamiert der Sprecher in Vorbereitungen (SW III, 80) auch explizit für sich. Vom Traum unbeschränkter Macht ist nur der Anspruch auf Unbelangbarkeit übrig. Die Liebesbeziehung der ‚Semiramis-Lieder‘ wird als Herrschaftsverhältnis zwar imaginiert, aber nicht realisiert. Der Sprecher nimmt die Rolle des Untertanen ein, der außerhalb seines eigenen Reiches mit neuen „herren“ (SW III, 84) und „freunde[n]“ (SW III, 86) konfrontiert ist (ohne freilich mit ihnen zu interagieren). Er verfolgt den „traum“ (SW  III,  83), einer Frau nah zu sein. Den Umgang mit ihr stellt er sich als Abfolge von „Dienst und lohn gewährung und verbot“ (SW III, 85) vor, und er will zunächst nichts weiter sein als einer derer, die der Ersehnten „dienen“. Deren Zuwendung stellt er sich als „huld“ und „erbarmende[] geduld“ vor (SW III, 84). Erst das achte Gedicht dieses Zyklus nennt die Empfindung des Sprechers „Liebe“ (SW III, 86).

    6 Ebd., S. 26.

    

    Das Buch der hängenden Gärten 

     155

    Sobald ein Austausch zustande kommt, treten Natur- und Körpermotive in den Vordergrund (s.  u.). Die schon im vierten Gedicht des Buches getroffene Entscheidung für den Abschied von der Macht wird im vierten Teil auf vierfache Art und Weise Realität: Der Körper des Sprechers verliert die Fähigkeit zu „gebieten“ (SW III, 92); er verbleibt in jenem „träumen“, mit dem schon die Liebesbeziehung des dritten Teils begann (SW III, 93, vgl.  83) und büßt jede Tatkraft ein; er macht sich zum Diener des „pascha[s]“ (SW  III,  94), genießt diesen Dienst eine Zeit lang und entzieht sich schließlich ein zweites Mal überhaupt der Matrix von Herrschaftsbeziehungen, indem er sich „auf hohem steine“ völlig isoliert (SW III, 97) und sich im Wasser sogar aus jener körper­ lichen Existenz „löst“ (SW III, 99), ohne die herrschaftliches Gebaren nicht möglich ist.

    Leiblichkeit Örtlichkeit, die mehr als Raummessung und Raumnutzung, und Herrschaft, die mehr als Kräfteverschiebung und Reaktion ist, bestehen durch ein „Merk- und Wirkfeld“, das seinem Ursprung nach leiblich ist. Der Leib als Empfindungsträger, Ausdrucksorgan und Orientierungszentrum ist für das menschliche Denken und Streben unerlässlich.7 Er mag (zumal als kulturell geprägter) grundsätzlich fragwürdig sein, wird aber erst dann fraglich, wenn der Mensch „bei sich selbst“ Halt sucht, „ohne sich auf eine vorgegebene Ordnung zu verlassen“. Dann wird dem Leib Aufmerksamkeit zuteil. Diese kann in einem vom Leib getrennten Äußeren weder entspringen noch verbleiben; ihr Urheber ist vielmehr ein Selbst, das den eigenen Leib „als Anderen“ (im Husserl’schen Sinne des allenfalls Zugänglichen) wahrnimmt und auf eine Weise zur Sprache bringt, die immer auch das eigentümliche sinnliche Wahrnehmen dieses Leibes sinnfällig macht. In der insofern sinnenhaften („enaisthetischen“) Sprache stellen sich Fragen, die poietisch und ethisch zugleich sind, denn sie beinhalten den Umgang mit Fremdem und das Sprechen über Fremdes. Stefan Georges Buch der hängenden Gärten verdeutlicht, inwiefern verortbare Anwesenheit und wirkmächtiges Handeln einer leiblichen Grundlegung bedürfen und ohne eine solche nicht zustande kommen. Es zieht sogar den Umkehrschluss, dass mit dem Verschwinden von Örtlichkeit und Handlungsfähigkeit der Leib selbst verschwindet. Die Standeszugehörigkeit einer Person und ihre Fähigkeit, eine bestimmte Geisteshaltung anzunehmen, hängt laut Vorbereitungen vom Aussehen ihres Leibes ab: Der weibliche Leib ist zu „beizen“, denn nur wenn er „einer fürstin ähnlich“ sieht, kann die Betreffende „in erwartung knie[n]“ und des „meister[s]“ würdig sein.

    7 Dieser Absatz stützt sich auf Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Frankfurt/M. 1999 (Studien zur Phänomenologie des Fremden 3), bes. S. 9–39.

    156 

     Christophe Fricker

    Deutliche Sinneseindrücke („Breite röte“ und „Balsamduft“) lassen den Sprecher erkennen, wo er sich befindet. Die optische Wahrnehmung „Erster palmen“ und ihrer in einer Ergebenheitsgeste „sich neigenden wedel“ ermöglicht in einem zweiten Schritt auch einen „Wandel der seele“ (SW III, 72), mit dem die Ankunft, das SichEinfinden vollzogen wird. Dass der Sprecher in der Gegenwart der Gedichte anders mit „königlicher“ Macht umgeht als in seiner Kindheit, hat eine leibliche Seite: Früher „entflammte“ sein „blick“ die Menschen um ihn und ließ sie zu opferbereiten Untertanen werden (SW III, 76). Der ‚Blick‘ ist schon sprachgeschichtlich ein ‚Be-lichten‘, das im (An-)Geblickten einen (allerdings schnell vorübergehenden) Schein aufkommen lässt. Im Blick des Einen ist der Blick des Anderen immer schon ermöglicht. Seine Macht übt Georges Sprecher auch später durch „blicken“ und „nicken“ aus, und zwar über Leiber: Er verhängt Todesurteile, sodass auf sein Zeichen hin von einem „glatten schlanken rumpf ein haupt gerollt“ (SW III, 93). Wenn der Sprecher sich von seinen Mitmenschen abwendet, erblickt er ihre Leiber nicht mehr, er beobachtet sie nur noch. Distanziert spricht er über Die leiber vom weiss des marmors mit bläulichen adern Vom saftigen gelb der reife-beginnenden beeren – Die leiber die hellrot wie blüten und hochrot wie blut[]

    vor ihm auftauchen (SW  III,  74). Seine Wirkung auf andere endet, wenn er seinen eigenen Leib nicht mehr „erproben“ will: Dann verlieren „hände“ und „mund“ sowohl ihre Macht als auch ihre Würde (SW III, 92). Machtlosigkeit und Machtferne erscheinen im Buch in menschenfernen, also vor allem leiblosen Formulierungen. In Traumgedichten wie Halte die purpur- und goldnen gedanken im zaum und Meine weissen ara haben safrangelbe kronen ist von Körpern keine Rede mehr. Im Verlauf der Liebesbeziehung des dritten Teils treten Leiber – der des Sprechers und der der Geliebten  – nach und nach hervor, und mit dem Ende der Beziehung verschwinden beide auch wieder. Wesen und Gegebenheiten zu Beginn und zum Ende des Zyklus sind leiblos: Es sind sich bewegende „kerzen“ und „[w]eisse formen“ (SW III, 83); außer den „spitzen fingern“ der Palmen gibt es nur noch „unsichtbare hände“ (SW III, 90, Hervorhebung d.V.). Der Sprecher nähert sich der Geliebten leiblich: Er tritt ein, weiß von seinen „mienen“ und „blickte“ sie an, er faltet die Hände und strauchelt (SW III, 84), er kniet, und seine brennenden „lippen“ und sein unsicherer „fuss“ drücken seinen Zustand aus. Die Geliebte erscheint zunächst selbst als „blick“ (SW III, 84). George postuliert insofern nicht eine gleichsam objektiv bestehende, durchschaubare Person, sondern denkt und dichtet sie „vom Geschehen her“8. Die Liebe des Sprechers hat durchweg eine ausführlich zur Sprache gebrachte leibliche Seite: Er stammelt, kann nicht schlafen, weint immer wieder, schwitzt und schwankt.

    8 Ebd., S. 24.

    Das Buch der hängenden Gärten 

    

     157

    Der leibliche „Kontakt“ (die Berührung) ist sein Ziel, dessen Verfehlung auch den „faden [s]einer seele reissen“ lassen werde (SW III, 86). Die Erfüllung geschieht als „kurzer kuss“ (SW III, 87), und die weitere Beziehung besteht hauptsächlich in empfundener körperlicher Nähe: Ich erinnere dass wie schwache rohre Beide stumm zu beben wir begannen Wenn wir leis nur an uns rührten Und dass unsre augen rannen – So verbliebest du mir lang zu seiten. (SW III, 88)

    Nur Sprich nicht immer (SW III, 89) deutet an, dass die einander leiblich nahen Liebenden auch miteinander sprachen. Schon in Vorbereitungen (SW III, 80) setzt sich der Liebende nur das durchaus bescheidene Ziel, die Geliebte zu „berühren“ – was „vielleicht du nie“ erreichen wirst. Die Berührung kommt im dritten Teil zustande, geht aber nicht in eine stabile Beziehung über. Der Sprecher lädt die Geliebte nach einer Liebesnacht in sein Boot ein, doch sie verharrt in verächtlicher Haltung an Land und malt sich in eindrucksvollen Bildern von Verfall und Zerstörung das Ende der Zweisamkeit aus. Schließlich „geht“ sie. Der Liebende bleibt verstört zurück – und ‚tritt fehl‘ (SW III, 90): Er verliert mit der Anwesenheit des Körpers der Geliebten auch den Sinn für seinen eigenen Körper.

    Natur und Künstliches Eng verbunden mit den Dimensionen Örtlichkeit, Herrschaft und Körperlichkeit ist – auf grundsätzlicher Ebene ebenso wie im Konkreten des vorliegenden Gedichtbuches – die Frage nach dem Stellenwert von Natur und Künstlichem. Natur bezeichnet schließlich auch einen Raum, beim Erschaffen von Künstlichem ist immer auch die Beherrschung von Materialien und Techniken nötig, und der Körper des Protagonisten löst sich im Schlussgedicht der hängenden Gärten im natürlichen Element Wasser auf. Neben dem Künstlichen ist auch das Städtische ein Gegenpol der Natur – und Kunst und Stadt sind, nicht erst in der Moderne, motivisch eng miteinander verbunden. Unter Georges Werken gilt Das Buch der hängenden Gärten als ein besonders urbanes (GHb I, 122–136, hier 134). Seine Anlehnung an die Pariser Symbolisten, der historische Anklang an die Hängenden Gärten in Babylon und die Tatsache, dass der Protagonist zumindest im ersten und vierten Teil Zeit in seiner Hauptstadt verbringt, tragen zu diesem Eindruck bei. Auf lexikalischer Ebene ist mehrmals von „mauern“ (SW III, 72, 81, 93) und „palästen“ (SW III, 74, 94) sowie von der „stadt“ (SW III, 75, 88) selbst die Rede. Besonders der Plural „paläste“ mag darauf hindeuten, dass es sich um eine große Stadt handelt. Dafür spricht auch die Tatsache, dass es hier, ebenso wie in der Stadt des Paschas, Menschenmassen („menge“, SW III, 75; „volk“, SW III, 94)

    158 

     Christophe Fricker

    gibt. Die Kriegszüge des Protagonisten oder seiner Umwelt endeten mit der Eroberung der Stadt des Feindes. Die zahlreichen Naturbilder9 werden nicht selten durch mehr oder weniger starke, mehr oder weniger ausführliche Metaphern in die Sphäre des Künstlichen oder Künstlerischen überführt. Das „schöne beet“ (SW III, 87) enthält gleich drei solcher Überblendungen: Drin ragen kelche mit geflecktem sporne Und sammtgefiederte geneigte farren Und flockenbüschel wassergrün und rund Und in der mitte glocken weiss und mild[.]

    Sowohl das Wort „kelche“ als auch „glocken“ sind in der Biologie fest etabliert; beide sind aber Metaphern aus dem Kirchlichen, die die Form von Pflanzenteilen im Vergleich mit liturgischem (oder zumindest festlichem) Gerät beschreiben sollen. Samt ist ein wertvoller Stoff. Kurz zuvor trugen „Vögel“ in der gehegten Natur „kronen und reifen“, die zudem mit „[m]etallblauen streifen“ ausgestattet waren (SW III, 77), was insgesamt einen eher kunsthandwerklichen als biologischen Eindruck vermittelt. Gleichzeitig werden auch urbane, künstliche und künstlerische Bilder durch dieselben rhetorischen Techniken in die Sphäre des Natürlichen übersetzt oder dieser angenähert. Schon das ‚kindliche Königtum‘ hatte sein Zentrum in einem „saale voll von zweigen“ (SW III, 76). Die gesalbte und gesegnete junge Frau in Vorbereitungen wird „reife frucht“ und „knospe“ (SW III, 80), transzendiert durch die Gleichzeitigkeit dieser Ungleichzeitigkeiten die Sphäre des Natürlichen freilich gleich wieder. Der lexikalische Befund ist hinsichtlich der Natur weitaus reicher und vielfältiger als hinsichtlich des Städtischen. Es gibt Bäume („palmen“, SW  III,  72,  90, „dattelbäume[]“, SW III, 78, „silberweide“, SW III, 89, „sykomore“, SW III, 94, „zedern“ und „erlen“, SW III, 97), immer wieder Büsche und Sträucher (SW III, 76, 77, 83, 94), Bäche, Teiche und Flüsse (SW III, 83, 89, 90, 94), Blüten, Beet und Blumen (SW III, 83, 87, 90), Quitten, Libellen und Gräser (SW  III,  89,  90)  – das ist zumal für ein vermeintlich urbanes Werk eine außerordentlich große Menge recht genau bezeichneter Naturgegebenheiten. Diese mögen jeweils unterschiedlichen Stellenwert haben, aber selbst wenn sie nur als Metaphern gebraucht werden, so ist es doch bemerkenswert, dass der Metaphernschatz der Gedichte zu einem so großen Teil aus Naturbildern besteht. Den Protagonisten zieht es immer wieder in eine – freilich jeweils anders gestaltete – Natur. Schon bei und kurz nach seiner Rückkehr sieht er „palmen“ (SW III, 72), und man zeigt ihm, wo die „süsse saat hienieden grünt“ (SW III, 73). Gleich die erste Abwendung von seiner Exekutivgewalt ist mit zwei Naturbildern verbunden, einer

    9 Vgl. grundlegend Ray C. Ockenden: Mensch und Natur in der Dichtung Stefan Georges. In: DES 353–396.

    

    Das Buch der hängenden Gärten 

     159

    Bewegung hin zu den „blumigen“ Geistern des Weins und dem „pfühl der basiliensträuche“ (SW III, 74). Während sich die junge Dame auf ein Fest vorbereitet, geht er mit „zauberkräutern“ um (SW III, 80). Die zweite Abwendung von Herrschaft ist ein Schritt zum „sänger-vogel“ (SW  III,  93), die dritte ein Abschied von „saal […], höfe[n und] säulenmauern“ (SW III, 94), ein Gang über eine ländliche Wasserstelle (SW  III,  96) an einen weit abseits von Städten gelegenen Fluss. Zwar ähnelt auch dieser einem „schwanke[n] palast“ mit „lampen“ und „säulen“, doch bleibt letztlich nichts übrig als „wogen“ im natürlichen Element (SW III, 99). Die Liebesbeziehung des Mittelteils spielt sich im Wesentlichen in der Natur ab. Es ist gehegte und kultivierte Natur, Park oder Garten, allerdings ein sehr großer, denn in ihm finden sich sowohl die Innenräume, in denen der Protagonist einsam leidet, als auch jene, in denen die Liebe kurzzeitig Erfüllung findet. Dass die Natur eine gepflegte ist, sollte auch in einem historisierenden Gedicht nicht sonderlich überraschen – mit Ausnahme von Wüsten, Eisflächen, Bergspitzen und Urwäldern wird der unvoreingenommene Blick stets entdecken: „Das hat die Maschine [der technische Mensch] getan“10. wobei der Unterschied zwischen „getan“ und „gemacht“ weiterhin gilt. Georges Liebende finden sich in der Natur, und sie werden zu Natur, werden „wie schwache rohre“ aus Schilf (SW III, 88). Ihre Liebe ist „[e]ines regentropfens guss / Auf gesengter bleicher öde“ (SW III, 87). Die Natur wird vom Protagonisten der Gedichte immer wieder aufgesucht. Sie bleibt am Ende siegreich – mit der Auflösung des aus der Stadt geflohenen, dichterisch begabten Protagonisten zieht die Kunst in den Gedichten den Kürzeren.

    Werk und Wirklichkeit Die hier verfolgte phänomenologische Argumentation konnte Handlungen und Wertungen innerhalb der Gedichte des Buches der hängenden Gärten nachvollziehen, vor allem die Krise von Erfahrungsbereitschaft und Aufmerksamkeit. Wegweisungen aus der Philosophie folgend könnte also die These aufgestellt werden, dass das Buch ein Buch der Absage sei, einer Absage an das, was einmal emphatisch und lange danach auch noch in der Wissenschaft ‚Leben‘ heißen durfte. Auffällig ist, dass mindestens zwei ‚Deutungsbücher‘ des George-Kreises dieser Lesart vehement widersprechen. Wolters erklärt, George habe nach der Weltabwendung des Algabal mit den von zahlreichen Freunden geistig begleiteten Büchern einen „Blick in das Wo und Wann seiner Umwelt“ getan und eskapistische und historistische Tendenzen „wieder ins Gegenwärtige heimgeholt“ (BG 92  f.). Hildebrandt sieht

    10 Ernst Jünger: Politische Publizistik 1919–1933. Hg., komm. u. mit einem Nachwort versehen v. Sven Olaf Berggötz. Stuttgart 2001, S. 158.

    160 

     Christophe Fricker

    in der Spannung zwischen exotischem Märchen und biografischer Gegenwart Georges gerade „die Wirklichkeit des Fühlens und Erlebens“ (KH I, 81) Gestalt annehmen. Die erste Position macht verständlich, dass George nach Abschluss der drei Bücher ein Jahr lang nichts mehr schrieb; die Wolters’ und Hildebrandts, dass er nach einem Jahr doch wieder zu schreiben begann. Beide verbleiben auf der Ebene des ‚Inhalts‘ der Gedichte. Eine einfache, aber nicht triviale Tatsache darf darüber nicht vergessen werden: Es gibt diese Gedichte. Die Geschichte vielfacher Auflösung  – der Auflösung von Orten, Macht und Körpern – hat bleibende lyrische Gestalt angenommen. Gundolf sieht die Hängenden Gärten daher als Erfolg: George habe den Verlockungen des Zerfließens widerstanden und die „Romantik“ der Fantasie überwunden, indem er sie „in die schöne Gestalt“ gebannt habe (FG 116). George lässt damit den Protagonisten dieser Gedichte hinter sich, dessen Versuche zu „singen“ scheiterten.11 Am Ende des Buches spricht der Protagonist nicht einmal mehr: Das letzte Gedicht wird von den ‚Stimmen im Strom‘ vorgebracht. Der Autor überlebt einen Protagonisten, der für eine bestimmte Art des Handelns in der Welt und für deren Misserfolg steht. Wolters formuliert die Absage an die rein äußerliche Machtausübung zugunsten eines dichterisch begründeten Handelns so: „Der immer noch wache Trieb [Georges] nach unmittelbarer Auswirkung in einem staatlichen Handeln mußte in den dichterischen Kraftkern gezogen werden, wenn die geistige Herrschaft ganz erstehen sollte“, deren „Boden“ George beim Abfassen der Gedichte bereits erreicht habe (BG 98). Was genau mit ‚geistiger Herrschaft‘ gemeint ist, kann hier nicht im Detail erörtert werden. Zumindest einen Hinweis gibt aber das allererste Wort des Buches der hängenden Gärten: „Wir“. Das Buch beginnt mit einer Dualität oder Pluralität, die so selbstverständlich zu sein scheint, dass sie überhaupt nicht weiter ausgeführt wird. Biografische Lesarten wittern hier Georges Freundin Ida Coblenz, doch auf sie geben die Gedichte keinen direkten Hinweis. Ein weit näherliegender Partner im ‚Wir‘ ist der Leser.12 Wenn man annimmt, dass der oder die Leser zu Beginn angesprochen werden und dass zum Ende der Gedichte durch den bleibenden Bestand der Gedichte auch die Person des Autors wieder hervortritt, würde gerade dadurch, dass die Gedichte ein Verschwinden so überzeugend nachvollziehen, die ins Lebensweltliche weisende Neuausrichtung von Stefan Georges Dichtung plausibel.

    11 Arbogast: Stefan Georges ‚Buch der hängenden Gärten‘ (wie Anm. 4), S. 500, weist darauf hin, dass es in den Gedichten nicht explizit um einen Dichter geht, dass der Protagonist aber mehrmals singt und sich im „sänger-vogel“ (SW III, 93) spiegelt. Den Moment des Scheiterns verortet Arbogast im Übergang zum Mittelteil: Der Park sei der Ort, an dem Natur zur Kunst werde, insofern sei er für das Dichten prädestiniert; der Protagonist verstricke sich aber in eine unheilvolle Liebesgeschichte. Ebd., S. 501  f. 12 Die Anregung verdanke ich Robert Vilain: Stefan George’s Early Works 1890–1895. In: JR 51–77, hier 70.

    Das Buch der hängenden Gärten 

    

     161

    Interpretation von Vorbereitungen (SW III, 80) Vorbereitungen Den jungen leib mit unversehrten reizen Soll man vom neumond ab mit milch und wein Vom halben bis zum vollen schein In einem bad von öl und salben beizen – Palast und schmuck und mägde seien dein! Und priester die die hände auf dich legen Verrichten vor dir täglich einen segen. Auf dass du einer fürstin ähnlich siehst Und auch in tiefer zucht Stumm in erwartung kniest · Dass reich und schwellend eine reife frucht Und eine knospe duftig zart Am fest der strenge meister dich gewahrt Und seiner würdig dich erkiest. Und du selber? – liebst dich lang zu läutern · Mit den reinen zauberkräutern Deinen geist in einsamkeit zu schonen · Ihn mit der erharrung schauer lohnen Bis der vorhang birst Vor dem ausbund aller zonen – Den vielleicht du nie berühren wirst. (SW III, 80)

    Überblick Der Titel des Gedichts Vorbereitungen steht im Plural. Es ist von zwei Formen der Vorbereitung die Rede. Die erste Strophe schildert, wie der Körper einer jungen Frau rituell bearbeitet wird, unter anderem von Priestern; die dritte Strophe spricht davon, wie die Frau selbst sich vorbereitet. Dazwischen beschreibt die zweite Strophe das zweifache Ziel der äußerlichen Vorbereitungen: Die Frau soll ein bestimmtes Aussehen annehmen („einer fürstin ähnlich“) und sich in einer bestimmten Weise verhalten („in erwartung“ knien). Am Ende sowohl der zweiten als auch der dritten Strophe stehen Ereignisse, die die Vorbereitungszeit beenden bzw. strukturieren. Dass beide Anmerkung: Die Arbeit an diesem Beitrag wurde mir ermöglicht unter anderem durch ein IntraEuropean Fellowship im Rahmen der Marie Curie Actions des von der Europäischen Kommission aufgelegten Seventh Framework Agreements. Für diese Förderung bin ich außerordentlich dankbar. Tatkräftige Unterstützung und wertvolle Anregungen verdanke ich Sina Stuhlert.

    162 

     Christophe Fricker

    eintreten werden, ist absolut sicher; wie sie ausgehen werden, ist dagegen völlig offen. Die Verbindung aus genauer Kontrolle und Offenheit drückt sich auch auf formaler Ebene aus. Georges Virtuosität im Umgang mit der seltenen siebenzeiligen Form besteht darin zu verhindern, dass die Strophen in kleinere Untereinheiten zerfallen. Zwar legen Syntax und Reim der ersten Strophe noch eine Gliederung in 5 + 2 Zeilen nahe, doch das Metrum stellt sich bereits hier quer: Die dritte Zeile ist vierhebig, alle anderen sind fünfhebig. In der zweiten und dritten Strophe gibt es keine offensichtlichen syntaktischen Großeinheiten; es gibt jeweils drei Reime und jeweils drei Zeilenlängen (drei-, vier- und fünfhebige Verse), wobei George die Maximalzahl der Kombinationsmöglichkeiten fast ausreizt: Die drei fünfhebigen Verse der zweiten Strophe verwenden alle drei Reime, die beiden vier- und die beiden dreihebigen jeweils zwei. Die vier fünfhebigen Verse der dritten Strophe verwenden drei Reime, wobei die beiden fünfhebigen Verse mit dem gleichen Reim metrisch unterschiedlich gebaut sind (ein trochäischer und ein jambischer Vers).

    Zwei Riten Die im Mittelpunkt des Gedichts stehende junge Frau ist schön, und ihre Schönheit soll erhalten und noch gesteigert werden. Dem dienen zwei Riten, deren erster auf die Mondphasen abgestimmt ist, während der zweite „täglich“ unverändert vollzogen wird (und vielleicht auf den Sonnenstand abgestimmt ist). Der erste Ritus beinhaltet die Behandlung des Körpers, und zwar zunächst das „beizen“ mit zwei edlen Flüssigkeiten, mit „milch und wein“. Sobald der Mond zum Halbmond geworden ist, ändert sich der Ritus; nun wird der Körper der jungen Frau in „öl und salben“ gebadet. Wer beizt und wer beim Baden behilflich ist, bleibt unausgesprochen. Wenn das Gedicht in einer Art Harem spielt, könnte es sein, dass die genannten „mägde“ beizen. Möglich ist auch, dass der Sprecher des Gedichts beteiligt ist: Von der Frau ist zunächst in der dritten Person die Rede; Vers fünf redet sie unvermittelt und mit großer Emphase an. Die Anrede in der zweiten Person zieht sich dann bis zum Ende des Gedichts durch. Ein anfangs verborgener Sprecher ist dem Geschehen wohl also zumindest sehr nah. – Der zweite Ritus ist der priesterliche Segensspruch, der der Frau zuteil wird, nachdem die Priester ihr die Hand aufgelegt haben. Alles an dieser Szene ist über das Gewöhnliche erhoben, über das gewöhnliche Maß hinaus gesteigert: Die Riten werden mit großer Sorgfalt durchgeführt, es werden hochwertige und symbolträchtige Substanzen verwendet, sowohl das Objekt des Ritus als auch die Akteure – und daher vermutlich auch der Sprecher – nehmen eine hohe gesellschaftliche Stellung ein. Der jungen Frau werden im Verlauf der Riten ein besonderer Ort („Palast“), schönes Gerät („schmuck“) und dienende Personen („mägde“) zugesprochen – sie wird also noch weiter ausgezeichnet.

    

    Das Buch der hängenden Gärten 

     163

    Innerhalb des sich so ergebenden einheitlichen Bildes herrscht auch eine gewisse Vielfalt. Diese erzeugt durch die Verbindung von Gegensätzen oder Komplementen den Anschein von Vollständigkeit oder Geschlossenheit: Alle Mondphasen werden berücksichtigt; Milch steht für Kindheit und Reinheit, Wein dagegen für Ernte und späte Zeit; die drei Geschenke, die die Frau erhält, stammen aus ganz verschiedenen Bereichen. Ausgerichtet sind all diese Vorgänge auf einen Körper, und zwar von außen. Dass der Körper einer Person gehört und dass diese Person auch selbstständig handeln kann, kommt erst mit der dritten Strophe zur Sprache, als Antwort auf die eigentümlich unvermittelte Frage: „Und du selber?“1 Nun geht es nicht mehr um Aussehen und Verhalten, sondern um Geist und Haltung. Die junge Frau tut dreierlei: sich „läutern“, den eigenen „geist […] schonen“ und sich mit den Freuden des Erwartens „[be]lohnen“. Wenn sie nicht Gegenstand ritueller Handlungen ist, verbleibt die Frau „in einsamkeit“. Ein eigenes Sozialleben besitzt sie nicht. Selbst Priester sind verschwunden – diese waren nur mit dem Körperlichen befasst. Sie ergänzt die Riten durch Handlungen, die auf geistiger Ebene dieselbe Zielsetzung haben wie das „beizen“: Auch „läutern“ und „schonen“ zielen darauf ab, bestehende Unreinheiten zu beseitigen und gute Eigenschaften stärker hervortreten zu lassen.2 Beide sind im gegebenen Umfeld Minimalhandlungen: Bei einem so behüteten Dasein ist sicher nicht viel zu „läutern“, und „schonen“ bezeichnet auch eher ein Unterlassen als ein Tun, zumal wenn außer „reinen zauberkräutern“ keine anderen Realien hinzugezogen werden.3 Die weibliche Hauptperson des Gedichts ist im engen Wortsinn keine ‚Protagonistin‘ – sie handelt im Rahmen der Körperriten nicht selbst, übt sich geistig im Unterlassen und lehnt sich, wenn sie allein ist, gegen die Situation, in der sie sich befindet, nicht auf. Für das Gedicht und seinen Sprecher scheint es keine Rolle zu spielen, ob sie sich selbst zu der Rolle entschlossen hat, in der sie sich nun befindet. Unerwähnt bleibt auch, was für sie eigentlich die Konsequenzen der Erwählung durch den Meister wären und was mit ihr passieren wird, wenn er sie nicht „gewahrt“ oder „erkiest“. Selbst wenn die Sache für sie gut ausgeht, wird sie Wichtiges vielleicht nie „berüh-

    1 Grammatisch gesehen ist die Frage sehr kurz. Die folgenden Zeilen scheinen aber ebenfalls aus einer fragenden, zumindest aufmerksam aufnehmenden Haltung heraus gesprochen. Wie der Fragende das Beobachtete wertet, bleibt unklar – schwingt ein Vorwurf mit? Überhebliche Distanz? Vielleicht sogar Zuneigung? 2 Vilain betont stärker die Spannung zwischen ostentativer Körperlichkeit und selbst auferlegter Zucht (Robert Vilain: Stefan George’s Early Works 1890–1895. In: JR 51–77, hier 70). Auffällig ist jedenfalls, dass mit „zucht“ und „frucht“ gerade Wörter gereimt werden, die die Gegensätze hervorstechen und nebeneinander bestehen lassen. 3 In der Erstveröffentlichung des Gedichts (BfdK  II,  4, S. 102) steht noch „erregen oder schonen“ (SW III, 142). Das aktivere „erregen“ taucht in der Endfassung (ab der ersten Buchveröffentlichung 1895) nicht mehr auf.

    164 

     Christophe Fricker

    ren“, das heißt womöglich nie so wie ihr männliches Gegenüber ‚meistern‘. Während des ganzen Gedichts bleibt sie „[s]tumm“, selbst wenn ihr eine direkte Frage gestellt wird, die der Sprecher schließlich selbst beantwortet.

    Fragliche Endpunkte Die zweite Strophe des Gedichts spricht von dem erhofften Ergebnis der rituellen Vorbereitungen – von ihrem Ziel. Vier Aspekte werden genannt, die aufeinander aufbauen. Sie haben mit Aussehen, Verhalten und Wesen der jungen Frau zu tun und schließlich mit ihrer Rolle in der Gesellschaft. Dass sich durch das wochenlange „beizen“ das Aussehen verändert und die Frau „einer fürstin ähnlich“ werden könnte, ist wohl am wenigsten überraschend. Dass „beizen“ und priesterlicher Segen auch darin resultieren, dass „du […]  / Stumm in erwartung kniest“, verlangt vom Leser schon eine größere Vorstellungskraft. Am Ende der zweiwöchigen Vorbereitungen4 ist aus dem Leib „eine reife frucht / Und eine knospe duftig zart“ geworden. In biologischer Unmöglichkeit vereinigen sich wiederum Gegensätze, die zu Komplementen umgedeutet werden. Diese beiden Verse bilden eine Apposition zum elidierten Prädikat ‚du bist‘. Die Bildwelt bleibt einheitlich, und zwar im Hinblick auf Religiosität und auf das Antizipatorische: Die eben noch von Priestern Gesegnete (wenn auch nicht direkt Bekniete) kniet nun selbst, und die erwartungsvollen Vorbereitungen der vergangenen Wochen gehen darin über, dass die Gewählte nun selbst (oder nun erst recht) „in erwartung“ verharrt. Bei Vollmond findet dann das „fest“ statt, auf dem die junge Frau in die Gesellschaft eintritt. Die Vorbereitung soll sie in den Stand versetzt haben, vom „strenge[n] meister“ wahrgenommen und auserwählt zu werden. Welcher Art die soziale Hierarchie ist, an deren oberem Ende ein „meister“ steht, bleibt unklar. Trotz der aufwändigen Rituale, deren Ergebnis Schönheit, Frömmigkeit und Demut sind, ist keineswegs garantiert, dass der „meister“ die junge Frau überhaupt sieht, geschweige denn, dass er sie als „würdig“ anerkennt. Unklar bleibt auch, ob er bei seiner Entscheidung Wahlmöglichkeiten hat, ob also mehrere Frauen um seine Aufmerksamkeit und Gunst wetteifern.

    4 Da nicht von einem abnehmenden Mond die Rede ist, umfasst der Vorbereitungszeitraum wohl zwei Wochen; nichts widerspricht dem Eindruck, dass es sich um einen einmaligen Vorgang handelt.

    

    Das Buch der hängenden Gärten 

     165

    Der Vorhang Die dritte Strophe – und damit das Gedicht – endet mit einem Ereignis, das die Vorbereitungszeit wohl zwar nicht beenden, aber sicher strukturieren wird: Die junge Frau wartet einsam und betrachtet dieses Warten schon als ihren Lohn; für sie unerwartet „birst“ dann ein „vorhang“, dem sie sich offenbar gegenübersah. Der Blick wird frei auf den „ausbund aller zonen – / Den vielleicht du nie berühren wirst“. Aus dieser lakonisch-apodiktischen Formulierung ergeben sich zahlreiche Fragen: Kann ein Vorhang bersten? Wie steht der „strenge meister“ zu dem „ausbund aller zonen“? Sind sie gar dasselbe?5 Hat er hinter dem Vorhang Schätze aufgehäuft? Für die Ausgewählte des Gedichts – oder jedenfalls für die Frau seiner Wahl? Dürfte sie diesen Ausbund also berühren, wenn er sie auswählte? Diese Fragen lassen sich nicht eindeutig beantworten. Anders gesagt: Für das Gedicht entscheidend ist nicht die eine oder andere Antwort, sondern die Tatsache, dass sich solche Fragen – durchaus als ‚Suggestivfragen‘ – aus ihm ergeben, dass also vor allem ein bestimmtes Machtverhältnis, dasjenige zwischen „meister“ und Gewählter, noch stärker in den Blick rückt. Die Voraussage, ein Vorhang werde ‚bersten‘, und die Aussicht auf ein Fest bei Vollmond stehen offensichtlich in einer Beziehung zueinander. Das Bersten des Vorhangs wird, obwohl es im Gedicht erst zum Ende hin erwähnt wird, vor dem Fest stattfinden, denn es ereignet sich während der Wartezeit. Die Aussicht auf den „ausbund aller zonen“ wird die Protagonistin also bereits genossen haben, wenn sie zum Fest geht – und vielleicht wird sie den Ausbund auch schon berührt haben. Darüber lassen sich aber, so das Gedicht selbst, noch keine Aussagen treffen. Hier kommen die beiden wichtigsten Einzelereignisse überein, von denen im Gedicht die Rede ist: Mit Sicherheit werden beide eintreten; das Fest wird stattfinden, und der Vorhang wird bersten. Die Rituale der ersten und der dritten Strophe sind darauf ausgerichtet. Der Meister wird auf jeden Fall anwesend sein – und eine Welt hinter dem Vorhang gibt es ohnehin. All dies suggeriert, dass Ereignisse planmäßig ablaufen oder menschlicher Steuerbarkeit unterliegen. Ob aber eine Verbindung zwischen Frau und Meister sowie zwischen Frau und Welt hinter dem Vorhang zustande kommt, ist ebenso unklar, wie alles andere klar zu sein scheint. Es ist sogar so unklar, dass das Gedicht noch nicht einmal darüber spekuliert, wie das eine oder andere Szenario zustande kommen könnte. In dieser Hinsicht haben die Vorbereitungsrituale, anders als die erwähnten Kräuter, nichts mit Zauberei zu tun. In der Zauberei genügt es, die richtigen Worte zu sagen oder die richtigen Handlungen auszuführen, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Im Gedicht verhält es sich aber wie bei den christlichen Sakramenten, bei denen allein die Gnade Gottes über das Gelingen entscheidet und nicht etwa die Hände oder die Frömmigkeit des Priesters oder des Gläubigen.

    5 Das vermutet Vilain: Early Works (wie Anm. 2), S. 70.

    166 

     Christophe Fricker

    Wem oder was sich die Frau nach dem Bersten des Vorhangs gegenübersieht, wird vom Gedicht auf hintersinnig spielerische Art und Weise angedeutet. Die Schlüsselrolle spielt die Formulierung „ausbund aller zonen“. Laut Grimm ist der ‚Ausbund‘, wie das Synonym ‚Schaufalt‘ noch weiter verdeutlicht, „das vom kaufmann zur schau gelegte, aufgefaltete vordere ende eines stückes tuch, das immer das beste zu sein pflegt und zuletzt verkauft wird“. In seiner weiteren Bedeutung ist der Ausbund Inbegriff, bestes Beispiel, ein Höchstmaß Verkörperndes. Der Ausbund ist also von den Zonen, die er verkörpert, nicht so geschieden, dass Eines getrennt vor dem Anderen stünde. Selbst der Ausbund ist noch das Beste an der Zone. Ausbund und Zonen sind qualitativ zwar zu unterscheiden, ihrem Wesen nach aber miteinander verbunden. Indem das Beste als Ausbund bezeichnet wird, erhalten die Zonen selbst etwas Stoffliches, haben etwas vom selben „tuch“ – und man beginnt zu vermuten, dass auch zwischen Zonen und Vorhang eine Verbindung besteht. Vorhang, Ausbund und Zonen sind nach dieser Lesart allesamt stofflich, textil. Die Zonen und ihr Ausbund wären also ein Vorhang hinter dem Vorhang, und wer dem entstehenden mis-en-abîme nachgeht, findet womöglich hinter tausend Vorhängen keine Welt. In diesem Sinne wäre ‚bersten‘ unter Umständen gar nicht als plötzliches, gewaltsames Zerbrechen, Spleißen oder Zerreißen zu lesen, sondern im Sinne der zweiten Bedeutung dieses Verbs: von etwas im Übermaß erfüllt sein. Das Bersten ist hier kein Versagen, sondern eine Steigerung bestehender Qualitäten. Das „Vor“, mit dem die vorletzte Gedichtzeile beginnt, wäre demnach nicht (nur) räumlich, sondern (auch) kausal zu lesen (‚vor lauter …‘). Die Ausgewählte sähe sich nicht weniger, sondern immer mehr „vorhang“ gegenüber. Für die Ausgewählte wie für den Leser bleibt im mehrfachen Wortsinn undurchsichtig, was vielleicht letztlich unberührbar bleiben wird. Das Gedicht endet mit einer (eingeschränkten) Voraussage, nicht mit einem normativen ‚Nie … darfst‘ oder ‚Nie … sollst‘. Das Ausbleiben der Berührung könnte zwar trotzdem Folge eines Verbots sein; vielleicht ist aber nach dem Bersten des Vorhangs gar nichts mehr da, was noch zu berühren wäre. Wenn schon der erste Vorhang „birst“ (im Sinne eines Zerreißens), so könnte vielleicht auch der Stoff dahinter so stark in Mitleidenschaft gezogen worden sein, dass er nicht mehr zuhanden ist. Vorhänge und Schleier – textile Grenzen, die einen verborgenen Bereich anzeigen6 oder dem Menschen die Begrenztheit seines Wissens und Wahrnehmens verdeutlichen7  – gehören zum motivischen Grundbestand (nicht nur) der westlichen Literatur und Philosophie. Der Vorhang im Tempel (Mt 27, 51) hat eschatologische, der Schleier der Isis zunächst metaphysische, bei Schiller (Das verschleierte Bild zu Sais) epistemische und bei Novalis (Die Lehrlinge zu Sais) auch entwicklungspsycho-

    6 Vgl. Jacques Derrida: Donner la mort. L’éthique du don. Paris 1992. 7 Vgl. Jonathan Bennetts „veil of perception“ (Locke, Berkeley, Hume. Central Themes. Oxford 1971, S. 69).

    

    Das Buch der hängenden Gärten 

     167

    logische Bedeutung. Der Vorhang im Haus des 19. Jahrhunderts trennt Außen- und Innenwelt voneinander sowie im Innenraum traditionelle Vorstellung (schöne Stoffe) von moderner Technik (ein hinter einem Vorhang stehendes Telefon); der Vorhang im Theater trennt und vermittelt Wirklichkeit und Fiktion.8 Wenn solche Grenzen verletzt werden, geraten Kategorien ins Wanken. Die Moderne als Zeit der Revolutionen hat dieses Wanken zu ihrem Lieblingsspiel gemacht und verteufelt feste Grenzen als illegitim. Für sie ist die Aussicht, dass eine junge Frau etwas Enthülltes „nie berühren“ wird, ein anachronistisches Verbot, etwas ihr Zustehendes zu begreifen. Wo aber, wie in Georges Gedicht, das ‚Bersten‘ des Vorhangs letztlich vor allem neue Fragen nach der Natur des Vorhangs aufwirft, wird eine andere Tradition aufgerufen, die die gewobene Grenze nicht als etwas Vorläufiges oder Uneigentliches sieht, sondern als Symbol der Allegorie (paradigmatisch angelegt in Ex 34, 33) – und die damit auf die Nähe von Textilien und Text verweist.9 Goethe folgend hat die Romantik (Blake und Shelley im Besonderen) die Frage nach der Welt hinter dem Schleier, für den Symbolismus und die dekonstruktive Postmoderne wegweisend, in die Frage nach der Welt des Schleiers umgelenkt: „Von nun an kann Aufklärung kaum mehr als ein Enthüllungsgeschehen, sondern muß als geduldige Versenkung in die Faktur des Verschleiernden begriffen werden.“10 Georges Vorbereitungen problematisieren Undurchschaubarkeit und Unbegreiflichkeit als etwas, das die Welt überhaupt („alle[] zonen“) betrifft. Undurchschaubar und unbegreiflich bleibt auch der „strenge meister“, der in dieser Hinsicht in der Tat mit dem „ausbund aller zonen“ übereinkommt. Die Möglichkeit, „erkiest“ zu werden, und die Konfrontation mit dem gewaltsamen Bersten verdeutlichen zudem, dass das Verborgene, wenn oder indem es dem Menschen begegnet, ein aktiv Wirkendes ist und nicht nur passiv wahrgenommen wird.11

    Kontext Wenn man von einer fünfteiligen Gliederung des Buches der hängenden Gärten ausgeht, bildet Vorbereitungen mit dem folgenden Friedensabend den zweiten Teil. Die von Robert Boehringer zuerst 1958 herausgegebene und inzwischen dreimal neu aufgelegte und erweiterte Ausgabe in zwei Bänden fügt den ersten und zweiten – wie auch den vierten und fünften – Teil zusammen, geht also von einer Dreiteiligkeit des

    8 Vgl. Christian Knirsch: World Metaphor, Metametaphor. Veils in Literature, Literature as Veil. In: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 32 (2012) H. 1, S. 169–182. 9 Vgl. mit Bezug auf Joseph Brodsky auch CF 45. 10 Uwe Steiner: Verhüllungsgeschichten. Die Dichtung des Schleiers. München 2006, S. 241. 11 Vielleicht gilt dann bald auch hier: „Aus dem Initianden [bzw. der Initiandin] wird ein Opfer.“ Ebd., S. 12.

    168 

     Christophe Fricker

    Buches der hängenden Gärten aus. Dies erst recht lässt es ratsam erscheinen, bei einer Kontextuntersuchung von Vorbereitungen sowohl Friedensabend als auch das vorausgehende Gedicht Meine weissen ara haben safrangelbe kronen zu berücksichtigen. Die beiden Umfeldgedichte sind kontemplativer und kommen ohne Handlung und Figuren aus. Meine weissen ara zeichnet nur ein Bild, nämlich das von Papageien im Käfig. Friedensabend ist dagegen eine Sequenz von Bildern, die zwar alle unter dem Rubrum abendlicher Erholung nach einem heißen Tag laufen, dieses Thema aber jeweils unterschiedlich realisieren (und dabei den Begriff der Erholung fraglich werden lassen). Alle drei Gedichte sind sinnenfreudig – allerdings bleibt ein Sinn fast gänzlich unangesprochen. Bildeindrücke stehen im Vordergrund, und Farbadjektive (weiß, schwarz, safrangelb, schwefelgelb) untermauern die Präponderanz des Visuellen. Darüber hinaus werden alle drei Nahsinne bedient: das Fühlen und Tasten im rituellen „beizen“, im Auflegen der Hände sowie im Ertragen „sengend heisser stiche“, das Riechen im Duft der „knospe“ und der „gärten“, das Schmecken schließlich durch die „reife frucht“ und indirekt auch durch „milch und wein“, vielleicht auch durch die „zauberkräuter“. Höreindrücke spielen dagegen so gut wie keine Rolle.12 Sie werden mehrmals explizit ausgeschlossen: Die Papageien schlafen, „[o]hne ruf [und] ohne sang“ von sich zu geben (SW  III,  78), die Ausgewählte von Vorbereitungen soll auf dem Fest „[s]tumm“ knien, und sowohl der priesterliche „segen“ als auch der meisterliche Gnadenakt vollziehen sich offenbar tonlos; in Friedensabend ist von „zarten stimmen“ (SW  III,  81) die Rede, aber sie „schlummern und verstummen“, sind also ohnehin schon kaum hörbar und bald gar nicht mehr zu vernehmen, und auch die „hohen“ Stimmen werden zu einem „summen“ an der Wahrnehmungsgrenze. Die „lauten untergänge“ sind längst zu „schemen“ geworden, also aus dem Reich des Hörbaren ins Sichtbare überführt worden, „nur dumpf und selten“ wird ein einzelner Ton „aus unterworfnen welten“ hörbar (SW III, 81), der die einzige kenntliche Hörerscheinung in den drei Gedichten bildet – und den Übergang markiert zu den ‚Semiramis-Liedern‘, in denen sehr viel mehr zu hören ist. In allen drei Gedichten gibt es einen klar strukturierten Innenraum, in dem jeweils bestimmte Handlungsmöglichkeiten vorhanden sind oder bestimmte Verhaltensweisen naheliegen: Gefangene Vögel schlafen, eine eingesperrte Fast-schon-Auserwählte unterzieht sich strengen Ritualen, eine Stadtlandschaft kommt langsam zu sich. In

    12 Insofern gelten hier nicht Gundolfs mit Bezug auf das gesamte Buch getroffene Feststellungen: „Farben und Klänge häufen sich“ und es handele sich bei dem Buch um ein „Farben- und Klangspiel“ (FG 116) voller „Fünfsinnen-reize“ (FG 117). Eine gewisse Unausgewogenheit wird deutlich, auch wenn die Tragweite unserer Beobachtung im Zusammenhang symbolischer Synästhesien nicht überstrapaziert sei, zumal angesichts von Lechters Äußerung, das Buch kennzeichneten „der farbige Klang und die klingende Farbe“ (zit. in SW III 107), und angesichts der spezifischen Klanglichkeit des Gedichts selbst (die l-Alliteration zu Beginn der 3. Strophe und die ei-Diphthongierung in ihrer dritten Zeile).

    

    Das Buch der hängenden Gärten 

     169

    allen drei Fällen endet das Gedicht mit einer problematischen Grenzüberschreitung: Die Papageien „träumen“ von den Bäumen ihrer Heimat. Sie verlassen ihr Gefängnis, allerdings nur ihrer Vorstellung nach. Die junge Frau sieht sich Ungeahntem gegenüber, wird es allerdings wohl nicht berühren. In die immer ruhigere Landschaft dringen vereinzelt Töne unterworfener Gegner, ohne allerdings dem Frieden etwas anhaben zu können. Bewegung, Berührung und Beschäftigung bleiben aus, sie sind nicht mehr als eine Ahnung. Dass nicht alles seinen gewohnten Gang gehen könnte, deutet sich an, wird aber erst in den folgenden Gedichten des dritten Teils umgesetzt.

    Das Jahr der Seele

    Mario Zanucchi

    Nach der Lese · Waller im Schnee · Sieg des Sommers Entstehung und Überlieferung Für die Entstehung des Winter-Zyklus, Waller im Schnee, lässt sich als terminus ante quem ein Kärtchen Georges an Ida Coblenz vom 8. April 1893 anführen, mit dem er sie um die Rücksendung „der lezten strophen von W. im Schnee“ bittet (SW IV, 134). Zumindest einige Texte von Waller im Schnee entstanden daher bereits im Winter 1892/1993 nach der Begegnung mit Ida Coblenz, die sich somit als die dort angeredete Gefährtin zu erkennen gibt. Von einer neuen, Jahr der Seele betitelten Gedichtsammlung, die ihr hätte gewidmet werden sollen, schreibt George Anfang September  1895 an Ida Coblenz.1 Die handschriftliche Überlieferung ist spärlich. Erhalten haben sich nur eine teilzerstörte Sammelhandschrift in Kurrentschrift, auf den Spätsommer 1895 datierbar,2 sowie die Druckvorlage von 1897. Der komplette Herbst-Zyklus (Nach der Lese) erschien im Februar  1895 in Georges Zeitschrift Blätter für die Kunst (BfdK  II,  5, S. 130–135). Die erste, zweite und vierte Strophe des Winter-Gedichts Ich trat vor dich mit einem

    1 In einem Brief an Ida Coblenz von Anfang September 1895 bittet George sie um die Erlaubnis, den Band „mit ihrem namen [zu] zieren“ (G/C 59). Dort nennt er auch zum ersten Mal den künftigen Titel der Sammlung: „Ich möchte […] die lezten gedichte als Annum animae oder Jahr der Seele im dritten [buch] vereinigen“ (ebd.). Im Brief an Ida Coblenz könnte man Georges latinisierenden Titel noch mit dem Argument verteidigen, dass dort das Wort „annus“ im Akkusativ dekliniert ist. Im Teildruck in den Blättern für die Kunst vom Januar 1896 (BfdK III, 1, S. 3–5) behält George allerdings die jetzt eindeutig fehlerhafte Nominativform „ANNUM ANIMAE“ bei. 2 So die Datierung Georg Peter Landmanns (SW IV 121). Der Umschlag aus grüner Pappe trägt den endgültigen Titel. Diese Handschrift besteht aus vierzehn Blättern und enthält insgesamt 26 Gedichte. Es handelt sich zunächst um vierzehn Texte aus den drei Jahreszeitenzyklen – aus Nach der Lese: Komm in den totgesagten park und schau, Ihr rufe junger jahre die befahlen, Wir schreiten auf und ab im reichen flitter, Du willst am mauerbrunnen wasser schöpfen, Wir werden heute nicht zum garten gehen, Ich schrieb es auf: nicht länger sei verhehlt, Im freien viereck mit den gelben steinen, aus Waller im Schnee: Die blume die ich mir am fenster hege, Dein zauber brach da blaue flüge wehten, Wo die strahlen schnell verschleissen, aus Sieg des Sommers: Du willst mit mir ein reich der sonne stiften, Die silberbüschel die das gras verbrämen, Gemahnt dich noch das schöne bildnis dessen und Wenn trübe mahnung noch einmal uns peinigt. Hinzu kommen vier Gedichte aus dem mittleren Teil – Lieder wie ich gern sie sänge, Zu meinen träumen floh ich vor dem volke (nur die ersten drei Strophen), Blumen und Rückkehr – und acht Texte aus den Traurigen Tänzen – Des erntemondes ungestüme flammen, Der raum mit sammetblumigen tapeten, Es lacht in dem steigenden jahr dir, Gib ein lied mir wieder, Das lied das jener bettler dudelt, Drei weisen kennt vom dorf der blöde knabe, Entflieht auf leichten kähnen und Langsame stunden überm fluss.

    174 

     Mario Zanucchi

    segenspruche sind auf der Rückseite eines Briefentwurfs für Hofmannsthal von April oder Mai 1895 überliefert; wohl kurz danach entstand das vollständige Gedicht.3 Im Januar 1896 veröffentlichten die Blätter drei weitere Winter-Gedichte4 zusammen mit drei der Traurigen Tänze5 und im August desselben Jahres die ersten sechs Texte des Sommer-Zyklus6 sowie ein Gedicht aus Überschriften und Widmungen.7 In der ersten Hälfte 1897 verfasste George die Druckvorlage8 als Grundlage für die erste, nicht öffentliche Ausgabe, die im November 1897 bei Otto von Holten in Berlin als Privatdruck in 206 Abzügen erschien.9 Die editio princeps folgte der Druckvorlage in allen Details, vom Format bis hin zur Farbgestaltung. Wie in Georges Manuskript wurden Gedichtüberschriften und Versinitialen der Verse in Rot und Blau koloriert, was Georges Intention verrät, das gedruckte Buch soweit wie möglich der Handschrift anzunähern. Die Erstausgabe erschien im Kleinquartformat und bestand aus sechs Bögen mit insgesamt 48 Seiten ohne Seitenzählung.10 In der Erstausgabe fehlten noch die Widmung – die geplante Dedizierung an Ida Coblenz wurde getilgt11 –, die Vorrede sowie drei Gedichte, die erst in der öffentlichen Edition von 1899 hinzukamen.12 Als Schrifttype wurde eine römische Antiqua gewählt. Für die drucktechnische Gestaltung des Bandes sorgte Melchior Lechter, den George 1895 kennengelernt hatte (GHb I, 137–156, hier 139). Das Titelblatt von 1897 ziert eine Zeichnung Lechters,13 die durch ihren kräftigen Strich und ihre tiefschwarze Konturierung die Schwarzlot-Technik der Glasmalerei nachahmt. Lechters gattungsästhetisch hybride Imitation der (vorwiegend geistlichen) Glasmalerei ist ein bedeut-

    3 Faksimile in GA IV, 130. 4 Die steine in meiner strasse staken, Mir ist als ob ein blick im dunkel glimme und Ich trat vor dich mit einem segenspruche. Vgl. BfdK III, 1, S. 3–5. 5 Des erntemondes ungestüme flammen, Der raum mit sammetblumigen tapeten und Es lacht in dem steigenden jahr dir. Vgl. BfdK III, 1, S. 6  f. 6 Der lüfte schaukeln wie von neuen dingen, Den blauen raden und dem blutigen mohne, Du willst mit mir ein reich der sonne stiften, Die silberbüschel die das gras verbrämen, Gemahnt dich noch das schöne bildnis dessen, Wenn trübe mahnung noch einmal uns peinigt. Vgl. BfdK III, 4, S. 100–103. 7 Zu meinen träumen floh ich vor dem volke. Vgl. ebd., S. 104  f. 8 Bei dieser Druckvorlage „handelt es sich um die erste Niederschrift Stefan Georges in einer Stilschrift, die in der Folge als Stefan George-Schrift bezeichnet wurde“ (GHb I, 139). 9 Davon erschienen drei Vorzugsexemplare auf van Gelder und drei auf Japan. Die Normalausgabe wurde dagegen auf holländischem Bütten gedruckt. 10 Angaben nach SW  IV,  122. Für eine Beschreibung der späteren Auflagen siehe Wolfhard Raub: Melchior Lechter als Buchkünstler. Darstellung – Werkverzeichnis – Bibliographie. Köln 1969, S. 69  f. 11 Grund dafür war offenkundig Ida Coblenz’ Faszination für Richard Dehmel, den George zutiefst verachtete und den sie im Jahr 1901 heiratete. 12 Es handelt sich um folgende Texte: Wo in des schlosses dröhnend dunkler diele (SW IV, 55), So grüss ich öfter wenn das jahr sich dreht (SW IV, 71) und das an Alfred Schuler gerichtete und mit den Initialen A. S. überschriebene Gedicht mit dem Auftaktvers „So war sie wirklich diese runde?“ (SW IV, 82). 13 Unter der Zeichnung befinden sich in Lechter-Schrift Titel und Verfasserangabe sowie der Erscheinungsvermerk mit roten Anfangsbuchstaben.

    

    Abb. 1: Stefan George: Druckvorlage für den Privatdruck von 1897

    Das Jahr der Seele 

     175

    176 

     Mario Zanucchi

    Abb. 2: Melchior Lechter: Titelblatt des Privatdrucks von 1897

    

    Das Jahr der Seele 

     177

    samer Indikator für die Strategie der Kunst-Sakralisierung, die der Künstler im Einklang mit dem internationalen Symbolismus verfolgt. Diese Tendenz bestätigt auch das mediävalisierende Sujet eines Orgel spielenden Engels. Sowohl die formalen Anklänge an die Glasmalerei als auch das Motiv vom Engel, der auf einer Orgel – dem geistlichen Instrument par excellence – musiziert, dienen dazu, Georges Gedichtband eine sakrale Aura zu verleihen. Lechters Zeichnung lehnte sich an Van Eycks Genter Altar an.14 Wie bei Van Eyck ist das Antlitz des Engels nach unten geneigt, im strengen Linksprofil dargestellt und mit einem Stirnband geschmückt. Van Eycks Engel musiziert auf einem ‚Gotischen Positiv‘. Das Instrument in Lechters Zeichnung dagegen ist eine viel kleinere, mit nur acht Pfeifen ausgestattete Orgel, die an ein mittelalterliches Portativ erinnert15 und auf einem geschnitzten Untergestell steht. Dessen gotische Architekturornamente (das zweibahnige Lanzettfenster ohne Außenbögen und die beiden Dreipässe) bekräftigen die mediävalisierende Stimmung. Die Flügel von Lechters Engel, seine knieende Haltung im Halbprofil – die Nähe zum Leser schafft – sowie sein in reichen Falten herunterwallendes Gewand sind – dies ist der bisherigen Forschung entgangen – dem Verkündigungsengel aus Van Eycks Altar nachempfunden. Dass Lechters Engel in einem Jugendstilgarten musiziert, schafft eine klare Verbindung zu Georges jugendstilhafter Naturpoetik. Im Jahr der Seele-Band der Gesamtausgabe (1928) wurde das Titelbild durch ein – so Lechter – „langweiliges“ und „bürgerliches“ Porträtfoto (L/G 328  f.) des Dichters ersetzt, das Jacob Hilsdorf 1903 aufgenommen hatte und das George in einer dem Engel ähnlichen, meditativen Haltung im Linksprofil zeigt. Die Substitution entspricht offenbar dem monumentalen Persönlichkeitskult des Spätwerks. Durch seine asketische Schlichtheit markiert das Porträtfoto auch eine Zäsur gegenüber dem verspielten, ornamentfreudigen Frühwerk.16

    14 Annegret Müller: Melchior Lechter (1865–1937) – Leben und malerisches Werk. Diss. Bochum 1981, S. 142. 15 Daher kniet Lechters Engel (das Portativ heißt auch Knieorgel) im Unterschied zum Bild Van Eycks, wo der Engel das Positiv im Sitzen bedient. Dass es sich bei Lechters Portativ allerdings um ein Fantasieinstrument handelt, sieht man daran, dass der Portatifer in der Regel die Klaviatur mit der rechten Hand bedient, während er mit der linken den Blasebalg bedienen muss. Bei Lechter dagegen spielt der Engel auf der Klaviatur mit beiden Händen. Auch fehlt der Blasebalg im Hintergrund. 16 Cornelia Blasberg (Stefan Georges Jahr der Seele. Poetik zwischen Schrift und Bild. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 5 [1997], S. 217–292, hier S. 242) spricht von einer bereits avantgardistischen „Ko-Opposition“ von Foto und Text.

    178 

     Mario Zanucchi

    Abb. 3: Jan Van Eyck: Musizierende Engel (Genter Altar, St. Bavo-Kathedrale rechte obere Innenseitentafel, Innenseite)

    

    Abb. 4: Jan Van Eyck: Verkündigungsengel (Genter Altar, St. Bavo-Kathedrale, linke mittlere Außenseitentafel, Außenseite)

    Das Jahr der Seele 

     179

    180 

     Mario Zanucchi

    Aufbau und Deutung Strukturell bildet Das Jahr der Seele17 ein Triptychon. Der erste Teil versammelt 31  Gedichte und entwirft das eigentliche ‚Jahr der Seele‘.18 Er besteht aus den drei Jahreszeitenzyklen Nach der Lese, Waller im Schnee und Sieg des Sommers. Der Mittelteil – Überschriften und Widmungen – enthält 31 (dann in der öffentlichen Ausgabe 33) Gedichte, die in drei Sektionen eingeteilt sind: eine erste titellose Sequenz von Texten, die einen Rückblick auf Georges Dichten beinhalten, ferner zehn Erinnerungen an Begegnungen (Erinnerungen an einige Abende innerer Geselligkeit) und eine Reihe von Schattenrissen, d.  h. Widmungen an Künstlerfreunde (Verstattet dies spiel: eure flüchtig geschnittenen Schatten zum Schmuck für meiner angedenken saal). Den abschließenden dritten Teil bilden die 23 dreistrophigen Traurigen Tänze. Der architektonische Gestaltungswille wird auch in der Binnenartikulation der drei Jahreszeitenzyklen deutlich. So lassen sich die elf Gedichte von Nach der Lese, die insgesamt 30 Strophen umfassen, Morwitz zufolge in vier Gedichtgruppen gliedern.19 Aber auch die zehn Texte von Waller im Schnee, die aus 30 Strophen bestehen,20 sowie die zehn Gedichte von Sieg des Sommers, die insgesamt 28 Strophen zählen, kann man

    17 Die wichtigsten Studien: Friedrich Gundolf: Das Jahr der Seele. In: FG3 124–157; Enid Lowry Duthie: L’influence du symbolisme français dans le renouveau poétique de l’Allemagne: Les Blätter für die Kunst de 1892 à 1900. Paris 1933, S. 346–357; CD 140–162; HF; Jürgen Egyptien: Herbst der Liebe und Winter der Schrift. Über den Zyklus Nach der Lese in Stefan Georges Das Jahr der Seele. In: GJb 1 (1996/1997), S. 23–43; Cornelia Blasberg: Stefan Georges Jahr der Seele (wie Anm. 16), Hans Krämer: Ästhetische Erfahrung in einem Gedicht aus Georges Jahr der Seele. In: GJb 3 (2000/2001), S. 69–75, Joachim Jacob: Das Jahr der Seele. In: Große Werke der Literatur. Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg. Bd. 10. Hg. v. Hans Vilmar Geppert. Tübingen 2007, S. 59–73, sowie GHb I, 137–156 (mit einem Überblick über die bisherige Forschung). 18 Es ist bis heute umstritten, ob George den Titel des Bandes dem Schlussvers von Hölderlins Gedicht Menons Klage um Diotima entnahm: „Und von neuem ein Jahr unserer Seele beginnt“ (Gedichte. Hg. v. Jochen ­Schmidt. Frankfurt/M. 1992, S. 272). 19 EM I, 110. Die erste Dreiergruppe besteht aus zwei dreistrophigen Texten, auf die ein zweistrophiges Gedicht folgt, und ist inhaltlich allgemein gehalten. Die zweite Dreiergruppe setzt sich ebenfalls aus zwei dreistrophigen Gedichten und einem abschließenden zweistrophigen Text zusammen und schildert die Spaziergänge des Paares durch den Park. Die dritte Dreiergruppe, eine Abfolge von einem zweistrophigen Gedicht und zwei dreistrophigen Texten, kehrt die Sequenz um und porträtiert das Paar stehend oder sitzend. Die Zweiergruppe am Schluss besteht aus einem zweistrophigen und einem um eine Strophe verlängerten, vierstrophigen Gedicht. 20 EM I, 113. Die erste Sequenz des Winterzyklus besteht aus einem vierstrophigen, einem dreistrophigen und einem zweistrophigen Gedicht und schildert drei spätabendliche Wanderungen im Winter. Die zweite Dreiergruppe setzt sich aus einem zweistrophigen und zwei vierstrophigen Gedichten zusammen und beschreibt die vom Paar gemeinsam verbrachten Winterabende. Die dritte Gruppe bildet eine Sequenz aus einem zweistrophigen und einem dreistrophigen Gedicht, die auf den Dichter allein fokussiert sind. Die vierte und letzte Gruppe schließlich besteht aus einem zweistrophigen und einem vierstrophigen Text und kündigt den nahenden Frühling an.

    

    Das Jahr der Seele 

     181

    in vier Gruppen einteilen.21 Im letzten Gedicht signalisiert der „schmelz von reifen früchten“ (SW  IV,  45) das Herannahen des Herbstes, was nicht nur den Jahresring schließt, sondern auch für das zyklische Gefüge der Sammlung sorgt. Die tragende Konzeption des ersten Teils des Jahrs der Seele ist die symbolistische Auffassung der Landschaft als symbolische Repräsentation eines état d’âme. Sie geht auf Henri-Frédéric Amiel zurück22 und war bereits für Baudelaire von entscheidender Bedeutung.23 Nicht zufällig erntete Georges Gedichtband auch das Lob Mallarmés.24 Wiewohl die direkten Einflüsse des französischen Symbolismus im Jahr der Seele nachlassen, entspricht die Spiegelung von Seele und Natur noch der symbolistischen Poetik. Im Einklang mit dieser Spiegelungspoetik besitzt die Natur niemals einen autonomen Status, sondern fungiert stets als Reflektor des lyrischen Ich. Ihre Funktion besteht darin, als Neben-Akteurin im Rahmen einer symbolischen Parallelaktion das Seelengeschehen zu amplifizieren. So indiziert der Winter die existenzielle Krise des lyrischen Ich, während der Sommer dessen neuen Aufbruch veranschaulicht. Auch auf der Ebene der Einzelbilder herrscht diese Korrespondenz. So symbolisiert sowohl im Herbst- als auch im Winter-Zyklus das Verwelken einer Blume die Hinfälligkeit der Liaison des lyrischen Ich mit seiner jeweiligen Gefährtin.25 Die Natur agiert zuweilen auch als anthropomorphisierter dritter Akteur neben dem lyrischen Ich und seiner Gefährtin. So mahnt sie etwa im letzten Herbst-Gedicht, die abgebrochenen und toten Äste zu sammeln und somit das Ende der Liebesbeziehung zu besiegeln.26 Zuweilen wird diese Spiegelungsfunktion der Landschaft poetologisch gesteigert und die Natur zur symbolischen Repräsentantin des Dichters erhoben. Bezeichnend in diesem Sinne ist etwa Georges Einbeziehung poetologischer Symbole wie Schwäne (SW IV, 16 u. 40) und überhaupt Vögel (SW IV, 20, 38, 39), die seit der Antike den Dichter ver-

    21 Was den Sieg des Sommers anbelangt, bestehen die erste und die zweite Gruppe jeweils aus einer Trias unterschiedlich langer Gedichte (3/3/4 + 3/3/2) und sind von einer enthusiastischen Stimmung getragen. Sie verbinden das rauschhafte Erleben des Sommers mit der Überwindung der Einsamkeit und dem Schließen einer neuen Freundschaft, die diesmal als eine Dichterfreundschaft charakterisiert wird. Die dritte und vierte Gruppe enthalten jeweils eine Sequenz von einem zweistrophigen und einem dreistrophigen Gedicht. Sie schildern das, was beide Freunde durch ihre Beziehung gewonnen haben und berichten schließlich von ihrer Trennung. 22 „Un paysage quelconque est un état de l’âme, et qui lit dans tous deux est émerveillé de retrouver la similitude dans chaque détail“ (Henri-Frédéric Amiel: Fragments d’un journal intime. Précédés d’une étude par Edmond Schérer. Bd. 1. 2. Aufl. Paris, Neuchâtel u. Genf 1884, S. 55  f., 31. Oktober 1852). 23 Vgl. Gerhard Hess: Die Landschaft in Baudelaires Fleurs du Mal. Heidelberg 1953. 24 In seinem letzten Brief an George vom 11. Januar 1898 schreibt er: „Vous attribuez ici des saisons à votre âme; excellemment, puisque toute poésie même intime se joue dans le spectacle de quelque an idéal“ (Brief Mallarmés an George vom 11. 1. 1898, zit. nach RB I, 206). 25 Vgl. im Herbst-Zyklus das zehnte Gedicht („An einer hohen Blume welkem stiel / Entfaltest du’s“, SW IV, 21) und das achte Gedicht im Winter-Zyklus. 26 „Doch tritt von dem basaltenen behälter! / Er winkt die toten zweige zu bestatten“ (SW IV, 22).

    182 

     Mario Zanucchi

    sinnbildlichen und im Symbolismus besonders beliebt sind. In dieselbe Richtung weist Georges ‚Literarisierung der Landschaft‘ durch den Einsatz äquivoker Schlüsselwörter wie ‚Buche‘ (SW  IV,  15) oder ‚Blatt‘ (SW  IV,  16), die das literarische Allusionspotential seiner Landschaftsschilderungen erhöhen. Zuweilen wird die Natur dadurch am Dichten beteiligt, dass sie zum Resonanzraum für Musik und Gesang wird (SW IV, 25). Einmal bemüht George sogar den Topos der Dichter-Krönung, wenn von den „moosgekrönte[n] steinen“ die Rede ist (SW IV, 40). Wie im Symbolismus ist die Natur im Jahr der Seele eine ästhetisierte Natur. Davon zeugt bereits der Umstand, dass der lyrische Schauplatz nicht die offene Landschaft, sondern der Park, also eine bereits kultivierte und artifiziell gestaltete Natur ist.27 Darüber hinaus erzielt George einen hohen Grad an Ästhetisierung durch die Metaphorik. So setzt er etwa den Schnee mit Damaststoff28 oder Leinen,29 die Farbe des herbstlichen Laubs mit Bronze,30 die Tautropfen mit Perlen gleich.31 Wiederholt evoziert er künstliche Parkrequisiten wie Brunnen mit Löwenköpfen (SW  IV,  18), Basalttröge (SW IV, 22), Blumenvasen (SW IV, 20) sowie Gitter mit Schmiedearbeiten (die künstliche Eisen-Lilien schmücken).32 Ferner flicht er in die Naturgedichte auch objets d’arts wie Ringe mit Juwelen (SW IV, 18), geschnitzte Edelsteine (SW IV, 28), kristallene Leuchter (ebd.), Lüster (ebd.) und Teppiche (SW IV, 29) ein. Auffallend ist, dass der Frühling bei George nicht die Dignität einer eigenständigen Jahreszeit erhält. Dies erklärt Morwitz mit dem Hinweis auf Georges vermeintlich ‚griechisches Empfinden‘ und dem Argument, dass in Griechenland bis zum 7. Jahrhundert v. Chr. der Frühling angeblich nicht als eigenständige Jahreszeit galt.33

    27 Nur im Winter-Zyklus, eben als Zeichen der Krise, wandert das lyrische Ich in einer verschneiten offenen Landschaft, nach dem Verlust des Kunst-Parks. 28 Vgl. „Ein schwaches flöten von zerpflücktem aste / Verkündet dir dass lezte güte weise / Das land (eh es im nahen sturm vereise) / Noch hülle mit beglänzendem damaste“ (SW IV, 19). 29 „Die flocken weben noch am bleichen laken“ (SW IV, 24), „Wo die strahlen schnell verschleissen / Leichentuch der kahlen auen“ (SW IV, 33). 30 Vgl. „bronzebraunen laubes inselgruppen“ (SW IV, 19). 31 „Wenn von den eichen erste morgenkühle / Die feuchten perlen uns ins antlitz blies“ (SW IV, 44). 32 Vgl. „Vom tore dessen eisen-lilien rosten“ (SW IV, 20). 33 „Der Dichter sieht den Frühling nicht als gesonderte Jahreszeit, gerade wie die Griechen es taten, für die erst Alkman den schon von Homer erwähnten Frühling als vierte, den Menschen und Tieren Hunger bringende Jahreszeit neben die drei vorher allein anerkannten Jahreszeiten gestellt hat“ (EM I, 117  f., Hervorhebung d.V.). Bei dem Alkman-Bezug denkt Morwitz wohl an das Fragment 20.1 der Page-Edition: „ὥραϛ δ' ἔσηκε τρεῖϛ, θέροϛ / καὶ χεῖμα κὠπώραν τρίταν /καὶ τέτρατον τὸ ἦρ, ὅκα / σάλλει μέν, ἐσθίην δ' ἄδαν / οὐκ ἔστι“ (Fragmenta. Ed. D. L. Page, Poetae melici Graeci. Oxford 1962). Morwitz’ Bezugnahme auf das Alkman-Fragment unterliegt offenbar einem Missverständnis: Es ist bei Alkman nämlich nicht der Frühling, sondern der Herbst (ὀπώρα), der zum ersten Mal als eigenständige Jahreszeit neben den drei bereits etablierten Jahreszeiten (χειμών, θέρος und ἔαρ) auftritt. Bei Homer ist die „ὀπώρα“, d.  h. die Zeit, in welcher der Hundestern (Sirius) mit der Sonne zugleich am Himmel steht, meist noch ein Teil des Sommers, der Hochsommer, der heißeste Teil des Jahres (Hundstage) (vgl. F. K. Ginzel: Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie. Das Zeit-

    

    Das Jahr der Seele 

     183

    Georges Ausschluss des Frühlings dürfte sich allerdings eher durch die Aversion der Symbolisten dem Frühling gegenüber erklären, repräsentiert er doch als Inbegriff der Regeneration der Lebenskräfte den Gegenpol zur Décadence. Bereits Baudelaire gibt seinem Hass auf den Frühling als Verkörperung der „Vermessenheit der Natur“ („L’insolence de la Nature“)34 Ausdruck. Ähnlich spricht Mallarmé vom „printemps maladif“35 oder vom „vénéneux printemps“36 und setzt ihm den Winter als „Jahreszeit der ungetrübten Kunst“  entgegen. Die symbolistisch-dekadenten Reserven gegen den Frühling wirken auch im Jahr der Seele trotz dessen lebensphilosophischer Stoßrichtung weiter. Dies lässt übrigens erneut den Kunstcharakter des Naturzyklus erkennen und zeigt das Eingreifen der Kunst in die Naturordnung: Die Seele formt sich ein eigenes ‚artifizielles‘ Jahr, aus dem der Frühling verbannt ist. Der Jahreszeitenzyklus bietet dem Leser mehrere Deutungsmöglichkeiten. Auf einer ersten Lektüreebene bildet das Hauptthema die Suche des lyrischen Ich nach dem idealen Gefährten.37 Nach der Lese ist die Geschichte einer unauthentischen Liebe, die sich in einer herbstlichen Landschaft abspielt. Das lyrische Ich liebt die von ihm erwählte Begleiterin38 nicht und bleibt sich dessen stets bewusst. Es gelingt ihm, eine Zeitlang sich selbst und die Gefährtin über das latente Missverhältnis zu täuschen. Nach einigen Monaten friedlicher Melancholie muss er jedoch auf diese Halblüge verzichten. Jürgen Egyptien hat der Herbst-Beziehung eine filigrane und feinfühlige Analyse gewidmet, welche die Polarität des Ich-Du-Verhältnisses herausarbeitet. Für die seelische Fremdheit des Paares bezeichnend ist die eingeübte künstliche Sprache des lyrischen Ich im Gedicht Ja heil und dank dir die den segen brachte!,39 durch die es Kommunikation mit der Gefährtin nur vortäuscht.40 Ebenfalls symptomatisch für die defizitäre Beziehung ist Egyptien zufolge, dass das Glück im Gedicht

    rechnungswesen der Völker. Bd. 2. Leipzig 1911, 311  f.). Als „gesonderte Jahreszeit“ wurde der Frühling dagegen bereits von Homer betrachtet („ἔαροϛ δ᾽ ἐπιγίγνεται ὥρη“ [„die Jahreszeit des Frühlings bricht herein“], Il. VI 148, sowie auch Od. XIX 520). Vor diesem Hintergrund kann der Ausschluss des Frühlings bei George nicht – wie Morwitz es vorschlägt – als Affinität zum archaischen Griechentum gelten. 34 „Et le printemps et la verdure / Ont tant humilié mon cœur, / Que j’ai puni sur une fleur / L’insolence de la Nature“ (Œuvres complètes. Texte établ., prés. et ann. par Claude Pichois. Paris 1975–1976. Bd. 1, S. 157). Vgl. auch die berühmten Verse aus Le goût du néant: „Le Printemps adorable a perdu son odeur!“ (Ebd., S. 76) 35 „Le printemps maladif a chassé tristement / L’hiver, saison de l’art serein, l’hiver lucide“ (Œuvres complètes. Éd. prés., établ. et ann. par Bertrand Marchal. Paris 2003, Bd. 1, S. 11, Renouveau). 36 Ebd. Bd. 2, S. 252 (Bucolique). 37 Zum Folgenden EM I, 107–123. 38 Morwitz zufolge sind einzelne Züge der Herbst-Gefährtin, „soweit sie überhaupt individualisiert und charakterisiert ist“, an die Persönlichkeit von Ida Coblenz angelehnt (ebd., S. 113). 39 Vgl. „Ich werde sanfte worte für dich lernen“ (SW IV, 14). 40 Jürgen Egyptien: Herbst der Liebe und Winter der Schrift (wie Anm. 17), S. 33.

    184 

     Mario Zanucchi

    Wir stehen an der hecken gradem wall mit der Kindheit gleichgesetzt wird, die wie der Sommer bereits vergangen ist.41 In Waller im Schnee erwählt eine neue Gefährtin das lyrische Ich zu ihrem Beglei42 ter. Der Dichter hat zum Trost für seine eigene Traurigkeit eine Seele gefunden, die noch melancholischer als die seine ist und vor der er wie vor einem „grossen schmerze bete[t]“ (SW IV, 32). Auch jetzt aber ist die emotionale Nähe zu seiner Gefährtin nur vorgetäuscht. So muss er sich zwingen, unechte Trauer zu zeigen, um eine Wesensverwandtschaft mit der bedrückten Partnerin zu simulieren.43 Wie die Herbst-Begleiterin die Verse des lyrischen Ich bloß mechanisch repetiert, ohne sie existenziell nachzuvollziehen,44 so besitzt auch die Winter-Gefährtin für seine Dichtungen kein Sensorium. Im zentralen fünften Gedicht, Ich trat vor dich mit einem segenspruche, übergibt ihr der Dichter einen Diamant, das Symbol für die eigene Kunst. Der Gefährtin aber fehlt der Sinn für die sakrale Bedeutung des poetischen δῶρον, das sie nur skeptisch und mit zögernder Zurückhaltung annimmt: Du fassest fragend kalt und unentschlossen Den edelstein aus gluten tränen schimmern. (SW IV, 28)

    Schließlich erzählt der Sieg des Sommers die Geschichte einer authentischen Liebe – und zwar bezeichnenderweise einer homoerotischen, die nicht mehr im Zeichen der Trauer, sondern der „freude“ steht (SW IV, 38). Das lyrische Ich findet an seiner Seite einen jugendlichen Freund, mit dem zusammen es das Leben in seiner Vergänglichkeit auszukosten und das Glück in seiner Flüchtigkeit zu genießen lernt. Im Unterschied zu den vorigen Begleiterinnen ist der männliche Gefährte jetzt selbst ein Dichter.45 Nicht nur ist er in der Lage, die dichterische Sendung des lyrischen Ich nachzuvollziehen, sondern er dichtet selber.46 Trotzdem bedeutet diese homoerotische Dichterfreundschaft noch nicht die volle Erfüllung, wie das letzte Gedicht zeigt. Während der Freund sich in unverhohlenem Schmerz vom lyrischen Ich verabschiedet – und somit

    41 Ebd., S. 37. Vgl. „Uns schreckten deine worte und du meinst: / Wir waren glücklich bloss solang wir einst / Nicht diese hecken überschauen konnten“ (SW IV, 17). 42 Noch deutlicher als die Herbst-Gefährtin trägt die Winter-Begleiterin die Züge von Ida Coblenz, der George die Texte offenbar kurz nach ihrer Entstehung zukommen ließ. Im Gedicht Ich darf nicht dankend an dir niedersinken heißt es, dass die Gefährtin dem Geist der gleichen Flur wie das lyrische Ich entstiegen ist. Ida Coblenz wurde am 14. Januar 1870 in Bingen am Rhein geboren. 43 „Mein heilig streben ist mich traurig machen / Damit ich wahrer deine trauer teile“ (SW IV, 30). 44 „Du sprichst mir nach in klugen silben / Was mich erfreut im bunten buch. // Doch weisst du auch vom tiefen glücke / Und schätzest du die stumme träne?“ (SW IV, 16). 45 Für die Gestalt des sommerlichen Dichter-Freundes diente vielleicht der belgische Dichter Edmond Rassenfosse (1874–1947) zum Vorbild (dazu GHb III, 1583–1585). 46 Vgl. „Und wort und lied ersinnst du dass gefüge / Die klagen flattern in die höchsten äste. // Du singst das lied der summenden gemarken · / Das sanfte lied vor einer tür am abend“ (SW IV, 38).

    Das Jahr der Seele 

    

     185

    implizit gegen das Ethos der ‚Freude‘ verstößt, zu der sich beide verpflichtet hatten –, lauscht das lyrische Ich in die Nacht, ob ein Vogelruf eine voll erfüllende Liebe verkündige (EM I, 123).47 Auf einer gnoseologischen Deutungsebene zeichnet der Jahreszeitenzyklus eine Erkenntnissteigerung nach, bei der jede Jahreszeit eine neue Stufe des Bewusstseins verkörpert (HF  136). Von der Angst angesichts des Verfalls ausgehend, welche die Herbst-Erfahrung dominiert, entwickelt sich das Bewusstsein über die winterliche Flucht in die Innenwelt hin zur Akzeptanz der Vergänglichkeit – die höchste Erkenntnisstufe, zu der sich das lyrische Ich erst im Sommer-Zyklus erhebt. Sie beinhaltet eine Bejahung des Glücks in seinem ephemeren Charakter. Dies ist die ‚Lehre‘, die das Freundespaar aus der sommerlichen Natur zieht: Ruhm diesen wipfeln! dieser farbenflur! Sie lehrten uns das glück in seinem flüchten Zu streifen […] (SW IV, 45)

    Diese Akzeptanz der Vergänglichkeit erinnert an Nietzsche, der in Also sprach Zarathustra den Gedanken der ewigen Wiederkunft als ‚plötzliche Ewigkeit‘ denkt, demzufolge gerade das Vergänglichste ewige Intensität besitzt.48 Unüberhörbar sind auch die epikureischen Akzente. So fordert George zum vollen Genuß des Irdischen auf, und zwar ungeachtet seiner Vergänglichkeit: Gedenkt vom schönsten pflückend was hier sprosset Wenn süss und schwül die dämmrungssterne blicken Wenn glühn und dunkeln wechselnd euch bestricken Dass ihr soviel verliehen ist genosset! (SW IV, 43).

    Den Bezug auf den antiken Epikureismus stiftet, außer der Aufforderung zu genießen, auch die markante Metaphorik des Pflückens, die Epikur49 und Horaz50 anklingen lässt.

    47 „Ich aber horche in die nahe nacht / Ob dort ein lezter vogelruf vermelde / Den schlaf aus dem sie froh und schön erwacht – / Der liebe sachten schlaf im blumenfelde“ (SW IV, 45). 48 „Das Wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augen-Blick – Wenig macht die Art des besten Glücks.“ (Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Bd. X. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari.  3. Aufl. München, Berlin u. New York  1993, S. 344, Mittags). Dazu Marco Brusotti: Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra. Berlin u. New York 1997 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 37), S. 620. 49 „ὥσπερ δὲ τὸ σιτίον οὐ τὸ πλεῖστον πάντωϛ ἀλλὰ τὸ ἥδιστον αἱρεῖται, οὕτω καὶ χρόνον οὐ τὸν μήκιστον ἀλλὰ τὸν ἥδιστον καρπίζεται“ (epist. ad Menoeceum 126.5). 50 „carpe diem, quam minimum credula postero“ (carm. I, 11).

    186 

     Mario Zanucchi

    Das Ausmaß der Bewusstseinsentwicklung verdeutlicht auch der Schluss des letzten Sommer-Gedichts: Ich aber horche in die nahe nacht Ob dort ein lezter vogelruf vermelde Den schlaf aus dem sie froh und schön erwacht – Der liebe sachten schlaf im blumenfelde. (SW IV, 45)

    Die „Liebe“, d.  h. die Traumgeliebte, „schläft“ wie im zweiten Herbst-Gedicht51 und könnte wie im Initialgedicht des Winters bald „erwachen“52. Sie schläft allerdings nicht mehr im fernen und unerreichbaren „land der strahlen“53, sondern „im blumenfelde“: Die Immanenz des Lebensganzen wird jetzt als Dimension potentieller Erfüllung charakterisiert. Schließlich ist auch eine poetologische Lesart möglich.54 Sie scheint auch durch die Vorrede zur zweiten Auflage bestätigt zu werden, in der es heißt: „selten sind sosehr wie in diesem buch ich und du die selbe seele.“ (SW IV, 7) Gerade diese Präzisierung Georges, dass der Dialog des lyrischen Ich mit der Gefährtin in Wirklichkeit ein Soliloquium darstellt,55 lädt dazu ein, den Jahreszeitenzyklus als eine dichterische Autobiografie zu lesen, welche die Entwicklung von Georges Œuvre widerspiegelt. In Nach der Lese wandert das Paar durch eine herbstliche Parklandschaft, die an die Szenerie der Hymnen erinnert – war doch gerade der Park deren Schlüsselsymbol. Den Pilgerfahrten entlehnt ist das Symbol der Pilgerschaft, die im Zentrum von Waller im Schnee steht. Der Winter symbolisiert die Abwendung der Seele von der Außen-

    51 „Denn meine liebe schläft im land der strahlen.“ (SW IV, 13) 52 „Wie leicht dass hinter jenen höhenzügen / Verborgen eine junge hoffnung schläft · / Beim ersten lauen hauche wird sie wach.“ (SW IV, 24) 53 Mit Morwitz verstehe ich die Metapher „land der strahlen“ als Umschreibung für den prinzipiell jenseitigen Charakter der Traumgeliebten: „Er ist sich klar darüber geworden, dass sie [die ideale Gefährtin] unter andern Lichtstrahlen als denen, die diese Erde treffen, unerweckt ruht“ (EM I, 109). Bei dem „land der strahlen“ kann es sich nicht um den Sommer handeln, und zwar aus dem Grund, weil in der nächsten Strophe der Dichter als Surrogat für die Traumgeliebte eine Gefährtin akzeptiert, die sich ihm schon „im brennen / Des Sommers“ „als geleit […] schüchtern dargeboten“ hatte (SW IV, 13). Daraus folgt, dass das „land der strahlen“ nicht der Sommer sein kann, sondern eine jenseitige Dimension der Vollkommenheit repräsentiert. 54 Egyptien warnt zu Recht vor der Überstrapazierung der poetologischen Lesart, wie sie etwa in Mickiewicz’ und Brinks’ Deutung von Wir schreiten auf und ab im reichen flitter zu konstatieren ist (Herbst der Liebe und Winter der Schrift [wie Anm. 17], S. 34–36). Vgl. Denis Mickiewicz und Ellen Brinks: A polysemic reading of Stefan George’s „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“. In: Memoriæ vis: Essays in Celebration of Arthur R. Evans. Ed. by Erasmo Leiva-Merikakis and Erdmann Waniek. Atlanta 1993, S. 125–146. 55 Einzig in den Gedichten Wir stehen an der hecken gradem wall im Herbst-Zyklus und in zwei Texten des Sommer-Zyklus (Du willst mit mir ein reich der sonne stiften und Wenn trübe mahnung noch einmal uns peinigt) wird dem lyrischen Du das Privileg der direkten Rede zugestanden.

    

    Das Jahr der Seele 

     187

    welt und ihren Übergang in eine anorganische Kunstsphäre, die an Algabal erinnert. Bereits das erste Wintergedicht (Mit frohem grauen haben wir im späten [SW IV, 26]) klingt an die erhabenen Landschaften des Algabal an,56 während der fünfte Text, Ich trat vor dich mit einem segenspruche (SW IV, 28), die Algabal-Poetik in katalogartiger Form inszeniert.57 Das zentrale Gedicht Die blume die ich mir am fenster hege (SW IV, 31) repräsentiert die Palinodie des vierten Unterreich-Gedichtes (SW II, 63). Das Verwelken einer Zimmerpflanze im Winter indiziert das Scheitern von Algabals Künstler-Traum, der in der Erschaffung einer artifiziellen Blume bestand, sowie die Unabwendbarkeit des Lebens- und Jahreszeitenzyklus: Die „früher“ blühende Pflanze stirbt im Winter trotz der „guten pflege“ des Künstler-Gärtners ab. Die in der Schlussstrophe pointierte Erfahrung der ‚Leere‘ führt die Aporie des symbolistischen Nihilismus vor Augen.58 Eine symbolische Überfahrtszene im letzten Wintergedicht (SW IV, 33) leitet den Dichter vom sterilen und winterlichen Algabal-Ästhetizismus zu einer neuen lebenszugewandten Poetik über, die im Sieg des Sommers entworfen wird. Der SommerZyklus repräsentiert insofern einen Durchbruch, als er den Triumph der vitalistischen Lebensbejahung über die symbolistische Weltflucht schildert. Die Ablehnung des symbolistischen Dualismus von Traum und Leben kommt im zentralen achten Sommer-Gedicht deutlich zur Geltung. Dessen Schlussstrophe lautet: 56 Die „verwunschnen tale / Von nackter helle und von blassen düften“ (SW IV, 26) sind ein genaues Algabal-Zitat und evozieren „de[n] raum der blassen helle“ aus dem Unterreich (SW II, 62). Die „­ grüfte“ (SW IV, 26) sind offenkundig eine Reminiszenz an Algabals „grotten“ aus dem ersten Unterreich-Gedicht (SW II, 60) und auch im Algabal schließlich wächst die Liebe „im reif der qualen“ (SW IV, 26): Algabals unmenschliches Schönheitsideal ist für ihn nur ein „quell“ neuer „qual“ (SW II, 81). 57 SW IV, 28. Zu fast jedem Vers lassen sich Parallelstellen aus dem Algabal anführen. Das Gedicht erscheint in der Tat als der – erfolglose – Versuch des lyrischen Ich, die ahnungslose Geliebte in die fremde Welt des Algabal-Ästhetizismus einzuweihen. Schon die Evokation von Kerzen und Edelsteinen in der ersten Strophe klingt an das erste Unterreich-Gedicht an („Jene [grotten] von hundertfarbigen erzen / Aus denen juwelen als tropfen sintern / Und flimmern und glimmen vor währenden kerzen“ [SW II, 60]). Auch die Folgeverse 5–8 – „Du aber weißt nichts von dem opferbrauche · […] Von schalen die mit wolkenreinem rauche / Der strengen tempel finsternis erwärmen“ – lassen aufhorchen. Die Schalen weisen auf die Urnen des zweiten Unterreich-Gedichts zurück („Und dreimal tausend schwere urnen spenden / Den geist von amber weihrauch und zitrone.“ SW II, 61), während der Tempel an Algabals „heiligtum[]“ erinnert (SW II, 63). Auch die dritte Strophe ist nach der Technik des Selbstzitats konstruiert: Die apostrophierte Geliebte wisse nichts „Von engeln die sich in den nischen sammeln / Und sich bespiegeln am kristallnen lüster“ (SW IV, 28) – womit George auf die Spiegelungspoetik des Algabal zurückverweist. Auch in der letzten Strophe des Gedichtes gibt es Anklänge an den Algabal: Der Schluss – „Du fassest fragend kalt und unentschlossen / Den edelstein aus gluten tränen schimmern“ (ebd.) – erinnert an den Epilog des dritten Unterreich-Gedichts: „Da lag die kugel auch von murra-stein / Mit der in früher jugend er gespielt · / Des kaisers finger war am tage rein / Wo tränend er sie vor das auge hielt.“ (SW II, 62). Dagegen verraten Kälte und Unentschlossenheit, mit der die unbedarfte Gefährtin den Juwel empfängt, ihr Unverständnis der Algabal-Poetik. 58 So auch Heidi E. Faletti: „In Georges Zyklus ist das Nichts, der symbolistische néant, das zentrale Wintererlebnis“ (HF 136).

    188 

     Mario Zanucchi

    Und törig nennt als übel zu befahren Dass ihr in euch schon ferne bilder küsstet Und dass ihr niemals zu versöhnen wüsstet Den kuss im traum empfangen und den wahren. (SW IV, 43)

    Die poetologische Entwicklung wird in ihrem Ausmaß erst klar, wenn man bedenkt, dass die Dichotomie von Traum und Wirklichkeit die Ausgangssituation des Herbstzyklus darstellte, in dem das lyrische Ich die Diskrepanz zwischen der ideellen und der realen Begleiterin beklagt (SW IV, 13). Die Idealität der Traumwelt verflüchtigt sich jetzt und weicht einer verabsolutierten Immanenz. Der symbolistische Pessimismus wird von einer neuen Zuversicht abgelöst. Nicht zufällig ist ‚Freude‘ die im Sieg des Sommers dominante Stimmung. Die von George leitmotivisch beschworene ‚Freude‘ evoziert einen Schlüsselterminus der pantheistischen Tradition seit der Antike – die stoische εὐθυμία, die sich aus der Konzeption einer ewigen Allnatur und dem daraus folgenden Verständnis der Vergänglichkeit als Fortdauer im Wechsel ergibt. Genau daraus entsteht die Freude als innere Zustimmung und „freiwillige Annahme des von der allgemeinen Natur Zugeteilten“59. Bei George erscheint die Freude als Selbstgenügsamkeit, als Bescheidung bei der Immanenz und Absage an die symbolistische Jenseitsorientierung.60 Sowohl die Anspielungen auf den antiken Pantheismus als auch die Charakterisierung des neuen Daseinsmodus als „reich der sonne“ erlauben es, die klassizistische Stoßrichtung der neuen Poetik zu erkennen, die deutlich apollinische Züge trägt.61 Von der melancholischen Poetik der Décadence, die der Winter-Zyklus inszeniert, unterscheidet sich die klassizistische Sommer-Poetik nicht nur durch ihre Leitkonzeption der ‚Freude‘, sondern auch durch das Ideal des Maßes und der Affektregulierung. So soll das allzu Herbe und Stürmische sowie jeder unverhüllte Ausdruck von Schmerz einem ästhetischen Stoizismus weichen, den George mit dem Dichten ineins setzt.62 Auf diesen stoizistischen Triumph über die Melancholie deutet offenbar auch der Titel ‚Sieg des Sommers‘ hin.

    59 „τὴν ἑκούσιον ἀπόδεξιν τῶν ὑπὸ τῆϛ κοινῆϛ φύσεωϛ ἀπονεμομένων῞ (Marcus Aurelius: ΤΑ ΕΙΣ ΕΑΥΤΟΝ, X 8). 60 Dies geschieht im Bewusstsein der ewigen Wiederkehr des Lebensganzen. Die Schmetterlinge bringen sich in Sicherheit, funkeln aber wieder auf, sobald der Sturm vorübergegangen ist: Dadurch wird die Ewigkeit der Allnatur angedeutet. Die Vergänglichkeit – das Gewitter – vermag nicht, die Kontinuität des Lebenszyklus in Frage zu stellen. 61 So auch Morwitz (EM I, 120). 62 Vgl. „denn kunst ist nicht schmerz und nicht wollust sondern der triumph über das eine und die verklärung des andern. […] aus der grösse des sieges und der verklärung fühle man grösse und echtheit der erregung.“ (BfdK III, 1, S. 31, Über Kraft).

    Das Jahr der Seele 

    

     189

    Der sommerliche Vitalismus symbolisiert schließlich eine Überwindung der Erinnerungspoetik, die gerade für den Herbst- und Winter-Zyklus konstitutiv war.63 Bildete gerade die Mnemotechnik ein Grundverfahren der symbolistisch-dekadenten Poetik,64 so fordert George jetzt die ‚Bändigung‘ der Vergangenheit:65 Wie ein erwachen war zu andrem werden Als wir vergangenheit in uns gebändigt Und als das leben lächelnd uns gehändigt Was lang uns einzig ziel erschien auf erden. (SW IV, 42)

    Form Im ersten Teil des Jahrs der Seele ist die Metrik vom gereimten jambischen Pentameter, dem vers commun, dominiert, der durch seine Monotonie den meditativen Charakter der Sammlung unterstreicht. Stimmungsveränderungen werden durch kleinste rhythmische Nuancen angedeutet, etwa durch die Anaklasis im Incipit des ersten Gedichts aus Nach der Lese: Kómm in den totgesagten park und schau (SW IV, 12).66 Sonst hebt sich in Nach der Lese nur das fünfte Gedicht – Umkreisen wir den stillen teich – durch seinen vierhebigen Rhythmus ab. Auch seine vierstrophige Struktur unterscheidet es von den restlichen Gedichten, die aus Sequenzen von drei und zwei Strophen bestehen.67 In Waller im Schnee sticht metrisch nur das Abschlussgedicht Wo die strahlen schnell verschleissen hervor, welches das Ende des Winters ankündigt und ein vierhebiges trochäisches Metrum aufweist, wodurch George die Stauung der sich daraufhin entladenden Lebenskräfte andeutet. Im Unterschied zu den meist drei- und zweistro-

    63 Vgl. sowohl das Initialgedicht sowie auch das letzte Gedicht des Herbst-Zyklus: „Doch wenn erst unterm schnee der park entschlief / So glaub ich dass noch leiser trost entquille / Aus manchen schönen resten – strauss und brief – / In tiefer kalter winterlicher stille“ (SW IV, 22). 64 Manfred Koch: Mnemotechnik des Schönen. Studien zur poetischen Erinnerung in Romantik und Symbolismus. Tübingen 1988. 65 SW IV, 42. Vgl. auch: „Wo die strahlen schnell verschleissen / Leichentuch der kahlen auen · […] / Türm ich für erinnerungen / Spröder freuden die zersprungen / Und für dich den scheiterhaufen“ (SW IV, 33). Im Blumen-Gedicht wird gemeinsam mit dem welken Gewächs auch die Erinnerung an seine blühende Vergangenheit zerstört. Im Sommer-Zyklus wird immer wieder die Lösung von der Erinnerung und der Vergangenheit besungen: „Vergesst der schmerzen und des alten blutes / Gerissen am verfallnen dorngesträuch / Und blätter dürrer zeiten leichten mutes / Betretet sie und lasst sie hinter euch!“ (SW IV, 37). 66 Denkbar ist Anaklasis auch im neunten Gedicht („Síeh unterm baume draussen vor dem fenster“, SW IV, 20). 67 Was die Strophenanzahl der Gedichte aus Nach der Lese anbelangt, ergibt sich die Sequenz: 3 – 3 – 2 – 3 – 3 – 2 – 2 – 3 – 3 – 2 – 4.

    190 

     Mario Zanucchi

    phigen Gedichten des ersten Teils sind das Anfangs- sowie das Endgedicht und die beiden mittleren Gedichte in Waller im Schnee vierstrophig.68 Auch Sieg des Sommers ist vom vers commun geprägt, der nur selten variiert wird. So verkürzt George im ersten und im fünften Gedicht den letzten Vers um eine Hebung: „Wenn es der glutwind nicht verrät?“ (SW IV, 36), „Die schmeichelnde den schlanken hals“ (SW IV, 40). Minimale Abweichungen von der Monotonie des Pentameters ergeben sich im zweiten und im zehnten Gedicht durch unsynkopierte Proparoxytona.69 Bis auf das dritte Gedicht, das vier Strophen besitzt, sind sämtliche Texte in Sieg des Sommers zwei- und drei­ strophig.70 Auch die Reimpoetik steht im Zeichen großer Regelmäßigkeit und Formvollendung. Einzig das Initialgedicht von Waller im Schnee sticht durch sein irreguläres Reimschema hervor,71 das die Desorientierung des Dichter-Pilgers in den unwirtlichen Schneelandschaften formal transponieren soll. Sonst optiert George entweder für den Kreuzreim (in dreizehn Gedichten), den umarmenden Reim (in zehn Gedichten) oder für eine Kombination beider (in sieben Gedichten).72 Hinzu kommt im Eröffnungsgedicht Komm in den totgesagten park der Einsatz des Paarreims in der Mittelstrophe.73 Alle Reime sind rein. Das Reimgenus ist meist weiblich (in neunzehn Gedichten) oder abwechselnd männlich und weiblich (in zwölf Gedichten).74 Während sich in Nach der Lese und Sieg des Sommers die beiden Reimoptionen die Waage halten, ist in Waller im Schnee in zehn von elf Gedichten der weibliche Reim vorherrschend, was für eine akustische Intensivierung der winterlichen Monotonie sorgt. Im Vergleich zu der syntaktischen Kühnheit von Georges frühen Zyklen fällt im ersten Teil des Jahrs der Seele die stilistische Simplifizierung auf. Von den drei Tendenzen, die nach Hubert Arbogast (HA) Georges frühen Stil prägen – Verkürzung, Disjunktion und Spannung –, ist einzig die Verkürzung noch ausgeprägt: Georges Syntax ist immer noch elliptisch und um semantische Konzentration bemüht, verzichtet aber weitgehend auf gewaltsame Sperrungen zugunsten eines fließenden Duktus. Die immer noch prominente Tendenz zur Verkürzung lässt sich an der Bildung von zusammengesetzten Wörtern belegen: Nicht weniger als 53 sowohl lexikalisierte

    68 Dies ergibt die Sequenz: 4 – 3 – 2 – 2 – 4 – 4 – 2 – 3 – 2 – 4. 69 Vgl. „blutigen“ (SW IV, 37), „eigene“ (SW IV, 44). 70 Nach der Sequenz: 3 – 3 – 4 – 3 – 3 – 2 – 2 – 3 – 2 – 3. 71 Vgl. abca bcde defg hfgh. 72 Kreuzreim: Nach der Lese 4, 9, 10, Waller im Schnee 5, 6, 7, 8, Sieg des Sommers 1, 2, 4, 5, 6, 10; umarmender Reim: Nach der Lese 2, 6, 8, Waller im Schnee 3, 4, 9, 10, Sieg des Sommers 7, 8, 9; Kombination beider: Nach der Lese 1, 3, 5, 7, 11, Waller im Schnee 2, Sieg des Sommers 3. 73 Vgl. abab ccdd effe. 74 Weiblicher Reim: Nach der Lese 2, 3, 4, 7, 8, Waller im Schnee: 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, Sieg des Sommers: 1, 3, 7, 8, 10; Wechsel von weiblichem und männlichem Reim: Nach der Lese 1, 5, 6, 9, 10, 11, Waller im Schnee: 1, Sieg des Sommers: 2, 4, 5, 6, 9.

    

    Das Jahr der Seele 

     191

    als auch neu gebildete Komposita sind zu verzeichnen, darunter „totgesagt“, „sterbewochen“, „sonnen-wanderungen“, „buchengang“, „strahlenspuren, „wasserwege“, „frühlings-weich“, „himmelswonne“ u.  a.; auch eine Apokoinu-Konstruktion ist belegt.75 Die Tendenz zur Disjunktion, welche die Satzglieder voneinander trennt und dem Gleiten des Tones entgegenwirkt, ist kaum noch präsent. Die vom frühen George so beliebte Parenthese, die Ersetzung abhängiger Sätze durch eingeschobene Hauptsätze oder Appositionen, ist selten.76 Während die Genitiv-Anastrophe („der reinen wolken unverhofftes blau“ [SW IV, 12]) immer noch beliebt ist,77 sind größer angelegte Hyperbata kaum noch vorhanden. Anstelle der Disjunktion tritt polysyndetische Verknüpfung ein.78 Auch die Tendenz zur Spannung ist wenig ausgeprägt. Hypotaktische Bildungen mit Protasis und Apodosis werden sparsam eingesetzt.79 Die Hypotaxe weicht der Parataxe: Sowohl in Nach der Lese als auch in Waller im Schnee sind die Hauptsätze gegenüber den Nebensätzen in der Mehrzahl.80 Stilistisch markant ist ferner der imperativische und paränetische Gestus. Von den finiten Verbformen sind 37 Imperative, die an die jeweiligen Gefährten bzw. an den Leser gerichtet sind.81 Die Überblendung von fiktivem Gegenüber und Rezipient ist eine von George gezielt eingesetzte Technik, um die rezeptionsästhetische Inten-

    75 „Den blauen raden und dem blutigen mohne  / Entgeht dem lispelnden und lichten korn!“ (SW IV, 37). 76 Vgl. „Verkündet dir dass lezte güte weise / Das land (eh es im nahen sturm vereise) / Noch hülle“ (SW IV 19), „Aus manchen schönen resten – strauss und brief –“ (SW IV, 22), „O gib dass – grosse mutter und betrübte! / In dieser seele wieder trost entspriesse“ (SW IV, 29), „Und legte in die kinderhand die feine / Die schmeichelnde den schlanken hals“ (SW IV, 40). 77 Sie ist insgesamt dreizehnmal belegt. 78 Für die Konjunktion „und“ lassen sich insgesamt 77 Vorkommnisse belegen: In Nach der Lese wird sie 22 Mal, in Waller im Schnee 21 Mal und in Sieg des Sommers 34 Mal eingesetzt. Letzteres erklärt sich aus der lebensphilosophischen Dimension, die den letzten Binnenzyklus dominiert und auch im Polysyndeton, das den alles verbindenden Lebensfluss symbolisiert, zum Ausdruck kommt. 79 In Nach der Lese: „Denn wie uns manchmal rasch und unerklärt / Dies leichte duften oder leise wehen / Mit lang vergessner freude wieder nährt: // So bringt uns jenes mahnende gespenster / Und leiden das uns bang und müde macht“ (SW IV, 20). In Waller im Schnee: „Doch wenn die wirbel mich zum abgrund trügen · / Ihr todeswinde mich gelinde träft: // Ich suchte noch einmal nach tor und dach“ (SW IV, 24). In Sieg des Sommers: „Gedenkt vom schönsten pflückend was hier sprosset / Wenn süss und schwül die dämmrungssterne blicken / Wenn glühn und dunkeln wechselnd euch bestricken / Dass ihr soviel verliehen ist genosset!“ (SW IV, 43, Hervorhebung d.V.). 80 In Nach der Lese ist das Verhältnis von 78 Hauptsätzen zu 29 Nebensätzen, in Waller im Schnee von 62 Hauptsätzen zu 41 Nebensätzen. Einzig in Sieg des Sommers kehrt sich das Verhältnis um. Dort dienen die anaphorischen Akkumulationen von Nebensätzen dazu, durch pathetische Intensivierung die Intensität des Sommers auszumalen. 81 In manchen Texten erreichen die Imperative eine erstaunliche Konzentration. Von den elf finiten Verbformen im Gedicht „Den blauen raden und dem blutigen mohne“ aus dem Sommer-Zyklus sind neun Imperative.

    192 

     Mario Zanucchi

    sität der Gedichte zu erhöhen. Über die imperativischen Formen vermittelt George auch die jeweils ‚richtige‘ Haltung – etwa das Vergessen des früheren Leids,82 die Hinwendung zur Zukunft,83 die Akzeptanz der Vergänglichkeit –,84 sodass die Imperative auch eine didaktische Funktion erfüllen. Was die Bildlichkeit anbelangt, ist Georges Bestreben auffallend, das Naturjahr und die Seele miteinander zu verweben. So entstehen Metaphern, die Psychisches und Physisches stets aufeinander beziehen. Neben den Metaphern in praesentia bedient sich George zuweilen auch der typisch symbolistischen Metapher in absentia, indem er das Substituendum, den eigentlichen Ausdruck, verschweigt und einzig das Substituens, den metaphorischen Ausdruck, nennt. Daraus entsteht die für die Metapher in absentia charakteristische Dunkelheit, da der Leser den fehlenden thematischen Bereich selbst ergänzen soll. So deuten etwa die „rufe junger jahre“ (SW IV, 13) im zweiten Herbst-Gedicht – vermutlich – auf die frühen Gedichte hin, die das Erscheinen der Traumgeliebten herbeiwünschten (EM I, 109). „Die feuchten perlen“ (SW IV, 44) der „morgenkühle“ im neunten Sommer-Gedicht umschreiben dagegen die Tautropfen, die wieder bei George oft Symbol für Tränen sind, was einer doppelten Verschlüsselung gleicht (EM I, 123). Symbolistischer Provenienz sind auch die – spärlich eingesetzten – Synästhesien.85

    Intertextualität Die intertextuelle Dimension des Jahrs der Seele ist fast völlig unerforscht. Während Georges frühe Gedichtsammlungen ganz im Zeichen Baudelaires sowie der französischen Symbolisten stehen, lässt sich in Das Jahr der Seele ein erstarkter Einfluss der deutschen Dichtungstradition feststellen, was auch seine Popularität bei einem breiten Publikum erklärt.86 Bereits Steffen Martus hat auf die Nähe Georges zur epigonalen Poetik Emanuel Geibels aufmerksam gemacht, die mit George typische Requisi-

    82 „Vergesst der schmerzen und des alten blutes“ (SW IV, 37). 83 „Nun fühlt wie andre namen wunder wirken · / Zu jungen frischen stämmen lenkt den schritt“ (ebd.). 84 „Die reichsten schätze lernet frei verschwenden“ (SW IV, 43). 85 Vgl. „das weiche grau“ (SW IV, 12), „Dies leichte duften oder leise wehen“ (SW IV, 20), „In tiefer kalter winterlicher stille“ (SW IV, 22), „von blassen düften“ (SW IV, 26), „kühlen strahle“ (SW IV, 25), „Von schalen die […]  / Der strengen tempel finsternis erwärmen“ (SW  IV,  28), „ein warmer anruf“ (SW IV, 30), „Wenn süss und schwül die dämmrungssterne blicken“ (SW IV, 43). 86 Das Jahr der Seele war der bei weitem beliebteste Gedichtband Georges. Zwischen 1897 und 1922 erschienen nicht weniger als elf Auflagen. In Frankreich dagegen fiel die Rezeption verhalten aus, wie die von Henri Albert firmierte Rezension in Mercure de France (1898) belegt, vgl. Enid Lowry Duthie: L’influence du symbolisme français (wie Anm. 17), S. 356  f.

    Das Jahr der Seele 

    

     193

    ten der Park-Dichtung wie Weiher, Buchengang, Rosen usw. teilt.87 Martus macht auch klar, dass Georges Naturdichtung implizit gegen den Naturalismus gerichtet ist, der sich inzwischen von der traditionellen Naturlyrik losgesagt hatte. So will etwa Arno Holz in einem Gedicht aus den Modernen Dichter-Charakteren (1885) programmatisch „den Frühling in der Stadt“ besingen.88 Bislang ist allerdings übersehen worden, dass Georges Jahreszeitenzyklus vor allem Nikolaus Lenau verpflichtet ist, der eine Kultfigur der symbolistisch-dekadenten Literatur verkörperte. Erinnert sei nur an Hugo von Hofmannsthals früheste Erzählung Der Geiger vom Traunsee (1889), die sogar die Vision einer Begegnung mit Lenau schildert.89 In seine Anthologie Das Jahrhundert Goethes (1902) nahm George nicht weniger als  24 Gedichte Lenaus auf, der somit stärker als Brentano (20 Gedichte), Klopstock (17 Gedichte) oder Mörike (18 Gedichte) vertreten ist.90 Lenau ist vor allem als Naturlyriker bei George präsent. Ein Beispiel bietet sein Gedicht Wanderungen im Gebirge IV, das im dritten Gedicht von Georges Winter-Zyklus ein deutliches Echo hinterlassen hat: Ich trat in einen heilig düstern Eichwald, da hört’ ich leis’ und lind Ein Bächlein unter Blumen flüstern, wie das Gebet von einem Kind; Und mich ergriff ein süßes Grauen, Es rauscht’ der Wald geheimnisvoll, Als möcht’ er mir was anvertrauen, Das noch mein Herz nicht wissen soll; Als möcht’ er heimlich mir entdecken, Was Gottes Liebe sinnt, und will: Doch schien er plötzlich zu erschrecken Vor Gottes Näh’ – und wurde still.91

    87 Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin u. New York 2007, S. 615. Vgl. etwa Geibels Gedicht Brief aus den Spätherbstblättern. Unergiebig dagegen ist der Beitrag von Hans R. Klieneberger: A Winter-Scene in George’s Das Jahr der Seele and the Poetic Tradition. In: Schein und Widerschein. Festschrift für T. J. Casey. Hg. v. Eoin Bourke u.  a. Galway 1997, S. 188–198. 88 Arno Holz: Frühling. In: Moderne Dichter-Charaktere. Hg. v. Wilhelm Arent. Berlin 1885, S. 139, II. 89 Zu Hofmannsthals Lenau-Rezeption vgl. Martin Stern: Lenau der Geiger. Zu Hofmannsthals frühester Prosaerzählung. In: Lenau-Almanach 1980/81, S. 73–87, und Hansgeorg ­Schmidt-Bergmann: Hugo von Hofmannsthals Lenau-Lektüre. In: Ders.: Nikolaus Lenau. Zwischen Romantik und Moderne. Stu­ dien. Wien 2003, S. 87–100. 90 George besaß die einbändige Lenau-Ausgabe von Emil Barthel: Nicolaus Lenau’s sämmtliche Werke in einem Bande. Hg. v. G. Emil Barthel. Zweite, durch eine Biographie des Dichters vermehrte Aufl. Leipzig: Philipp Reclam 1883 (vgl. Gisela Eidemüller: Die nachgelassene Bibliothek des Dichters Stefan George: Der in Bingen aufbewahrte Teil. Hg. v. Robert Wolff. Heidelberg 1987, S. 120). 91 Nikolas Lenau: Werke und Briefe. Bd. 1, S. 166 (Hervorhebung d.V.).

    194 

     Mario Zanucchi

    Wie Lenau lädt George die Wanderung durch die modale Vergleichskonjunktion ‚Als‘ mit einer symbolischen Dimension auf. Während aber bei Lenau das Rauschen des Waldes quasi zur Offenbarung des von Gott gelenkten individuellen Schicksals wird, kassiert George den Transzendenzbezug und verleiht der Szenerie dadurch eine stärkere poetologische Qualität, dass er sie literarisch perspektiviert und mit unheimlichen Waldschilderungen aus der Sagenwelt in Verbindung bringt: Mit frohem grauen haben wir im späten Mondabend oft denselben weg begonnen Als ob von feuchten blüten ganz beronnen Wir in den alten wald der sage träten. (SW IV, 26)

    Trotz dieser offenkundigen poetologischen Umakzentuierungen sind die Affinitäten unübersehbar. Lenaus Naturlyrik durchzieht eine spätromantische Korrespondenz von Seele und Landschaft, die George als kongenial empfinden musste. So artikuliert die Mittelstrophe von Lenaus Gedicht Himmelstrauer eine Analogie zwischen einem sich anbahnenden Gewitter und einem sich andeutenden Tränenausbruch: Vom Himmel tönt ein schwermuthmattes Grollen, Die dunkle Wimper blinzet manches Mal, – So blinzen Augen, wenn sie weinen wollen, – Und aus der Wimper zuckt ein schwacher Strahl. – (SW IV, 33, Hervorhebung d.V.)

    Die Analogie variiert George im Initialgedicht des Winter-Zyklus durch eine Korrespondenz zwischen Schneeflocken und Tränen: Die flocken weben noch am bleichen laken Und treibt an meine wimper sie ein stoss So zittert sie wie wenn die träne quillt .. (SW IV, 24, Hervorhebung d.V.)92

    Ein weiterer Text Lenaus, der bei George Spuren hinterlassen hat, ist An einen Jugendfreund. Die dort thematisierte Entfremdung des lyrischen Ich von seinem einstigen, untreu gewordenen Freund, der in seiner geistigen Lethargie ‚winterliche‘ Züge erhält und den sich anbahnenden Frühling nicht bemerkt, erinnert an den Epilog von Georges Winter-Zyklus: Wenn du tief schlummerst unter deinem Hügel, Nichts mehr erfährst vom holden Lenzerwachen […]

    92 Die ‚quillende Thräne‘ ist ebenfalls eine Lenau nachempfundene Geste: „Quill, o Thräne, quill hervor!“ Ebd., S. 101.

    Das Jahr der Seele 

    

     195

    Dann wäre früh genug der Freund vergessen Den du geliebt in deinen Jugendtagen […].93

    Lenaus Text hat bei George aber auch wörtliche intertextuelle Spuren hinterlassen. Die Anfangszeile von Georges Gedicht Dein zauber brach da blaue flüge wehten (SW IV, 32) kombiniert nämlich zwei Verse aus An einen Jugendfreund („Des Lebens holder Zauber ging vorüber“, „Die Treue brach, die du mir einst geschworen“; Hervorhebung d.V.).94 Aus demselben Text übernimmt George außerdem die Vorstellung einer ‚Bestattung‘ der toten Freundschaft und das sie ausmalende Reimpaar „bestatten“-„Schatten“ im letzten Winter-Gedicht. Lenaus Bestattungsmotiv – Denn uns’re Freundschaft will ich nun bestatten Auf ewig in der Wehmuth tiefern Schatten.95

     – legt George in den Mund eines symbolischen Reflektors: Doch tritt von dem basaltenen behälter! Er winkt die toten zweige zu bestatten · Im vollen mondenlichte weht es kälter Als drüben unter jener föhren schatten.. (SW IV, 22; Hervorhebung d.V.)

    Zuweilen übernimmt George von Lenau nur Gesten, die er dann weiter entwickelt: so etwa das Incipit von Nun säume nicht die gaben zu erhaschen, das Lenaus Gedicht An J. Klemm zitiert („O säume nicht, mit Wein, Gesang und Kosen  / Dein Herz zu frischen!“).96 Der Abschluss von Ihr tratet zu dem herde aus den Traurigen Tänzen („Es ist worden spät“, SW IV, 114) ist Lenaus Herbstentschluss nachgebildet („Es ist worden kühl und spät“).97 Ein anderer Autor, dessen Name im Zusammenhang mit dem Jahr der Seele ebenfalls bisher in der Forschung niemals gefallen ist, ist Friedrich Hebbel. In seine Anthologie Das Jahrhundert Goethes übernimmt George nicht weniger als 31 Gedichte Hebbels. Georges Umschreibung des Herbstes als ‚Lese‘ der Natur könnte von Hebbels Herbstbild angeregt worden sein, das George und Wolfskehl in die Anthologie Das Jahrhundert Goethes aufgenommen hatten:

    93 Ebd., S. 280. 94 Ebd. (Hervorhebung d.V.). 95 Ebd., S. 281 (Hervorhebung d.V.). 96 Ebd., S. 159 (Hervorhebung d.V.). 97 Ebd., S. 319 (Hervorhebung d.V.).

    196 

     Mario Zanucchi

    O stört sie nicht · die feier der natur! Dies ist die lese · die sie selber hält ·98

    Hebbels Herbstbild könnte auch Georges Gedicht Wir schreiten auf und ab im reichen flitter (SW IV, 15) angeregt haben. Etliche Bilder von Georges Gedicht – die absolute Stille, das „milde“ Leuchten der Herbstsonne sowie das Abschlussbild, die auf den Boden fallenden „früchte“ – scheinen aus Hebbels Herbstbild zu stammen: Dies ist ein herbsttag · wie ich keinen sah! Die luft ist still · als atmete man kaum · Und dennoch fallen raschelnd · fern und nah · Die schönsten früchte ab von jedem baum. […] Denn heute löst sich von den zweigen nur · Was vor dem milden strahl der sonne fällt.99

    Auch die Stimme Hofmannsthals, der im Gespräch über Gedichte 1904 Das Jahr der Seele überschwänglich preisen wird, fehlt nicht im intertextuellen Resonanzraum von Georges Dichtungen. So birgt das Sommer-Gedicht Die reichsten schätze lernet frei verschwenden eine Hofmannsthal-Hommage, und zwar in einer Zeit, in der George um dessen Beteiligung an der Leitung seiner Zeitschrift Blätter für die Kunst warb. Bereits das Incipit spielt auf Hofmannsthals ebenso lebensphilosophisch dimensioniertes Lebenslied (1896) an, das zur „Verschwendung“ der „reichsten schätze“ auffordert: Den Erben laß verschwenden An Adler, Lamm und Pfau Das Salböl aus den Händen Der toten alten Frau!“100

    Wie bei Hofmannsthal ist das „Verschwenden“ vor dem Hintergrund von Nietzsches Zarathustra als lebensbejahende Selbstüberwindung und Akzeptanz der Vergänglichkeit zu verstehen.101 98 DD III, 155 (Hervorhebung d.V.). 99 Ebd. 154 (Hervorhebung d.V.). Wie Morwitz vermutet (EM I, 110), könnte die von George im Unterschied zu Hebbel exponierte Rhythmisierung des Fallens durch Pausen von Henri de Régnier angeregt worden sein: „Les fruits du passé, mûrs d’ombre et de songe, / En leur écorce où jutent des coulures d’or, / Pendent et tombent. / Un à un et un encor, / Dans le verger de songe et d’ombre“. Henri de Régnier: Tel qu’en songe. Paris 1892, S. 99. 100 Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hg. v. Rudolf Hirsch u.  a. Bd. 1. Hg. v. Eugene Weber. Frankfurt/M. 1984, S. 63. 101 In Also sprach Zarathustra ist die schenkende Tugend „Kennzeichen einer letztlich grund-losen, grenzenlosen Überfluß offenbarenden Tätigkeit, die nicht produktiv ist, um das Produzierte oder dessen Gegenwert zu behalten; vielmehr verschwendet sie sich, im ‚Schenken‘ als jenem Können, das Ausdruck der schöpferischen Potenz des Willens zur Macht ist.“ (Annemarie Pieper: Ein Seil geknüpft

    Das Jahr der Seele 

    

     197

    Es ist möglich, dass George – wie Morwitz schreibt – an Edmond Rassenfosse als das „lebende Vorbild“ für den Gefährten des Sommer-Zyklus dachte (EM I, 118). In Rassenfosses eigenen, pessimistisch-dekadenten Dichtungen ist allerdings von der Lebensbejahung, die Georges Sommer-Gedichte durchzieht, wenig zu spüren.102 Verwandter ist die nachdrückliche Beschwörung der Freude in Paul Gérardys Pages de Joie (1893), die wiederum von Nietzsche geprägt wurde.103 Daher vermutet Georg Peter Landmann (SW IV, 135), dass das Gedicht Du willst mit mir ein reich der sonne stiften (SW IV, 38) an Gérardy gewidmet sein könnte.104 Nachweisbar ist ferner der Einfluss Henri de Régniers. Der Schluss von Georges Gedicht Gemahnt dich noch das schöne bildnis dessen (SW IV, 40) aus dem Sieg des Sommers schildert die Zähmung eines von Natur aus wilden Tieres: Und von der insel moosgekrönter steine Verliess der schwan das spiel des wasserfalls Und legte in die kinderhand die feine Die schmeichelnde den schlanken hals.

    und evoziert das Sextett aus de Régniers Sonett Au site d’eau qui chante et d’ombrages virides aus Sites (1887), das George auch übersetzt hatte:105 Et le Cerf qui s’en vient, le soir, apprivoisé, Quand, sur ma flûte puérile où j’ai croisé Les doigts, je joue un air coupé de lentes pauses, A genoux m’offrira ses andouillers noueux Où je suspends le poids d’un message de roses Pour Celle aux doux vouloirs que nous servons tous deux.106

    zwischen Tier und Übermensch: Philosophische Erläuterungen zu Nietzsches erstem Zarathustra. Stuttgart 1990, S. 343). Es ist daher nicht zufällig, dass in demselben Gedicht George auf die in Hofmanns­ thals Terzinen artikulierte Angst vor der Vergänglichkeit kritisch anspielt: „Und törig nennt als übel zu befahren / Dass ihr in euch schon ferne bilder küsstet“ (SW IV, 43). 102 Nicht selten favorisiert Rassenfosse den Winter als Jahreszeit, etwa im Prosagedicht Ames Blanches, Floréal 1 (1892), H. 2, S. 44–47. 103 „Toute la sagesse? – Ecoute la voix: / Zarathustra parmi les hommes / S’en va rythmant sa claire joie, / Et c’est toute sagesse en somme“ (Paul Gérardy: Pages de Joie. Lièges 1893, S. 23). 104 In der Tat lässt sich die Verbindung von Sonne und Freude auch in Gérardys Pages de Joie nachweisen, etwa im Gedicht Pour de joyeuses vendanges II: „Le soleil sur les treilles saintes / Va rythmant sa joie d’or“. Ebd., S. 20. 105 Von Régnier übersetzte George „Au site d’eau qui chante et d’ombrages virides“ aus Sites, das Schlussgedicht der Poèmes anciens et romanesques (beide erschienen  1895 in den Blättern für die Kunst) sowie zwei Gedichte aus Tel qu’un songe: Exergue und das Eröffnungsgedicht von Quelqu’un songe d’heures et d’années. 106 Henri de Régnier: Œuvres. 7 Bde. 1921–1931. Bd. 4: Les lendemains. Apaisement. Sites. Épisodes. Sonnets. Paris 1924, S. 122.

    198 

     Mario Zanucchi

    Unüberhörbar ist freilich die homoerotische Überformung der Vorlage. George kassiert den galanten „message de roses“ und seine Empfängerin. Vielmehr richtet er den Fokus gänzlich auf den jungen Adonis, der jetzt nicht erst durch das Flötenspiel, sondern bereits durch seine Anmut das Tier zu zähmen vermag.107 Einen intertextuellen Dialog führt George auch mit einem anderen französischen Symbolisten, Albert Samain. So übernimmt er aus Automne (1894) etwa das Bild der geflohenen goldenen Wespen: Le vol des guêpes d’or qui vibrait sans repos Die wespen mit den goldengrünen schuppen S’est tu108 Sind von verschlossnen kelchen fortgeflogen[.] (SW IV, 19)109

    D’Annunzios Einfluss ist ebenfalls bedeutsam, er schlägt sich allerdings vor allem in den Traurigen Tänzen nieder.110 So amplifiziert George in Es lacht in dem steigenden jahr dir ein Distichon aus Consolazione mit einer markanten „ancora“-Anapher, die er in eine Epipher umwandelt: Ancora qualche rosa è ne’ rosai Die wehende saat ist wie gold noch · ancora qualche timida erba odora.111 Vielleicht nicht so hoch mehr und reich Rosen begrüssen dich hold noch · Ward auch ihr glanz etwas bleich. (SW IV, 89, Hervorhebung d.V.)

    107 Auch die Oktave von Régniers Sonett war für George relevant und bildet das intertextuelle Modell für Verjährte Fahrten II aus den Pilgerfahrten. Vgl.: „Au site d’eau qui chante et d’ombrages virides / La meute déroutée a tu ses longs abois, / Et les chasseurs dans un bruit de cors et de voix / Sont partis sur la piste fausse à toutes brides; // L’étang où n’ont pas bu les chiens n’a pas de rides; / Aucun pied n’a foulé l’orgueil des roseaux droits; / Nul trait aux troncs meurtris des grands arbres du bois / N’enfonce un memento vibrant d’éphémérides“ (Henri de Régnier: Œuvres. Bd. 4 [wie Anm. 107], S. 122) und: „Kein tritt kein laut belebt den inselgarten · / Er liegt wie der palast im zauberschlaf · / Kein wächter hisst die ehrenden standarten · / Es floh der fürst der priester und der graf“ (SW II, 51). 108 Albert Samain: Œuvres. Bd. 2. Paris 1924, S. 128. 109 Wie Egyptien (Herbst der Liebe und Winter der Schrift [wie Anm. 17], S. 39) anmerkt, wiederholen die fortfliegenden Wespen den Fortzug der Schwäne und weisen auf die entfliegenden Vögel im nächsten Gedicht voraus. Auch das Bild vom Rosten des Eisentores könnte auf Samains Automne zurückgehen: „Vom tore dessen eisen-lilien rosten“ (SW IV, 20); „le pêne grince à la grille rouillée“ (Œuvres. Bd. 2 [wie Anm. 109], S. 128). 110 Den Titel selbst des Binnenzyklus könnte George d’Annunzios Consolazione entlehnt haben: „sonerò qualche vecchia aria di danza, / assai vecchia, assai nobile, anche un poco / triste […]“ (Versi d’amore. A cura di Pietro Gibellini. Torino  1995, S. 512). Claudio Magris (Il Poema paradisiaco del d’Annunzio e i traurige tänze di Stefan George. In: Lettere Italiane 12 (1960), 3, S. 284–295) übersieht diese mögliche Parallelstelle. 111 Versi d’amore (wie Anm. 111), S. 510 (Consolazione) sowie d’Annunzios La buona voce aus dem Poema paradisiaco: „Ancora qualche rosa è ne’ rosai“ (ebd., S. 523). Magris (Il Poema paradisiaco (wie Anm. 111)) übersieht auch diese Analogie.

    Das Jahr der Seele 

    

     199

    Interpretation von Komm in den totgesagten park und schau (SW IV, 12) Komm in den totgesagten park und schau: Der schimmer ferner lächelnder gestade · Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die weiher und die bunten pfade. Dort nimm das tiefe gelb · das weiche grau Von birken und von buchs · der wind ist lau · Die späten rosen welkten noch nicht ganz · Erlese küsse sie und flicht den kranz · Vergiss auch diese lezten astern nicht · Den purpur um die ranken wilder reben Und auch was übrig blieb von grünem leben Verwinde leicht im herbstlichen gesicht. (SW IV, 12)1

    Georges vielleicht berühmtestes Gedicht eröffnet Das Jahr der Seele und trägt in doppeltem Sinne einen Schwellencharakter: Er bildet das Eingangstor zu der Sammlung und ist selbst an der Grenze zwischen zwei Jahreszeiten angesiedelt. Die im Gedicht geschilderte Zeit ist der frühe Herbst, in dem der Park von den Besuchern verlassen wird und trotzdem noch einige Spuren des Sommers in sich birgt. So lädt der Text den Leser bzw. ein nicht weiter spezifiziertes Gegenüber in der ersten Strophe dazu ein, 1 Etliche Aufsätze, die sich als Interpretationen des Gedichts präsentieren, enthalten kaum mehr als rhapsodische Impressionen über Georges Poetik. Zu den substantiellen Beiträgen zählen die Arbeiten von Werner Vordtriede (Zu einem George-Gedicht. In: Monatshefte 43 [1951], S. 39–43); Wilhelm Loock (Stefan George: „Komm in den totgesagten Park“. In: Wege zum Gedicht. Mit einer Einführung von Edgar Hederer. Hg. v. Rupert Hirschenauer u. Albrecht Weber. München u. Zürich 1972, S. 266–272); Manfred Durzak (Zwischen Symbolismus und Expressionismus  – Stefan George. Stuttgart u.  a. 1974, S. 55  f.); Heidi E. Faletti (HF  84–89); Thomas Gräff (Gedichte der Jahrhundertwende (1890–1910). Interpretationen. München  – Wien  1991, S. 62  f.), Rainer Gruenter („Komm in den totgesagten park und schau“. In: Gedichte aus sieben Jahrhunderten. Interpretationen. Hg. v. Karl Hotz. Bamberg 1993, S. 186  f.); Jutta Rossellit (Aufbruch nach innen. Studien zur literarischen Moderne mit einer Theorie der Imagination. Würzburg 1993, S. 42  f.); Wolfgang Braungart (WB 224–231); Jürgen Egyptien (Herbst der Liebe und Winter der Schrift. Über den Zyklus Nach der Lese in Stefan Georges Das Jahr der Seele. In: GJb  1 (1996/1997), S. 23–4329  f.); Hermann Korte (Lyrik des 20. Jahrhunderts [1900–1945]. München 2000, S. 27–30); Martin Rehfeldt und Denise Dumschat (Der Garten als Medium des Übergangs. Beobachtungen anhand der Interpretation von Stefan Georges „Komm in den totgesagten park und schau“ und Max Goldts „Komm in den Garten“. In: Gärten als Spiegel der Seele. Hg. v. Hans-Peter Ecker. Würzburg  2007, S. 131–143). Anders als der Titel vermuten lässt, befasst sich der Aufsatz von R. C. Ockenden („Komm in den totgesagten park und schau“. Some Aspects of Nature and Nature Imagery in Stefan George’s Poetry. In: Oxford German Studies 2 [1967], S. 87–109) mit Georges Gedicht kaum.

    200 

     Mario Zanucchi

    den vermeintlich ausgestorbenen herbstlichen Park zu betreten,2 sich von der dort noch vorhandenen Helle zu überzeugen, den sommerlich lauen Wind zu spüren und in der zweiten und dritten Strophe mit den letzten Überresten des Sommers einen Kranz zu flechten. Es handelt sich somit um ein Herbstgedicht, das noch den Sommer heraufbeschwört und einen ‚ästhetischen Widerstand‘ gegen den herbstlichen Verfall artikuliert.3 Der Text besteht aus drei Strophen à vier Versen mit wechselnden Kadenzen in den Rahmenstrophen und durchgehend männlichen Kadenzen in der Mittelstrophe. Das Metrum ist der von George favorisierte vers commun, der stets regelmäßig ist4 und nur zu Beginn des Gedichts eine trochäische Anaklasis aufweist, um den Imperativ „Komm“ hervorzuheben. Die Reimart wechselt vom Kreuzreim über den Paarreim bis zum umarmenden Reim (abab ccdd effe) und bildet somit die Tätigkeit des Kranzflechtens kunstvoll nach.5 Wie die Symbolisten potenziert auch George die Versmusikalität durch Alliterationen und Anaphern. Markant sind die Alliterationen zwischen „schau“ und „schimmer“, „gelb“ und „grau“, „birke“ und „buchs“, „ranken“ und „reben“ sowie „leben“ und „leicht“. Nicht minder bedeutsam sind die Anaphern, die auch eine Gliederungsfunktion erfüllen. So wird der Abschluss der ersten und der zweiten Strophe von der Wiederkehr des resultativen Verbpräfixes ‚er-‘ („Erhellt“, „Erlese“) markiert, während das ebenfalls resultative Präfix ‚ver-‘ („Vergiss“, „Verwinde“) für die kunstreiche Rahmung der letzten Strophe sorgt. Die Kadrierung wird durch den umarmenden Reim zusätzlich unterstützt. Wie auch sonst im Jahr der Seele ist der Duktus des Gedichts ornamental. Von den zwanzig Substantiven besitzen nicht weniger als zwölf ein adjektivisches Beiwort (der „totgesagte park“, das „unverhoffte blau“, die „bunten pfade“, das „tiefe gelb“, das „weiche grau“ usw.). Ornamental ist auch die Syntax, vor allem wegen der chiastischen Fügungen der ersten („Der schimmer ferner lächelnder gestade / Der reinen wolken unverhofftes blau“) und der dritten Strophe („Vergiss auch diese letzten astern nicht· / Den purpur um die ranken wilder reben· Und auch was übrig blieb von grünem leben Verwinde leicht“). Dem stilistischen Raffinement entspricht die ästhetisierte Parkszenerie. Gerade die unverhofften Lichtverhältnisse sorgen dafür, dass die Ais2 „Das Wort ‚totgesagt‘ bedeutet, dass man den Park wegen des Schwindens oder Stockens des Wachstums der Pflanzen für tot halten könnte, und übertragen, dass auch die Seele anscheinend in der Ruhe eines Sterbens befangen ist“ (EM I, 108). 3 Dieselbe Intention bringt das lyrische Ich im zweiten Herbst-Gedicht zum Ausdruck: „Doch will ich alles was an edlen trieben / Und schöner saat vom sommer mir geblieben / Aus vollen händen vor ihr niederschütten.“ (SW IV, 13). 4 Aus metrischen Gründen steht in Vers 4 die Verbform „erhellen“ im Singular. 5 So auch Gräff: „das Reimschema kann auf das Kranzflechten bezogen werden, Kreuzreim, Paarreim und umschließender Reim verdeutlichen Nebeneinander-Liegen und Verschlungen-Sein der verschiedenen Bestandteile“ (Gedichte der Jahrhundertwende [wie Anm. 1], S. 62). Die Reimvokalität bleibt in den beiden ersten Strophen gleich („a“ und „au“) und wechselt erst in der dritten Strophe („i“ und „e“), was für einen besonderen Zusammenhalt der beiden ersten Strophen sorgt.

    

    Das Jahr der Seele 

     201

    thesis, die Schau, im spätherbstlichen Park noch möglich ist. Seinerseits unterstreicht das Flechten des Kranzes in der zweiten und dritten Strophe gerade als Selektion ‚erlesener‘ Komponenten den ästhetischen Kunst-Charakter der von George evozierten Natur. Die selegierten Naturelemente werden Teil einer ästhetischen Komposition, die als Dichterkranz wiederum den Dichter und das Dichten zelebriert. Ein Verfahren, dessen sich George zum Zweck der Ästhetisierung bedient, bildet die Dekontextualisierung und die Neuanordnung der Naturelemente nach klanglichen und chromatischen Kriterien. So werden „gelb“ und „grau“ sowie „birke“ und „buchs“ aus Gründen der Euphonie miteinander verwoben.6 Noch wichtiger ist das chromatische Prinzip. So soll das vom Dichter angesprochene Gegenüber Bäume und Blumen einzig nach ihren jeweiligen Farbwerten – gelb, grau, rot, purpur, grün – auswählen und wie ein Maler verfahren, der die von ihren realen Trägern abstrahierten Farben miteinander komponiert. Die Ästhetisierung bedingt ferner auch Verstöße gegen eine mimetisch-realistische Naturschilderung. Wie wenig naturalistische Mimesis erstrebt wird, verraten das ‚Grau‘ des Buchsbaums, der in Wirklichkeit immergrün ist, sowie das ‚Blau‘ der Wolken, das schon Hofmannsthal als „kühn“ bezeichnete.7 Die intertextuelle Dimension von Georges Gedicht wurde bislang von der Forschung vernachlässigt und soll daher im Folgenden ausführlich untersucht werden. Einzig Gerhard Schulz hat auf den Prätext des Gedichts hingewiesen: Karoline von Günderrodes Drama Magie und Schicksal (1805), ohne allerdings beide Texte ausführlich miteinander zu vergleichen.8 Das mythische Schicksalsdrama9 spielt in einem nicht näher präzisierten fernöstlichen Land. Die Szene, der Georges Text Anregungen verdankt, findet sich im zweiten Akt und besteht in einem Dialog zwischen Ladikä, Geliebte des Timandras, und ihrer Sklavin Mandane. Timandras hat Ladikä mit Blumen, Sträuchern und Edelsteinen reichlich beladene Körbe überbringen lassen. Sie empfängt die Gaben mit Freude, während sie für den ebenfalls um sie werbenden Ligares nur Worte der Verachtung übrig hat:

    6 So auch Gräff (Gedichte der Jahrhundertwende [wie Anm. 1], S. 62). Ob George – wie Morwitz behauptet – der Park des Schlosses Nymphenburg bei München als Vorbild diente, den er damals besuchte (EM I, 109), sei dahingestellt, da es sich nicht um eine realistische Parkschilderung handelt. 7 Vgl. Das Gespräch über Gedichte: „Clemens: Es ist schön. Es atmet den Herbst. Obwohl es kühn ist, zu sagen, ‚der reinen Wolken unverhofftes Blau‘, da diese Buchten von sehnsuchterregendem sommerhaftem Blau ja zwischen den Wolken sind“ (Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hg. v. Rudolf Hirsch, Christoph Perels u. Heinz Rölleke. Bd. 31. Hg. v. Ellen Ritter. Frankfurt/M. 1991, S. 74–86, hier S. 74  f.). 8 Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Erster Teil: 1789–1806 (zugleich: De Boor/Newald: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. VII/1). 2., neubearb. Aufl. München 2000, S. 645. 9 Barbara Becker-Cantarino: Mythos und Symbolik bei Karoline von Günderrode und Friedrich Creuzer. In: Heidelberger Jahrbücher 51 (2008), S. 281–298, hier S. 284.

    202 

     Mario Zanucchi

    Mandane kommt mit einigen Sklavinnen, die Körbe mit Blumen und andern Geschenken tragen. Mandane Hieher die Blumen! dort die reichen Zeuge! Den dunklen Purpur deckt mit Fadengold; […] Die Perlen laßt in langen Reihen schimmern, Durchblitzet von der Diamanten Schein; […] Er [Timandras] sprach, du seyst die holdeste der Frauen, So liebreich wie blüthenvoll der Mai, Und viel noch Schönes, das ich jetzt vergessen; Du kennst ja der Verliebten Sprache wohl. Hat nicht Ligares oft sie dir gesprochen? […] Ladikä Wie darfst du dem Timandras ihn vergleichen, Dem holden anmuthsvollen, süßen Freund, Ligares, den Entsetzlichsten der Menschen? […] Und was ich auch von Freundschaft bieten mag, Verschmäht er trotzig, und mit stolzem Zürnen, […] Mandane […] Komm! schmücke dich, mir däucht es wäre Zeit, Soll ich die Myrten dir zum Kranze flechten, Und Rosen in dein dunkellockigt Haar? Ladikä Ja, Myrten nimm, und junge Rosenknospen, Vergiß auch der Orangen Blüthe nicht, Die schwer und duftig Balsamwolken hauchet, Die mische mit der Myrten dunklem Grün; Vor allen lieb ich diese süße Blüthe, Ein ganzer Sommer ist in ihrem Kelch; Des Mittags Gluth und laue Abendlüfte, Wollüstig Sehnen, und Befriedigung. – Horch! hörst du nicht? Es ist Timandras Stimme! O komm! komm! laß uns ihm entgegen gehen.10

    10 Karoline von Günderrode: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. 3 Bde. Frankfurt/M. 2006, Bd. 1, S. 257  ff. (Hervorhebung d.V.). In Georges nachgelassener Bibliothek hat sich keine Edition der Werke Karoline von Günderrodes erhalten. Der Bücherbestand ist allerdings nicht vollständig, da Berthold Stauffenberg im Auftrag Robert Boehringers einige Bände zu sich nahm (Gisela Eidemüller: Die nachgelassene Bibliothek des Dichters Stefan George: Der in Bingen aufbewahrte Teil. Hg. v. Robert

    

    Das Jahr der Seele 

     203

    George gelang das Kunststück, seine Abhängigkeit von Günderrode völlig zu verschleiern. Bis auf ein vierzeiliges ihr gewidmetes Gedicht in Der Siebente Ring11 sind von ihm keine Äußerungen über die romantische Dichterin überliefert. In seine Anthologie Das Jahrhundert Goethes hat er kein einziges Gedicht von ihr aufgenommen. Aus dem zitierten Passus übernimmt George eine ganze Reihe von Sprachgesten, Ideen und Details, die er freilich neu kontextualisiert. Er konzentriert sich vor allem auf das Ende der Szene, wo die Sklavin Mandane ihrer Herrin Ladikä einen Kranz mit den Blumen und Sträuchern des Timandras flicht. Gerade das Winden des Kranzes, das die Szene abschließt, rückt George in den Vordergrund seines Gedichts. Er stellt auch andere Sprachgesten in den Dienst dieser Handlung. So steht der Vers: „Und was ich auch von Freundschaft bieten mag“ in Günderrodes Drama in einem ganz anderen Kontext, nämlich im Zusammenhang mit der Liebeshandlung, und wird von George dagegen auf das στεφανηπλοκεîν bezogen: „Und auch was übrig blieb von grünem leben / Verwinde leicht im herbstlichen gesicht“ (SW IV, 12, Hervorhebung d.V.) – eine Entscheidung, die sich durch die enorme Bedeutung der Bekränzung als Weihung und Auszeichnung des dichterischen Daseins in seiner Poetik erklärt. George nimmt eine mehrfache Überformung von Günderrodes Vorlage vor, die sie enterotisiert, poetologisch auflädt, imperativisch ritualisiert und temporal korrigiert. Bei Günderrode besitzt der στεφανός eine unmissverständliche erotische Konnotation. Aus den Blumen, die der Geliebte Timandras ihr geschickt hat, lässt Ladikä einen Liebeskranz flechten und eilt dann so geschmückt zusammen mit ihrer Sklavin dem Geliebten entgegen.12 George verwandelt den weiblichen Liebeskranz in einen implizit männlichen Dichterkranz. Für die weiblich besetzte „Myrte“, die Günderrodes Kranz schmückt und mit Aphrodite und der Jungfräulichkeitssymbolik verbunden ist, gibt es bei George keinen Platz mehr. Anstelle der Myrte setzt er ein abstraktes Bild – „was übrig blieb von grünem leben“ – ein.

    Wolff. Heidelberg 1987, S. 79). Ferner ist zu bedenken, dass George sowohl öffentliche Bibliotheken als auch die Privatbibliotheken seiner Gastgeber benutzte. 11 Günderrode gilt eine der Tafeln aus Der Siebente Ring. Das Gedicht trägt die Überschrift Winkel: Grab der Günderode und schildert den Freitod der Dichterin in Winkel im Rheingau, nicht weit von Bingen: „Du warst die Huldin jener sagengaue: / Ihr planlos feuer mond und geisterscheine / Hast du mit dir gelöscht hier an der aue …/ Ein leerer nachen treibt im nächtigen Rheine“ (SW VI/VII, 178). 12 Der Liebeskranz ist als Motiv bei Günderrode sehr beliebt. Vgl. etwa die Creuzer gewidmete Zueignung der Sammlung Melete: „Ich habe Dir in ernsten stillen Stunden, / Betrachtungsvoll in heil’ger Einsamkeit, / Die Blumen dieser und vergangner Zeit, / Die mir erblüht, zu einem Kranz gewunden. // Von Dir, ich weiß es, wird der Sinn empfunden, / Der in des Blüthenkelchs Verschwiegenheit / Nur sichtbar wird dem Auge, das geweiht / Im Farbenspiel den stillen Geist gefunden. // Es flechten Mädchen so im Orient / Den bunten Kranz; daß vielen er gefalle, / Wetteifern unter sich die Blumen alle. // Doch Einer ihren tiefern Sinn erkennt, / Ihm sind Symbole sie nur, äußre Zeichen; / Sie reden ihm, obgleich sie alle schweigen.“ (Karoline von Günderrode: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Bd. 1 [wie Anm. 10], S. 318, Hervorhebung d.V.).

    204 

     Mario Zanucchi

    Ferner potenziert George den imperativischen Duktus. Er übernimmt aus dem Passus drei Imperativformen („Komm“, „Nimm“, Vergiss“) und flankiert sie durch weitere fünf Imperative („schau“, erlese“, „küsse“, „flicht“, „verwinde“), wobei er Günderrodes modalen Fragesatz („Soll ich die Myrten dir zum Kranze flechten […]?) in einen Imperativsatz umwandelt („flicht den kranz“). Er macht somit den Imperativ zum beherrschenden Modus des Gedichts.13 Auf diese Weise verleiht er dem Text einen stark ritualisierten Charakter. Das angesprochene Gegenüber  – der Leser  – wird zum Akteur eines ästhetischen Rituals,14 welches das Ziel hat, die sakralisierte Dichtung zu zelebrieren und den herbstlichen Verfall zu bannen. Die Imperative, die George übernimmt („Komm“, „nimm“, „vergiss […] nicht“), werden ferner aus ihrem dramatischen Zusammenhang gelöst, verabsolutiert und auf diese Weise ästhetisiert. Schließlich zeichnet sich Georges Gedicht durch die temporale Korrektur der Vorlage aus. Im Vergleich zu dem Passus aus Günderrodes Drama ist bei George die Grenze zum Herbst hin weiter fortgeschritten. Bei Günderrode repräsentieren die στεφανόματα noch den Sommer – von einer nicht näher beschriebenen Blüte heißt es: „Ein ganzer Sommer ist in ihrem Kelch“. Bei George dagegen sind die Kranzpflanzen spätsommerlich oder bereits herbstlich. Die in der Vorlage evozierten „Rosen“ werden in Georges Gedicht zu noch nicht völlig verwelkten „späten rosen“. Durch den Tausch der „Orangenblüte“, die in Europa von Februar bis Juni zu verzeichnen ist und somit nicht zum herbstlichen Dekor passt, durch die „astern“, die allerletzten Blumen des Jahres,15 bekräftigt George den herbstlichen Charakter der Szenerie. Nach der intertextuellen Analyse sollen im Folgenden die einzelnen Strophen von Georges Gedicht abschließend untersucht werden, um den Duktus des Textes noch einmal en détail nachzuvollziehen. In der ersten Strophe wird der Leser bzw. ein Gegenüber dazu aufgefordert, den für bereits als tot deklarierten herbstlichen Park zu betreten. Diese „schau“ der Natur bildet die erste Stufe des Dichtens. Sie impliziert ein entwickeltes Sensorium, d.  h. die Fähigkeit, sich von der Masse, die den Park als schon tot erachtet, abzusetzen und für das Licht und die Farben der vermeintlich welken Natur empfänglich zu werden.16 Nach dieser Absetzung von der Masse leitet die zweite Strophe den Leser dazu über, die passive äußere Anschauung schöpferisch-produktiv durch das Flechten des Kranzes zu steigern und somit den Akt des Dichtens nachzuvollziehen. Das Winden des Kranzes repräsentiert die Formgebung, die Realisierung des Werkes, die Verwirkli-

    13 Das voluntative Moment wird durch die männlichen Reime der Mittelstrophe zusätzlich bekräftigt. Heidi E. Faletti bemerkt zu Recht, dass der Mittelstrophe durch die männlichen Reime „ein willentlich konzentrierter Ton eingeflößt“ wird (HF 87). 14 Auch Braungart (WB 229  f.) betont den Aspekt der Ritualität. 15 Die letzten Astern blühen bis in den späten Oktober hinein. 16 Das metaphorische ‚Lächeln‘ der Gestade könnte George von Samains Gedicht Automne übernommen haben: „Le jardin nu sourit comme un face aimée / Quis vous dit longuement adieu, quand la mort vient“ (Albert Samain: Œuvres. Bd. 2. Paris 1924, S. 128).

    

    Das Jahr der Seele 

     205

    chung der dem Dichter zu Gebote stehenden Gestaltungsmöglichkeiten. Dieser Prozess vollzieht sich in drei Stadien: „erlese küsse sie und flicht den kranz“. Das ‚Erlesen‘ entspricht der Selektion, dem symbolistischen Prinzip der Vorauswahl, demzufolge keine unsublimierte naturalistische Stofflichkeit in der Lyrik erlaubt ist. Das ‚Küssen‘ des Erlesenen ist als rituelle Verehrung der im Symbolismus sakralisierten Kunst zu verstehen und auch eine poetologische Umwidmung der bei Günderrode präsenten erotischen Komponente. Das ‚Flechten‘ schließlich repräsentiert die Schaffung eines neuen Zusammenhangs im Kunstwerk aus der Kombination des bisher Getrennten. Der Kranz symbolisiert aber auch Georges Gedichtsammlung selbst, die der Text als Initialgedicht eröffnet.17 Diese Metaphorik unterstreicht George durch weitere poetologische Allusionen. So sind ‚Buchs‘ und ‚Buch‘ klanglich miteinander verwandt,18 während die Imperativform „Erlese“ den Akt des Lesens assoziiert. Der so geflochtene (Gedicht-)Kranz bildet zugleich eine Farbkomposition.19 Zusammen mit dem Blau des Himmels aus der ersten Strophe vereinigt er in sich alle Primärfarben sowie weitere nuanciertere Farbwerte wie das weiche Grau und das Verblichene der späten Rosen.20 Diese Chromatismen repräsentieren die seelischen Nuancen, die in Georges Jahreszeitenzyklus zum Tragen kommen.21 So symbolisiert das „unverhoffte“ „blau“ „[d]er reinen wolken“ eben die von George wiederholt beschworene Hoffnung und Idealität.22 Dagegen fangen die Farben des herbstlichen Verfalls, das „tiefe gelb“ und das „weiche grau“, die melancholischen Stimmungen der Seele auf. Durch ihre Attribute evozieren sie Tiefgründigkeit – also die meditierende

    17 George reaktiviert hier die metaphorische Valenz des Blumenkranzes als Bezeichnung für eine Gedichtsammlung (Sonetten-, Canzonenkranz, Florilegium). 18 Noch im 19. Jahrhundert wurde ‚Buch‘ etymologisch aus ‚Buche‘ oder ‚Buchsbaum‘ abgeleitet, „weil man meint, die Alten hätten auf Buchen- oder Buxtafeln geschrieben“ (Konrad Schwenk: Wörterbuch der deutschen Sprache in Beziehung auf Abstammung und Begriffsbildung. Frankfurt/M. 1838, S. 98). Die neuere Fachliteratur steht dieser Ansicht skeptisch gegenüber (Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. Aufl., bearb. v. Elmar Seebold. Berlin u. New York 2002). 19 Die Geste, die verschiedenen Farben zu ‚nehmen‘, datiert auf Ein Angelico zurück: „Er nahm das gold von heiligen pokalen · / Zu hellem haar das reife weizenstroh · / Das rosa kindern die mit schiefer malen · / Der wäscherin am bach den indigo.“ (SW II, 27, Hervorhebung d.V.). 20 Dagegen bleiben die Astern in ihrer Farbigkeit unbestimmt. Offenkundig hat George sie nicht wegen ihrer Farbe, sondern als letzte Blumen des Jahres gewählt. Im Unterschied zu dem, was Morwitz in seinem Kommentar ausführt (EM I, 109), kann die Farbigkeit der Astern sehr unterschiedlich ausfallen: weiß, rosa, rot, blau oder lila. 21 Dass über die Farben der „Seelenzustand indirekt geschildert“ werde (EM I, 109), bemerkt schon Morwitz. 22 Die Hoffnung wird immer wieder beschworen: „Wie leicht dass hinter jenen höhenzügen / Verborgen eine junge hoffnung schläft!“, „Du all die jahre hin mir glanz und glaube / Bei dir · und wo die stummen zeugen waren / Von hoffen und von angst · bei diesem laube.“ (SW IV, 24 u. 36, Hervorhebung d.V.)

    206 

     Mario Zanucchi

    Haltung, die das lyrische Ich in den Gedichten des Zyklus so oft einnimmt23 – sowie Weichheit und Sanftmut, also die Rücksicht, die das Dichter-Ich in anderen Gedichten der Geliebten widerfahren lässt.24 Mit dem blassen Rot der verblichenen Rose verbindet sich dagegen das den Zyklus durchziehende Leitmotiv der abgeblühten Liebe. Die dritte Strophe vervollständigt die chromatische Komposition, indem sie den delikaten Farbton der letzten Astern, den bereits von Günderrode evozierten, dionysischen Purpur der ‚wilden‘ Reben und die vitale Komponente des ‚grünen‘ Lebens mit in den dichterischen Kranz verwebt. Die Charakterisierung des Kranzes als „herbstliche[s] gesicht“ lässt ihn als symbolische Einheit von Seele und Landschaft und als Verbildlichung des ‚Gedichts‘ erscheinen. Als sorgfältig ausgewählte und komponierte dichterische Schau schließt der Kranz die reale Landschaft der ersten Strophe in sich und übersteigt sie zugleich qualitativ. Zum einen nimmt das Schlusswort „gesicht“ den Imperativ „schau“ von Vers 1 im Sinne eines Kyklos wieder auf25 und verleiht Georges Komposition eine zyklische Geschlossenheit. Auf der anderen Seite bildet der Kranz zugleich auch eine Steigerung der Naturszene aus der ersten Strophe. Darauf, dass der Kranz die bloße Stofflichkeit der realen Natur transzendiert, verweist das ‚Verwinden‘. Es signalisiert nicht nur das Um-Winden, sondern auch das Über-Winden der Naturerscheinungen im Gedicht, das somit zum Medium der ästhetischen Vergeistigung der realen Natur wird.26 Bedeutsam ist auch das Modaladverb „leicht“, das sich zwar auf die Tätigkeit des Verwindens bezieht, aber auch dessen Produkt charakterisiert: Es signalisiert, dass die Natur im poetischen Kranz ihre Erdenschwere verliert, um in die schwerelose ästhetische Sphäre aufgenommen zu werden.

    23 „Du suchst mich heiter zu ergründen · / […] Doch weisst du auch vom tiefen glücke / Und schätzest du die stumme träne?“ (SW IV, 16, Hervorhebung d.V.). Die sinnierende Haltung kommt auch im Sommer-Zyklus zur Geltung: „Der sinnend sass an jenes weihers kante / Und lauschte in die tiefe heimlichkeit ..“ (SW IV, 40, Hervorhebung d.V.). 24 „Ich werde sanfte worte für dich lernen“, „Ich lasse meine grosse traurigkeit / Dich falsch erraten um dich zu verschonen ·“ (SW IV, 14 u. 22, Hervorhebung d.V.). 25 Dies bemerkt schon Rossellit: Aufbruch nach innen (wie Anm. 1), S. 43. 26 Dazu auch Hermann Korte: Lyrik des 20. Jahrhunderts (wie Anm. 1), S. 29.

    Torsten Voß

    Überschriften und Widmungen Wenn nun mit Alledem gleichsam die Form dieser Lyrik beschrieben ist, so scheint ihre Bedeutung erst durch die des Kunstinhaltes nachzuweisen, der, nach Verbannung aller anderen Elemente, ihr Ein und Alles bildet. (Georg Simmel, Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung)

    Auch wenn es sein Titel immer wieder nahelegt und die Forschung auch oft nach realen Bezügen und autobiografischen Beweggründen für die wenigen Gedichte dieses Unterzyklus aus dem 1897 publizierten Jahr der Seele gesucht hat, sollen die relativ banal als Überschriften und Widmungen titulierten Texte1 hier einer anderen Lesart unterzogen werden. Während ihre Position und ihr struktureller Stellenwert im Jahr der Seele immer wieder untersucht worden sind und auch unterschiedliche Ansichten über die Bestandteile und den Umfang des Zyklus existieren,2 ist der poetologische Gehalt und seine Funktion für Georges Dichtungsverständnis zumeist ausgeblendet worden. Die scheinbare Schlichtheit und die instrumentelle bzw. funktionale Gebundenheit des lyrischen Genres ‚Widmungsgedicht‘ wurden bisweilen zu ernst genommen. Dabei hätte bereits in diesem Zusammenhang nach der Reibung gefragt werden können, die ein solcher Gedichttypus mit der symbolistischen Poetik des George’schen Frühwerks bildet. So attestiert schon Paul Hoffmann in seiner klassischen Überblicksdarstellung der symbolistischen Bewegung folgende Eigenschaften: „Gegen die Wesenlosigkeit der kollektiven Wirklichkeit setzt der Symbolismus seine Enklave der ‚reinen‘ Dichtung als ein Paradigma reiner Wesensverwirklichung. Dem Funktions- und Warencharakter aller Dinge widerstrebt das Gedicht, das sich grund-

    1 SW IV, 49–56 bzw. 49–84. 2 So unter anderem schon bei Ernst Morwitz, der trotz der Anordnung im Inhaltsverzeichnis der Werkausgabe auch die Erinnerungen an einige Abende innerer Geselligkeit (SW IV, 57–67) und Verstattet dies Spiel (SW IV, 69–83) diesem Zyklus subsumiert. Vgl. EM I2, 123–140. Auf diese Problematik geht auch der Kommentar ein und bietet Zusammenhänge und Abgrenzungen gleichermaßen: „Den Mittelteil (Überschriften und Widmungen) beginnen sieben (in der öffentlichen Ausgabe dann acht) Gedichte des Rückblicks auf das eigene Dichten – Überschriften meint vielleicht: Epigrammatisches; es folgen zehn Erinnerungen an menschliche Begegnungen und vierzehn (später sechzehn) je achtzeilige Widmungen an Personen. Die vom einheitlichen Ton her bestimmte Bauform abgewogener Teile“ wird aber ebenso erkannt (SW IV, 120). Da der erste Abschnitt des Zyklus die dichtungstheoretische Vergangenheit beschreibt, könnte postuliert werden, dass dieser die Voraussetzung für die Produktion der eigentlichen Widmungsgedichte markiert, den Weg skizziert, der vor ihrer Abfassung vom lyrischen Ich zurückgelegt werden muss. Dieser durch den Kommentar nahegelegten und für eine Akzen­tuierung der einzelnen Segmente sprechenden Vermutung soll auch in diesem Beitrag noch genauer nachgegangen werden.

    208 

     Torsten Voß

    sätzlich jeder Zweckdienlichkeit verweigert.“3 Die Spannung zwischen scheinbarer Adressatenbezogenheit und reiner poetologischer Bedeutung hätte eine interessante Frage ergeben; verhält sich doch ein solch signifikanter Konflikt diametral gegenüber dem Wunsch „nach der Befreiung des Gedichts von subjektiven Gegebenheiten und Intentionen in einem Prozeß zunehmender Abstraktion und Objektivierung.“4 Das wurde bezüglich dieser Texte selten diskutiert. Stattdessen wurde eher akribisch nach den Adressaten der Gedichte geforscht; ihre Initialen wurden aufgeschlüsselt, um genauere Informationen über den Wirkungsbereich des George-Kreises und seiner Kontakte zu erhalten, aber auch, um Aufschluss über die Bedeutung ebendieser Adressaten für Georges Leben und Werk zu gewinnen.5 Letzteres ist teilweise auch an Stil, Gestalt und Tenor der Gedichte festgemacht worden, definierte sich aber letztendlich doch über eine Präponderanz biografistischer Reduktion.6 Deshalb soll in meinem Beitrag diesem Sub-Zyklus aus dem Jahr der Seele ein anderer Blickwinkel zugemutet werden. Dieser soll sich zunächst beschränken auf den dichtungsprogrammatischen Stellenwert der Texte, auch vor dem Hintergrund einer modernen Poetik, der George  – allein schon aufgrund seiner frühen Begegnung mit der symbolistischen Bewegung – näher stand als vielfach behauptet wurde.7 Darauf aufbauend soll dann auch dem zuvor skizzierten Spannungsverhältnis zwischen konkretem Anlass oder Funktion auf der einen Seite und dichtungstheoretischer oder formbezogener Aussage auf der anderen Seite nachgegangen und nach konkreten Vernetzungsmöglichkeiten gefragt werden, wobei derlei Ansinnen nicht in einer einfachen dialektischen Versöhnung erstickt werden soll. Die Widmung bringt als dichterische Form aber auch Verehrung, Hymnik und Devotion mit sich, die ja stets auch transzendierendes Potential in sich tragen.8 Und 3 Paul Hoffmann: Symbolismus. München 1987, S. 24. Und über George (und Hofmannsthal) selbst wird gesagt, dass dort „ein magischer und mystischer Glaube an die geheimnisvolle Kraft des Wortes“ zu erkennen war. Ebd., S. 138. 4 Ebd., S. 143. 5 Sogar der an solchen Operationen wahrhaft nicht arme Kommentar der SW muss hinsichtlich der Überschriften und Widmungen zugeben: „Die Kenntnis biographischer Tatsachen mag hie und da zu einem wörtlicheren Verständnis helfen und zeigen, wie ein Gedicht aus gelebtem Leben herauswächst – aber eben auch durch die künstlerische Verwandlung darüber hinauswächst.“ (SW IV, 121). Es wird also immerhin von einem ästhetischen Transformationsprozess ausgegangen. 6 Morwitz selbst erkennt bereits im Vorwort zur ersten Auflage seines Kommentars indirekt diesen Sachverhalt, aufgrund der eigenen Involviertheit in den George-Kreis: „Da persönliche Erinnerungen herauszuziehen sind, lässt es sich nicht vermeiden, dass der Verfasser von sich selbst spricht.“ EM I2, 5. Vieles andere lässt sich leider auch nicht in dieser halb anekdotenhaften Annäherung an Georges Werk vermeiden, wofür auch das umfangreiche Buch des Kreismitglieds Kurt Hildebrandt steht. Vgl. KH I. 7 Über Gemeinsamkeiten informiert auch der komparatistische Beitrag von Patrick McGuinness: Symbolism, decadence and the Fin de siècle. French and European perspectives. Exeter 2000. 8 Man denke nur an die oft einseitig der Propaganda zugeordnete und damit unterschätzte Panegyrik. Insofern haben Widmungspoeme auch etwas Beschwörendes und Magisches an sich. Das Gedicht

    

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

     209

    „George, als der deutsche Schüler Mallarmés, hat den esoterischen Charakter der Dichtersprache betont um ihrer Reinheit und Feierlichkeit willen.“9 Das wiederum verweist auf eine Entpragmatisierung der Dichtung. Der gesamte Zyklus setzt sich zusammen aus drei Bereichen, bildet also ein lyrisiertes Triptychon, was sich in Georges Lyrik häufiger findet.10 Die Bezugnahmen der Segmente untereinander sind eher als spärlich zu bezeichnen und müssen vom Rezipienten, der eine biografische Deutung weitgehend zu vermeiden versucht, eher vermutet werden. Mit anderen Worten, semantische, formalästhetische und stilistische Übereinstimmungen der drei Bestandteile der Überschriften und Widmungen sind kaum zu konstatieren, was auch dazu geführt hat, dass selbst der frühen Forschung kaum treffsichere Argumente vorliegen, eine wirkliche Einheit der drei Bereiche zu legitimieren, worauf selbst Ernst Morwitz aufmerksam macht, wenn er schreibt: Dies könnte fraglich sein, weil die Druckanordnung im Inhaltsverzeichnis keinen Aufschluss hierüber gibt. Die Frage wird aber durch die Erwägung entschieden, dass kein innerer Grund dafür vorliegt, die ‚Nachtwachen‘ in die ‚Widmungen‘ einzuordnen, zumal sie nach der Typengrösse im Inhaltsverzeichnis zu den ‚Erinnerungen‘ hinsichtlich der äusseren Teilung gehören. (EM I2, 123  f.)

    Der Zusammenhang des ersten Abschnitts besteht darin, dass er vor allem reflexive Gedichte enthält, die sich in mitunter allegorisch-verschlüsselter Form mit der Situation und den Aufgaben der Kunst, der Dichtung und des Dichters auseinandersetzen, der hier als Träumender oder auch als Seher inszeniert wird.11 Bereits die ersten drei Texte bilden beinahe so etwas wie ein Narrativ bzw. bauen aufeinander auf. Nachdem das erste Gedicht, Lieder wie ich gern sie sänge, die aktuelle Situation des Künstler-Ich zusammenfasst und dessen ästhetisches und formales Anliegen als inkomparabel mit den zeitlichen Umständen apostrophiert, präsentieren die Verse des Anschlusstextes die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Die Eingangszeile „Zu meinen träumen floh ich vor dem volke ·“ mutet wie ein trotziges Motto des lyrischen Sprechers an und

    erarbeitet quasi die Anwesenheit des Objekts durch das Lob. Das ist auch die Funktion der panegyrischen Dichtung mit Blick auf die Rezipienten: Die Präsenzhaftigkeit des Herrschers entsteht durch das Lob und dessen unleugbare Affinität zur Apotheose. 9 Paul Hoffmann: Symbolismus (wie Anm. 3), S. 137. Reinheit und Feierlichkeit müssen einander nicht exkludieren, sondern fügen sich zusammen im Selbstverständnis des lyrischen Ich als Seher. Letzteres steht wiederum dem Priester sehr nahe, wenn man sich die Seher-Konzepte der ästhetischen Moderne und der Romantik, vor allem Hölderlins und Rimbauds, vor Augen führt. 10 So bereits schon im Algabal. Die sogenannte Vogelschau (SW II, 85), die an eine Tätigkeit der römischen Auguren erinnert, ist von den drei Blöcken der Sammlung merkwürdig isoliert und wirkt eher wie eine sphärenhafte Transzendierung des gesamten Geschehens als wie eine Synopse bzw. Konklusion. Der Sprecher scheint sich dort dem Irdischen entziehen zu wollen, wofür es auch Äquivalenzen in den programmatischen Einleitungstexten der Überschriften und Widmungen gibt. 11 Einige der Einzeltexte werden in meinem hierauf folgenden Beitrag in diesem Band einer exem­ plarischen Interpretation unterzogen.

    210 

     Torsten Voß

    bildet eine Reaktion auf das Unverständnis für sein künstlerisches Anliegen bei seiner Umwelt. Auf den ersten Blick ist diese Flucht mit der Existenz Algabals im Unterreich vergleichbar. Auf den zweiten Blick ist das aus der Romantik entnommene Traumkonzept jedoch wesentlich unkonkreter als die komplett und komplex ausgestaltete Phantasmagorie des dekadenten Römer- und Priesterkaisers. Auch unter Assoziationen mit Blick auf die historische Situation des spätrömischen Elagabal12 und die Unterreiche des bayrischen Königs Ludwig II., dem der Band gewidmet ist, lässt sich mit Algabal viel mehr verbinden als mit dem träumenden Auguren. Insofern lässt sich – trotz des Verzichts auf ästhetizistischen Pomp und Pretiosentum – von einer Radikalisierung der ästhetischen Ansprüche bereits in den ersten drei Texten der Überschriften sprechen. Denn das lyrische Ich flüchtet sich zunehmend in die Immaterialität und transzendiert sich in seinen Ausführungen selbst, wenn es im dritten Vers heißt: „Und sprach allein und rein mit stern und wolke“ (SW IV, 50). Die Reinheit korrespondiert hier auf das entschiedenste mit der Einsamkeit des lyrischen Sprechers einerseits und seinem Dialog mit den weit entfernten – und aufgrund der Elevation eine Ästhetik des Erhabenen herbeiführenden  – Himmelskörpern andererseits. Sie bildet jedoch das Apriori für die eigentliche dichterische Produktivität, die im ersten Poem noch nicht gelingen konnte, da sie dort noch den Gesetzmäßigkeiten von Markt, Masse und Rezeption überantwortet war. Das dritte Eingangsgedicht bildet in seinem Anfangsvers nun die sich aus der Abkehr ergebende Schlussfolgerung und zugleich die Selbsteinschätzung des lyrischen Ich, aber auch die Voraussetzung für weiteres kreatives Tätigsein: Des sehers wort ist wenigen gemeinsam: (SW IV, 51) Elitarismus und Distinktion werden zu ästhetischen Konzepten. Diese drei Gedichte bilden nicht nur eine Einheit. Sie leiten auch den gesamten Unterzyklus aus dem Jahr der Seele ein. Bevor mit der eigentlichen Arbeit des lyrischen Lobpreises und des feierlichen Angedenkens der Freunde und Vertrauten begonnen werden kann, muss zunächst die Position des Künstlers geklärt bzw. sein Standpunkt verdeutlicht werden. Diesem strukturellen, informativen und poetologischen Zweck gehorcht dieser dreiteilige introitus und erfüllt damit lediglich eine dem Gesamtwerk inhärente Funktion, verweist aber nicht auf ein extratextuelles Signifikat. Der sich daran anfügende Drei-Stropher Als ich zog ein vogel frei aus goldnem bauer (SW IV, 52) erläutert nun das Resultat dieses dichterischen Exils. Nach selbst erfahrener Verehrung und Huldigung durch „Frauen“, die „warfen von der mauer / Rosen auf die strasse“13,

    12 Dazu Genaueres jetzt – auch unter Integration der künstlerischen Rezeption dieses Herrschers – in der althistorischen Dissertation von Martijn Icks: Elagabal. Leben und Vermächtnis von Roms Priesterkaiser. Aus dem Englischen v. Erwin Fink. Darmstadt 2014 und literatur- und medienwissenschaftlich im Beitrag von Heinz-Peter Preußer: Elagabal. In: Der Neue Pauly – Supplemente. Bd. 8: Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik. Hg. v. Peter von Möllendorff, Annette Simonis u. Linda Simonis. Stuttgart u. Weimar 2013, Sp. 391–404. 13 Das erinnert auch an den Einzug des römischen Triumphators, also an eine Geste der Herrschaft. Es findet sich ebenso beim Eintritt des Jünglings in Rudolf Borchardts Bacchischer Epiphanie.

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

    

     211

    erbittet sich das lyrische Ich „nur vergessen / Ruh und blassen traum.“ Zunächst könnte damit auf den Tod angespielt werden, der hier theoretisch in romantischer Tradition als Utopie des Glücks und transgressive Überschreitung des Normalen apostrophiert sein könnte. Angesichts der Zyklizität und Verbundenheit der Texte untereinander muss jedoch von derlei Analogien Abstand genommen werden. Der lyrische Sprecher transzendiert sich zwar,14 aber nur, um in der Isolation sein Werk vollziehen zu können, nämlich den Lobpreis der Wenigen. Damit beginnen nun die eigentlichen Widmungsgedichte in Form der Sprüche für die Geladenen in T .. I · II (SW IV, 53  f.). Diese beiden sehr unterschiedlich anmutenden Gedichte beziehen sich auf eine Zusammenkunft des Dichters mit Edmond Rassenfosse, Paul Gérardy und Léon Paschal in Tilff in der Nähe von Lüttich im Spätsommer 1892. Das erste der beiden unter römischen Ziffern abgefassten Gedichte wurde zunächst in französischer Sprache formuliert, was sowohl aus dem Adressatenkreis als auch aus Georges eigener früher Begegnung mit dem französischen Symbolismus begründet werden kann. Es setzt sich in der ersten Fassung aus drei Strophen zusammen, für die bereits früh Bezugspersonen ermittelt wurden, teilweise von diesen selbst.15 Später tritt in der deutschen Variante eine weitere Strophe hinzu. Der gesamte Text scheint auf eine Entwicklung dichterischer oder künstlerischer Existenz einzugehen, wobei die Frage offen bleibt, ob er eine allgemeine Aussage oder eine auf Georges Situation zu applizierende offenbart. Jedenfalls scheint das gesamte Gedicht auf einen rein fiktiven und von lebensweltlicher Relevanz absondierten Entwurf hinauszulaufen, wenn es bereits in der ersten Strophe über das Fabelwesen „fee“ und ihre Bedeutung für den Angesprochenen heißt: Sie gibt dir als patengeschenk Augen so trüb und sonder In die sich die musen versenken. (SW IV, 53)

    14 Damit greift George ein ästhetisches Ideal des Symbolismus und des Ästhetizismus auf. Bereits Mallarmés Hérodiade – diese Ikone bzw. Allegorie auf das l’art pour l’art-Paradigma – sieht darin und in dem Wunsch nach Entkörperung die einzig wahre Garantie für die eigene Vervollkommnung und für den Rückzug aus einer profan-pragmatischen Realität. 15 Der Kommentar der SW zitiert in diesem Zusammenhang eine briefliche Aussage Léon Paschals gegenüber C. Hirschfeld, dass die erste Strophe des Poems Gérardy, die zweite Rassenfosse und die dritte ihm selbst gelte, SW IV, 138. So reizvoll eine solche Spurensuche auch anmuten mag, so sehr findet sich doch eine Relativierung durch den Umstand, dass George eine weitere (zweite) Strophe in die deutsche Version des Gedichts inskribiert hat, für die es nicht so leicht reale Korrelate zu finden gibt. Bestätigung findet der SW-Kommentar jedenfalls durch EM I2, 127. Aber auch der ehemals Vertraute kann diese Verse nicht allein autobiografisch deuten und zieht eine poetologische Interpretation vor, wenn er schreibt: „Sie behandeln das Los des Dichters, der von Geburt an von andern Sterblichen gesondert ist, wie schon Baudelaire es zum Ausdruck gebracht hatte.“

    212 

     Torsten Voß

    Diese Konfrontation mit einer eher ätherischen Fantasiefigur ist der Mütterlichkeit (und damit der Natur) aus dem ersten Vers entgegengesetzt. Womöglich korrigiert sie diese auch, wenn man sich den radikalen künstlerischen Anspruch des frühen George in Erinnerung bringt. Denn: Das getrübte Auge deutet auf den Abbruch von über Blickkontakte ausgehender Kommunikation mit der Umwelt und auf die Rückkehr ins Innenleben hin. Der letzte Vers sieht das auch als Bedingung für den Eintritt der Musen, also für das Gelingen von poetischer Einbildungskraft an. Die zweite Strophe, die auch von Ernst Morwitz16 mit keiner realen Person in einen kausalen Zusammenhang gestellt wird, erläutert die Folge dieses getrübten Blicks. Dieses einer narrativen Sequenz nicht unähnliche Verhältnis findet sich in Georges Gedichten oft. Zunächst wird eine dichterische Situation konstruiert, dann eine Reaktion des lyrischen Sprechers darauf aufgebaut und ein sich daraus ergebendes Resultat für den dichterischen Schaffensprozess daran angeschlossen. Nachdem bereits die früheste Kindheit eine Trennung von leiblicher Mütterlichkeit und ästhetisierender Fabel („eine leidige fee“) konstruiert hat, wird die Künstlergenese folgendermaßen fortgesetzt: Verächtlich wirst du blicken Auf roher spiele gebaren · Vor arbeit die niedrig macht Die grossen strengen gedanken Dich mahnen und wahren.

    Hier wird an die unpragmatische Ästhetik der formzentrierten Dichterschule der Parnassiens nahtlos angeknüpft17 und damit zugleich der ästhetiktheoretische Charakter des Zyklus erhöht bzw. jener von einer extratextuellen Verwendbarkeit oder Referierbarkeit emanzipiert. Mit der mangelnden Praktikabilität setzt jedoch zugleich eine fast stoische Haltung des Verzichts gegenüber den materiellen Genüssen und der sozialen Integration ein. Stärker noch als bei den formzentrierten Parnass-Lyrikern kommt dem ganzen Unternehmen auch eine sakrale Komponente der Askese zu. Der angeredete Künstler muss „seine frische jugend töten“ und erkennen, dass seine Kunst nur aus einer Welt des Todes gedeihen kann. Diese scheinbare Paradoxie wiederholt die antivegetative Ästhetik des Algabal, kehrt sie jedoch nach innen. Nicht mehr die

    16 Ebd. 17 Bekanntlich war für den Mitbegründer dieser Bewegung, Théophile Gautier, der nützlichste Ort eines Hauses die Latrine. Auch entgegnete er gegenüber dem positivistischen Philosophen und Historiker Taine, dass bereits in den Bezügen der Reime untereinander ausreichend Nützlichkeit innerhalb eines Gedichts vorhanden und ein externer Zweck für die Qualität der Dichtung nicht erforderlich sei. Dass derlei l’art pour l‘art-Konzepte automatisch auch eine soziale Exklusion bzw. Distinktion mit sich bringen und zum – den bürgerlichen Wertekosmos bewusst provozierenden – Selbstverständnis der Künstler ausgebaut werden, hat Pierre Bourdieu mit seiner Theorie des literarischen Feldes immer wieder zum Ausdruck gebracht. Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt/M. 2001.

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

    

     213

    künstlichen Paradiese des Unterreichs werden hier besungen und als konstituierender Parameter für Kreativität veranschlagt, sondern das Innenleben des Schaffenden selbst. In dieses hat er all seine Gefühle zu verbannen. Das gilt beispielsweise auch für Leid und Schmerz: Sag ihn den winden bei nacht Und unter der nägel waffe Blute die kindliche brust!18

    Eine externe Entäußerung würde dem ästhetischen Anspruch im Wege stehen, sodass dieses Gedicht, vor allem in der dritten Strophe, auch eine Haltung des Aushaltens, des Zusammenreißens und der Affektkontrolle beinhaltet und damit eine Art Produktionsästhetik darstellt.19 Letzteres ließe sich gewiss – mit Stefan Breuer (vgl. SB) – auch auf die Herrschafts­ praktiken innerhalb der Gemeinschaft des George-Kreises übertragen, über die Textgestalt und ihre kunstphilosophische Verortung ließe sich daraus nicht genug Information ziehen. Dabei gehorchen gerade diese scheinbaren Widmungsgedichte noch ganz und gar einer symbolistischen Ästhetik der impassibilité, der impartialité und der impersonalité.20 Auch gehören die Angesprochenen – wenn man es schon erwähnen muss – belgischen Dichterkreisen der symbolistischen Schule an, sodass sich der lyrische Sprecher hier in einem hortus conclusus Gleichgesinnter aufhält. An solche ist auch der zweite Text der Sprüche gerichtet. Diese behandeln nach Morwitz’ Ansicht „das Sonderschicksal des Dichters […] jedoch mehr bildhaft als abstrakt.“ (EM I2, 128) Auch enthalten die vier Strophenpaare nicht die musikalische Qualität ihres Vorgängers, sondern muten eher wie Leitsätze an, die sich aus These und Antithese zusammensetzen. So heißt es bereits in den ersten beiden Zeilen: „Ihr lernt: das haus des mangels nur kenne die schwermut · / – Nun seht im prunke der säulen die herbere schwermut  –“ (SW  IV, 54). Wichtiger als die inhaltliche Aussage der beiden Verse erscheint hier die antithetische Durchkreuzung sogenannten angelernten Wissens. Die erste Zeile stellt einen feststehenden Gemeinplatz dar. Die zweite Zeile relativiert ebendiesen durch den Blick des Künstlers. Die anderen drei Verspaare erhalten eine ähnliche Struktur und stellen damit insgesamt Forderungen an den werdenden Künstler dar. Mit vertrauten Wahrheiten muss gebrochen, neue müssen akzeptiert und an

    18 Durch die Mitteilung der Emotionen an die Winde werden sie der Vergänglichkeit und damit auch der Bedeutungslosigkeit überantwortet. Auf alle Fälle werden sie aus den Vorgängen künstlerischer Kreativität verbannt. Ein ähnliches Verhältnis zum Gefühl und dessen Übergabe an die Flüchtigkeit der Natur findet sich in dem Gedicht Im windes-weben aus dem Zyklus der Lieder (SW VI/VII, 137). 19 Und damit eigentlich auch einen Abschied von der Kindheit, wenn man die vier Strophen als einen Entwicklungsgang hin zur ästhetischen Existenz erkennen möchte. 20 Genauer herausgestellt in Torsten Voß: Die Distanz der Kunst und die Kälte der Formen. München 2007.

    214 

     Torsten Voß

    deren Stelle gesetzt werden. Diese Maximen erfüllen mit gesteigerter Präzision eine ähnliche Funktion wie die musisch anmutenden Künstlerkonzepte im ersten Spruch, der an die sogenannten Geladenen gerichtet ist. Die letzten beiden Gedichte des ersten Drittels dieses lyrischen Triptychons scheinen nun der personenbezogenen Aussage einen spatialen bzw. örtlichen Aspekt hinzuzufügen, wobei hier nicht mit Morwitz „retrospektiv autobiographisch“ (ebd.) nach realen Örtlichkeiten gesucht werden muss. Für den lyriktheoretischen Stellenwert von Wo in des schlosses dröhnend dunkler diele (SW  IV, 55) ist Morwitz’ folgende Frage meines Erachtens ungleich signifikanter: „Was ist der Grund dafür, dass der Klang des ersten, frühsten Saitenspiels […] den Dichter noch immer mit gleich starkem, freudigem Grauen erfüllt und rührt, obwohl er jetzt viele Saitenspiele zum Preisen von tieferer Lust und grösserer Tat erklingen lassen kann.“ (Ebd.) Diese von Morwitz aus dem Gedicht extrahierte Aussage bildet ja eigentlich einen Widerspruch zu dem in den drei einleitenden Gedichten und den Sprüchen für die Geladenen in T .. I · II geforderten Entwicklungsprozess. Der Dichter hat doch an sich zu arbeiten, um zur richtigen Form, zur ‚mache‘ zu gelangen. Wie verträgt sich derlei mit dem hier formulierten Anspruch auf Ursprünglichkeit und einer Gerührtheit angesichts der ersten (und überwundenen) kindlichen Phase? „[D]ies ERSTE“ erscheint hier als so etwas wie ein ästhetisches Ideal, als das unverfälschte Kunstwerk, gegenüber dem alle anderen „saitenspiele“ nur wie Annäherungsversuche an ebendieses Ideal anmuten. Darin liegt der Grund, warum es „noch immer mich zum weinen zwingt“. Natürlich ist diese Verklärung auch mit dem Mythos der Jugend bzw. mit der Vorstellung von der verlorenen Kindheit als Utopie des Glücks verzahnt. Hält man sich an die Eingangsgedichte der Überschriften und Widmungen, sind die späteren Stadien der Kreativität schon den Gesetzmäßigkeiten von Publikum und Markt verpflichtet und das Künstler-Ich kann nicht so singen, wie es gerne möchte. Ebenso spricht für die These vom ästhetischen Ideal seine Zeitlosigkeit, also der Umstand, dass es auch über die Zeiten und Lebensalter hinweg immer noch der Anrührung als Katalysator dienen kann. Dadurch wird der Erinnerung bzw. der Rekultivierung dieser Idealvorstellung auch ein melancholischer Eindruck vorenthalten. Mögen Kindheit und Jugend auch unwiederbringlich verschwinden, das eigentliche Kunstwerk bzw. die erste kreative Tätigkeit büßt das Wirkungspotential keineswegs ein. Zugleich wird mit diesem mythologisch stilisierten ersten Saitenspiel auf den Beginn des Lebenszyklus zurückgegriffen und ein Kreis geschlossen. Das zweite Abschlussgedicht des ersten Drittels der Sammlung, also Bei seiner reise mittag bald zurück, hat ebenfalls diesen Reflexionscharakter und ist damit weit entfernt von der naturalistischen Wiedergabe einer motorischen Tätigkeit mit authentisch-geografischen Korrelaten. Das Leben und die Dichtung erscheinen hier vielmehr als Reise21

    21 Für diesen Motivkomplex immer noch klassisch: Manfred Frank: Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text. Frankfurt/M. 1979.

    

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

     215

    und es ist gewiss kein Zufall, dass George mit dieser Analogisierung den quasi linken Flügel seines lyrischen Triptychons schließt. Das Reise-Gedicht lässt sich somit als eine Art Fazit der vorherigen Textaussagen verstehen. Auch Hildebrandt bemerkt diese strukturelle Funktion: „Diese Gruppe schließt mit einer sorgenvollen Rast, einer Schicksalsfrage. Ist er am Ende oder soll er noch Höheres erleben, noch Tieferes erleiden.“ (KH I, 104) Der finale Text der ersten Gruppe legt Schlussfolgerungen und Konsequenzen fest: Verse wie Durchwallt ist ganzer erden berg und tal Soviel an glück und tränen hinter ihm. Was kann noch sein? Soll er das haupt hier betten (SW IV, 56)

    berühren sowohl existentielle und anthropologische als auch dichterische Aspekte.22 Diese metaphorische Instrumentalisierung des Reisens zwecks Erhellung ästhetischer Produktivität ist freilich nicht der Innovation Georges entsprungen. Vielmehr orientiert sich dieser Text an einer romantischen und ästhetizistischen Tradition.23 Dafür steht auch der Verzicht auf Endlichkeit. Der Künstler kommt zu keinem Finale. Seine Tätigkeit und das Kunstwerk definieren sich durch Unabschließbarkeit, wofür auch die eher rhetorisch zu veranschlagende Frage steht: „So war dies alles erst der morgengang?“ In der Tat ist der Gedichtzyklus auch noch nicht abgeschlossen. Der Gestus der Memorabilisierung setzt sich nämlich fort in den Erinnerungen an einige Abende innerer Geselligkeit. Bereits der im Titel gegebene Verweis auf das Innere lässt diese Gedichte in einem anderen Licht erscheinen als etwa die Erzeugnisse des Göttinger Hain oder des Kreises um Johann Wilhelm Ludwig Gleim, die einen enthusiastischen Freundschaftskult als soziale Praxis thematisierten. Letzteres interessiert bei George nur am Rande. Diese fünf Erinnerungsgedichte (SW IV, 58–62) fügen sich zusammen aus dem „Vorfrühlingslied“ (KH I, 104) Blumen, der enthusiastisch anmutenden Rückkehr und den drei Texten Entfernung, Reifefreuden und dem mystisch anmutenden Titel Weißer Gesang. Bereits die Namensgebungen verweisen auf existentiell relevante Situationen. Nur das erste und das fünfte Gedicht scheinen sich dem zu entziehen.

    22 Allgemein dazu und mit Blick auf die moderne Poetik DP. 23 In der Tat ist hierbei weniger an den großen Bildungsroman im Sinne von Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre zu denken als an Visualisierungen von Imagination, Schöpferkraft und Dichtung durch das Reisen und Vagabundieren, so etwa in Coleridges Ballade Rime of the Ancient Mariner, Nietzsches Gedicht Der Wanderer, Baudelaires L’Invitation au Voyage, Leconte de Lisles Paysage de Polaire und André Gides symbolistische Erzählung La voyage d’Urien. In all diesen Texten rücken lyrisches Ich bzw. Akteur während der Reise immer tiefer in das Reich der Fantasie ein. Vor allem Coleridges alter Seemann entfernt sich auf diese Weise immer mehr von der Realität und steigert sich in immer weitere Imaginationen hinein. George dürfte dieser gesamte Motivkomplex romantisch-symbolistischer Herkunft bekannt gewesen sein.

    216 

     Torsten Voß

    Während Letzteres auf eine künstlerische Tätigkeit hinzudeuten scheint, wirkt Ersteres wie ein Naturgedicht. Doch bereits die ersten Zeilen lassen die Blumen als von Menschenhand gezogene erkennen. Wenn auch nicht mehr so radikal wie im Algabal, in Komm in den totgesagten park und Waller im Schnee, so hat sich eine gewisse Naturskepsis bei George doch erhalten. Wie auch bei seinem großen Kollegen und Antipoden Rudolf Borchardt wird die Kulturpflanze24 der Naturpflanze vorgezogen. Während Borchardt jedoch darin den formstiftenden Geist des Gärtners und diesen als Gestalter im Sinne einer europäischen Kulturtradition verortet,25 nimmt derlei in Georges Gedicht viel einfachere Formen an. Das Ziehen der Blumen wird bei ihm bereits in der ersten Strophe des ersten Erinnerungsgedichts zu einem Gemeinschaftswerk zwischen dem lyrischen Ich und einem unbekannt bleibenden Gegenüber. Aufgrund der zeitlichen Hintergründe liegt es für ehemalige Kreismitglieder und biografische Enthusiasten wieder nahe, hinter diesem anonym bleibenden Gegenüber Ida Coblenz oder zumindest Sabine Lepsius zu spekulieren. So reizvoll und verdienstvoll derlei detektivische Spurensuche auch sein mag, so sehr wird doch übersehen, dass das Ausstreuen der Samen in der ersten Strophe einem Schöpfungsakt gleichkommt, der an die Stelle der Kindeszeugung tritt. Auch die temporäre Angabe „Wann unser herz noch einmal heftig litt“ lässt über dem ganzen Gemeinschaftsprojekt der Gartenkunst und auch der Liebe den Schatten der Finalität und damit der Vergeblichkeit schweben – und das bereits im Moment des Vollzugs. Eine Utopie des Glücks wird damit in dieser Strophe schon nicht mehr garantiert. Der Tonfall fällt also skeptischer aus als in den letzten beiden Gedichten des ersten Abschnitts, wo zumindest ein ästhetisches Ideal so etwas wie Erbauung noch garantieren konnte. Dafür sprechen auch die weiteren Strophen, die stets aus der Retrospektive auf eine vergangene, einstmals Glück spendende Tätigkeit gerichtet sind: „An schlanken stäbchen wollten wir sie ziehen“ (SW IV, 58) rückt diesen Akt der Rarefizierung eindeutig in die Vergangenheit und beschert sowohl der ästhetischen Utopie als auch einem gemeinsamen Liebesglück den melancholischen Anstrich der Unwiederbringlichkeit, vielleicht sogar der Unerreichbarkeit. Und das nicht nur, weil es sich hier um Erinnerungen handelt. Im Gegensatz zu Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit bleibt hier die temp retrouvé aus bzw. die Memorabilien vermögen es nicht, neues Glück zu garantieren. Die zweite Reminiszenz verdrängt zunächst diese pessimistischen Einsichten, auch aufgrund des beruhigenden Titels Rückkehr (SW IV, 59). Verse wie „Ich fahre heim auf reichem kahne · / Das ziel erwacht im abendrot “ sind trotz des Heimkehrmo-

    24 Wobei ich die Kulturpflanze von der Kunstpflanze aus dem Unterreich des Algabal getrennt sehen möchte. Letztere kommt völlig ohne die Natur aus. Erstere unterwirft sich einem formierenden Verfahren von Pflege und Zucht. 25 So in seiner letzten zusammenhängenden Arbeit Der leidenschaftliche Gärtner von 1938.

    

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

     217

    tivs nicht frei von einer Atmosphäre des Abschieds. Zu sehr sind sie von ihrer Wortwahl und ihrem Tonfall her einer spätromantischen Ankündigung des nahenden Todes verpflichtet, die sich hinter der Fahrt in die Abenddämmerung verbirgt. Gedichte wie Eichendorffs Im Abendrot (1837) und mehr noch Der Einsiedler (1837) tauchen hier als intertextuelle Referenzstellen auf, zumal Letzteres ebenfalls das Motiv des heimkehrenden Schiffers in sich trägt, der voller Todesahnung ist, auch wenn beide immer noch an die romantisch-euphemistische Vorstellung vom Tod als einer Überschreitung der Normalität gekoppelt sind.26 Auch in Georges Gedicht erscheint diese als eine l’heure éxcise: „Die alten ufer und gebäude / Die alten glocken neu mir sind“. Die Besonderheit der Erfahrung drückt sich hier – im Gegensatz zur ersten lyrischen Erinnerung – darin aus, dass sie im Präsens gehalten ist, was ja eigentlich einen Widerspruch zur memoria und ihrer postumen Ausrichtung darstellt. Hier wird der Glückszustand präsentisch, vielleicht weil er auf den Tod hindeutet, also auf das einzige, was niemals vergangen sein oder aus der Rückschau betrachtet werden kann. Dieser selbst artikuliert sich in Gestalt der Epiphanie, wodurch das Ganze starke Affinität zum Mystischen und wiederum synchron zur Dichtung aufweist. So beginnt die dritte Strophe mit: „Da taucht aus grünen wogenkämmen / Ein wort – ein rosenes gesicht:“. Das Gesicht und das Wort entsprechen einander. Das Erscheinen des Wortes wird selbst zur Epiphanie und bereitet damit eine neue Sakralisierung der Poesie vor, die sich dergestalt hermetisch lebensweltlich relevanten Deutungshoheiten zu entziehen trachtet. Dass der angesprochene Dialogpartner in Rückkehr von den „wellenfrauen“, also von den Rheintöchtern, am Ende begrüßt wird, erhöht nur den mythisch-fiktiven Charakter der Szenerie und führt extratextuelle Bezüge ad absurdum. Die sich daran anschließenden Texte Entführung, Reifefreuden und Weißer Gesang (SW IV, 60–62) setzen diesen Anspruch bis zur Klimax fort, die sich eben in diesem ätherisch klingenden Weißen Gesang findet. Die synästhetische Verbindung von Akustik und Visualität, noch dazu in der Nichtfarbe Weiß, markiert den Höhepunkt des dichterischen Schaffensprozesses und einer nur noch geistig praktizierten Annäherung zweier Liebender. Von einer körperlich-reellen Verbindung ist in den Zeilen nicht die Rede. Im Gegenteil: Das Immaterielle scheint das eigentliche Credo dieses Bestrebens zu sein, sodass auch schon Hildebrandt feststellt: „Die drei folgenden Gedichte führen von der unmittelbaren Erscheinung steigend in die Vision aus hohen Sphären, ins Lichtreich.“ (KH I, 104) Und das lyrische Ich wünscht sich in der Tat für die Zukunft, „dass ich für sie den weissen traum ersänne ..“ Sowohl das Weiße als auch der Traum und der Vorgang des Ersinnens bzw. des Erdenkens stehen für eine radikale Entweltlichung ein, die sich bereits in der euphemistischen Todesvorstellung vom erwachenden Zielpunkt „im abendrot“ im Gedicht Rückkehr ankündigte.

    26 In diesem Zusammenhang wären Novalis’ Hymnen an die Nacht, Hölderlins Empedokles und Heinrich von Kleists Prinz Friedrich von Homburg zu nennen. Aber auch der berühmte „Phiolen-Monolog“ in der Osternacht aus Goethes Faust bereitet dieses Todesverständnis vor.

    218 

     Torsten Voß

    Ebenfalls bleibt der gesamte Zyklus einer romantischen Tradition mit den sogenannten Nachtwachen I–V (SW IV, 63–67) treu.27 E. T A. Hoffmann, Novalis und die Nachtwachen des Bonaventura treten damit implizit ins kulturelle bzw. intertextuelle Gedächtnis und schließen das aus Terzinen ähnlichen Strophenformen bestehende Mittelstück des Triptychons der Überschriften und Widmungen ab. So beginnt bereits die erste Nachtwache von 1892 bzw. 189328 mit einer Engelsfantasie, die einen erotischen Reiz zu sublimieren trachtet. Das Erotische selbst wird hier zur Spielart der Epiphanie, wenn es heißt: „Deine stirne verborgen halb durch die beiden / Wölkchen von haaren (sie sind blond und seiden)“. Manieristische und mystische Sprachspiele bedingen sich hier gegenseitig. Beiden gemeinsam ist eine Veredelung in der Ekphrasis der äußeren Erscheinung, die dadurch den eigentlichen Körper an Qualität übertrifft. Dieser rhetorische Zierat ist für Georges frühen Ästhetizismus nichts Ungewöhnliches, erfährt hier aber erste Relativierungen, da diese Schönheit von Reflexion begleitet und damit abgemildert wird: „Deine stirne spricht mir von jugendlichem leide.“ Die Zweifel der Jugend lassen sich doch mit keinerlei Sublimierung mehr verbergen. Vielmehr wird der Schönheitskult durch ebendieses Leid durchbrochen, ohne ihn artikulieren zu müssen: „Deine lippen (sie sind stumm) erzählen die geschichte“ (SW IV, 63).29 Auch die anderen Texte der Gruppe bergen immer wieder Momente des Zweifelns und auch der Selbstvorwürfe in sich. Vielleicht ist die Bezeichnung der Nachtwachen auch deshalb gewählt, weil nur dieses dem Leben und der Alltäglichkeit entzogene nächtliche Stundengebet dem lyrischen Ich ausreichend Zeit für eine solche kontemplative Auslotung mit sich selbst bieten kann: Nicht nahm ich acht auf dich in meiner bahn In zeiten feucht und falb worin der wahn Des suchens fragens sich verlor. (SW IV, 64)

    Selten geht ein lyrischer Sprecher bei George dermaßen kritisch mit sich ins Gericht, sodass es gewiss auch kein Zufall ist, dass ausgerechnet der Mittelteil des Triptychons den Raum für diese Auseinandersetzung bietet. Nach der Darstellung der gewissermaßen produktionsästhetischen Ausgangslage im ersten Drittel könnte nun eine 27 Auch der sakrale Aspekt wird damit berührt. Die Nachtwachen gehören in Gestalt der Vigilien zu den Stunden- bzw. Chorgebeten des monastischen Lebens. Dadurch bekommt die gesamte Gedichtgruppe den Charakter des Abseitigen und des Verborgenen. 28 1892 wurde die erste Nachtwache verfasst. Ein Jahr später erschien sie in den Blättern für die Kunst. 29 Die Stummheit als einzig angemessene Artikulationsform von Leid und Schmerz wird sich auch später noch in der lyrischen Auseinandersetzung mit den Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus immer wieder finden, so unter anderem bei Paul Celan oder Nelly Sachs. Hier ist es noch ganz allgemein gehalten, freilich aber auch so anthropologisch allgemein, dass keine einfachen Rückschlüsse auf bestimmte Lebensstationen des Dichters zu ziehen sind.

    

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

     219

    Art Bilanz gezogen werden. Dem lyrischen Ich werden in der nächtlichen Reflexion Folgen und Konsequenzen seiner Ästhetik und seiner Lebenshaltung bewusst, zu denen auch zwangsläufig die gesellschaftliche Isolation gehört. Was noch im Algabal als ein beinahe heroisches Paradigma vollzogen wurde, erscheint hier fast schon als eine ängstliche Frage, die da lautet: „Kann jemand in den zeiten feucht und falb / Am dunklen tore harren meinethalb?“ Das gibt einen diametralen Befund ab gegenüber der selbstbewussten Poetik Georges und auch gegenüber seiner realen Selbstinszenierung. Der lyrische Sprecher ist während der Vigilien mit sich allein und erkennt in ihrem unmittelbaren Vollzug die eigene, aus der künstlerischen Arbeit resultierende Einsamkeit. Wer wird nun für diese Situation verantwortlich gemacht? Der Künstler selbst, die Gesellschaft oder die Liebe? Jedenfalls startet die dritte Nachtwache mit der Terzine: Welche beiden mitternächte Als der selber schmerzdurchbohrte An der dulderin sich rächte! (SW IV, 65)

    Hier fragte sich bereits Hildebrandt: „Woher dies gegenseitige grausame Quälen, diese Rachsucht kommt, wird nicht gesagt. Wirft sie ihm die Herzlosigkeit der Bürgerlichen vor? Ist er verwundet, weil sie den geistigen Eros, sein hohes Amt nicht verstehen kann?“ (KH I, 205) Als Zeitzeuge postuliert dieser Interpret zu sehr ein real zu verortendes Oppositionspaar, geht aber in seiner nur implizit geäußerten Annahme einer Differenz zwischen Leben und Kunst, zwischen Natur und Geist nicht völlig fehl. Mehr als eine Rachefantasie würde ich diesen Teil der Gruppe als einen Loslösungsvorgang begreifen wollen und eher Morwitz zustimmen, der ohne detektivischen Spürsinn ganz allgemein „vom Kampf der Liebe in zwei Mitternachten spricht“ (EM  I2,  132). Dieser wird letztendlich zu Ungunsten von Gefühl und sozialer Nähe ausgefochten: Die dritte Terzine lautet nämlich: Durch des dunkels dichte mähne Zucken rieseln unverbunden.. Und nicht wort nicht träne.

    Die Verbindung ist aufgelöst. Eine Entemotionalisierung hat stattgefunden. Die beiden letzten Nachtwachen beschreiben die sich daraus ergebenden Folgen, die sogar von einem Erkenntnisgewinn sprechen: „Erwachen aus dem tiefsten traumes-schoosse: / Als ich von langer spiegelung betroffen“ sind Verse, die auf Zustände verweisen, die hier eindeutig der Vergangenheit überantwortet werden. Das lyrische Ich spricht also von einer überwundenen Täuschung. Der Traum und die Spiegel stehen für diese Illusion, während das Erwachen für die neu gewonnenen Erkenntnisse oder Erfahrungen in Anspruch genommen werden kann. Da sich der gesamte Zyklus schon an vorherigen Stellen über so etwas wie gewisse narrative Zusammenhänge ausgezeichnet hat,

    220 

     Torsten Voß

    lässt sich dieser Erkenntnisgewinn mit dem Kampf und der Demotionalisierung aus der dritten Nachtwache in Verbindung bringen. Die Genese der ästhetischen Existenz verhält sich hier äquivalent zum Abbau der sozialen Existenz. Beides geschieht synchron. Der dadurch erreichte Zielpunkt wird in der fünften Vigilie deklamiert. Nach Morwitz sucht diese „Klarheit über den Sinn des Nachtwachen-Erlebnisses“ (EM I2, 133), wenn es heißt: Wenn solch ein sausen in den wipfeln wühlt Ist es nicht mehr als dass ein sehnen drohe Durch blaue blicke · blumen blonde frohe? (SW IV, 67)

    Das sind ausgesprochen kunstvolle Verse. George bedient sich hier mehrfach der Alliteration, vielleicht auch, um Ausdrucksformen der neuen Kunstsprache zu demon­ strieren, die dem lyrischen Sprecher nun aufgrund der Aufgabe sozialer Konstellationen möglich geworden sind. Jedenfalls wird die Irrelevanz von Sehnsucht und Begehren verkündet. Das Nachsehen hat in dieser Ästhetik der Kälte freilich das zurückgelassene Gegenüber. Das ist nun „Kaum mehr noch als am wegesrand die blinde / Die unbeachtet ruft im lauten winde ..“ Trostloser kann eine Situation kaum ausfallen und Morwitz deutet zu versöhnlich, wenn er annimmt, „dass dem Erlebnis der ‚Nachtwachen‘ eine über das äussere Geschehen weit hinausreichende Bedeutung für die beiden Betroffenen zukommt“ (ebd.). Das Künstler-Ich ist sich der Folgen seines Rückzugs aus der Gesellschaft für ebendiese zwar bewusst, kümmert sich aber nicht mehr um deren Belange. Das Überantworten der Rufe nach Nähe an den Wind lässt diese auch hier der Bedeutungsferne anheimfallen. Die hoch reflexiven Nachtwachen sind von einer Poetik des Entzugs gekennzeichnet, an die sich nun der dritte Flügel des Triptychons anfügen kann. Bereits die lange Überschrift dieses Abschnitts drückt den einzigen Zweck aus, den mögliche soziale Beziehungen für den Künstler haben können: Verstattet dies spiel: Eure flüchtig geschnittenen schatten zum schmuck für meiner angedenken saal (SW IV, 69–83) enthält bereits drei Aussagen, die sich gegen herkömmliche Vorstellungen von Geselligkeit und Freundschaft aussprechen, die man ansonsten mit dem Genre des Widmungsgedichts verbindet. Die Deklaration des Ganzen zum Spiel lässt das Vorhaben bereits ins Fiktive oder zumindest ins Inszenatorische gleiten.30 Ebenso verweist der Schattencharakter auf eine zunehmende Derealisierung. Den Höhepunkt der Desubjektivierung der Widmungsobjekte, die es meines Erachtens auch überflüssig macht, durch eine Art Dechiffrierungs-Syndikat die Initialen der Angesprochenen auszuwerten, findet man in ihrer Instrumentalisierung als Zierat. Der Künstler gibt damit die rein ästhetische Funktion der Angesprochenen zu. Insofern ist diese

    30 Zur ästhetischen bzw. rituellen Dimension des Spiels vgl. Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen 1996 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 53), bes. S. 216–233.

    

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

     221

    Widmung – fast wie beim manieristischen oder barocken Frauenlob – in erster Linie Selbstlob der eigenen künstlerischen und rhetorischen Potenz. Die Bezeichnung „meiner angedenken saal“ mag zwar an Ruhmeshallen oder ein Pantheon erinnern, aber wie oft dient all das doch eher der Ausstellung architektonischer Qualität als der memoria.31 In diesen Gedichten des dritten Flügels werden die Erinnerten ebenfalls Teil des Gesamtvorhabens Gedichtzyklus. Würde man Stefan Breuers Formel vom „ästhetischen Fundamentalismus“ wortwörtlich nehmen und sie nicht nur auf die lebensweltlichen Herrschaftspraktiken des George-Kreises übertragen (vgl. SB), wird angesichts der Widmungspoeme deutlich, wie sehr alles Soziale und Emotionale dem künstlerischen Paradigma subsumiert wird, sodass sich auch von einem ästhetischen Imperialismus oder Absolutismus sprechen lässt.32 Jede soziale Bezugnahme, jede Praxis der Erinnerung ist nur Mittel zum Zweck, um den Zyklus abzuschließen. Dessen dritter Teil separiert sich wiederum in zwei Gruppen. Dass die ersten vier Texte Frauen gewidmet sein könnten und die zwölf mit den Initia­len versehenen Laudationes ausschließlich Männern vorbehalten sind, wie es Friedrich Wolters und nach ihm Ernst Morwitz vermuten (vgl. EM I2, 133), könnte angesichts der Geschlechterpolitik des Dichters zutreffen, die auch nur Männern die Aufnahme in den Kreis zubilligte. So scheint auch hier der eigentliche Vorgang der Widmung erst beginnen zu können, wenn sich der lyrische Sprecher von jeglichem Begehren und von jeder Sehnsucht gegenüber dem anderen Geschlecht vollständig gereinigt hat.33 Morwitz und auch der Kommentar der Werkausgabe haben bekanntlich die Adressaten identifiziert (vgl. EM I2, 133–140). Allerdings erfährt der Rezipient in den Gedichten kaum etwas über die näheren Begleitumstände. Ebenso reichen viele der Angesprochenen über den George-Kreis hinaus, dessen Grenzen – zumindest nach Aussagen einiger sich selbst dazu zählender Mitglieder – nicht immer so hermetisch waren, wie es sein Selbstverständnis nahelegte.34 Da aber auch symbolistische Lyriker wie Lieder oder Gérardy dazu zählen, wäre es interessant zu klären, welche produktions- und werkästhetische Rolle deren einzelne Werke für Georges eigene Dichtung und Poetik gehabt haben können. Dafür fehlt allerdings hier der Raum. Stattdessen möchte ich an der These vom ästhetischen Imperialismus bzw. der poetologischen Instrumentalisierung der Freundschaften festhalten und klären, welche Dichtungs-

    31 So etwas wie eine fotografische Analogie dieser Galerie der Widmungen findet sich in Form einer Dichtertafel als Beilage zur VII. Folge der Blätter für die Kunst aus dem Jahr 1904. 32 Auch der Terminus vom „Imperativ der Form“, wie ihn Martina Lauster veranschlagt, scheint hier zu passen. Vgl. Martina Lauster: Die Objektivität des Innenraums. Studien zur Lyrik Georges, Hofmannsthals und Rilkes. Stuttgart 1982, S. 55. 33 Als ob das nicht auch schon in den beiden ersten Flügeln der Überschriften und Widmungen bis in höchste Grade vollzogen wurde. 34 Dieser Umfang wird vor allem auch beim Betrachten des Nachlebens des Kreises nach Georges Tod deutlich. Dazu: Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. 3. Aufl. München 2010.

    222 

     Torsten Voß

    konzepte aus den Widmungen herausdestilliert werden können und inwieweit einzelne Adressaten für das eigene Dichten schlichtweg verwendet werden. Der genaue Bezug auf Einzelwerke der Angeredeten müsste in einer umfangreichen Einzelstudie geleistet werden. Zunächst wird in dem Gedicht an Wacław Rolicz-Lieder (SW IV, 72) deutlich, dass es dem Laudator um ein Paradigma der Einzigartigkeit und der Auserwähltheit geht. Ein dem Symbolismus nahestehendes Verständnis vom Künstler wird formuliert, wenn es heißt: „Der seltnen Einer die das los erschüttert / Verbannter herrscher […]“. Mit der herkömmlichen Groß- und Kleinschreibung Georges wird hier gebrochen. Das Substantiv wird hier großgeschrieben, um den Eindruck von Singularität zu emphatisieren. Hier wird eine Exklusivität aufgebaut, die sich wie bei Georges eigenen Selbstbeschreibungen nicht über Anerkennung, sondern über Verkanntheit auszeichnet. Auch das übernimmt er von Mallarmés oder Rimbauds Seherfigurationen. Deshalb geht es in diesen Huldigungsversen eben auch nicht nur um den polnischen Dichter, sondern um dessen Instrumentalisierung zwecks Visualisierung der eigenen Poetik. Zeilen wie „durch deine hoheit / Bestätigst du uns unser recht auf hoheit · “ belegen diese Vereinnahmung. Das lyrische Ich sucht hier eine semantische und funktionale Äquivalenz, um das eigene Anliegen zu legitimieren. Nicht viel anders verhält es sich bei der Laudatio auf den belgischen Kollegen Paul Gérardy, die im Kontext der schon erläuterten Poetik der Entemotionalisierung steht: Im offnen leben wo ihr all euch gleichet · Wo ihr fast niemals wie ihr fühlet saget · War manches kommen doch von starkem zittern · War manche trennung voll zerdrückter tränen (SW IV, 73)

    Der Lobredner sucht letztendlich Korrelate für die eigene Kunstlehre. Paradoxerweise wird ein Programm der Desozialisierung ausgerechnet über den sozialen Parameter des Freundschaftslobs transportiert. Aber gerade diese Widersprüchlichkeit erhöht den exklusiven Anspruch von Dichtung. Die Vereinnahmung der sozialen Beziehung für das ästhetische Programm lässt sich auch daraus ablesen, dass den Angesprochenen mitunter die eigene Vorstellung einfach unterstellt wird, so auch im Lob von Melchior Lechter.35 Der Redner nutzt hier den Anlass, um erneut eine Farbgrammatik zu erschaffen, die auch schon für den besonderen Ton des berühmten Gedichts Komm in den totgesagten park verantwortlich war, mit dem der gesamte Zyklus des Jahrs der Seele eingeleitet wurde. Die synästhetische Verknüpfung von Farbe und Ton ist für Georges Lyrik nichts Ungewohntes und dem ihm nahestehenden Lechter wohl auch nur allzu bekannt. So heißt es dann auch ab dem zweiten Vers:

    35 Gut, ein solcher ist jenseits vom Meister gar nicht existent!

    

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

     223

    So breitet dein glänzendes gelb und wie reifender lohn. Es zittern in deinem lila und wehen grün Gestaltlose stunden mit ihrem mühsamen rinnen (SW IV, 74)

    Bedeutung wird hier sowohl suggeriert als auch synchron bis hin zum Hermetismus durchkreuzt. Dennoch enthält die Farbgrammatik zugleich eine Produktionsästhetik und zählt die Bestandteile des Kunstwerks auf.36 Auch ganze Vorstellungen vom Künstler werden in die Widmungen integriert. Das an August Husmann gerichtete Gedicht beispielsweise greift auf die romantisch-symbolistische Vorstellung vom Dichter als Seher zurück, allerdings ohne das selbstbewusste und revolutionäre Pathos, das sich noch in den sogenannten Voyant-Briefen Arthur Rimbauds artikulierte. Hier ist der Seher von seiner Umwelt isoliert und gilt dort ebenso wenig wie der Prophet im eigenen Lande: Du sanfter seher der du hilflos starrest In trauer über ewig welke träume · Gib deine hand! wir zeigen dir gefilde Um saaten der erlösung hinzustreun. (SW IV, 78)

    Mit der ganzen Autorität des pluralis majestatis greift hier das lyrische Ich direkt ein und übernimmt die gesamte Kontrolle über den zu rühmenden Menschen. Stärker kann ein ästhetischer Imperialismus kaum eingreifen bzw. sich das Meistertum des Dichters kaum durchsetzen. Die Widmungen gehen nicht an gleichberechtigte Freunde, sondern sind Zugeständnisse und Anweisungen von einer vorgesetzten Autorität. Wenn auch nicht unmittelbar auf diesen Zyklus bezogen, hat Wolfgang Braungart diesen Anspruch und diese Haltung des Dichters doch andernorts pointiert erfasst: „Das gezeigte, ausgestellte, inszenierte Ritual, wie es für George charakteristisch ist, läßt eingestandene Skepsis nicht zu. In solcher Gewalttätigkeit an sich selbst wird George zum Erlöser.“ (WB 300) Wenn Zweifel entstehen, sind diese auf

    36 Bei Komm in den totgesagten park und schau waren es sogar konkrete – an die Malerei erinnernde – Anweisungen, die da lauten: „Dort nimm das tiefe gelb · das weiche grau / […]. // Den purpur um die ranken wilder reben“ (SW IV, 12). Daraus zieht Elke Austermühl folgenden Schluss: „Die durchaus anschaulichen und zunächst keineswegs konstruiert wirkenden Bilder transportieren weder eine Landschaftsschilderung noch die Empfindungen, die diese Landschaft in einem Ich auslöst. Sie transportieren die Befehle eines Ichs, das nur noch als abstrakte imperativische Instanz in Erscheinung tritt und so die Bildabfolge bestimmt. […] Nicht die herbstliche Parklandschaft selbst steuert das Mitgeteilte, sondern es unterliegt dem Diktat eines Sprechers, der die Natur in einen kunstvollen Herbstkranz windet.“ Elke Austermühl: Lyrik der Jahrhundertwende. in: Naturalismus – Fin de siècle – Expressionismus. 1890 – 1918. Hg. v. York-Gothart Mix. München u. Wien 2000, S. 350–366, hier S. 360. So wie es auch in den Widmungen eher um den Laudator als um das Objekt der Laudatio geht. Letzteres ist dem ästhetischen Konzept inskribiert, von ihm abhängig oder wird dadurch erst gestaltet und manifest.

    224 

     Torsten Voß

    das Umfeld ausgerichtet, aber nicht auf den Laudator selbst. Ebenso ist häufig der Hinweis auf Imagination und dichterisches Potential gegeben, das an die Stelle der Realität tritt. An den holländischen Dichter Albert Verwey ist beispielsweise die Frage gerichtet: Ihr ahnt die linien unsrer hellen welten · Die bunten halden mit den rebenkronen · Den zefir der durch grade pappeln flüstert Und Tiburs wasser weich wie liebesflöten? (SW IV, 79)

    Das ist weit entfernt von einem realitätsbezogenen Landschaftsgedicht, wie es Morwitz zum Teil vermutet (Vgl. EM I2, 138). Bereits der Hinweis auf das „ahnen“ lässt doch die gesamte Frage auf Vorstellungskraft abzielen und nicht auf einen extratextuellen Gegenstand. Auch spricht der antike Name für Tivoli, also Tibur, für eine eindeutige Entfernung von Wirklichkeit und Gegenwart. Zudem entnimmt der Sprecher die Metaphern der Weichheit und des Flüsterns direkt aus der symbolistischen Lyrik der Niederlande. Viele der Naturgedichte Verweys und Émile Verhaerens37 enthalten ähnliche Wortgebilde, die Neigung zur Musikalität und nehmen auf diesem Weg ebenfalls eine Verkünstlichung der Landschaft vor. Auch andere der Huldigungen sind nicht den Dichterkollegen an sich gewidmet. Immer wieder werden sie in Verknüpfung mit Georges eigenem Werk betrachtet. Es werden nach Ansicht von Morwitz in den Gedichten an Richard Perls oder Cyril Meir Scott sogar Kritiken angemeldet, wenn diese einer angeblich ziellosen Theorie gehorchen oder zu sehr von den Vorstellungen des Meisters abweichen (SW IV, 80 u. 81).38 Derlei gilt jedoch nicht nur für Differenzen, sondern auch für Übereinstimmungen, so auch in der abschließenden Widmung gegenüber dem Kosmiker Ludwig Klages. In L. K. (SW IV, 83) wird unzweifelhaft wieder die Dematerialisierung zum Ideal aller Künstlichkeit erhoben, mit deutlicher Nähe zu einer Metaphorik des Erhabenen und zur Mystik. So beginnt das Poem mit den Versen: „Doch unser aller heimat bleibt das licht / Zu dem wir kehren auf gewundnen stegen.“ Damit wäre das gemeinsame Ziel abgesteckt. Warum sich George darin mit Klages verbundener fühlt als mit Perls oder Scott, braucht hier nicht zu interessieren. Wichtiger ist, dass die Sublimierung als ein komplexer Weg veranschlagt wird. Die ‚gewundnen stege‘ sind Ausdruck von Arbeit, Mühsal und Perfektion, was wiederum den formalen und ästhetischen Über-

    37 Das wird unter anderem besonders deutlich in der sensiblen Übersetzung von Stefan Zweig. So auch bei dem Gedicht Helle Landschaft. Vgl. Stefan Zweig: Rhythmen. Nachdichtungen ausgewählter Lyrik von Emile Verhaeren, Charles Baudelaire und Paul Verlaine. Frankfurt/M. 1983, S. 29. 38 Vgl. EM I2, 138  f. Mit Austermühl könnte man auch sagen: „Georges Lyrik kennzeichnet die Tendenz, die moderne Wirklichkeit dem ästhetischen Diktat eines ganzheitlich-statischen Formwillens zu unterwerfen; ihr Ausgangspunkt und Ziel ist die Kunst.“ Elke Austermühl: Lyrik der Jahrhundertwende (wie Anm. 36), S. 360.

    

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

     225

    zeugungen des radikalen Ästhetizismus (Baudelaire, Gautier, Leconte de Lisle, Verlaine) entspricht. Auch dass der Weg dorthin als eine Rückkehr zu einem Herkunftsort begriffen wird, verdeutlicht, dass sich der Laudator als nicht der herkömmlichen Welt teilhaftig begreift. Er geht seine eigenen „gewundnen“ Wege. Außerdem ist der kreisförmige Charakter der Rückkehr auch eine Anspielung auf die zyklisch-narrative Gesamtstruktur der Überschriften und Widmungen, sodass es kein Zufall ist, dass die gesamte Sammlung mit ebenjenem Gedicht, das den Weg ins Licht, also in die Transzendierung beschreibt, endet. Dennoch bleibt auch hier das lyrische Ich am Ende skeptisch. Gezweifelt wird selbstverständlich nicht an der eigenen Potenz, sondern an der des Gegenübers, dem letztendlich die Frage gestellt wird: Und dass ich oft dich suche wie du viel In mir erregst und mir gehörst? verrät nicht Dass du mich fliehst wie sehr ich in dir bin? (SW IV, 83)

    Wenn auch nicht auf sich selbst bezogen, so scheint der Meister innerhalb dieses Zyklus, also im Mittelpunkt vom Jahr der Seele, auch Grenzen wahrzunehmen. Dass diese Erkenntnis auch gleichzeitig den Narzissmus des Künstlers berührt, der sich davon getroffen fühlen könnte, ist ein anderes Thema, das sich freilich mit dem ästhetischen Imperialismus und der Vereinnahmung jeglicher sozialer Bindungen durch ein poetologisches Credo oder auch Dogma verbinden ließe.

    Interpretationen von Lieder wie ich gern sie sänge (SW IV, 49) und Des sehers wort ist wenigen gemeinsam (SW IV, 51) Gegen die Zeit geschrieben, wirkt es vollends unzeitgemäß in einer Epoche, die Ausnahme­ erscheinungen nicht mehr gelten lässt. (Franz Schonauer, Das Jahr der Seele) Es könnte sein […], daß der Bereich der Worte größer ist als der Bereich der Dinge. Das bedeutet, daß es Worte ohne Dinge geben könnte. (Jürgen Brokoff, Macht im Innenraum der Dichtung)

    Um dem Postulat einer kontextuellen und autobiografischen Überbetonung des Widmungscharakters zu entgehen, noch dazu einer Emphase der unglücklichen Beziehung Georges zu Ida Coblenz als möglichem Katalysator ebendieser Widmungen, ist

    226 

     Torsten Voß

    eine Herangehensweise gewählt, die in den Gedichten des Unterzyklus aus dem 1897 publizierten Jahr der Seele eher poetologische Kommentare zum Dichtungskonzept Stefan Georges zu ertasten versucht, so auch schon im einleitenden Gedicht der Überschriften und Widmungen: Lieder wie ich gern sie sänge Darf ich freunde! noch nicht singen · Nur dies flüchtige gedränge Scheuer reime will gelingen. Hinter reben oder hinter Stillen mauern zu kredenzen Zur erheitrung weisser winter Und zum trost in fahlen lenzen. Was ich nach den harten fehden In den schooss des friedens bette Und aus reicher jugend eden In das leben über-rette. (SW IV, 49)

    Wie ein Großteil von Stefan Georges früherer Lyrik, ist auch dieses einleitende Gedicht des Unterzyklus Überschriften und Widmungen aus dem Jahr der Seele poetologisch ausgerichtet.1 Lyrik funktioniert hier als Theorie der Lyrik.2 Im Gegensatz zur petrar1 Dazu grundlegend: MD; Paul Gerhard Klussmann: Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und des Dichters der Moderne. Bonn 1961; William Waters: Stefan George’s Poetics. In: JR 25–50; Dirk von Petersdorff: Stefan Georges Dichtung als Gegenreich. In: CP 53 (2004), H. 264/265, S. 51–72. Dichtung als Kunsttheorie zu gebrauchen, sie auf diese Weise von extratextuellen Gehalten und Kontexten zu extrahieren, ist ein Parameter, den George nicht nur aus der Romantik übernimmt, der ihm vielmehr vor allem auch durch den französischen Symbolismus vermittelt wurde, insbesondere durch seine frühere Teilnahme an der elitären Mardi-Gesellschaft Mallarmés um 1889. Vgl. zu den Entwicklungslinien innerhalb der Poetik: Hella Tiedemann-Bartels: Versuch über das artistische Gedicht: Baudelaire, Mallarmé, George. München 1990. Tatsächlich mitbegründet hat das Theorie-Gedicht in der französischen Literatur bereits die Lyrik der sogenannten Parnassiens, vor allem Théophile Gautiers und Leconte de Lisles. Gerade diese Autoren setzten mit dieser Zunahme an Reflexivität, Form und Abstraktion ein Gegengewicht zur stark gefühlsbetonten romantischen Dichtung Alphonse de Lamartines und Alfred de Mussets. Vgl. dazu das entsprechende Kapitel „Lyrik als Theorie der Lyrik“ in: Torsten Voß: Die Distanz der Kunst und die Kälte der Formen. München 2007, S. 203–270. 2 Die allgemeinen Voraussetzungen für das sich-selbst-theoretisierende Gedicht hat in variantenreicher Form folgender Sammelband vorgelegt: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Hg. v. Olaf Hildebrand. Köln, Weimar u. Wien 2003. Das poetologische Gedicht kann entweder seine eigene Verfasstheit speziell oder ein allgemeines Dichtungs- bzw. Künstlerkonzept auf mehr oder weniger (meist allegorisch-symbolisch) verschlüsselte Weise transportieren. Die Forschung hat längst herausgearbeitet, dass sich die wichtigsten dichtungstheoretischen Äußerungen Georges in der Lyrik selbst und nicht in Traktaten oder Manifesten finden lassen. So erkennt Dieter Burdorf, dass „George selbst nur durch versteckte poetologische Äußerungen hervorgetreten ist und

    

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

     227

    kistischen Tradition, nach der das Theorie-Gedicht – beispielsweise auch zum LiebesDiskurs – oft als Sonett oder Terzine abgefasst war, bedient sich George hier einer weniger komplexen und eleganten Gedicht- und Strophenvariante. Der Text nimmt einfache liedhafte Formen an, wie sie beispielsweise in der romantischen Dichtung Eichendorffs und Brentanos charakteristisch waren. Die Musikalität des Poems suggeriert beim Rezipienten eine gewisse Eingängigkeit und Nachvollziehbarkeit, trotz der eher verborgenen komplexen Inhalte und des selbstreflexiven Impetus der einzelnen Verse. Verantwortlich dafür sind die stete Wiederkehr der vierhebigen Trochäen, der allseits beliebte Kreuzreim in allen drei Strophen und das Beibehalten lautlich gleicher oder sich ähnelnder Vokalendungen. Dadurch ist die Nähe zum Volkslied gegeben. Diese vermeintliche Simplizität inszeniert das Eingangsgedicht aber bewusst als eine Täuschung.3 Ich vermute, dass die schlichten formalen Merkmale gewählt wurden, um den Leser mit den dichtungstheoretischen Anliegen des gesamten Zyklus erst einmal vertraut zu machen. Die daher bewusste Entscheidung für technische Schlichtheit verhält sich äquivalent zu der Aussage des lyrischen Ich in den ersten beiden Versen: „Lieder wie ich gern sie sänge / Darf ich freunde! noch nicht singen“. Die Exklamation an die Freunde im zweiten Vers offenbart aber auch, dass sich das lyrische Ich hier an eine Gemeinschaft von Vertrauten wendet, die es in seine zukünftigen Schöpfungspläne einweiht. Dass die vom lyrischen Sprecher präferierten Lieder noch nicht gesungen werden können, impliziert, dass sich das dichterische Produktionskonzept und die postulierte rezeptionsästhetische Haltung noch nicht äquivalent zueinander verhalten können, und Karla Schultz bemerkt dazu sogar, freilich nicht ohne zu dramatisieren: „The struggle for art intimated here leads through loneliness and suffering.“4 Wie auch immer. Das Konzept ist noch zu ungewohnt, weshalb als Medialisierungsform der poetologischen Aussage eben noch eine einfa-

    seine Poetik vor allem in der poetischen Realisierung seiner Bücher vorgeführt und durch persönliche Kontakte zu Gleichgesinnten und Schülern zu verbreiten gesucht hat.“ Dieter Burdorf: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart u. Weimar 2001, S. 436. Ersteres soll auch anhand der hier vorgelegten Einzelinterpretationen deutlich werden. Letzteres, also die Genese einer Werkpoetik und -politik über Gruppenkonfigurationen, ist ein Thema in: RK. 3 So spricht Franz Schonauer in einem Radioessay im Westdeutschen Rundfunk am 23. 12. 1983 auch von einer „erarbeiteten […] Schlichtheit des Ausdrucks“ bei vielen Gedichten aus dem Jahr der Seele. Vgl. Franz Schonauer: „AM ABEND VORGESTELLT. ‚Das Jahr der Seele‘ – Stefan Georges lyrische Huldigungen an eine Frau“. Sendung: 23. Dezember 1983, 22:30–23:00 Uhr, III. Programm. RFS. AA (DLA Marbach), Ms., S. 12. Bereits der Titel der Sendung verrät die große Bedeutung, die der Verfasser dem Ida Coblenz-Komplex als autobiografischem Hintergrund für den gesamten Zyklus beimisst. Das verwundert daher, weil Schonauer wenige Seiten zuvor noch auf Georges Beeinflussung durch den Mallarmé-Kreis um 1889 ausführlich eingeht. Vgl. Ms., S. 4. Dazu dann auch: Ludwig Lehnen: Politik der Dichtung. George und Mallarmé. Vorschläge für eine Neubewertung ihres Verhältnisses. In: GJb 4 (2002/2003), S. 1–35. 4 Karla Schultz: In Praise of Illusion: ‚Das Jahr der Seele‘ and ‚Der Teppich des Lebens‘: Analysis and Historical Perspective. In: JR 79–98, hier 83.

    228 

     Torsten Voß

    che und volksliednahe Strophen- und Versvariante gewählt wird. Der künstlerische Elitarismus tarnt sich zunächst noch im Lied, verkündet aber zugleich – in der vermeintlich einfachen Sprache – das Aufkommen einer Kunst wider die Masse, die eben nur für den Kreis der Freunde, also der Eingeweihten bestimmt ist. Dadurch erhält das gesamte Verfahren einen – und für George recht ungewöhnlichen – ironischen Twist. Der Schlichtheit der eingängigen Massensprache wird mit ihren eigenen Mitteln begegnet und durch ebendiese selbst im sprachlichen Vollzug demontiert. Es ist eben kein Volkslied, sondern eine Poetik! Das sich daraus ergebende Ziel wird in dem dritten Gedicht des Zyklus durch den Eingangsvers Des sehers wort ist wenigen gemeinsam (SW IV, 50) verkündet,5 das übrigens wie die Schlussfolgerung oder logische Konsequenz aus der Anfangszeile des zweiten Gedichts Zu meinen träumen floh ich vor dem volke (SW IV, 51) anmutet. Im ­introitus dagegen muss das lyrische Ich noch bekennen: „Nur dies flüchtige gedränge / Scheuer reime will gelingen.“ Derlei stellt jedoch meiner Ansicht nach keinesfalls eine kritische Selbsteinschätzung der eigenen lyrischen Potenz dar, sondern markiert nur die Crux des Künstlers,6 unter den gegebenen Voraussetzungen über die gängigen formalästhetischen und tektonischen Modifikationen (noch) nicht hinausgehen zu können.7 Ex negativo wird auf diese Weise auch der Elitarismus dieser Dichtungs- und Künstlerauffassung visualisiert. Dass das lyrische Ich von „gedränge“ spricht, deutet darauf hin, dass es diesen Zustand als Belastung und Einengung der eigenen künstlerischen Freiheit erlebt. Außerdem lässt sich mit „gedränge“ immer auch Masse und Hektik assoziieren, also zwei Phänomenalitäten der modernen Gesellschaft und Kultur. Zugleich unterläuft das Gedicht diese schlichte und gewohnte, auf Zerstreuung ausgerichtete Volkspoe5 Dieses Gedicht erhält als eines der wenigen des Zyklus einen genaueren Kommentar in den SW. Nach Hohoff wird dort „die Entwicklung von Georges Schrift- und Druckbild verfolgt. So erhält der Leser eine Art Offenlegung, die gelehrten Zwecken dient, den dichterischen Zauber aber nicht zerstört.“ So Curt Hohoff in einer Rundfunkbesprechung von Das Jahr der Seele innerhalb der Sendung „Bücherkiste“ vom 2. 5. 1983 im Programm „Deutsche Welle“. RFS: AA (DLA), Ms., S. 3. 6 Nach Ansicht von Kurt Hildebrandt bedeutet das auch „den Abschied von der bisherigen Dichtung“. Vgl. KH I, 103. Trotz seiner sich aus immanenten Interpretationen und autobiografischen Erklärungsversuchen zusammensetzenden Textanalysen erkennt Hildebrandt den quasi selbstdestruktiven Charakter des Eingangsgedichts, „das scheinbar den leichten Ton eines Volksliedes hat, dem Sinn nach aber den Abschied von der bisherigen Dichtung bedeutet.“ (KH I, 103) Also ein Volkslied, das die Trennung vom Volksliedhaften durch den ihm inhärenten Gestus verkündet und sich damit kunstvoll selbst widerlegt. 7 Der christliche Autor Reinhold Schneider schrieb 1951: „Zum Wesen des Künstlers überhaupt gehört es, voraus zu sein; er ist es schwerlich als Mensch, er ist es aber – wenn auch in verschiedensten Graden – im Augenblick der Gestaltung.“ Reinhold Schneider: Christliche Dichtung. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Im Auftrag der Reinhold Schneider-Gesellschaft hg. v. Edwin Maria Landau. Bd. 9. Frankfurt/M. 1978, S. 427–432, hier S. 431. Genau dieses Voraussein im Bereich der Gestalt und damit eine Disparität zur Gegenwart scheint mir in diesem Eingangsgedicht über den an seiner Zeit und ihren konventionellen Formen leidenden Dichter dargelegt zu sein.

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

    

     229

    sie aber auch auf performative Weise. Durch den autoreferentiellen Selbstkommentar stellt das Gedicht einen diametralen Befund zur Schlichtheit seiner eigenen Architektur dar und überwindet oder transzendiert sich selbst damit und auch alle typischen – dem lyrischen Ich jedoch so fremden  – Funktionen von Lyrik, die in der zweiten Strophe wie folgt auf den Punkt gebracht und summarisch aufgezählt werden: Hinter reben oder hinter Stillen mauern zu kredenzen Zur erheitrung weisser winter Und zum trost in fahlen lenzen.

    Trostspendung und Erheiterung sind die publikumsaffinen Aufgaben der Kunst und Literatur, auch zwecks Kompensation gegenüber dem Ungenügen an der Realität, die hier mit dem melancholischen Bild der „stillen mauern“, der Kälte bzw. Nichtfarbigkeit des „weissen winters“ und dem Paradoxon der „fahlen lenze“8 apostrophiert ist. Vergegenwärtigt man sich den kalten, elitären und ästhetizistisch-denaturalisierenden Impetus der George’schen Lyrik, wie er vor allem im Frühwerk, also im Algabal oder im Unterzyklus Waller im Schnee kundgetan wurde, wird doch ersichtlich, dass es genau diese ,stillen Mauern‘ und ,weiße Winter‘ sind, über die sich dieser Kunstanspruch in Indolenz und der Abwehr emotionaler Appellstrukturen artikuliert. Das lyrische Ich erläutert damit also, was es gerne konstruieren möchte, aber anscheinend (noch) nicht kann bzw. darf. Es muss also genau die Töne und Bilder meiden bzw. ihnen widersprechen, die für das eigene lyrische Konzept konstitutiv wären. Gerade diese Selbstverleugnung der eigenen Begabung aufgrund der Rücksichtnahme auf Publikumserwartungen9 könnte Georges kritisches Verhältnis sowohl zur Massengesellschaft als auch zum Kunst- und Kulturbetrieb widerspiegeln. Kunst als Trost und als Bedürfnisbefriedigung ist Kennzeichen des Marktes und damit der Katalysator vom berühmten „Tod der Kunst“, wie ihn bereits Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik als Folge der populär ausgerichteten Markt- und Publikumsorientierung der Kunst prophezeit und mit einem Rückgang des Sakralen verknüpft hatte.10 Aber nicht nur diese Version von Modernität verhält sich laut Elke Austermühl diametral gegenüber Georges lyrischem Paradigma, denn „auch die ‚soziale Lyrik‘ bezieht die von

    8 Ein Paradoxon deshalb, weil mit dem Frühling, vor allem in der traditionellen Erlebnislyrik Goethes oder Mörikes, Vitalität, Aufbruchsstimmung und erwachender Eros verbunden sind. Überspitzt formuliert könnte man die Zeile so interpretieren: Ist das Wetter schlecht und der Eros lahm, muss die Dichtung trösten. Gerade das will das lyrische Ich des Zyklus aber nicht! 9 Obgleich er und die Seinen niemals darauf Rücksicht genommen haben, ist es ein Thema der selbstreflexiven Lyrik Georges, da keine Abspaltung von der Masse funktioniert, ohne diese als Schrecken zu thematisieren. 10 Dass man einer solchen Hysterie auch durchaus kritisch gegenüberstehen kann, dokumentiert vor allem das Buch von Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lektüren eines Gerüchts nach Hegel. Frankfurt/M. 2002.

    230 

     Torsten Voß

    ihr reklamierte ‚Modernität‘ nicht aus einer Modernisierung traditioneller lyrischer Formen, sondern aus ihrem Bekenntnis zu einer modernen Weltanschauung, ihrem Eintreten für sozialen Fortschritt“11. Das würde für den lyrischen Sprecher in Georges hier zur Diskussion stehenden Gedichten Instrumentalisierung bedeuten. Die Konfrontation mit dieser schnöden Realität wird vom lyrischen Ich in der dritten Strophe als eine Art Kampf begriffen, als Bewährung und Standhalten zwecks Bewahrung der Formen, die durch operative Akte der Mythisierung zu Kleinodien erklärt werden: Was ich nach den harten fehden In den schooss des friedens bette Und aus reicher jugend eden In das leben über-rette.

    Trotz der in der zweiten Strophe erfolgten Anpassung an die Trostfunktion der Dichtung verliert das lyrische Ich niemals den Überblick über den sich ihm selbst gestellten Auftrag. Es blickt seherisch in die Zukunft, die auf eine Zeit nach der Bedürfnisbefriedigung der Massengeschmäcker verweist, auf ein neues Zeitalter der Dichtung, das wiederum aus „harten fehden“ zu gebären ist. Dadurch haftet der dritten Strophe auch nicht mehr nur die Tragik des verkannten und unterforderten Dichters an, sondern nun auch das Pathos heroischer Männlichkeit.12 Letzteres hat sich – salopp formuliert  – die Aufgabe gestellt, die Spreu vom Weizen zu trennen, sowohl im eigenen Werk als wohl auch in der Dichtung allgemein. Wie funktioniert das im introitus der Sammlung? Das Gedicht visiert als Fixpunkt für die Rettung der Sprache sowohl konkrete Anhaltspunkte als auch die mythisch hoch besetzte Phase der Jugend, die über das Eden-Motiv ihre sakrale Überhöhung, aber auch einen Anstrich von Unwirklichkeit erfährt, als deren (verlorenen) Ursprungsort. Damit ist das Wort des Künstlers vom Alltag weg an einen Nichtort gebannt und soll – „nach den harten fehden“ – an eben einen solchen retransformiert werden: Der „schoos des friedens“ aus der zweiten Zeile der vierten Strophe weckt natürlich verschiedenste Assoziationen. In seiner erlösenden Komponente verweist er auf die Pietà, also auf den Schoß der Jungfrau Maria, in dem sie den gekreuzigten Christus gebettet hat. Er steht aber auch für die Mütterlichkeit an sich ein, also für den Ort, an den der Isolierte zurückzukehren wünscht. Dass

    11 Elke Austermühl: Lyrik der Jahrhundertwende. In: Naturalismus – Fin de siècle – Expressionismus. 1890–1918. Hg. v. York-Gothart Mix. München u. Wien 2000, S. 350–366, hier S. 351. 12 Zeugnis einer auch genderorientierten Lektüre von Georges Werk bietet unter anderem: Birgit Dahlke: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900. Köln, Weimar u. Wien 2006. Diese Entschlusskraft des lyrischen Ich wird in diesem Gedicht auch schon 1971 von Schmitz bemerkt, weil „er nicht aufhören wird, zu geben, was er vermag“. Victor A. Schmitz: Bilder und Motive in der Dichtung Stefan Georges. Düsseldorf u. München 1971, S. 184.

    

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

     231

    damit eventuell eine Todesvorstellung als letzte Zuflucht intendiert sein könnte, wage ich zu bezweifeln, denn im letzten Vers erhält der Schoß eine genauere Attribuierung als „das leben“. Insofern scheint er eher für das wiedergewonnene Paradies oder das ewige Leben zu stehen. Nach der Vertreibung aus dem Garten Eden und der Wanderung durch das triste Erdental bzw. der Verunglimpfung der Dichterworte durch die Anpassung an die Forderungen der Welt erwartet diese nun wieder das Paradies, sodass sich hier die Komponenten der alttestamentarischen Genesis und der neutestamentlichen Heilsbotschaft vereint wiederfinden, also Schöpfung, Vertreibung, Passion und Auferstehung. Sie erscheinen als die Zyklen, durch die der Dichter seine Sprache in den „fehden“ durchbringen muss, um sie in einer anderen Zeit erklingen zu lassen, die – so offenbart es ja bereits die erste Strophe – noch nicht erreicht ist. Ebenso ließe sich vom Verlust des goldenen Zeitalters und seiner Wiedergewinnung durch das Potential des Dichters sprechen. Eine dichterische Zielsetzung, die George von der Romantik (Novalis) übernimmt. Auch Heidi E. Faletti erkennt in den Texten „die sentimentalische und elegische Situation des modernen Künstlers, der sich nach einem goldenen Zeitalter sehnt“ (HF 139). Auf jeden Fall ist es der lyrische Sprecher selbst, der dem Werk diese Schutzräume zu errichten weiß. Dass sie in einem mythisch-mythologischen Äon angelegt sind, emphatisiert nur den Modus der ästhetischen Differenzierung zwischen Künstler und Werk auf der einen Seite und einer auf Zerstreuung erpichten Rezeptionsgemeinde auf der anderen Seite, nach Faletti „die prosaische Reife, die als das Leben bezeichnet wird.“ (HF 141) Vom „schooss des friedens“ und vom „leben“ ist diese ausgeschlossen. George entwirft mit den vom Dichter geschaffenen Schutzzonen zwar weniger künstliche Orte als mit dem Unterreich des Algabal, sie sind aber nicht weniger dichotomisch angelegt. Dass sie nun ausgerechnet mit den positiven Attributen des „friedens“ und des „lebens“ konnotiert sind und die herkömmlichen rezeptiven Erwartungen an Dichtung gerade davon ausschließen, radikalisiert diese Exklusion und den ästhetischen Anspruch des lyrischen Ich nur umso mehr. Trotz des Mangels an autobiografischen Bezügen ist dem gesamten Zyklus die sich zunehmend steigernde Entwicklung hin zu einer Poetik der mehr oder weniger souveränen Autorschaft zu attestieren.13 Auch Schultz hatte schon im ersten Gedicht die Andeutung einer Prozessualität des Werdens erkannt: „His struggles for true expression are not yet over.“14 Er hat sich fortlaufend und kontinuierlich um den wahren Ausdruck zu bemühen.

    13 Zu dieser Konzeption bei George vgl. den Aufsatz von Friedhelm Marx: Heilige Autorschaft?: Selffashioning-Strategien in der Literatur der Moderne. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hg. v. Heinrich Detering. Stuttgart/Weimar 2002 (Germanistische Symposien 24), S. 107–120. Es ist von einer ästhetischen bzw. einer phantasmagorischen Autorschaftskonstruktion auszugehen, nicht von einer empirischen, an der Biografie überprüfbaren. 14 Karla Schultz: In Praise of Illusion (wie Anm. 4), S. 83.

    232 

     Torsten Voß

    Während die Eingangsverse noch die Klage des von tendenziöser Poesie unterforderten Künstlers enthalten, markiert das dritte Gedicht der Sammlung einen Wendepunkt. Hinsichtlich des zu interpretierenden Des sehers wort ist wenigen gemeinsam ist der scharfsinnigen Einschätzung Jürgen Brokoffs vollends zuzustimmen, dass „ein sichtbares Anzeichen für die sich umkehrende Bewegung in Georges Gedichten […] die zunehmende Tendenz zur Selbstkommentierung ist. Die Sprecher der Gedichte thematisieren immer stärker ihren Status als Person und bereiten damit gedichtintern den Übergang zur Person des Dichters vor.“15 Dass dieser bei George auch immer eine Kunstfigur ist, braucht nicht eigenständig diskutiert zu werden: Des sehers wort ist wenigen gemeinsam: Schon als die ersten kühnen wünsche kamen In einem seltnen reiche ernst und einsam Erfand er für die dinge eigne namen – Die hier erdonnerten von ungeheuern Befehlen oder lispelten wie bitten · Die wie Paktolen in rubinenfeuern Und bald wie linde frühlingsbäche glitten · An deren kraft und klang er sich ergezte · Sie waren wenn er sich im höchsten schwunge Der welt entfliehend unter träume sezte Des tempels saitenspiel und heilge zunge. Nur sie – und nicht der sanften lehre lallen · Das mütterliche – hat er sich erlesen Als er im rausch von mai und nachtigallen Sann über erster sehnsucht fabelwesen · Als er zum lenker seiner lebensfrühe Im beten rief ob die verheissung löge .. Erflehend dass aus zagen busens mühe Das denkbild sich zur sonne heben möge. (SW IV, 51)

    15 Jürgen Brokoff: Macht im Innenraum der Dichtung. Die frühen Gedichte Stefan Georges. In: Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der klassischen Moderne 1900–1933. Hg. v. Uwe Hebekus u. Ingo Stöckmann. München 2008, S. 415–432, hier S. 431. Brokoffs innovatorischer Anspruch ist auch darin begründet, dass er diese Poetisierung der Autorschaft durch den Modus der Selbstreflexivität innerhalb der Gedichte aus dem Jahr der Seele bereits im Algabal-Zyklus diagnostiziert. Nicht der Kunstkaiser entwirft sein preziöses Unterreich, sondern ein allmächtiges Autor-Ich kreiert den Kaiser. Vgl. ebd., S. 428: „Die eigentliche Macht besitzt der Schöpfer dieser Figur, der sich im Text als eine von Algabal unterschiedene Sprechinstanz manifestiert.“ Das wäre doch einmal eine Möglichkeit, Stefan Breuers bedeutsame Formel vom „ästhetischen Fundamentalismus“ auf die Werkebene zu transferieren und tatsächlich als ein ästhetisches (und nicht soziales) Modell von souveräner Autorschaft zu verfolgen. Vgl. SB.

    

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

     233

    Wie schon erwähnt, stellt dieses Gedicht eine Kausalverknüpfung mit Zu meinen träumen floh ich vor dem volke dar. Das erste Gedicht markiert die Ausgangslage des gesamten Zyklus, das ‚Flucht‘-Gedicht beschreibt die unmittelbare Reaktion auf die poetische Unterforderung des lyrischen Ich und das hier zu untersuchende ‚Wort‘Poem kulminiert schlussendlich im Resultat dieser Flucht vor den unangemessenen Aufgaben der Dichtung als Sinn- und Trostspenderin. Hier ist es nun möglich, „des sehers wort“ zu sprechen, verbunden mit der Einsicht, dass derlei Fähigkeit automatisch die Isolation mit sich bringen muss, auch aufgrund des besonderen Status des Sehers, den bereits Georg Peter Landmann in seinen Volkshochschul-Vorträgen zu Stefan George in antiker Tradition mit dem Dichter verbunden hat.16 Insofern werden die drei Gedichte durch eine narratologische Abfolge miteinander verbunden. Sie machen aus dem Dichtungsprozess ein Narrativ.17 Dass sich eine Genese vollzogen hat, wird auch aus formalen Veränderungen ersichtlich. Zwar wird der volksliedhafte Kreuzreim beibehalten, an die Stelle der vierhebigen Trochäen sind jedoch fünfhebige Jamben getreten, die auf den Blankvers hinweisen. Letzterer suggeriert in Lyrik und Drama oft einen Eindruck von Erhabenheit oder Pathos. Hier kann es damit zusammenhängen, dass der Seher nun endlich die Möglichkeit gefunden hat, seine ästhetischen Vorstellungen darzulegen. Der fünfhebige Jambus bewirkt aufgrund seiner traditionellen Verwendung ein größeres Selbstbewusstsein des lyrischen Sprechers, also auch einen Höhepunkt. Dass auch die einzelnen Texte der Sammlung über narrative Strukturen verfügen, erkennt beispielsweise die sorgfältige Interpretation von Helmut Henne. Da der erste Vers des Gedichts dessen Quasi-Überschrift bildet und diese mit einem Doppelpunkt abschließt, muss sich dem nun eine Begründung für die sowohl hypothetisch als auch deklamatorisch formulierte Aussage „Des sehers wort ist wenigen gemeinsam“ anfügen. Nach Henne „zeigt der Doppelpunkt an, daß hierfür in der Folge eine Erklärung gegeben wird, hier in der Form lyrischen Erzählens, das die Jugend des Sehers

    16 So bemerkt Landmann: „Das Wort Seher braucht George damals schon als gewählteres Synonym für Dichter, ohne dass damit schon das Prophetische gemeint zu sein braucht; Vorbild war wohl das lateinische Wort vates, mit dem auch die römischen Dichter den Rang bezeichneten, in dem sie sich sahen.“ Georg Peter Landmann: Vorträge über Stefan George. Eine biographische Einführung in sein Werk. Düsseldorf u. München 1974, S. 36. Auch Georges Antipode Rudolf Borchardt verbindet in seinem Aufsatz Über den Dichter und das Dichterische den Seher mit dem Dichter und gesteht beiden auch staatstragende Funktionen zu. Wenn auch das Prophetische laut Landmann ausgeklammert bleibt, lässt sich doch durch diesen Verweis auf das Numinose so etwas wie Exklusivität erzeugen. Auch Faletti spricht vom Erreichen einer „Apotheose“, „wenn seine Kreativität bis zur Sonne gehoben werden könnte“ (HF 143). Auf das erhabene Bild der Sonne werde ich abschließend noch eingehen. 17 Allgemein zu diesem Blick auf Dichtung: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. v. Jörg Schönert, Peter Hühn u. Malte Stein. Berlin u. New York 2007 (Narratologia 11). Wobei narratologische Lyrik in diesem Sammelband weniger über Zyklizität nachgewiesen wird als am konkreten Einzeltext.

    234 

     Torsten Voß

    zum Inhalt hat“18. Insofern stellt das gesamte Gedicht die Erläuterung der Hypothese dar. Darauf soll nun genauer eingegangen werden. Nachdem bereits im introitus-Gedicht die „jugend“ als ein „eden“ beschworen und damit zu einem goldenen Säkulum der Poesie erklärt worden ist, setzt sich dieser Nimbus in der lyrischen Narration von des Sehers jugendlicher Vergangenheit fort. Zugleich wird dieser schon früh in seiner Extraordinarität, als eine Art Naturtalent oder besser gesagt Originalgenie, erkannt, allerdings nicht mehr durch ein lyrisches Ich, sondern durch einen übergeordneten und autonomen Sprecher:19 Schon als die ersten kühnen wünsche kamen In einem seltnen reiche ernst und einsam Erfand er für die dinge eigne namen –

    Die Wünsche des Sehers, seine solitäre aber dadurch auch exklusive Situation im „seltnen reiche“ und das gottgleiche Vermögen der Bezeichnung der Dinge, stehen in einem konstitutiven Bedingungsverhältnis zueinander. Die Isolation von der Umwelt ist die Voraussetzung dafür, dass die „wünsche“ genutzt werden können, um den „dingen“ in einer Art ästhetischem Imperialismus „eigne namen“ aufsetzen zu können, sie also von ihrer üblichen Bedeutung zu lösen, diese durch das eigene Primat auf die Signifikation zu relativieren. Dadurch entsteht nach William Waters „a private language that by neccessity implies a refusal of communication“20. Waters geht noch weiter, wenn er dem kreationistischen Vorhaben des Sehers sowohl kindliche Wahrnehmung der Welt als auch einen nahezu revolutionären Impetus unterstellt, wenn dieser Dinge eigenständig benennt: „The primary sense of the fourth line is that, serious and lonely in his rare ‚empire‘ of the mind, the child invented his own names for things, re-naming the world like a second Adam and feeling the power […] of creation in so doing.“21 Das ist interessant, weil Waters sich damit implizit auf das literaturgeschichtlich relevante Faktum einer selbstbewussten und sich autonom setzenden Poetik beruft, die auch stets in der völligen Ignoranz semantischer und

    18 Helmut Henne: Sprachliche Spuren der Moderne in Gedichten um 1900: Nietzsche, Holz, George, Rilke, Morgenstern. Berlin u. New York 2010 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 137), S. 81. 19 In beckmesserischer Perspektive würde diese Beobachtung einen diametralen Befund zu der These von der inneren und narratologischen Geschlossenheit der drei Gedichte ergeben, da ja die Erzählperspektive innerhalb der Gedichte gewechselt wird. Hier spricht nicht mehr der Dichter und auch nicht der Seher des ersten Gedichts, sondern ein allmächtiger Autor – oder auch auktorialer Erzähler – über den Seher und seine Art, den Dingen „eigne namen“ zu geben. 20 William Waters: Stefan George’s Poetics (wie Anm. 1), S. 36. Diese Privatsprache nun auf die kommunikativen Praktiken und sozialen Interaktionen des George-Kreises, die Privatdrucke, die Blätter für die Kunst und deren Publikationsmodalitäten etc. zu applizieren, wäre eine zu lebensweltlich ­affine Allegorisierung und wird hier vermieden. 21 Ebd., S. 37.

    

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

     235

    metaphysischer Gegebenheiten begründet war. Ein berühmtes Beispiel stellt Goethes frühe Prometheus-Hymne von 1774 dar, in der das lyrische Ich bekanntlich auch Menschen „nach meinem Bilde“ formt und sich als radikaler Künstler an die Stelle der Gottheit setzt.22 Allerdings ist dem Prometheus-Mythos ja auch die Strafe durch ebendiese Gottheit inhärent. Wie machtvoll sich der Anspruch des Sehers, der keine Strafe mehr fürchtet, umsetzt, verrät die zweite Strophe, die den Namen genauere Attribute und Wirkungsweisen unterstellt. Synchron „erdonnerten“ sie „von ungeheuren / Befehlen oder lispelten wie bitten“, was erneut einen merkwürdigen Widerspruch konstruiert. Der donnernde Befehl wird hier in Einklang gebracht mit der lispelnden Bitte. Ein maskuliner Imperialismus vereinigt sich mit dem Gegensatz einer weiblich vorgetragenen Zagheit, was aber meines Erachtens auf das schöpferische, sämtliche Gegebenheiten ignorierende Potential hindeutet. Wie schon im Unterreich des Algabal erhält dieses poetologische Programm seine Bestätigung durch den Gestus der Rarefizierung, wenn es heißt: „Die wie Paktolen in rubinenfeuern / Und bald wie linde frühlingsbäche glitten“. Seit der Romantik artikuliert sich die Kunst über einen Hang zu edlen und außerhalb des Vegetabilischen stehenden Materialien, als da wären Gold oder Edelsteine.23 Sie dokumentieren das Künstliche der Kunst. Das Unterreich des Algabal nimmt diese 22 Mir sei der Hinweis gestattet, dass sich derlei in vergnüglicher Form auch in Peter Bichsels Prosaband Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen findet, wo aus dem Bett bekanntlich das Bild wird, also der semantische Relativismus und Konventionalismus präsentiert wird. Damit wird nicht nur auf die Sprachkrise hingewiesen, sondern auch auf die Willkür des Bezeichnens, was George gewiss als eine Verballhornung seines ästhetischen Primats aufgefasst hätte. 23 So vor allem in den Erzählungen Der Runenberg von Ludwig Tieck und Die Bergwerke zu Falun von E. T. A. Hoffmann, in denen goldene und juwelene Bäume und auch Früchte nicht zum allgemeinen Verzehr, also zur elementaren Bedürfnisbefriedigung, sondern lediglich zur Dekoration und damit zur Selbstdarstellung der eigenen ästhetischen Gemachtheit preisgegeben sind. Vgl. dazu das Kapitel „Die romantische Sehnsucht nach kalten Materialien“, in: Torsten Voß: Die Distanz der Kunst und die Kälte der Formen (wie Anm. 1), S. 155–202. Diese künstlichen oder auch virtuellen Welten dokumentieren den Anspruch auf Eigenständigkeit. Vgl. auch Heide Eilert: Die Vorliebe für kostbar-erlesene Materialien und ihre Funktion in der Lyrik des Fin de siècle. In: Fin de Siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Hg. v. Roger Bauer. Frankfurt/M. 1977, S. 421–441. Die Rarefizierung dient der Kunst als Illustration, aber auch zur Distinktion. So ist beispielsweise auffällig, dass die Protagonisten der romantischen Erzählungen – nach ihrer Konfrontation mit den artifiziellen Unterreichen – für ein soziales Leben vollkommen deklassifiziert sind. Statt sich als fürsorglicher Familienvater zu verdingen, zieht es die Protagonisten aus Hoffmanns, Hauffs und Tiecks Erzählungen in die kalte Glitzer- und Kunstwelt der Bergwerke, wo sie sich ganz und gar mit der Kultivierung der wertvollen Materialien beschäftigen können. Vgl. Ulrich Johannes Beil: Die Wiederkehr des Absoluten. Studien zur Symbolik des Kristallinen und Metallischen in der Literatur der Jahrhundertwende. Frankfurt/M. u.  a. 1988. Genauso desozialisiert möchte ja der lyrische Sprecher im Eingangsgedicht der Überschriften und Widmungen sein. Es sind auch Elemente einer dem Symbolismus und dem Jugendstil geschuldeten Bildtradition zu erkennen, worauf schon Walter Benjamin in seiner frühen Auseinandersetzung mit Stefan George hingewiesen hat. W. B.: Rückblick auf Stefan George. Eine neue Studie über den Dichter. In: Ders.: Ge-

    236 

     Torsten Voß

    metaphorische Selbstbespiegelung von Kunst und Schrift auf und das ‚Seher‘-Poem setzt sie an dieser Stelle fort, jedoch mit einem signifikanten Unterschied: Die mythischen aus Goldsand bestehenden Flüsse („Paktolen“) des Altertums definieren sich nicht nur über die edlen und anti-vegetabilischen ‚rubinenfeuer‘, sondern können auch „wie linde frühlingsbäche“ gleiten und damit wieder ganz und gar Natur sein. Dieses Paradoxon, diese temporale Synchronizität von Natur und Anti-Natur verdankt sich der Allmacht des Schöpfungswillens des Sehers. Nur ihm ist es möglich, auch entfernt voneinander liegende ästhetische Gegensätze zu vereinen. Ein Miteinander von Kunst- und Naturschönheit wäre beispielsweise für eine idealistische Ästhetik im Sinne Hegels undenkbar. Der imperialistische Seher umgeht diese Separation einfach und führt zusammen, was zuvor getrennt war. Dadurch haftet dem Ganzen auch nicht nur ein absolutistischer, sondern auch ein innovatorischer Anspruch an, den das lyrische Ich ja schon im ersten Gedicht eingeklagt hat. So wie hier ‚Befehl‘ und ‚Bitte‘ zugleich gedacht werden können, ist dies nun auch mit Paktolos und Frühlingsbach möglich. Radikaler kann eine solche Manifestation kaum zum Ausdruck gebracht werden. Die dritte Strophe setzt die Attribuierungen der Macht der „eigne[n] namen“ fort und setzt sie in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Seher selbst. Wenn es mit Blick auf „eigne namen“ in der neunten Zeile heißt „An deren kraft und klang er sich ergezte“, ist das weniger ein narzisstisch-plattes Eigenlob, als vielmehr der Hinweis auf einen selbstreflexiven hortus conclusus der Kunst. Innerhalb des Schöpfungsprozesses finden diese vermeintliche Kraftmeierei und das Ergötzen statt. Beides ist in das Kunstsystem inkludiert und hält es damit aufrecht. Die folgenden Verse untermauern diesen Eindruck der Weltabgewandtheit, die im einleitenden Gedicht des Zyklus noch nicht erreicht war: Sie waren wenn er sich im höchsten schwunge Der welt entfliehend unter träume sezte Des tempels saitenspiel und heilge zunge.

    Der ‚höchste schwung‘ deutet auf einen sublimen Zustand der Elevation hin, mit dem auf das Reich der freien Einbildungskraft verwiesen24 und der hier mit dem Traum gleichgesetzt wird. Dieser überkommt den Seher aber nicht einfach mehr wie in der mystischen und bisweilen auch romantischen Tradition, wo dieser der Epiphanie eher passiv teilhaftig wurde, sondern er selbst setzt sich „unter träume“, behält also die aktive Kontrolle über das Geschehen,25 obgleich „es auch erst einmal darum geht, die

    sammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd III. Frankfurt/M. 1972, S. 392–399. 24 Ein wunderbares Beispiel für eine solche Visualisierung dieser Poetik stellt in der französischen Literatur das Gedicht Le Saut du Tremplin des Parnass-Lyrikers Théodore de Banville dar. 25 Das nähert dieses Dichtungstheorem einer Poetik des Kalküls an, einer Philosophy of composition, wie sie sich bei Edgar Allan Poe, Flaubert oder auch Mallarmé und Paul Valéry findet und die der

    

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

     237

    Wirkung der Worte auf ihren Schöpfer darzustellen“, wie Henne treffend bemerkt.26 Dieser Traumzustand, der „die alte Welt vergessen“27 macht, verhält sich wiederum analog zu des „tempels saitenspiel“ und der „heilge[n] zunge“, also zu einer sakralen bzw. geistlichen Musik und dem mystischen Zustand des Zungenredens, was auf eine Teilhaftigkeit am Göttlichen verweist. Mehr noch: Der Traumzustand ist das Apriori für die Genese des „saitenspiel[s]“, als das „eigne namen“ hier bezeichnet werden, um ihre Differenz zur Alltagssprache zu illustrieren. Die letzten beiden Strophen des Gedichts bringen eine Zusammenfassung, ein verabsolutierendes Fazit dieses zuvor aufgestellten Kriterienkatalogs, denn „Nur sie – und nicht der sanften lehre lallen / Das mütterliche – hat er sich erlesen.“ Mit der Mütterlichkeit wird die natürliche und körperliche Herkunft des Menschen geleugnet und allein in der geistigen Sphäre, im „erlesen“ verortet, was wiederum an den symbolistischen Parameter der Denaturalisierung erinnert. Die Sprachen der Mütterlichkeit werden sogar als „lallen“ bezeichnet und damit zur Idiotensprache diskreditiert,28 um diese Praxis der poetischen Emanzipation oder auch Distinktion zu vervollständigen.29 So kommt auch Henne zu dem treffsicheren Schluss: „Die Welt wird neu

    romantischen Ungesteuertheit der Inspiration entgegengesetzt war. Über Mallarmé war George mit den modernen Poetiken ebenso früh vertraut wie mit den Modalitäten einer elitären Kreisbildung von Künstlern und Intellektuellen. Dazu Genaueres, auch mit Blick auf Georges eigenes Konzept der Dichtung, siehe im folgenden Buch von Annette Simonis, bes. S. 86–94. Mit Blick auf diese laut Simonis „konstruktivistische[n] Verfahrensweisen der Kunst“ verwundert es nicht, dass sich der „SeherDichter“ in diesen Gedichten vom Zerstreuungspoem emanzipiert. Vgl. Annette Simonis: Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne. Tübingen 2000, S. 119. 26 Helmut Henne: Sprachliche Spuren der Moderne in Gedichten um 1900 (wie Anm. 18), S. 83. 27 Ebd. 28 Außerdem führt die Eingebundenheit der „sanften lehre“ in die Alliteration „lehre lallen“ zur Abwertung ebendieser Lehre. Eine Lehre, die lallt, kann auch nichts vermitteln. Ihr mangelt es an reflexiver Potenz. Dem Wort, das „erlesen“, also nicht nur exquisit, sondern auch angelesen ist, haftet – aufgrund der Gelehrsamkeit – eine größere Glaubwürdigkeit an. 29 Für Waters „the lines imply that the mother tongue is inadequate for an unexpected reason: it is partly or wholly unintelligible.“ William Waters: Stefan George’s Poetics (wie Anm. 1), S. 37. Dieser Ablehnung der Mütterlichkeit stehen das intellektuelle Potential des Sehers bzw. sein Nachsinnen, was ja etwas anderes als Fühlen ist, im Gedicht kontrastiv gegenüber. Eine Untersuchung des Gedichts mit traditionellen Gender-Codierungen könnte sich auch mit Blick auf die Rekonstruktion der Poetik Georges als erhellend erweisen, da Maskulinität oft mit dem absoluten Willen zur formalen Gestaltung des unabhängigen Kunstwerks zusammenfällt bzw. genutzt wird, um diesen auszudrücken. Für die französische Literatur zwischen Romantik, Parnassiens und Symbolismus hat das auf originelle Weise geltend gemacht die Arbeit von Gretchen Schultz: The gendered lyric. Subjectivity and difference in nineteenth century French poetry. West Lafyette 1999. Für den deutschen Sprachraum, wo eine Gender-Codierung des lyrischen Sprechens und der Motivwahl, etwa im Vergleich zwischen Eichendorff und Brentano auf der einen Seite und Stefan George und Rudolf Borchardt auf der anderen Seite, nachgewiesen werden könnte, steht eine solche Untersuchung noch weitgehend aus. Allerdings enthält die Lyrik Georges und Borchardts aufgrund mancher Anklänge an die Ästhetik des Jugendstils

    238 

     Torsten Voß

    erschaffen über das ‚wort‘, das ‚eigne namen‘ jenseits des ‚mütterlichen‘ setzt. Vor der Welt steht ‚seine‘ Sprache, die den Zugang des Dichters zur Welt be-deutet.“30 Dieser ist rein imaginativ ausgerichtet und nicht an einer empirisch fassbaren Wirklichkeit orientiert. So heißt es dann auch über diese Rückschau in die Jugend des Sehers: „Als er im rausch von mai und nachtigallen / Sann über erster sehnsucht fabelwesen.“ Der Rausch deutet auf das Dionysisch-Bacchantische hin, das sich gerade bei Lyrikern wie Hölderlin, Stefan George und Rudolf Borchardt31 immer wieder findet. Die Nachtigall wiederum symbolisiert die Schönheit des Gesangs und der Dichtung. Durch beides entstehen die Fabelwesen aus der sechzehnten Zeile. Man könnte auch von einer charakteristischen Verzahnung des Dionysischen mit dem Apollinischen sprechen und damit von einer Auflösung der Dualität durch den Willen des Sehers, die eben hybride Fabelwesen als Ergebnis dieser frühen mystischen coincidentia oppositorum vorweisen kann. Die fünfte Strophe stellt jedoch einen merkwürdigen Widerspruch zum selbstbewussten Pathos des Sehers dar, da er sich hier nun an eine höhere Instanz richtet, ja deren Ratschluss sich gewissermaßen ausliefert: „Als er zum lenker seiner lebensfrühe / Im beten rief ob die verheissung löge ..“ Dieser Bruch, der sich im Wechsel vom imperialen Schöpfer zum fast demütigen Beter vollzieht, irritiert auf das Äußerste. Auch Waters gesteht sich ein: „What marks ‚Des sehers wort‘ as a crucial departure from the earlier work, however, is principally its last stanza. Praying to an indeterminate (masculine) power, the young linguist is assailed […] by doubt ‚ob die verheissung löge.‘“32 Warum also auf einmal diese plötzlichen Zweifel nach all der zuvor verkündeten kreationistischen Potenz? Vielleicht ist es das völlige Bewusstwerden der Dysfunktionalisierung der Sprache im Modus des lyrischen Absolutismus, der die Dinge eigenständig und autonom benennt. Die Konfrontation mit ebendieser Radikalität entäußert letzte Zweifel gegenüber einer allmächtigen Instanz, die für Brokoff bekanntlich ein dem Seher (wie auch schon dem Algabal) übergeordneter Künstler oder Autor in all seiner Allmacht sein könnte.33 Dass der Seher selbst mit der „verheissung“ hadert, stellt jedoch nicht die Widerlegung, sondern eher die Bestätigung einer a-sozialen und absoluten Poetik dar. Wenn der Dichter selbst anfängt zu zaudern, kann das von ihm Hervorgebrachte nur umso

    auch selbst einige weiche Komponenten, sodass sich für diese Beispiele nicht so einfach eine lyrische Gender-Dichotomie konstruieren lässt wie in den Gegenüberstellungen in Gretchen Schultz’ provokanter Untersuchung. 30 Helmut Henne: Sprachliche Spuren der Moderne in Gedichten um 1900 (wie Anm. 18), S. 84. 31 Vgl. Borchardts bedeutendes Langgedicht Bacchische Epiphanie. Auch dort erscheint der neue Dichter, der aber bei Borchardt oft auch Führungsaufgaben in der Gesellschaft übernimmt, als Jüngling während der bachanalischen Festveranstaltung. 32 William Waters: Stefan George’s Poetics (wie Anm. 1), S. 37. 33 Jürgen Brokoff: Macht im Innenraum der Dichtung (wie Anm. 15), S. 431  f.

    

    Das Jahr der Seele · Überschriften und Widmungen 

     239

    einschneidender sein. So wünscht sich der Seher: „Erflehend dass aus zagen busens mühe / Das denkbild sich zur sonne heben möge.“ Die Sonne ist bei George oft die Inkarnation des Göttlichen. Auch der historische Kaiser Elagabal verstand sich als Sonnenpriester.34 Außerdem wird durch die gewünschte Begegnung mit dem Himmelsgestirn erneut der sublimierende und zugleich vereinsamende Prozess der Elevation angesprochen, die der Seher offenbar begehrt. Es ist mit Faletti die Zyklizität von „Entfernung, Alleinsein und Sonnenepiphanie“ (HF 142) zu konstatieren. Aufgrund dieser bleibt „das denkbild“ aus dem letzten Vers geschützt. Es kann nicht aufgelöst oder auf einen Begriff gebracht werden. Dazu bemerkt Henne: „Denkbild […] bedeutet […] ‚Begriff, Idee, Vorstellung‘. Im vom Dichter erzeugten Wort zeigt sich sein Denken, sein Gedanke – so anschaulich die Wortbildung ist, sie löst das Bild […] nicht ein. Es bleibt ein Geheimnis.“35 Der radikale Anspruch, vor dem sich der Seher-Dichter selbst in der fünften Strophe zu fürchten scheint, ist so gewaltig, dass er sich nur mit dem Allerhöchsten vereinen kann. Dadurch entgeht es endgültig der Gefahr der Trostspendung und entzieht sich einem allegorisierenden oder signifikativen Zugriff.

    34 Und faszinierte nicht zuletzt deswegen auch die Künstler. Vgl. den opulenten Roman von Louis Couperus: Heliogabal der Sonnenkaiser. Aus dem Niederländischen v. Christel Captijn-Müller u. Heinz Schneeweiß. Berlin 1998. 35 Helmut Henne: Sprachliche Spuren der Moderne in Gedichten um 1900 (wie Anm. 18), S. 84. Bild und Wort entsprechen doch nicht vollends einander.

    Franziska Merklin

    Traurige Tänze Entstehung Der biografische Hintergrund, vor dem der dritte und letzte Teil des Jahrs der Seele, die Traurigen Tänze, entstanden ist, erhellt sich aus dem Briefwechsel Stefan Georges mit Ida Coblenz, die der Dichter 1892 in Bingen kennengelernt hatte und der er ursprünglich Das Jahr der Seele widmen wollte.1 Frau Isi, wie sie in der Erinnerungsliteratur des George-Kreises genannt wird, war wohl die Frau, die für George zeitlebens die größte Bedeutung erlangte (vgl. RB  I,  64). Der Dichter sei gern zu Besuch in ihr Bingener Elternhaus gekommen und habe im „raum mit den sammetblumigen tapeten“, der im ersten Vers des zweiten Gedichts der Traurigen Tänze verewigt ist, seinen Stuhl gehabt. Sie pflegte ihm vorzuspielen, während er „die Bildnisse ihrer Vorfahren an der Längswand des Esszimmers betrachtet habe“ (RB  I,  60). Zu den gemeinsamen Unternehmungen gehörten, besonders im Herbst 1894 und im Sommer 1896, auch lange Spaziergänge, zu denen sie sich an der Post trafen, um „Nahe-aufwärts über die Drususbrücke oder auf den Rochusberg“ (ebd.) zu gehen. Auf diesen Gängen trug George der Freundin eigene Gedichte aus den Hängenden Gärten und Übertragungen von Gedichten Paul Verlaines vor (ZT 43). Die enge Verbundenheit der beiden äußerte sich auch darin, dass George Ida Coblenz, noch bevor er von einer seiner zahlreichen Reisen zurückkehrte, brieflich um ein Treffen zu bitten pflegte. Er verewigte sie in mehreren seiner Dichtungen und schätzte ihre Kritik seiner Werke.2 Als Coblenz 1895 den wohlhabenden Textilhändler Leopold Auerbach heiratete, sich in der Ehe bald unverstanden und unglücklich fühlte, „verdichtete sich das gegenseitige Vertrauen, als Coblenz Georges Zuwendung suchte und George sie in seine Pläne einweihte, an die Öffentlichkeit zu treten, [und] Das Jahr der Seele herauszugeben“3. Zur Entfremdung und zum anschließenden Bruch kam es, nachdem Ida Coblenz-Auerbach sich mit dem von George verachteten Richard Dehmel verband und versuchte, zwischen den beiden Dichtern zu vermitteln. In seinem letzten Brief an die Freundin, der unbeantwortet blieb, schrieb George 1896 über ihre Freundschaft, sie entstehe „dadurch dass eines sein grosses und edles ins andre hineinzutragen vermag“ und schwinde „dann ganz wenn dem einen etwas gross und edel scheint was dem andren roh und

    1 Tatsächlich waren drei Gedichte aus dem Mittelteil von Das Jahr der Seele, als sie 1894 zum ersten Mal in den Blättern für die Kunst erschienen, „I. C. einer Freundin“ gewidmet. 2 Vgl. RB I, 61  ff., sowie ZT 26 und den Katalog der von Bernhard Zeller betreuten Marbacher Ausstellung: Stefan George 1868–1968. Der Dichter und sein Kreis. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. Stuttgart 1968, bes. S. 90  ff. 3 GHb III, 1318–1321, hier 1320. Vgl. auch ZT 48.

    

    Das Jahr der Seele · Traurige Tänze 

     241

    niedrig ist“4. Nach dem Bruch erschien das über einen Zeitraum von fast sechs Jahren hinweg entstandene Jahr der Seele 1897 ohne Widmung. George bemühte sich außerdem, autobiografischen Deutungen mit einer Vorrede zuvorzukommen, in der er die Irrelevanz des Individuellen betont5 und die er der ersten öffentlichen Ausgabe von 1898 voranstellte: Dem „tieferen verständnis“ helfe es nicht, wenn die Leser in seinem Das Jahr der Seele betitelten Zyklus „bestimmte personen und örter ausfindig machten“, denn jede Erlebnisgrundlage habe „durch die kunst solche umformung erfahren dass es dem schöpfer selber unbedeutend wurde und ein wissen-darum für jeden andren eher verwirrt als löst. Namen gelten nur da wo sie als huldigung oder gabe verewigen sollen und selten sind sosehr wie in diesem buch ich und du die selbe seele.“ (SW IV, 7) Die öffentliche Ausgabe von 1898 widmete der Dichter seiner Schwester Anna Maria Ottilie, deren Verhältnis zu Ida Coblenz, wie Robert Boehringer berichtet, von je her gespannt gewesen war (vgl. RB I, 63). Entstanden sind die meisten der Traurigen Tänze mutmaßlich um den März 1895 in München, als George zugleich mit anderen Projekten, darunter zahlreichen Lesungen und der Komposition neuer Folgen der Blätter für die Kunst, beschäftigt war (ZT 46). Abweichungen und Änderungen, die sich vor allen Dingen beim Vergleich zweier Handschriften und des Erstdrucks von 1897 ergeben, demonstrieren, wie ausgiebig George an der Zusammenstellung des Zyklus gefeilt hat.6

    Druck Bereits im Januar und August 1896 waren einige Gedichte aus dem Jahr der Seele in den Blättern für die Kunst erschienen.7 Die Druckvorlage zur ersten Ausgabe schrieb George in der ersten Hälfte des Jahres 1897 auf Kleinquartformat mit farblich abgesetzten Überschriften und Gedichtanfängen, indem er sich zum ersten Mal seiner stilisierten „Stilschrift“ bediente (SW IV, 121). In einer Auflage von 206 Exemplaren erschien Das Jahr der Seele zuerst im November 1897, gedruckt von Otto von Holten in Georges privatem „Verlag der Blätter für die Kunst, Berlin“: Dieses erste von dem

    4 Zitiert nach RB I, 62. Vgl. auch ZT 63. 5 Vgl. Claudio Magris: Il „Poema paradisiaco“ del D’Annunzio e i „traurige tänze“ di Stefan George. In: Lettere italiane 12 (1960), 3, S. 284–295, hier S. 119. 6 Vgl. zur Überlieferung GHb  I,  137–156, bes.  137  ff. Zur Bedeutung des Zyklischen und zur „Idee des lyrischen Ich als [dem] bildende[n] Prinzip des Zyklus, die als kontinuierliches Bewusstsein die Themen modifiziert und reformuliert“ vgl. HF, bes. S. 11. Georges Eigenart, das eigentlich Gleichzeitige in seinen Gedichtbänden als Getrenntes zu inszenieren, betont und analysiert Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin 2007 (Historia Hermeneutica, Series Studia 3), S. 609. 7 Die ersten drei Gedichte der Traurigen Tänze erschienen im Januar 1896 in den BfdK.

    242 

     Franziska Merklin

    Jugendstilgraphiker Melchior Lechter für George ausgestattete Buch stellt ein frühes Beispiel der in jeder Einzelheit bis zur letzten Seite durchgeformten Buchkunst dar.8 Ein Jahr später erschien, vorausdatiert auf 1899, die zweite Ausgabe im öffentlichen Verlag Georg Bondi in Berlin. Das Jahr der Seele bildet 1928 den vierten Band der Gesamt-Ausgabe, der sich wiederum mit dem Wortlaut der ersten öffentlichen, bei Bondi verlegten Ausgabe deckt. George charakterisierte den ins Spröde und Düstere gesteigerten melancholischen Duktus des Bandes, indem er von der „oft schmerzvollen beklemmung des seelenjahres“ (SW IV, 120) schrieb,9 die in den Traurigen Tänzen besonders deutlich hervortritt, und erklärte, dass sein Jahr der Seele „noch am ehesten dem Lyrikverständnis des Bürgers entgegenkomme“ (SW IV, 121). Mit seiner Nähe zur Erlebnislyrik ist der große Erfolg des Zyklus erklärt worden, der bis 1922 elfmal aufgelegt wurde und aus dem einige Gedichte, etwa das dritte der Traurigen Tänze, Es lacht in dem steigenden jahr dir, Eingang in zahlreiche Anthologien fanden.

    Form und Inhalt Innerhalb des Triptychons, welches Das Jahr der Seele darstellt, bilden die Traurigen Tänze nach dem Jahr und den Überschriften und Widmungen den dritten Teil. Als letzter Teil des die „Zwiegespräche einer einsamen Seele“10 enthaltenden Gedichtbandes umfassen die Traurigen Tänze 32 gleichmäßig gebaute dreistrophige Gedichte mit je zwölf Versen. Indem George zumeist drei- bis fünfhebige Verse mit Reimbindung verwendet, nähert er sich „der Lieddichtung an, die traditionell auf Verständlichkeit und relative Einfachheit festgelegt ist. Entsprechend wird auch das Wortmaterial alltagsnäher gestaltet, die Archaismen und die elaborierten Begriffe werden reduziert.“ (DP 92) Auffällig ist, dass nur das vierte, Gib ein lied mir wieder, und das zehnte Gedicht, Trauervolle nacht!, der Traurigen Tänze ungereimt sind bzw. Reim und Assonanzen alternieren, während in den übrigen Gedichten der Kreuzreim gegenüber Paarreim und umarmendem Reim überwiegt.11 In Übereinstimmung mit der strengen Reimpoetik, die George in den Blättern für die Kunst proklamierte,12 kommt dem fehlenden Reim in diesen Gedichten eine semantische Qualität zu, die den Prozess der 8 Vgl. zu Georges Integration von Text und Textträger in einem umfassenden poetologischen Konzept DP, bes. S. 79. Zur Rezeption der Prachtausgabe siehe Robert E. Norton: Secret Germany: Stefan George and his circle. Cornell University Press 2002, bes. S. 201  f. 9 Vgl. in diesem Sinne auch das Urteil Claude Davids, das Jahr der Seele schließe „die Periode der Beklemmung ab, die der Abfassung des Algabal folgt“ (CD 130). 10 Stefan George 1868–1968 (wie Anm. 2), S. 119. 11 Vgl. GHb I, S. 141. 12 BfdK II, 2, S. 35: „Reim ist ein teuer erkauftes spiel. hat ein künstler einmal zwei worte mit einander gereimt so ist eigentlich das spiel für ihn verbraucht und er soll es nie oder selten wiederholen.“

    

    Das Jahr der Seele · Traurige Tänze 

     243

    dichterischen Dämpfung und Stilisierung als schwieriges und störanfälliges Unterfangen darstellt: Die Bitte um „ein lied“ im „klaren tone deiner freudentage“ (SW IV, 90) bleibt unerhört. „Nachdem die liebe starb“ wird das vom Schmerz überwältigte lyrische Ich „bleich und stumm“ (SW IV, 96): „Der Tod der Liebe erweist sich als Verlust einer vitalen Bindung an die Außenwelt und führt die Gefährdung kreativer Vision herbei“ (HF 167), die in den nur teilweise gelungenen Reimen sinnfällig gestaltet ist. Quälende Todesgedanken durchziehen die gesamten Traurigen Tänze, die von symbolischen Gegenständen, imaginären Szenen und mythologischen Gestalten handeln (vgl. CD 136) und in denen die symbolisch aufgeladenen Themen des Herbstes, des Abends, der Vergänglichkeit, der Dichtung, der Liebe und des Todes ineinander verwoben sind.13 Charakteristisch für die Gedichte der Traurigen Tänze ist die „Ich-DuKonstellation […], [die] immer wieder auf Georges schwieriges Verhältnis zu seiner Jugendbekanntschaft Ida Coblenz bezogen worden [ist]“ (DP 98). Melancholie und Erinnerung verbinden die Gedichte thematisch, deren titelgebendes Oxymoron bereits den für Georges Zyklus wichtigen Aspekt der Stilisierung und Sublimation des Leidens zum Ausdruck bringt. Der Titel ist, wie auch die in ihm zum Ausdruck gebrachte Verbindung von Melancholie und Musik, Gabriele D’Annunzio verpflichtet:14 In der Consolazione von dessen Poema Paradisiaco finden sich die Verse „sonerò qualche vecchia aria di danza, / assai vecchia, assai nobile, anche un poco triste […].“15 George hat fünf Gedichte, darunter die Consolazione, aus D’Annunzios Poema paradisiaco 1905 im zweiten Band der Zeitgenössischen Dichter-Übertragungen veröffentlicht. Ihrem Titel entsprechend sind die Traurigen Tänze gegenüber den ersten beiden Teilen von Das Jahr der Seele durch eine größere metrische Vielfalt und rhythmische Musikalität gekennzeichnet.16 Die auf den ersten Blick „wenig geordnet“ wirkende „kompakte Masse“ (CD 144) der Traurigen Tänze, deren Titel „das Disparate mit eigentümlichem rhythmischem Reiz und durch die

    13 Vgl. Claudio Magris: Il „Poema paradisiaco“ (wie Anm. 5). 14 Ebd. Vgl. auch Mario Zanucchi: Tra ‚Entsagung‘ e vitalismo: considerazioni sulla poetologia di Stefan George nel ciclo „Das Jahr der Seele“. In: Spazi di transizione. Il classico moderno (1888–1933). A cura di Mauro Ponzi. Milano 2013, S. 179–193, hier S. 181  f.. Vgl. zum Einfluss der Dichtungen Paul Verlaines auf Georges Jahr der Seele Theodor W. Adorno: George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel: 1891–1906. In: Stefan George und die Nachwelt. Dokumente zur Wirkungsgeschichte. Hg. v. RalphRainer Wuthenow. Bd. 2. Stuttgart 1981, S. 144–171, bes. S. 167. 15 Gabriele D’Annunzio: Versi d’amore. Canto novo. Intermezzo di rime. Isaotta Guttadàuro. Elegie romane. Poema paradisiaco. A cura di Pietro Gibellini, prefazioni e note di Fabio Finotti, Raffaella Bertazzoli e Donatella Martinelli. Torino 1995, S. 512. Faletti hebt die ironische Konnotation des Titels hervor: Das Tanz-Motiv impliziere organische Form und Bewegung und suggeriere auf ironische Weise „die Einheit von Seele und Körper, obwohl die fatale Dichotomie zwischen dem Geistigen und dem Konkreten thematisch dominiert“ (HF 157). 16 Vgl. Karla Schultz: In Praise of Illusion: ‚Das Jahr der Seele‘ and ‚Der Teppich des Lebens‘: Analysis and Historical Perspective. In: JR 79–98, hier 84.

    244 

     Franziska Merklin

    Alliteration noch verstärkt in zwei Worte zusammendräng[t]“17, lässt bei genauerem Hinsehen eine Dreiteilung erkennen, die durch die drucktechnische Unterteilung der frühen Ausgaben gestützt wird:18 Die erste Gruppe umfasst die sechzehn Gedichte von Des erntemondes ungestüme flammen bis zu Mir ist kein weg zu steil zu weit (SW IV, 87–102). Die zweite Gruppe reicht von Die stürme stieben über brache flächen bis zu Da vieles wankt und blasst und sinkt und splittert (neun Gedichte, SW IV, 103–111). Die letzte Gruppe beginnt mit Zu traurigem behuf und endet mit Willst du noch länger auf den kahlen böden (sieben Gedichte, SW IV, 112–118). Die ersten drei Gedichte, die im Januar 1896 in den Blättern für die Kunst erschienen, fungieren innerhalb des ersten, metrisch variiertesten Teils als eine Art Einleitung: Sie stellen das lyrische Ich und das angesprochene ‚Du‘ vor und entfalten „a wide range of interrelations: irony, distance, pain, eroticism, irritation, praise, and ultimately resignation.“19 Angesichts der beiden vorherrschenden Themen, der bis zum Versiegen der Tränen durchlittenen Trauer um eine verlorene Liebe (SW IV, 87: „Ich klage fast: sind meine tränen trocken“) und dem Verlust der Inspiration (SW IV, 88: „So glaubst du fest dass auch das spiel der musen / Ihn den sie liebten niemals wieder freue“), zieht das berühmte dritte Gedicht, Es lacht in dem steigenden jahr dir, die Konsequenz in dem Gelöbnis, zu „verschweigen […] was uns verwehrt ist“, fordert zu einer stoischen Haltung auf, „und sucht nur eine leise Spur von Glück, indem es lehrt, die Hoffnungen zu mäßigen“ (CD 144). In den folgenden Gedichten variiert die Intensität des Schmerzes über das unwiederbringlich Verlorene, die von leiser Klage bis zur äußersten Verzweiflung hin zur sich bescheidenden Resignation reicht. Die vorherrschende Todesthematik kontrastiert mit dem momenthaften Aufscheinen von Versöhnung und dichterischer Bewältigung der Trauer. Immer wieder finden sich autobiografische Bezüge, etwa die zahlreichen Verweise auf den genius loci der Rheinlandschaft, in der George und Coblenz aufwuchsen und gemeinsame Spaziergänge unternahmen, doch drängt sich das Autobiografische nie in den Vordergrund der Darstellung, sondern wird künstlerisch überformt. So hat Ida Coblenz ihr Bingener Elternhaus als Szene des Gedichts Der raum mit sammetblumigen tapeten identifiziert;20 jedoch dient das Portrait der „ahnin“ hier ebensowenig wie die „sammetblumigen tapeten“ der bloßen biografischen Beglaubigung. Beide ‚Requi-

    17 Joachim Jacob: Das Jahr der Seele. In: Große Werke der Literatur: eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg. Bd. 10. Hg. v. Hans Vilmar Geppert. Tübingen 2007, S. 59–73, hier S. 67. 18 Vgl. Friedrich Thiel: Vier sonntägliche Straßen. A Study of the Ida Coblenz Problem in the Works of Stefan George. New York 1988, S. 113. Vgl. zur Gliederung auch HF, die ein Kapitel ihrer Studie zu den Jahreszeiten des Fin de siècle Georges Traurigen Tänzen widmet und in zahlreichen Einzelanalysen dem zentralen Problem des Zyklus, der Dichotomie von Kunst und Leben, nachspürt. 19 Friedrich Thiel: Vier sonntägliche Straßen (wie Anm. 18), S. 115. Vgl. zur weiteren Untergliederung der sechzehn Gedichte des ersten Teils der Traurigen Tänze ebd. sowie EM I, 140  ff. 20 Vgl. Ida Coblenz: Der junge Stefan George. Unbekanntes aus seiner Frühzeit. Aus meinen Erinnerungen. In: Berliner Tageblatt 306 von 1. 7. 1935.

    Das Jahr der Seele · Traurige Tänze 

    

     245

    siten‘ sind symbolisch aufgeladen und unterstreichen das übergreifende Thema der Vergänglichkeit und der Hinfälligkeit menschlichen Glücks: „Sitting before frosted windows and speaking of death, the poet and his friend are entrückt [Kursivierung im Original] from those worlds where companionship still thrived, and their emo­ tio­nal splendor has waned as has the florescence of the wallpaper, no longer wholly decorous.“21 Bereits das erste Gedicht der Traurigen Tänze, Des erntemondes ungestüme flammen, gestaltet ein „miniature psychodrama between the poet and his companion, whose feminine sex is indicated by her ‚locks‘“22. Leidenschaft, Entzweiung und das Ende der Liebe des Paares werden bereits in den ersten beiden Versen der Traurigen Tänze metaphorisch angedeutet („Des erntemondes ungestüme flammen / Verloschen“). Das Oszillieren zwischen persönlicher Betroffenheit und dem Willen, das Leid in der Dichtung zu bewältigen, erhellt aus der Verwendung der Personalpronomina: In den meisten Gedichten der Traurigen Tänze tritt explizit ein lyrisches Ich auf, oft ist es im ‚Wir‘ impliziert und gelegentlich trägt sogar das ‚Du‘ Züge der Selbstansprache. Wie Jürgen Egyptien dargelegt hat, verweist die „instabile Identität des ‚du‘“ auf den letzten Satz von Georges Vorrede zur öffentlichen Ausgabe und steht für „Selbstspaltung oder Selbstverdoppelung“23. Die dichterische Gestaltung trägt, sogar wenn es sich wie im Fall des dreizehnten Gedichts um den verzweifelten Versuch des lyrischen Ich handelt, das erdrückende Gefühl von Einsamkeit, Schmerz und Verlust zu bewältigen, Züge des Allgemeingültigen: Dies leid und diese last: zu bannen Was nah erst war und mein. Vergebliches die arme spannen Nach dem was nur mehr schein · Dies heilungslose sich betäuben Mit eitlem nein und kein · Dies unbegründete sich sträuben · Dies unabwendbar-sein. Beklemmendes gefühl der schwere Auf müd gewordner pein · Dann dieses dumpfe weh der leere · O dies: mit mir allein! (SW IV, 99)

    21 Friedrich Thiel: Vier sonntägliche Straßen (wie Anm. 18), S. 114. 22 Ebd., S. 113. 23 Jürgen Egyptien: Herbst der Liebe und Winter der Schrift. Über den Zyklus ‚Nach der Lese‘ in Stefan Georges ‚Das Jahr der Seele‘. In: GJb 1 (1996/1997), S. 23–43, hier S. 31. Willi Koch (Stefan George. Weltbild, Naturbild, Menschenbild. Halle/Saale 1933, S. 52) spricht von der „Ichbrüchigkeit“, die sich in den Traurigen Tänzen äußert.

    246 

     Franziska Merklin

    Das entnervend Zirkuläre der Introspektion ist in der Ringkomposition des Gedichts widergespiegelt, die durch die dreifache Wiederholung des einleitenden demonstrativen Adjektivs (Vers 1: „Dies leid und diese last […]“ und 12: „O dies […]“) erreicht und durch die Reimstruktur, mit dem sich fortspinnenden männlichen Reim, der im zweiten Vers beginnt, noch zusätzlich intensiviert wird. Eine Trostlosigkeit und Ausweglosigkeit evozierende Semantik verbindet die sechs männlich endenden Verse, deren Reimwörter („mein“  – „schein“  – „kein“  – „unabwendbar-sein“  – „pein“  – „allein“) eine Art Klimax der Verzweiflung zum Ausdruck bringen, wobei sich der Kreis des Selbstbezugs auch formal wieder schließt, indem das im zweiten Vers das Reimwort bildende Possessivpronomen der ersten Person sich nicht nur mit dem Adverb „allein“ des letzten Verses reimt, sondern direkt davor im durch die Alliteration hervorgehobenen Dativpronomen variiert wiederauftaucht. Zugleich kommt in der Fülle der substantivierten Infinitive und Abstrakta ein Grad von Objektivierung zum Ausdruck, welcher der persönlichen Leidenserfahrung einen Zug von Allgemeingültigkeit verleiht.24 Das Gedicht Dies leid und diese last: zu bannen, das zum ersten Drittel der Traurigen Tänze gehört, veranschaulicht auch einen Bedeutungsaspekt des Titels, indem es das lyrische Ich in einem selbstreflexiven ‚Rundtanz‘ gefangen zeigt, „der traurig und nicht befreiend ist, weil er sich unaufhörlich und unabänderlich in ein und demselben Zirkel zu bewegen hat“ (EM I, 152). Der Mittelteil der Traurigen Tänze reicht vom siebzehnten bis zum fünfundzwanzigsten Gedicht des Zyklus und handelt von „dem ziellosen Wandern in einer vagen Landschaft“, wobei die Naturbildlichkeit eine „gedämpfte Entsagung“ und „die Ahnung kreativer Gefährdung“ (HF  159) evoziert. Danach stehen die sieben durch einen „kürzere[n], fast liedhafte[n] Rhythmus“ gekennzeichneten Gedichte, die den letzten Teil der Traurigen Tänze bilden und durch ein eindringliches Pathos gekennzeichnet sind. Der intime Ton wird durch eine unterkühlte Sprache und einfache Form aufgewogen. Hierfür ist das vielfach kommentierte Gedicht Ihr tratet zu dem herde (SW IV, 114) ein eindrückliches Beispiel: Das Endzeitbewusstsein des Fin de siècle äußert sich im Bild „der dünnblütigen Spätlinge, die aus der Asche neue Glut zu entfachen suchen.“25 Deren „bleiche finger“ stellen lautlich wie semantisch eine Beziehung zum Mond her, „dessen Blässe („leichenfarb“) das entflohene Leben verrät.“26 Auf die Bilder des Verfalls und der Vergeblichkeit, die in den ersten beiden gleichmäßigen Strophen aus kreuzgereimten jambischen Dreihebern gestaltet sind,

    24 Willi Koch (ebd., S. 52) sieht in Dies leid und diese last: zu bannen die persönliche Anamnese in eine überpersönliche Epochendiagnose übergehen, in der die „Unlust aus Leid am Leben, Existenzschwachheit und Liebesproblematik, überstarker Intellekt als Hemmungsschranke, Brüchigkeitskult, Ästhetizismus, Selbstbespiegelung und Todessehnsucht zusammenströmen zu einer großen Tragik des Menschseins“. 25 Wolfdietrich Rasch: Spätzeit. In:  1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretation. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki. Bd. 5., S. 439–442, hier S. 441. 26 Ebd.

    Das Jahr der Seele · Traurige Tänze 

    

     247

    folgt, akzentuiert durch einen Rhythmuswechsel im zehnten Vers, die ‚Weisung des Mondes‘: Die Bitterkeit der imperativischen Abweisung ist akzentuiert durch eine Tonbeugung am Versbeginn und die Repetition des Verbs aus dem ersten Vers: „Tretet weg vom herde.“ Lakonisch wird die Erläuterung im folgenden und letzten Vers nachgereicht, der sich zugleich „wie ein Kennwort über die Epoche setzen“27 ließe: „Es ist worden spät.“28 Das letzte Gedicht der Traurigen Tänze, Willst du noch länger auf den kahlen böden, ist ein Herbstgedicht, in dem wiederum die jambischen Fünfheber vorherrschen. Es greift auf den Beginn zurück, indem es die Themen der Resignation und der Erinnerung verbindet, die bereits in den drei Eingangsgedichten der Traurigen Tänze gestaltet waren. Im ‚Du‘ der ersten und zweiten Strophe setzt sich das Soliloquium der müden und zur Resignation bereiten Seele aus vorangegangenen Gedichten fort. Die Illusion wird, im Bild des Frühlingswindes, in ihrer tröstenden und inspirierenden Qualität beschworen und der Wahrheitsanspruch der sich aus ihr speisenden Dichtung in einem Indirektheit evozierenden Kompositum gedämpft: Bescheide dich wenn nur im schattenschleier Mild schimmernd du genossene fülle schaust Und durch die müden lüfte ein befreier Der wind der weiten zärtlich um uns braust. (SW IV, 118)

    Darüber hinaus wird hier der Kreis der Jahreszeiten geschlossen, denn bereits am Anfang des Jahrs der Seele stand ein Herbstgedicht, das sich einer poetologischen Lesart anbot:29 Dem „totgesagten park“30 des Anfangs korrespondiert am Schluss des Bandes der „tote quell“, der das Zentrum der ‚Blütenlese‘, der „jetzt als Blumen empfundenen früheren Erlebnisse und Träume“ (EM I, 154  f.) darstellt. Die metaphorisch benannten Gedichte werden durch das reflexive Präsens-Verb „versammeln […] sich“ anthropomorphisiert, der Tempuswechsel vom elften auf den zwölften Vers suggeriert Dringlichkeit und verschärft den Kontrast, den das Epitheton „tot“ darstellt, das nach den Blumen des elften Verses mit dem „quell“ des Schlussverses eine weitere tradi­ tionelle, auf den Bereich der Dichtung verweisende Metapher spezifiziert und zugleich verfremdet. H. Stefan Schultz hat in seiner Untersuchung der Motivik George’scher Gedichte festgestellt, dass Georges Verwendung der traditionellen metaphorischen Bezeichnung die Lesererwartung konterkariert, indem „der Brunnen niemals und der Quell recht selten als Zeichen des schöpferischen und lebensspendenden Wassers

    27 Ebd. 28 Vgl. zur Deutung des Gedichts im Kontext des gesamten George’schen Werks Bernhard Böschenstein: Studien zur Dichtung des Absoluten. Zürich 1968, bes. S. 152  f., u. WB 292  f. 29 Vgl. zur Gliederung des Bandes und zur Funktion des letzten Gedichts der Traurigen Tänze als Schlussgedicht des ganzen Bandes GHb I, S. 140. 30 Vgl. zur Deutung des merkwürdigen Kompositums „totgesagt“ Joachim Jacob: Das Jahr der Seele (wie Anm. 17), bes. S. 71.

    248 

     Franziska Merklin

    gebraucht werden“ (HSS 132). Offen bleibt, ob die Metaphorik hier einen Gestus der Distanz impliziert, dessen der Dichter sich wie bereits am Ende der Hymnen bedient, um anzudeuten, dass sein Gedichtband eine für ihn selbst bereits abgeschlossene, erschöpfte und überwundene Dichtungsphase darstellt, oder ob hier lediglich ein Neuanfang anklingt, der den „Ausgangspunkt für neue Dichtung und neues Erlebnis“ (EM I, 155) markiert. Besondere Beachtung hat in der Forschung das in den Traurigen Tänzen zum Ausdruck kommende Verhältnis des Dichters zur Natur gefunden:31 Mit Vorliebe gestaltet der Dichter Herbstlandschaften, die das für die Décadence bedeutsame Bewusstsein der Spätzeit zum Ausdruck bringen und sich mit den Themenkomplexen der Dichtung, der Vergänglichkeit und des Todes überschneiden.32 Müdigkeit und Melancholie sind die mit der Darstellung dieser Themen verbundenen Stimmungen. Bei Flammende wälder am bergesgrat handelt es sich um ein Herbstgedicht, in dem sich die Themen der sterbenden Natur und der sterbenden Liebe ineinander verschränken: Das Gedicht ist biografisch gedeutet und auf Ida Coblenz’ Hochzeit (SW IV, 108: „Brachtest du strauss und kranz heim“) bezogen worden.33 Zugleich bietet sich jedoch auch eine poetologische Lesart an, womit sich ein Bezug zum zweiten der Traurigen Tänze ergibt, in dem die Liebesthematik mit dem Thema der dichterischen Inspiration verbunden wird: – So glaubst du fest dass auch das spiel der musen Ihn den sie liebten niemals wieder freue – Und ist das reiche licht in deinem busen Auch ganz erloschen? sag es mir in treue! (SW IV, 88)

    Indem das lyrische Ich fürchtet, mit der Erfahrungsgrundlage, dem Liebeserlebnis, auch die dichterische Inspiration, die Gunst der Musen verloren zu haben, offenbart es einen notwendigen Zusammenhang von Welt und sprachlichem Artefakt, von persönlicher Erfahrung und deren Verewigung in der Dichtung, von dem viele der Traurigen Tänze handeln. Auf die poetologische „Textdimension der Selbstthematisierung weisen [in den gesamten Traurigen Tänzen] immer wieder Schlüsselwörter wie ‚lied‘, ‚gesang‘, ‚Muse‘, ‚harfe‘, ‚wort‘, ‚spruch‘ etc. hin.“34 Im Zusammenhang mit der bereits in der titelgebenden Wendung Das Jahr der Seele35 anklingenden symbolischen Verbindung von Jahreszeiten und Seelenzu-

    31 Vgl. CD (bes. S. 149.); Karla Schultz: In Praise of Illusion (wie Anm. 16) sowie GHb I. 32 Vgl. zur Bedeutung des Herbstes in Das Jahr der Seele Margherita Versari: Il tempo nella poesia di Stefan George. Percezione e figure. Bologna 2008, bes. S. 26  ff. 33 Vgl. GHb I, S. 153. 34 Ebd. 35 Vgl. zum Ursprung des Titels in Hölderlins Elegie und der objektivierenden Abwandlung des Zitats Joachim Jacob: Das Jahr der Seele (wie Anm. 17), S. 66.

    

    Das Jahr der Seele · Traurige Tänze 

     249

    ständen stehen Gedichte, in denen die Natur zur geschichtsphilosophischen und poetologischen Metapher wird: „Die Haltung des romantischen Dichters, für den die Natur ein aufgeschlagenes Buch Gottes ist, in deren Lettern und Bildern er sich selbst erkennt, ist für George unmöglich geworden. Die Natur lässt sich als Bild einer harmonischen Wirklichkeitsganzheit nicht mehr besingen.“36 Dieser Unterschied erhellt aus einem Vergleich von Joseph von Eichendorffs Mondnacht mit Georges Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten (SW IV, 107):37 Eichendorff gestaltet im Bild der nächtlichen Landschaft einen hieros gamos, der den wunderbaren Einklang von Himmel und Erde, von Transzendenz und Immanenz im konjunktivischen Wunsch („Es war als hätt’ […]“) versinnbildlicht. Bei George finden sich anstelle einer universellen Einheit, an der auch die personifizierte geflügelte Seele Anteil hat, zwei „dunkelfalter“, deren Vereinigungsstreben Züge des Willkürlichen („die sich verfrühten“) und Bedeutungslosen („im scherz“) trägt. Die „Stimmung des raschen Verfliegens“38 und damit das Thema der Vergänglichkeit erhellen auch aus der auf den Mond bezogenen Metaphorik, die Kleinheit und Flüchtigkeit suggeriert („Nur erst als kleine weisse wolke schwebt“). Der instinktiven Gewissheit über die eigene transzendente Bestimmung und Zugehörigkeit, die bei Eichendorff den imaginierten Flug der Seele kennzeichnet, stehen bei George die „sich streckenden Straßen“ gegenüber, die als „graphische Andeuter […] auf ein unsichtbares Jenseits zeigen. Da sie in der Ferne verschwinden, bieten sie als Wege keinen Pfad mehr“39 und bereiten den Pessimismus des Schlussverses vor, der die Abendstimmung mit der Gefühlslage des Melancholikers („Den duft des abends für gedämpften schmerz“) identifiziert. Im Hinblick auf die gesamten Traurigen Tänze lässt sich festhalten, dass George im Unterschied zur klassischen und romantischen Dichtung, in der die Natur allumfassend als innere und äußere Natur gedacht ist, ein Verhältnis des Dichters zur Natur gestaltet, das insofern „antiromantisch“40 ist, als eine „Begegnung“ in der Natur dem lyrischen Ich nicht möglich erscheint, „weil die Natur unmenschlich ist und von George nicht als beseelt, als organisches Lebenswunder erlebt wird“41. Während sich die Natur in Park und Garten als geformte zeigt und zur Metapher für den dichterischen Formwillen

    36 Manfred Durzak: Zwischen Symbolismus und Expressionismus: Stefan George. Stuttgart u.  a. 1974, S. 55. 37 Vgl. Willi Koch: Stefan George (wie Anm. 23), S. 71–74, CD 149  f., HF 178  ff. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 CD 159. In den Zusammenhang antiromantischer Elemente gehören auch die Kinder des fünften der Traurigen Tänze, deren Lied als „fühllos“ (SW IV, 91) bezeichnet wird, womit die Stilisierung des Kindes und des Kindlichen im Sinne des ungebrochen Gefühlshaften und Dichterischen in der Romantik konterkariert wird. 41 Wilhelm Loock: Stefan George: Komm in den totgesagten Park. In: Wege zum Gedicht. Mit e. Einf. v. Edgar Hederer hg. v. Rupert Hirschenauer u. Albrecht Weber. München u. Zürich 1956, S. 266–272, hier S. 270.

    250 

     Franziska Merklin

    wird, sind weder Garten und Park noch die freie Natur „für George […] der unberührte Gegenpol zur menschlichen Kultur, […] [noch] der Rückzugsraum einer vom Leben (und der Liebe) enttäuschten Seele, wie die Natur in der lyrischen Tradition bis in die Moderne hinein häufig eingesetzt worden ist, noch gar das, was ein Dichter unverstellt nachahmen könnte“42. In den Traurigen Tänzen erscheint die Natur als Rahmen der Introspektion des lyrischen Ich, dessen Gefühlsnuancen mit „unbestechliche[r] Wahrhaftigkeit und Hellsichtigkeit“ (CD 160) offengelegt werden.

    Interpretation von Mir ist kein weg zu steil zu weit (SW IV, 102) Im Folgenden soll Mir ist kein weg zu steil zu weit gedeutet werden, das als sechzehntes Gedicht in der Mitte der Traurigen Tänze steht, deren ersten Teil beschließt und zugleich zentrale Elemente derselben vereint: Die charakteristische Ich-du-wir-Konstellation der Traurigen Tänze findet sich hier ebenso wie das Motiv des Wanderns, das Todes-Motiv und die dichterische Selbstthematisierung: Mir ist kein weg zu steil zu weit Den ich nicht ginge – mein geleit – Mit dir · uns ängstet keine kluft Und sühne steht auf jeder gruft. So kreuzen wir in wehmut nur Der freudlos grauen aschen flur Mit ihrem dürren gras und dorn · Doch rein von reue · rein von zorn. Mein feuchtes auge späht nur fern Nach diesem einen aus der gern Die harfe reich und wol gestimmt · Der unsre goldne harfe nimmt. (SW IV, 102)

    Wie alle der unter dem Titel Traurige Tänze vereinten Gedichte ist auch Mir ist kein weg zu steil zu weit aus drei Strophen zu je vier Versen aufgebaut und erhellt doch die Vielfalt der Formen, derer George sich bediente: Es handelt sich bei den gleichmäßig jambischen Vierhebern mit durchgehend männlichen Paarreimen um einen Vierzei-

    42 Joachim Jacob: Das Jahr der Seele (wie Anm. 17).

    

    Das Jahr der Seele · Traurige Tänze 

     251

    ler, der „erst spät Eingang in die Lyrik gefunden“1 hat. George selbst hat ihn vor dem Schifferlied in Das Neue Reich in den Traurigen Tänzen fünfmal verwendet: Es handelt sich dabei neben dem oben zitierten um die Gedichte Wir werden nicht mehr starr und bleich (SW IV, 97), Ich weiss du trittst zu mir ins haus (SW IV, 98), Geführt von sang der leis sich schlang (SW IV, 104) und Langsame stunden überm fluss (SW IV, 106). Verbunden sind die genannten Gedichte neben der Strophenform durch ihren dominanten poetologischen Gehalt und die Versöhnung von lyrischem Ich und ‚Du‘ des Dichters mit seinem zweiten Ich.2 Die klanglose Strophenform wird in Mir ist kein weg zu steil zu weit wie auch später bei den Expressionisten mit bedrückenden Bildern gefüllt. Das lyrische Ich befindet sich, versöhnt mit seinem ‚Du‘, inmitten einer Grabeswüste. Die Autosuggestion der ersten beiden Verse geht einer Trostlosigkeit evozierenden Semantik voran, die Verben (sich ängstigen), Adverbien (nur), Adjektive (freudlos, grau, dürr, feucht), Konkreta (Kluft, Gruft, Asche, Dorn) und Abstrakta (Sühne, Wehmut) einschließt und das Gedicht bis zum zehnten Vers beherrscht. Der Eindruck der Hoffnungslosigkeit wird verstärkt durch den vagen jahreszeitlichen Bezug, der an die Unfruchtbarkeit und Starre einer Winterlandschaft denken lässt – ein Eindruck, den das folgende Gedicht des Zyklus, Die stürme stieben über brache flächen, bestätigt, in dem ausdrücklich vom Winter die Rede ist (SW IV, 103). Neben der mit der winterlichen Jahreszeit assoziierten Unfruchtbarkeit und Starre wird die vorherrschende Todesthematik des Gedichts akzentuiert durch die Vertikalmetaphorik der ersten Strophe, Bilder einer sterbenden Natur und Wörter, die an die Passion und den Opfertod Christi erinnern: „Sühne“, „gruft“, „kreuzen“, „dorn“. Die religiöse Metaphorik konterkariert die in den drei Strophen zur Darstellung kommende heillose weltliche Immanenz. Zugleich bahnt sich jedoch eine zunehmende poetologische Konnotation den Weg: Das lyrische Ich, das sich bereits in den vorangegangenen Gedichten als dichterisches entpuppt hatte,3 erscheint hier, in der Mitte der Traurigen Tänze, mit seinem Attribut, der Harfe. Das possessive Adjektiv könnte darauf hinweisen, dass ‚ich‘ und ‚du‘ in diesem Gedicht die dichterische Selbstverdoppelung4 repräsentieren und der Dichter mit seiner ‚Sendung‘, wie entbehrungsreich sie auch sein mag, versöhnt ist. Die übrigen Attribute der Harfe illustrieren die Qualität der dichterischen Hervorbringungen. Die attri-

    1 Horst J. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. 2. Aufl. Tübingen u. Basel 1993, S. 219. Nach C. F. Meyer benutzten ihn die Expressionisten „insbesondere für bedrückende Bilder“. 2 Heidi E. Falettis Beobachtung bezüglich der Versöhnung von ‚Ich‘ und ‚Du‘ in Mir ist kein weg zu weit zu steil lässt sich auf die genannten metrisch gleich gestalteten Gedichte ausdehnen, vgl. HF 173. 3 Vgl. allein im ersten Teil der Traurigen Tänze die poetologischen Leitbegriffe „klage“ (SW IV, 87), „das spiel der musen“ (SW IV, 88), „ein lied […] / Im klaren tone deiner freudentage“ (SW IV, 90), „Das lied“ (SW IV, 91), „weisen“ (SW IV, 92) und die Verben, die auf dichterische Äußerungsformen Bezug nehmen. 4 Vgl. Jürgen Egyptien: Herbst der Liebe und Winter der Schrift. Über den Zyklus ‚Nach der Lese‘ in Stefan Georges ‚Das Jahr der Seele‘. In: GJb 1 (1996/1997), S. 23–43, hier S. 31.

    252 

     Franziska Merklin

    butive Bestimmung des elften und das Adjektiv des zwölften Verses deuten an, dass diese Dichtungen der Aussage von Wesentlichem („reich“), der klanglichen Harmonie („wol gestimmt“) und der Schönheit (die goldene Farbe der Harfe) verpflichtet sind.5 Ohne Angst bewegt sich das lyrische Ich inmitten der Gräber, die, wie Ernst Morwitz angibt, das notwendige Zurücklassen erworbenen Gutes versinnbildlichen (EM I, 148). Hervorgehoben durch die Großschreibung ist die einheitliche Inschrift der Gräber, die, selbst wie eine Stele aus dem Gedichttext hervorragend, die Bedeutung illustriert, die George der grafischen Gestaltung seiner Texte, dem Textbild, beimaß. Der Umstand, dass sich ein und dieselbe abstrakte Inschrift auf allen Gräbern findet, trägt zum anonymen Charakter der Landschaft bei und betont die Irrelevanz des individuellen Schicksals. Doch wie ist der Begriff der Sühne zu deuten? Das Wortfeld „Sühne“ – „sühnen“ findet sich nicht selten bei George und im mittleren und Spätwerk deutlich häufiger als im Jugendwerk. Bis einschließlich zum Jahr der Seele verzeichnet die Wort-Konkordanz zur Dichtung nur drei von insgesamt vierzehn Treffern (vgl. CVB 609). Deutet die „Sühne“ hier eine aus der Vergangenheit abgeleitete Verpflichtung an, die keine Konsequenz eigenen Tuns ist und als Chiffre für Georges Verhältnis zur literarischen Tradition zu lesen ist? Morwitz weist im Zusammenhang seiner Deutung des Gedichts auf Georges eigenes Traditionsverständnis hin: „Der Dichter sah seine eigne Kunst als Glied einer Kette an, die in Deutschland bis auf die Griechen, und zwar direkt, also nicht über die Römer zurückging, wie in Der Krieg und in Der Dichter in Zeiten der Wirren dargelegt wird.“ (EM I, 148) Morwitz’ Deutung entspricht, dass im Gedicht das Sinnen und Trachten des lyrischen Ich auf eine poetische Sukzession gerichtet ist. Denn der Soter, nach dem das lyrische Ich in der letzten Strophe unter Tränen Ausschau hält, repräsentiert nicht die apostolische, sondern die poetische Sukzession. Der Dichter sucht seinen Nachfolger, „gibt also seinen Anspruch auf das Harfespielen auf“ (HF 173). Nicht nur der Gebrauch der Personalpronomina, sondern auch die hier zum Ausdruck kommende dichterische Haltung hat Heidi Faletti in diesem Gedicht der Traurigen Tänze „entmenschlichte Momente der expressionistischen Selbstverfremdung und Daseinszersplitterung“6 eruieren lassen. Einerseits zeugt das Weiterreichen der Harfe „von der lyrischen Sterilität und Distanz [des Dichters] zu seiner Sendung, weist aber trotzdem auf den selbstlosen Wunsch nach Überleben des Liedhaften.“7 Der Schlüssel zum Verständnis dieser Ambiguität ist in der christologischen Metaphorik des Gedichts zu suchen: Durch die grafische Hervorhebung des pronominalisierten

    5 Diese Deutung wird durch einen Vers des folgenden Gedichts gestützt, welcher die „klage“ als störend abweist. 6 HF 173. Faletti führt die Diagnose der Selbstentfremdung weiter aus: „Die Gräber sind wie die kollektiven Wohnorte moderner toter Städte; sie reflektieren ein vielfältiges Ich homogener Eindrücke.“ 7 Ebd.

    

    Das Jahr der Seele · Traurige Tänze 

     253

    Dichter-Nachfolgers im zehnten Vers wird dieser mit der „Sühne“ des vierten Verses verbunden. Zwischen dem vierten und dem zehnten Vers spielt die dritte Strophe mit dem Verb ‚kreuzen‘, dem Hinweis auf die Dornen und der anaphorisch hervorgehobenen Freiheit von Reue und Zorn auf die Passionsgeschichte an, bevor das Standbild des Gekreuzigten im folgenden Gedicht, Die stürme stieben über brache flächen, metonymisch genannt wird.8 Wenn der Relativsatz, der im zehnten Vers das Enjambement einleitet, die Eignung des Nachfolgedichters an die Bedingung der richtigen Haltung („gern“) bindet, dann ergibt sich eine poetologische Lesart, nach der die Harfe des Dichter-Soters dem Kreuz Christi gleicht. Dieses Kreuz gern auf sich zu nehmen, würde bedeuten, sich des Opfers und der Auszeichnung gleichermaßen bewusst zu sein.

    8 Die beiden Gedichte sind darüber hinaus durch den Jahreszeitenbezug und lexikalisch-semantische Verweise („flur“ – „fluren“, „bergesschlunde“ – „kluft“, „gruft“ – „gräber“, „Mein feuchtes auge“ – „nie in leerem weinen“) miteinander verbunden.

    Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod. Mit einem Vorspiel

    Ludwig Lehnen

    Vorspiel

    Rezeption Das Vorspiel des im Winter 1899 erschienenen Gedichtbands Der Teppich des Lebens stellt den entscheidenden Dreh- und Angelpunkt im Werk des Dichters dar. Es trennt das Früh- vom Spätwerk, indem es einerseits die bis zum Jahr der Seele vorherrschende Suggestionspoetik zugunsten lehrhafter Elemente zu überwinden scheint, andererseits die poetologische Grundlage für den im Siebenten Ring aufgestellten Maximin-Mythos bildet.1 Diese „thetische Wende“2 und mythopoetische Setzung ist in der Kritik mit teils scharf entgegengesetzten Wertungen versehen worden. So loben die Exegeten aus dem George-Kreis, wie z.  B. Kurt Hildebrandt, den Schritt des Dichters auf die „mythische Ebene“ als Erlangung einer neuen geistig-dichterischen Dimension (KH I, 137), wohingegen die stark von den Orientierungen der Frankfurter Schule geprägte Germanistik der Bundesrepublik zumeist eine kritischere Haltung einnimmt und tendenziell, wie z.  B. Ralf Simon, geneigt ist, im Vorspiel „das hybride und frivole Spiel des Mythenstifters“ zu denunzieren.3 Bekanntermaßen führte Theodor W. Adorno seine hermeneutische Begrenzung auf den Horizont der ‚bestimmten Negation‘ zu einer Aufwertung der unter dem Zeichen des französischen Symbolismus und der ‚Artistik‘ stehenden Frühwerke und einer ideologiekritischen Abwertung der Spätwerke des Dichters. In der Figur des „unseligen Engel[s] aus dem Vorspiel“ erblickte der Soziologe dann auch konsequenterweise den ersten und verhängnisvollen Schritt Georges im „Verfall zur krampfhaften nationellen Positivität“ und den Ausdruck seiner „endogamischen“ Neigung.4 Neuere Arbeiten sehen aber gerade in der „mythopoetischen Setzung“ des Vorspiels nicht mehr, wie lobend Hildebrandt

    1 Zur Forschungslage siehe GHb I, 162–167. Allerdings ist die Gegenüberstellung von Hildebrandts Ausrufung des „Mythenkultes“ und Davids rein „diesseitigem“ Engel, zwischen „Mysterium“ und „Humanismus“ (ebd., S. 163), unhaltbar, da gerade Hildebrandt das Mythische über dessen Wirklichkeitsverankerung definiert und das „Mystische“ im eigentlichen Wortsinne nichts anderes als das nicht Sichtbare, Geistige, bezeichnet. 2 Ludwig Lehnen: Politik der Dichtung: George und Mallarmé. Vorschläge für eine Neubewertung ihres Verhältnisses. In: GJb 4 (2002/2003), S. 3–35, hier S. 29. 3 Ralf Simon: Das Wasser, das Wort. Lyrische Rede und deklamatorischer Anspruch beim späten ­George. In: WuW 48–68, hier 54. 4 Theodor W. Adorno: George. In: Noten zur Literatur. 4. Aufl. Frankfurt/M. 1989, S. 523–535, hier S. 531. Den Vorwurf des Solipsismus erheben ebenfalls, u.  a., Paul Gerhard Klussmann (Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und des Dichtens in der Moderne. Bonn 1961, S. 123: „einen der vermessensten Versuche des Menschen […], sein Ich zur Mitte der Welt zu machen“), Claude David (Stefan George. Son Œuvre poétique. Lyon 1952, S. 174) u. Nina Herres (GHb I, 170).

    258 

     Ludwig Lehnen

    und tadelnd Adorno, eine Abwendung vom Symbolismus, sondern eine spezifische Umsetzung der aus Frankreich und besonders im Mallarmé-Kreis erhaltenen ­Impulse.5

    Werk- und Lebenskontext Das erste Vorspiel-Gedicht ist bereits im ersten 1. Band der III. Folge der Blätter für die Kunst im Januar 1896 hinter den Traurigen Tänzen unter dem Titel Der Besuch erschienen. Ein Brief Georges an Hofmannsthal bestätigt, dass es „kein teil der sammlung [Das Jahr der Seele] sondern einer folgenden die sich aus der oft schmerzlichen beklemmung des seelenjahres bald erheben möge“ ist.6 Vier weitere Gedichte werden im November  1897 in der IV.  Folge der Blätter für die Kunst unter dem die Zäsur betonenden Titel Seit der Ankunft des Engels veröffentlicht. Mehrere Stellen im Vorspiel heben ihrerseits den Bruch und Neuanfang hervor. Es ist in der Kritik schon oft darauf hingewiesen worden, dass die Epiphanie des Engels, seine „Offenbarung“, sowohl durch den Trennungsstrich am Ende der ersten drei, die voraufgehende „kümmerniss“ des Dichters zusammenfassenden Verse veranschaulicht wird, als auch durch die beiden „Da“ zu Beginn der die Gesten des Engels beschreibenden Verse 4 und 15. Im Vergleich dieses ‚Weihe‘-Gedichts mit dem so betitelten Eingangsgedicht der Hymnen (und damit des Gesamtwerks, SW II, 10) könnte daher das größere Zurücktreten des Willens des Dichters vor dem Offenbarungsgeschehen auffallen. In Weihe scheint der traditionelle Musenkuss in der Tat dadurch fast gestört, dass der Dichter in seiner reflexiven (durch den „finger stützend deiner lippe nah“ ausgedrückten) Attitüde verharrt und der Weiheakt aus dem „reif“-Sein seiner eigenen inneren Haltung und Vision hervorzugehen scheint. Jedoch erlaubt die das Vorspiel beherrschende Spannung zwischen Gnade und willentlich-schöpferischer Selbstherrlichkeit, zwischen schöpferischer Demut und schöpferischem Titanismus auch eine andere Lektüre der Eingangsstrophe. Analog zum Geschehen in Weihe könnte die Offenbarung des Engels nicht nur als reiner Gegensatz zur Versenkung des Dichters in seine „strofen“ erscheinen, sondern gerade aus ihr hervorgehen, d.  h. aus einer Vertiefung des dichterischen Prinzips, ähnlich wie im Falle Mallarmés, der in der für seine Poetik grundlegenden religiös-schöpferischen Krise schrieb, dass er bei seiner ‚grabenden‘ Vertiefung in den Vers („en creusant le vers“7) zuerst das Nichts und dann die Schönheit gefunden habe. Allerdings führte diese Erfahrung bei George zur endgültigen Abkehr von der Poetik der Suggestion und den Strophen, in denen

    5 Ludwig Lehnen: Mallarmé et Stefan George. Politiques de la poésie à l’époque du symbolisme. Paris 2010. 6 G/H 124 (Brief vom 16. 7. 1897). 7 Stéphane Mallarmé: Brief an Henri Cazalis vom 28. 4. 1866. In: Ders.: Œuvres complètes. Édition de Bertrand Marchal. Bd 1. Paris 1998, S. 696.

    

    Der Teppich des Lebens · Vorspiel 

     259

    „dinge rollten dumpf und ungewiss“, während durch die Figur des Engels andere Grundsätze der symbolistischen Poetik expliziert werden. Biografisch steht hinter der „kümmerniss“ des Jahrs der Seele auch die unglückliche Liebe zu Ida Coblenz. Dieser Aspekt ist vielleicht wichtiger, als man zunächst glauben könnte, da schon das Jahr der Seele durch die Gegenüberstellung zweier Arten von Liebe bestimmt wird. Die Erfahrung der Frauenliebe erscheint dort als enttäuschend, da sich die Geliebte als unsensibel für die höchsten geistigen Gaben des Dichters zeigt (SW IV, 28); explizit wird dieser Gegensatz z.  B. schon in dem Gedicht Einladung aus den Hymnen (SW II, 12  f.) und dann in Ihr rufe junger jahre die befahlen aus dem Jahr der Seele: einer hiesigen „im flattern der Eroten“ (SW IV, 13) erscheinenden, „tiefer gefühle […] arm[en]“ Geliebten wird die „Einziger liebe lohe“ gegenübergestellt, eine „[e]ndliche rettung“, die nur „von oben“ erhofft wird (SW II, 12). Die weibliche Geliebte wird sich bald zu „raschem abschied“ bequemen müssen (SW IV, 32), da das Auge des Dichters „[n]ach diesem EINEN“ späht, „[d]er unsre goldne harfe“ übernähme (SW  IV,  102). Dieser Eine erscheint aber bezeichnenderweise am Ende des Bands schon unter den Zügen des Engels als „fahnenschwinger“ (SW V, 13): Ein „bruder / Winkt das frohe banner schwenkend“ (SW IV, 33) und hilft dem Dichter im Boot, „[w]eg den schritt vom brande“ zu lenken, ein Motiv, das mehrere Gedichte des ersten Teils des Vorspiels, mal aus der Perspektive des Dichters, mal aus der des rettenden Engels, wieder aufnehmen werden: so z.  B. in der Erinnerung an die „freudenlose[n] ufer“ in III oder an „der trocknen sommer wilde feuerbrunst“ in VI. Noch in X wird der „traurigsten bezirke“ gedacht und der Ruf des Engels zum „wirken“ mit der „lust“ zum „leib“ zugleich parallelisiert und, worüber die vorausgehenden Entgegensetzungen keinen Zweifel erlauben, von ihr unterschieden. Diese wiederholte Erinnerung an die Versuchungen durch die sinnliche Liebe beweisen also, dass der Dienst des Engels auf deren Überwindung und einem Opfer beruht. Dies vernachlässigen die in letzter Zeit sich häufenden, ‚homoerotischen‘ Motiven nachspürenden Lesarten des Werks. Die Gleichsetzung des Engels mit ‚Eros‘ erscheint in dieser Hinsicht ebenfalls als zu undifferenziert,8 zumal die Funktion des Engels, dem Dichter das ausgleichende Maß zu geben und „die rechte wage“ zu halten (SW V, 12), mit den Attributen des Eros, von dem im XX. Gedicht die Seele wie die „lichtversengte motte“ „gefährdet“ wird, unvereinbar ist (SW V, 29). Die übergeschlechtliche Liebe, auf die

    8 Vgl. Christian Oestersandfort: Platonisches im ‚Teppich des Lebens‘. In: GJb 7 (2008/2009), S. 100– 114. Der Autor schlägt außerdem eine geradezu ‚homosexualisierte‘ Deutung des Eingangsgedichts vor, in dem der Dichter von einem küssenden und umarmenden Engel eingeladen würde, seine „Jungfräulichkeit und Scheu“ (S. 103) fallen zu lassen, was der Dichter aber missverstehe. Vgl. für diese Ausrichtung: TK 268–270. Die Kunst Georges ist in Karlaufs biografistischer und psychologisierender Lesart nur noch ein Mittel, sich „von den Verstrickungen der [homosexuellen] Liebe zu befreien“ (S. 270) und George deute fälschlich im Vorspiel als Angst, „vom Weg der Kunst abzukommen“, was in Wirklichkeit eine „Angst vor der Hingabe“ sei (ebd.), denn die „verschlüsselten Botschaften“ für die „gleichgeschlechtliche Liebe“ (S. 269) seien im Vorspiel nicht zu übersehen.

    260 

     Ludwig Lehnen

    sich George beruft (SW XII, 5), ist mehr und anderes als sublimierte Homosexualität (die außerdem durch die Neigung zu Ida Coblenz in Frage gestellt wird). Dass George dieses Motiv wichtig genug war, beweist ebenfalls das zentrale Gedicht der Sektion Der Teppich, Der Jünger, in dem die „süsse“ der „hehren“ Liebe gegenübergestellt wird (SW V, 47). Darüber hinaus ist biografisch zusätzlich die Distanzierung vom „sinn­ lichen Wirbel Schwabings“ und der „chaotisch-revolutionären Gesinnung“ der Kosmiker in Rechnung zu stellen (KH I, 139).

    Struktur und Rollenspiel Der Teppich des Lebens gilt mit Recht als das Werk Georges, das die strengste Architektur aufweist. Das Vorspiel besteht wie die beiden folgenden Sektionen aus vierundzwanzig Gedichten, die gewöhnlich in vier Sechsergruppen unterteilt werden. Ernst Morwitz vergibt den vier Teilen folgende Titel:  1. Das Verhältnis des Dichters zum Engel, 2. Die Funktion des Engels, 3. Das Verhalten des Dichters zur Umwelt, 4. Bewegungen der Seele des Dichters (vgl. EM I, 158–176) und Friedrich Gundolf unterteilt die Sektionen in: 1. Ideale des Strebens, 2. Ideale des Schaffens, 3. Ideale des Wirkens und 4. Ideale des Leidens (vgl. FG3 172). Innerhalb dieser Gruppen lässt sich eine für die Deutung nicht zu unterschätzende, keineswegs von Anfang an feststehende paarweise Anordnung der Gedichte bemerken, und die Überlieferung der Handschriften bezeugt die Sorgfalt, die der Dichter auf diesen Aspekt verwendet hat.9 Unterstrichen wird durch diese Anordnung die Notwendigkeit, ein Gedicht im Gesamtzusammenhang des Zyklus zu interpretieren und nicht einzelne Verse, obwohl deren Gnomik oft dazu einlädt, lehrsatzmäßig zu isolieren. Seinen Freunden gegenüber verwahrte sich der Dichter gegen solche ‚dogmatischen‘ Auslegungsversuche. Die paarweise Anordnung lässt sich überblicksmäßig wie folgt zusammenfassen: Gedicht I und II stellen der Erfüllung, die das Erscheinen des Engels bedeutet, das Flehen des Dichters gegenüber, ähnlich kontrastiert in III und IV die Erlösung mit dem Joch des Dienstes. V und VI ziehen beide die Bilanz der Begegnung des Dichters mit dem Engel und reflektieren damit die neu erreichte Stufe; in V durch das nicht mehr konfliktgeladene, sondern sich gegenseitig bestätigende Zwiegespräch zwischen Engel und Dichter, in VI durch die Bestätigung der vorher von dem Dichter erinnerten Überwindungen jetzt durch den Engel.

    9 Vgl. Elisabeth Höpker-Herberg: Befunde der Handschrift. In: Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod. Mit einem Vorspiel. Stuttgart 2003; Ute Oelmann: Vom handgeschriebenen Buch: Stefan Georges ‚Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel‘. In: Edition und Interpretation moderner Lyrik seit Hölderlin. Hg. v. Dieter Burdorf. Berlin u.  a. 2010, S. 103–111.

    

    Der Teppich des Lebens · Vorspiel 

     261

    Die Gedichte VII und VIII des zweiten Teils sprechen analog eine Lehre aus, die sich durch das Pathos der Distanz kennzeichnet: So wie der Engel in VII zum Dichter spricht, spricht (zumindest als Möglichkeit) in VIII der Dichter zu seinen Schülern, womit die erste entscheidende Übertragung des Engel-Dichter-Verhältnisses auf das Dichter-Schüler-Verhältnis stattfindet. In den Gedichten IX und X wird dem heraklitischen Wechsel die Notwendigkeit der ‚Einen Form‘ gegenübergestellt, sowie in XI und XII das Motiv der Schöpfung durch Gnade und Transfiguration mit der Schöpfung durch vergängliche Selbstprojektionen kontrastiert wird. In diesen Gedichten zum Abschluss der zweiten Sektion und in der Mitte des Vorspiels gipfelt die eigentliche dichterische ‚Lehre‘. In der Folge wird die Treue zur ‚Einen Liebe‘ von Seiten der Schüler (XIII) wie des Dichters (XIV) dargestellt. XV und XVI behandeln beide komplementär das „anti-ästhetizistische“ Motiv der „vaterländischen Wendung“ (KH I, 142) hin zur Lebenswelt, wohingegen die Gedichte  XVII und XVIII eindrucksvoll die Tendenz zur Selbstvergottung durch den Ruhm des Dichters durch die darauf folgende Skepsis über sein Nachleben einschränken. Im letzten Teil haben die Zweiergruppen jeweils das gleiche Subjekt: „sie“ (die Seele) in XIX und XX, „ich“ (der Dichter) in XXI und XXII und „Wir“ in XXIII und XXIV. Durch die paarweise Anordnung entsteht also eine innere Dynamik und Dialektik, die durch Ergänzung, Einschränkung und Relativierung der ‚Aussagen‘ zur Komplexität des Geschehens beitragen und dessen Erlebnis-, d.  h. Situationscharakter vor dem dogmatischen zu betonen geeignet sind. Von entscheidender Bedeutung ist ebenfalls der Wechsel der Sprechperspektiven, ein Spiel der Rollen und Identifizierungen, das George im Maximin-Zyklus und vor allem im Stern des Bundes fortführen wird. Neben dem Berichten des Dichters über sein Erleben mit dem Engel (I, IV, XXI, XXIV) oder dessen Auswirkungen (XIV, XVI, XVII, XVIII) stehen Dialoge zwischen Engel und Dichter (II, V, XXII), meistens in Frage-und-Antwort-Form, wobei in II und XXII der Dichter eingangs die Frage stellt, in V antwortet der Dichter bestätigend auf eine Aussage des Engels. In V, VII und X spricht der Engel alleine zum Dichter. Im zweiten Teil fügen sich den dialogischen Gedichten zwischen Engel und Dichter Dialoge zwischen Dichter und Schülern hinzu, da sich das Verhältnis zwischen Dichter und Engel nach dessen Festigung in demjenigen zwischen dem Dichter und seinen Schülern fortsetzt. Wie der Engel auf die Fragen des Dichters, antwortet der Dichter auf die Fragen seiner Schüler und teilt ihnen die vom Engel erhaltene Lebenslehre mit (VIII, IX) oder spricht allein zu ihnen (IX, XI, XIII). Außerdem wird das Schülerverhältnis auch diskursiv reflektiert in XVII („In ihrem odem viel von seinem odem“) und XXIII, dessen ‚Wir‘ als das einer Schülergemeinschaft vorgestellt werden kann, oder noch durch den Engel in der Aussage: „Die jünger lieben doch sind schwach und feig“ (XXII). Wichtig dabei ist festzuhalten, dass in mehreren Gedichten die Sprecher nicht mit letzter Sicherheit zu identifizieren sind (IX, X, XI, XIV, XXIII). Die reale Austauschbarkeit belegt übrigens die Tatsache, dass das Gedicht Das Kloster ursprünglich das Abschlussgedicht der reinschrift war und bei seiner Versetzung in den zweiten Zyklus die im Singular stehende Aufforderung des Engels an den Dichter („Mit wenig brüdern

    262 

     Ludwig Lehnen

    flieh die lauten horden“) in den Plural als Ermahnung des Dichters an seine Schüler oder Leser gesetzt wurde.10 Bei solchen Unbestimmtheiten handelt es sich sicherlich um eine vom Dichter beabsichtigte Wirkung. Durch die häufige, wenn auch ungewisse Übertragbarkeit des Bewusstseinsprozesses des Dichters, wie ihn das Zwiegespräch mit seinem Engel ausdrückt, auf Dritte wird veranschaulicht, was die Blätter für die Kunst in einem Aphorismus über die Entstehung eines Neuen Bildungsgrades (Kultur) durch das Offenbaren des Lebensrhythmus eines oder mehrerer „urgeister“ und dessen Aufnahme zuerst durch eine kleinere Gruppe und dann eine größere Volksschicht lehren.11 Die Unbestimmtheit in der Identifizierung der Sprecher zeugt von den Erweiterungen und Gleichungen auf der paradigmatischen Achse. Es ist aber wahrscheinlich, dass der Engel als Personifizierung des höheren, „göttlichen“ Selbst des Dichters sich nur an diesen und also eine Einzahl wendet und die Gedichte, die sich an eine Mehrzahl wenden oder deren Sprecher eine Mehrzahl ist, sich meistens schon auf der Dichter-Schüler-Ebene bewegen. Die angestrebte Identität auf der paradigmatischen Achse und damit die Herausbildung eines „Einen“, das unter wechselnden Perspektiven „währet“, werden auch dadurch erzeugt, dass gleiche oder ähnliche Motive (wie das der Überwindung der Versuchung durch Eros, die Erinnerung an früheres Dunkel, zyklomythische Motive etc.) die verschiedenen Sprechkonstellationen durchlaufen und sich so als Konstanten bewähren, die zur Bestätigung der Lebenslehre und -hierarchie führen. Der dritte Teil zeichnet sich dadurch aus, dass, vom ersten Gedicht abgesehen, der Dichter nur zu oder über sich selbst spricht, sowohl in der zweiten (XIV, XV, XVI, XVIII) als auch in der dritten Person (XVII), wobei XVI auch als stellvertretende, vorbildhafte Handlungsanweisung für die Schüler gelesen werden kann und XVIII die Sprechvarianten durch Zitierung seiner imaginierten zukünftigen Kritiker bereichert. Auffällig ist also, dass, nachdem die Funktion des Engels im zweiten Teil vom Dichter seinen Schülern gegenüber übernommen wurde, der Engel im dritten Teil weder mehr zu Wort kommt noch erwähnt wird. Jedoch wird somit klar, dass alles, was nun auf dieser gereiften und gesicherten Stufe der Dichter zu sich selbst sagt, implizit identisch mit dem ist, was der Engel zum Dichter und der Dichter zu seinen Schülern sagen könnte. Aus Kampf, Konflikt, Rede und Gegenrede ist mehrdimensionale Einheit hervorgegangen. Der vierte Teil wechselt noch einmal zumindest semantisch das Personenregister, indem in XIX und XX „sie“ die Seele des Dichters bezeichnet. Dem gesellen sich in XIX der „getreue geist“, der die Seele schützt, und in XX der „glanzumflossne gott“, vor 10 Vgl. Elisabeth Höpker-Herberg: „Der Teppich des Lebens“. Die „erste reinschrift des Vorspiels“ und das „handgeschriebene buch“. Ein Bericht. In: GJb 4 (2002/2003), S. 195–215, hier S. 199 (Hervorhebung d.V.). 11 Neuer Bildungsgrad (Kultur). In: Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst. Hg. v. Georg Peter Landmann. Düsseldorf u. München 1964, S. 28 (BfdK V). Vgl. auch: Über das Feststehende und die Denkformen. Das Göttliche. In: Ebd., S. 53 (BfdK IX).

    

    Der Teppich des Lebens · Vorspiel 

     263

    dem die Seele geschützt werden muss, hinzu. In dieser erneuten Erweiterung scheint die Funktion des Engels in höheren, überindividuellen, kosmischen Zyklen aufzugehen, also relativiert und verallgemeinert zu werden. Wenn wieder der Wechsel der Gezeiten siegt und die Fahrt des Dichters erneut „schlimm“ wird und auch der Engel die Wunde nicht dauerhaft schließen kann (XXII), darf man sich fragen, was gegenüber dem Jahr der Seele an Einsicht gewonnen wurde, wenn nicht die höhere, fast paradoxe Bewusstseinsstufe, dass „Eins das von je war“ (SW  VI/VII,  33), trotz der periodischen Vernichtung seiner Verkörperungen, „währet“. Wie in allen Zyklen und dem Gesamtwerk Georges folgt auf die Affirmation die Bewegung einer Zurücknahme. Nach dem Triumph folgen wieder Gedichte in der Dämmer-Stimmung des Jahrs der Seele, wo inmitten der zurückgekehrten Schatten nur noch des Engels „wehen“ und „grosse liebe die noch wacht“ zu spüren ist (XXI). Dieses Strukturprinzip deutet schon voraus auf die Rücknahme der Gotteserscheinung in den zyklischen Kreislauf nach dem Maximin-Mythos im Siebenten Ring: „Verschollen des traumes / Des gottes herabkunft [….] // Und wach bleibest Du nur.“ (SW VI/VII, 162) Dies belegt die Richtigkeit der Aussage von Morwitz, dass „das Zentrum des Denkens und Dichtens für Stefan George vor und nach dem Maximin-Erlebnis unverändert das gleiche war“ (EM I, 171). Jenes Zentrum des Werkes, um das sich die einzelnen Gedichtbände wie „Ringe“ legen, kann im Vorspiel erblickt werden.12 Zusammenfassend lässt sich, vermittelt über das Rollenspiel, eine dreiteilige Bewegung unterscheiden: von der Entgegensetzung von Engel und Dichter über eine zunehmende Angleichung, die an die eingangs festgestellte Ähnlichkeit beider anknüpft und bis zur Übernahme der Rolle des Engels als Lebenslehrer reicht, bis zum neuerlichen Aufbrechen der Kluft, indem der Engel wie am Anfang auch am Ende mit der unstillbaren Not des vereinsamten Dichters konfrontiert ist.

    Bestimmungen des Engels Der Aufweis dieser strukturellen Elemente bildet die Grundlage zur Bestimmung des Engels. Aus ihnen wird deutlich, dass, obwohl die Figur des Engels aus dem Christentum stammt, sie bei George keine Züge der christlichen Transzendenzvorstellungen trägt. Wolfgang Frommel kommt in seiner Untersuchung der im Vorspiel besonders auffälligen biblischen, meist christologischen Elemente, die dort mit dem Auftreten und Wirken des Engels assoziiert werden,13 zu dem Schluss, dass der Teppich des

    12 Die enge Zusammengehörigkeit von Engel, Maximin und dem Herrn der Wende betont Eckhard Heftrich: Stefan George. Frankfurt/M. 1968, S. 85. 13 Zum Beispiel: Verkündigung (I), die Kanaanäerin, Jakobs Kampf mit dem Engel (II), Jesus gebietet dem Sturm (III), IV: „Simon liebst du mich?“ (IV), Wachen (des Engels), Verrat der Jünger (XXI, XXII, XXIV).

    264 

     Ludwig Lehnen

    Lebens die „deutlichste und bewusstseinsmäßigste Abkehr von christlichen Vorstellungen enthält.“14 Der im siebten Gedicht evozierte „bleich[e] mann auf weissem pferde“ (SW V, 16) sei nach Frommel möglicherweise nur „der Abgott der psalmodierenden Schwärmer, die nicht die verklärende Kraft seiner Liebe, sondern das Fluchholz, an das der furchtbarste Frevel den Menschensohn heftete, zum Sinnbild der Erde erhoben“15. Vor allem kündet das zweite Gedicht an Cyril Meir Scott in den Liedern von Traum und Tod ausdrücklich den „neuen Gott“ an, der viele Analogien mit dem alten, den er ersetzen soll, aufweist, dessen Dienst aber auch als „weniger verzichtend“ bezeichnet wird, obwohl auch hier die Sprecherperspektive (zuerst des fragenden Dichters, dann des antwortenden Scott) zu beachten ist (SW V, 64 f.). Für Frommel schreibt sich Georges Aufnahme der christlichen Symbolik also nicht in eine häretische Intention ein,16 sondern es handle sich um „Grundformen der Bildsprache“, die sich in allen großen Texten der Überlieferung wiederfinden ließen, um „archetypische Gemeinsamkeiten im inneren Erfahrungsbereich“ und eine „über alle raum- und zeitbedingten Unterschiede hinausreichende Einheit des Menschseins“17. Das Eingangsgedicht bestätigt, dass der Engel kein Bote einer absoluten Transzendenz wie im Christentum ist, das trotz der Inkarnationslehre auf ein streng jenseitiges Reich verweist, sondern derjenige des ‚Schönen‘, diesseitigen Lebens. Er trägt keine Krone, und die Fast-Identität zwischen seiner und des Dichters Stimme sowie die spiegelbildhafte Bewegung des gleichzeitigen Bückens berechtigen zur Deutung des Engels als Figur des ‚höheren Selbst‘ des Dichters, das dennoch durch die Aufrechterhaltung der Nicht-Identität die Figur einer inneren Transzendenz-Vermittlung in Georges Werk einführt. Auch der Engel ist nur Mittler eines Höheren, auch er „kniet“ vor dem „schöne[n] leben“, das durch die Blumen symbolisiert wird, deren Bringer er ist. Er wird also dem Ich des Dichters sowohl angeglichen als auch von ihm unterschieden und darüber hinaus in die Nähe der Seele in den Gedichten XIX und XX gebracht, die ihrerseits noch von dem „Getreue[n] geist“ (XIX), dem „glanzumflossnen gotte“ (XX) und dem „Ewige[n]“ (XI) differenziert und ihnen untergeordnet wird. Als „lauteres Selbst, das unbedingte DU des bedingten Ichs“, als „Geist des Lebens“ (FG3 157, 159 u. 161) oder Animus gegenüber Anima musste er auf Klages’ Ablehnung, der in ihm die Wiederkehr der vereinheitlichenden Zwangsherrschaft des Logos unter katholisch-gotischem Zeichen sah, stoßen.18 Wie schon in der Untersuchung des Aufbaus bemerkt, ist wichtiger als die nur sporadisch gewährte versöhnende Funktion des Engels, wie sie ein Jenseitsversprechen bringen würde, die Einführung der transzendenten Instanz, einer „innerwelt14 Wolfgang Frommel: Templer und Rosenkreuz. Ein Traktat zur Christologie Stefan Georges. Amsterdam 1991, S. 198  f. 15 Ebd., S. 193. 16 Vgl. dagegen EL 196: „Dass sein Werk die grösste Häresie der Geschichte sei.“ 17 Wolfgang Frommel: Templer (wie Anm. 14), S. 198  f. 18 Vgl. Ludwig Klages: Stefan George. Berlin 1902, S. 67–74.

    

    Der Teppich des Lebens · Vorspiel 

     265

    lichen Transzendenz“ als solche. Nicht dauernde Versöhnung, sondern Rettung der lebenswichtigen Polarität ist nach Friedrich Wolters Aufgabe des Engels (vgl. BG 200). Der in Georges Sinn von Gundolf und Wolters verwendete Begriff der „Zweieinigkeit“ des Göttlich-Menschlichen bedeutete also keine Gleichsetzung, sondern die Aufrechterhaltung der vitalen Spannung zwischen beiden Polen. Stellvertretend für die Komplexität dieser Figur sei Gundolfs zwischen den Polen schwankende Bestimmung der „mythischen Kraft“ als zugleich „götterschaffende und -empfangende“ erwähnt. So spricht er im Laufe seiner Ausführungen zuerst von Georges Warten auf eine „Offenbarung“ und eine erfüllende „Erscheinung“: „Jetzt erschien ihm der Geist des Lebens“. Wenige Seiten weiter heißt es aber, das Vorspiel sei „kein religiöses ‚Erlebnis‘, sondern die heutige Urform des kosmischen Wissens“. Und schließlich sei der Engel Verkörperung des „Gesetzes“ und im Zyklus gehe es darum, „dem Ich Gesetz und Heil des Lebens zu schaffen“, der Engel ist demnach weder Offenbarung noch Wissen, sondern „geschaffen“, dichterische Setzung. Diese Deutung wird gegen Ende noch verstärkt: Der heutige Mensch müsse „seinen Führer aus seinem eigenen Blute zeugen samt seinem Raum“. Diese Stelle zeigt auch, wie sehr George an Mallarmés Poetologie und damit an das neuzeitliche konstruktivistische Bewusstsein eher als an griechisch-platonische Ontologie anknüpft, wenn es heißt, Sinn und Wert des Lebens müssten wir „erst aus dem eigenen Herzen erschaffen und die Welt erst aufbauen und abbauen worin er sich verwirklicht. Kein Gott von außen, keine Welt ist uns fraglos gegeben.“19 Im Laufe seiner Ausführungen wurde der Engel als Geist (des Lebens), Gott, All, Gesetz, Selbst bestimmt und diese wurden dadurch mehr oder weniger in eins gesetzt. Wenn der Engel also letztlich das dichterische Symbol für die selbsterschaffenen Führer, Gott, Welt ist, dann werden Führer, Gott, Welt weniger ‚offenbart‘, als vielmehr das poietische Gesetz, das ihnen zugrunde liegt, womit George auf dem Boden des französischen Symbolismus verbleibt.

    Theorien des Selbst im französischen Symbolismus Kurt Hildebrandt weist zu Recht darauf hin, dass die Entstehung des Vorspiels von einer besonders großen Reflexionsanstrengung Georges begleitet wurde, wie die zeitgenössischen Merksprüche der Blätter für die Kunst belegen. Hildebrandts Deutung, dass George damit versuche, sich von dem Einfluss des französischen Symbolismus freizumachen (KH I, 137), beruht auf der ungenauen Gleichsetzung von Symbolismus und ‚Ästhetizismus‘. Auf letzteren Begriff lassen sich weder Mallarmés Lehre und noch weniger die Vulgata seiner Schüler bringen. Dass die Kunst über dem Leben zu stehen habe, nachdem sie das Leben durchdrungen habe, wie ein Merkspruch

    19 FG3 157, 159, 163 u. 173  f. (Hervorhebung d.V.).

    266 

     Ludwig Lehnen

    festhält,20 ist durchaus auch symbolistisches Credo, und auch Mallarmé kritisiert am Naturalismus nicht, dass er sich für die Wirklichkeit interessiere (darauf beruht gerade sein Lob des Impressionismus), sondern dass er einer falschen Wirklichkeitsauffassung, die auf der Beschränkung auf Materielles und der Ausschließung des Geistigen beruhe, huldige. Durch das geistige Element der Dichtung wird ja gerade die natürliche Wirklichkeit erst ‚authentifiziert‘. Übrigens findet sich der Ausdruck „la belle Vie“ gerade in einem Gedicht des Mallarmé-Schülers Francis Vielé-Griffin, das George in Adolphe Rettés Aufsatz über Vielé in La Plume mit großer Wahrscheinlichkeit hat lesen können, und das, wenn auch anders akzentuiert, die typisch symbolistische Polarität von Traum und Leben, die George ja ebenfalls in seinem Gedichtbandtitel vereint, behandelt.21 Es geht bei solchen Verweisen weniger darum, direkte ‚Einflüsse‘ von diesem auf jenen Autor, von diesem auf jenen Text nachzuweisen, was selten triftig ist, als darum, darin die Teilnahme am selben „semantischen Becken“22 (oder der ‚Episteme‘) des Symbolismus zu erkennen. Die Schlussformel Hildebrandts, „Kunst selbst ist das Schöne Leben wollen und wirken“, steht jedenfalls keineswegs im Gegensatz zur Lehre des französischen Symbolismus, und Hildebrandt konzediert zu Recht, dass George in der „Glut des Symbolismus […] eine Vorstufe zu seiner mythischen Kunst ahnen“ konnte (KH I, 146, 156). Das trifft erst recht zu, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die so prominente Darstellung des ‚Selbst‘ in der Form des Engels ebenfalls eine zentrale poetologischphilosophische Vorstellung des Symbolismus aufgreift. Bei Mallarmé steht in der Tat neben der vor allem bekannten Wort-Poetologie eine davon nicht zu trennende Poetologie des Selbst. Auch bei ihm erscheint das Selbst, übrigens in ähnlicher Zweideutigkeit, als Stelle der Vermittlung der immanenten Transzendenz und des Schaffensprozesses. Georges Schlüsselvers über den Gott, den „Neue mitte aus dem geist gebar“ (SW VIII, 16), lässt sich sowohl auf das Vorspiel, das die poetologische Grundlegung im Werk Georges für die spätere Gottgeburt bietet, als auch auf Impulse Mallarmés und seiner Schüler zurückführen. In der für die Herausbildung seiner Poetik grundlegenden Krise schrieb Mallarmé, „den Grundpfeiler oder das Zentrum [s]einer selbst gefunden zu haben“, das ihm die Freude gewähre, „die Ewigkeit, lebendig, in mir selbst, zu betrachten und zu genießen“23. In den späteren Texten trifft man dann auf die zum Teil änigmatischen Formulierungen wie: „majoration devant tous du spectacle de Soi“, „le Prodige de Soi ou la Fête“, „la divinité qui jamais n’est que Soi“, „la

    20 Vgl. Einleitungen und Merksprüche (wie Anm. 11), S. 13 (BfdK III, 1). 21 Vgl. Adolphe Retté: Francis Vielé-Griffin. In: La Plume Nr. 96, 15. 4. 1893. Bernhard Böschenstein hat auf Reminiszenzen Vielés bis in Georges Spätwerk hinein hingewiesen: Stefan George und Francis Vielé-Griffin. In: Ders.: Studien zur Dichtung des Absoluten. Wirkungen des französischen Symbolismus auf die deutsche Lyrik der Jahrhundertwende. Zürich u. Freiburg 1968, S. 127–139. 22 Vgl. Gilbert Durand: Introduction à la mythodologie. Mythes et sociétés. Paris 1996. 23 Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes. Bd. 1 (wie Anm. 7), S. 704  f. (Brief vom 28.  7. 1866 an ­Théodore Aubanel).

    

    Der Teppich des Lebens · Vorspiel 

     267

    divinité présente à l’esprit de l’homme,“ „faire à l’égal de soi-même, preuve que le spectacle répond à une imaginative compréhension […] dans l’espoir de s’y mirer“, „le dieu, l’homme  – ou Type,“ „[l’écrivain] ne sachant que soi“ oder die bezeichnende Übersetzung aus Cox/Müller (Les Dieux antiques) für „God“ durch „la divinité inscrite au fond de notre être“24. Dass diese Theorien des schöpferischen Selbst mit quasi-religiösen Dimensionen bei an Mallarmé anschließenden Autoren wie Edouard Dujardin, Teodor de Wyzéwa, Charles Morice und Camille Mauclair im Mittelpunkt stehen, sollte vollends dazu einladen, Georges mythopoetische Schöpfung in diesen Rahmen zu situieren. So spricht Charles Morice von dem „infranchissable cercle de l’anthropomorphisme“ und vom Typus als „la forme la plus haute que puisse revêtir à notre regard l’idée de Dieu“25 – und Camille Mauclair, den George persönlich kannte und schätzte, entwickelt das Bild des Narziss, hier weniger Symbol der „endogamischen“ Selbstverliebtheit als der anti-heraklitischen Bewusstwerdung des „Feststehenden“ im schöpferischen, die Phänomene vereinigenden Selbst, das sich über dem Fluss der Wellen spiegelt.26 In den Kontext einer solchen dichterischen Philosophie des zentrierenden schöpferischen Selbst gehören auch Verse wie: „Sind auch der dinge formen abertausend / Ist dir nur Eine – Meine – sie zu künden.“ (SW V, 19)

    Poetologische Gedichte Das der Narziss-Figur verwandte Spiegel-Motiv, das durch das gleichzeitige Bücken des Dichters und des Engels im ersten Gedicht entsteht, findet zahlreich Widerhall im Werk Georges und ist ebenfalls ein symbolistischer Topos.27 Diese gelungene „Beglückung“ „im bild“ („Wer adel hat erfüllt sich nur im bild“, SW VIII, 40) kontrastiert mit der Erfahrung der Nichtübereinstimmung in Der Spiegel im Siebenten Ring, in dem die „träume wünsche und gedanken“ sich nicht erkennen, deutet aber wiederum voraus auf den neuen Gott, „All meines traums begehr · / Der nächste meinem urbild · schön und hehr“ des Sterns des Bundes (SW VIII, 16). Diese neubelebende Übereinstimmung von Traum und Leben, Geist und Wirklichkeit wäre letztlich eine des richtigen, neuen

    24 Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes. Édition de Bertrand Marchal. Bd 2. Paris 2003, S. 215  f., 181, 238, 160, 68, 240, 24 u. 1476. 25 Charles Morice: Du sens religieux de la poésie. Sur le mot poésie. Le principe social de la beauté. Genève et Paris 1893, S. 10 u. 12. 26 Vgl. Camille Mauclair: Eleusis. Causeries sur la cité intérieure. Paris 1894, S. 14–33. Narziss ist ein Bruder Jesu, denn: „Jésus est donc l’artiste par excellence, puisque celui-ci veut être un maître, par une recréation, de tous les mirages de la substance. Ainsi, le Moi est dominé par le Soi, le Soi est Dieu, le Moi en est le symbole sur la terre.“ Ebd., S. 27. 27 Vgl. Werner Vordtriede: The Mirror as Symbol and Theme in the Works of Stéphane Mallarmé and Stefan George. In: Modern Language Forum 32 (1947), S. 13–24.

    268 

     Ludwig Lehnen

    „Wortes“, wie es das gleichnamige Gedicht aus dem Neuen Reich negativ thematisiert (SW IX, 107). In den folgenden poetologischen Gedichten wird, wie bereits angedeutet, die Spannung zwischen dem willentlichen, setzenden Charakter und der nicht zu erzwingenden Gnade behandelt. Die „ehrengift“ des Engels wird „nicht im zwang“ errungen, so wie die Lösung des Rätsels, das der Teppich birgt, nicht „nach willen“ ist (SW V, 36). Sie verlangt Entbehrungen (SW V, 13, 15), Besitz des Selbst und Überblick (SW V, 16), um die wahre Aufgabe von den „falschen fluten“ und „abgründen“ des Ästhetizismus zu unterscheiden. Die notwendige Vereinigung mit dem Engel als dem höheren Selbst und der einzigen, „einen“ Art des Kündens findet ihre radikale Zuspitzung im Vers „Alles seid ihr selbst und drinne“ in Hehre Harfe aus dem Siebenten Ring (SW VI/VII, 131). Die gnadenhafte Epiphanie des schöpferischen Wortes wird besonders in XI dargestellt: „ohne wunsch und zeichen“ „hebt sich leicht was eben dumpf und bleiern“ (SW V, 20). Ähnlich in XVI: „Da steigt das mächtige wort – ein grosses heil[.]“ (SW V, 25) Dieses Wort gebiert schon den „stern“ des Sterns des Bundes, der zwischenzeitlich „Maximin“ genannt wurde. Zu den Metaphern des Sich-Erhebens und Sich-Läuterns sowie den Lichtmetaphern finden sich systematische Parallelen in Mallarmés Werk. Außerdem greift der Kernsatz des wichtigsten poetologischen Textes der Blätter für die Kunst gerade dieses Bild des Sich-Erhebens wieder auf. Als Gemeinsamkeit zwischen George und dem Symbolismus wird dort das Verständnis für „das wesen der modernen dichtung“ betont, das darauf beruhe, „das wort aus seinem gemeinen alltäglichen kreis zu reissen und in eine leuchtende sfäre zu heben“, womit eine berühmte Passage aus Mallarmés Crise de vers paraphrasiert wird.28 Ebenfalls der Mallarmé’schen Theorie der ‚fiction‘ verwandt ist die abschließende Warnung des Engels, die Morwitz zu Recht als die eigentliche ‚Lehre‘ des Vorspiels bezeichnet: [>]Da jedes bild vor dem ihr fleht und fliehet Durch euch so gross ist und durch euch so gilt.. Beweinet nicht zu sehr was ihr ihm liehet< (SW V, 21)

    Der Bezug dieser im Stern des Bundes wiederholten Lehre („Dir kann nur helfen was du mitgeboren“, SW VIII, 22) auf die französische Erfahrung und Mallarmé wird selbst von Schülern wie Hildebrandt bestätigt (KH I, 156). Allerdings haben die Mallarmé-Schüler ebenfalls die Gefahr des Abrutschens in „endogamen“ Solipsismus illustriert, und auch Hildebrandt kann die innige Beziehung zum Ich-Idealismus (von dem George über den Umweg des französischen Symbolismus berührt wurde) nicht ganz aus dem Weg räumen und unterstreicht das

    28 Carl August Klein: Über Stefan George. Eine neue Kunst. In: BfdK I, 2, S. 45–50, hier S. 46. Vgl. Ludwig Lehnen: Politik der Dichtung (wie Anm. 2), S. 13–19.

    

    Der Teppich des Lebens · Vorspiel 

     269

    „Prometheisch[e] Glück“, das in dieser Lehre verborgen liege. Genau dieses aber ist es, was Mallarmés Schüler betont haben: dass der Dichter zum „Mitschöpfer der Welt berufen“ sei (KH I, 149). George wollte diese Lehre nicht „materialistisch, Feuerbachisch“ missverstanden wissen, sondern sah „die einzige Analogie“ mit der Antike (EL 103  f.). Dennoch scheint, wie wir schon bezüglich Gundolfs Ausführungen erwähnten, seine Poetik des Selbst den Prozess der Verinnerlichung seit Augustin und Descartes vorauszusetzen. Doch wird dieses Selbst, wie vielleicht noch am ehesten bei Augustin, zwischen dem Verlust der einheitlich anerkannten griechischen Ontologie und dem Descartes’schen „desengagierten“ und weltlosen Konstruktivismus weniger im Sinne romantischer Innerlichkeit als etwas bestimmt werden müssen, „was sich in unserem Inneren abspielt“, sondern als etwas, „wodurch wir in Verbindung treten zu der umfassenderen Ordnung, in der wir uns befinden“29. Dies begründet auch, dass „Erkenntnis des Selbst“ und „Liebe des Selbst“ miteinander einhergehen:30 Der Engel fragt bei George als göttliches Selbst das Ich: Liebst du mich? – Doch der Dichter ist der einzige Repräsentant dieser „umfassenderen Ordnung“ geworden. Die anti-titanischen Kontrastgedichte mit den Motiven der Gnade und Demut sowie das auf Vereinzelung und Einsamkeit des Dichters hinauslaufende Finale erlauben es vielleicht, wie im Falle Augustins, mit Charles Taylor festzuhalten, dass das „Böse“ sich einstellt, „wenn sich diese Reflexivität in sich selbst abschließt. Heilung tritt ein, wenn die Reflexivität aufgebrochen wird, nicht, um sie preiszugeben, sondern um ihre Abhängigkeit von Gott anzuerkennen“31. Vielleicht lässt sich nur in diesem Zusammenhang verstehen, warum der Engel im zweiten Gedicht das Flehen des Dichters: „Verschliess mich ganz in deinem heiligtume!“ als eine „eurer vielen kostbarkeiten“, die sich mit dem Wunsch nach dem „grossen feierlichen hauch“ „unentwirrbar streit[e]“, abweist. Eine solche „endogamische“ und „ästhetizistische“ Abschließung und Selbstgenügsamkeit, die in den folgenden Gedichten erst noch durch Opfer überwunden werden muss, bis der Dichter dem Engel wirklich „eigen bleib[t]“ (SW V, 15), widerspräche dessen Öffnen zur Welt und „ruf zum wirken“ (SW V, 19).32 Auch wird man bei Mallarmé als Leser Descartes’ eine Faszination für das eigentliche konstruktivistische, d.  h. poietische, Moment vermuten dürfen, ohne dass er deshalb jedoch des Philosophen radikalen Akosmismus teilte: Ein von der Kritik verkannter Schlüsselbegriff Mallarmés für das Mensch-Welt-Verhältnis ist

    29 Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt/M. 1996, S. 228. 30 Vgl. ebd. 31 Ebd., S. 256. 32 Morwitz versucht die Schwierigkeit auf wenig plausible Art dadurch zu lösen, dass er in dem Engel hier nicht die „Personifizierung der Seele des Dichters,“ sondern die „Personifizierung des Traum­ gefährten“ erblickt. Vgl. EM I, 160.

    270 

     Ludwig Lehnen

    „Reziprozität“33, und André Stanguennec bezeichnet zu Recht das anthropologische Ideal des französischen Dichters mit dem Begriff des „homme cosmomorphe“34. Die ähnlich motivierte, auf der Idee der Partizipation an einer Weltkraft beruhende „Kosmologie“ der Georgeaner, die jedoch auf sicherlich vergleichbare Weise neuzeitlichkonstruktivistische Aspekte integriert, prägt auch deren Bestimmung des Mythos, wie bei Hildebrandt beispielsweise, nicht als willkürliche Erfindungsgabe, sondern metaphysisch und ontologisch über seinen Wirklichkeitsgehalt.

    Ursprung der Herrschaftslehre Das Vorspiel ist auch zentral in dem Sinne, dass man in ihm, neben dem Umgang mit dem Dichter, den Keim für Wolters’ Herrschaftslehre zu suchen hat. Die Genese des Motivs des Gehorsams und der geistigen Botmäßigkeit gipfelt in XXIII. Dabei ist nicht eindeutig auszuschließen, dass das ‚Wir‘ dieses Gedichts weder die Schüler des Dichters noch eine Gruppe, an die sich der Engel wendete, bezeichnet, sondern vielmehr überhaupt keinen Plural bedeutet und auf den Dichter verweist, der über sein Verhältnis zum Engel spricht. Dafür spräche die Hypothese, dass George versucht, die Sprecher in diesem Zyklus zu variieren, um nicht zu oft Gedichte in der ersten Person zu schreiben, was seinem Anspruch auf überpersönliche Valenz entgegenstünde. So kann der Dichter anstelle des sogenannten lyrischen Ich, wie bereits gesehen, den Engel sprechen lassen, sich an ein ‚Du‘ oder ‚Ihr‘ wendend, mit dem er selbst immer mitgemeint ist (z.  B. X, XI), oder in der dritten Person (XVII: „Er darf nun reden wie herab vom äther“, SW V, 27), oder von ‚Ihr‘ als seiner Seele sprechen (XIX, XX). So könnte auch das ‚Wir‘ von XII gedeutet werden („Wir die als fürsten wählen“, SW V, 21): Nichts erlaubt, hier endgültig zu entscheiden, ob es sich um ein Gespräch zwischen Schülern und Dichter oder zwischen Dichter (der zur Vermeidung der IchForm den Plural verwendete) und Engel handelt. In diesem Sinne behauptet auch Morwitz, dass in XII der Dichter als erster und in XIII der Engel zum Dichter spricht, „obwohl die Worte ‚ihr meine mündel‘ in der Pluralform gebraucht sind“ (EM I, 168). Gerade in Bezug auf das in Frage stehende XXIII ist zu beachten, dass zwei Gedichte in der Ich-Form vorausgehen, die letzte, vierte Sektion aus drei Paaren mit jeweils anderem Subjekt besteht (sie, ich, wir), also auch das letzte (XXIV) in der Wir-Form steht, diese dort aber eindeutig auf den Dichter verweist. Der mehr grammatische als semantische Personenwechsel (neben den Motiven der Rücknahme) ist also auch ein Mittel, den Eindruck der subjektiven Überhebung zu vermeiden. Wenn in diesem Sinne einiges dafür spricht, dass auch XXIII letztlich nichts anderes illustriert als die

    33 Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes. Bd. 2 (wie Anm. 24), S. 158. 34 André Stanguennec: Mallarmé et l’éthique de la poésie. Paris 1992, S. 26.

    

    Der Teppich des Lebens · Vorspiel 

     271

    Aussage des vierten Verses des dritten Gedichts: „Nun tu ich alles was der Engel will“ (SW V, 12), ist dennoch hinsichtlich der im Spätwerk entwickelten Idee des Bundes diese Zweideutigkeit und Anschlussmöglichkeit ausschlaggebend. Vor allem in XVII wird diese Erweiterung des vom Engel geführten Dichters auf einen Bund, aus dem künftige „herrscher“ hervorgehen sollen, explizit: „In ihrem odem viel von seinem odem“ (SW V, 26). Insofern wäre XXIII eine Präfiguration sowohl von Der Eid im Siebenten Ring – wobei auch hier „hinstellendes“ Gestalten nicht mit Thesen und Parteinahmen gleichzusetzten ist – als auch des Sterns des Bundes. Nichts könnte besser veranschaulichen, dass der Gehorsam immer auf einem Gehorsam dem ‚höheren Selbst‘ gegenüber gründen muss; in der auf den Bund erweiterten Auslegung hieße das in der antiindividualistischen Philosophie des George-Kreises, dass ein Selbst aus Erkenntnis des „höheren Selbst“ eines anderen sich diesem in freiwilligem Gehorsam anschließt. Mehrere Gedichte betonen, wie wir gesehen haben, die Zwanglosigkeit in der Engel-Dichter-Beziehung: Des Engels Ehrengift wird nicht im Zwang errungen  (II) und der Engel erreicht den Gehorsam durch den Blick der Liebe (IV). Das Opfer wird im Gegenzug belohnt durch Gaben, die nur der Engel geben kann: den „grossen feierlichen hauch“ (SW V, 11) und die Rede „wie herab vom äther“ (SW V, 26), das Maß der „rechte[n] wage“ (SW V, III) sowie „der gluten kelch“ (SW V, 15) und die Wiederbelebung durch „das mächtige wort – ein grosses heil“ (SW V, 25). Es mag in diesem Kontext auf die wenig behandelte Tatsache verwiesen werden, dass Wolters’ Herrschaft und Dienst35 in der Herrschaftslehre Erich Voegelins eine überragende Stellung einnimmt.36 In der Beziehung des Dichters „als Herrscher[]“ zum Engel könnte veranschaulicht werden, dass auch der Herrscher „noch ein Dienender am Geist und somit Vorbild des Dienstes, den die andern ihm leisten“, ist.37 Das Auszeichnende des Herrschenden gegenüber dem Dienenden, paraphrasiert Voegelin zustimmend Wolters, sei „seine Unbekümmertheit um anderes Urteilen als das seines eigenen Selbst, dort wo es Gott ist“38. Die „ausgezeichnete Daseinsverfassung“ des Herrschenden beruhe, Voegelins an Augustin ausgerichteter Personenlehre gemäß, auf der „Offenheit der Existenz gegen die Gottheit“. Nicht als Zwang, sondern als „liebende Mitteilung und Umfassung“ sei die Beziehung zwischen Herrschendem und Dienenden aufzufassen.39 Herrschaft sei „ein Mitte-Sein für fremdes Dasein, Vermittlung von Geist an Leben, das zu schwach ist, ihn unmittelbar zu empfangen“40. Die an die George’sche Gottesauffassung oft gestellte Frage, wie man ‚Demut‘ einem selbst gesetzten Gott gegenüber empfinden könne, geht in Wirklichkeit schon

    35 Friedrich Wolters: Herrschaft und Dienst. Berlin 1909. 36 Vgl. William Petropulos: Stefan George und Eric Voegelin. München 2005 (Occasional Papers LI). 37 Erich Voegelin: „Grundlagen der Herrschaftslehre“. Ein Kapitel des „Systems der Staatslehre“. München 2009 (Occasional Papers LV), S. 65. 38 Ebd., S. 66. 39 Ebd., S. 70. 40 Ebd.

    272 

     Ludwig Lehnen

    einerseits von einem individualistischen und weltlosen Ich als Schöpfer und von traditionellen, d.  h. hypostasierten Gottesvorstellungen andererseits aus und wird damit den Besonderheiten des Schöpfungsprozesses, wie ihn George postulierte und gestaltete, nicht gerecht. In der Tat ist nach George’scher Auffassung schon vor und im Schöpfungs- (und ‚Setzungs-)prozess ein Anderes, Demutheischendes im Dichter am Werk. Das ens realissimum in der dichterischen Weltanschauung Georges, für wie unzeitgemäß und ‚unselig‘ man sie auch halte, ist das Schöpferische als solches, als im höheren Selbst des Dichters wirkende Weltkraft, die der Engel des Vorspiels symbolisiert.

    Interpretationen der Vorspiel-Gedichte XI (SW V, 20) und XII (SW V, 21) XI Ihr bangt der Obern pracht nie mehr zu nennen Wenn nicht auf schwerer stirn ihr blitz euch zückt Der sich nicht rufen lässt .. die kinder flennen Um selige stunde die so kurz nur schmückt. Dann fleckt auf jedem wort der menge stempel Der toren mund macht süsse laute schal Ihr klagt: du ton der donner ton der tempel Ergreifst du uns allmächtig noch einmal? Es sanken haupt und hand der müden werker Der stoff ward ungefüge spröd und kalt.. Da – ohne wunsch und zeichen – bricht im kerker Ein streif wie schieres silber durch den spalt. Es hebt sich leicht was eben dumpf und bleiern Es blinkt geläutert was dem staub gezollt.. Ein bräutliches beginnliches entschleiern.. Nun spricht der Ewige: ich will! ihr sollt! (SW V, 20) XII Wir die als fürsten wählen und verschmähn Und welten heben aus den alten angeln Wir sollen siech und todesmüde spähn Und denken dass des höchsten wir ermangeln –

    Der Teppich des Lebens · Vorspiel 

    

     273

    Dass wir der liebe treuste priester wol Sie suchen müssen in verhülltem jammern Die augen weit von wilden feuern hohl – Und wenn wir endlich unser gut umklammern Dass es gekrönt verehrt genossen kaum Den sinnen wieder flüchtet fahl und mürbe.. All unsre götter schatten nur und schaum! ›Ich weiss dass euer herz verblutend stürbe Wenn ich den spruch nicht kennte der es stillt: Da jedes bild vor dem ihr fleht und fliehet Durch euch so gross ist und durch euch so gilt.. Beweinet nicht zu sehr was ihr ihm liehet‹ (SW V, 21)

    Die schon im Überblickskommentar erwähnten, für die Poetologie des Vorspiels zentralen Gedichte XI und XII verdienen genauer betrachtet zu werden und erlauben es zugleich, die Kohärenz der paarweisen Anordnung zu veranschaulichen. Lehrhafte, diskursive und dramatische Elemente beherrschen den Stil dieser wie der übrigen Gedichte des Zyklus, die keine syntaktische und kaum semantische Dunkelheit aufweisen, von einer freien Füllung abgesehen in regelmäßigen fünfhebigen alternierenden Jamben verfasst und Beispiele für den neuen ‚sagenden‘ aber ‚tönenden‘ Stil Georges sind. Ob sie gesprochen sind „wie herab vom äther“ (SW V, 26) sei dahingestellt; das Vorspiel bezwingt auf jeden Fall weniger durch vereinzelt besonders prägnante Verse (SW V, 20, Verse eins und dreizehn ließen sich ob ihrer Alliterationen hervorheben) als durch die Einheitlichkeit des Tones. Friedrich Wolters charakterisiert das Vorspiel treffend als Gedichte, „fast schmucklos und nackt auf die strebende schönheit ihres baues beschränkt [, die] wie die pfeiler des domes aufspriessen.“1 Gerade diese Tendenz zum Hieratischen steht im Dienst der Botschaft von dem „Einen“ Steten und dem die Phänomene zur Einheit bündelnden Selbst. Wie Wolters sollte man trotz oder gerade wegen des explizit lehrhaften Charakters dieser Gedichte sich auch der Gefahr bewusst bleiben, „dass die begriffe nicht einmal erläutern noch erzählen können, was im dichterischen bild und klang und maass beschlossen nur dem ergriffenen erfühlbar wird“2. Das Geistige dieser Gedichte ist Friedrich Gundolf zufolge vom bloß Gedanklichen zu unterscheiden, da sie nicht „bloß Gedachtem“, sondern einem ursprünglichen geistigen Erleben entwüchsen, das sich genauso wenig wie Klang, Bild und Maß kommentierend vollständig objektivieren lässt. Doch sprechen die Gedichte nicht mehr aus dem Einzelerlebnis, sondern dem Gesetz dieses Ereignisses (FG3 169  f.).

    1 Friedrich Wolters: Herrschaft und Dienst. Zweite Ausgabe. Berlin 1920, S. 38. 2 Ebd.

    274 

     Ludwig Lehnen

    I Thema des elften Gedichts ist das dichterische Schaffen. Ein Sprecher wendet sich an ein ‚Ihr‘ und fasst deren Klage über die Schaffensnot zusammen, darauf folgt die Beschreibung eines unpersönlichen Prozesses („Es“) des wiederbelebten Schaffens, der von der Antwort des „Ewigen“ gekrönt wird. In Gedicht XII spricht ein ‚Wir‘ eine vergleichbare Klage aus, auf die ein ‚Ich‘ tröstend antwortet. Hier steht allerdings die Liebesthematik stärker im Vordergrund. Nach Meinung von Morwitz spricht in XI der Dichter zu sich selbst und anderen Dichtern und in XII zuerst der Dichter, auf den der Engel dann antwortet. Allerdings lässt sich durch die Plural-Pronomen (Ihr, Wir) in beiden Gedichten auch vorrangig an die Schüler des Dichters denken, zu denen der Dichter in XI spräche und auf die er in XII die Antwort gäbe. Gedicht XI entwirft den Raum eines zuerst verweigerten Transzendenz-Geschehens zwischen den Polen oben und unten. Auf die doppelte Abwärtsbewegung, die einerseits in der enttäuschten Hoffnung besteht, dass noch einmal von „oben“, aus dem Bereich der „Obern“, Blitz oder Donner herabkommen, und andererseits im aus dieser Enttäuschung hervorgehenden Sich-Senken der entmutigten „schweren“ Stirnen und von „haupt und hand der müden werker“, antwortet eine Erhebung in der letzten Strophe. Als Vermittlung beider Bewegungen erscheint der beide getrennten Räume durchbrechende „streif wie schieres silber“, der auf den „blitz“ antwortet, so wie die in der Eingangszeile formulierte Sehnsucht, „der Obern pracht“ noch einmal nennen zu können, in der Schlusszeile, in der der „Ewige“ spricht, durch diese Erfüllung sogar noch übertroffen zu werden scheint. Welche Gottesvorstellung hinter dem Begriff „der Ewige“ sich verbirgt, ist schwer zu sagen. Kurt Hildebrandt sieht in ihm den (wohl christlichen oder spätplatonischen) „Weltschöpfer“ (vgl. KH I, 148). Ob darunter aber mehr als der Glaube an eine ewige schöpferische Weltkraft zu verstehen sei, vor allem der Glaube an das christliche Dogma von der von Gott erschaffenen Welt, das George in einen weiteren Gegensatz zum griechischen Denken, das er für sich in Anspruch nimmt, bringen würde, muss offen bleiben. Der Ausdruck „[die] Obern“ ist sowohl durch seinen Plural als auch durch die Unbestimmtheit ob seiner Grenze zwischen Menschlichem und Göttlichem mehrdeutig (man denke auch an die Throne der „Heitren,  / Der Starken Leichten“ im Eingangsgedicht des Sterns des Bundes, das den Heroenkult einschließen kann, SW VIII, 8) und erinnert an die mehr hölderlinisch benannten „Himmlischen“ (neben den „Untern“) aus Geheimes Deutschland (SW IX, 46). Man kann sich fragen, ob das Ende des Gedichts einfach eine Erfüllung der in seinem Beginn geäußerten Sehnsucht und Hoffnung bedeutet, oder ob die erhaltene „Antwort“, obwohl sie durch den Imperativ nicht minder „allmächtig“ auftritt als der ersehnte „ton der donner“, eine Modifizierung, ja Korrektur jener bedeutet. Gewiss drückt die imperativische Formulierung des „Ewigen“ auf den ersten Blick ein äußerstes Transzendenzgeschehen aus; dennoch ist der Prozess, der in den Versen 10–13 beschrieben wird, dem gewaltsamen, an den alttestamentlichen zürnenden Gott oder

    Der Teppich des Lebens · Vorspiel 

    

     275

    den sich Semele offenbarenden Zeus erinnernden, transzendenten Offenbarungsgeschehen in „blitz“ und „donner“ entgegengesetzt, und der Schlussvers deutet daher eher auf den schöpferischen Zwang, unter dem der inspirierte Dichter steht. Die Bewegung von oben nach unten wird, ohne ihre vertikale Dimension einzubüßen, in eine von außen nach innen verschoben. Denn nicht ein alles zerschmetternder Blitz, sondern ein feiner Strahl dringt in einen Innenraum wie ein Zeichen oder ein ‚Wink‘, eine sachte Ankündigung eines Geschehens, das ebenfalls durch seine ‚Leichtigkeit‘ („es hebt sich leicht“), Sanftheit und Allmählichkeit („Ein bräutliches beginnliches entschleiern“) gekennzeichnet wird. Dieser Verinnerlichungs- und Transfigurationsprozess ist ein Wahrheitsgeschehen („entschleiern“: alethein im Sinne Heideggers) und erinnert stärker an pindarische Epiphanien des Göttlichen als an alttestamentliche („Aber wenn der Glanz, / Der gottgegebene, kommt, / Leuchtend Licht ist bei den Männern / Und liebliches Leben.“ 8. Pyth.).3 Es ist also, als kritisiere der Dichter die herkömmlichen Blitz- und Donner-Transzendenzvorstellungen als genauso „kindlich“ wie das „flennen“ über ihr Ausbleiben. Man wird diese Opposition wohl in den im zweiten Cyril-Gedicht (SW V, 65) thematisierten Gegensatz zwischen dem alten und dem neuen dichterischen Kult einschreiben dürfen (SW V, 65) – eine Opposition, die schon die Originalität von Mallarmés Gesamtwerk ausmachte.4 Gemeinsam ist der traditionellen wie der neuen Epiphanie des Göttlichen das Überwillentliche: So wie sich der Blitz „nicht rufen lässt“, bricht der Lichtstrahl „ohne wunsch und zeichen“ durch den Spalt. Das Motiv des Lichtstrahls im Kerker wird wiederum im ersten Cyril-Gedicht (SW V, 64) aufgegriffen, das das symbolistische Credo des schöpferischen Selbst in nuce enthält: „So helft euch aus der wahrheit – mitgefangene!“ Dieses aktive Sich-aus-der-(schlechten-)Wahrheit-Helfen kontrastiert allerdings mit der Betonung der Willenlosigkeit in XI. Letztere wird aber auch schon in XII relativiert durch die Lehre: Da jedes bild vor dem ihr fleht und fliehet Durch euch so gross ist und durch euch so gilt .. Beweinet nicht zu sehr was ihr ihm liehet

    – eine Lehre, die sich nicht nur auf Liebesverhältnisse, sondern auch, wozu der Kontext einlädt, auf das dichterische Schaffen beziehen lässt. Insofern konzentrieren XI und XII in sich die für Georges Poetologie überhaupt bestimmende Polarität. Polarität bedeutet aber nicht Widersprüchlichkeit, da das Motiv des Lichtstrahls in XI mithilfe des ersten Cyril-Gedichts (und anderer im Werk, wie Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg, SW IX, 31) als Symbol eines inneren Bewusstwerdungsprozesses (eben dem der notwendigen ‚Mitgeburt‘) gedeutet werden kann und als solches Gnade und Willen im Bewusstsein vereint.

    3 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Bd. 5. Übersetzungen. Stuttgart 1954, S. 111  f. 4 Vgl. Bertrand Marchal: La Religion de Mallarmé. Paris 1988.

    276 

     Ludwig Lehnen

    Der Engel, der hinter all diesem Geschehen steht, bringt keine neuen, dauerhaften Lösungen: Die letzten Fragen kann der neue Kult auch nicht besser als der alte beantworten. Die conditio humana, deren Tragik von George bejaht wird, vermag auch er nicht zu ändern. Die Menschen werden immer wie „kinder flennen“, denn schon zu Anfang wird vom Engel kein anderer Segen erfleht als der „der kindheit flügelschwünge“ (SW V, 11), deren „selige stunde“ aber die Kürze auszeichnet. Hier handelt es sich höchstens um eine Bewusstmachung dieser Tragik, aber auch des Teils von ‚Mitgeburt‘ (und Mitverantwortung) am göttlich-schöpferischen Geschehen. Auch der Engel kann die Wunde der Menschheit nicht „dauernd schlie[ßen]“ (SW V, 31). Auf das poetologische, schon bei Mallarmé zentrale und dort auch mit der Eucharistie-Gebärde verbundene Motiv der Erhebung (des Wortes) ins Licht, in eine „leuch­ tende sfäre“5, wurde bereits im Überblickskommentar hingewiesen. Dass es im symbolistischen Kontext unlösbar mit den Motiven der Isolation des Wortes und dem Stil der ‚harten Fügung‘ verbunden ist, haben wir an anderer Stelle dargelegt.6 Die Läuterung des Wortes und Neubelebung seines evokativen Potenzials geschieht durch dessen Isolierung aus dem instrumentellen Alltagsgebrauch. Darüber hinaus erinnern die Verse über die Wortproblematik: „Dann fleckt auf jedem wort der menge stempel / Der toren mund macht süsse laute schal“ ebenfalls stark an Mallarmé’sche Wendungen, wie z.  B. im Tombeau d’Edgar Poe. Dort wird nicht die Menge genannt, die das Wort befleckt (dieses Sakrileg wirft Mallarmé in anderen Texten dem Journalismus vor), sondern, vergleichbar, die Wut der Menge, die sich gegen denjenigen richtet, der die Worte von dieser Befleckung wieder reinigen will: „Eux, comme un vil sursaut d’hydre oyant jadis l’ange / Donner un sens plus pur aux mots de la tribu“, auch hier ein von einem kämpferischen, aber traditionelleren Engel geleitetes Unterfangen.7 Das ganze Werk Georges wird immer wieder diese Neubelebung durch das schöpferische Wort, das „Die welken erden [hebt] durch neue glänze“ (SW V, 26) gestalten, dies wird auch die Hauptfunktion des Maximin-Mythos sein, der sich dadurch erneut innig mit der im Vorspiel dargelegten Poetologie verknüpft. Auch dort dringt ein Lichtstrahl ins innere Dunkel und bewirkt die Wiederbelebung der ungefüge und spröd gewordenen Materie der Lebenswelt: Du an dem strahl mir kund Der durch mein dunkel floss · Am tritte der die saat Sogleich erblühen liess. (SW VI/VII, 90)

    5 Carl August Klein: Über Stefan George. Eine neue Kunst. In: BfdK I, 2, S. 45–50, hier S. 46. 6 Vgl. Ludwig Lehnen: Politik der Dichtung: George und Mallarmé. Vorschläge für eine Neubewertung ihres Verhältnisses. In: GJb 4 (2002/2003), S. 3–35, hier S. 13–19. 7 Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes. Bd. I. Paris 1998, S. 38.

    

    Der Teppich des Lebens · Vorspiel 

     277

    Und schließlich verweist das Motiv des ‚bräutlichen‘ Entschleierns auch auf den hieros gamos des Maximin-Mythos, wo ‚erotische‘ Motive und poetologische (wie in Mallarmés Hérodiade) ineinander fließen.

    II Diese „erotische Dimension“ wird in XII stärker in den Vordergrund gestellt. Das Gedicht scheint zuerst da einzusetzen, wo XI aufgehört hat, es sprechen die in XI Angesprochenen, nachdem ihnen die Gnade des Schöpferischen zuteil geworden ist, denn die „fürsten“, die „wählen und verschmähn / Und welten heben aus den alten angeln“, können nur den dichterischen Schaffensprozess, die Macht des Dichters in seinem Bereich (und über ihn hinaus), bezeichnen. Da dieses zumindest momentan erfüllt scheint, kann sich das „höchste“ nur auf die Erfüllung nicht nur im Medium der Dichtung, sondern in Liebe und Leben beziehen, was dann durch die Selbstbezeich­ nung „wir der liebe treuste priester“ bestätigt wird.8 Der Erfüllung im Bereich der Dichtung wird die Unerfülltheit im Bereich des Lebens gegenübergestellt und beider Verhältnis als paradoxes Missverhältnis verstanden. Die „götter“ in Vers 11 sind also zuerst die „Geliebten“. Dennoch wird in dem Trost, den der Engel (oder Dichter) ihnen spendet, eine weitere Dimension sichtbar. Er überträgt eine Lehre aus dem Bereich des Schaffens auf den des Lebens und Liebens, oder vielmehr erkennt in beiden die gleichen geistigen Gesetze am Werk. Hier wird nicht das Leben ‚ästhetisiert‘, wie es die ignorante Rede vom ‚Ästhetizismus‘ Georges will, sondern der in der Dichtung erfahrene geistige Prozess der inneren Bildwerdung als lebensleitend und -bestimmend erkannt. Der Vers des Sterns des Bundes „Wer adel hat erfüllt sich nur im bild“ (SW  VIII, 40) würde auf XII bezogen eine etwas zurechtweisendere Formulierung bieten. Der „spruch“ des Engels wirkt dann weniger als eine pessimistische Wirklichkeitsabwendung und ‚schwacher‘ Trost, sondern unterstreicht vielmehr die Bildhaftigkeit der kognitiven und emotiven Grundgeschehen. In solchen Erkenntnissen begründet sich im George-Kreis der oft missverstandene Anspruch der Dichtung auf ‚Führung‘. Die „götter“ aus XII bedeuten dann nicht mehr nur die Geliebten, sondern jede vitalem Drang entsprungene Repräsentation, auch religiöse, jedes „bild“ als ‚Mitgeburt‘. Die anscheinende Leichtigkeit, mit der auf dieser Grundlage die wohl irdische „liebe“ mit den „götter[n]“ gleichgesetzt wird, kehrt in Hehre Harfe wieder:

    8 Für Thomas Karlauf steht mit Vorspiel  XII an zentraler Stelle ein Gedicht zur Glorifizierung der Homosexualität, denn George greife hier „das um die Jahrhundertwende weit verbreitete Vorurteil auf, Homosexuelle sähen aufgrund ihrer angeblichen Ausschweifungen stets bleich und kränklich aus. George nutzt diese Stereotype rhetorisch geschickt zur Verherrlichung der eigenen Position“ (TK 269  f.). Natürlich müsste dann auch XI, wo in Vers 2 in der Handschrift „bleicher“ statt „schwerer stirn“ stand, umgedeutet werden!

    278 

     Ludwig Lehnen

    Alles seid ihr selbst und drinne: Des gebets entzückter laut Schmilzt in eins mit jeder minne · Nennt sie Gott und freund und braut! (SW VI/VII, 131)

    Nichtsdestotrotz wird man die Gefahr, dieses Gedicht im Sinne des ‚Ich-Idealismus‘, der solipsistischen Hybris, die wenig Raum lässt für den eigenständigen Wert des anderen, zu lesen, nicht ganz abweisen können (vgl. EL 55). Morwitz zitiert in diesem Zusammenhang zu Recht Goethes Ausführung in den Annalen über die Dichter, die die Welt antizipieren und denen daher die Wirklichkeit, die ihnen geben will, was sie schon haben, unbequem ist (EM I, 167  f.). Auch wird man die Liebesthematik und die Frage nach dem ontologischen Modus der Erfüllung in diesem Gedicht von dem in den ersten Gedichten dominanten Motiv der Überwindung des sinnlichen Eros nicht trennen dürfen. Das Zurückverweisen des kindlichen „flennen[s]“ über die Vergänglichkeit der Inspiration wie der irdischen Liebe auf den Reichtum des Selbst als Quelle beider läuft auch in Bezug auf die Liebesvorstellungen auf eine Entsinnlichung hinaus, sofern die geistige Dimension jedem Besitz-Verhältnis, das Sein dem Haben gegenüber, betont wird. So sind auch die Ausdrücke „wilden feuern“, „umklammern“ und „genossen“ sowie das auf Materiell-Dinghaftes Verweisende „fahl und mürbe“ Wiedergabe der Rede der Freunde (oder des Dichters), deren Sicht in der Antwort des Engels, der auf das Geistig-Bildhafte als ausschlaggebend verweist, vielleicht abermals etwas korrigiert wird. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass unmittelbar nach diesem Gedicht dieser auf „genießen“ ausgerichteten Liebe in XIII wieder die „Eine liebe“ als die wahre „höchste“ gegenübergestellt wird, eben nicht die zu den ephemeren Verkörperungen, sondern durchaus platonisch zum Schönen als solchem (die „frühe liebe […] zum licht“ und zur idealtypischen Landschaft), seiner Idee, die einzig währet und sich immer wieder neu verleiblichen muss und die eben auf das schöpferische Selbst als dessen Quelle verweist. Dieser Platonismus ist weniger der „sternenflüchtige“ (SW VIII, 11) Glaube an eine Hinterwelt der reinen Ideen, wie es eine dominante Tradition des Platonismus schematisch sieht, die die Georgeaner korrigieren wollten, als derjenige an die Permanenz des Schöpferischen in der Welt trotz der Intermittenz von dessen Verwirklichungen. Das im Selbst wirkende Schöpferische ist aber immer das über dem bloß Materiellen stehende Geistige, Traum, „Fiktion“-Poiesis, wie Mallarmé und, nach Ansicht der Georgeaner, ebenfalls Platon lehrten: So findet sich auch in XIII bedeutsamerweise zu Beginn der Verweis auf ein „märchen“: „Seit jenem märchen wo ihr meine mündel“. Nur durch dieses Geistig-Traumhafte erschließt sich das Wirkliche im „geflüster aus den gartendolden“. „All unsre götter schatten nur und schaum!“ bedeutet demnach aus der Sicht des Engels wie im Stern des Bundes: „Gott ist ein schemen wenn ihr selbst vermürbt!“ (SW VIII, 33) Die Lehre vom zyklischen Kreislauf, vom notwendigen Werden und Vergehen auch der Gottgestaltungen ist das Gesetz der Gezeiten von Ebbe und Flut, das

    

    Der Teppich des Lebens · Vorspiel 

     279

    schon das Jahr der Seele beherrschte und noch nach dem Siebenten Ring in der Gezeiten betitelten Sektion, also unmittelbar vor Maximin wiederkehrt und auch dessen Epiphanie mitreißt. Doch wird es „Seit der Ankunft des Engels“ auf sich genommen, der Schmerz wird gestillt (SW V, 21), da das Stete, das ihnen zugrunde und im Selbst verborgen liegt, erkannt worden ist: der „satz von ebb und flut“ bedrückt seitdem nicht mehr (SW VIII, 90). In der in den Sämtlichen Werken unter H 16 verzeichneten letzten überlieferten Handschrift hatte George XII noch XXII vorangestellt. Die definitive Anordnung kann sich durch die Verteilung der Gedichte nach Personalpronomen (Wir/Ich) erklären und auch durch die zu große thematische Nähe von XII und XXII. Auch in XXII wäre selbst die gewährte Erfüllung keine wahre Erfüllung („Auch wenn ich heut dir sagte komm und nimm!“), gibt es keine andere Erfüllung als momentan und „im bild“, d.  h. einzig im Verhältnis zum Engel, im Bewusstsein: „nur du und ich“ (XXII). Durch die Gegenüberstellung mit XI wird aber die dichterische Grundlage dieser Lehre erinnert, die durch diese Kontextualisierung an Tiefe gewinnt. Auch hier sei abschließend noch einmal mit Blick auf den Engel, Vorspiel XII und Maximin darauf hingewiesen, wie sehr George mit diesen Vorstellungen über Dichtung und Liebe sich in der Episteme des Mallarmé’schen Symbolismus bewegt. Freundschaft (die George von der Liebe nicht unterscheidet), schreibt Camille Mau­ clair in seiner Cité intérieure, ist la chose la plus essentiellement mystique, imprévisible et dominatrice dont j’aie conscience. […] Nous les [les amis] formons d’abord en notre esprit à l’image de ses frères intérieurs qui se lèvent de notre songe, beaux et revêtus de nos espoirs et de nos pressentiments: c’est bien longtemps après qu’ils adviennent, différents de nous et enfantés par nous, ces êtres au regard amical que nous pensions illusoires: mais ils marchent à côté de nous, moins comme des frères d’humanité que semblables à nos fantômes.9

    Es bedarf kaum der Erwähnung, dass die genauere Untersuchung dieser Motive alle Deutungen, die Georges mutmaßliche Homosexualität als das alles bestimmende Movens postulieren, nicht weniger ad absurdum führt als diejenigen, die, ohne diese werkimmanenten, poetologischen und geistesgeschichtlichen Verweise in Rechnung zu stellen, in Maximin nicht mehr als eine fragwürdige ‚Ersatzreligion‘ erblicken.

    9 Camille Mauclair: Eleusis. Causeries sur la cité intérieure. Paris 1894, S. 71  f.

    Jürgen Egyptien

    Der Teppich des Lebens Der mittlere Zyklus, der den Haupttitel des ganzen Bandes, Der Teppich des Lebens, führt, besteht wie die beiden anderen aus  24 Gedichten mit jeweils vier Strophen mit je vier Versen. Der metrischen Gestalt nach überwiegt der fünfhebige Jambus, in Gewitter treffen wir einen sechshebigen, in Die Fremde einen vierhebigen an. Ebenso weist Der Erkorene vierhebige Jamben auf, die sich die Verse mit Anapästen teilen. Einen vierhebigen Daktylus findet man in Schmerzbrüder vor, während sich Daktylen und Trochäen in den vier- bis sechshebigen Versen der Gedichte Die Verrufung, Der Täter und Standbilder · Das Sechste mischen. Die mit vier Versen pro Strophe mög­ lichen Reimformen (Kreuzreim, Paarreim, umarmender Reim) sind wie auch Reimlosigkeit alle vertreten, wobei Kreuzreim am häufigsten (11 Mal) vorliegt. Zumindest für die ersten acht Gedichte liefert die Reimbindung ein ergänzendes Kriterium, um sie in zwei Gruppen mit jeweils vier Gedichten (Kreuzreim–Paarreim–Kreuzreim–Paarreim bzw. umgekehrt) gliedern zu können. Die Gedichte aus diesem Zyklus sind wohl bis auf Gewitter alle erst ab Anfang  1898 entstanden. Dieses Gedicht findet sich auf einer Sammelhandschrift, die von Anfang 1893 stammt, unter dem Titel die braut der winde neben Texten aus dem Buch der Sagen und Sänge und dem Jahr der Seele. Für die Aufnahme in den Teppich des Lebens wurde es einer gründlichen Umgestaltung unterzogen. Die redaktionelle Arbeit an den Gedichten dauerte bis zur Drucklegung an. George hatte im Juni 1899 für Melchior Lechter ein ‚handgeschriebenes buch‘ zusammengestellt, das noch 64 Gedichte enthielt. Der fünfte Band der Gesamt-Ausgabe von 1932 zeigt auf den Seiten 102–110 aus diesem Manuskript Faksimiles von neun Gedichten aus dem Teppich des Lebens-Zyklus, die in vier Fällen noch späte Korrekturen dokumentieren. Dieses ‚handgeschriebene buch‘ tauchte erst im Jahr 1998 wieder auf und wurde 2003 in einer ausführlich kommentierten Faksimile-Ausgabe durch die Stefan George Stiftung zugänglich gemacht.1 Als George im September 1899 nach Berlin kam, um vor Ort im Zusammenwirken mit Melchior Lechter letzte Hand an die Gestaltung des Bands zu legen, hat er noch in dieser Phase Korrekturen vorgenommen und das Textcorpus um acht Gedichte erweitert, darunter aus dem mittleren Zyklus Jean Paul und drei der Standbilder (Die ersten Beiden, Das Fünfte, Das Sechste). In diesem Monat erschienen fünf Gedichte aus diesem Zyklus (Der Teppich, Der Freund der Fluren, Laemmer, Herzensdame und Die Maske) im dritten Band der IV. Folge der Blätter für die Kunst. Auch an ihnen wurden zum Teil noch Kleinigkeiten geändert.

    1 Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod. Mit einem Vorspiel. Befunde der Handschrift. Für die Stefan George Stiftung hg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Stuttgart 2003.

    

    Der Teppich des Lebens 

     281

    Definitiv blieb die Abfolge der ersten elf Gedichte des ‚handgeschriebenen buchs‘ bis einschließlich Schmerzbrüder. Erst im darauf folgenden Teil, der zunächst mit dem ursprünglich Tanz überschriebenen Gedicht Wahrzeichen begann, gab es diverse Umstellungen. Das Gedicht Der Teppich, das den Zyklus eröffnet, gehört zu den poetologischen Programmgedichten. Es ist dabei zu beachten, dass es nicht denselben Titel wie der ganze Zyklus trägt. Das Auftaktgedicht (SW V, 36) ist als dichtungstheoretisches Modell zu verstehen, das die Evokation des folgenden „Teppich[s] kultureller Kräfte“2 erläutert. Die Ausgangssituation bildet die Beschreibung eines Teppichs, in dessen ornamentalen Mustern Menschen, Tiere, Pflanzen und Gestirne wie in einem „erstarrten tanze“ fixiert sind. Das Gesamtbild macht einen chaotischen Eindruck und verbirgt „das rätsel der verstrickten“. Mit der Zeile: „Da eines abends wird das werk lebendig“ erfolgt die Wende. Die erstarrten Wesen regen sich und „treten klar vor die geknüpften quäste“. Die Verlebendigung ist also zum einen mit dem Übertritt aus der ornamentalen Zwei- in die plastische Dreidimensionalität, zum anderen mit dem Übergang vom Chaos in die Klarheit verbunden. Dieser qualitative Sprung bringt die Lösung des Rätsels mit sich. Allerdings bedarf sie der ästhetischen Formwerdung im ‚Gebilde‘. Das epiphane ‚Da‘ der Wendezeile macht deutlich, dass die Verlebendigung einem unverfügbaren kairos entspringt. Es ist bezeichnend, dass George dafür eine Abendstunde wählt. In ihr lösen sich die Verfestigungen und gewinnen die Dinge neues Ansehen und neue Transparenz. Das Gedicht Der Teppich korrespondiert unter diesem Aspekt mit dem visionären Charakter von Blaue Stunde, dem Eröffnungsgedicht des dritten Zyklus. Die letzte Strophe rückt die Unverfügbarkeit und Exklusivität der Lösung, deren Erkenntnis der kairos gewährt, in den Mittelpunkt. Sie ist aus dem Zeitkontinuum herausgesprengt, kein materieller Besitz, bleibt den meisten immer unzugänglich und entzieht sich einer diskursiven Vermittlung. Selbst den wenigen

    2 Gerhard Zierau: Zum Triumfe des großen Lebens … Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel. Eine Deutung. Diss. Leipzig 1939, S. 56. (Im Folgenden zitiert unter Angabe der Sigle GZ und Seitenzahl.) Diese bis heute umfangreichste Arbeit über Georges Teppich des Lebens wurde von Hermann August Korff betreut, der zuvor schon andere Dissertationen über George angeregt hatte. Der zweite Gutachter war der Sprachhistoriker Theodor Frings. Zieraus Arbeit ist natürlich nicht frei von zeittypischen Verzerrungen. So überbetont er Georges Hinwendung zum deutschen Volk und zur nordischen Vorstellungswelt. Die Charakterisierungen der drei Zyklen und die detaillierten Deutungen jedes einzelnen Gedichts halten sich jedoch weitgehend von ideologischen Überfrachtungen frei. Zwar wird einleitend den ‚artfremden‘ Kommentatoren aus dem GeorgeKreis der Vorwurf gemacht, ihren Meister zu sehr in die Perspektive eines dritten Humanismus zu rücken (also die Orientierung an der griechischen Antike zulasten von Georges ‚Deutschheit‘ herauszustellen), aber im Verlauf seiner Textkommentare nimmt Zierau mehrfach Bezug auf Gundolfs ‚unübertroffene‘ Deutungen. Das ist ein Jahr nach Hans Rößners Buch Georgekreis und Literaturwissenschaft (Frankfurt/M. 1938), das sich als Entlarvung der ‚verjudeten‘ Literaturwissenschaft im George-Kreis auf der Grundlage nationalsozialistischer Weltanschauung versteht, bemerkenswert.

    282 

     Jürgen Egyptien

    privilegierten Künstlern gelingt es nur selten, ihrer kairos-Erfahrung im ästhetischen Gebilde dauerhaft Gestalt zu verleihen. Es ist evident, dass Georges Gedicht Der Teppich implizit den Anspruch erhebt, ein solches Gebilde zu sein. Lothar Pikulik ist prinzipiell zuzustimmen, wenn er schreibt: „Lebendig wird nicht nur der Teppich, sondern auch das Teppich-Gedicht, denn gebilde […] meint […] das vorliegende Wortkunstwerk.“3Allerdings ebnet Pikulik eine poetologische Aporie ein, die mir für George signifikant zu sein scheint. Allgemein gesagt führt das Gedicht Der Teppich die Transformation des Lebendigen aus einer Stufe der Mortifikation in eine andere vor. Freilich repräsentiert die zwei­dimensionalornamentale Erstarrung in einem quasi kunstgewerblichen Medium die niedrigere Stufe, die von Chaos gekennzeichnet ist. In ihr ist das Rätsel des Lebens unlösbar. Seine Lösung macht das Gebilde zugänglich, aber um den Preis einer neuerlichen Mortifikation. Die Schlusszeile des Gedichts bot George Melchior Lechter in der Form „(Sie wird) Den seltnen selten im gebilde“ als Inschrift für eine symbolische Darstellung der Bildhauerei an.4 Diese empfohlene Verwendung unterstreicht Georges Ideal einer plastischen Ästhetik. Das im Moment des kairos lebendig gewordene erstarrte Leben wird also sogleich in einer bildsäulenhaften Textarchitektonik aufs Neue mortifiziert. Wir werden einer vergleichbaren poetologischen Aporie noch einmal im Schlussgedicht des Zyklus, Der Schleier, begegnen. Dem ersten Vers des Teppichs entsprechend wendet sich das nächste Gedicht mit dem Titel Urlandschaft (SW  V,  37) der gemeinsamen Sphäre von Tieren, Pflanzen und Menschen zu. Die ersten zwei Strophen gelten ausschließlich den wilden Tieren und ihrem vom Menschen unabhängigen Verhalten. Zierau entnimmt dem Gedicht zu Recht die Ansicht, dass die Welt der Tiere dem Menschen „grundsätzlich fremd bleibt“ (GZ 112), weil sich ihr Leben „in einer dem Menschen unfassbaren und geradezu unheimlichen Unpersönlichkeit“ vollzieht. In der dritten und vierten Strophe kommen zuerst die Spuren menschlichen Wirkens in den Blick, bevor mit den Schlussversen: „Erzvater grub erzmutter molk / Das schicksal nährend für ein ganzes volk“ deren Urheber genannt werden.5 George entwirft hier quasi eine Urszene der Kulturierung. Er greift für das Entrollen seines ‚Teppichs kultureller Kräfte‘ auf den Beginn der menschlichen Geschichte katexochen zurück. Ackerbau und Viehzucht werden hier durch die Vorsilbe ‚Erz-‘ (statt ‚Ur-‘) in ein patriarchalisches Tun verwan-

    3 Lothar Pikulik: Stefan Georges Gedicht ‚Der Teppich‘. Romantisch-Unromantisches einer wählerischen Kunstmetaphysik. In: Euphorion 80 (1986), S. 390–402, hier S. 399. 4 Vgl. L/G 77. Es ist dabei interessant, dass Georges früheste ästhetiktheoretische Verwendung des Begriffs ‚Gebilde‘ im November 1897 noch eher einen Zusammenhang zwischen Sprach- und Tonkunst nahelegt. In den BfdK IV, 1/2 heißt es: „kunstverständnis ist nur da zu finden wo ein kunstwerk als gebilde (rytmisch) ergreift und ergriffen wird“ (S. 3). 5 Der Terminus ‚erzmutter‘ ist vor George nur bei Luther belegt, wie dem Grimm’schen Deutschen Wörterbuch zu entnehmen ist: Jacob Grimm und Wilhem Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 3, 1862, Sp. 1097–1098.

    

    Der Teppich des Lebens 

     283

    delt, gleichsam ein Parallelgeschehen zur biblischen Genesis. In der Opposition von Waldnacht und Tränke, die der animalischen Sphäre zugeordnet sind, einerseits und Rodungsfläche und Sonne, die den Erzeltern zugeordnet sind, andererseits, lässt sich eine Geistorientierung erkennen, die das Gedicht in den Kontext von Georges dichterischer Auseinandersetzung mit den Kosmikern rückt.6 Das folgende Gedicht Der Freund der Fluren (SW V, 38) konzentriert sich auf die im ersten Vers des Zyklus genannten ‚Gewächse‘. Es schildert das wohltätige und hegende Wirken einer Flurgottheit, die die kulturierende Tätigkeit des Menschen unterstützt. Man könnte in ihr eines jener Wesen sehen, von denen der Drud im Neuen Reich spricht (SW IX, 55  f.). Der um Getreide, Wein und Obst fürsorglich bemühten Naturkraft tritt im Gedicht Gewitter eine zerstörerische gegenüber, die im Bilde einer ungezügelten Windsbraut über Saat und Forst herfällt. Der losbrechende „sturm der nacht“ (SW V, 39) wirkt als machtvolle Fortsetzung von „der wolken schieben“ (SW V, 38), das der Flurgott im Gedicht davor kritisch gemustert hatte. Erst nach heftigem Widerstand ergibt sich die Windsbraut dem strengen König und Gatten, der ihr „auf goldgeschirrtem pferd mit grossem trosse“ nachgejagt ist und sie schließlich quer über den Hals seines Pferdes gelegt fixiert. Das Gedicht trägt auch nach seiner Umarbeitung7 deutlich die Züge nordischer Mythologie. Es ist das einzige des ganzen Zyklus, das im sechshebigen Jambus (wenn auch nicht in Alexandrinern) geschrieben ist, was seinen narrativ-balladenhaften Charakter unterstützt. Die Überwältigung einer ungebärdigen weiblichen Naturgottheit steht auch am Ende des Templer-Gedichts im Siebenten Ring, dort allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Als Übergang von den elementaren Naturkräften in die menschliche Sphäre kann das Gedicht Die Fremde (SW V, 40) gelten, das das plötzliche Auftauchen und ebenso plötzliche Verschwinden einer dämonischen Frauengestalt schildert. Die Fremde bricht aus einer sagenhaften Ferne in das wohl mittelalterliche Dorf ein und erweckt Grauen. Ihre Tätigkeiten („Sie sott und buk und sagte wahr“) und ihr unkonventionelles, an Kirchtagen provokant verführerisches Aussehen typisieren sie als klassische Hexe. Mit dem Ansingen des Mondes und der Entfesselung der Triebe repräsentiert sie die Sphäre des Animalischen und Archaischen. Zu ihrem hexenhaften Wesen passt auch ihr mysteriöses Verschwinden in der Morgen- oder Abenddämmerung beim Sammeln von Heil- und Giftpflanzen. Ihre Hinterlassenschaft besteht in einem nachtschwarzen und leinbleichen Knäblein, das offenbar einer heimlichen Verbindung mit einem der Dorfbewohner entsprungen ist. Seine Geburt erfolgt „im hornungschein“. Die Verwendung des im Alt- und Mittelhochdeutschen gebräuchlichen Monatsnamens (für Februar) dient hier nicht allein dem kulturhistorischen Kolorit. Im Zusam-

    6 Vgl. dazu Jürgen Egyptien: ‚Kosmische Elemente‘ in der Dichtung Stefan Georges. In: Hestia  19 (1998/1999), S. 11–27, bes. S. 21  f. 7 Vgl. die Wiedergabe der ursprünglichen Fassung in: Stefan George: Sagen und Sänge. Faksimile der Handschrift. Hg. v. Hubert Arbogast u. Ute Oelmann. Stuttgart 1996, S. 8.

    284 

     Jürgen Egyptien

    menhang des Gedichts ist von besonderem Interesse, dass ‚Hornung‘, ursprünglich im Altnordischen, auch den ‚im verborgenen Winkel gezeugten Bastard‘ bezeichnen kann. Im Gedicht Die Fremde ist das Versmaß auf den vierhebigen Jambus verkürzt, womit der Eindruck eines schlichten Volkslieds verstärkt wird. Die raffinierte Simplizität des Textes tritt im überwiegenden Gebrauch einsilbiger Worte hervor. Teils werden ganze Zeilen, wie jeweils die dritte in der dritten („Da sah man wie sie sank im torf –“) und vierten Strophe („So schwarz wie nacht so bleich wie lein“), ausschließlich von einsilbigen Worten gebildet. Die zuletzt zitierte kombiniert mit ihrem syntaktischen Parallelismus die korrespondierenden Vokalwiederholungen a-a und ei-ei. Motivisch ist das Gedicht mit dem ebenfalls im vierhebigen Jambus verfassten Seelied aus dem Neuen Reich verwandt, wo die Konstellation zwischen dem randständigen „fremden weib“ (SW IX, 104) und dem ausbleibenden ‚blonden Kind‘ herumgedreht wird. Der elementaren Gewalt einer dämonischen Einzelperson stellt das Gedicht Lämmer (SW V, 41) eine kulturell verflachte und eher schlappe Gruppe gegenüber. Wer damit gemeint ist, stellte unlängst Gunilla Eschenbach klar: „George kritisiert in Lämmer die epigonale Lyrik in der Goethe-Nachfolge des 19. Jahrhunderts.“8 Er tut dies in einem ironischen Ton, den man selten bei ihm antrifft. Vielleicht rührt die eher sanfte Ironie auch daher, dass seinem eigenen voraufgegangenen Werk, wie Uwe Kolbe jüngst süffisant bemerkte,9 die „sonnenlust und mondesschmerzen“ der Epigonen nicht ganz fremd sind. Von der Sprechhaltung her bringt das Gedicht durch die Entgegensetzung zwischen den Lämmern und dem kollektiven ‚Wir‘ einen neuen Aspekt in den Zyklus ein. Der Unterschied manifestiert sich darin, dass das ‚Wir‘ die Freuden der Lämmer nicht (mehr) nachvollziehen kann, dass es von künftigen Schätzen weiß, von denen die Lämmer keine Ahnung haben und dass ihm die Führer der Lämmer als veraltet erscheinen, während diese selbst sie immer noch für aktuell halten. Auch diese spöttische Verwendung des Begriffs ‚Führer‘ ist ungewöhnlich, wie das ganze Gedicht eher untypisch ist. Kolbe spricht mit Blick auf die sprach­liche Gestaltung treffend von „entspannter Artistik, die auch losgelassene Spielfreude ist“10. Das Klangbild des Gedichts wird deutlich von den titelgebenden Lämmern dominiert, die insgesamt achtmal in zunehmender Dosierung (1–2–2–3 je Strophe) im Text genannt werden und dabei siebenmal am Versanfang stehen. Kolbe bemerkt zu Recht, dass die schwebende Betonung, die die erste Silbe von ‚Lämmer‘ verlangt, damit das jambische Metrum aushebelt, dem die Verse in ihrem weiteren Verlauf gehorchen. Die expositorische Stellung der Lämmer hat zudem einen gleichsam onomatopoetischen

    8 Gunilla Eschenbach: Imitatio im George-Kreis. Berlin u. New York 2011 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 69), S. 79. 9 Vgl. Uwe Kolbe: Drei Thesen zu dem Gedicht ‚Lämmer‘ von Stefan George. In: GJb 10 (2014/2015), S. 67–72, hier S. 70. 10 Ebd.

    

    Der Teppich des Lebens 

     285

    Effekt. „Das ‚e‘, gewöhnlich fast stumm, wird durch die schwebende Betonung leicht zu einem zweiten ‚ä‘. Da hören wir sie, Lämmer auf der Weide.“11 George operiert auch mit einer Reihe von Alliterationen, unter denen die Fügung, dass „durch die wiesen wellen weisser lämmer“ ziehen, besonders hervorsticht. Sie vermittelt rein klanglich eine unmittelbare Anschauung einer Lämmerherde. Außerdem fällt der achtmalige Gebrauch des Ausrufezeichens auf. Sie werden wie Warnschilder hinter dem Fehlverhalten der Lämmer aufgestellt. Dass mit den Lämmern nicht allein Vertreter einer epigonalen Lyrik gemeint sind, sondern allgemein Repräsentanten einer aus Georges Sicht historisch überholten geistigen Entwicklungsstufe, wird an der Art und Weise deutlich, wie er noch fast zwei Jahrzehnte später auf das Bild der ‚Lämmer‘ in einem Brief an Friedrich Gundolf vom 31. Oktober 1916 zurückgreift. Dies geschieht in Bezug auf das Manuskript von Ernst Robert Curtius über Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich. Curtius hatte seit Februar 1916 mit Gundolf über sein Buchprojekt korrespondiert und ihm mehrfach Kapitel daraus zugesandt. Parallel handelte ihre Korrespondenz von Gundolfs Monografie über Goethe, die Anfang September 1916 bei Bondi erschien. Ende dieses Monats trafen sich Curtius und Gundolf in Heidelberg, und kurz danach erklärte sich George trotz prinzipieller Bedenken auf Gundolfs Anfrage hin bereit, Georg Bondi von Curtius’ Werk zu berichten (vgl. G/G 284  f.). Als Curtius das Manuskript daraufhin einreichte, las George es und unterzog es in einem Brief an Gundolf vom 26. Oktober einer ausführlichen und vernichtenden Kritik, die zu dem Ergebnis kommt, dass „des C … geist […] UNSREM so entgegen wie nur möglich“ sei (G/G 286). Fünf Tage später ergänzt George sein Urteil mit folgender Nachbemerkung: „Nochmals Curtius Seele zum NIVEAU gehört nicht nur DAS STYLISTISCHE sagens-art u. s. w. .. sondern auch das wissen der geistige hochstand – der ist NICHT darin Carriere Eucken Lämmer + Damen-stufe!!“ (G/G 289) Die von George hier herangezogene ‚Lämmer‘-Stufe bezeichnet also ein Defizit des geistigen Niveaus, das Curtius ebenso weit vom George-Kreis entfernt sein lässt wie Rudolf Eucken oder Moriz Carrière. Bei Carrière hatte George zu Beginn seines Studiums im Oktober 1893 noch Vorlesungen zur Ästhetik gehört.12 Bei Eucken hatte er im Dezember 1905 in privatem Rahmen eine Lesung für die Literarische Gesellschaft Jena und Weimar gehalten. In Curtius erblickte George offenbar wie zuvor in Eucken und Carrière Repräsentanten einer bürgerlichen Kultur, die sich zwar vom wilhelminischen Akademismus unterschieden und – wie die beiden Erstgenannten – der von ihm vertretenen neuen Dichtung öffneten, deren spezifische geistige Orientierung aber nicht wirklich erfassten.13 11 Ebd. 12 Wegen dieses biografischen Zusammenhangs und wegen des hier skizzierten Kontextes scheint mir der Hinweis der Herausgeber auf den gleichnamigen Neffen von Ludwig von Hofmann im GeorgeGundolf-Briefwechsel abwegig. 13 Georges Urteil steht dabei im Falle von Curtius dessen zahlreichen Selbstbekenntnissen im Briefwechsel mit Friedrich Gundolf diametral gegenüber, wo er immer wieder seine große Nähe und seinen

    286 

     Jürgen Egyptien

    Wie Die Fremde führt das Gedicht Herzensdame (SW V, 42) ins Mittelalter zurück und porträtiert erneut eine außergewöhnliche Erscheinung. Hier ist der Ort des Geschehens jedoch eine verwinkelte Stadt, in deren Kirche sich an einem Gnadenbild ein Wunder vollzogen hat. Sünder und Gerechte strömen gleichermaßen herzu und werfen sich in dem gotischen Gotteshaus zitternd zu Boden.14 Aus der Menge der Ergriffenen heben die letzten beiden Strophen die „schöne herzensdame“ hervor, die als einzige „das zeichen wahr gesehen“ hat. Ihre „Gottesbrautschaft“ (GZ  125) macht sie zu einer Erkorenen. Das Gedicht unterstreicht durch die dreimalige Verwendung des ‚nur‘ ihre exzeptionelle Stellung. Es endet mit den Zeilen: „Sie schritt mit leicht geneigtem haupt in blauer / Verzückung und in wunderbarer trauer.“ Mit diesem Schlussbild erweist sich Herzensdame als ein geradezu klassisches symbolistisches Gedicht. Es behandelt seine spirituelle Thematik in einem erhabenen Ton und evoziert mit Gesten der Gemessenheit eine typisch symbolistische Atmosphäre. Ebenso signifikant ist die Kombination von Stimmungslage und Farbwert in ‚blaue Verzückung‘, die zu den konstitutiven Techniken des Symbolismus gehört. Hinzutritt die ausgefeilte klangsprachliche Gestaltung, die an den zitierten Zeilen etwa in der Diphtong-Reihung ei-ei-au-au abzulesen ist. Die Wahl der Farbe ‚blau‘ dürfte durch die Tatsache, dass besonders viele Gnadenbilder Mariendarstellungen gewesen sind und das Blau generell als Farbe der Transzendenz gilt, motiviert sein. Das folgende Gedicht Die Maske ist einerseits mit der Herzensdame verbunden, insofern es von einer empfindungsstarken Einzelperson handelt, die von ihrem gesellschaftlichen Umfeld absticht. Andererseits steht es aber auch in einem deutlichen Bezug zu Lämmer, da es von einer kulturgeschichtlichen Lage handelt, die man als substanzlos bezeichnen kann. Die Epoche, die dieses Verdikt trifft, ist unschwer als Rokoko zu identifizieren. George hatte ihr bereits das Gedicht Hochsommer in den Hymnen gewidmet, wo sich ihre „Fröhlich galante leere“ (SW II, 22) nicht durch den Vorbeiritt mysteriöser Reiter in ihrem eitlen Spiel hatte irritieren lassen. Ganz ähnlich ist die Konstellation in Die Maske (SW V, 43). Nur eine der am Mummenschanz beteiligten Puppen wird der Hohlheit des geselligen Treibens gewahr. Ihre Ahnung, dass „nicht mehr viel am aschermittwoch fehle“, lässt sich auch als geschichtsphiloso„Anteil am Staat“ betont (Friedrich Gundolf: Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, eingeleitet u. hg. v. Lothar Helbing u. Claus Victor Bock. Amsterdam 1963, S. 254.). Die Publikation des Buchs erfolgte nicht bei Bondi. Es erschien 1919 unter dem Titel Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich beim Gustav Kiepenheuer Verlag in Potsdam. Im gleichen Sinne hatte schon Karl Wolfskehl die ‚Lämmer‘-Metapher verwendet, als er in einem Brief vom Juli 1910 an George des Germanisten Friedrich von der Leyen Kritik am ersten Jahrbuch für die geistige Bewegung als „Lämmerweisheit von der Lehrkanzel“ (G/KHW 668) abqualifizierte. 14 Dass es sich um eine gotische Kirche handelt, legt vor allem die Parallelstelle im ersten Standbilder-Gedicht nahe, in dem die Epoche der Gotik dadurch gekennzeichnet wird, dass „im frommen rausch […] / Das ganze volk vorm wunder schluchzt und zittert“ (SW V, 54). Zum mittelalterlichen Zeitkolorit passt auch das Wort „jetzunder“, das im 15. Jahrhundert in Gebrauch kam und um 1900 auch in poetischer Sprache antiquiert war.

    

    Der Teppich des Lebens 

     287

    phische Diagnose verstehen. Aus dieser Erkenntnis einer Endzeit zieht sie jedenfalls die radikale Konsequenz der Selbsttötung durch eine Mischung aus Ertrinken und Erfrieren im von dünnem Eis überzogenen Parkteich. Ihr Verschwinden bleibt auch nach ihrem Tod unbemerkt, so wie schon ihre Abschiedsgeste des Winkens ins Leere ging. Erst im Frühling vernimmt die „leichte schar aus scherzendem jahrhundert“ das seltsamen Raunen und Rieseln, das aus dem Teich erklingt, hält es aber „einfach für der wellen laune“. George greift hier auf ein Motiv zurück, das er in seinem Werk schon zweimal gestaltet hat. Zuerst trifft man es in Die Najade an, einem Jugendgedicht, das 1893 in den Blättern für die Kunst I, 5 erschien und später Aufnahme in der Fibel fand. Dort wird die Quelle, in der sich die Najade verbirgt, nachdem sie den unbedarften Jüngling betört hat, und aus der auf sein Flehen bloß noch „leises kichern“ (SW I, 14) antwortet, am Ende zu seinem Grab. George variiert in diesem Beispiel ein konventionelles Sujet, wie es in einer klassisch-romantischen Ballade (oder auch bei einem Epigonen wie Geibel) anzutreffen ist. Das zweite Beispiel kann man in der naturmagischen Ballade Mühle lass die arme still aus den Pilgerfahrten sehen, wo unter dem instabil werdenden Eis eines Sees plötzlich ein Pfiff erklingt, der den über ihn schreitenden Mädchen zu gelten scheint. Die Schlusszeile „Glocke läute glocke läute!“ (SW I, 34) operiert mit der unheimlichen Ambivalenz von Hochzeits- und Totenglocken. In Die Maske tritt zu diesen motivischen Verstrebungen innerhalb von Georges eigenem Werk noch ein externer intertextueller Bezug hinzu. Die Formulierung: „Keins […] / Ward sie gewahr bedeckt mit tang und kieseln  ..“ ruft unvermeidlich die Assoziation der ertrunkenen Ophelia aus Shakespeares Hamlet hervor. Diese literarische Reminiszenz ist im Übrigen das einzige Indiz, in der Person, die Suizid begangen hat, eine Frau zu sehen, denn das grammatische Objekt ‚sie‘ meint immer noch wie das grammatische Subjekt ‚sie‘ eine der im ersten Vers genannten ‚seidnen Puppen‘. Mit einer Wasserleiche wartet auch das folgende Gedicht Die Verrufung (SW V, 44) auf. Sie bleibt jedoch nicht unbemerkt, im Gegenteil: Sie wird erwartet. Die anonyme Sprecherinstanz wendet sich mit rhetorischen Fragen an einen Reiter, der bis an die äußersten Grenzen, bis in mythische Zonen zu gehen bereit ist, um eine erfahrene Beleidigung zu rächen. Der Sprecher stachelt ihn in diesem Streben an: „Hasse den einen bis dein hass ihn bezwungen!“ Die dritte Strophe bestärkt ihn in der Überzeugung, dass nur der Tod des Beleidigers ihm Satisfaktion leisten könne. Das Mittel dazu ist der Todesfluch, den er am Ufer des Flusses aussprechen soll: „Rufe bis er hier vorüber schwimme!“ Die vierte Strophe kündet vom Erfolg der Verrufung. Der Verrufene schwimmt mit dem Dolch in der Brust vorbei und entschwindet unter den Brückenbögen im Nichts. Das Gedicht lässt sich im Kontext des Ensembles von menschlichen Vermögen als quasi alttestamentarische Legitimation des Hasses lesen. Es lässt keinen Zweifel daran, dass der Tod des Verrufenen die angemessene Form der Genugtuung für den Beleidigten ist. Darüber hinaus gewinnt das Gedicht aber unter poetologischer Perspektive an Interesse, demonstriert es doch die magische Gewalt der Sprache. Insofern der Fluch des Reiters die Ermordung oder den Selbstmord des

    288 

     Jürgen Egyptien

    Verrufenen bewirkt, ist Die Verrufung ein extremes Exempel für Georges Verständnis von Sprachmagie. Um die Legitimität des Tötens geht es auch im Gedicht Der Täter. Es spitzt diese Rechtfertigung sogar noch zu, indem es auf eine Motivierung der Tat – wie die (Ehr-) Verletzung in der Verrufung – verzichtet und ihren Vollzug als notwendige Erfüllung des eigenen Lebensgesetzes erscheinen lässt.15 Nach der Akzentuierung des Tathaften schlägt im Gedicht Schmerzbrüder (SW V, 46) das Pendel wieder in Richtung auf das Sehnen aus, das an kein Ziel gelangt. Weiterhin besteht durch den Aspekt der ‚sinkenden Zeit‘ eine Verbindung zum Gedicht Lämmer. Das Bild der in Düsternis dahinziehenden Brüder, denen ein lächelnder Strahl das Geleit gibt und die von der anonymen Sprecherinstanz „ihr die sinkende zeit“ genannt werden, wird durch die wörtliche Wiederholung der ersten beiden Verse in den letzten beiden der zweiten Strophe stark betont. Die Diagnose ihrer historischen Abgegoltenheit wird durch den Vers: „Da alles gesagt ist in stummem verein“ unterstrichen. Ihrem eigenen Verstummen korrespondiert das ‚deutende Schweigen‘, das die Angesprochenen mit der leisen, wenn auch vergeblichen Hoffnung erfüllt, die vergehende Zeit festzuhalten. Der letzte Vers spricht demgegenüber beinahe triumphal von der Hinwendung des Geleiters zum Morgen. Die Deutung von Morwitz, der in den Schmerzbrüdern ein Paar sieht, das aus einem Älteren und einem Jüngeren, der sich am Ende abwendet, besteht, ist völlig abwegig. Das ‚ihr‘ definiert sie als Einheit, von der das „geleit“ unterschieden ist. Es gibt auch keinerlei Indiz, bei den ‚Schmerzbrüdern‘ bloß an zwei Personen zu denken, es dürfte sich vielmehr um eine Gruppe von unbestimmter Größe handeln. Zierau charakterisiert sie verallgemeinernd als „die Leeren und Substanzlosen, denen die Mitte fehlt“ (GZ 133), und rechnet auch die Christen, die sich an „ein Unsinnliches und VageFließendes“ (GZ 134) heften, zu den ‚Schmerzbrüdern‘. Die ‚in die Ferne drängende Stirn‘ und der Gang durch das abendliche Dunkel könnten darauf hinweisen, dass George hier ein Urteil über die zeitgenössische Strömung der Neoromantik spricht, die als ein vergebliches Festhalten an einer vergangenen Kulturepoche erscheint. Das folgende Gedicht Der Jünger (SW V, 47) entwirft einen Idealtypus, wie er als Modell für die Beziehung zwischen Meister und Jünger im späteren George-Kreis angesehen werden kann. Es ist ein Rollengedicht, in dem das lyrische Ich des Jüngers seinen Eintritt in den Dienst des Herrn begründet. Der Sprecher erklärt alle sinnlichen und materiellen Verlockungen für nichtig und folgt allein seiner Liebe zum Herrn, den er in den vier Strophen der Reihe nach als ‚hehr‘, ‚mild‘, ‚weise‘ und ‚den grössten‘ qualifiziert. Das Attribut der Milde könnte überraschen, nachdem im XXIII. VorspielGedicht der Herr ‚streng‘ genannt wurde. Es meint hier des Herrn Nachsichtigkeit gegenüber der Beteiligung des Jüngers am Werk, die naturgemäß nicht von Beginn an fehlerfrei sein kann. Anerkannt wird aber die unbedingte innere Bereitschaft. Daher

    15 Zur näheren Kommentierung siehe die folgende Modellinterpretation.

    

    Der Teppich des Lebens 

     289

    liegt der Lohn des Dienstes auch im Dienst selbst, in der Werk- und Tatgemeinschaft, aus der der Jünger sein Selbstwertgefühl bezieht. Der immaterielle Lohn liegt für den Jünger in ‚den Blicken meines Herrn‘, die ihm überhaupt erst seine Identität verleihen. In diesem Zusammenhang ist an die Gedichtzeile „Seitdem ich ganz mich gab hab ich mich ganz“ aus dem Zweiten Buch des Sterns des Bundes (SW  VIII,  65) zu denken. Das Gedicht unterscheidet sich von den meisten anderen in diesem Zyklus durch seine schlichte Sprechweise. Die ausschließliche Fixierung auf den Herrn tritt formal darin zutage, dass in den kreuzgereimten Strophen jeweils der zweite und vierte Vers das Reimwort ‚Herrn‘ aufweist, sodass die Hälfte aller Verse mit diesem Wort endet. Diese Einschwörung auf den Herrn wird noch durch den parallelen Bau aller vier Schlussverse unterstützt, die den regelmäßigen fünfhebigen Jambus alle um eine Hebung verkürzen. Das folgende Gedicht Der Erkorene (SW V, 48) liefert die komplementäre Ergänzung zum Jünger-Modell, da die Berufung zu einem exklusiven Dienst hier nicht durch eigene Entscheidung erfolgt, sondern durch den ‚Preis der Meister‘. Die Kür im Medium des Lieds kommt einer „schönern geburt“ gleich, womit das Gedicht auf die bekannte Formel „Neugestaltet umgeboren / Wird hier jeder“ vom Beginn des Dritten Buchs des Sterns des Bundes (VIII, 83) vorausweist. Wenn der Erkorene aus dem Dunkel seiner bisherigen Existenz nun auch glanzvoll hervortritt, bleibt sein Gebaren doch durch Demut und Ehrfurcht bestimmt. Die dritte Strophe schreibt dem Erkorenen eine ganze Reihe von Eigenschaften (z.  B. Gewissenhaftigkeit, Lauterkeit, Zurückhaltung) zu, die ihn auf seiner weiteren Lebensbahn leiten sollen, damit er er selbst bleibt. Die vierte Strophe erklärt die Selbstbewahrung zu seinem höchsten Gut und warnt davor, durch die erfahrene Auszeichnung sich selbst untreu zu werden. Der Tenor des Gedichts zielt darauf, sich durch die Kür nicht zu einer Hybris verleiten zu lassen, die genau dasjenige korrumpiert, das für die Kür prädestinierte. Das negative Gegenbeispiel zum Erkorenen zeichnet das Gedicht Der Verworfene (SW V, 49). Auch er wird von der anonymen Sprecherinstanz mit ‚Du‘ angeredet. Gleich innerhalb der ersten Strophe wird nicht nur sein Vergehen als Ungeduld und Unernst benannt, sondern auch bereits dessen bittere Konsequenz, die in einer Sinnentleerung des Lebens besteht. Die zweite Strophe nennt als Preis für die ausschließliche Konzentration auf die Sensationen der Außenwelt die Ödnis der eigenen Seele.16 Die Betonung der Gier, „[i]n alle seelen einzuschlüpfen“, verleiht dem Verworfenen nahezu vampirhafte Züge. Die dritte Strophe setzt diese Bildlichkeit fort, wenn sie 16 In den Kommentaren zu diesem Gedicht wird meist auf Hofmannsthals etwas späteren Essay Das Gespräch über Gedichte hingewiesen, der mit poetologischen Formulierungen wie „draußen sind wir zu finden, draußen“, (In: Hugo von Hofmannsthal: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Frankfurt/M. 1979, S. 495–509, hier S. 497) nahelegt, bereits im ‚Verworfenen‘ ein kritisches Porträt des Wiener Autors zu sehen. Ich vernachlässige diesen Aspekt hier, weil es mir eher um die Entfaltung des Zyklus geht.

    290 

     Jürgen Egyptien

    über das Innere des Verworfenen, der trotz seines berauschenden Erfolgs, den ihm sein Possenspiel beim breiten Publikum einträgt, heimlich weint, aussagt: „in dir saugt ein gram“. Es ist, als blicke der Verworfene auf die beiden unmittelbar zuvor porträtierten Typen des Jüngers und des Erkorenen zurück, wenn er wie ein offenes Buch „vor den Reinen“ liegt und seines eigenen Unwerts bewusst ist. Über diese kontrastiven Modelle hinweg erscheint der Verworfene auch als ein ‚Schmerzbruder‘ anderer Art, der nicht zu spät gekommen ist, sondern zu früh, und nur spielerisch Schönheit, Größe, Ruhm und Liebe ausgekostet hat. Mit dem Gedicht Rom-Fahrer (SW V, 50) wird der Blick nun erstmals explizit auf eine spezifisch deutsche Orientierung gerichtet, auf die Sehnsucht nach dem Süden. Sie wird von der anonym bleibenden Sprecherinstanz ausdrücklich als Grund zur ‚Freude‘ begrüßt. Italien wird als Land der Weihe und Paradies der Väter ausgezeichnet, womit der Text selbst in die Nachfolge der dichterischen Tradition tritt, die den Süden „mehr als die heimat pries“. George scheint sich mit diesem Auftakt vollständig in den nationalkulturellen Bahnen zu bewegen, die er im März 1896 selbst gezogen hatte, als es in der Einleitung zu den Blättern für die Kunst III, 2 hieß: Man hat uns vorgehalten unsere ganze kunstbewegung der ‚Blätter‘ sei zu südlich zu wenig deutsch. nun ist aber fast die hervorragendste und natürlichste aller deutschen stammeseigenschaften: in dem süden die vervollständigung zu suchen, in dem süden von dem unsere vorfahren besitz ergriffen zu dem unsre Kaiser niederstiegen um die wesentliche weihe zu empfangen zu dem wir dichter pilgern um zu der tiefe das licht zu finden: ewige regel im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. (BfdK III, 2, S. 35)

    Doch der weitere Verlauf des Gedichts ist mit dieser Positionsbestimmung nicht kompatibel. Bereits in dem ‚Gaukeln‘ zu Beginn der zweiten Strophe macht sich der Verdacht, einer illusionären Vorstellung vom Süden zu huldigen, bemerkbar. Die Feststellung, dass dieser Sehnsucht „vom besten blute viel“ geopfert wurde, wirft auf sie ebenso ein kritisches Licht wie die ‚Fesselung‘ der „trunknen seelen“ durch einen Verderben bringenden ‚schönen Buhlen‘. Es erscheint mir als ein Euphemismus, wenn Morwitz in dieser Gestalt ein Symbol für Rom sehen will (vgl. EM I, 189), eher wird man an einen Lustknaben wie im Gedicht Porta Nigra (SW VI/VII, 16  f.) zu denken haben. Das Verderben als Preis für die Südorientierung ruft die dritte Strophe mit der Erinnerung an den Tod des 21-jährigen ottonischen Kaisers Otto III. in der Nähe von Rom und an die Hinrichtung des 16-jährigen letzten Stauferkönigs Konradin in Neapel auf drastische Weise auf. Wenn der Sprecher in der Schlussstrophe die Adressaten mit ihrem Sehnen auf ewig an „froher flucht der silbernen galeeren“ teilnehmen sieht und sie „selig zitternd […] das seil / Vor königshallen an den azur-meeren“ werfen lässt, ist ein distanzierender Unterton nicht zu überhören. Sowohl das konkrete Bild der Galeere als auch des Seils aktualisieren eine metaphorische Ebene, die eine feine Ironie spürbar macht. Zum einen erscheinen die Sehnenden – wie bereits die gefesselten trunkenen Seelen  – als Unfreie oder gar Sklaven, zum anderen haftet ihrer

    

    Der Teppich des Lebens 

     291

    Verankerung etwas von einem Narrenseil an.17 Der nationalkulturellen Präponderanz der Südsehnsucht wird jedenfalls eine Absage erteilt. Das im Zyklus bald folgende Gedicht Jean Paul (SW V, 53) feiert den deutschen Dichter zwar auch als „des heitren südens preiser“, akzentuiert jedoch eben an seinem Werk die verborgenen Qualitäten der „grauen gaue“. Im Gedicht mit dem Titel Das Kloster (SW V, 51) stellt George der in die Ferne zielenden Bewegung die kontrastive der Kontraktion gegenüber. Allerdings geht auch ihr die Entfernung von den „lauten horden“ und dem „kalten gift“ der modernen Zivilisation voraus, um in „einem stillen tal“ einen Orden nach eigenem „jungem wunsch“ zu stiften. In den siebenteiligen Tagesrhythmus des Klosterlebens, das der Regel der horae canonicae folgt, fügt sich die vom Sprecher rekrutierte ‚Schar der Reinen‘ nahtlos ein. Sie wird von den bis dahin angesprochenen ‚Brüdern‘ unterschieden, wobei offen bleibt, ob sie von Beginn an dem „friedensstift“ mit angehört oder erst später hinzutritt. In den Kontext des Gedichts Das Kloster gehört, worauf schon Zierau verwies (vgl. GZ 146), das Weihespiel Die Aufnahme in den Orden, das wohl nur wenig später entstand. Auch dort wird das Modell einer tätigen Gemeinschaft entworfen, die in dürftiger Zeit ‚die Glut‘ hütet: „Hier bist du nicht dir selbst hier ist dein teil: / Im kreise fühlen wirken nach dem platze.“ (SW XVIII, 53) Die dritte Strophe entwirft das abendliche Bild von Zärtlichkeit und Freundschaft ohne Begierde und Verdruss. Zierau hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass man die Formulierung „im abend“ als einen Hinweis auf eine atmosphärische Umhüllung, nicht nur als bloße Zeitangabe ansehen kann (vgl. GZ 147). Es ist ein Geschehen, das sich wie in einem Kokon vollzieht. Dass die stumme Adoration der „blauen schönheit“, mit der eine Mariendarstellung gemeint sein dürfte, den Gipfel der leid- und lustvollen Entsagung der „frommen paare“ bildet, korrespondiert vollständig ihrer ‚heiligen Arbeit‘, die der „keuschen erde“ gilt. Mit der Verwendung des Begriffs ‚Paar‘ überschreitet George das Modell der Klosterbrüderschaft in Richtung auf eine gewissermaßen platonische Binnenstruktur. Das Gedicht schließt mit dem Hinweis auf die vorbildliche Gestalt und Lehre des malenden Dominikanermönchs Fra Angelico, der auch als potentieller Urheber der „blauen schönheit“ denkbar wäre. Das mit der Nennung des „mönch aus Fiesole“ angeschlagene Thema der Malerei steht im Mittelpunkt des folgenden Gedichts Wahrzeichen. Es behandelt gemeinsam mit dem Gedicht Jean Paul zwei ästhetische Grundorientierungen. Friedrich Gundolf hat die beiden Gedichte als „die mythischen Geistbilder für das apollinische und das dionysische Deutschtum“ charakterisiert (FG 190).

    17 Zu ergänzen wäre, dass auf der Sachebene eher an den römischen Hafen Ostia als an Venedig (so EM I, 189) zu denken wäre und dass in poetologischer Lesart an dieser Stelle – wie häufig im Teppich des Lebens – eine Distanzierung vom Symbolismus erkannt werden könnte, zu dessen Lieblings-Begriffen (bei Baudelaire wie Mallarmé) ‚Azur‘ gehörte.

    292 

     Jürgen Egyptien

    Wahrzeichen (SW V, 52) rühmt die Malerei der späten Gotik und frühen Renaissance in Deutschland, als deren Höhepunkt Hans Holbein angesehen wird. Die Geister dieser Künstler, so schließt das Gedicht, werden einst reich beladen „ins land des traums und der legende“ zurückkehren.18 Die Qualifizierung Deutschlands als Land des Traums leitet über zum folgenden Jean Paul-Gedicht. Die Lobrede auf Jean Paul hatte „Sein heiliges streben den zauber der träume und gesichte zu verbildlichen“ gefeiert und ihn als „reinen quell der heimat“ (BfdK III, 2, S. 59) bezeichnet. Mit Blick auf das Gedicht Jean Paul ist es interessant, dass innerhalb der Lobrede die Sprechhaltung von der Anrede an ‚euch‘ nach der Kette von Jean Paul-Zitaten zum ‚wir‘ wechselt. Die kollektive Sprecherinstanz des ‚wir‘ liegt nämlich auch im Jean Paul-Gedicht vor, nachdem in den drei voraufgegangenen Gedichten jeweils aus einer externen Position heraus die Adressaten mit ‚euch‘ angesprochen worden waren. George wählt die ‚wir‘-Form in der Absicht, eine vollständige Identifikation der nach Schönheit strebenden Deutschen mit Jean Paul zu vollziehen. Statt auf steter Wanderschaft nach ‚schöneren Nachbarn‘ zu suchen, sollten sie wahrnehmen, dass Jean Paul sich in seinem Werk nicht nur als „des heitren südens preiser“ (SW V, 53) erweist, sondern ihnen als „führer in dem wald der wunder“ den Reichtum des heimischen ‚Saatgefilds‘ und der „grauen gaue“ eröffnet. Ob dieser doppelten ästhetischen Qualität gelangt George zu der emphatischen Formulierung: „In dir nur sind wir ganz“. Jean Paul erscheint als Erwecker, der „den matten geist mit sternenflören“ anregt, und – ähnlich den ‚Wahrzeichen‘ – in seinem Inneren eine verborgene Glut überliefert. Die letzten Verse rufen poetische Orte und Bilder aus Jean Pauls Werk auf, die zum Teil bereits in der Lobrede als exemplarisch benannt wurden.19 Das nun schon mehrfach gestaltete Thema der ästhetischen Orientierung der deutschen Künstler bzw. Kunst setzt sich nahtlos im ersten der Standbilder-Gruppe (SW V, 54) fort. Hierin, nicht aber in einer „Überleitung vom Universalen zum Individuellen“ (JA 231), um das es in Standbilder · Die beiden Ersten gerade nicht geht, besteht eine Verbindung. Überhaupt dürfte Friedrich Gundolf mit seiner Kennzeichnung des Binnenzyklus der Standbilder als Verkörperung „zeitlose[r] Weltkräfte“ (FG, 190) richtiger liegen als Morwitz, der in ihnen „Grundkräfte im Leben des Künstlers“ (EM I, 192) sieht, oder Aler, der sie auf eine Selbstdarstellung von Georges persönlichem Wachstum reduziert (JA 224). Das trifft nur auf das letzte Standbild Der Schleier zu, das als poetologische Selbstauskunft den ganzen Zyklus schließt und dem Gedicht Der Teppich korrespondiert. Es ist in diesem Zusammenhang an Georges eigene Verwendung des Begriffs ‚Standbilder‘ zu erinnern. In die Zeit seines Briefwechsels mit Melchior Lechter über

    18 Zur näheren Kommentierung siehe die folgende Modellinterpretation. 19 Das gilt wohl auch für die Zeile „Dann bettest du den wahn auf weichem pfühl“, die als Echo von „Albano’s wahn genesung“ (BfdK III, 2, S. 62), die die Lobrede als rührendste Szene des ganzen Werks hervorhebt, bisher noch nicht angeführt wurde.

    

    Der Teppich des Lebens 

     293

    die Gestaltung des Teppichs des Lebens fiel dessen Arbeit an der künstlerischen Ausgestaltung des Pallenberg-Saals in Köln. In einem Brief vom 27. Juni 1899 bat Lechter George, ihm für vier lebensgroße Engelsfiguren, die Malerei, Plastik, Musik und Dichtung symbolisieren sollten, „VIER ZEILEN MONUMENTALER ART“ (L/G 76) aus seinem Werk mitzuteilen, die sich als prägnante Charakterisierungen eigneten. In seiner Antwort, in der er einige Verse vorschlägt, nennt George diese Engelsfiguren „standbilder“ (L/G 77). Das Doppelstandbild des Beginns skizziert die Grundhaltung von griechischer Antike und westeuropäischer Gotik. Die ersten beiden Strophen entwerfen ein Bild der Antike im Zeichen des rechten Maßes und sinnenfroher Jugendlichkeit. Töchter und Söhne des Landes bilden eine ‚Schar‘, die „in blauer klarheit“ sich für das Fest des angesprochenen ‚Du‘ bereithält. Man kann in diesem ‚Du‘ wohl am ehesten eine Art Oberpriester sehen, jedenfalls deuten die gefalteten Hände der vierten Strophe darauf hin. Die dritte und vierte Strophe richten den Blick auf die zum Himmel strebenden Kirchtürme der Gotik und ihre filigrane Schmuckarchitektur. Statt sich in antiker Diesseitsorientierung am Leib und seiner Lustempfindung zu erfreuen, wird er hier zugunsten des Geistes „zermalmt[]“. Der religiöse Kult ähnelt nicht mehr einem Fest, sondern einem „frommen rausch“, der das ganze Volk zittern und schluchzen lässt. Die spätmittelalterliche Gotik erscheint im Vergleich mit der Antike zwar als Irrweg, indem sie das rechte Maß zu einem Unmaß verzerrt und alle diesseitig-leibliche Schönheit einer jenseitig-vergeistigten aufopfert, aber Gedichte wie Herzensdame oder Das Kloster sollten deutlich gemacht haben, dass George christliche Glaubenskraft als einen wertvollen allgemein kulturellen bzw. individuellen seelischen Faktor hochschätzt. Aus diesem Grund wirkt die gotische Stufe zwar für sich genommen defizitär, kann aber zugleich als eine notwendige Durchgeistigung angesehen werden, die für die Wiederanknüpfung an die antike Haltung produktiv gemacht werden kann. Das dritte Standbild zerfällt in zwei Teile: In den ersten zwei Strophen wendet sich das lyrische Ich der noch verhüllten Frau zu, deren Zauber und vermutete Schönheit als Stimulanz für die Hoffnung auf „ein eden“ dienten. Das lyrische Ich bewundert die Macht der Verhüllten, die selbst ‚Müde, Kranke und Irre‘ (wobei letztere vielleicht als Zweifler aufzufassen sind) durch ihre Blitze immer wieder aufgestachelt habe. Mit der dritten Strophe übernimmt die Frau die Ich-Sprecherrolle. Sie beginnt mit einer massiven Desillusionierung, indem sie die vom lyrischen Ich skizzierte Sicht als die naive eines Kindes bezeichnet. Geradezu materialistisch argumentiert sie, dass nicht der Zauber der Schönheit als Antrieb für die Hoffnung wirke, sondern „not und schauer“ die Ferne blau färbe, also ein irdisches Eden vorgaukele. Man denke an die ‚blaue Klarheit‘ der antiken Ideallandschaft im vorangegangenen Gedicht. Die Sprecherin macht darauf aufmerksam, dass sie Qualen „meist mit frischer qual“ vertrieben habe. Diese maliziöse Eröffnung krönt sie mit der Aufforderung, ihre Hülle abzuheben und sich dem wahren Charakter ihrer „demant-tüpfel“ zu konfrontieren. Morwitz deutet sie unter Berufung auf George selbst als „Tränen der Qual“ (EM I, 193), was zur Logik des Gedichts passt. Die Bildlichkeit der Enthüllung und die Entlarvung des Schein-

    294 

     Jürgen Egyptien

    Charakters des Verhüllten machen das Gedicht zu einem Exempel der Aufklärung. Sein anti-illusionistischer Gestus substituiert Hoffnung und Utopie durch Erkenntnis und Wissen, anders gesagt: Es lenkt den Blick von einem fernen Eden auf die gegenwärtige Notwendigkeit. Das vierte Standbild-Gedicht schließt strukturell präzise an das dritte an. Was dort als illusionäre Hoffnung auftrat, begegnet hier als ‚farbiger Tand‘ einer eskapistischen Dichtung; was dort die Anerkennung von schmerzhafter Wirklichkeit war, ist hier die Umorientierung auf das Gesetzhafte. Im Text äußert sich durchgehend eine Wir-Sprecherinstanz. Die erste Strophe thematisiert eine Wandlung im Verhalten des Sprecher-Kollektivs gegenüber dem Auftritt einer würdevollen und streng blickenden weiblichen Person. Bereits die dritte Zeile weist ihr in einem Tempel einen Pfeiler als Standort zu, vor dem das ‚Wir‘, von „edlem zwang“ gebeugt, betet. Die drei folgenden Strophen enthalten einen selbstkritischen Rückblick auf die Zeit, in der die Beter sich dem Dienst an der Göttin entzogen. Entsprechend wechselt das Tempus vom Präsens ins Präteritum. In der zweiten Strophe erfolgt eine Binnendifferenzierung des Kollektivs. Die Sprecherinstanz ruft hier drei Angehörige der Gruppe unter Verwendung bildhafter Namen auf. George bedient sich hierbei dreier Selbstzitate, die es erlauben, die Angesprochenen als Wacław Rolicz-Lieder, Paul Gérardy und Karl Wolfskehl zu identifizieren (vgl. EM I, 194). Der Sprecher nennt sie „Gespielen“, weil sie gemeinsam ernsten Anforderungen auswichen und eine Art Spaßgesellschaft bildeten. Wenn die Personifikation des Gesetzes als Spielverderber in ihre Mitte trat, rafften die Lustverwöhnten so viel wie möglich vom „farbigen tande“ und brachen auf überladenem Kahne „zum nächsten frohen eiland“ auf. Die gewählte Bildlichkeit erscheint als locus classicus eines Eskapismus im Zeichen des Ästhetizismus. George übt hier eine scharfe Selbstkritik an einer Werkphase, für die Gérardys apotheotische Formel „die schönheit die schönheit die schönheit“ (BfdK II, 4, S. 113) als Leitmotiv Gültigkeit besaß. Das Bild vom „überquellend vollen kahne“, der mit „wimpel sang und klang mit frau und knabe“ unterwegs ist, ruft zudem die Assoziation an ein Narrenschiff herauf. Indem das angesprochene und sprechende Kollektiv sich nicht mehr vom (heimatlichen) Strand abstößt und in der Gegenwart nicht mehr als ‚Enteiler‘ agiert, stellt die Absage an den Ästhetizismus zugleich eine Hinwendung zur Heimat dar. Die ehemalige Spielzone soll sich zum Ort der Pflichterfüllung und Gesetzestreue wandeln. Werkimmanent ist es auffällig, dass das vierte Standbild in deutlichem Kontrast zum dritten Vorspiel-Gedicht steht, in dem der Engel dem „an freudelosem ufer“ schmachtenden Dichter zuruft: „Zu schönerm strand die segel aufgehisst!“ (SW V, 12) Das fünfte Standbild-Gedicht ist das einzige, in dem das von dem Standbild verkörperte Verhalten durchgehend in der Ich-Sprecherrolle sich selbst charakterisiert. Dabei vollzieht die Sprecherinstanz wie im dritten Standbild eine Selbst-Demontage, indem sie den Funktionszusammenhang des Glaubenswahns demonstriert und damit zugleich entlarvt. Bereits der Beginn des Textes evoziert mit den Worten: „Ich bin es einzig die auch euch die klugen / Zur irre reisst“ das Bild eines Rattenfängers. Die letzte Zeile der ersten Strophe lautet unmissverständlich: „Ihr ziehet hinter mir wie

    

    Der Teppich des Lebens 

     295

    kinder blöd.“ Es scheint mir höchst zweifelhaft, dass bei einem so negativen Urteil in diesem Standbild die „Kraft der Liebe“ (EM I, 195) porträtiert werden soll, die George doch unbedingt wertschätzte. In der zweiten Strophe spricht das Standbild von der Selbstentfremdung der ihm Verfallenen, die zu Knechtsseelen einschrumpfen und eigene „taten wünsche rechte“ vergessen. Alles, was ihnen auferlegt wird, tragen sie, ohne nach dem Grund zu fragen, weil ein ‚göttliches Rasen‘ sie bezwingt. In der dritten Strophe verhöhnt die Sprecherinstanz ihre Gefolgschaft, weil sie trotz ‚grausamster Gesetze‘ blind und klaglos „glaubt und duldet“. In der Schlussstrophe prahlt die Sprecherin damit, dass sie den engen Horizont ihrer Verehrer zu einer ‚blut- und strahlumränderten Weite‘ ausdehnt und ihre Wahrnehmung massiv manipulieren kann. Wenn es im letzten Vers heißt, dass sie „todes fluch wie klingen der schalmei“ erscheinen lassen kann, denkt man zurück an den Todesfluch der Verrufung, der sich hier für den Aufnehmenden in einen himmlischen Wohlklang verwandelt hat. Es passt in den Kontext, dass die Schalmei in biblischer Zeit als Instrument angesehen wurde, das die religiöse Ekstase befördert, sodass hier in einem signifikanten Substitutionsakt der einem fanatischen Glaubenswahn Verfallene an die Stelle von Todesdrohung eine Jenseitsverheißung rückt. Das Gedicht porträtiert insgesamt eine negative Form von Gefolgschaft, die mehr einem abstrakten Götzendienst gleicht als einer personalen Bindung. Das sechste Standbild greift auf die wertende Sichtung kultureller Epochen zurück, wie sie im ersten Doppelstandbild bereits erfolgt war. Nun stehen aber nicht religiöse Kultformen, sondern künstlerische Hervorbringungen und ihre rezeptionsästhetische Wirkung im Mittelpunkt. Antike und Mittelalter werden hier mit jeweils einer Strophe beschieden, während der Porträtmalerei des bürgerlichen Zeitalters zwei Strophen gewidmet sind. In der ersten Strophe dreht das lyrische Ich einen tönernen Krater in Händen und betrachtet die badenden und turnenden Gymnasten darauf. In der zweiten Strophe schaut es sich die Engelsdarstellungen auf gotischen Kirchenfenstern an und berührt mit „frevelnden lippen“ sakrale Plastiken. In der dritten Strophe schreitet es die Porträt-Galerie von Herrschern und Feldherren ab, deren Dunkel und Blässe an die Schilderung der Bilder im Escorial in den Hymnen denken lässt. Der Text schließt mit der Frage des lyrischen Ich, wie es sich die sinnliche Wirkung der abgebildeten Haarzier, Blicke und Münder vorzustellen habe, zu denen jetzt „die begier / Sinnlos hinan als rauch ohne flamme sich ringelt!“ Es fällt auf, dass diese wie auch die voraufgegangene ähnliche Frage jeweils mit einem Ausrufezeichen statt einem Fragezeichen abgeschlossen wird. Der Akzent liegt also eher auf der erstaunt wahrgenommenen Distanz als einer wirklichen sachlichen Frage. Das Thema des Gedichts ist das Vermögen verschiedener Kunstepochen, die sinnliche Qualität der sie jeweils prägenden Figuren zu vergegenwärtigen. Im Fall der Antike ‚erspäht‘ das Ich die ‚Lust‘ der sportiven Jugend, die Kunst des Mittelalters verführt das Ich zum zitierten Berührungsfrevel und ergreift es derart, dass es gesteht, es „Brenne von gluten die in ihren bildnern gerast“. Das ist immerhin ein deutlich anderer Akzent als im ersten Standbild-Gedicht, das von der reinen Vergeistigung und dem ‚Zermalmen der Körper‘

    296 

     Jürgen Egyptien

    in der gotischen Architektur kündete. Am ehesten wird die Porträtkunst des bürgerlichen Zeitalters als defizitär eingeschätzt. Statt des nachempfundenen ‚Brennens von Gluten‘ ringelt sich ihr nur ein ‚Rauch ohne Flamme‘ entgegen, hier springt kein Funke über. Zierau weist in diesem Kontext (vgl. GZ 166) auf die Verse aus dem Gedicht Franken im Siebenten Ring hin: „Mag traum und ferne uns als speise stärken – / Luft die wir atmen bringt nur der Lebendige.“ (SW VI/VII, 19) Der Zyklus endet mit dem Gedicht Der Schleier · Das Siebente. Es ist wie das Einleitungsgedicht Der Teppich ein poetologisches Programmgedicht. Die Grundidee besteht darin, dass der Schleierwurf des Dichters je nach angewandter Technik verschiedene Vorstellungen im Rezipienten erweckt. Nina Herres sieht in dem Gedicht daher das „Animationstheater eines allmächtigen Dichters“ (GHb  I,  172), der es versteht, „die Sehnsüchte des Lebens […] magisch-filigran und zugleich machtvollevokativ anzusprechen“ (ebd.). Wenn man das Animationstheater genauer anschaut, wird man allerdings feststellen, dass es zwei Zeitschichten aufweist. In der ersten, dritten und vierten Strophe erfolgt der Schleierwurf im Präsens und wird mittels der gleich anlautenden Verben ‚werfen‘, ‚wogen‘, ‚wehen‘ und ‚wirbeln‘ charakterisiert. Demgegenüber heißt es in der zweiten Strophe, dass der Schleier ‚einst empor flog‘. Den Effekt, der sich dabei ergab, beschreibt das Gedicht als ein ‚scheinhaftes Blinken‘ von Häuserkonturen in ‚Silberblässe‘. Der die Strophe resümierende Vers: „Am vollen Mittag mondlicht der gedanken!“ legt die Vermutung nahe, dass hiermit die romantische Dichtung gemeint ist und daher die Vergangenheitsform gewählt wurde. In den anderen Strophen zaubert das lyrische Ich den Orient, die Antike und den Süden vor das Auge des staunenden Betrachters.20 Der letzte Vers des Gedichts verkündet selbstbewusst das Regiment des Dichters über die Fantasie seines Publikums: „So wie mein schleier spielt wird euer sehnen!“ Die Illustration der eigenen poetischen Technik am Medium des Schleiers rückt das Gedicht in die bewusste Goethe-Nachfolge. In dessen Gedicht Zueignung von  1784, mit dem George und Wolfskehl die Goethe-Auswahl im zweiten Band der Deutschen Dichtung beginnen ließen, war von ‚der Dichtung Schleier‘ die Rede gewesen. Aler hat die poetologische Funktion dieser

    20 Diese kulturelle Auffächerung scheint mir wesentlicher zu sein als die Frage, ob der Dichter „eine stadt im Osten“ oder Hirten, Mädchen oder Sonnenkinder erschafft. Jan Aler, der das Gedicht ausführlich interpretiert, sieht in ihm „ein Zauberspiel, von dem uns der Magier selbst erzählt. […] In den beiden ersten Strophen erprobt der Meister seine Kunst an Gegenständen. […] In der dritten Strophe beschwört er Gestalten, die hellenischer Frühzeit zu entstammen scheinen, […] in der Schlußstrophe verzaubert der Künstler die Anwesenden.“ (JA 218) Will man George aber keine Nachlässigkeit in der Tempusbehandlung der Verben unterstellen (er hätte leicht ‚Dann fliegt er so empor‘ schreiben können), darf man die unterschiedlichen Zeitebenen nicht ignorieren. Das von mir selbst oben beanspruchte ästhetizistische Argument der Klangfärbung, das sich hier mit der Klangsynchronisierung von ‚flog-so-empor‘ geltend machen könnte, findet seine Grenze in dem massiven Eingriff in den Sinn der Stelle. Außerdem besteht eine qualitative Differenz in der Verlebendigung, die durch den Schleier­ wurf in der ersten, dritten und vierten Strophe bewirkt wird, und dem scheinhaften Mondlicht, in das er in der zweiten Strophe die Dinge taucht.

    

    Der Teppich des Lebens 

     297

    Bezugnahme in einem komplementären Verhältnis zum Lob Jean Pauls gesehen und schrieb: „Im Übergang von außen nach innen geschieht die Auszeichnung Jean Pauls. Die Goethe-Reminiszenz bildet dazu kompositorisch das Gegenstück. Denn zum Abschluß der ganzen mittleren Abteilung wendet die Reihe der Selbstdarstellung sich auf ihrem Höhepunkt wieder hinaus.“ (JA 232  f.) Er sieht Der Schleier auch in einer Beziehung zu den Schlussgedichten des Vorspiels und der Lieder von Traum und Tod. „Im Zusammenhang der ermittelten Trias erlebt man erst die ganze Tragweite dieser Apotheose des Dichtertums. Diese Vision von der heilen Welt, die der Künstler schafft, leuchtet dann gegen jenen Hintergrund des umdrohten Daseins.“ (JA 226) Aber diese Stellung dämpfe auch die Apotheose, das Gedicht gerate gleichsam in eine Schwebe (vgl. JA 227). Nicht zuletzt dieses Schweben veranlasst Aler, dem Gedicht einen selbstreflexiven Status zuzuschreiben: „Was das Gedicht meint, versinnlicht es auch.“ (JA 225) Herres schließt sich dieser Deutung an und sieht im Motiv des Schleiers einen „Wechsel von Verbergen und Enthüllen“ (GHb I, 173). Der Schleier realisiert mit seinem verhüllten Zeigen die im Gedicht Der Teppich ausgegebene Devise, den einzelnen verlebendigten kulturellen Kräften Gestalt zu verleihen. Aber die Gedichte verbindet noch etwas. Im Zusammenhang mit dem Gedicht Der Teppich war von einer Aporie in Georges Poetik die Rede gewesen. Auch Der Schleier scheint mir eine poetologische Aporie aufzuweisen. George knüpft an das Symbol des Schleiers konkret an, d.  h. er beschreibt das Verfahren der Dichtung als ein dynamisches Hantieren mit einem äußerst filigranen, nahezu gewichtlosen Gegenstand. Das Werfen, Wogen und Wirbeln des Schleiers steht nun im denkbar größten Widerspruch zur Monumentalisierung des Schleiers zu einem Standbild. Wurde im Teppich die epiphane Verlebendigung im architektonischen ‚Gebilde‘ stillgelegt, so wird hier der hyperflexible, verwandlungsfähige Schleier der Dichtung in eine unbewegliche Statuarik transformiert. Hingegen lässt sich das scheinbar intransigente Verhältnis, in dem Der Schleier zum dritten Standbild steht, das sein telos in der Enthüllung hatte, auflösen. Im siebten Standbild erfüllt der Schleier eine poetische Funktion als Darbietungsform, als ästhetischer Schein, während er im dritten als bloßer Schein im Sinne von Täuschung gewertet wird. Werfen wir abschließend einen Blick auf die bisherigen Gliederungsvorschläge für den Zyklus Der Teppich des Lebens. Zierau gliedert den Zyklus in zwei Teile. Die Standbilder zählen für ihn die „Kräfte des Lebens Georges“ auf, während die übrigen Gedichte „das Gefüge der kulturellen Kräfte des schönen, des neuen deutschen Lebens“ (GZ  61) zeigen, die in Spannung zu den Kräften der Natur stehen. Zierau nimmt eine detaillierte Binnengliederung der ersten achtzehn Gedichte vor (vgl. GZ 62). Er sieht nach dem Einleitungsgedicht Der Teppich mit Urlandschaft ein Gedicht folgen, dass das Natur-Kultur-Verhältnis allgemein thematisiert. Die beiden nächsten Gedichte gestalten die innere Polarität der Naturkräfte, während von Die Fremde bis Die Maske polare Volkskräfte im Mittelpunkt stehen, ehe sich der Zyklus von Die Verrufung bis Jean Paul den Kräften im Einzelnen zuwendet.

    298 

     Jürgen Egyptien

    Claude David unterteilt den Zyklus in fünf Kapitel. Das erste umfasst die vier Gedichte Der Teppich, Urlandschaft, Der Freund der Fluren und Gewitter. Auf das einleitende Gedicht mit seinem Blick auf das Gewebe des Lebens folgten drei „allegorische Bilder“, die „den Menschen inmitten der Naturkräfte“ (CD 181) zeigen. Diese Deutung erscheint kaum haltbar, da sowohl die Gestalt des Flurgotts als auch die Gestalten des Königspaars nicht als Allegorien menschlicher Tätigkeit, sondern als mythische Verkörperungen von Naturkräften anzusehen sind. Als zweite Gruppe in diesem Zyklus betrachtet David die vier Gedichte Die Fremde, Lämmer, Herzensdame und Die Maske, die für ihn „vier geschichtliche Zeitalter“ (CD  182) symbolisieren. Die Fremde rechnet er der Zeit der Urlandschaft zu, Lämmer sieht er als milde Verurteilung der zeitgenössischen Epigonen an, in der Herzensdame erkennt er ein ob seines Aberglaubens „mit Ironie betrachtetes Mittelalter“, in der Maske das Porträt eines „frivolen oder klugschwätzenden“ (CD 183) Rokoko. Das Gemeinsame der vier Gedichte liege „im Stil ironischer Geschichten“. Diese Charakterisierung der stilistischen Haltung trifft wohl allein für Lämmer wirklich zu. Die dritte Gruppe reiche von Die Verrufung bis zu Der Verworfene und umfasse somit sechs Gedichte. Dieses Kapitel, „aus drei antithetischen Gedichtpaaren bestehend, umreißt einige Haltungen, die allen Zeiten gemeinsam sind“. Die folgenden vier Gedichte Rom-Fahrer, Das Kloster, Wahrzeichen und Jean Paul „beschäftigen sich näher mit Deutschland“ (CD 184). Diese Zuschreibung ist allerdings für das Gedicht Das Kloster eine willkürliche Einengung. Die abschließenden „sechs allegorischen Standbilder […] teilen mit, welche Vorbilder den Dichter leiten und welche Mächte er verehrt“. Ernst Morwitz nimmt in der Fassung seines Kommentars von 1960 eine Dreiteilung des Zyklus vor, indem er die ersten acht Gedichte als ‚unpersönlich‘ bezeichnet und die zehn darauf folgenden, die also mit Die Verrufung beginnen, als ‚mehr persönlich‘ (vgl. EM I, 176 u. 182). Den dritten Teil bilden die Standbilder. Die Gemeinsamkeit der Gedichte in diesem Zyklus besteht für Morwitz in ihrem epischen, gelegentlich auch balladenhaften Charakter, womit er sie vom dramatischen des Vorspiels und dem lyrischen der Lieder von Traum und Tod abgrenzen möchte. Jan Aler übernimmt die Einteilung von Morwitz. Er sieht in den ersten acht Gedichten verschiedene Daseinsformen „in ihrer geschichtlichen Reihenfolge vorgeführt“, ab der Verrufung folgen zehn zeitlose, typologische Gedichte „in kontrastierender Paarung. Nach diesem Universalismus aber konzentriert die Gruppe der Standbilder sich wiederum auf den Dichter selbst“ (JA 224). Ich würde nach der erfolgten Charakterisierung des Zyklus zu einer etwas anderen Binnengliederung kommen. Zunächst scheinen mir die beiden poetologischen Gedichte Der Teppich und Der Schleier einen Rahmen zu bilden und für sich zu stehen. Ich löse also Letzteres trotz der Zählung als siebentes aus den Standbildern heraus. Das scheint mir legitim, weil sie keineswegs, wie mehrfach behauptet wurde, die Grundkräfte im Leben des Dichters repräsentieren. Sie sind eher eine heterogene Textgruppe, sowohl in ihrer Sprechhaltung als auch in ihren Themen und

    

    Der Teppich des Lebens 

     299

    ihrem teils dekonstruktiven, teils konstruktiven Tenor. Will man für sie einen gemeinsamen Nenner finden, so böte sich an, vom Erscheinungsbild von Grundkräften in den Bereichen von Kunst und Glauben, also außerhalb des einzelnen Menschen sich manifestierender Wirkmächte zu sprechen. Aus diesem Grund würde ich den ersten fünf Standbilder-Gedichten noch die beiden vorangehenden Wahrzeichen und Jean Paul zuschlagen. Grundkräfte und Haltungen, die sich innerhalb von einzelnen Menschen oder kleineren Menschengruppen verkörpern und die sowohl geschichtliche (Schmerzbrüder, Rom-Fahrer) als auch übergeschichtliche Gestalt annehmen können, bilden den acht Gedichte umfassenden mittleren Teil des Zyklus, der von Die Verrufung bis zu Das Kloster reicht. Auf das Einleitungsgedicht Der Teppich sehe ich eine Gruppe von sieben Gedichten folgen, die naturmythische (Urlandschaft, Der Freund der Fluren, Gewitter) oder bis zum Mythischen gesteigerte seelische Kräfte einzelner Menschen (Die Fremde, Herzensdame, Die Maske) bzw. einer exklusiven Gruppe (das ‚Wir‘ in Lämmer) thematisieren. Als Binnendifferenzierung des Zyklus Der Teppich des Lebens ergäbe sich damit das Gliederungsschema 1 + 7 (3 + 4) + 8 + 7 (2 + 5) + 1. Sichtbar wurden vielfältige Verstrebungen und Widersprüche. Das Obwalten von Polaritäten, wie sie in verschiedenen Sphären beispielhaft in Gedichtpaaren wie Der Freund der Fluren und Gewitter, Der Täter und Das Kloster oder Wahrzeichen und Jean Paul sichtbar wurden, erlauben es, diesen Zyklus mit Worten von Claude David über den ganzen Band zu beschreiben: „Der Teppich des Lebens […] stellt das Gleichgewicht zwischen den beiden Extremen dar, einerseits Enthaltung und Weltflucht, andererseits Unbeugsamkeit und Tatendrang. […] Das Wesentliche des Gedichtbandes ist also seine antithetische Form.“ (CD 195)

    Interpretationen von Der Täter (SW V, 45) und Wahrzeichen (SW V, 52) I Das Gedicht Der Täter provoziert mit der Legitimierung des Tötens. Es spitzt diese Rechtfertigung im Vergleich zu der vorangegangenen Verrufung sogar noch zu, indem es auf eine Motivierung der Tat verzichtet und ihren Vollzug als notwendige Erfüllung des eigenen Lebensgesetzes erscheinen lässt.

    300 

     Jürgen Egyptien

    Der Täter Ich lasse mich hin vorm vergessenen fenster: nun tu Die flügel wie immer mir auf und hülle hienieden Du stets mir ersehnte du segnende dämmrung mich zu Heut will ich noch ganz mich ergeben dem lindernden frieden. Denn morgen beim schrägen der strahlen ist es geschehn Was unentrinnbar in hemmenden stunden mich peinigt Dann werden verfolger als schatten hinter mir stehn Und suchen wird mich die wahllose menge die steinigt. Wer niemals am bruder den fleck für den dolchstoss bemass Wie leicht ist sein leben und wie dünn das gedachte Dem der von des schierlings betäubenden körnern nicht ass! O wüsstet ihr wie ich euch alle ein wenig verachte! Denn auch ihr freunde redet morgen: so schwand Ein ganzes leben voll hoffnung und ehre hienieden .. Wie wiegt mich heute so mild das entschlummernde land Wie fühl ich sanft um mich des abends frieden! (SW V, 45)

    Der Täter platziert diese provokante Position in der denkbar friedlichsten Idylle. In der Rahmensituation des Gedichts treffen wir den designierten Täter in der linden, milden Abenddämmerung am geöffneten Fenster. Morwitz dürfte Recht mit der Annahme haben, dass es ‚vergessen‘ genannt wird, weil den Täter die unentrinnbar von ihm zu vollbringende Tat innerlich okkupiert hat (Vgl. EM I, 183). Nun kehrt er ein letztes Mal zu der alten Gewohnheit zurück und lässt sich vor den geöffneten Flügeln nieder, womit sowohl konkret die des Fensters als auch metaphorisch die der ihn engelgleich umhüllenden Dämmerung gemeint sind. Die von der Dämmerung erwartete Einsegnung und das Eingehen in ihre Sphäre verleihen dem lyrischen Ich einen ihm zugehörigen Nimbus. Die entfaltete Bildlichkeit von Flügel, Umhüllung und Einsegnung erinnert an das zweite Vorspiel-Gedicht, in dem sich das lyrische Ich des Dichters leidenschaftlich an den Engel wendet: Ich mag nicht atmen als in deinem duft. Verschliess mich ganz in deinem heiligtume! […] Ich lasse nicht · du segnetest mich denn. (SW V, 11)

    Auf diese im Präsens gehaltene erste Strophe folgt im weiteren Gang des Gedichts eine komplizierte Abfolge von Zeitebenen. Aus der Gegenwart heraus eilen die Gedanken des Täters zu seiner Tat und zu deren Konsequenzen voraus, blenden in die Vergangenheit zurück und durchqueren dabei mehrfach wieder die Gegenwart. Mal spricht

    

    Der Teppich des Lebens 

     301

    das lyrische Ich des Täters im Konjunktiv, mal in einem indikativischen Präsens oder Perfekt, die beide eine in der Zukunft abgeschlossene Handlung bezeichnen. Die geplante Mordtat wird in der kommenden Nacht ausgeführt werden und den Täter der Verfolgung durch Einzelne und die Menge aussetzen, die ihm nach dem Leben trachtet. Wenn dabei die Art der drohenden Tötung durch die Menge als Steinigung bezeichnet wird, ist deutlich, dass George den Täter in einer Gesellschaft mit einer prinzipiell anderen Rechtsform als einer neuzeitlich-europäischen situiert. Die Steinigung ist symptomatisch für eine nicht-laizistische Gesellschaft, wie sie in der Antike und zu biblischen Zeiten bestand und heute noch in Teilen der islamischen Welt besteht. Daher werden mit Steinigung eher massive Verstöße gegen Glaubensregeln als weltliche Vergehen sanktioniert. Übrigens fiel der Hl. Stephan, der erste aller Märtyrer, einer Steinigung zum Opfer, wie die Apostelgeschichte berichtet (Apg 7, 59). Im Kontext des Gedichts dürfte es George primär um die Geltung einer archaischen Rechtsform gegangen sein, in die sich seine dezidiert antimoderne Ethik einfügt. Wie auch in anderen Bereichen der sozialen Interaktion, vor allem in der Erziehung, substituiert George alle Formen der Institutionalisierung durch direkte persönliche Verhältnisse. Das gilt, wie die Beispiele Die Verrufung und Der Täter zeigen, auch für Konflikte, die durch Tötung eines Menschen geschlichtet werden. Im vorliegenden Gedicht bleibt die Quelle für die Unentrinnbarkeit der Tat zudem im Dunkel. Sie erscheint als ein dem Täter auferlegtes Schicksal, wodurch ihr eine metaphysische Dimension zuwächst. Die dritte Strophe beginnt mit den vielleicht provokantesten Worten des gesamten George’schen Werks: „Wer niemals am bruder den fleck für den dolchstoss bemass / Wie leicht ist sein leben“. George formuliert hier ein Ausschlusskriterium, das auf eine spezielle Form von Exklusivität zielt. Er nennt all diejenigen leichtlebig, die niemals auf die Idee kämen, dass die Ermordung eines Menschenbruders zu einer Notwendigkeit des eigenen Handelns werden könnte. Nur wer so etwas zu denken wage, verfüge über wirkliche menschliche Substanz, wer nicht, dessen Wesen ist seicht, leer, oberflächlich, er ist eine durch und durch untragische Trivialexistenz. In dieselbe Richtung zielt das zweite Ausschlusskriterium: „wie dünn das gedachte / Dem der von des schierlings betäubenden körnern nicht ass!“ Die eigentliche Brisanz der Formulierung steckt im Präteritum, denn es macht deutlich, dass hier nicht primär an eine Nachahmung der Tat des Sokrates im Sinne einer Vollstreckung eines vorangegangenen Todesurteils zu denken ist. Der Genuss des Schierlingskrauts geht hier der Tat voraus, er geschieht freilich nicht in einer tödlichen Dosierung, sondern einer betäubenden. Damit dürfte das Todesbewusstsein eines Menschen gemeint sein, der für seine Überzeugung zu sterben bereit ist. Er steht damit im Gegensatz zu den Gedanken- und Überzeugungsarmen, die über keinen Lebensinhalt verfügen, der einen so hohen Einsatz erforderte. Man kann also sagen, dass das erste Ausschlusskriterium in der fehlenden menschlichen Substanz besteht und das zweite in der fehlenden geistigen Substanz. Der hohe Anspruch des Täters hat zur Folge, dass die Musterung seiner Mit­ menschen zu dem radikalen Urteil gelangt: „O wüsstet ihr wie ich euch alle ein wenig verachte!“ Es ist die Position einer selbstgewissen Auserwähltheit und einer mühsam

    302 

     Jürgen Egyptien

    gezügelten Hybris, deren Unbedingtheit selbst noch die Freunde des Täters verfallen. Ihre Klage, die er mit den Worten: „so schwand / Ein ganzes leben voll hoffnung und ehre hienieden“ antizipiert, entlarvt sie nämlich als Kurzsichtige, die nicht begreifen, dass es ihm mit dem Mord um die Erfüllung seines Lebensgesetzes ging, vor dem alle profan-gesellschaftlichen Erfolge und Auszeichnungen nichtig sind. Das ‚hienieden‘ als Akzentuierung einer irdischen Sichtweise der Freunde könnte ex negativo bedeuten, dass der Täter sein eigenes Tun als notwendigen Gehorsam gegenüber einem inneren göttlichen Gesetz interpretiert. Der tiefe Graben, der sogar zwischen dem Auserwählten und den ihm Nächsten klafft, greift eine Konstellation aus dem VorspielGedicht XXII auf. Dort hatte der Engel auf die Frage des Dichters, ob seine Getreuen ihm nicht in der Not der Kämpfe beistehen würden, lapidar geantwortet: „›Die jünger lieben doch sind schwach und feig‹“ (SW V, 31). Die Konstellation zwischen einem in absoluter Isolation sich befindenden Einzelnen und einem seiner kompromisslosen Verwerfung verfallenden gesellschaftlichen Umfeld im Gedicht Der Täter kehrt in Georges Werk noch einmal ähnlich wieder. Ich denke dabei an die vierzeilige ‚Tafel‘ Heiligtum aus dem Siebenten Ring: Wie tot ist mancher stadt getümmel und gekling: Nur gilt ein altes bild als einzig lebend ding … Hier liegt die form des kopfes der wie nie Ein kopf verachtung auf die menschen spie. (SW VI/VII, 181)

    Der Verachtung speiende Kopf ist derjenige Skakespeares, genauer: derjenige der sogenannten ‚Beckermaske‘, einer Anfang des 20. Jahrhunderts in Darmstadt befindlichen Totenmaske, um deren Echtheit gestritten wurde. Im George-Kreis galt sie als authentisch.1 Friedrich Gundolf hatte sie nach einer Besichtigung der Maske im Hause Becker 1904 gegenüber George als „heiligtum“ (G/G 153) bezeichnet. George teilte die Bewunderung für diese Totenmaske. Rückblickend von dieser ‚Tafel‘ könnte man das innere Gesetz des ‚Täters‘ auch als ein ‚heiliges‘ verstehen. In letzter Konsequenz legt dies den Schluss nahe, dass die Ausführung des Tötungsakts den Täter heil und lebendig macht. Er ist der kontrafaktische Heiland katexochen. Auf den ersten Blick könnte man auf den Gedanken kommen, das Gedicht Der Täter mit dem Algabal in Beziehung zu setzen, weil auch dort die Tötung von Menschen außerhalb jeder moralischen Bewertung behandelt wird. Genauer besehen unterscheiden sich die beiden Werkstufen aber fundamental. Im Algabal geht es entweder um die Sühne für die Verletzung des ästhetischen Rituals oder um die Bewahrung der Opfer vor einem Rückfall aus einer gesteigerten in eine profane Existenz.

    1 Vgl. dazu Jürgen Egyptien: Shakespeare im George-Kreis. In: Shakespeare und kein Ende? Beiträge zur Shakespeare-Rezeption in Deutschland und in Frankreich vom 18. bis 20. Jahrhundert. Hg. v. Béatrice Dumiche. Bonn 2012, S. 105–121, bes. S. 106 u. 120  f.

    

    Der Teppich des Lebens 

     303

    In Der Täter ist das Motiv ganz ins Innere verlegt, es geht nicht um eine ästhetische Existenz, sondern, wenn überhaupt ein Attribut taugt, um eine ethische. Darin dokumentiert sich die wesentliche Weiterentwicklung, die mit dem Teppich des Lebens bezeichnet ist und in den zahlreichen Gedichten zum Ausdruck kommt, die ästhetizistische Orientierungen mehr oder weniger scharf verurteilen. Zu ihnen gehören über das vierte Standbild-Gedicht hinaus auch die Vorspiel-Gedichte IV und XV oder Juli-Schwermut aus dem dritten Zyklus. Dennoch ist im Teppich des Lebens die Fortexistenz von ästhetizistischen und symbolistischen Gestaltungsprinzipien in vielfältiger Form zu beobachten. Im Gedicht Der Täter kann dafür auf der Ebene der Klangfärbung besonders auf die vorletzte Zeile „Wie wiegt mich heute so mild das entschlummernde land“ hingewiesen werden. In unauffälliger, aber raffinierter Manier wird hier die Atmosphäre der milden Abendstunde klanglich evoziert. Von der semantisch und metrisch (siebte von dreizehn Silben) zentralen Position des ‚mild‘ ausgehend, erkennt man, dass seine vier Buchstaben für die Zeile konstitutiv sind. Das ‚m‘ gibt in der Folge ‚mich‘–‚mild‘–‚schlummernd‘ den Takt an, die erste Hälfte steht ganz im Zeichen des ‚i‘ („Wie wiegt mich heute so mild“), die zweite ganz im Zeichen von ‚l‘ und ‚d‘ („mild das entschlummernde land“). Stutzen macht bei genauerer Lektüre womöglich auch das ‚stehn‘ im Vers „Dann werden verfolger als schatten hinter mir stehn“, da es sich nicht wirklich mit dem Subjekt ‚Verfolger‘ verträgt, das doch semantisch die Vorstellung einer Bewegung hervorruft. Es wäre daher zu erwägen, ob George sich nicht aus klanglichen Gründen für ‚stehn‘ (und gegen das semantisch näherliegende ‚gehn‘) entschieden hat, um es einerseits in einen Zusammenhang mit den vorangehenden ‚sch‘- und ‚t‘-Lauten („schatten hinter mir stehn“) und andererseits dem folgenden Reimwort ‚steinigt‘ zu bringen. Das Skandalon des Gedichts liegt in der Absolutsetzung der Notwendigkeit der Tat. Fragen von Schuld oder Unschuld des Objekts seiner Tat spielen ebenso wenig eine Rolle wie ihr Zweck. Dass sie ihren Zweck nur in sich selbst hat, ist ihr ästhetizistisches Erbe. Der spätere Leser, zumal derjenige nach dem 20. Juli 1944, ist versucht, dem Titel Der Täter ein unsichtbares in tyrannos hinzuzufügen, aber das wäre eine verharmlosende Entschärfung von Georges archaischer Ethik. Freilich kann das Gedicht in dieser Weise seine ethische Realisierung erfahren, aber sie wäre nur eine unter anderen.

    II Das Gedicht Wahrzeichen eröffnet in meiner Deutung den dritten Teil innerhalb des Zyklus Der Teppich des Lebens, in dem die gesellschaftliche Erscheinungsweise der Sphären von Kunst und Religion Thema ist. Es wird in der Regel mit dem folgenden Gedicht Jean Paul als Demonstration zweier polarer ästhetischer Orientierungen gewertet, die eine Einheit in der deutschen Kunst bilden (sollen).

    304 

     Jürgen Egyptien

    Wahrzeichen So ist bei euch das los: nach kurzen fristen Der stolzen blüte hausen lichtverächter Mit rohem schwärmen und die vipern nisten. Nur heimlich sind dem zarten keime wächter. Dann sucht der frühen bildner herbe wonnen Und holt euch rates wie sich mut gewinne Vorm keuschen zauber heimischer madonnen Und eurer ganzen schönheit höchster zinne Holbein dem einzigen .. im rauhen sturme Beschüzt die glorienschar vom Rhein und Maine .. Und dorrt das land vom unfruchtbaren wurme: Das heiligtum steht unberührt im haine. Bescheidet euch mit alten leidensregeln! Der glanz der war bringt wenn auch späte spende Die geister kehren stets mit vollen segeln Zurück ins land des traums und der legende. (SW V, 52)

    In Wahrzeichen spricht eine anonym bleibende Sprecherinstanz eine Gruppe mit ‚euch‘ an, in der hier die kunstverständigen Deutschen zu sehen sind. Die erste Strophe zeichnet in kräftigen Farben das Bild eines Rückfalls in kulturelle Barbarei nach einer kurzen Blütezeit. Die Metapher von den ‚nistenden Vipern‘ schließt unmittelbar an das ‚Gift‘ aus dem vorangehenden Gedicht Das Kloster an, wie auch der Aufruf zur Orientierung an den „alten leidensregeln“ mit dessen Klosterregeln rückverbunden ist. Als Repräsentanten der Blütezeit werden in diesem Gedicht Hans Holbein d. J. namentlich und die Vertreter der Kölner Malerschule indirekt genannt. Zu denken wäre dabei wohl an den Meister Wilhelm, dessen Madonna mit der Wicke George in der Tafel Kölnische Madonna im Siebenten Ring würdigt (SW VI/VII, 176) und an Stephan Lochners Madonna im Rosenhag. Das Gedicht rühmt damit die Malerei der späten Gotik und frühen Renaissance in Deutschland, als deren Höhepunkt Hans Holbein angesehen wird. In der V. Folge der Blätter für die Kunst wird es 1901 im Abschnitt Die zwei Linien des deutschen Geistes heißen: „der gipfel der ganzen deutschen kunst: Hans Holbein“ (BfdK  V, S. 2). Als Exempel von Holbeins Kunst weist Zierau auf das Gemälde Madonna mit der Familie des Bürgermeisters Jacob Meyer hin.2 Folgt man diesem Hinweis, erhält das Gedicht eine spannende kunsthistorische Facette. Das Original des Gemäldes befand sich

    2 Gerhard Zierau: Zum Triumfe des großen Lebens … Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel. Eine Deutung. Diss. Leipzig 1939, S. 145.

    

    Der Teppich des Lebens 

     305

    seit  1851 im Darmstädter Stadtschloss, und es ist wohl vorstellbar, dass George es kannte. Dieses abgekürzt als Darmstädter Madonna bezeichnete Bild nahm der Maler und Kunsthistoriker Julius Schnorr von Carolsfeld 1855 zum Anlass, die Gleichrangigkeit zwischen deutscher und italienischer Malerei zu behaupten.3 Holbein wurde als ‚Raffael des Nordens‘ positioniert, der Techniken der niederländischen Tafelmalerei mit denen der italienischen auf originäre Weise verschmolzen habe. Diese strategische Funktion Holbeins fügt sich nahtlos in Georges Konzept einer autochthonen deutschen Kunst, wie sie für ihn im „keuschen zauber heimischer madonnen“ historisch erstmals sichtbar wurde. Ausgehend von dieser Blütezeit lässt sich die darauf folgende Epoche, in der die ‚Lichtverächter‘ hausen, historisch konkretisieren. Sie dürfte den gesamten Zeitraum von der Reformation bis zu Georges Gegenwart umspannen. Der denun­ ziatorische Gebrauch des Begriffs ‚Lichtverächter‘ könnte sich daraus erklären, dass sich deren kunstfeindliche Haltung für George besonders in ihrer Verfolgung der ‚katholischen‘ Malerei mit ihren transzendenten, lichtdurchfluteten Bildhintergründen dokumentiert. Nur wenige Jahre nach der Entstehung der Darmstädter Madonna war Holbein 1529 vor dem in Basel tobenden reformatorischen Bildersturm geflohen. Georges kritischer Blick auf die Reformation ist bekannt. Wenn in Wahrzeichen das Land unter ‚rohen Schwärmen‘ und der Herrschaft eines ‚unfruchtbaren Wurmes‘ leidet, darf man ergänzend wohl auch an die zahlreichen Heerwürmer der Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts und den Grobianismus dieser Zeit denken. Dieser Drohkulisse gegenüber befinden sich die kunstsinnigen Deutschen in einer ähnlichen Situation wie die Zeugnisse ihrer kulturellen Blüte. Erstere fungieren als heimliche Wächter des ‚zarten Keims‘, den die ‚stolze Blüte‘ hinterlassen hat. Es ist mit dem zarten Keim hier wohl der gleichsam unterirdisch bewahrte Schönheitssinn gemeint, der in Deutschland nur eine verborgene Existenz führt. Der Sprecher empfiehlt den Hütern dieses ästhetischen Empfindens, sich durch die Besinnung auf „die glorienschar vom Rhein und Maine“, also auf die Madonnen der genannten Maler, Mut und Rat zu holen. Sie trotzen als ‚unberührtes Heiligtum‘ dem „rauhen sturme“ der barbarischen Zeiten in ihrem ‚Hain‘, befinden sich also in einem von der profanen Außenwelt abgetrennten hortus conclusus. Von dieser Konstellation aus gewinnt die voraufgehende Formulierung „im rauhen sturme / Beschüzt die glorienschar vom Rhein und Maine“ eine andere Gewichtung. Man wird vielleicht eher in „glorienschar“ das Subjekt von „Beschüzt“ sehen können als die Verbform als Imperativ, der sich an die Adressaten richtet, zu verstehen. Es ist sicher kein Zufall, wenn George das

    3 Als Direktor der Dresdner Gemäldegalerie stützte er sich dabei auf ein dort befindliches zweites Exemplar, das allerdings im sogenannten Holbein-Streit 1871 als Kopie identifiziert wurde. Zu den Einzelheiten vgl. Oskar Bätschmann: Der Holbein-Streit: Eine Krise der Kunstgeschichte. In: Jahrbuch der Berliner Museen 38 (1996) S. 87–100, sowie: Oskar Bätschmann und Pascal Griener: Hans Holbein d. J. Die Darmstädter Madonna. Original gegen Fälschung. Frankfurt/M. 1998.

    306 

     Jürgen Egyptien

    Ensemble der Madonnen als ‚Schar‘ tituliert, womit er auf die Bezeichnung der ‚reinen Schar‘ für die ihm Nächststehenden im Kloster-Gedicht zurückgreift. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass das Kloster sich zeitgenössisch durch die Entwicklung der Beuroner Malerschule als Ort einer bewussten Wiederanknüpfung an eine künstlerisch anspruchsvolle religiöse Malerei bewährt hatte. Es wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass deren ästhetische Orientierungen in auffälliger Weise mit denen Georges konvergieren.4 Das Gedicht endet dann mit einer Prophetie. Der Vers: „Der glanz der war bringt wenn auch späte spende“ kündet mit entschiedener Gewissheit von einer Wiederkehr der Kunst „ins land des traums und der legende“. Mit diesem Land ist ohne Zweifel Deutschland gemeint, da im folgenden Gedicht Jean Pauls Dichtung gerühmt wird, die die Lobrede in den Blättern für die Kunst ganz ins Zeichen des Traums gerückt hatte.

    4 Zum Beispiel bei WB 55  f.

    Nina Herres

    Die Lieder von Traum und Tod Wie durch die seele zogen Die pfade – dann durch das gefild. (Stefan George, Morgenschauer)

    Die Lieder von Traum und Tod1 stellen den dritten Zyklus des Bandes Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel dar. Es handelt sich dabei um Georges sechsten Gedichtband, der mit seinem Erscheinungsjahr  1899 zudem als „Werk der Lebensmitte“2 bezeichnet werden kann.3 Wie die beiden vorangehenden Zyklen Vorspiel und Teppich des Lebens beinhaltet auch der letzte Zyklus des Bandes  24  Gedichte zu jeweils vier Strophen à vier Verse. Die ersten zwölf Gedichte sind Freunden und Bekannten aus dem Umfeld Stefan Georges zugeeignet. Das Gedicht Blaue Stunde (SW V, 62) richtet sich an Reinhold und Sabine Lepsius, in deren Berliner Haus Stefan George seit dem Herbst 1896 regelmäßig seine Gedichte im Rahmen gelehrter Abendveranstaltungen vorgetragen hatte. In den Jahren vor der Veröffentlichung des Teppichs war die Verehrung des Künstlerpaars für den Dichter so groß, dass der erste Sohn im Sommer 1897 auf dessen Vornamen getauft wurde. Sabine Lepsius hat zudem nach Georges Tod ein Buch über die langjährige Freundschaft geschrieben.4 Das ihr und ihrem Gatten zugeeignete Gedicht Blaue Stunde brachte sie selbst mit ihrer kultivierten Gestaltung der Leseabende in ihrem Haus in Verbindung.5 Das Gedicht beginnt mit einer Anredesituation, die die zweifache Deixis in den Versen eins und sechs motiviert. Das wiederholte „Sieh“ wendet sich direkt an eine angesprochene Person, die damit im Gedicht neben dem Sprecher in Erscheinung tritt. Zudem ist die Zeigegeste hier durchaus intrikat, weist die Deixis doch auf eine Zeiteinheit, die im Raum entschwindet: „Sieh diese blaue stunde / Entschweben hinterm gartenzelt!“ Die fliehende Zeit ist offenbar eine der Gemeinsamkeit. Das Gedicht ruft dazu auf, der gemeinsamen Zeit nachzuschauen. Die Verquickung von Zeitdauer und Raumflucht ist dabei entscheidend. Wenn also die frohe Stunde der Gemeinschaft gemeinsam verabschiedet wird, so bewahrt doch das Gedicht ihr 1 Im Folgenden zitiert mit Seitenangabe in runden Klammern aus der Ausgabe SW V, 61–85. 2 GHb I, 156–175, hier 156. Für Hinweise auf die Entstehung und Überlieferung des Bandes sei auf das entsprechende Kapitel verwiesen, vgl. 156–158. 3 Nach dem Jahr der Seele und vor dem Siebenten Ring ist der Teppich des Lebens Georges werkchronologisches Mittelstück. 4 Sabine Lepsius: Stefan George. Geschichte einer Freundschaft. Berlin 1935. Vgl. zur Verbindung Georges mit dem Ehepaar Lepsius GHb III, 1528–1531 u. GHb III, 1532–1535. 5 Ebd., 1534, und Sabine Lepsius: Ein Berliner Künstlerleben um die Jahrhundertwende. Erinnerungen. München 1972, S. 179.

    308 

     Nina Herres

    Andenken und richtet sich gleichsam zwischen der Abschiedsgebärde („So eilt sie mit den wolken – sieh!“) und der Naherwartung eines baldigen Wiedersehens ein. Bemerkenswert ist die Wortwahl von Tausch und Stellvertretung, die das Gedicht durchzieht. So zeitigt das Treffen der Freunde „frohe funde“, wird aber zugleich als „entgelt“ und „opfer“ bezeichnet. Die Betonung der Asymmetrie von ‚Verleihung‘ und ‚Weihung‘ macht diese Semantik dann deutlich. Es handelt sich um ein Geschehnis, das durch keinerlei Handhabe verfügbar gemacht werden kann, es widerfährt dem Sprecher wie den Angesprochenen. Es widerfährt ohne Zutun, vor allem aber immer rückwirkend. Es bleibt das gemeinsame „sinnen“ über die gemeinsame Zeit, die unwiederbringlich verflossen ist. Nicht jedoch ganz verschwunden, denn sie hinterlässt ihre Spuren, die der Vergleich in der letzten Strophe offenbart: Wie eine tiefe weise Die uns gejubelt und gestöhnt In neuem paradeise Noch lockt und rührt wenn schon vertönt (SW V, 62)

    Auch wenn das gemeinsame Gespräch verklungen ist, so begleitet es die Freunde weiter wie ein Lied, das von jauchzender Freude ebenso singen kann wie von ächzender Klage. Es zieht mit den Wolken wie Lieder, die von Traum und Tod zu uns sprechen. Das Gedicht Blaue Stunde, mit dem Die Lieder von Traum und Tod ihren Zyklus beginnen, legt etliche Topografien und Topoi offen, die die Befunde im Folgenden unterstreichen werden. Das ungereimte Gedicht Dünenhaus (SW V, 63) ist Albert und Katharina Verwey zugeeignet. Dem niederländischen Dichter Verwey war Stefan George ab 1895 freundschaftlich verbunden, im Sommer  1898 besuchte er den Freund in Noordwijk. Das Gedicht erinnert an diesen Aufenthalt (GHb  III,  1738–1744, hier  1740). Ähnlich der Blauen Stunde handelt es sich um eine Abschiedsgeste, die die gemeinsame Zeit in den Raum der Erinnerung überführt. Bei Dünenhaus spricht jedoch der „gast“ in abwechselnd erster und dritter Person von der Diskrepanz, die zwischen seiner Stimmung – „Düster-mütig[] starr[]“, „trauer“ – und der wohlwollenden Umgebung – „Milde“, „weich“, „tiefe[r] frieden[]“ – besteht. Die Antithese der „Milde[n] reden“ zu den „starke[n] stimmen“ legt einen unheimlichen Kontrast offen, den der Gegensatz von Landschaftsidylle und Stadtgetümmel in der letzten Strophe aufnimmt: „Städte sind voll lust und kampf“, die Zuflucht unter dem Dach des „tiefen friedens“ ist nur von kurzer Dauer. Wie der „Sonnensohn“ Phaeton in die Lüfte entschwindet und im Wirbel des Eifers sein Leben beschließt, wird auch der unruhige Besucher aus dem Elysium der gemeinsamen Abendstunden entschwinden. Die „schiffe pfeifen“ und mahnen zur Abreise, die lärmenden Irrwege der Städte rücken wieder näher. Das letzte Wort des Gedichts ist „glücke“ und fängt damit in der Erinnerung an die glücklichen Stunden bei den Freunden jene Gastfreundschaft und Zusammengehörigkeit ein, die das unstete „rasen“ nicht bieten kann.

    

    Der Teppich des Lebens · Die Lieder von Traum und Tod 

     309

    Das dreiteilige Gedicht Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang (SW  V, 64–66)6 ist Cyril Scott zugeeignet. George stand seit 1896 in regelmäßigem Austausch mit dem englischen Komponisten.7 Cyril Scott ist der einzige Empfänger eines Widmungsgedichts in den Liedern von Traum und Tod, der die dreifache Anzahl der standardisierten vier Strophen zu jeweils vier Versen erhielt. Die Stimmung, die von den Worten ausgeht, ist unterdessen vergleichbar mit den bisherigen Befunden. Die Gedichte sprechen von Abschied, Erinnerung und Relikten. Neben das „weinen“ und „schmachten“ tritt jetzt jedoch ein Heilsversprechen, das mit einer sakralen Ästhetik der Plötzlichkeit in die Verse hereinbricht: Ein flüchtiger blick in euren gittern zündend Belebt die hoffnung eurer engen wüste .. Und bleich und plötzlich küsst ein strahl dein haar. (SW V, 64)

    Die Gefangenschaft im „kerker“, dessen „grabesluft“ die „grames-hand“ vorwegnimmt, lässt einen kleinen Raum der Zuversicht. Dass diese Hoffnung enttäuscht, die Zuwendung zurückgewiesen wurde, motiviert das zweite Gedicht an Cyril Scott. Die Enttäuschung „Ihr nanntet joch mein kostbares gesetz / Ihr lasst mein haus zu beugungen zu stolz“ wendet sich in Anklagen: Neigt ihr euch jezt nicht schmählicherem dienste? Ermattet er nicht die gewundnen arme Mehr als die klanges-kette die ihr bracht? Ruft ihr nach gnade nicht und wacht und weint? (SW V, 65)

    Wie unversöhnlich und kalt die „rachevolle braue“ des aufgekündigten Gottes sein kann, zeigt sich in den letzten beiden Strophen des zweiten Gedichts. Da die Hoffnung auf Erlösung aus dem Verlies der Traurigkeit nicht erfüllt wurde, richtet sich das Sehnen in derselben sakralen Demut wie zuvor auf einen anderen Heilsträger: „So knien wir huldigend dem neuen Gott / Und zittern und verzückung wie zuvor“. Es ist nun frappant, dass dem Adressaten der drei Gedichte, diesem offenbar austauschbaren Adressaten der zunächst dargebotenen Verehrung, mit dem dritten Gedicht der verzweifelteste Text im Zyklus zugeeignet ist. Die vergebliche Zuspätheit der Verse, ihre abgründige Todesverfallenheit, ihre poetologische Auszehrung bündelt sämt­

    6 Es handelt sich um drei ungereimte Gedichte, die einzige Ausnahme stellt ein umarmender Reim in der dritten Strophe des ersten Gedichts dar: „wunderland“ und „gebannt“. George hatte die an Scott gewidmeten drei Gedichte zunächst auf Englisch verfasst. Zur Entstehungsgeschichte und zur englischen Fassung SW V, 119–123. 7 Zur Entwicklung der Freundschaft zwischen George und Scott vgl. GHb III, 1639–1643.

    310 

     Nina Herres

    liche Klagemotive der Lieder von Traum und Tod. Der Herbst der Dichtung ist eingeläutet, das lyrische Erntedankfest opfert seine Blütenreste auf dem Altar granitschwerer Grabplatten: Nun schwindet mir der sorgenlosen glaube Nun eil ich in der kargen frist und pflücke Von dem was blieb und binde laub und blumen Halbwelke wunder meiner grames-hand. (SW V, 66)

    Es ist nicht das einzige Gedicht im Zyklus, in dem jede Hoffnung verloren, die Zeit abgelaufen, alle Früchte dem Tode geweiht sind. Aber es ist eines, bei dem die Metaphern für die Dichtkunst in eine Poetik der Reste überführt werden. „Von dem was blieb“, von den Überbleibseln des blühenden Sommers, zehrt das herbstliche Lied. Dabei ist Folgendes interessant: Das „und“ verbindet keineswegs Gleichartiges. Die Relikte, die noch zu ernten sind, unterstehen dem schönen Verb „pflücke[n]“, wobei die Überreste, die es zu „binde[n]“ gilt, der eigenen Hand entstammen. Eingesammelt wird also, was sich noch bietet, verwoben und verwunden hingegen dasjenige, das als „Halbwelke[s] wunder“ dem eigenen Wirken entsprungen ist. Die Hand, die in der dritten Strophe erneut betont wird,8 erntet folglich Reste und produziert selbst morsche Gebinde. Dies ist deshalb relevant, weil die Produktion von Relikten als „wunder[n]“ eine seltsame Nähe zur Reliquie aufweist. Wenn die Überreste nämlich eine wundertätige Wirkung haben sollen, sobald sie der „grames-hand“ entronnen sind, so bürgen sie für eine Heiligkeit, die einzuholen die Aufgabe des (in der Widmung) geweihten Lesers ist. Ob er sich würdig erweist, erfahren wir nicht, da das Gedicht mit der affirmierten Zueignung schließt. Die „brechend leise stimme“ nimmt am Ende die Situation des Liedes auf, das die „verstreuten gaben“ zu Gehör bringt.9 Das Gedicht Juli-Schwermut (SW V, 67) ist Ernest Dowson zugeeignet. Stefan George pflegte auf Vermittlung von Albert Verwey vor allem im Sommer 1898 Kontakt zu dem englischen Dichter. Juli-Schwermut entstand ein Jahr später (GHb III, 1347–1349). Das Gedicht reiht sich trotz der sommerlichen Jahreszeit nahtlos in die bisherige Motivlage ein. Neben die bekannten Trauerbilder tritt nun jedoch ein Überdruss, dessen Klage eine neue Perspektive eröffnet. Befanden wir uns bisher in Abschiedsformationen und Vergeblichkeitsritualen, so erklingt nun eine geradezu klassische ennui-Klage des Ästhetizisten. Beginnend mit olfaktorischen Eindrücken – „Blumen des sommers duftet ihr noch so reich“– wenden sich die Verse an ein Gegenüber, das den Sprechen-

    8 „Die hand mit widmender verehrung hebt / Beschämt empor dir die verstreuten gaben – / So wenig von erträumter pracht ein zeichen / Wenn auch von mancher seltnen träne leuchtend ..“ (SW V, 66). 9 Dabei steht die versiegende Stimme in auffälligem Kontrast zur wundertätigen Hand. Beide sind schmachgebeugt und trostlos, vermitteln aber jeweils auf ihre Weise jene poetischen Restbestände, die das Gedicht zugleich beklagt.

    

    Der Teppich des Lebens · Die Lieder von Traum und Tod 

     311

    den durch einen betörenden Garten der Poesie führen möchte.10 „Du ziehst mich nach am dorrenden geländer / Mir ward der stolzen gärten sesam fremd.“ Es folgt ein Bilderreigen, der in der mittäglichen Hitze eines Erntetages bekannte Todessymboliken aufruft, um dann eine ganz besondere Verbindung des Grundmotivs von Traum und Tod aufzunehmen: Schläfrig schaukelten wespen im mittagslied Und ihm träufelten auf die gerötete stirn Durch schwachen schutz der halme-schatten Des mohnes blätter: breite tropfen blut.

    In der schwülen Synästhesie von akustischen und optischen Elementen erscheint der rote Mohn pointillistisch und sinnfällig als Bindeglied zwischen Rausch und Lebensende.11 Ermattet und erhitzt, berauscht von der Wirkung gleichzeitiger Eindrücke, sinkt der Ästhetizist nieder und erbaut sich letztlich an künstlichen Paradiesen, die die Opiate bereithalten. Hierauf wird die Klage der letzten Verse zu einer todesverfallenen Absage an die Dichtkunst, die unter solchen Bedingungen den Garten der Poesie schmückt. Todesverfallen ist die Klage gerade deshalb, weil sie die Unsterblichkeit der ästhetizistisch berauschten Kunst nicht länger anerkennen will: „Nichts was mir je war raubt die vergänglichkeit.“ Es ist bezeichnend, dass um ein Ende der Schönheit gebeten wird, um einen Schlusspunkt für die pausenlos betörenden Düfte und Farben. Die stotternd anmutende Alliteration „Aus mattem munde murmelt es“ nimmt eine grammatisch unpersönliche Formulierung auf und stellt darin den Urheber der stöhnenden Klage anheim: „wie bin ich / Der blumen müd · der schönen blumen müd!“ Bezüglich der bisherigen Befunde ist es interessant zu sehen, dass in diesem Gedicht bewusst die Endlichkeit und das Verwelken herbeigesehnt werden. Es scheint, als sei die Phase der unsterblichen (weil leblosen) Kunst vorbei. Relikte und Reliquien zeitigt nur eine poetische Ästhetik, die sich dem Sterben aussetzt. Die Gedichte Feld vor Rom (SW V, 68) und Südliche Bucht (SW V, 69) sind Ludwig von Hofmann zugeeignet. Stefan George kannte und schätzte den Maler seit dem Jahr  1895. Im Frühling  1898 trafen sie sich erstmals persönlich in Rom, aus dieser Zeit datieren die beiden an Hofmann gewidmeten Gedichte Feld vor Rom und Süd­ liche Bucht (GHb III, 1441–1445). Die bekannten Motive von Abschied und Kümmernis kommen vor allem im Gedicht Feld vor Rom zum Tragen. In einer Stimmung, die „bang und eng“ auftritt, feiern die Verse den Blick über das Ruinenfeld der antiken Stadt als Eintritt in eine mythopoetische Unterwelt. Es wird wieder viel geweint und Schmerzen werden ausgehalten auf dem Aussichtspunkt, dessen Ausblick hinüber-

    10 Der Angesprochene zieht nicht nur, er weiß auch zu locken: „Aus dem vergessen lockst du träume […].“ 11 Das Verb „träufeln“ gibt zudem einen Hinweis auf Opium, das aus Schlafmohn gewonnen wird. Letzterer ist unterdessen nicht blutrot wie Klatschmohn.

    312 

     Nina Herres

    reicht bis zu den antiken Stätten von Tusculum.12 „Wir fühlen scheidend“ verweist auf die Abschiedsgeste, die in der Rückschau noch einmal die Trümmer der ruhmreichen Stadt aufzählt. Zugleich wird das Scheiden zum Übertritt ins Reich der Toten, wenn in der letzten Strophe die Blume der Unterwelt zu ernten befohlen wird. „Noch einmal halt an diesem hügel still / Pflückend die schattenlilie asphodill.“ Aus den Blüten der Dichtung ist eine Todesbotin geworden, die aus der Welt des Hades herüberreicht ins Land der Lebenden. Eingesammelt soll sie dennoch werden, als mahnendes Relikt aus der Unterwelt, wie der Ausblick über das Ruinenfeld die Reste des irdischen Daseins feilbot. Südliche Bucht verlegt sich nun demgegenüber auf das Motiv des Traumes statt des Todes. Die Blüten sind blau statt weiß, die Landschaft von geradezu erholsamer Ausprägung. Statt Reliquien und Restbeständen, Trümmern und Ruinen gibt es Farbenspiele am Himmel, Zerstreuung aller Art und vor allem Vergessen. Das ist nun wirklich erstaunlich. Waren die bisherigen Befunde der Trauer und der Klage auf eine erinnernde Umschau und ein sammelndes Bewahren von Relikten angesichts des Todes ausgerichtet, so stehen nun die Ablenkung und das Vergessen im Zentrum der Motivlage rings um den Traum: Wo er in lied und segen der zipresse Sein kaltes land und steiles werk vergesse Langsam sich lösend vor den purpurgolfen. (SW V, 69)

    Es kommt hinzu, dass das „lied“ hier natürlichen Ursprungs und im Schatten süd­ licher Bäume zu finden ist. Das eigene „kalte[] land“ rückt ebenso in Distanz wie das „steile[] werk“, solange der Sprecher in „traumes ruhe-reich“ sich wähnt. Doch auch dieses Ideal ist von zeitlicher Beschränkung bedroht. Das Partizip Präsens im letzten Vers gibt an, dass die Frist der unbeschwerten Erholung vorbei ist: „Langsam sich lösend vor den purpurgolfen.“ Ganz ohne Abschied kommt auch dieses versöhnliche Gedicht nicht aus. Das Gedicht Winterwende ist Clemens von Franckenstein zugeeignet. Stefan George stand ab dem Jahr 1896 mit dem Komponisten in Kontakt, das Gedicht rekurriert auf gemeinsame Treffen am Frankfurter Bahnhof in den folgenden Jahren (GHb  III,  1360–1362). In diesem Text treten Traum und Tod nun mit zuverlässiger Konsequenz auf. Letzterer erscheint in Gestalt „verstorbne[r] wege“, „verwaiste[r] gänger[]“, eines „dürren jahr[es]“, „einer totenbahr“, des „Scheiden[s]“ und „[E]rbleich[ens]“. Bemerkenswert ist dabei, dass das Traummotiv eine Form der Täuschung annimmt: Er „[s]piegelt eine flur von freuden vor“, wird über den diffusen

    12 „Frascati bleicher an den berg sich schmiegend ..“ bezieht sich auf die Stadt gleichen Namens, unweit Roms in den Albaner Bergen. Vgl. Kommentar SW V, 124.

    

    Der Teppich des Lebens · Die Lieder von Traum und Tod 

     313

    Lichteinfall in der ersten Strophe gesagt. Das Vergessen, das an anderer Stelle wünschenswert und weihevoll erfahrbar wurde, ist nun eine Bedrohung: „Dass ihr staunt und weint und euch vergesst“. Am Ende ist der Abschied in diesem Fall jedoch nicht trostlos, sondern fast ermutigend. Solange man „taten-wach und kühn“ voranschreitet, können weder die Düsternis des Todes noch die täuschenden Lichter der Lockung ihre abgründige Wirkung entfalten: „Solch ein strahl erbleicht uns nie ..“ Das Gedicht Den Brüdern (SW  V,  71) ist Leopold von Andrian zugeeignet. Der Diplomat und Dichter hatte Stefan George 1894 zweimal getroffen und in den folgenden Jahren einige Beiträge für die Blätter für die Kunst verfasst (GHb III, 1257–1260). Andrian wird im Widmungsgedicht als Stellvertreter seines Landes angesprochen, wie der Titel und auch Vers 13 nahelegen.13 „[E]uer sieches oesterreich“ schließt die depressive Stimmung des Einzelnen ebenso ein wie die kollektive Zerrüttung der politischen Verhältnisse. Dabei ist hervorzuheben, dass dieses Gedicht nun einen Ausweg aus den Motiven von Traum und Tod sucht. Die ästhetizistisch begründete Lust an morbiden Themen soll verabschiedet werden, die innere Faszination endlich das leibhaftige Leben erfassen. Vorbilder gibt es: Wir – wie ihr – zeigten glücklichern barbaren Dass höchster stolz ein schönes sterben sei .. Bis wir bemerkt wie sehr wir lebend waren Da schlossen wir uns stärkern trieben bei.

    Man sei schließlich bestrebt gewesen, die österreichischen Kollegen mit hineinzunehmen in die überbordende Freude am Geburtserlebnis einer neuen Ästhetik.14 Das „was auch in euch noch keimt und wächst“ habe man willkommen heißen und die maroden Gefährten „freundlich an uns reissen“ wollen. Die letzte Strophe gibt dann die Begründung für solche mannigfache poetische Hilfestellung. Es bestehe nämlich bei allem Niedergang solange Trost und Hoffnung, als ein Ästhetizismus, der kein ethisches Fundament vorweisen kann, einer freundschaftlichen Bande weiche: Denn dazu lieben wir zu sehr euch brüder Um zu geniessen nur als spiel und klang An euch die schwanke schönheit grabes-müder An euch den farbenvollen untergang.

    Es ist nicht zu unterschätzen, welche Wendung sich hier vollzieht. Die Klagestimmung von Traum und Tod hintergeht ihren Anspruch und tritt als trostreiche Gebärde hervor. Es genügt nicht mehr, sich an marodem Flirren zu freuen, die lebendige Außenwelt

    13 Vgl. Kommentar SW V, 125  f. 14 Die Metapher „Vernahmen vor uns reiche fülle kreissen“ wirkt unterdessen seltsam passiv, als sei man lediglich Zeuge und weniger Erzeuger des Vorgangs.

    314 

     Nina Herres

    als Kulissen vorbeiziehen zu lassen und sich am Dasein zu berauschen. Die aufmunternde Geste, die die Verse motiviert, einen neuen Weg zu beschreiten, ist einzigartig im vorliegenden Zyklus. Das Gedicht Die Ebene (SW V, 72) ist Carl August Klein zugeeignet. Stefan George stand mit dem Herausgeber der Blätter für die Kunst über lange Zeit hinweg in regelmäßigem Kontakt. Das Gedicht datiert aus der Spätphase ihrer Freundschaft (GHb III, 1491–1494, hier 1493). Es fällt auf, dass drei verschiedene Fragen die mittleren beiden Strophen einrahmen. Sowohl die zweite als auch die dritte Strophe stellen kontemplative Malereien dar, die eine gewisse Zusammengehörigkeit in der gemeinsamen Vergangenheit beschwören sollen. Der beruhigende Blick auf die Rheinebene, die für beide Freunde den Raum der Kindheitserinnerungen bereithält, stellt den Ausgangspunkt dar. Die erste Frage des Gedichts vergewissert nun den Angesprochenen der gemeinsamen Teilhabe: „Suchest du sinnend darin das uns beiden gegebene / Zwischen den furchen seit jahren verkannt?“ Der vorwurfsvolle Ton verdeutlicht, dass der Angesprochene nicht länger zögern und zweifeln solle. Als Beleg der geteilten Erfahrungswelt schließen sich zwei Bilder an, die aufgrund ihrer naiven Motivlage offenkundig die gemeinsame Topografie der Jugend emporheben. Da springen Kinder im frühlingshaften Blütenduft zum Flötenklang umher, eine unheimliche Alte nimmt Kontakt mit dem Jenseits auf15 – und die Wälder grünen dazu. Aus dem Raum der Erinnerungsbilder tauchen dann die beiden Fragen der letzten Strophe auf, die die eben evozierte Vertrautheit vielfach durchleuchten: Finden wir uns in den gemeinsamen Vorstellungen wieder? Zerplatzt nicht die „flitternde hülle“ im engen Horizont der naiven Malerei? Sind manche Dunkelheiten für die Rheinhelle zu düster? „[F]ürchtest du · bleicher gefährte · / Unsren zug zur finsternis?“ Der Gegensatz von „bleich“ und „finsternis“ ist fast boshaft, da das blasse Antlitz des Begleiters eine Verfallenheit an die Dunkelheiten geradezu impliziert. Da die vorigen Strophen keinerlei Hinweis auf morbide Finsternis geben, ist diese Drohgebärde am Schluss ein wenig opak. Sollen die beiden Mittelstrophen andeuten, dass hier eine Ästhetik im Sinne von Carl August Klein verhandelt wird? Und soll die Schlussgeste auf die ausgesperrten Abgründe hinweisen? Oder ist der Mittelteil bereits der dämonische Abgrund, vor dem es zu warnen gilt? Eine nicht schlüssig lösbare Kaskade an Varianten, eine nicht ganze einfache Freundschaft möglicherweise. Das Gedicht Fahrt-Ende (SW V, 73) ist Richard Perls zugeeignet. Stefan George hat es nach dem frühen Tod des Schriftstellers, den er seit dem Jahr 1895 kannte, verfasst (GHb III, 1576  f.). Die Verse betonen die Gegensätzlichkeit der beiden Freunde, hervorgehoben in der wiederholten Emphase am Versbeginn: „Du klagend […]“ entgegen „Ich sah […]“, wiederum „Du hörtest […]“, zuletzt „Ich hasste […]“. Dem Angesprochenen kommt die Rolle des Klagenden zu, der Sprecher versucht sich zunächst als

    15 Der Kommentar (SW V, 126) gibt den Hinweis, dass es sich um Carl August Kleins Mutter handeln könnte.

    

    Der Teppich des Lebens · Die Lieder von Traum und Tod 

     315

    Beistand: „Du hörtest staunend mich nach langem wandern / Noch schwärmen für das unverlierbar Stete“. Es ist nicht selbsterklärend, dass im letzten Widmungsgedicht der Lieder von Traum und Tod eine unverbrüchliche Stabilität als Trostgebärde daherkommt. Nehmen doch etliche andere Gedichte selbst Bezug auf „siecher welten fäule“. Der Untergang des Gegenübers ist jedoch nicht aufzuhalten, widerwillig musste der Ratgeber zusehen, wie sich der Jüngere seinem Einfluss entzieht. Die Schlussstrophe nimmt nun einen Zeitpunkt nach der Todesmitteilung ein. Und hier befinden sich auch Traum und Tod wieder in wenigen Versen vereint. Wall ich verträumt wohin du gern entflohest Zu grüner nacht der schaurigen pagode Des nicht-mehr-suchens nicht-mehr-tuns: so drohest Als überwinder du bei deinem tode.

    Der Angesprochene gehört dem Raum des Todes an, der Sprecher sucht die Orte der gemeinsamen Begegnung auf, um im träumerischen Zustand dem Freunde nahe zu sein. Dabei ist es fraglich, ob die Erinnerung hilfreich und die Trauer anders als furchteinflößend sein kann. Zu nächtlicher Stunde an schauerlichem Gebäude die Drohungen des Toten zu vernehmen, ist ein düsterer Bestandteil der Motive von Traum und Tod. Offen bleibt, ob ganz am Schluss von Fahrt-Ende die Mahnung enthalten sei, das Suchen und Tun niemals einzustellen. In diesem Fall bekäme das Ableben des Freundes eine überraschend erzieherische Bedeutung. Die zweite Hälfte des Zyklus Die Lieder von Traum und Tod besteht aus zwölf Gedichten ohne Zueignungen. Das Gedicht Gartenfrühlinge (SW V, 74) nimmt die zentralen Motive unter sehr zuversichtlichen Vorzeichen auf. Wir befinden uns einmal mehr im Garten der Poesie, in dem die Blumen der Dichtung ihre Blüten treiben. Selten genug aber herrscht hier das Frühjahr, nun sogar im Plural. Der Spaziergang durch das neu aufblühende Grün der Dichtkunst folgt einem Nacheinander der Sinne. Beginnend mit der Wahrnehmung von Licht und Schatten in der ersten Strophe, durchwirkt vom leuchtenden Gelb des Ginsters, werden anschließend olfaktorische Eindrücke eingesammelt.16 Bevor die florale Welt auch haptisch erfahrbar wird, bietet der Garten eine Begegnung: „Dort sah ich augen voll glut und traum“, auf die der letzte Vers des Gedichts sehnsuchtsvoll Bezug nimmt.17 Es ist nicht entscheidbar, ob die erblickten Augen traumessatt sind („augen voll glut und traum“, als Attribut des Objekts) oder aber das eigene Sehen im Zustand glühenden Träumens stattfindet („sah ich […] voll glut und traum“, als adverbiale Bestimmung des Verbs). Der Schlussvers lässt vermuten, dass die Begegnung aus eigenem träumerischen Raum („traum-augen“)

    16 Es ist interessant, dass die Ginsterblüte als optischer Reiz erwähnt wird, gleichzeitig aber durch ihren bekannt intensiven Geruch gleichsam hinüberleitet zur duftenden Mandelblüte, die ihrerseits optisch weniger opulent ist. 17 „Werd ich die süssen traum-augen lieben?“

    316 

     Nina Herres

    emportaucht. Als optische Farbgeber sind Schmetterlinge und exotische Vögel in der dritten Strophe anwesend, begleitet von erwählten Klängen: „Reicher ertönen dort lieder“. Bezeichnenderweise hebt die zweite Hälfte der Lieder also mit einem Gedicht an, in dem Lieder im Rahmen eines elysischen Gartenareals zu vernehmen sind. Die Zuversicht und das Zutrauen, dass auch künftig flauschige Blüten sprießen werden, speisen sich aus der wohlsortierten Ordnung im kunstvoll arrangierten Paradies. Dort ist jeder Strauch buchsbaumartig in Form gebracht („Büsche in zierlichen kegeln!“), die Fauna merkwürdig lebensarm („Trunkene falter segeln“), die Wasserwelt jedoch umso energischer: Kostbarer wie sie die quelle verstreut Schmächtigem springbrunn funken entstieben .. Werden sie leuchten leuchten mir heut?

    Dass die Inspiration durch das Leben spendende Element keineswegs von der natürlichen Quelle im Erdreich, sondern von einem geschmeidigen Brünnlein zu erhoffen ist, ergänzt die bisherigen Befunde. Geformt und geordnet, erwählt und erlesen sollen die künftigen Frühlinge sein, nicht wild wuchernd oder verwirrend leibhaftig. Das Schlussbild des Gedichts nimmt diese Formation noch einmal auf und erweitert sie. Die Wassertropfen sind nicht als Flüssigkeit anwesend, sondern erscheinen als Lichtbringer. Die effektvolle Anadiplose „leuchten leuchten“ sorgt für eine Stockung inmitten des Verses und offenbart zwischen beiden Fragen („Werden sie leuchten“, „[L]euchten mir heut?“) als Zäsur das Metrum des Adoneus, das für den letzten Vers nicht mehr aufgegeben wird.18 Dem altphilologisch geschulten Gehör klingt das Ende des Gedichts daher wie ein Schlussvers der Sapphischen Strophe, dessen Paradigma der Klagegesang um den schönen Adonis ist. Waren also die Motivlagen im Wortlaut zuversichtlich dem Traum zugewandt, so schleicht sich der Tod über den klassischen Klang seiner Klage unweigerlich in die Verse. Das Gedicht Morgenschauer (SW V, 75) beinhaltet zwei Verse, die zu den unwiderstehlichsten von Stefan George zählen mögen: „Wie durch die seele zogen / Die pfade – dann durch das gefild.“ Dass innere Welten sich in Landschaften nach außen spiegeln, hat man auch bei George schon gesehen.19 Den Vergleich allerdings umzukehren und eine Dimension der Zeitlichkeit hineinzunehmen, ist durchaus originell. Dies geschieht in der Morgenstimmung eines Gedichts, das vollständig aus Antithesen besteht. So soll die Tageszeit mitsamt des omnipräsenten Schmerzes eingefangen werden, doch ist die zugewiesene Befindlichkeit „fremd und selig“ zugleich. Die Gerüche, die wie in Gartenfrühlinge in der zweiten Strophe erwähnt werden, variieren

    18 In Vers 15 fehlt freilich eine Silbe am Schluss. Vollständige Adoneen befinden sich in den Versen fünf, sieben, 14 und 16. 19 Erinnert sei beispielsweise an den werkchronologisch vorangehenden Gedichtband Das Jahr der Seele (1897).

    

    Der Teppich des Lebens · Die Lieder von Traum und Tod 

     317

    zwischen „[g]elinde“ und „schnell und wild.“ Der Feiertagsschmuck „[e]ntzückt und quält – macht schwer und frei.“ Die beiden letzten Verse schließen dann sämtliche Gegensätze rückwirkend auf: „Ein schwanken süss und bitter  / Ein singen sonder melodei ..“ Ein Lied, das ohne Klänge auskommt, ist ein Gedicht. „Ein singen sonder melodei“ ist kein Gesang, sondern eine Rezitation. Am Ende der zwischen rauschhaft und schwermütig pendelnden Inspirationsszene steht also der Hinweis, dass ein Lied im unentscheidbaren Raum nicht vollständig gedeihen kann. Die Unzuverlässigkeit der sinnlich wahrnehmbaren Umgebung motiviert das innere Taumeln zwischen „süss und bitter“ genauso wie die seelische Trübnis umgekehrt den Blick nach außen verzerrt: „Trüb wie durch tränen schwimmen / Der baum · das haus das uns empfängt.“ Und so kippt die Stimmung zwischen heiterem Morgenglanz und angsterfülltem Schauer unentscheidbar hin und her.20 Einzig die Zeit wird zwischen innerlicher Wirrnis und äußerer Bestimmtheit (et vice versa) vermitteln, denn die Tageszeit wird vergehen, „dann“ gibt es einen feststellbaren Ablauf: „Wie durch die seele zogen / Die pfade – dann durch das gefild“. Das Gedicht Das Pochen (SW  V,  76) hat möglicherweise einen Bezug auf Cyril Scott, dem Stefan George bereits Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang zugeeignet hatte.21 Eine bemerkenswerte Reimabfolge strukturiert nun diesen Text. Der jeweils zweite und vierte Vers jeder Strophe ist mit jedem weiteren zweiten und vierten Vers sämtlicher Strophen endgereimt. Einfacher gesagt, alle Verse in gerader Zählung sind untereinander gereimt: „quillt“, „gilt“, „schrillt“, „vergilt“, „schwillt“, „gewillt“, „schilt“, „stillt“. Der liedhafte oder sogar sangbare Eindruck der Verse wird dadurch verstärkt, dass der vierhebige Jambus mit seinen regelmäßig wechselnden Kadenzen an keiner Stelle unterbrochen ist. Das Gedicht kommt ohne Apostrophe aus, stattdessen regiert eine aufwändig durchgehaltene Form der exclamatio. Es sind unentwegte Ausrufe, die zumeist in der Emphase „Wie“ beginnen.22 Dabei kehrt eine bekannte Antithetik zurück: Die Leere, die ex nihilo eine Fülle hervorbringt, die kurze Freude des Wiedersehens, die vom Schmerz des Abschieds bereits kontaminiert ist, der Schmelz von Zuversicht, den die Wehmut längst eingeholt hat. In der Gleichzeitigkeit von sehnsüchtigem Verlangen, solche Widersprüche zu versöhnen, und der traurigen Einsicht, dass die Bedingungen von Raum und Zeit unaufhebbar sind, richten sich die Verse jedoch diesmal ein in einem somnambulen Zwischenzustand, der in der Aposiopese seinen Ausdruck findet. In der dritten Strophe treffen wir zweimal auf diese Figur: Dass wir solang nur uns erblickten .. Wie es im raum beklemmt und schwillt Den dingen nahe die sie liebte .. Wie wir zu bannen wol gewillt.

    20 Das Determinativkompositum des Titels bezieht seinen Doppelsinn aus dem Substantiv „Schauer“. 21 Vgl. Kommentar SW V, 127. 22 Die Verse fünf, sechs, acht, zehn und zwölf heben jeweils mit „Wie“ an.

    318 

     Nina Herres

    Die Schweigefigur („..“) unterbricht beidemal die Syntax an der Stelle, an der das Tempus vom Präteritum zum Präsens wechselt. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil sich im folgenden „Wie“-Kolon jeweils eine zerrissene Stimmung artikuliert. Wenn die Dauer des Blickkontakts dem Zeitintervall („solang“) entspricht, in dem sich Beklemmung und Aufbegehren räumlich („im raum“) widerstreiten, dann scheint sich Unvereinbares gegenseitig zu bedingen. Die Abhängigkeiten von irdischen Zusammenhängen sind es aber doch gerade, die schlafwandlerisch transzendiert werden sollen: „Nicht stunde mehr nicht weg mehr gilt!“ Derlei leistet gewöhnlich der Traum. Wer nämlich zur gleichen Zeit schläft und umherirrt, der träumt. Und nähert sich zugleich dem Tode an: Wie wir im schlafe wandelnd irren! Wie es bei allen worten schrillt Die uns gleich ihren lezten klingen! Wie jeder stein uns nun vergilt[.]

    Die Lieder von Traum und Tod nehmen damit nicht länger nur ihre Motive in Anspruch, sondern begeben sich in eine eigentümliche lyrische Ausdrucksform des Träumerischen, deren Fluchtpunkt die Aussageform des Grabsteins sein kann.23 Das Gedicht Lachende Herzen  .. (SW  V,  77) widmet sich demgegenüber einem plakativen Gegensatz. Die lebensfrohen Mitmenschen, die heiter alle Geschenke des Schicksals in Empfang nehmen, sind für den Sprecher Rätsel und Sehnsucht gleichzeitig.24 Mit der staunenden Distanz des Außenstehenden legen die ersten beiden Strophen die wehmütig imaginierte Innenwelt derer dar, die in Zuversicht und feierlaunigem Sonnenglanz ihr Leben verbringen, „[d]unkle tage verschmerzend als kurze busse“. Ein lyrisches Ich wird erstmals in der dritten Strophe erwähnt. Demütig und in untertäniger Ehrerbietung gegenüber der tanzenden Leichtigkeit der Angesprochenen entsteht eine überraschende Reziprozität im Staunen: „Die ihr mich rühret ihr leichten – und ganz erfüllet / Die ich verehre dass selber ihr lächelnd erstaunet“. Es verblüfft, dass es zu einem Kontakt trotz der unüberbrückbaren Gegensätze kommt. Die Partizipien, die die fremden Seelenzustände illustrieren („lachend“, „tanzend“, „lächelnd“, „spielend“), stehen der melancholischen Einsamkeit des Sprechers („erniedernd“) frappant entgegen. Dennoch findet ein gemeinsamer „gesellige[r] reigen“ statt, der den Sprecher „als freund“ der Angesprochenen einschließt. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die integrative Leistung von den Angesprochenen ausgeht. Ist der Sprecher doch sofort eilig bemüht, die Gegensätze zu affirmieren, „[n]immer es wisst wie nur meine verkleidung euch ähnelt“. Dass die Teilhabe am gesellschaftlichen Dasein nur einen Maskenscherz darstellt, lässt auf zweierlei Arten der Verstel23 Es wäre zu überlegen, ob nicht etliche Gedichte der Lieder von Traum und Tod als Epitaphe auf die Dichtkunst fungieren. 24 Der Kommentar weist auf die Personifikation der Göttin Fortuna mit Füllhorn hin, SW V, 127.

    

    Der Teppich des Lebens · Die Lieder von Traum und Tod 

     319

    lung schließen. Vordergründig macht der Sprecher sich den Anstrich der munteren Massen zu eigen, um von seiner inneren Ferne abzulenken. Andererseits gelingt es ihm mithilfe der Maskierung, in die wogenden Gefilde derjenigen überhaupt erst vorzudringen, über die er sich im geradezu romantischen Künstlerideal existentiell erheben möchte: „Wie seid ihr ferne meinem pochenden herzen!“ Der letzte Vers nimmt nicht nur kardiozentristisch die hauptsächliche Metonymie des Gedichts auf, sondern stellt auch eine Verbindung zum vorigen Gedicht Das Pochen her. Der emphatische Ausruf in Vers 16 bekräftigt die Distanz und die Unmöglichkeit einer maskenlosen Nähe zwischen dem Sprecher und den Angesprochenen.25 Das Gedicht Flutungen (SW V, 78) erwähnt ebenfalls die Geschenke des Schicksals, die in Lachende Herzen .. als Segnungen von oben die Kinder der Fortuna bereichern: Der gaben schatz den huldigung ihr bot Erwog sie kaum und misste oft das glück Im starren stolz der jugend die nicht spricht.

    Die Strophen eins bis drei stehen im Präteritum und vermitteln das inzwischen gewohnte Stimmungsbild von Vergeblichkeit und Zuspätsein. Unterdessen treffen wir diesmal kein lyrisches Ich an, sondern eine weibliche Gestalt in der dritten Person. In chronologischer Abfolge zeichnen die Verse einen Werdegang, der von Eigensinn und Abkehr geprägt ist. Ausgehend vom „starren stolz der jugend“, der nach „zu viel licht“ den Zuwendungen des Schicksals entsagt, entsteht ein sentimentalisches Interesse an dem, „[w]as nun entrann“ und nicht länger erreichbar ist. Dabei verbindet sich das sehnsüchtige Verlangen nach lebendiger Teilhabe über die rhetorische Figur des Apokoinus mit einem glühenden Blick auf das Jenseits: […] sie sah mit heissem wunsch Den lebenden die sie nicht liebten nach Den toten all von ihr noch ungeliebt.

    Das „nach“ blendet am Ende des siebten Verses die vergebliche Zuwendung im Diesseits in eine traurige Ungleichzeitigkeit mit den Abgelebten über, wodurch das bedauernswerte Nicht-mehr mit einem betrübten Noch-nicht zusammenfällt. Inmitten dieser Konvergenz tritt neben das sehnende Sehen ein prüfendes Umschauen. Dafür, dass binnen weniger Verse zweimal vom Schauen gesprochen wird („sie sah […] nach“, „sie blickte […] um“), erstaunt das Adjektiv des „blinden kind[es]“. Mag es sich um eine Metapher für die geschilderten Zusammenhänge handeln oder aber eine Folge des Leidens „an zu viel licht“ in Jugendjahren sein, zu „ihrem schmerz“

    25 Die Konstellation von wehmütiger Sehnsucht nach geselliger Teilhabe bei gleichzeitiger Affirmation von künstlerischer Exklusivität erinnert – vor allem aufgrund des Tanzmotivs – sehr an Thomas Manns Novelle Tonio Kröger, welche freilich erst zwischen 1900 und 1902 entstand.

    320 

     Nina Herres

    gesellt sich nun das Frieren. Nicht am sinkenden Licht bemerkt sie, dass der Tag sich neigt, sondern an der einsetzenden Kälte. Die vierte Strophe erreicht anschließend die Gegenwart und verdeutlicht die erneute Präsenz des „frühere[n] weh“. In der Gleichzeitigkeit der Gegensätze („von neuem früheres weh“, „nur gleich im wechsel blieb“) kommt die oxymorische Parallelität von unerfüllter Sehnsucht und zyklisch wiederkehrender Ergriffenheit zur Sprache: Nun reisst und rinnt von neuem früheres weh Ihr ist wie sonst dass jede fiber fühlt .. Dass vieles ging · nur gleich im wechsel blieb Was sie ergreift was sie noch immer sucht.

    Der letzte Vers ist zugleich passiv und aktiv,26 er behauptet die Identität von Desiderat und Widerfahrnis. Das, worauf sich die Sehnsucht richtet, ist dasjenige, das Ergriffenheit hervorruft. Hierauf entsteht ein neuer Eindruck von Vergeblichkeit. Wenn nämlich das Gefühl „wie sonst“ selbst vom „wechsel“ unberührt bleibt, wird das seufzende „noch immer“ zur unerfüllbaren Geste der Hoffnungslosigkeit. Bleibt die Frage nach dem Titel. Lediglich in der vierten Strophe finden sich Hinweise auf eine aquatische Metaphorik. Die alliterierenden Verbformen „reisst und rinnt“27 sowie der vorletzte Vers – „Dass vieles ging · nur gleich im wechsel blieb“ – lassen an Gezeiten denken, die das Ewiggleiche stets aufs Neue wogend erfahrbar machen. Bei den Gedichten Tag-Gesang I und II (SW V, 79  f.) sind die jeweils geraden Verse kreuzgereimt, Tag-Gesang III (SW V, 81) steht konsequent im Kreuzreim. Der erste Text eröffnet mit einer Apostrophe an den Tag.28 Verhältnismäßig fröhlich wird der Beginn des Tages mit dem Anfang des Lebens verglichen, „Aus dem kindlichen tale  / Ein jauchzen erscholl.“ Mit „strahlen“ und „blüten“ liegt der Tag in der Vergangenheit, die vielversprechende Stimmung weicht dem klagenden Ausruf über die rasche Vergänglichkeit: „O mein tag mir so gross / Und so schnell mir entführt!“ Im zweiten Gedicht ist vom Glanz des vergangenen Tages „rausche noch“ übrig, der Sonnenuntergang aber durch keinen Gesang aufzuhalten.29 Dass das Lied „auf fittichen“ zu einem Vogel animiert ist, wird später noch von Belang sein. „Da nichts wie Er gross ist und / nichts wie Er all!“, sind andere Motive undenkbar, die Weite des

    26 Grammatisch liegt im Satz selbstredend kein Passiv vor, sondern er erhält seine Ambiguität aus der zweifachen Verwendung des „Was“, das zuerst im Nominativ steht und anschließend das Akkusativobjekt des Verbs „suchen“ darstellt. Derlei ist nur möglich, weil beide Verben („ergreifen“ und „suchen“) transitiv verwendet werden. Vor diesem Hintergrund kippt die Subjekt-Objekt-Beziehung des letzten Verses ins Unentscheidbare, da die gleiche Erläuterung auch für das ebenfalls zweifache Personalpronomen „sie“ gelten kann. 27 Die Alliteration „fiber fühlt“ antwortet im folgenden Vers von Seiten der Innerlichkeit. 28 Der Titel möchte daher als genitivus obiectivus verstanden sein, es handelt sich bei Tag-Gesang um einen Gesang an den Tag. 29 „Bis ganz ihn im westen / die wolke umschlang“ ist auf überraschende Weise emblematisch.

    Der Teppich des Lebens · Die Lieder von Traum und Tod 

    

     321

    Tages erscheint dem Sänger singulär. Das Gedicht endet daher mit Schritten in die Dämmerung, die nichts Gutes verspricht. Nah am Abgrund tritt das Gehör an die Stelle des Sehens, „vertrauert“ wird in die Dunkelheit gelauscht, „[z]u schluchten gebeugt auf ihr / dunkles geheiss“. Das dritte Gedicht vollzieht nun in der Figur der Apostrophe eine Selbstanrede, die in unmittelbarem Bezug zu den beiden vorigen Texten steht. Der Lobpreis auf den Tag findet sich in Form des Vogels wieder, der als Motiv regiert. Erstmals ist ein ‚Wir‘ zugegen, der Kreis des Personals muss sich erweitert haben. Zudem befinden wir uns jetzt im präsentischen Zeitraum. Die Abgründe des zweiten Gedichts kehren wieder („schluchten“, „tiefen“), diesmal jedoch aufgehoben in der lyrischsten aller Zusicherungen: „Und so warte bis mein sang schweigt / Und so bleibe bis das licht sinkt.“ In seiner Engführung von Traum und Tod, seiner rhetorischen Gestaltung und seiner Balance zwischen Trost und Klage nimmt der dritte Tag-Gesang eine herausragende Position innerhalb der Lieder von Traum und Tod ein. Die Gedichte Nacht-Gesang I, II und III (SW V, 82–84) erhellen erst im zweiten Text ihren Titel. Abermals liegt jene bekannte Gedankenfigur vor, die vergangene Freuden mit gegenwärtigem Schmelz des Schmerzes überzieht. In der „tiefdunklen pracht“ der Finsternis eilen Tanz und Gesang, Zerstreuung und Vergnügen vorbei, um in der wehmütigen Rückschau paradoxerweise von Vergänglichkeit und Dauer zugleich gezeichnet zu sein. Dabei sind die Motive steigernd angeordnet. Die Weiblichkeit hat in der zweiten Strophe ihren Platz, „von frauen die schar“, Tanz und Schönheit sind ihre Attribute. Es folgen holde Burschen, die mit Gesang und Küssen verbunden sind. Über die Feuer- und Glutmetaphorik leitet die vierte Strophe zur Klimax über, die in der Bezeichnung „[h]ohe freunde“ besteht. Waren „ernten voll glut“ und Grüße „feurig“, so liegt das unendliche Glühen in der Freundschaft. Die Anrede zum Schluss des Gedichts löst die Vergangenheit ab und wendet sich mit mahnender Gebärde an die Gegenwart: Erst an euch hab ich spät Hohe freunde gefühlt Was uns mählich zerfällt Und was ewig uns glüht. (SW V, 83)

    Der Gegensatz der Adverbien „mählich“ und „ewig“ macht sinnfällig, dass der Zerfall das endlose Glimmen der Freundschaft nicht einholen wird.30 Obschon sich der Niedergang langsam vollzieht, besteht die Glut für immer. In der Gleichzeitigkeit dieses Gegensatzes findet die Zuspätheit „Erst […] spät“ ihren Ausdruck und Beistand. Das dritte Gedicht ist reine Ansprache, es zieht eine Art Bilanz und korrespondiert darin unmittelbar mit Nacht-Gesang I. Kommt das erste Gedicht vollständig in

    30 Diese Antithetik verstärkt sich im Chiasmus des Pronomens „uns mählich“ – „ewig uns“.

    322 

     Nina Herres

    der ersten Person aus, so wenden sich die Verse von Nacht-Gesang III gänzlich an ein Gegenüber. Dass diese Form der Prosopopöie eine Selbstansprache und daher als eine Antwort auf das erste Gedicht zu verstehen ist, legen die korrespondierenden Motive nahe. Sowohl die Feuermetaphorik als auch das Gesangsmotiv nehmen aufeinander Bezug. „Wie ein brand / Der verraucht“ wird korrigiert zu „Das schöne zu schaun / Das wärmend nicht sengt“, um die Gefährdung zu revidieren. Der zweite Vergleich indessen, „Wie ein sang / Der verklingt“ kehrt in ungemilderter Form ebenso endzeitlich wieder: „In goldnem getön / Dein leben verrauscht“. Dabei ist bemerkenswert, dass die Verbformen „verrauscht“ und „verraucht“ die Motive von Glut und Gesang im linguistischen Sinn als Minimalpaar abbilden.31 Stehen die Vergleiche des Verstummens und Verglühens am Ende des ersten Gedichts, das seine Antithetik zwischen „Sturm und herbst“ und „Glanz und mai“ im unreinen Reim von „geschick“ und „glück“ verdichtet, so ergreift das Lebensende das letzte Wort im Nacht-Gesang III. Der Rausch wiederum leitet über zum letzten Gedicht des Zyklus, Traum und Tod (SW V, 85), dessen Schlussverse eine Synthese bereithalten: All dies stürmt reisst und schlägt blizt und brennt Eh für uns spät am nacht-firmament Sich vereint schimmernd still licht-kleinod: Glanz und ruhm rausch und qual traum und tod.

    Interpretationen von Tag-Gesang III (SW V, 81) und Traum und Tod (SW V, 85) In den Liedern von Traum und Tod sind zahlreiche Klagen zu vernehmen. Die Klage scheint das hauptsächliche Anliegen des Zyklus zu sein, der mit seinen 24 Gedichten den Band Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel abschließt.1 Bereits im Titel nimmt der Zyklus in seiner Alliteration beide Unbotmäßigkeiten auf, die zum großen Thema der Klage Anlass geben. Sowohl der Traum als

    31 Ein einziges Phonem unterscheidet die Verben „rauchen“ und „rauschen“. Darin entsteht eine Nähe zwischen dem „brand“ (I) und „getön“ (III), dem Feuer- und Liedmotiv. 1 Zur Forschungslage vgl. GHb I, 156–175, hier 162–167. Für einen knappen Deutungsansatz sei auf das entsprechende Kapitel verwiesen, 168–175. Neuerlich hat sich Wolfgang Braungart mit einem Gedicht aus den Liedern von Traum und Tod befasst. Wolfgang Braungart: „irgendwann, der blumen müd, hast du den sommer zugemacht“. ‚juli-schwermut‘ von Nadja Küchenmeister als Antwort auf Stefan Georges ‚Juli-Schwermut‘. In: GJb 10 (2014/2015), S. 91–106, zu Georges Text vor allem S. 95–101.

    Der Teppich des Lebens · Die Lieder von Traum und Tod 

    

     323

    auch der Tod sind Zumutungen, die der Kontemplation gleichermaßen entzogen sind. Dem bewussten Zugriff unzugänglich und umso herausfordernder, Heimsuchungen für die Lebenden. Man möchte den Titel für eine passend pessimistische Stilfigur auf einem melancholischen Liederzyklus halten, der mit den Fragestellungen von Traum und Tod ringt. Kommen doch seine Gedichte fast ohne substanziellen Beistand aus, jeder tröstliche Gedanke ist zugleich ein verzagter, um den gebangt werden muss, dessen Zuspruch trübe und wund ist. Vor allem, weil er sich der grundsätzlichen Verstrickung in eine Selbstanrede verdankt, die jede tröstliche Gebärde auf dieselbe Quelle zurückbeugt wie den Ausdruck von Zermürbung und Verbrauchtheit. Die klagenden Seelenzustände der Gedichte also, die auf solche Weise zwischen der Artikulation von entzogener Verwurzelung, versiegender Inspiration einerseits und wehmütig beschworenen Topoi lyrischer Blüte andererseits changieren, feiern damit auf paradoxe Weise jene ungreifbare Mitte, an der Überbleibsel ihren Ort haben. Das, was war, ist beklagenswert verloren und soll in seinen Relikten erinnert und bedacht werden. Es handelt sich um eine Rhetorik der Reste: Tag-Gesang III An dem wasser das uns fern klagt Wo die pappel sich lind wiegt Sizt ein vogel der uns gern fragt Der im laube sich dem wind schmiegt. Und der vogel spielt leis auf: Flur und garten sind vom blühn tot Jedes weiss sich schön im kreislauf .. Sieh die gipfel vor dir glühn rot! Nur erinnrung lässt als traumsold Der zu glücklichern seinen zug lenkt Seiner hand entrieselt traumgold Das er früh und nur im flug schenkt. Heb das haupt das sich bang neigt Ob aus tiefen ein gesicht winkt – Und so warte bis mein sang schweigt Und so bleibe bis das licht sinkt. (SW V, 81)

    Das Gedicht Tag-Gesang III setzt gleichsam expositorisch ein. Seine maßgebliche Kulisse ist mit akustischen Eindrücken verbunden – und benennt die Klagestimmung gleich im ersten Vers, das „wasser […] klagt“. Sämtliche Attribute, die die Örtlichkeit der ersten Strophe ausstatten, bringen entsprechende Geräusche mit sich. Es entfaltet sich vor uns ein plätscherndes Gewässer, daneben raschelnde Laubbäume mit

    324 

     Nina Herres

    Vogelstimmen darin, säuselnder Wind ringsherum. Der Eindruck des Näherrückens rührt daher, dass die Stimmen des Wassers von „fern“ klingen, ein sich im Blattwerk duckender Vogel jedoch nur aus der Nähe zu erblicken ist. Mit dieser merkwürdigen Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz hängt auch eine Besonderheit zusammen, die die Motive des Gedichts lautlich aneinander bindet. Es ist dies die doppelte Reim­figur, die sich durch sämtliche Verse zieht. In der ersten Strophe bedeutet das, dass die Kreuzreime „klagt–fragt“ und „wiegt–schmiegt“ von den flankierenden Reimpaaren „fern–gern“ und „lind–wind“ der jeweils vorletzten Worte unterfüttert sind. Da die dergestalt verketteten Reimworte aufgrund semantischer Ähnlichkeit und identischer Silbenzahl austauschbar sind, entsteht der Eindruck einer aleatorischen Anordnung von Klangelementen – und eine fast emblematische Sangbarkeit.2 Zur Exposition in der ersten Strophe gehört auch die Verortung der ersten Person Plural. Ein ‚Wir‘ ist nur dort vorhanden, allerdings in der Form „uns“, zweimal als Objekt der Anrede. Zunächst adressiert von der Klage des Wassers, dann befragt vom Vogel im Baum. Es ist bezeichnend, dass die Sprecherinstanz des Gedichts als Adressat anderer Rede eingeführt wird. Denn die zweite Strophe hebt nun sogleich mit einer Ansprache an. Der fünfte Vers des Gedichts – „Und der vogel spielt leis auf“ – rückt die folgenden drei Verse in eine Figur der mise en abyme. Als Lied im Lied tritt die Botschaft des Vogels auf, die nach dem Doppelpunkt zitiert wird.3 In bemerkenswertem Gegensatz zur ersten Strophe mit ihrer Raumverhaftung steht dabei die Zeitlichkeit im Mittelpunkt. Wir hören von abgelaufener Zeit, Zuspätheit und Memento mori im Abendlicht. Die Blütenlese ist vorbei, es herrscht Leblosigkeit und Abschiedsklage.4 Der siebte Vers – „Jedes weiss sich schön im kreislauf ..“ – lässt dann aufmerken. Vordergründig scheint es tröstlich zu sein, dass der Gedanke an wiederkehrende Jahresläufe den vergänglichen Anblick der aktuellen Blühsaison begleitet. Umso frappanter ist das eigene Wissen darum. Wenn die verwelkten Blüten im Herbst der Dichtung wissen, dass ihr Abschied einem höheren Zweck dient, ist ihr Sterben dann gerechtfertigt? Der Zyklusgedanke, der sich hier aus dem Schnabel des Vogels als mise en abyme zur

    2 Unterdessen stimmen die Wortarten der Reime vor den Endreimen nicht immer überein. Die Verse zwei und vier reimen „wind schmiegt“ auf „lind wiegt“. Damit wird die Alliteration mit „laube“ vermieden, aber (sobald man ein Nomen erwartet) neben der Pappel eine zweite Baumart (Linde) aufgerufen. Hinzu kommt, dass der zweite Vers – wie sonst nur die Verse 5 und 13 – eine Silbe kürzer ist und deshalb ein wenig stockt. 3 Das Verb „aufspielen“ für den einsetzenden Vogelgesang, der dem menschlichen Zuhörer verständlich sein soll, verweist auf die instrumentale Seite seiner Liedhaftigkeit. Neben eine inhaltliche Aussage tritt die konzertante Anordnung harmonischen Spiels. Dass die heitere Leichtigkeit des Verbs „aufspielen“ zudem im Gegensatz zur folgenden Botschaft des Memento mori steht, gehört zu den Dissonanzen des Gedichts. 4 „Flur und garten sind vom blühn tot“ eröffnet währenddessen einen intrikaten Nebensinn. Sind die Beete nur jahreszeitlich mit ihrer Blüte ans Ende gekommen (also totgeblüht), oder trägt eine allzu massive Blüte selbst die Schuld an ihrem Tod? Handelt es sich möglicherweise um eine Blüte zum Tode?

    

    Der Teppich des Lebens · Die Lieder von Traum und Tod 

     325

    poetologischen Trostgebärde aufschwingt, darf in seiner Tragweite nicht unterschätzt werden. Im Garten der Poesie herrscht Todesstille fürchterlich, die einzelnen Blütchen sind aber anmutig aufgereiht, sinnvoll angeordnet und stillgestellt im Versprechen der Wiederkehr.5 Sie befinden sich in einer hübschen Kranzanordnung, emblematisch festgepinnt als Relikte für die Erinnerung.6 Im Winter der Dichtung gilt es sich an den Resten des Sommers zu laben, doch der schicksalhafte Vogel bringt eine nüchterne Deixis: „Sieh die gipfel vor dir glühn rot!“ Dem Versprechen des Neubeginns ist das Abendrot des Todes vorangestellt. Die Sonne sinkt auch für die Angesprochenen, die wir aus der ersten Strophe als erste Person Plural kennen. Und wieder ist die doppelte Reimfügung an einer semantischen Erweiterung beteiligt. Die Verkettung von „blühn–tot“ mit „glühn–rot“ in den Versen sechs und acht sorgt für eine überkreuzte Nähe von „blühn–rot“ und „glühn–tot“. Der Vogel sieht nicht nur in die Ferne, er sieht in die Zukunft.7 Im Raum „vor dir“ liegt das Ende deiner Zeit. Unter diesen Vorgaben wird der Vogel zum eigenen Vorzeichenkundler, er ist ein Augurenkünstler im totgeblühten Garten der Dichtung. Dabei ist auffällig, dass er in der ersten Strophe als fragende Figur eingeführt wird.8 Mit der Zeigegeste auf die Bergeshöhen, hinter denen das Licht sinkt (!), endet das Lied im Lied. Die dritte Strophe befasst sich nun mit den Relikten, die übrig sind von der Begegnung. Es handelt sich um zwei verschiedene Gaben, die der Wahrsagervogel aus seiner Welt zurücklässt. Das Andenken heißt zunächst „[n]ur erinnrung“ und „traumsold“, was eine merkwürdige Apposition darstellt. Sold ist eine militärische Bezeichnung für Bezahlung, eine Form der Entlohnung. Jetzt wird es wirklich interessant. Wenn der „traumsold“ nämlich den Lohn aus einem Traum darstellt (genitivus subiectivus), dann findet jede Begegnung mit dem Vogel in der Sphäre des Traumes

    5 Dass das Versprechen der Wiederkehr als Trostgebärde angesichts des Todes eine christologische Perspektive kennt, sei an dieser Stelle lediglich mitgedacht. Wobei die Parusie der Lyrik möglicherweise gerade in ihrer Grablegung zu suchen wäre. 6 Eine nach-ästhetizistische Erklärung dafür, dass das Attribut der ‚Schönheit‘ jenen abgestorbenen Bestandteilen als Ingredienzien eines Poesiealbums zugewiesen ist, könnte tatsächlich in der Zuordnung, ja Zurechenbarkeit derselben liegen. Dem Inkommensurablen, das sich nicht einspannen oder festhalten lässt (wie die Gaben des Vogels), kommt keine zyklische Geste bei. Und was könnte inkommensurabler sein als Traum und Tod? 7 Zieht man nun noch die Verwandtschaft von ‚Blüte‘, ‚Geblüt‘ und ‚Blut‘ in Betracht, ist der Ausruf des Vogels eine schreckliche Todesdrohung. In der Reihung doppelter Reime erstaunt indessen, dass die notwendigerweise mitgehörte Verbindung „gipfel–wipfel“ vermieden wurde. 8 Es gibt ein weiteres Gedicht Georges, in dem Vögel der Augurenkunst dienen. Die Vogelschau, das letzte Gedicht im Zyklus Algabal, feiert in den wiederkehrenden Schwalben eine triumphale Abgeklärtheit über den Blick in rauschhafte sowie bedrohliche Abgründe der Vergangenheit. Das Versprechen der Wiederkehr, das die Zugvögel einlösen, wird darin gewendet zum erleichterten Blick in die Zukunft nach überstandener Gefahr.

    326 

     Nina Herres

    statt.9 Besteht der „traumsold“ hingegen aus einem Eintrittsgeld für weitere Träume (genitivus obiectivus), so zielt die Begegnung mit dem Augurenvogel überhaupt erst intentional in die Richtung der Traumwelt. Auf gespenstische Weise übermittelt dann das Gedächtnis an die Rede des Vogels gleichsam das Fährgeld für die Überfahrt ins Land der Träume.10 Den klagenden Ring der schön zu Tode geblühten Dichtung zu verlassen, wäre nur über den Eintritt in die unbotmäßige Welt des Traums möglich. Die zweite Gabe aus den Schwingen des Vogels ist „traumgold“, was wiederum eine pekuniäre Bedeutung mitbringt. Das edelmetallene Herabrieseln zur frühen Morgenstunde impliziert zudem eine Inspirationsmetaphorik, die den Augurenvogel als unverfügbaren Boten der Dichtkunst erscheinen lässt. Die Relikte von der Begegnung sind gleichermaßen wertvoll, aber beide auf eine Welt des Traums bezogen. Zum einzigen Mal im Gedicht sind die gedoppelten Reimfiguren identisch und zudem an den Endreim angeschlossen: „traumsold–traumgold“11. Der zehnte Vers bestätigt unseren Verdacht, dass es sich um einen Vogel mit dem Versprechen der Wiederkehr handeln muss. Er ist ein Zugvogel, der mit dem Licht wandert. Er ist damit genauso zyklisch wie die Schönheit der Blütenstauden. Die „glücklichern“ stehen im Moment im Sonnenglanz, doch auch für sie ist der Kreislauf vorgeschrieben. Der gefiederte Botschafter aus dem Reich der träumerischen Inspiration braucht für seine Gaben das erste Licht: „Das er früh und nur im flug schenkt“. Seine goldwerten, eintauschbaren Relikte verteilt er morgens zum Abschied. Die Bescherung offenbart sich erst, wenn der Vogel schon wieder unterwegs und entschwunden ist, sein Gespräch verstummt, seine Todesdrohung ausgesprochen. Dass er selbst ein jahres- und tageszeitlich wiederkehrender Geselle im starren Ablauf schöner Ordnungen ist, steht dabei im Gegensatz zu seinen Gaben aus dem Land der Träume.12 In der vierten Strophe erfolgt die zweite direkte Rede des Gedichts. War in der zweiten Strophe der Gesang des Vogels als Anrede gestaltet, so apostrophieren die Verse 13 bis 16 nun eine zweite Person Singular. „Heb das haupt das sich bang neigt / Ob aus tiefen ein gesicht winkt“ ist zunächst erneut als tröstliche Geste zu verstehen. Der traurig gesenkte Kopf soll nicht länger zu Boden blicken, sondern die Gaben des Vogels schauen. Die Flughöhe des Inspirationsmotivs kontrastiert hier effektvoll mit

    9 Hier sind wir wieder beim Aufrechenbaren. Wird Erinnerung als abzählbares Gut in pekuniärer Wortwahl verstanden, so fällt sie zwangsläufig zurück in eine schöne Ordnung. Die Ordnung des Schönen zu hintergehen hieße dagegen, die Unzurechenbarkeit von Traum und Tod anzuerkennen. 10 George wird später in seinem berühmten Gedicht Das Wort aus dem Neuen Reich die Schwierigkeit, das Inkommensurable von Wundern oder Träumen in Begrifflichkeiten zu fassen, erneut aufnehmen. 11 Es handelt sich um eines der vielen Minimalpaare im Gedicht, einzig die Konsonanten „s“ und „g“ unterscheiden beide Determinativkomposita. 12 Im Gedichtband Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten finden sich zwei Texte, die ebenfalls ein Vogelmotiv mit divinatorischem Anspruch verbinden. Es sind dies Der Herr der Insel im Buch der Hirten- und Preisgedichte und Meine weissen ara haben safrangelbe kronen aus dem Buch der hängenden Gärten.

    

    Der Teppich des Lebens · Die Lieder von Traum und Tod 

     327

    dem Blick in die Tiefe.13 Der Versuch, tief unten „ein gesicht“ zu erspähen, entspricht einer narzisstischen Gebärde. Narziss sieht im Wasserspiegel ein winkendes Gegenüber und verfällt seinem Trugbild, mit den bekannten Folgen für die Kulturgeschichte. Die Aufforderung, die bange Suche nach einem Ebenbild im narzisstischen Spiegel zu beenden, kommt einer Selbstanrede im Gedicht gleich. Wenn nämlich das ängstliche Forschen nach einem stummen Gegenüber einen Ausweg aus der blütenleeren Einsamkeit intendiert, wie könnte ein Angesprochener zugegen sein? Fallen die erste und zweite Person der vierten Strophe also in eins, so dürfen wir die erste Person Plural der ersten Strophe als pluralis majestatis (oder pluralis modestiae) verstehen. Dies wäre durchaus möglich, brächten nicht die abschließenden beiden Verse einen entscheidenden Hinweis. In der trügerischen Wassertiefe gibt es nur stilles Winken zu sehen, oberhalb aber „licht“ und „sang“. Das Lied, das wir vor uns haben, stiftet die Gemeinschaft; die Anredesituation der beiden Schlussverse kippt unentscheidbar vom angesprochenen Gegenüber im Gedicht zum Hörer und Leser seiner Verse. Die Prosopopöie reicht quasi hinüber in eine pastorale Gebärde, die sich in einer Rhetorik der Reste versammelt: „Und so warte bis mein sang schweigt / Und so bleibe bis das licht sinkt.“ Die anaphorische Anordnung macht die Dringlichkeit des Anliegens sinnfällig und hat geradezu psalmodischen Charakter. In der Reimbindung „bang–sang“ und „gesicht–licht“ finden wir semantisch funktionalere Gegensätze als in den Endreimen. Bedenkt man nun noch, dass „singen“ und „sinken“ einander klanglich mindestens ebenso nahestehen wie „schweigen“ und „bleiben“, erhält man einen veritablen Chiasmus für aleatorische Möglichkeiten, beispielsweise: „Und so schweige bis mein licht singt.“14 Die traurige Spätzeitlichkeit der Verse ist darin nicht zu hintergehen, sie bitten inständig um gemeinsames Überdauern. Allerdings kehrt sich die Trostgebärde um, bittet doch der Sprecher um Beistand. Die Anredefigur selbst vergewissert sich eines Adressaten und sucht in der Anwesenheit des Zuhörers ihren Trost.15 Ist der Angesprochene also notwendig für die Zusicherung von Gemeinschaft, für die Vollendung des Liedes, so verspricht der Gesang einen reziproken Beistand zu leisten. Jedes Schlaflied verfolgt eine vergleichbare Konstellation.16 Warten und bleiben, sich versammeln in der Sammlung dessen, was gerade noch übrig ist, gemeinsam aushalten bis zur hereinbrechenden Nacht der verklingenden Töne, mehr Trost ist nicht zu erwarten. Aus dem Land der Träume nicht, und der Tod wartet sowieso. Auf diese

    13 Das Gedicht Möwenflug von Conrad Ferdinand Meyer thematisiert ebenjene Inspirationsfigur von wahrem Vogelflug in der Höhe und verräterischem Abglanz in der Tiefe. 14 Dass „licht“ und „gesicht“ nach ihrem Reimwort „Gedicht“ rufen, sei nur der Vollständigkeit halber angemerkt. 15 Bis in die Wortwahl hinein ähnelt der letzte Vers den biblischen Emmaus-Jüngern: „Bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt.“ (Lk 24, 29) 16 Das alte französische Kinderlied À la claire fontaine hat sogar eine verblüffend ähnliche Anordnung von Motiven (Wasser, Baum, Vogel, Klage, Erinnerung).

    328 

     Nina Herres

    Weise wird das Klagelied zur Trostgebärde, weil es das notwendig Performative seiner gemeinschaftsstiftenden Funktion erkennt. Solange Traum und Tod besungen und vernommen werden können, sind weder Gewinn des einen noch Verlust durch den anderen jemals einsam: Traum und Tod Glanz und ruhm! so erwacht unsre welt Heldengleich bannen wir berg und belt Jung und gross schaut der geist ohne vogt Auf die flur auf die flut die umwogt. Da am weg bricht ein schein fliegt ein bild Und der rausch mit der qual schüttelt wild. Der gebot weint und sinnt beugt sich gern ›Du mir heil du mir ruhm du mir stern‹ Dann der traum höchster stolz steigt empor Er bezwingt kühn den Gott der ihn kor .. Bis ein ruf weit hinab uns verstösst Uns so klein vor dem tod so entblösst! All dies stürmt reisst und schlägt blizt und brennt Eh für uns spät am nacht-firmament Sich vereint schimmernd still licht-kleinod: Glanz und ruhm rausch und qual traum und tod. (SW V, 85)

    Das Gedicht Traum und Tod schließt den Zyklus der Lieder von Traum und Tod und damit den gesamten Band Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel ab. Der synthetisierende Charakter des Gedichts, der Eindruck einer Konklusion möglicherweise, entsteht durch seine Wiederaufnahme der titelgebenden Motive und deren Implikationen, verwoben in einer finalen Formanstrengung. Wenn sich die Lieder von Traum und Tod in einer Rhetorik der Reste versammeln, um durch die Beschwörung von Relikten und Reliquien ihre spätzeitlichen Klagen zu überdauern, so arrangiert ihr letztes Gedicht sämtliche Motive zu einem Sternbild, um die Anliegen des Zyklus im dreifachen Sinne aufzuheben.17

    17 Unter ‚dreifachem Aufheben‘ sei ihr Emporheben, ihre Konservierung und ihre Überwindung zugleich verstanden. Die mythopoetische Sternwerdung kennt seit der klassischen Antike diese Dreiheit und kann daher als paradigmatisches Exempel für Hegels Dialektik gelten, der diese Gedankenfigur entstammt. Die Stellarisierung ist in mythischen Zusammenhängen nämlich nicht nur eine Maßnahme zur unsterblichen Erinnerung an heroisches Personal, sondern dient bisweilen auch der Stillstellung und Strafe, man denke beispielsweise an Ixion.

    

    Der Teppich des Lebens · Die Lieder von Traum und Tod 

     329

    Schon die exclamatio, mit der das Gedicht anhebt, bildet durch ihre anaphorische Wiederholung von „Glanz und ruhm“ im letzten Vers eine Klammer. Anordnung und Abfolge spielen infolge der narrativen Binnenstruktur des Texts eine bedeutende Rolle. Die erste Strophe kann zu Beginn als Bestandsaufnahme gelesen werden: „so erwacht unsre welt“ umfasst den menschlichen Herrschaftsanspruch und bezieht sogleich eine effektvolle Bewegung in die Alliteration ein. Wie Titanen „bannen wir berg und belt“, die Höhen wie die Tiefen. Der vierte Vers schließt nun horizontale Weiten ein, die ebenfalls alliterierte „flur“ und „flut“, wodurch sich der kontinentale Eindruck ozeanisch ergänzt. Besitz- und Machtansprüche des menschlichen Geschlechts streben nach Unendlichkeit, Ausdehnung sowie „Glanz und ruhm!“ Die erste Strophe summiert unter ihrer exclamatio nichts weniger als die Errungenschaften und Abgründe menschlicher Hybris. Der Beginn der zweiten Strophe „Da am weg“ bestätigt – in Verbindung mit dem ersten Wort der dritten Strophe, „Dann“ – den Eindruck eines narrativen Nacheinanders.18 Und so erfolgt nach der Herrschaftsgebärde der ersten Strophe nun die verwirrliche Ernüchterung. Die Verben „brechen“ und „fliegen“ stehen nämlich im Kontrast zu Beherrschbarkeit und Bannung, die Substantive „schein“ und „bild“ deuten auf Lug und Trug hin. Der fünfte Vers spricht insofern von Kränkungen für das herrschsüchtige Menschenvolk, Zumutungen durch das zügellos Unbeherrschbare: Widerfahrnisse wie „rausch“ und „qual“ erschüttern das Gemüt im Innern, die äußerlichen Pfade vor den Füßen sind von unverfügbaren Täuschungen und Gebrechlichkeiten bedroht. Die Reaktion auf derlei Verunsicherung ist eine unverhohlene Demutsgebärde. „Der gebot weint und sinnt beugt sich gern“ verkehrt die Allmachtsgeste des titanischen Übermuts in eine geradezu hypnotische Unterwerfung.19 Die flehentliche Anrufung einer höheren Macht nimmt derweil das heroische „ruhm“-Motiv der ersten Strophe auf und greift zugleich auf das tröstliche „stern“-Sinnbild der vierten Strophe vor: Der Vers „Du mir heil du mir ruhm du mir stern“ hat keine Verbform und gestaltet seine Anredefigur als bloße Zuschreibung im Trikolon.20 Dabei steht das irdische Überleben („heil“) an unwichtigster Stelle, das unsterbliche Verdienst („ruhm“) in mittlerer Rangfolge, das außerweltliche Gestirn („stern“) an buchstäblich

    18 Es ist nicht zu entscheiden, ob das „Da“ am Strophenbeginn eine deiktische Geste oder ein Temporaladverb ‚da, dann, darauf, damals‘ (lat. ‚tum‘) darstellt. Sicher jedoch bildet es mit dem Versbeginn „Du“ eine metrisch-klangliche Klammer für die zweite Strophe. 19 Es ist bemerkenswert, dass sich die vertikale Verortung aus der ersten Strophe wiederholt. Das Hoch-Tief der Ausdehnung von Bergeshöhe zu Meerestiefe entspricht nun dem (nach oben) entfliehenden Truggesicht bzw. der staubhinab geneigten Erniedrigung des vormaligen Gebieters. 20 Neben dem im Enjambement endenden Vers 14 kommt nur noch die Schlussgnome des Gedichts ohne Verb aus. Zuschreibungen ohne Verbform sind auf merkwürdige Weise zeitlos, sie zeigen eine Tendenz zum performativen Epitaph. Es sind Äußerungen, die keinen Widerspruch dulden, weil sie sich in der reinen Zuweisung erschöpfen. Georges Gedicht Du schlank und rein wie eine flamme aus dem Neuen Reich wäre eine Fundgrube für solche Zusammenhänge.

    330 

     Nina Herres

    leitender Position.21 Der Fixstern als richtungweisender Zufluchtspunkt am Himmel impliziert an dieser Stelle die Hoffnung einer kosmischen Aufgehobenheit.22 Wenn die Heldentaten namentlich an den Himmel geschrieben sind, geht die Sehnsucht nach Ewigkeit dem leibhaftigen Dasein voran. Jede Sternwerdung birgt schließlich die Zuversicht, den schalen Erdenrest gegen einen Funken zölestischen Reliquienzaubers einzutauschen. Noch in der Demütigung angesichts von „rausch“ und „qual“ gilt also das Ruhmesstreben. Und die Motive verdichten sich weiter. Die dritte Strophe ergänzt die bekannte vertikale Denkfigur um ein weiteres widerstreitendes Doppel. Diesmal sind es die titelgebenden Motive „traum“ und „tod“, die wiederum durch ihr Vorkommen im Text die Strophe einklammern. Der Traum vollzieht nun die Aufwärtsbewegung, er „steigt empor“, angesichts des Todes geht es „weit hinab“. Erneut haben wir es mit Eroberungs- und Unterdrückungsvokabular zu tun, wieder gibt es Bezwinger und Bezwungene.23 Die erste Person Plural, die wir aus der ersten Strophe kennen, kehrt zurück, mit ihr das narrative Muster einer zeitlichen Abfolge: Nach der Demutsgeste aufgrund inkommensurabler Verunsicherungen in der zweiten Strophe schwingt sich „Dann“ die unbotmäßige Heimsuchung schlechthin, der Traum, zum obersten Herrscher auf. Waren Rausch und Qual Zumutungen infolge ihrer Unverfügbarkeit, so tritt nun der unverfügbarste aller Bewusstseinszustände in die Rolle des Gebieters. „Er bezwingt kühn den Gott der ihn kor ..“ hält die Unterwerfungsspirale des Gedichts weiter in Gang.24 Dies allerdings nur solange, bis die nächsthöhere Instanz ihre Macht zeigt. Und das ist jetzt eine Macht, die von keiner Demutsgebärde zu beeindrucken ist. Der Tod ist die letzte Unbotmäßigkeit, die jede Narration an ihr Ende führt. Die abgrundtiefe Einsamkeit und hilflose Nacktheit, mit denen man ihm begegnet, bringen die zweite exclamatio des Gedichts hervor. Deren effektvolle Parallele wiederum verdient besondere Erwähnung: „Bis ein ruf weit hinab uns verstösst / Uns so klein vor dem tod so entblösst!“

    21 Aufgrund des dreifachen dativus commodi („mir“) handelt es sich zudem um kein bescheidenes Gebet. 22 Dass die Heilsgeschichte des christlichen Abendlandes mit einem Sternlein im Osten ihren Anfang nimmt, sei am Rande mitgedacht. 23 An dieser Stelle wird sinnfällig, dass die Motivpaare jeweils einen positiv besetzten Part mit einem gefährlichen Moment vereinen. Steht der „Glanz“ in der ersten Strophe auf Seiten des Heldenmuts, so leitet der Durst nach „ruhm“ nahtlos zum Abgrund über. In der zweiten Strophe ist „der rausch“ möglicherweise nur in Verbindung „mit der qual“ so schüttelnd bedrohlich, und „der traum“ wird zu Beginn der dritten Strophe noch mit dem Epitheton „höchster stolz“ versehen. Verstoßung und Entblößung bietet erst „ein ruf“ des „tod[es]“. 24 Man könnte sogar an das Rad der Fortuna denken: Der Mensch bezwingt die Natur, verfällt seinen Dämonen, beugt sich einer höheren Macht, erlebt befreiende Erfahrungen der Inspiration und muss sich zuletzt seinem Lebensende fügen. Als Lohn und Auflösung des ganzen Schicksals dient jedoch nicht die Wiederkehr auf den Thron des Herrschers, sondern die Vereinigung aller Widersprüche, das Ende aller Machtkämpfe am tröstlichen Nachthimmel.

    

    Der Teppich des Lebens · Die Lieder von Traum und Tod 

     331

    Das zu Beginn des zwölften Verses wiederholte Personalpronomen verleiht dem Ausruf jene Emphase, die im zweifachen „so“ zu sich kommt.25 Hierzu gehört auch, dass die exclamatio selbst einen „ruf“ zum Anlass hat. Der Ruf des Todes zu finaler Stunde ist die Ursache für den letzten Klageruf des Gedichts. Das unhintergehbare Unterworfensein der unbotmäßigsten aller Endlichkeiten bildet die einzig mögliche Klimax für die Motivlage: Das Gerufenwerden durch den Tod ist ein passiver Zustand, dem keine Demutsgebärde gerecht wird.26 „All dies“ in seine Aufhebung zu versetzen, tritt nun die vierte Strophe an. Eine Ansammlung von fünf Verbformen bündelt die schmerzhafte Narration und sättigt so das Emblem mit jener Notwendigkeit, in der die Nacht hereinbricht  – „stürmt reisst und schlägt blizt und brennt“. In der aufreibenden Dunkelheit widerstreitender Erfahrungen von Herrschsucht und Erniedrigung „vereint“ ein Sternbild sämtliche Motive des Gedichts.27 Der letzte Vers zitiert mit „Glanz und ruhm“ die erste Strophe, in „rausch und qual“ die zweite, mit „traum und tod“ schließlich die dritte Strophe. Durch die Stellarisierung auf eine heroische Ebene gehoben, konserviert die Schlussgnome emblematisch sämtliche Anlässe zur Klage und entrückt sie damit dem irdischen Zugriff. Gesättigt mit Anfechtungen der Vergangenheit, vorausdeutend auf die Zukunft – im Stern ist die Zeit aufgehoben, beseitigt und bewahrt. Er ist ein verlässlicher Punkt im kosmischen Gefüge, den Weg anzeigend, filigran und machtvoll zugleich, außerhalb der Verknotung in irdische Geschicke und doch die Zusammenhänge des Lebens erhellend.28 Zu spätester Stunde, im Schatten der Schwingen von Minervas Eule, fallen Trost und Klage zusammen, sie kollabieren und überblenden in einem glänzenden Himmelsjuwel.29 Die Synästhesie von „schimmernd still“ nimmt die harmonische Intention des Verbs „vereinen“ auf und ergänzt sie um ein alliteriertes Schillern im Attribut.30 Die sich nun gegenseitig aufhebenden Wider-

    25 Zwischen diesem „so klein“ und „Jung und gross“ changiert das existentielle Auf und Ab des Texts. Es ist bezeichnend, dass alles Oszillieren in einem Sternbild zum Stillstand kommen soll. 26 Es wäre zu überlegen, ob in diesem Gedicht nicht auch eine Kulturgeschichte des Bewusstseins thematisiert wird. Nach überbordendem Selbstbewusstsein (erste Strophe) erfolgt die Demütigung angesichts unbeherrschbarer Einflüsse, damit einhergehend die Suche nach transzendentem Beistand und Halt (zweite Strophe). Der ebenso individuellen wie finalen Bedrohung für das Bewusstsein ist jedoch durch keine Entrückung zu entkommen (dritte Strophe), am Ende steht ein Emblem in der dankbar-dreifachen Aufhebung allen Bewusstseins (vierte Strophe). 27 Die narrative Abfolge ist sogar tageszeitlich organisiert, vom morgendlichen Erwachen bis in die späte Nacht. Da sich der Bogen ebenso zwischen „welt“ und „firmament“ spannt, liegt eine geradezu phylogenetische Dimension nahe – der menschliche Weltenlauf in einer Tagesfrist. 28 Die Wendung „für uns“ erinnert an die anthropozentrische Lesart des dativus commodi im achten Vers. 29 Das Wort „kleinod“ findet sich insgesamt siebenmal in Georges Werk, vgl. CVB 324. Am folgenschwersten für die Interpretationsgeschichte ist gewiss das „kleinod“ im Gedicht Das Wort aus dem Neuen Reich. 30 Es ist nicht zu entscheiden, ob es sich um eine adverbiale oder adjektivische Verwendung handelt.

    332 

     Nina Herres

    fahr- und Widerstrebnisse der vergangenen Strophen gelangen zu einem sinnbildlichen Schluss, indem sie das Überkommene, das Abgelaufene und Abgelegte einem harmonischen Trost der konservierenden Auflösung überantworten.31 Dem Beistand dieses Gestirns ist zu vertrauen, es kann weder irren noch sterben. Weil es längst stillgestellt ist, erloschen vor aller Zeit, unvergänglich für die tägliche Nacht des Traums, eingedenk der ewigen Nacht des Todes. Und so enden Die Lieder von Traum und Tod in einem emblematischen Epitaph, das Klage und Trost gleichermaßen an den Himmel schreibt, um sie darin aufzuheben, zu glorifizieren, petrifizieren und perpetuieren.

    31 Die beiden unbotmäßigsten göttlichen Gesellen, Morpheus und sein Onkel Thanatos, geben dem Gedicht seinen Titel. Der Traumgott verleiht zugleich dem Rauschzustand seinen Namen, „Morphium“ kommt von „Morpheus“.

    Der Siebente Ring

    Achim Aurnhammer

    Zeitgedichte

    Die Zeitgedichte eröffnen als erster Binnenzyklus den Siebenten Ring (1907), Stefan Georges siebten Gedichtband. Sie umfassen vierzehn Gedichte, die – von einer Ausnahme abgesehen – sämtlich bereits in der IV. bis VII. Folge der Blätter für die Kunst unter dem gleichen Titel erschienen waren.1 Auch die Reihenfolge der Gedichte im Zyklus weicht nur geringfügig ab von den zwei Gruppen der Zeitgedichte, die unter diesem Rubrum in der VI. und in der VII. Folge der Blätter für die Kunst erstmals veröffentlicht wurden: Folgende Übersicht über die mutmaßliche Entstehung (E) und den Erstdruck (ED) der Zeitgedichte verdeutlicht, wie George später den Zyklus, der bis auf Die tote Stadt Namen historischer Personen und realer Stätten trägt, durch die beiden titelgleichen Zeitgedichte [1] und [2] gerahmt hat. Das Zeitgedicht [1] (E: 1902) Dante und das Zeitgedicht (E: 1902) Goethe-Tag (E: 1899) (Noch ein Goethe-Spruch) Nietzsche (E: nach VIII/1900) Böcklin (E: zw. I/1901 u. IV/1902) Porta Nigra (E: zw. VI/1901 u. IV/1902) Franken (E: zw. IX/1898 u. VIII/1900) Leo XIII (E: zwischen 1901 u. X/1902) Die Gräber in Speier (E: zw. 1901 u. X/1902) Pente Pigadia (E: nach VII/1897) Die Schwestern (E: nach IX/1898) Carl August (E: vor III/1904) Die tote Stadt (E: 1903) Das Zeitgedicht [2] (E: 1902)

    ED: BfdK VI (1903), S. 1  f. ED: BfdK VI (1903), S. 3  f. ED: BfdK V, 5 (1899), S. 131  f. ED: BfdK V (1901), S. 5  f. ED: BfdK VI (1903), S. 5  f. ED: BfdK VI (1903), S. 7  f. ED: BfdK VI (1903), S. 9  f. ED: BfdK VI (1903), S. 11  f. ED: BfdK VI (1903), S. 13  f. ED: BfdK VII (1904), S. 14  f. ED: BfdK VII (1904), S. 16  f. ED: Der Siebente Ring ED: BfdK VII (1904), S. 18  f. ED: BfdK VII (1904), S. 12  f.

    Die vierzehn Gedichte, allesamt zwischen  1897 und 1904 entstanden, lassen sich insofern relativ präzise datieren, als sie großenteils auf bestimmte Anlässe (GoetheJubiläum 1899, Öffnung der Kaisergräber in Speyer 1901) oder auf den Tod bewunderter Zeitgenossen (Clement Harris, 1897, Mallarmé, 1898, Kaiserin Elisabeth, 1898, Nietzsche, 1900, Böcklin, 1901) reagieren.

    1 Nur das Gedicht Carl August war nicht zuvor in den Blättern für die Kunst erschienen. Lediglich der Titel des Gedichts Goethe-Tag weicht vom Erstdruck (BfdK IV, 5, S. 131) ab (Noch ein Goethe-Spruch).

    336 

     Achim Aurnhammer

    Rezeption Die zeitgenössische Rezeption, die Kai Kauffmann zusammengestellt hat,2 würdigte den Siebenten Ring als epochalen Einschnitt im Werk Stefan Georges, der sich damit vom ästhetizistischen zu einem lehrhaften Dichter wandle. Auch Georges Weggefährten sahen in den Zeitgedichten einen Widerspruch zum vorgängigen Werk oder erachteten sie als Ausdruck einer ästhetischen Wende. So betonen die kreisaffinen Rezensionen die Hinwendung zur Zeitkritik, bewerten sie nur vereinzelt zurückhaltend wie etwa Albert Verwey,3 überwiegend aber emphatisch zustimmend wie etwa Friedrich Gundolf: Mit der unzersetzten Leidenschaft (für George viel bezeichnender als alle ihm nachgerühmten Aesthetizismen) dringt er durch das entgötterte und ameisenhafte Wirrsal des Heute, mit hingegebenem Ja und erbarmungslosem Nein, mit einer antikischen Unbedingtheit, und ruft seinen heimlichen Gott, seine Bilder erhöhten Menschenthumes, als Typen und Individuen, aus den Gegensätzen und Möglichkeiten, aus Wirklichkeiten und Wünschen hervor, die Fleischwerdungen jenes Gottes in unserer Luft: die echten Jünglinge und Fürsten, die Helden und Priester, die Treuen und Adligen, und hält die Allerweltsplattheiten und Mißformen gegen die großen Schatten der Geschichte.4

    Siegfried Kawerau hat bemerkt, dass der Dichter in Form von zwei titelgleichen Zeit­ gedichten „seine eigene Person an den Anfang und Schluß dieses Liederkreises“ rücke und dies mit den abschließenden „Worten: ‚Ich euch gewissen!‘“ betone.5

    Forschung In jüngster Zeit hat man sich intensiver mit den Zeitgedichten auseinandergesetzt. So wurden der angebliche Bruch im Werk Georges und die didaktische Neuorientierung sukzessive zu einer modifizierten Kulturkritik abgemildert, die schon die ästhetizistischen Anfänge präge.6 Allerdings blieb die Forschung – mit Ausnahme von Nikolaus

    2 Vgl. GHb I, 175–191, bes. 181–184, u. GHb II, 976–1016, bes. 985–993. 3 Albert Verwey: Stefan George: ‚Der Siebente Ring‘. In: De Beweging 3 (1907) H. 12, S. 377–381, hier S. 377. Zit. nach GHb I, 181. 4 Friedrich Gundolf: Der siebente Ring. In: Die Zukunft 62 (1908), H. 14, S. 164–167, hier S. 165. 5 Siegfried Kawerau: Stefan George und Rainer Maria Rilke. 2. Aufl. Berlin 1928 [Erste Aufl. 1914], S. 8. Der Zusammenhang der beiden Zeitgedichte wird bei Dirk von Petersdorff: Wie viel Freiheit braucht die Dichtung? „Das Zeitgedicht“ im „Siebenten Ring“. In: GJb 5 (2004/2005), S. 45–62, unterkomplex abgehandelt. 6 Ebd., bes. S. 56, u. Jan Andres: Gegenbilder. Stefan Georges poetische Kulturkritik in den ‚Zeitgedichten‘ des ‚Siebenten Rings‘. In: GJb 6 (2006/2007), S. 31–54.

    

    Der Siebente Ring · Zeitgedichte 

     337

    Immer7  – vorrangig inhaltlich und werkbiografisch orientiert.8 Dennoch wird konzediert, dass, insofern ein Rollenwechsel stattfinde, das lyrische Ich untrennbar mit dem Autor-Ich interferiere, sodass von einer Bekenntnislyrik zu sprechen sei.9 Auch hat die Forschung immer wieder den programmatischen Tenor der Zeitgedichte betont und ihn pauschal als Ausdruck einer anti-historistischen oder – im Sinne Nietzsches – ‚monumentalischen‘ Geschichtsauffassung erklärt sowie als ein Ausspielen großer Persönlichkeiten gegen die allgemeine ‚Gestaltlosigkeit‘ der Gegenwart bestimmt (GHb I, 177). Zu allen Gedichten des Zyklus liegen mittlerweile Einzelinterpretationen vor, welche die Zeitbezüge und werkbiografische Bedeutung erhellen. Nicht restlos zu überzeugen vermögen dagegen die Versuche, die „Gegenbilder zur zivilisatorischen Moderne“ zu differenzieren und typologisch zu gruppieren, zumal sie oft zu kleinteilig geraten. So reiche das Spektrum narrativer Verfahren der „Geschichtsdeutung“ in den vierzehn Zeitgedichten nach Gunilla Eschenbach von „(Auto-)Biografik (Das Zeitgedicht, Nietzsche), Typologie (Dante und das Zeitgedicht), Vergleich (Porta Nigra) sowie Rezeptions- und Wirkungsgeschichte (Goethe-Tag, Böcklin)“ in den ersten sechs Gedichten bis zu Poetisierungen „der eigenen Biografie (Franken, Leo  XIII., Carl August) und der jüngeren und jüngsten Zeitgeschichte“ in der zweiten Hälfte der Zeitgedichte.10 Als „Vorbilder-Verdichtung“ charakterisiert Gabriela Wacker die Technik einer Akkumulation musterhafter Personen, denen das übergreifende „Meta-

    7 Nikolaus Immer: Mit singender statt redender Seele: Zur Nietzsche-Rezeption bei Stefan George. In: Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Hg. v. Thomas Valk. Berlin u.  a. 2009 (Klassik und Moderne 11), S. 55–86. 8 Vgl. zur inhaltlichen Auseinandersetzung Ernst Osterkamp: Die Küsse des Dichters: Versuch über ein Motiv im „Siebenten Ring“. In: WuW 69–86 (Osterkamp bemerkt ganz richtig, dass George in den Zeitgedichten auf das Motiv des Kusses verzichtet, S. 75). Zur werkbiografisch orientierten Forschung vgl. Bernhard Böschenstein: Stefan Georges Spätwerk als Antwort auf eine untergehende Welt. In: Ders.: Von Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan. München 2006, S. 120–132 und Michael M. Metzger: In Zeiten der Wirren: Stefan George’s later work. In: JR 99–123. Georges Verhältnis zu seinen Zeitgenossen beleuchten u.  a. Kai Kauffmann: Von Minne und Krieg: Drei Stationen in Rudolf Borchardts Auseinandersetzung mit Stefan George. In: GJb 6 (2006/2007), S. 55–79; Siegfried Kawerau: Stefan George und Rainer Maria Rilke (wie Anm. 5), S. 7–14; Friedhelm Marx: Der Heilige Stefan? Thomas Mann und Stefan George. In: GJb 6 (2006/2007), S. 80–99; Bruno Pieger: Eine Erfahrung mit Dichtung: Hellingrath als Leser des ‚Siebenten Rings‘ und des ‚Sterns‘. In: WuW 335–352, und ­Andreas Thomasberger: Stefan Georges ‚Siebenter Ring‘ als Wegweiser im Rhythmischen? Hofmanns­ thals George-Bezug im Sommer 1912. In: WuW 403–410. 9 Jan Andres nennt die Tote Stadt „das einzige Zeitgedicht […], in dem man nicht den Eindruck haben muß, es spräche George direkt zum Leser“. Ders.: Gegenbilder (wie Anm. 6), S. 49. Doch sind diese autofiktionalen Anteile sicher nicht gleichrangig, sondern etwa in den beiden Zeitgedichten sicher höher als etwa in dem Rollengedicht Porta Nigra. 10 Gunilla Eschenbach: Geschichte und Geschichtlichkeit in Stefan Georges Lyrik. In: Geschichtslyrik. Hg. v. Heinrich Detering u. Peer Trilcke. Göttingen 2013, 2 Bde., hier Bd. 2, S. 859–884, bes. S. 866.

    338 

     Achim Aurnhammer

    vorbild“ eines Dichter-Propheten zugrunde liege.11 Aufschlussreicher als das ‚Was‘ ist vielleicht das ‚Wie‘ der Zeitgedichte, nämlich ihre charakteristischen Argumentations- und Verfahrensweisen. Während ich selbst ihre Faktur aus dem nachträglich ausgeschiedenen, fragmentarisch überlieferten Schmähgedicht auf Bismarck (Der Preusse) im Kontext der damaligen Bismarck-Lyrik kontrastiv rekonstruierte,12 sieht Jan Andres in einem „allegorisch-symbolischen Verfahren“ die Leitidee, „bei dem die bedichteten Personen und Orte für das Gegenbild zur Zeit stehen.“13 Steffen Martus hat in seiner werkbiografischen Lektüre eine „Aufmerksamkeitsjustierung“ als Programm herausgearbeitet, die, wie gerade die Differenzen der beiden titelgleichen Gedichte Das Zeitgedicht zeigen, eine „‚Unterschiedsempfindlichkeit‘ auf der einen, Beziehungssinn auf der anderen Seite“ vermitteln.14

    Forschungsdesiderate Unklar blieb die Integration der Zeitgedichte in den Siebenten Ring.15 So wird ihre „Durchkreuzung autoritärer Hinwendung nach außen mit durchaus ideologieferner Hinwendung nach innen als poetisches Programm“ gesehen, das die Zentrierung des Maximin-Zyklus stärke.16 Zu wenig berücksichtigt wurde bislang der Gattungsbezug. Auch wenn sich das Genre ‚Zeitgedicht‘ typologisch kaum eindeutig bestimmen lässt, so sind (1) Zeitbezug und Aktualität sowie eine (2) persönlich-kritische Haltung zum Gegenwartsgeschehen gewiss die beiden wichtigsten Kriterien.17 Hinzu kommt (3) die in den bisherigen gattungsgeschichtlichen Studien vernachlässigte gemeinschafts-

    11 Gabriela Wacker: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne. Berlin und Boston 2013 (Studien zur deutschen Literatur 201), bes. S. 155  ff. 12 Achim Aurnhammer: „Der Preusse“. Zum Zeitbezug der „Zeitgedichte“ Stefan Georges im Spiegel der Bismarck-Lyrik. In: WuW 173–196. 13 Jan Andres: Gegenbilder (wie Anm. 6), S. 48. 14 Steffen Martus: Stefan Georges Poetik des Endens. Zum ‚Abschluß des VII.  Rings‘. In: GJb  6 (2006/2007), S. 1–30, hier 18 u. 26, vgl. auch ders.: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin, New York 2007, S. 514–527 u. 634–655, hier bes. S. 34– 643. 15 Vgl. hierzu auch GHb I, 189–190. 16 Vgl. Bernhard Böschenstein: Stefan Georges Spätwerk (wie Anm. 8), S. 123. 17 Vgl. Jürgen Wilke: Das „Zeitgedicht“. Seine Herkunft und frühe Ausbildung. Meisenheim  1974, bes. S. 30–40, Die prophetisch-unzeitgemäße Position Stefan Georges. Siehe dazu auch die kritische Rezension von Volker Deubel in: IASL 1 (1976), S. 306–313, der sich gegen Wilkes allzu schematische Zweiteilung des Zeitgedichts in einen „konservativen“ und in einen „progressiven“ Typ wendet. Gattungsgeschichtlich unbefriedigend bleibt auch die Studie von Ulrike Stadler-Altmann: Das Zeitgedicht der Weimarer Republik. Mit einer Quellenbibliographie zur Lyrik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (1900–1933). Hildesheim, Zürich u. New York 2001, da auch ihre weiten Definitionskriterien ‚Zeitbezug‘ bzw. ‚historische Referenzen‘ nicht ausreichen. In einem knappen Exkurs charakterisiert sie

    

    Der Siebente Ring · Zeitgedichte 

     339

    stiftende Funktion. Schon Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Begründer und Namensgeber des Genres in Deutschland, hatte seine Sammlungen von Zeitgedichten nur für ausgewählte Leser, einen Freundeskreis oder eine Gegen-Öffentlichkeit konzipiert.18 Den privaten und persönlichen Charakter der Gattung nimmt George in seinen Zeitgedichten insofern auf, als die Blätter für die Kunst, in denen fast sämtliche Zeitgedichte zuvor erschienen waren, ausdrücklich nur für „einen geschlossenen von den mitgliedern geladenen leserkreis“ gedacht waren.19 Ist der exklusive Charakter somit keineswegs Georges Erfindung, sondern ein Gattungsmerkmal der Zeitgedichte, so nutzt George doch die Abgrenzung noch stärker als die ‚Zeitdichter‘ des 19. Jahrhunderts zur Bildung einer kollektiven Identität seines Dichterkreises. Die gemeinschaftsstiftende Funktion der Zeitgedichte wird allerdings bislang unterschätzt. Sie scheinen mir daher auch nicht in einem Gegensatz zu Maximin zu stehen, dessen Kult im vierten Buch des Siebenten Rings begründet wird. Die Zeitgedichte bilden vielmehr ein ‚Vorspiel‘ zu dem mythopoetischen Zentrum des Bandes, indem sie die Gruppe nicht nur religiös einstimmen, sondern auch weltanschaulich und ethisch zusammenbinden. Vorrangig dieser sozialen Kohäsion und dem Gruppencharisma einer ästhetisch-ethischen Elite dient meines Erachtens der Binnenzyklus: Sorgt der zeitkritische Gegenwartsbezug für eine ‚negative Integration‘, so stiftet die Reihe kontrastiv konturierter Vorbilder eine positive Orientierung. Da Georges Vorbilder nicht so sehr von dem offiziellen Kanon der Wilhelminischen Gesellschaft abweichen – Dante, Goethe, Nietzsche und Kaiserin Sissi gehören zu den Objekten allgemeiner Verehrung –, propagiert George damit eine bestimmte Verehrungspraxis und grenzt sie von dem angeblich falschen Kult der Menge ab. Die Gemeinschaft stiftende Argumentation zeigt sich in den unterschiedlichen Sprecherrollen und Apostrophen, deren Referenzen wechseln und somit an das Differenzierungsvermögen der Leser appellieren, die richtige Verehrung von der falschen desselben Objekts zu unterscheiden. Die metrische, rhetorische und sprachlich-stilistische Faktur der Zeitgedichte trägt maßgeblich zur Abgrenzung nach außen und zum inneren Zusammenhalt bei.

    Georges Zeitgedichte als „poetologische Zeitgedichte“ (ebd., S. 25–27), in denen sich der Dichter „von seiner Zeit ab[wende] und […] seinen poetischen Führungsanspruch [begründe]“ (ebd., S. 26). 18 Dies zeigen die Titel und Untertitel von Gleims diversen Ausgaben von Zeitgedichten: „als Handschrift für Freunde“ (1792), „Seinen Freunden zum Geschenke“ (1799), „Zeitgedichte für wenige Leser“ (1801), „Zeitgedichte für einige Leser“ (1801); vgl. dazu Jürgen Wilke: Das „Zeitgedicht“ (wie Anm. 17), S. 190  ff., der Gleims Versuch, sich mit den Zeitgedichten eine „poetische Enklave in dieser politisch bestimmten Umwelt“ zu schaffen, als „Selbsttäuschung“ abwertet (ebd., S. 194). 19 Vgl. GHb I, 301–364, hier 308. Vgl. dazu auch Karlhans Kluncker: Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges. Frankfurt/M. 1974.

    340 

     Achim Aurnhammer

    Formale Beschreibung: I. Metrische Analyse Die vierzehn Zeitgedichte, die den einleitenden Binnenzyklus des Siebenten Rings bilden, sind metrisch gleich. Sie umfassen jeweils vier Strophen, die aus je acht Blankversen, reimlosen jambischen Fünfhebern bestehen. Die Strophenform lässt sich als ‚antikisierte Stanze‘ charakterisieren: Der romanischen Strophenform entspricht die Verszahl, die Reimlosigkeit alludiert antike Verse. Zudem ist der jambische Gleichklang durch antikisierende Doppelsenkungen und durch den unregelmäßigen Wechsel männlicher und weiblicher Versenden merklich variiert.20 Die männlichen Versenden sind in der Minderzahl, sie machen nur etwa ein Drittel der insgesamt 448 Verse der Zeitgedichte aus. Da die jambischen Zeilen somit mehrheitlich unbetont schließen, sind die Verse, zumal nur recht wenige mit schwebender Betonung oder betonter Senkung einsetzen, metrisch voneinander relativ klar abgegrenzt. Dementsprechend fallen sie auch weitgehend mit syntaktischen Sinneinheiten zusammen. Enjambements sind relativ selten. Die wenigsten männlichen Versschlüsse weisen Franken und Böcklin auf, in den übrigen Zeitgedichten schwankt ihre Zahl von 9 bis 14. Lediglich in Goethe-Tag und Die tote Stadt dominieren die betonten Versschlüsse, durch die längere Satzgefüge bündig wie übergreifend zusammengehalten werden. Wie planvoll George die rhythmischen Qualitäten der Katalexe einsetzt, zeigt paradigmatisch das erste Zeitgedicht (SW VI/VII, 6  f.): Wird die erste Strophe von zwei männlichen Versen gerahmt, ist die zweite Strophe durch drei, die dritte Strophe durch vier betonte Versschlüsse dynamisiert, und in der Schlussstrophe dominiert mit fünf akatalektischen Versen der jambische Ton. So formiert sich sukzessive ein einheitlicher Sprachgestus, welcher der selbstgewissen Prophetie der Schlussstrophe entspricht. Versintern variiert George den jambischen Rhythmus durch Doppelsenkungen. Sie sind insofern ein charakteristisches Merkmal des Zyklus, als sie sich – mit Ausnahme des Gedichts Goethe-Tag und dem zweiten Zeitgedicht – in sämtlichen Zeitgedichten finden.21 Fast alle Doppelsenkungen resultieren aus dem Gebrauch attributiver, flektierter ‚-ig‘-Adjektive wie „giftige flammen“ (SW  VI/VII,  18), die nicht synkopiert sind. Da solche Wortkombinationen sich vorzugsweise an den Versenden finden, ergibt sich mehrfach ein Adoneus als Ausklang: „blutigen träumen“ (SW VI/ VII, 6), „blutigen krone“ (SW VI/VII, 12), „eisige felsen“ (SW VI/VII, 13), „blumigem anger“ (SW VI/VII, 14), „heilige bilder“ (SW VI/VII, 16), „ewigen burg“ (SW VI/VII, 20), „einziger retter“ (ebd.), „tausendköpfigen menge“ (SW VI/VII, 21), „künftige ämter“ (SW VI/VII, 24), „Unseligen streifte“ (SW VI/VII, 26), „heiligen lilien“ (ebd.), „grausigem lager“ (SW  VI/VII,  28), „ergiebigem drang“ (ebd.). Da die Versenden sonst

    20 Vgl. Achim Aurnhammer: „Der Preusse“ (wie Anm. 12), S. 187  f. 21 Die Zahl solcher Doppelsenkungen schwankt zwischen eins und drei, in dem Gedicht auf Leo XIII sind es sogar fünf Doppelsenkungen.

    

    Der Siebente Ring · Zeitgedichte 

     341

    fast ausnahmslos jambisch korrekt reguliert sind, fallen die vierzehn adonischen Versschlüsse merklich aus dem metrischen Rahmen. Bedenkt man die Ätiologie des Adoneus, der auch als Bacchus-Epitheton belegt ist, so ließe sich dessen Gebrauch in den Zeitgedichten möglicherweise als antikisierende Dionysos-Reminiszenz verstehen. Überzeugender dürfte aber wohl die Analogie zum Hexameter-Schluss sein, nämlich dessen Bedingung, den fünften Versfuß stets als Daktylus zu gestalten. In jedem Fall wird durch die antikischen Versschlüsse die klassische Antike als präsente Bezugszeit und Traumwelt des George-Kreises in die Gegenwart eingeblendet. Neben den Doppelsenkungen, die gelegentlich auch im Versinnern begegnen, variiert George den jambischen Rhythmus nur an wenigen Stellen, und dann fast immer am Versbeginn. Dadurch markieren die relativ wenigen Tonbeugungen und schwebenden Betonungen oft einen differenten Modus, der durch Inversion, die Anfangsstellung akzentuierter Adverbien, zusätzlich hervorgehoben ist, wie etwa: „Leicht alle schönheit kraft und grösse steigt“ (SW  VI/VII,  7), „Mitleidig nach mir sah“ (SW VI/VII, 8) oder „Blöd trabt die Menge drunten“ (SW VI/VII, 12). Um solche Oppositionen hervorzuheben, setzt George auch Adversativadverbien in Anfangspositionen ein, die für eine schwebende Betonung sorgen: „Doch als ich drauf der welt entfloh“ (SW VI/VII, 9), „Doch ahnt ihr nicht“ (SW VI/VII, 11), „Doch war nicht“ (SW VI/VII, 27) „Doch strenge antwort kommt“ (SW VI/VII, 31), „Doch das gewölk das höher schwebte ahnte“ (SW VI/VII, 32). Zudem sind Tonbeugungen an Versanfängen häufig durch raumzeitliche Deiktika („Hier“ und „Jetzt“) sowie durch Temporaladverbien und Temporalkonjunktionen motiviert. Sie intensivieren einerseits die Opposition von Gegenwart und Vergangenheit, vergewissern aber andererseits die Fortdauer und Kopräsenz einer positiven Tradition in der Gegenwart: „Nun da schon einige arkadisch säuseln“ (SW VI/VII, 6), „Jezt käme“ (SW VI/VII, 10), „Nie einer rast und eines baues froh“ (SW VI/VII, 12), „Da lud von Westen märchenruf“ (SW VI/VII, 18), „Da schirmten held und sänger das Geheimnis“ (SW VI/VII, 18), „Heut da sich schranzen auf den thronen brüsten“ (SW VI/VII, 20), „Schon gellte schrei · schon beizte rauch die augen“ (SW VI/VII, 26), „Dann spannte dich die pflicht“ (SW VI/VII, 28). Eine ähnliche Funktion, nämlich die Verdeutlichung räumlicher Oppositionen oder die Vergewisserung lokaler Identität leisten die Ortsadverbien, die in ihrer Anfangsstellung als betonte Senkung oder durch schwebende Betonung hervorgehoben werden: „Wo mir das heil erschien“ (SW VI/VII, 8), „Hier sandte er auf flaches mittelland“ (SW VI/ VII,  12), „Dort ist kein weg mehr über eisige felsen“ (SW  VI/VII,  13), „Hier zog die Mosel zwischen heitren villen ..“ (SW VI/VII, 16), „Dort aus dem abgrund züngelnd giftige flammen · / Hier die gemiednen gaue“ (SW VI/VII, 18), „Hier schätze wie ihr nie sie saht“ (SW VI/VII, 30).

    342 

     Achim Aurnhammer

    Formale Beschreibung: II. Sprecher-Instanz und Apostrophen Charakteristisch für Georges Zeitgedichte sind die dezidierten Ich-Aussagen und Apostrophen. Nicht zu verkennen ist die große Affinität des lyrischen Ichs zum Autor-Ich, eine Nähe, wie sie nicht nur für den späten George, sondern auch für das Genre ‚Zeitgedicht‘ durchaus typisch ist.22 Augenfällig ist der autofiktionale Gestus in den beiden rahmenden Zeitgedichten. Er ist gekoppelt mit einer Ihr-Anrede, deren Adressat im Zyklus zwar keineswegs gleich bleibt, in den beiden Zeitgedichten aber eine Gruppe meint, von der sich das Ich abgrenzt beziehungsweise ausgegrenzt wird. Indem es der Gruppe aus autofiktionaler Perspektive falsches Handeln in der Vergangenheit vorhält, konstruiert das SprecherIch eine kollektive Alterität, die zugleich der eigenen Profilierung dient. So rekapituliert Georges erstes Zeitgedicht (SW VI/VII, 6  f.) diverse Fremdperspektiven „[s]einer zeit genossen“, die in ihm zunächst den dekadenten Ästheten sahen („Da galt ich für den salbentrunknen prinzen“), dann den verführerischen Kreisdichter („Der pfeifer zog euch dann zum wunderberge“) und schließlich den militanten Lehrdichter („Nun […] greift er die fanfare“).23 Alle diese Sichtweisen werden als oberflächlich und falsch entlarvt („ihr fehltet“), um dem vermeintlichen Wandel die unveränderte Identität entgegenzustellen: „Ihr sehet wechsel · doch ich tat das gleiche.“ Hier wird das Stigma des Außenseiters als Verkennung eines Charismas inszeniert. Im zweiten Zeitgedicht (SW VI/VII, 32  f.) inszeniert sich das autofiktionale Ich als charismatischer Seher, indem er im Stile eines Bußpropheten ein auf Abwegen verirrtes Kollektiv zur Umkehr auffordert: „Ich euch gewissen · ich euch stimme“. Doch wird auch hier vorrangig das angebliche Fehlhandeln der Gruppe beschrieben. Als kritisches Korrektiv und visionäre Instanz artikuliert sich das Sprecher-Ich nur jeweils am Anfang der ersten und vierten Strophe, auch wenn es sich der mit ‚Ihr‘ angeredeten Gruppe in den beiden rahmenden Strophen im einvernehmlichen ‚Wir‘ annähert. Umschrieben werden diverse Formen der Weltfluchten („Wie flüchten wir aus dem

    22 Vgl. Jürgen Wilke: Das „Zeitgedicht“ (wie Anm. 17), S. 89–93; Jürgen Wertheimer: Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen. München 1978 (Münchner Germanistische Beiträge 25), S. 105–133, der vor allem die Rhetorik und die appellative Funktion der Zeitgedichte betont, und Dirk von Petersdorff: Wie viel Freiheit braucht die Dichtung? (wie Anm. 5), S. 45–62. Darauf geht auch Gunilla Eschenbach: Geschichte und Geschichtlichkeit in Stefan Georges Lyrik (wie Anm. 10), S. 866, ein: „Bemerkenswert ist, dass sich die Positionen des Sprecher-Ichs und des Autor-Ichs teil­ weise bis zur Identität annähern. […] Anders als in den frühen Gedichten […] zeigt sich in den Zeit­ gedichten das Sprecher-Ich in der Regel als Autor-Ich. Der (geschichtliche) Gegenstand der Gedichte liegt oft außerhalb des Erlebnishorizonts dieses Autor-Ichs – eine Konstellation, die Simmel das ‚inkohärente Hineinragen einer Welt, die die seine nicht ist und nicht werden kann‘, nennt.“ 23 Vgl. auch Dirk von Petersdorff: Wie viel Freiheit braucht die Dichtung? (wie Anm. 5), S. 45–62, und Jürgen Wilke: Das „Zeitgedicht (wie Anm. 17), hier S. 34–36.

    

    Der Siebente Ring · Zeitgedichte 

     343

    verwesten ball?“), die megalomane und dekadente Gegenwelten umfassen. Ihnen entgegen stellt das lyrische Ich eine blühende Zukunft, deren Gewissheit in der trostlosen Gegenwart es aus dem intuitiven ‚Nachfolgehandeln‘ „der könige aus stein“ bezieht, integriert aber in dieses Arkanwissen im ‚Wir‘ die Gruppe. Die beiden übrigen autofiktionalen Zeitgedichte, Franken und Carl August, bieten Rückblicke auf das eigene Leben: So rekapituliert George zum einen seine poetische Konversion in Paris durch Auguste Villiers de l’Isle-Adam, Paul Verlaine und Stephane Mallarmé, zum andern die unbedingte Freundschaft mit Carl August Klein. Beide autofiktionalen Gedichte beschränken sich aber nicht auf die Retrospektion, sondern schöpfen aus ihr Trost und Hoffnung für die Zukunft. Das Muster prophetischer Rede bestimmt auch die übrigen Zeitgedichte: ­Illustriert und verbürgt wird das Wechselspiel von Stigmatisierung und Charismatisierung anhand zahlreicher historischer Figuren des 19. Jahrhunderts, mit Ausgriffen auf Antike (Porta Nigra), Mittelalter (Dante und das Zeitgedicht, Die Gräber von Speier) und Klassik (Goethe-Tag), die jeweils imaginäre Wiedergänger mit der Gegenwart konfrontieren. Da Stigma, als soziales wie religiöses Außenseitertum gefasst, eine Fremdzuschreibung darstellt, die auf dem sozialen Wertesystem eines Großkollektivs beruht, kann es in Form einer Selbstzuschreibung oder auch aus der Sicht einer sozia­ len Minderheit charismatisiert werden.24 George präsentiert aber nur einen einzigen stigmatisierten Helden in Gestalt des fiktiven römischen Strichjungen Manlius. Das bestimmende Personal der Zeitgedichte sind unlängst verstorbene kontroverse Gestalten wie Friedrich Nietzsche (1900), Papst Leo XIII. (1903), Arnold Böcklin (1901) oder die bayerischen Prinzessinnen Elisabeth (‚Sissi‘) (1898) und Sophie (1897). Die dritte Gruppe bilden ‚private Helden‘ aus dem näheren und nächsten Umkreis Georges wie die französischen Dichter Villiers de l’Isle-Adam (1889), Paul Verlaine (1896) und Stephane Mallarmé (1898), der im griechischen Befreiungskrieg gefallene Dichterkomponist Clement Harris (1897) sowie die beim Erscheinen des Siebenten Rings lebenden Weggefährten Alfred Schuler, Widmungsempfänger des Porta Nigra-Gedichts, und Carl August Klein. Die prominenten charismatischen Vorbilder neben den römischen Kaisern des Mittelalters, Dante und Goethe, die vierte Gruppe, werden insofern von George und seiner ästhetischen Elite vereinnahmt, als sie restigmatisiert werden und – im Falle Goethes – ihr öffentlicher Kult in doppelter Hinsicht abgewertet wird: Einerseits wird die reduktionistische Werkkenntnis der „festesmenge“ (SW VI/VII, 10) angeprangert, andererseits wird die falsche Verehrung überlebter Werkteile und die Unwissenheit des überzeitlichen Reichtums diskreditiert.

    24 Vgl. hierzu neben den theoretischen Ausführungen zur ‚Selbst-Stigmatisierung‘ von Wolfgang Lipp: Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten. Würzburg 2010, die Ausführungen von Gabriela Wacker: Poetik des Prophetischen (wie Anm. 11), S. 80–94, und Erik Jentges: Charisma bei Max Weber und Norbert Elias. In: Norbert Elias: Gruppencharisma und Gruppenschande. Hg. v. E. J. Mit einer biographischen Skizze von Hermann Korte. Marbach 2014 (Aus dem Archiv 7), S. 49–72.

    344 

     Achim Aurnhammer

    Aus diesen vier Figurationen der Zeitgedichte erklären sich die diversen Sprechmodi. Die Zeitgedichte, die meist prominenten Vorbildern gelten, vermeiden die direkte Anrede: Dante und das Zeitgedicht (SW  VI/VII,  8  f.) ist als Rollengedicht gestaltet, in dem Dante von seinem Dichterberuf und Dichterleid spricht, bevor er als italienischer Nationaldichter gefeiert wurde.25 Das Rollen-Ich gleicht jedoch dem autofiktionalen Ich des ersten Zeitgedichts (SW VI, VII, 6  f.) im zeitkritischen Tenor wie in der Instrumentenmetaphorik, die das öffentliche Verkennen der Kunst illustriert: Wie George dartut, dass sein Griff nach der „fanfare“, mit der er „schmetternd […] wieder ins gedräng“ führe, von „greise[n] […] als mannheit schielend [ge]lob[t]“ wird, so bekundet Dante in einer Art Inversion das allgemeine Unverständnis, das sein Paradiso erregte: Doch als ich drauf der welt entfloh · die auen Der Seligen sah · den chor der engel hörte Und solches gab: da zieh man meine harfe Geschwächten knab- und greisentons .. o toren! (SW VI/VII, 9)

    Im Goethe-Tag spricht ein ‚Wir‘ der allgemeinen Goethe-Verehrermenge, die in der zweiten Gedichthälfte mit ‚Ihr‘ apostrophiert wird, das rechte Verständnis des Geehrten ab und begegnet dem lauten offiziellen Dichter-Kult mit Schweigen: „Heute / Da alles rufen will schweigt unser gruss“ (SW VI/VII, 10).26 Goethe, der im Gedicht ungenannt bleibt, wird nicht angeredet, das Missverhältnis des Dichters zum Kult wird aber in der kontrafaktischen Spekulation einer resonanzlosen Wiederkehr Goethes entworfen: Wenn er als ein noch schönerer im leben Jezt käme – wer dann ehrte ihn? er ginge Ein könig ungekannt an euch vorbei.

    Auch Nietzsche (SW VI/VII, 12  f.) dient der negativen Integration einer Gruppe: Vor dem deiktisch vergegenwärtigten Haus des zu einem neuen Zeus stilisierten Philosophen („Donnerer […] der einzig war“) in Weimar („diese mauer“, „Hier“,) wird dem eigenen Freundeskreis, präsent nur im Imperativ („scheucht“), kontrastiv die unverständige

    25 Vgl. auch Eva Hölter: „Der Dichter der Hölle und des Exils“: Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption. Würzburg u.  a. 2002, S. 130–148, bes. S. 140–142. 26 Vgl. hierzu auch Wolfgang Leppmann: Um der letzten Strophe willen: Stefan George: Goethe-Tag. In: 1400 deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Bd. 5: Von Theodor Fontane bis Else Lasker-Schüler. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt/M. 2002, S. 429–433, und zu Georges Auswahl der Goethe-Gedichte Bernhard Böschenstein: Die Prinzipien von Georges und Wolfskehls Kanonisierung Goethescher Gedichte. In: Spuren, Signaturen, Spiegelungen. Hg. v. Bernhard Beutler u. Anke Bosse. Köln u.  a. 2000, S. 333–342.

    

    Der Siebente Ring · Zeitgedichte 

     345

    „menge“ gegenübergestellt.27 Aus dieser Opposition resultiert die Du-Apostrophe des kultisch Verehrten als Vorbild des Kreises. Der blasphemische Vergleich seiner überzeitlichen Erscheinung mit Christus, der in einem dionysischen Adoneus ausklingt („führer mit der blutigen krone“), und die entsprechende Antonomasie „Erlöser du!“ spielen auf Nietzsches Antichrist an. Ob der Schluss, der einem ungenannten Kritiker Nietzsches in den Mund gelegt ist, tatsächlich die angeblich prätendierte Überwindung Nietzsches durch George darstellt,28 ist allerdings fraglich. Der Schluss ist ein abgewandeltes Zitat aus Nietzsches Selbstkritik: „Sie hätte singen sollen diese ‚neue Seele‘  – und nicht reden!“29 Daher scheint sie mir vielmehr eine Warnung an die Mitglieder des Kreises, Nietzsches „schmerz der einsamkeit“ zu überwinden und, was diesem fehlte, „Sich bannen in den kreis den liebe schliesst ..“. Schwach konturiert bleibt das kollektive Sprecher-Wir auch in Böcklin (SW VI/ VII, 14  f.). Das Lob des Malers im italienischen Exil entspringt erneut aus dem Gegensatz zu zeitgenössischen Ehrenbekundungen, „gnaden die entehren“, um den Geehrten im vertrauten ‚Du‘ zu apostrophieren. Die Verehrergemeinde um George setzt sich im Schluss in eine Art Genealogie zu Böcklin: „Du nur verwehrtest dass uns (dank dir Wächter!) / In kalter zeit das heilige feuer losch.“ Porta Nigra (SW  VI/VII,  16  f.), ein Rollengedicht, das George seinem früheren Weggefährten Alfred Schuler gewidmet hat, ist einem römischen Lustknaben in den Mund gelegt.30 Das Rollen-Ich verachtet aus der Perspektive antiker Größe die blutleere moderne Gegenwart: „Wir schatten atmen kräftiger! lebendige / Gespenster“). Erst am Ende wird durch eine Inquit-Passage die Rollenrede distanziert. Das kollektive ‚Wir‘ bleibt zwar im autofiktionalen Gedicht Franken im allgemein gehaltenen

    27 Vgl. auch die Einzelinterpretationen von Wolfgang Braungart: Georges Nietzsche. In: JbFDH 2004, S. 234–258, besonders S. 249–254, Nikolas Immer: Mit singender statt redender Seele (wie Anm. 7), hier S. 60–69, Maurizio Pirro: Anmerkungen zum Nietzsche-Bild im George-Kreis. In: Nietzsche nach dem ersten Weltkrieg. Bd. 1 Hg. v. Sandro Barbera. Pisa 2007 (Nietzscheana 9), S. 7–36, hier S. 22–24, und Ritchie Robertson: George, Nietzsche, and Nazism. In: JR 189–205, hier S. 192  f. 28 Vgl. TK  296. Differenzierter dazu Gabriela Wacker: Poetik des Prophetischen (wie Anm. 11), bes. S. 158–160. Sie erkennt insofern eine „Vorbilder-Verdichtung“ in dem Zeitgedicht Nietzsche, als der darin Besungene neben Zeus und Christus auch auf Dionysos (die Metapher der singenden Seele) bezogen würde. 29 Vgl. dritter Abschnitt von Friedrich Nietzsches Versuch einer Selbstkritik (Vorrede zur Neuauflage der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, 1886), Ders.: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd 1. Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen. München 1999, S. 15. 30 Vgl. hierzu auch den Kurzessay von Durs Grünbein: Der hämmernde Prosarhythmus der Geschichte selbst. In: FAZ, 27. 12. 2007, und die Einzelinterpretationen von Gert Mattenklott: „Die Griechen sind zu gut zum schnuppern, schmecken und beschwatzen“: Die Antike bei George und in seinem Kreis. In: Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert. Hg. v. Bernd Seidensticker u. Martin Vöhler. Stuttgart u.  a. 2001, S. 234–248, hier S. 241  f., und Peter Horst Neumann: „Von diesen Städten wird bleiben der Wind“: Stefan George und Bertolt Brecht. In: Erlesene Wirklichkeit. Hg. v. dems. Aachen 2005, S. 43–58, hier S. 54–56.

    346 

     Achim Aurnhammer

    Eingang der Schlussstrophe recht blass, aber dafür apostrophiert das lyrische Ich französische Dichterfreunde: „So dank ich freunde euch die dort [Paris] noch singen“ (SW  VI/VII,  19) und variiert somit den Kreisgedanken. In Leo  XIII wird respektvoll in der dritten Person (‚er‘) ein Dichterpapst gewürdigt, bevor im einvernehmlichen ‚Wir‘ ein Akt der Vergemeinschaftung beschrieben wird, in dem sogar die sonst immer beschworene Distanz der ästhetischen Elite zur Menge aufgehoben ist:31 So sinken wir als gläubige zu boden Verschmolzen mit der tausendköpfigen menge Die schön wird wenn das wunder sie ergreift. (SW VI/VII, 21)

    In Die Gräber in Speier (SW VI/VII, 22  f.) wird die archäologisch motivierte Öffnung der Kaisergräber im Speyerer Dom angeprangert. Hier ist das lyrische Wir von Anfang an präsent als Kultgemeinde, welche die „leichenschändung“ der in der zweiten Person Plural geschmähten Zeitgenossen „entsühnen“ zu müssen glaubt. Und die Revue der heraufbeschworenen toten Kaiser, ergänzt durch den imaginär kooptierten Kaiser Friedrich  II., stellt eine Wahl-Genealogie dar, die für eine elitäre Ahnenprobe des Kreises sorgt. In Pente Pigadia (SW VI/VI, 24  f.) ist es die gemeinsame Trauer um den im griechisch-türkischen Krieg gefallenen Freund Clement Harris, die als gemeinsame Verehrung im ‚Wir‘ die Gruppe verbindet („Wir preisen ihn“) und überdies eine Verheißung verbürgt. In Die Schwestern (SW VI/VII, 26  f.) artikuliert sich kein lyrisches Ich oder Wir – die beiden Prinzessinnen werden weder angesprochen noch explizit auf den Kreis bezogen, sondern stehen als (Vor-)Bilder wahren Adels für sich. Dagegen ist der autofiktionale Bezug in Carl August (SW VI/VII, 28  f.) wesentlich. Rekapituliert wird eine Jugendfreundschaft, die trotz unterschiedlicher Lebenswege fortdauert und als Muster „unverbrochne[r] treue“ implizit auch den anderen Freunden vorgehalten wird. Die tote Stadt (SW VI/VII, 30  f.) variiert die prägende Opposition von Menge und Elite in Gestalt einer vertikalen Opposition von einer alten „stille[n] veste“ auf dem Berg und einer modernen gleichförmig gebauten Stadt mit „neue[m] hafen“32. Dem Bericht der zwei einleitenden Strophen schließen sich zwei Strophen mit wörtlicher Rede an: Als eine Gesandtschaft der neuen Stadt die „mutterstadt“ um Hilfe bittet, wird diese in der Schlussstrophe verweigert: „Nur sieben sind gerettet“. 31 Vgl. auch Günter Baumann: „– beinah beten“: Säkularisierung und Resakralisierung im GeorgeKreis. In: Säkularisierung und Resakralisierung. Hg. v. Richard Faber. Würzburg 2001, S. 99–116, hier S. 103  f. 32 Vgl. auch die Einzelinterpretationen von Peter Horst Neumann: „Von diesen Städten wird bleiben der Wind“ (wie Anm. 30), hier S. 52–54; Dominik Jost: Im Überflusse siech (wie Anm. 26), S. 407–410, hier S. 409  f.; Dietrich Krusche: Zeigen im Text: Anschauliche Orientierung in literarischen Modellen von Welt. Würzburg 2001, S. 141–144, Zeitschichtung als Wertehierarchie, und Ulrich Kinzel: Das Gericht der Zeit: Stefan Georges „Die tote Stadt“. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 41 (2008), 4, S. 219–226.

    Der Siebente Ring · Zeitgedichte 

    

     347

    Das zweite autofiktionale Zeitgedicht (SW VI/VII, 32  f.) bestimmt wieder die Ich-IhrAnrede: Sie ist die kommunikative Grundsituation des gesamten Zyklus und bestimmt die Abgrenzungs- wie Vergemeinschaftungsstrategien der Zeitgedichte.33 Zum einen grenzt sich das Sprecher-Ich ab von der viermal genannten „Menge“ der Viel-zu-Vielen („Schon eure zahl ist frevel“, SW VI/VII, 31), zum anderen aber auch von Georges „zeit genossen“ (SW VI/VII, 6), einer zweiten, eingeschränkten Öffentlichkeit, die mit dem Dichter manches gemein hat. Diese Gruppe bleibt relativ unbestimmt und schließt wohl frühere oder temporäre Weggefährten wie etwa Hugo von Hofmannsthal, Alfred Schuler oder Rudolf Pannwitz ein. Während in den Rollengedichten (Dante und das Zeitgedicht, Porta Nigra) ebenfalls die Abgrenzungsstrategien der Gegenwartskritik begegnen – finden sich dort nicht die Vergemeinschaftungsangebote, die das Sprechen im einvernehmlichen ‚Wir‘ charakterisieren. Neben der negativen Integration durch Alteritätsbestimmungen inszenieren die Zeitgedichte die gemeinsame Verehrung von Vorbildern als Gruppencharisma. Für die Kohäsion der ethisch-ästhetischen Elite sind weniger die Vorbilder selbst als vielmehr der Habitus der Ehrung entscheidend, wie paradigmatisch der Goethe-Tag (SW VI/ VII,  10  f.) zeigt: Im Unterschied zur offiziellen lauten Feier des Dichterjubiläums ehren George und sein Kreis Goethe schweigend, nichtöffentlich und mit religiösem Respekt („ehrfurcht“). Dass die kultische Verehrung der Vergemeinschaftung dient, erhellt nicht nur aus dem Kontrast zum schnöden Gedenken der Menge, sondern auch sprachlich, indem George das Personalpronomen der ersten Person Plural ‚unser‘ mit Singular- statt Pluralformen („der ehrfurcht blick“ bzw. „unser gruss“) kombiniert: Wir kamen vor sein stilles haus · wir sandten Der ehrfurcht blick hinauf und schieden. Heute Da alles rufen will schweigt unser gruss.

    Auch die Vergemeinschaftung im religiösen Kniefall beim Ostersegen des Papstes gilt nicht so sehr der katholischen Kirche als vielmehr dem Einsgefühl, in dem sogar die Differenz zur „tausendköpfigen menge“ (SW VI/VII, 21) aufgehoben ist. In den Zeitgedichten konstruiert George die kollektive Identität einer ästhetischen Elite, indem er sie im einvernehmlichen ‚Wir‘ von diversen kollektiven Alteritäten abgrenzt, an Vorbildern orientiert und die kultische Vergemeinschaftung als Aufhebung von Einsamkeit poetisch verbürgt. So enden einige Gedichte mit einer als Frühling verbildlichten Zukunftsvision.

    33 Vgl. auch die Einzelinterpretation von Jürgen Wilke: Das „Zeitgedicht“. Seine Herkunft und frühe Ausbildung (wie Anm. 17), hier S. 36  f.

    348 

     Achim Aurnhammer

    Formale Beschreibung: III. Zyklik Durch eine rekurrente Lexik ist der Zusammenhang der Einzelgedichte im Zyklus deutlich betont: Zu den Zentralworten zählen, Komposita und Derivate mitgerechnet, etwa folgende Substantive, jeweils mit den eingeklammerten Zahlen der Belege: ‚Zeit‘ (11), ‚Liebe‘ (9), ‚Sang‘ (‚singen‘) (9), ‚Schönheit‘ (‚schön‘) (8), ‚Blut‘ (6), ‚Qual‘ (6), ‚Leid‘ (6), ‚Jugend‘ (5), ‚Lied‘ (4), ‚Schrei‘ (4). In den Belegen deuten sich zwei Leitthemen des Zyklus an: zum einen der Zeitbezug, zum andern die Dichtung. Gerade die strukturell dominante Bedeutung der Sprachkunst in Form von ‚Lied‘, ‚Gesang‘, ‚Dichter‘ bestimmt die Zyklik, zumal es ja auch inhaltlich vorrangig um Dichter (Goethe, Dante, Nietzsche, Villiers, Verlaine, Mallarmé, Leo XIII., Clement Harris) geht. Hinzu kommen zahlreiche weitere ästhetische Kategorien wie ‚schön‘ oder ‚Traum‘, ganz zu schweigen von den vielen musikalischen Begriffen wie ‚Ton‘ oder ‚Takt‘ oder den vielfältigen stimmlichen Äußerungsformen wie ‚singen‘, ‚schreien‘, ‚klagen‘, ‚flüstern‘ und ‚bellen‘. Sie repräsentieren ebenso unterschiedliche poetische Sprechweisen wie die iterative Instrumentensymbolik („fanfare“, „posaune“, „flöte“, „meine harfe“, „Trompetenstoss“, „tuben“). In den Zeitgedichten geht Kunst oft mit Leid einher, wie die Rekurrenz der Nomina ‚Qual‘, ‚Leid‘ und ‚Schmerz‘ bekundet. Darin deutet sich an, dass hier eine Kunst propagiert wird, die dem Leid abgerungen und existentiell gedeckt ist. Der starke Zeitbezug der Zeitgedichte, der ebenfalls zur zyklischen Geschlossenheit beiträgt, zeigt sich in der häufigen Verwendung von raumzeitlichen Deiktika (‚hier‘ 6x und ‚dort‘ 3x) sowie von Demonstrativpronomina.34 Einige Gedichte stehen auch in einem dialogischen Zusammenhang: Offensichtlich korrespondiert das zweite Zeitgedicht mit dem ersten, aber auch inhaltlich finden sich mehrere intertextuelle Bezüge.35 So wird der Vorwurf an die engere Öffentlichkeit, sie habe Georges Werk missverstanden, in der Schmähung der größeren Öffentlichkeit im Goethe-Tag wieder aufgegriffen: Von einer ganzen jugend rauhen werken Ihr rietet nichts von qualen durch den sturm Nach höchstem first · von fährlich blutigen träumen. (SW VI/VII, 6) Was wisst ihr von dem reichen traum und sange Die ihr bestaunet! schon im kinde leiden Das an dem wall geht · sich zum brunnen bückt · Im jüngling qual und unrast · qual im manne Und wehmut die er hinter lächeln barg. (SW VI/VII, 10)

    34 Dietrich Krusche untersucht in seinem Beitrag die Deiktika an dem Zeitgedicht Die tote stadt: Zeigen im Text (wie Anm. 32), S. 141–144, Zeitschichtung als Wertehierarchie. 35 Vgl. hierzu auch Jürgen Wilke: Das „Zeitgedicht“ (wie Anm. 17), hier S. 36.

    Der Siebente Ring · Zeitgedichte 

    

     349

    Auch die Gedichte Nietzsche und Böcklin korrespondieren in der gleichen Frage nach Schmerz und Schrei. Zudem bestimmt den gesamten Zyklus der poetologische Charakter der Zeitgedichte: Alle Vorbilder der Zeitgedichte repräsentieren Dichter wie Propheten. Diese Subsumtion entspringt freilich Georges weit gefasstem Dichtungsbegriff und einem entsprechenden, oft kühnen Stilisierungswillen. So liefern die Zeitgedichte ein vielfältiges Arsenal heroischer Vorbilder, dessen vage Interferenz von Poesie und Prophetie weniger ein scharf konturiertes Modell heroischen Verhaltens als vielmehr lediglich einen Appell zum Heroismus darstellt, welcher der Verkörperung im Dichterpropheten George und in der schönen Kultfigur Maximin bedarf.

    Interpretation des Zeitgedichts Böcklin (SW VI/VII, 14–15) Böcklin Trompetenstoss mag aus- und einbegleiten Umflitterten popanz und feisten krämer – Die ziehst verschont von gnaden die entehren Aus stiller schar der nah- und fernen frommen Den sonnen zu. Dir winken ruh die Schöne Der städte und Toskanas treue fichten Und weiter an ligurischen gestades Erglühtem fels das mütterliche meer. Als damals hässlich eitle hast begann · Die glieder so verschnürt dass eins nur wuchre · Der unrat schürfte · Der den himmel stürmte: Entflohest du des alltags frechem jubel: ›Was einzig hebt aus schlamm und schutt – ihr ehrt Und kennts nicht mehr · dies kleinod reinster helle Das alle farben strahlt rett ich zur fremde Bis ihr entblindet wieder nach ihm ruft.‹ Ja wirklicher als jene knechteswelt Erschufst du die der freien warmen leiber Mit gierden süss und heiss · mit klaren freuden. Du riefst aus silberluft und schmalen wipfeln Aus zaubergrüner flut aus blumigem anger Aus nächtiger schlucht die urgebornen schauer Und vors gesims der lorbeern und oliven Gelobtes land im duft der sagenferne.

    350 

     Achim Aurnhammer

    Du gabst dem schmerz sein mass: die brandung musste Vertönen · schrei durch güldne harfe sausen · Und steter hoffnung tiefste bläue wölktest Du über öde fall und untergang .. Dass heut wir leichten hauptes wandeln dürfen Nicht arm im dunkel schluchzen war dein walten · Du nur verwehrtest dass uns (dank dir Wächter!) In kalter zeit das heilige feuer losch. (SW VI/VII, 14  f.)

    Böcklin gehört zu den bislang kaum interpretierten Zeitgedichten. Zuerst veröffentlicht im Jahre 1903, in der sechsten Folge der Blätter für die Kunst, folgt Böcklin im Binnenzyklus des Siebenten Rings dem bekannten Zeitgedicht Nietzsche, auf das es auch sprachlich und motivisch Bezug nimmt. Wird Nietzsche das Missverhältnis von Leid und Ausdruck vorgehalten, er habe das nächste in [sich] selbst getötet Um neu begehrend dann ihm nachzuzittern Und aufzuschrein im schmerz der einsamkeit (SW VI/VII, 12)

    so wird Böcklin wegen seines Ausgleichs gerühmt: „Du gabst dem schmerz sein maass“. Dass George Nietzsche und Böcklin nebeneinanderstellt, entspringt seiner Auffassung, beide seien ‚Dichter‘. Nietzsche hätte „singen  / Nicht reden sollen“ (SW VI/VII, 13), und schon in der frühen Skizze Eine Pietà des Böcklin hatte George den Maler poetisiert (BfdK I, 4, S. 119). Auf die ‚Dichter‘ Böcklin und Nietzsche bezieht sich auch die antonomastische Passage in dem autofiktionalen ‚Zeitgedicht‘ Franken, in dem George das Fehlen vorbildlicher Dichter in Deutschland beklagt: „Nicht einer ist hier: Dieser lebt verwiesen / Und Jenem weht schon frost ums wirre haupt“ (SW VI/ VII, 18): Böcklin lebte und starb in Italien, Nietzsches Leben endete im Wahnsinn. Eine doppelte Hommage für die eben Verstorbenen – Nietzsche im August 1900, Böcklin im Januar 1901 – eröffnete die fünfte Folge der Blätter für die Kunst im Jahre 1901. Unter dem Sammeltitel Nietzsche · Böcklin kombiniert George sein ‚Zeitgedicht‘ Nietzsche mit Gedichten Karl Wolfskehls und Friedrich Gundolfs auf Nietzsche und Böcklin.1 Dass sein Zeitgedicht auf Böcklin darin nicht erscheint, spricht dafür, dass George es erst danach verfasst hat, allerdings vor April 1902, als er es Verwey vorlas (vgl. AV 40). Als das Gedicht erschien, war eine heftige Kontroverse um Böcklin entbrannt. Anlass war eine scharfe kunsthistorisch fundierte Abrechnung mit dem Fall Böcklin von 1 BfdK V, 1, S. 1–5: Nietzsche · Böcklin. Enthält: S[tefan] G[eorge]: Nietzsche, K[arl] W[olfskehl]: Zarathustra [Würdigung Nietzsches], Der Meister und der Tod (Böcklin), und Friedrich Gundolf: Grabgeleite [Epicedium für Böcklin].

    

    Der siebente Ring · Zeitgedichte 

     351

    Alfred Julius Meier-Graefe.2 Meier-Graefe, der zwei Schaffensperioden in Böcklins Werk unterscheidet, würdigt zwar den frühen Böcklin, kritisiert aber dessen Entwicklung als „Nachlassen“ und „Abschwächung der Harmonie. Ein Nachlassen, das sich unter derberen Formen verbirgt.“3 Den Niedergang des Malerischen zugunsten des Thea­tra­lischen sieht er auch und gerade in den späten „gewaltige[n] Szenen“ wie der Toteninsel, die „auf Schöpfung“ schließen lassen, „dass die Verehrung sich im Recht glaubt.“4 Meier-Graefe lehnt den „lauten“ und „populäre[n] Böcklin“ ab,5 dessen „Kult“ sich den vordergründigen und drastischen Bildinhalten verdanke. Am Selbstbildnis mit dem Tod illustriert Meier-Graefe die Defizite des späten Böcklin: „Die Allegorie wird Wirklichkeit, ein Seher aus dem Künstler, das Publikum zur Gemeinde.“6 Wenn Meier-Graefe die Beliebtheit Böcklins bei den Dichtern eher als Beweis für das Fragmentarische seiner Kunst sieht, das nach poetischer Ergänzung verlangt, trifft er auch und gerade George und dessen Kreis, die mit Bildgedichten zur „Popularität des Meisters beigetragen“ haben.7 Meier-Graefes Kritik rief ein vielfältiges Echo hervor, das weit über Böcklin hinaus sich mit grundsätzlichen malereitheoretischen Fragen beschäftigte. Gerade das ‚Dichterische‘, das Meier-Graefe Böcklin vorwirft, wird zu einem zentralen Thema der Böcklin-Debatte. So verteidigt Adolf Grabowsky, um an der „Größe des Mannes“ festzuhalten,8 das Poetische im Werk eines bildenden Künstlers als Hilfsbegriff, „wenn man kein Wort hat, um sein gesteigertes, uns bannendes Vorstellungsvermögen zu bezeichnen“9. Daneben differenziert Grabowsky die Schaffensphasen und verteidigt den Altersstil Böcklins. Schon zu Lebzeiten hatte Böcklin die Dichter zu poetischen Hommagen auf seine Schöpferkraft und auf seine mythologisch-literarische Malerei inspiriert.10 Auch die

    2 Alfred Julius Meier-Graefe: Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten. Stuttgart 1905. 3 Ebd., S. 78. 4 Ebd., S. 88. 5 Ebd., S. 91 u. 107. 6 Ebd., S. 100. 7 Ebd., S. 119. 8 Adolf Grabowsky: Der Kampf um Böcklin. Berlin 1906, S. 146. 9 Ebd., S. 75. Allerdings konzediert Grabowsky, dass einige späte Bilder Böcklins wie der Eremit (1882, Berliner Nationalgalerie) „ganz auf platteste Poesie gestellt“ seien (ebd., S. 116). 10 Die Fülle der Dichtungen auf Böcklin und sein Werk sind m.W. noch nicht systematisch erfasst worden. Den Weg gebahnt haben Jürgen Wissmann: Arnold Böcklin und das Nachleben seiner Malerei. Studien zur Kunst der Jahrhundertwende. Diss. Münster 1968, und Nikolaus Meier: Böcklin-Gesänge. In: Arnold Böcklin 1827–1901. Basel u. Stuttgart 1977, S. 131–146. Stellvertretend seien folgende weitere Gedichte genannt, die sowohl zu Lebzeiten Böcklins als auch im Gedenken an den Tod des Malers entstanden sind: Peter Hille: Arnold Böcklin [Gedicht]. In: Die Gesellschaft 8 (1890), S. 849; Karl August Hückinghaus: Meerbild: Nach Böcklin [Gedicht]. In: Deutsche Dichtung 33 (1902/2003), S. 241, Gottfried Keller: An Arnold Böcklin zum 60. Geburtstag [Gedicht]. In: Der Kunstwart 14 (1900/1901), S. 417; Max Kiesewetter: Das Schweigen des Waldes [Gedicht nach Arnold Böcklin]. In: Deutsche Dichtung 25 (1898/99), S. 96, Ulrich Klein: Böcklin in Versen. In: Der Kunstwart 3 (1889/90), S. 301; Maidy Koch: Arnold Böcklin. Zwölf Gedichte. Gesprochen bei der Böcklin-Gedächtnis-Feier zu Freiburg i. Br. 1902.

    352 

     Achim Aurnhammer

    diversen poetischen Huldigungen zum Tode Böcklins hatten ihn – wie Georges Zeit­ gedicht – als Malerdichter und Visionär gefeiert. In der postumen Stilisierung wird der künftige Ruhm Böcklins der langen Stigmatisierung durch das deutsche Publikum kontrastiv entgegengestellt wie in der Stanzen-Hommage von Fritz von Ostini: Als Vorbild herrlich, nicht als Schöpfer blos, Als Wegebahner in verschloss’ne Welten, Als Mensch und Kämpfer, furcht- und makellos! […] Ein Seher war er – und er war ein Dichter! Erröthe nur und lerne spät bereuen, Wie Du ihn lang verkanntest, deutsches Land! […] Und sendet Gott einst wieder einen Neuen, Der, kühn wie er, dem Alltag abgewandt, Selbstherrlich trotzt veralteten Geboten, So grüße ihn – und denke jenes Todten!11

    Auch Emil Schönaich-Carolath hat in seiner Hommage An Böcklin den toten „Meister“ zum neuheidnischen Erlöser einer „Welt voll Trauer“ gefeiert: Du trugest heim in eine Welt voll Trauer Der Griechenschönheit Offenbarungsschauer Du gabst der Kunst, im Zeichen jungen Ruhms, Zurück den Lichtbrand des Hellenenthums, Du riefest Lenze, die voll Glanz und Dauer.12

    Die Hommagen stilisieren überdies Böcklin als „Auserlesʼnen“ und zum Vorläufer einer elitären, zukunftweisenden Kunstströmung: „Wem sich jene Thore aufthun streng verschlossner Zaubergärten, / Zu dem Auserwählten treten leise seines Wegs Gefährten“13. Diese Stilisierung zum „grossen Meister“ findet sich auch im Prolog, den Hugo von Hofmannsthal dem Tod des Tizian voranstellte, als dieses „dramatische Freiburg i. Br. 1902; Fritz von Ostini: Festlied, gesungen bei der Münchner Boecklin-Feier. In: Jugend 2 (1897), S. 785; Franz Servaes: Praeludien. Ein Essaybuch. Berlin u. Leipzig 1899, S. 233–260; Karl Wolfskehl: Der Meister und der Tod (Gedicht auf Böcklin). In: BfdK V, S. 8. Vgl. auch die Arnold Böcklin gewidmete Ausgabe der Zeitschrift Jugend vom 16. 10. 1897 (11. Jg., Nr. 42) anlässlich des 70. Geburtstags des Malers sowie die Ausgabe der Jugend (Nr. 19) 1901 im Gedenken an den Tod Böcklins. 11 F[ritz] v[on] O[stini]: Arnold Boecklin †. In: Jugend 1901, Nr. 6, S. 94. 12 Emil Schönaich-Carolath: An Arnold Böcklin [1901]. In: Ders.: Werke. Bd. 2: Gedichte 1878–1908. Hg. v. Carsten Dürkob. Paderborn 1997, S. 168. Vgl. dazu auch Ingo Starz: Böcklin im Olymp. Das Ähnliche und der Augenblick: Die Münchner Totenfeier für Arnold Böcklin von  1901. In: Georges-BlochJahrbuch des Kunsthistorischen Instituts der Universität Zürich 8 (2001), S. 186–203, hier S. 188. 13 Alberta von Puttkamer: An Arnold Böcklin. In: Die Gesellschaft 14 (1898), S. 25  f. Wieder in: (mit geändertem Titel: An Böcklin) Die Zukunft 34 (1901), S. 339–340, hier Vers 21  f.

    

    Der siebente Ring · Zeitgedichte 

     353

    Fragment“ aus dem Jahre 1892 „aufgeführt [wurde] als Totenfeier für Arnold Böcklin im Künstlerhause zu München den 14. Februar 1901“14. Gerade vor dem Hintergrund der poetischen Böcklin-Hommagen und im Kontrast zu Meier-Graefes scharfer Kritik am „Niedergang Böcklins“ gewinnt Georges fast zeitgleiche Heroisierung des Künstlerdichters klarere Kontur. Auch wenn George wohl nicht wörtlich aus der zeitgenössischen Böcklin-Literatur geschöpft oder gar auf die zahlreich überlieferten Zitate Böcklins zurückgegriffen hat, passt seine Huldigung in das zeitgenössische Bild des Künstlers. So entspricht die kontrastive Würdigung Böcklins gegen andere Künstler etwa dessen Vorbehalten gegen andere Tendenzen in der Kunst, wie sie Floerke als Äußerung Böcklins überliefert: Richtungen! Es gibt nur eine Kunst, aber so viele Individualitäten wie wirkliche Künstler […]. Aber Affaristen und Leute, die sich vor ein gefälliges Stück Natur setzen, um es nachzuahmen und höchstens den Ausschnitt aus dem Ganzen, das Format bestimmen, sind eben keine Künstler.15

    Georges Böcklin stimmt durchaus in den Tenor der sonstigen Böcklin-Hommagen ein, indem der Künstler in allen vier Strophen mit ‚Du‘ apostrophiert und gefeiert wird.16 Ungewöhnlich ist allerdings die kollektive, aber doch elitäre Sprecherinstanz, ein ‚Wir‘, das sich erst in der Schlussstrophe als Verheißungserbe Böcklins artikuliert. Auch der präsentische Gestus der ersten Strophe entspricht den Lobgedichten, die den Künstler vergegenwärtigen. Das Zeitgedicht auf Böcklin gliedert sich in zwei Teile, die jeweils zwei Strophen umfassen. Der erste Teil stilisiert den Rückzug nach Fiesole bei Florenz, wo Böcklin von 1892 bis zu seinem Tod im Jahre 1901 lebte, zum Exil. Die Eingangsstrophe würdigt den Künstler als ästhetischen Außenseiter, der vor dem lauten Kunstbetrieb „[a]us stiller schar der nah- und fernen frommen“ und so „verschont von gnaden die entehren“ in südliche Gefilde geflüchtet sei. Indem Italien metonymisch aufgefächert und

    14 Hugo von Hofmannsthal: Der Tod des Tizian: Ein dramatisches Fragment. Aufgeführt als Totenfeier für Arnold Böcklin im Künstlerhause zu München den 14. 2. 1901. Berlin o.  J. [1901], S. 6–8. Vgl. dazu Martin Stern: Böcklin – George – Hofmannsthal. Zu Arnold Böcklins 150. Geburtstag am 16. Oktober 1977. In: Hofmannsthal-Blätter 17/18 (1977), S. 326–333, und Ingo Starz: Böcklin im Olymp (wie Anm. 12). 15 Böcklin nach Gustav Floerke: Zehn Jahre mit Böcklin. Aufzeichnungen und Entwürfe. Hg. v. Hans Floerke. München 1901, S. 52 (hier zit. nach Adolf Grabowsky: Der Kampf um Böcklin [wie Anm. 8], S. 177). Vgl. hierzu auch Stefan Breuer: Ferntiefenrausch: Ludwig Klages und Arnold Böcklin. In: H ­ estia 19 (1998/99), S. 91–103, hier S. 98–102, der Georges Böcklin-Gedicht mit einem von Ludwig Klages vergleicht. 16 Vgl. Alberta von Puttkamer: An Arnold Böcklin (wie Anm. 13). Puttkamer preist Böcklin bereits mit Feuermetaphern, die durchaus Georges Zeitgedicht antizipieren: „[…] wie im eignen Feuerglanze / Leuchtest mit der Gluth, die Kühnheit nur den Himmeln kann entraffen, / Ueber lachend neuen Welten, die Du sel’gen Griffs geschaffen.“

    354 

     Achim Aurnhammer

    personifiziert wird, gewinnt es, akzentuiert durch den dativus ethicus „Dir“, die Form einer letzten Heimat („ruh“): Dir winken ruh die Schöne Der städte [Florenz] und Toskanas treue fichten Und […] das mütterliche meer.

    Die zweite Strophe deutet die Italienreise im Imperfekt als Flucht vor vulgären ästhetischen Fehlentwicklungen in Deutschland („Entflohest du des alltags frechem jubel“), die wohl auf den Naturalismus („der unrat schürfte“) oder die monumentalische Gründerzeitkunst („der den himmel stürmte“) zielen.17 Die andere Strophenhälfte ist eine sermocinatio, in der Böcklin die prophetische Rede eines Retters in den Mund gelegt wird, der „dies kleinod reinster helle […] zur fremde“ rettet, „[b]is ihr entblindet wieder nach ihm ruft“. Damit wird Böcklin zum Bewahrer eines Kultgegenstands stilisiert, für den seine Zeitgenossen keinen Blick mehr haben. Die zweite Gedichthälfte gibt sich als Bestätigung dieser prophetischen sermocinatio. Mit der Modalpartikel ‚ja‘ bekräftigt die noch ungenannte Verehrergemeinde Böcklins dessen Ruhm eines Schöpfers einer ästhetischen Gegenwelt, die „wirklicher“ sei „als jene knechteswelt“, der er entflohen ist. Die Gegenwelt wird in einer Diärese präsentiert, die Böcklins Kunst als Kombinatorik natürlicher Elemente illustriert, mit deren Hilfe ein „Gelobtes land im duft der sagenferne“ vorgestellt würde. Durch diese Analogie zu Moses wird Böcklin als prophetischer Künstler beglaubigt, zugleich wertet sich aber die noch ungenannte Beglaubigungsinstanz als noch höhere und überlegene Wahrheitsinstanz auf. Sie erst verbürgt Böcklins Prophetie und zugleich seine Funktion eines Künstlers, der das Leid und seinen Ausdruck ästhetisch zu gestalten und so zu mäßigen vermochte: Du gabst dem schmerz sein mass: die brandung musste Vertönen · schrei durch güldne harfe sausen · Und steter hoffnung tiefste bläue wölktest Du über öde fall und untergang ..

    Dem Linderer von Schmerzen und Hoffnungsträger fühlt sich über das Grab hinweg das lyrische Wir in der Gegenwart verbunden („heut“), da er als „Wächter“ (seine ehrenvolle Funktion unterstreicht die Großschreibung) die Flamme des „heilige[n] feuer“ am Verlöschen gehindert habe. Dieses Feuer weiter zu behüten, beansprucht 17 Ob sich die Antonomasien referentiell vereindeutigen lassen, bleibt zweifelhaft: EM  I, 223  f., glaubt, der Vorwurf der Ökonomisierung der Kunst richte sich gegen Stuck und Liebermann; Bernhard Böschenstein: Stefan Georges Spätwerk als Antwort auf eine untergehende Welt. In: Ders.: Von Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan. München 2006, S. 120–132, hier S. 120, bezieht den Vorwurf der Himmelsstürmerei („DER den himmel stürmte“) auf Max Klingers Christus im Olymp.

    

    Der siebente Ring · Zeitgedichte 

     355

    nun das ‚Wir‘, die Elite um Stefan George. So dient das Zeitgedicht Böcklin zum einen der Ehrung eines zeitgenössischen Künstlers, dessen Überzeitlichkeit und exklusives Verständnis ein ‚Wir‘ beansprucht, das sich so zum andern zum legitimen Verheißungserben Böcklins und seiner Heroik stilisiert.

    Tina Winzen

    Gestalten Es ist das Wunder jeder Kunst, daß sie Werte und Reihen des empirischen Lebens, die sonst beziehungslos und unversöhnt nebeneinanderliegen, als zueinander gehörig und Glieder einer Einheit schauen läßt; erst unter der Gesetzgebung der künstlerischen Welt rücken die Gegensätze so an- und ineinander, daß an der Bedeutung eines jeden eine neue des anderen fühlbar wird. (Georg Simmel: Der siebente Ring) Stefan George scheidet die Welt nicht mehr in ihre Lager, aber die Seele in ihre Kräfte. (Rudolf Borchardt: Stefan Georges ‚Siebenter Ring‘)

    1911 veröffentlicht Friedrich Wolters im zweiten Jahrgang des Jahrbuchs für die geistige Bewegung einen Aufsatz mit dem Titel Gestalt, dessen Umrisse mit den monumentalen Gestalten des Siebenten Rings nicht nur den Titel gemeinsam haben. Zusammengefasst ‚schaut‘ Wolters’ Begriff ‚Gestalt‘ ein Prinzip, das den Logiken der Teleologie wie dem Primat der Nützlichkeit die schaffende Kraft des wirklich Seienden entgegenhält. Dem Habitus seiner Zeitgenossen unterstellt er, „was aus dem grundgefühl triebhaft zur geistigen gestaltung strebt, wird kaum sichtbar geworden eingegliedert statt scheu empfangen, wird kaum bildhaft geworden gemessen statt liebend geehrt“1. Stefan George als geistiger Führer der disparaten Runde des Jahrbuchs für die geistige Bewegung sei fähig, Gestalt(en) zu schauen. Im folgenden, zentralen Satz von Wolters’ Aufsatz kommt dabei ein Wesentliches des Gestalt-Prinzips zum Ausdruck, das wir – so meine These – in den dualistischen, manchmal komplementären, manchmal antagonistischen Spielarten der Gestalten des Siebenten Rings personifiziert finden: Denn zur Gestalt dringt kein teilsinn und kein teilglied; keinem der die gegensätze unterscheidet, nur wem das band der gebundenen gegenkräfte sichtbar wird, wem seine feurige schrift, das schöne, leib und seele erschüttert und bändigt, ist Gestalt offenbar: […] Gestalt lehrt nicht aber bildet doch mehr als jede lehre, […] denn ihr sein ist auch ihr sinn.2

    Festzuhalten ist, dass Wolters zufolge ästhetische Sensibilität die Schau der Gestalt bedingt. Stefan Georges geschauten Urkräften gibt das zweite Buch des Siebenten Rings in vierzehn Gestalten Raum, in ihrer dualistischen, komplementären und antagonistischen Natur zu sein, wie sie sind. Ihr Sinn erschließt sich dem Leser durch genaues Hinsehen. Der Zyklus Gestalten ist der zweite des Siebenten Rings und folgt somit auf den Eingangszyklus Zeitgedichte, in dem sich ein seiner Überlegenheit bewusstes Ich unter

    1 Friedrich Wolters: Gestalt. In: Jb II, 137–158, hier 139. 2 Ebd., S. 149  f.

    

    Der Siebente Ring · Gestalten 

     357

    Rekurs auf vergangene Zeiten und historische Charaktere (z.  B. Dante und Goethe) mit seiner Gegenwart auseinandersetzt, sowohl mahnend und verurteilend (z.  B. Das Zeitgedicht I und II, Nietzsche, Porta Nigra) als auch stellenweise wohlwollend und glorifizierend (z.  B. Carl August).3 Mithilfe benennbarer Orte und Figuren ruft es Resonanzräume auf, in denen sich seine Zeitkritik entfalten kann und anhand konkreter Fallbeispiele fassbar wird. Den Ring Gestalten hingegen kennzeichnet eine ungleich abstraktere Natur. Die vierzehn Gedichte des Zyklus bilden anstelle konkreter Orientierungsgrößen, die noch im voranstehenden Zyklus zumeist die Namen berühmter Persönlichkeiten und wichtiger (kultur)historischer Orte tragen, Prototypen stark modellhaften Charakters ab. Sie alle eint, dass in ihnen Urmächte ins Bild treten, ewige Prinzipien zur Darstellung kommen bzw. Grundformen mythologisch überhöhten menschlichen (Zusammen-)Lebens dargestellt werden.4 Formal wie inhaltlich präsentiert sich der Zyklus Gestalten als von Heterogenität und Gegensätzlichkeit geprägte Sinneinheit. Strophenanzahl und -bau, Reimschemata und Blankverse präsentieren sich in schwerlich auf eine Komposition hindeutender Vielfalt. Eine erste augenfällige Orientierungshilfe bilden allerdings zwei verschiedene Grundtypen von Gedichten. Während das erste sowie die Gedichte sieben bis zwölf und vierzehn monologischen Charakter aufweisen, der in einigen Fällen nah an Chorgesänge heranrückt, weil Rhythmus und Pronomina einen kollektiven Sprechakt suggerieren, präsentieren sich die Gedichte zwei bis sechs sowie dreizehn als Diptychen bzw. Dialoggedichte. Da sich mit der Anordnung der Gedichte im Gestalten-Zyklus bisher weder kreisnahe noch -ferne Interpreten en détail auseinandergesetzt haben, gilt es hier, dem recht komplexen dualistischen Arrangement der Gestalten nachzuspüren und somit der unter George-Kennern beliebten Forderung Folge zu leisten, Einzelgedichte und Zykluslogik in Beziehung zueinander zu setzen.5 Ein Blick auf bisherige Versuche in dieser Richtung fördert wenig Erhellendes zutage. Ernst Morwitz beispielsweise benennt die ‚bildhaften Typen‘ des zweiten Rings schlicht als „Kräfte, die das neue Leben heraufführen“ und gibt an, sie zögen „in einer bestimmten inneren Ordnung vorüber“, um sodann in altbekannt paraphrasierender Manier ansatzweise Deutungen der Einzelgedichte vorzuschlagen, grob die dialogischen Gedichte als eigene Gruppe klassifizierend, ohne jedoch dieser „bestimmten inneren Ordnung“ auf den Grund zu gehen (vgl. EM I, 237). Kai Kauffmann, der mit seiner Darstellung im Handbuch die jüngste Einschätzung des Gesamtzyklus vornimmt, geht auf Struktur und Tektonik der Gestalten ebenfalls nicht

    3 Vgl. Bernhard Böschenstein: Stefan Georges Spätwerk als Antwort auf eine untergehende Welt. In: WuW 1–16, hier 5. 4 Kai Kauffmann spricht in diesem Zusammenhang nachvollziehbarerweise von Gestalten, die „sich in ein bestimmtes Verhältnis zu Sphären des Göttlichen setzen und dadurch charakterisiert sind. Es geht um unterschiedliche Lebenskräfte und Lebensformen in der Beziehung zum Göttlichen“, wobei er menschliche und dämonische Mächte in den Gestalten versinnbildlicht sieht. Vgl. GHb I, 177  f. 5 Vgl. exemplarisch Bernhard Böschenstein: Stefan Georges Spätwerk (wie Anm. 3), hier S. 4.

    358 

     Tina Winzen

    ein, fordert allerdings an exponierter Stelle die Verflechtung von Gedicht und Zyklus in der Interpretation des Siebenten Rings, insbesondere hinsichtlich ihrer vermeintlichen Gruppierung um das Herzstück Maximin (GHb I, 176  f.). In den Diptychen und Dialoggedichten der Gestalten kommen jeweils zwei Figuren oder Gruppierungen zu Wort, die sich komplementär zueinander verhalten, manchmal nur auf Ergänzung hin sprechen oder auf das übergeordnete Ziel der wechselseitigen Vervollständigung hin beschrieben werden.6 Während dem Leser die dualistische Natur der Diptychen bzw. der Dialoggedichte ins Auge springt, ist die Textur der monologisch oder chorisch strukturierten Gedichte weniger offensichtlich. Bei näherem Hinsehen offenbart sich dem Leser jedoch auch in diesen eine aus Gegensätzlichkeit sich speisende, manchmal paradoxale Struktur. Dabei ist auffällig, dass derlei komplementäre, bisweilen paradoxale Strukturen sich zum Teil im Einzelgedicht selbst entfalten, andernorts das Arrangement des Zyklus die Wahrnehmung weiterer Gegensätzlichkeiten befördert, sodass eine vielschichtige Collage von Dualismen, Komplementen und Antagonismen entsteht. Das Eingangsgedicht Der Kampf stellt den auf Tod oder Leben geführten Konflikt zweier Parteien dar, die Allegorien von Dunkelheit und Helle zu sein scheinen. Die Gedichte sieben und acht, Sonnwendzug und Hexenreihen, beschwören orgiastische Weinrausch- bzw. Blocksbergszenarien und stehen so den sehr besonnenen, klar strukturierten Gemeinschaften der Templer sowie der Hüter des Vorhofs gegenüber, die in den Gedichten neun und zehn besungen werden. Diese greifen im Gegensatz zum heidnischen, rausch- und wahnhaften Charakter ihrer Vorgängergedichte auf christliche und mystische Szenarien zurück, unterscheiden sich aber wiederum darin, dass Templer auf das christliche Mittelalter und den Rosenkreuzerorden des 17. Jahrhunderts Bezug nimmt, Hüter des Vorhofs jedoch auf alttestamentliche bzw. semitische religiöse Traditionen rekurriert. Allen vieren gemeinsam ist die in jedem Gedicht en miniature wiederkehrende Darstellung gegenläufiger Prinzipien, die den Zyklus en gros ebenfalls kennzeichnen. In Sonnwendzug treffen dionysisch Entfesselte auf einfache Bauern der Umgebung, in Hexenreihen stehen die an Shakespeares Macbeth gemahnenden Hexen der dumpfen Masse Unkundiger gegenüber,7 die bündische Gemeinschaft der Tempeleisen präsentiert sich scharf abgegrenzt von den Vertretern „feiger zeit“ (SW VI/VII, 52). Die Hüter des Vorhofs greift am wenigsten von den genannten Texten auf die Explikation einer Negativfolie zurück, macht vermittels seiner Bildsprache allerdings ebenso deutlich, dass der streng abgeschirmt aufwachsenden Gemeinschaft der Vorhofshüter eine „der aufgeklafften erde sühne“ bringende Funktion innewohnt (SW VI/VII, 54). Diese Sühnefunktion ist semantisch verbunden mit der Vorstellung, Heiliges und Profanes zu entmischen und so der Profanierung

    6 Vgl. Vincent J. Günther: Der ewige Augenblick. Zur Deutung von Georges ‚Der Siebente Ring‘. In: SGK 198  f. 7 Vgl. Jürgen Egyptien: ‚Hexenreihen‘. In: CP 50 (2001), H. 250, S. 61–66, hier S. 65.

    

    Der Siebente Ring · Gestalten 

     359

    sämtlicher Lebensbereiche Einhalt zu gebieten.8 Analog schirmt im Tempel eine Mauer die erste Vorhofhälfte, die Heiden wie Juden zugänglich war, vom heiligen Zentrum, das geweihte Innere also vom profanen Treiben des ‚Draußen‘, ab.9 Das häufig im Zusammenhang mit den Brüdern Stauffenberg und dem HitlerAttentat vom 20. Juli 1944 diskutierte Gedicht Der Widerchrist, der als Personifikation allen nur scheinbaren Heils in Szene gesetzt wird, steht wiederum dem an zwölfter Stelle folgenden Die Kindheit des Helden gegenüber, das im Gegensatz zum Widerchrist den in Einsamkeit, Abschottung und Wildnis zu wahrem Heldentum heranreifenden Prototyp germanisch-männlicher Herrscherwürde versinnbildlicht. Zu guter Letzt wirken die beiden den Zyklus beschließenden Gedichte, Der Eid und Einzug, wie Beschwörungen, die sich an die Mächte jener vorangegangenen Gedichte richten, um sie zu bündeln und einzuschwören auf den gemeinsamen Kampf gegen die amoralischen Kräfte der Zeit, aller Zeiten, so in Der Eid. Darüber hinaus kondensiert die dialogische Struktur der Diptychen in Der Eid insofern, als hier in kompakterer Form und ohne die formale Besonderheit der die Diptychen konstituierenden Flügel ein Ich und seine Gefolgsleute in dichter Wechselrede stehen, die schließlich zur Beschwörungsformel gerinnt. Einzug hingegen läutet, chronologisch folgerichtig, den Beginn eines Kampfes der widerstreitenden Mächte ein und wirkt nicht zuletzt aufgrund seines stampfenden Rhythmus wie der Schlachtgesang der soeben eingeschworenen Blutsgemeinschaft der Urkräfte (vgl. EM I, 249). Führt man sich vor Augen, dass jener Schlachtgesang durch den auf ihn folgenden Zyklus Gezeiten merkwürdig wenig Nachhall in der unmittelbaren Nachbarschaft des Siebenten Rings findet, festigt sich der eingangs dargestellte Eindruck, die Anordnung der Gestalten variiere auf formaler, struktureller und inhaltlicher Ebene ein dualistisches Schema, das von intra- und intertextuellen Spannungsmomenten lebt und, der kongenialen Intuition Georg Simmels folgend, in der Tat im Angesicht des Komplements den Charakter seines Gegenstücks fühlbar macht. Diese einleitenden Bemerkungen zur Tektonik der Gestalten gilt es nun durch ergänzende Betrachtungen der Einzelgedichte zu komplettieren. In Der Kampf spricht der Unterliegende (SW VI/VII, 37).10 Das Licht tritt gegen die Schatten an und unterwirft sie sich. Häufig ist Der Kampf daher verstanden worden

    8 Hier findet sich vorformuliert, was Mircea Eliade in Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Hamburg 1957 (rowohlts deutsche enzyklopädie 31), berühmt macht. 9 Zu den Hütern des Vorhofs siehe auch Bernhard Böschensteins Aufsatz: Stefan Georges Spätwerk (wie Anm. 3), hier S. 2  ff., in dem er sehr schlüssig Bezüge vom Gedicht Das Kloster im Teppich des ­Lebens zum späteren Die Hüter des Vorhofs herstellt. Er begreift die Hüter im Vergleich zu den Klosterbewohnern des Teppichs als „Erlöser“, die – jenseits des „Gleichmaß[es]“ früherer ästhetisch-religiöser Konzepte Georges – Heil „als Wiederkehr paradiesisch heidnischen Lebens“ bringen. Das Gedicht Templer kommentiert Böschenstein in diesem Zusammenhang als Darstellung einer autoritär in den verdorbenen Weltzustand eingreifenden Gruppierung. Vgl. ebd., S. 3  f. 10 Darauf verweist bereits Vincent J. Günther in Der ewige Augenblick (wie Anm. 6), S. 198.

    360 

     Tina Winzen

    als Abschied Georges von den Kosmikern, als Diktum wider die chthonischen Kräfte, derer nur der musische Mensch Herr wird.11 Derlei von außen herantretende Deutungsbestrebungen helfen den Gehalt des Gedichts allerdings nur zum Teil erschließen. Von Nahem besehen präsentiert sich der Sieger des Kampfes in der den Sämtlichen Werken zugrunde liegenden Handschrift unscharf als Apoll nachempfundene Macht – eindeutigere Schlussfolgerungen ergeben sich aus einer handschriftlichen Variante, die bei Ludwig Klages dokumentiert ist und in der es in Vers sechs statt „Der mit dem singenden mund“ „Der mit der leier aus gold“ heißt (SW VI/VII, 208). Tatsächlich stimmen auch die in der Letztfassung erwähnten äußerlichen Besonderheiten mit bildlichen Darstellungen des Apoll überein, denn jener Sieger des Kampfes wird „schönlockige[r] gott“ genannt; ferner dokumentieren zwei weitere Paralipomena seinen „tanzenden schritt“ und seinen „rosigen leib.“ Auch die Formulierung „Weh! sie kämpfen mit licht[]“ verweist mit einiger Sicherheit auf Apoll als den Sieger des hier beschriebenen Kampfes.12 Obwohl auf den ersten Blick in der Sprecherinstanz Dionysos verkörpert ist, scheinen mir einige Spitzfindigkeiten angebracht. Schon der erste Vers, „Trunken von sonne und blut“, deutet, wie auch die erwähnte „gruft“ in Vers sieben, eher auf Pan denn auf Dionysos hin, der als Schreck der Mittagsstunde gilt, gemeinhin „in duftender flur“ zuhause ist und als Gott der Hirten Felsgrotten bewohnt. Insbesondere der letzte Vers des Gedichts, „Sink ich in ruhmlosen tod“, erhärtet diese These, denn in einem in Ovids Metamorphosen dokumentierten musikalischen Wettstreit hatte Pan den Apoll herausgefordert, unterliegt ihm allerdings. Ich lese aus Der Kampf also anstelle eines Kampfes zwischen Dionysischem und Apollinischem einen ins Todernste verschobenen Kampf zweier grundverschiedener Kunstauffassungen, jener dunkelgebürtigen des Pan mit der besonnenen, durch Klarheit auftrumpfenden des Apoll.13 George selbst, so Edith Landmann, stellt das Chaotische des Siebenten Rings heraus, das der Ordnung und inneren Geschlossenheit des Sterns des Bundes notwendigerweise habe vorausgehen müssen (vgl. EL 78). Nicht nur deshalb, sondern auch und vor allem aufgrund der Tatsache, dass kultisch-dionysische Elemente im Siebenten Ring nach dem Gestalten-Zyklus keineswegs erledigt sind – vgl. Sonnwendzug,14 11 Vgl. exemplarisch Edith Landmann: Stefan Georges Auffassung von den Griechen. In: CP 52 (2003), H. 258–259, S. 5–44, hier S. 30. 12 Ernst Morwitz möchte die Lichtgestalt in Der Kampf dennoch nicht ausschließlich auf Apoll- oder Hermesdarstellungen reduziert wissen, damit das Gedicht „als Einleitung weit genug […] wirken“ könne. Vgl. EM I, 238. 13 Edith Landmann sieht hierin – ebenfalls einleuchtend – den Drachenkampf des Apoll bebildert, wobei ich bemerken möchte, dass Der Kampf wenig Hinweise auf die Anwesenheit eines Drachens enthält. Vgl. Edith Landmann: Stefan Georges Auffassung von den Griechen (wie Anm. 11), S. 30. 14 Vgl. Claude David, der Sonnwendzug als Hommage an die Bacchanalien zu Ehren der römischen Variante des Dionysos begreift und seine Entstehung, darüber gibt seine Besprechung der Gestalten beredt Auskunft, auf den Einfluss der Kosmiker, besonders Alfred Schulers und dessen Phallus-Faible, zurückführt. Vgl. CD 248. Darüber hinaus legt David eine Deutung der Gestalten vor, die diese als

    

    Der Siebente Ring · Gestalten 

     361

    aber auch die dionysisch-erotische Färbung des Gottes im Lobgesang der Gezeiten –, halte ich eine Personifikation des Dionysos als Unterlegenem, noch dazu an solch exponierter Stelle, für unwahrscheinlich. Anders als die widerstreitenden und noch dazu abstrakten Prinzipien des Dionysischen und des Apollinischen, die auf Nietzsche zurückgehen, den George, wie das gleichnamige Gedicht der Zeitgedichte dokumentiert, keineswegs ungebrochen rezipierte, fußt die Auseinandersetzung zwischen Pan und Apoll auf einem mythologischen Vorbild, das sich im Kontext des Siebenten Rings leicht auf Fragen der Kunstauffassung übertragen lässt.

    Die Diptychen Das erste Diptychon, Die Führer (SW VI/VII, 38  f.), schildert in zwei Flügeln komplementäre Konzepte wahren Führertums. In Der Erste beschreibt ein Beobachter die jugendliche, an eine antike Skulptur erinnernde Anmut eines tanzenden Enthusiasmierten, der im Gemenge eines Festzugs die anderen Zuschauer gleichfalls entzündet. Diese wurden zuvor als „schreiter“ apostrophiert, wohnen der Zeremonie also bis zur Verführung eher randständig bei. Der Zweite dokumentiert hingegen einen maßvollen, besonnenen Führer, den die Weltabgewandtheit des Gebets von der profanen Menge unterscheidet. Beide Szenarien schildern ganz unterschiedliche Arten des Führertums, verfügen aber über den gemeinsamen Nenner, in der Figur des Engels im Teppich oder dem mahnenden Ton späterer Gedichtbände Georges widerzuhallen und somit vergangene und zukünftige Traditionslinien George’scher Motivik in sich zu vereinen. Auffällig ist sicher auch, dass auf beiden Seiten des Diptychons unklar bleibt, welcher Art das Führertum der beiden Gestalten ist. Im ersten Fall könnte man vielleicht vermuten, dass es sich um einen Ver-führer zum enthousiasmós im ursprünglichen Sinne handelt, im zweiten Fall drängen sich angesichts der weltabgewandten Grundstimmung sowie dem Gebet der Schlussstrophe religiöse Konnotationen auf. Dennoch spart George weitergehende politische, künstlerische oder sozial determinierte Führungsfunktionen und richtungen vollständig aus. Es liegt daher nahe, dass das vorliegende Diptychon zwei einander ergänzende geistige Grundhaltungen wiedergibt, die, dem Gestalt-Begriff des George-Kreises entsprechend, jedes Führertum bedingen und gleichsam Formen bilden, die es im Einzelfall mit Leben zu füllen gilt. Rausch und Maß, Enthusiasmus und Weihe scheinen hier in zwei Führern prototypisch Gestalt anzunehmen. Beide erinnern erst in der Zusammenschau an Verkörperungen des dionysischen und des apollinischen Prinzips und es scheint, als bildeten sie nur gemeinsam jenes Mischgewebe, aus dem Georges sinnenfreudige Geis-

    Bekenntnis zur und Ablösung von der kosmischen Runde gleichermaßen begreift. Vgl. weiterführend ebd., S. 246–252.

    362 

     Tina Winzen

    tesaristokratie sich speist. In der Figur des Beobachters, dem es obliegt, jene Typen zu schauen und in Szene zu setzen, wäre George als poeta vates gleichsam integraler Bestandteil des Gedichts – und somit involviert in die Formgießung beider komplementärer Prototypen des Führers. Angesichts der Topik George’scher Zeitkritik und des weithin bekannten Charakters von Maskenfesten in kosmischer Runde, die beide deutliche Spuren in Die Führer hinterlassen haben, lässt sich diese These durchaus halten.15 Das Der Fürst und der Minner (SW VI/VII, 40  f.) betitelte Diptychon stellt im Gegensatz zu Die Führer ein Dialoggedicht im klassischen Sinne dar, weil George auf die Instanz eines Beobachters verzichtet und Fürst und Minner in nebeneinander arrangierten Redesequenzen miteinander verwebt. Beiden steht jeweils ein Motto voran, das das Verständnis der folgenden Verse maßgeblich beeinflusst. Ich würde vorschlagen, die voranstehende Maxime, die George in Der Fürst aus einem früheren, Wacław Lieder zugeeigneten Gedicht aus dem Jahr der Seele übernimmt (SW IV, 72), als essentiellen Bestandteil des ersten Flügels zu verstehen. Erstens stammt dieses Motto aus der Feder desselben Autors, was in Der Minner, dem Verse Maximilian Kronbergers voranstehen, nicht der Fall ist, zweitens entsprechen Motto und Redesequenz des Fürsten zusammengenommen genau jener Zahl von siebzehn Blankversen, aus denen sich auch die Redesequenz des Minners zusammensetzt, wenn man hier das fremder Feder entnommene Leitmotiv separiert. Auf inhaltlicher Ebene ereignet sich Folgendes: Zunächst gibt sich der Fürst als Bewunderer des Minners zu erkennen, zeigt sich sogar bereit, eigene royale Würden abzutreten, indem er ihn als „Gebieter du im innren glanz der krone“ apostrophiert und so auf die besondere Aura des Minners rekurriert.16 Erneut ist in Der Fürst eine Gegensphäre fühlbar, die aufgrund der profanen Diesseitigkeit ihres nur weltlichen Adels in die Kritik gerät: Die überragend welten baun im sinn Die reiche kneten · stapfend durch das land · Sie können dich wol küren doch nicht schaffen[.]

    Angesichts der Tatsache, dass der Fürst den Minner im Folgevers als „Gebieter“ tituliert, zeigt er sich über den geistigen Adel des Minners im Klaren, ehrt seine jenseits jeglicher Profanität gereifte Sendung wie seine Fähigkeit, zu entzücken und Gnade zu spenden. Insbesondere die letzten fünf Verse enthalten Beschreibungen, die den Minner mit „[g]esalbten hände[n] daraus heiltum trieft“ einer heiligen, dem Weltlichen entrückten Sphäre zuordnen. Korrespondierend artikuliert das Wacław Lieder

    15 SW VI/VII, 38  f., vgl. die folgende Modellinterpretation. 16 Den Glanz dieser Krone als Anspielung auf Maximilian Kronbergers Nachnamen zu verstehen, der als Blaupause des Minners zu denken sei, verstehe ich, trotz des Leitmotivs, als typisch Morwitz’sche Überpointierung. Vgl. EM I, 239  f.

    Der Siebente Ring · Gestalten 

    

     363

    zugeeignete Leitmotiv: „Schon weil du bist / Sei dir in dank genaht.“ Thema des ersten Flügels ist die Demut eines weltlichen Herrschers vor seinem geweihten, im religiösen Sinne ‚eingeweihten‘ Pendant, der sich durch diesen Willen zur Demut gleichfalls adelt. Der Minner umfasst die Rede des ‚Du‘ des ersten Flügels. Er scheint als Liebender der Rolle antiker Opferpriester zu entsprechen, wenn er einleitend fragt, „Wen werden opfer reuen · tier und frucht · / Dass sie nicht halfen in der menschen dienst[?]“ Er sieht vom Innern eines Raumes durch ein Fenster nach Draußen, was an jenes Moment der Rede des Fürsten anknüpft, das den Minner als abgeschottet von der profanen Gegensphäre lebend charakterisiert hatte und seine Wirkungsstätte als dem Volk diametral entgegengesetzte Lebenssphäre fühlbar machte. Das draußen vorbeistreunende Volk verkennt die Rolle des Minners jedoch völlig, indem es ihm politische Motive anträgt: ›Nun da der werktag naht wirst du die brüder Zum kampfe treiben · städte bauen müssen Und starke söhne nach dem erbe leiten.[‹]

    Dieser dem Minner angetragene Optimismus geht völlig fehl, hat er durch seine liebende Hingabe doch bereits jede angemessene Erwartung erfüllt. In den letzten vier Versen fasst der Minner den Vorgang seiner Selbstverströmung zusammen und offenbart sich in diesem Zusammenhang als dem Eros dienender Priester insofern, als er sein ganzes heilbringendes Wesen „Für euch Geliebte – o all ihr Geliebten!“ hingegeben hat. Jene aus „Glücklichen / Und Heitren“ bestehende Gemeinschaft der Geliebten scheint in der Diaspora befindlich, denn er sendet ihnen, dem wahren Volk, „mit dem südwind träume“, während das unmittelbar anwesende Volk sein Werk verkennt. Diese Spannungssituation macht den Minner leiden, dessen Opfer dem Gros der Menschen nichts bedeuten und der dennoch dem vergeblichen Moment seiner liebenden Hingabe lobend gedenkt. Gegenstand von Der Fürst und der Minner ist die Trennung profaner und heiliger Sphären, die als Gegensphären in das Gedicht eingehen. Der Fürst schreibt sich dabei jenem heiligen Bezirk des Minners ein, was ihm jedoch nicht aufgrund seiner realpolitischen Machtbefugnisse, sondern aufgrund seiner sensiblen Demut gelingt.17 Die drei nachfolgenden Diptychen folgen dieser an Der Fürst und der Minner herausgestellten Struktur weitestgehend. Herausragend ist ein für die werkimmanente Zusammenschau des Schreibens Georges wichtiges Merkmal, nämlich die Wiederkehr der Gestalten Manuels, Menes’ und Algabals. Die Figuren Manuel und Menes gehen

    17 SW VI/VII, 40  f. – Zum Begriff der Macht in den Gestalten vgl. Ralf Simon: Das Wasser, das Wort. Lyrische Rede und deklamatorischer Anspruch beim späten Stefan George. In: WuW 48–68, hier 54  f. Simon kommt hinsichtlich der vielschichtigen Machtverhältnisse in den Diptychen der Gestalten zu dem nachvollziehbaren Schluss: „George versucht[,] die Machtdispositive gleichsam typologisch von allen Seiten her zu denken. Er entwirft eine Systematik der Macht.“ Ebd., S. 54.

    364 

     Tina Winzen

    auf ein Drama Georges zurück, während der auf den römischen Sonnenkaiser Elagabal rekurrierende Algabal die titelgebende Figur von Georges drittem Gedichtband von 1892 ist. Manuel und Menes (SW VI/VII, 42  f.), dem ein dem Manuel-Drama entnommenes Leitmotiv voransteht, diskutiert erneut die Natur wahren „führertumes“. Menes, der Ältere, folgt dabei dem schon aus Der Fürst und der Minner bekannten Demuts-Motiv. Obwohl dieser sich seine Position, „den stab um den [er] stritt“, erkämpfen musste, fügt er sich sogleich der Größe des Jüngeren: „Dein ist die macht. Befiehl!“ Diesem paradoxalen ‚Befehl zu befehlen‘ Folge leistend, spricht Manuel nun seinerseits: „Komm nah! Wir haben uns erkannt am zeichen“ und bannt ihre symbolische Zusammengehörigkeit in die Spannung tilgende Formel: „Ich Herr · du Helfer  – wir sind gleich geweiht.“ Auffällig ist, dass George den Plot des Manuel-Dramas (1886/1887) konsequent eindampft auf die Gestalten Manuel und Menes – weder Leila, die Geliebte des Manuel, noch Timon, ihr Vater, oder der Ministerstab seines eigenen Vaters, des Königs, spielen irgendeine Rolle. In dieser krassen Reduktion des Dramas auf die geweihte Freundschaft zwischen Manuel und Menes äußert sich der in der Werkchronologie sich verdichtende Wille Georges, sich allen Schmucks und jedes Details, das die Schau seiner Gestalten behindern könnte, zu entledigen und nur den Kern, das ‚Ur‘, für ihn bedeutsamer Typen gelten zu lassen. Jenseits des Siebenten Rings schlägt sich dieses Bedürfnis in der legislativen Natur des Sterns des Bundes und in der Prophetie des Neuen Reichs zu Buche. Auch Algabal und der Lyder (SW VI/VII, 44  f.) nimmt Bezug auf eine etablierte Figur George’scher Gestalten und gesellt jenem Algabal den Lyder bei (SW VI/VII, 209). Es ist jedoch nicht nur diese Kombination von Altem und Neuem, die Algabal und dem Lyder einen besonderen Rang innerhalb des Gestalten-Zyklus zuweist. Auch seine durchgängige, den Kaiser wie den Lyder kennzeichnende negative Grundstimmung lässt den Leser aufhorchen. Dem Gedicht ist das Motto „Das gleichgewicht der ungeheuren wage“ vorangestellt, wodurch es sich zunächst gleichfalls einschreibt in die dualistische Logik der Gestalten.18 Allerdings ist das ‚Draußen‘ der Uneingeweihten hier nicht die einzige Sphäre negativer Attribuierung. Zwar schildert auch der Lyder in seinem Flügel des Diptychons ein der Erotik des Leibes verhaftetes Reich des Profan-Körperlichen und setzt sich voller Abscheu von diesem ab. Die eigentliche Gegensphäre des Gedichts ist jedoch in einer früheren Schaffensphase Georges, nämlich dem rein ästhetizistischen Wirkungswillen früherer Gedichtbände zu sehen: Algabal ist müde – und nicht nur das. Er sieht sich gefangen in einem Szenario, indem aus keiner Richtung Heil zu erwarten ist. Am Rande seines Gartens, von dem wir uns erinnern, dass er

    18 Vgl. Vincent J. Günther, der die in der Waage versinnbildlichte Antinomie als „grundsätzlich unaufhebbar“ – und im Sinne eines nicht nur die Gestalten konstituierenden Prinzips – einer spezifisch George’schen, „Antinomie von Dunkel und Hell“ (S. 202) – begreift. Vgl. ders.: Der ewige Augenblick (wie Anm. 6), S. 199.

    

    Der Siebente Ring · Gestalten 

     365

    „nicht luft und nicht wärme“ (SW II, 63) bedarf, insofern er ganz der Gesetzlichkeit des Künstler-Kaisers unterworfen ist, fühlt der Algabal des Siebenten Rings „[j]ed glühn verdunkelnd · trübend jeden kelch“ die Ankunft eines übermächtigen Feindes nahen, den man sich insofern als Ausgeburt seines eigenen erstickenden Willens zur Schaffung einer künstlichen Gegensphäre vorstellen muss, als er näher rückt „[s]o oft wir atmen“ und somit organischer Bestandteil der auf Anorganik hin ausgerichteten Welt des Algabal zu sein scheint. Die Tage schleichen dem Kaiser nurmehr dahin; er kann, „[d]ie kargen stunden treibend nach dem end“, sein Ableben kaum mehr erwarten. Ganz ähnlich geht es dem Lyder, den seine leibfeilen, sich in erotischen Räuschen maßlos überschätzenden Zeitgenossen derart anekeln, dass er sein ganzes Sehnen und Streben nurmehr überirdischen Zielen verschreibt. In den Worten: Mir ist nur eines wahr: begier und rasen Nach dem Unnahbarn das der mond mir zuwarf – Kein schmerz der wühlt und währt wie dies verlangen! Ich weiss dem licht nicht dank .. komm lezte wonne Im eignen lauen blut den brand zu kühlen! (SW VI/VII, 45)

    artikuliert er eine mit jener des Algabal übereinstimmende Sehnsucht nach dem Tod, um den unausweichlich unfruchtbar bleibenden Spielen seiner Altersgenossen zu entgehen. Es scheint, als seien sowohl Algabal als auch der Lyder, deren Redesequenzen einander zwar formal beigeordnet sind, ohne sich jedoch explizit dialogisch aufeinander zu beziehen, Gefangene ihrer jeweiligen Umwelten, die ihnen kein Glück mehr verheißen.19 In Algabals Fall ist diese unfruchtbare Umwelt sein selbstgeschaffenes Unterreich, in dem kein „bannen in den kreis den liebe schliesst“ (SW VI/VII, 13) möglich ist, im Falle des Lyders verhindert die Hybris erotisch entfesselter Jugend ohne Herrn ehrliches Streben nach Höherem. Beiden, Algabal wie Lyder, sind ihre Zustände irreversibel – aus der Verfehlung führt kein Weg zurück. Unvermittelt konfrontiert diese Analyse den Leser mit dem Verdacht, George formuliere hier Poetologisches, übe hier werkimmanente Kritik an früheren Positionen, die er mit dem Siebenten Ring hinter sich zu lassen strebt.

    19 Benjamin Bennetts Deutung des Algabal-Flügels sieht im Gebaren des Kaisers wie in jenem des Lyders Sehnsucht nach dem Ende der Zeit wirksam werden, verkennt in meinen Augen jedoch, dass es die selbstgeschaffene Künstlichkeit des Gartens ist, die droht, der Zeit nicht standzuhalten. Algabal fürchtet sich demnach nicht so sehr vor der unweigerlich voranschreitenden Zeit, sondern eher vor dem Einbruch des Organisch-Natürlichen. Dass die Furcht des Algabal in Todessehnsucht umschlägt, bemerkt Bennett aber ganz richtig und führt weitergehend – mit Blick auf den Dualismus von Algabal und Lyder – Erhellendes zu immanenten und transzendenten Religionskonzepten an, die jedoch kongruente Schlussfolgerungen, ebenjene Sehnsucht nach dem Enden der Zeit, bedingten. Vgl. Benjamin Bennett: Stefan Georges ‚Ursprünge‘. Zur Deutung des ‚Siebenten Rings‘. In: CP 31 (1982), H. 155, S. 28–49, hier S. 35  f.

    366 

     Tina Winzen

    König und Harfner (SW VI/VII, 46  f.), das letzte Diptychon der Gestalten, umfasst den Dialog zweier Figuren, die Rembrandts Saul und David nachempfunden sind. George hatte das Gemälde zusammen mit Friedrich Gundolf 1901 in Den Haag studiert und fügt seiner sich an Sauls bergender Geste entzündender Ekphrasis ergänzende Rekurse auf biblische Zusammenhänge der Beziehung Sauls zu David bei.20 Im Gegensatz zur jugendlichen Anmut des musischen David zeugt das alternde Gesicht des Königs von Unsicherheit, Ermüdung und beginnendem Wahn. Diese Grundstimmung Sauls greift George im zweiten Flügel des Diptychons auf. Saul offenbart sich hier von der Liebe des Harfners gezeichnet. Er sieht sich abhängig vom Spiel Davids, abhängig auch von seiner Zuneigung, und zürnt angesichts der Künstlernatur des Jüngeren, Sauls Leid ins Lied zu bannen, also davon zu zehren, was den König aufreibt: Mein heilig sinnen drob ich mich verzehre Zerschellst du in der luft zu bunten blasen Und schmilzest mein erhabnes königsleid In eitlen klang durch dein verworfen spiel. (SW VI/VII, 47)

    Die jugendlichere, unbedarftere Natur des Jünglings David, der all jenes Schöne in sich vereint, das dem alternden König abgeht, verhindert dabei eine positive Wertung Sauls ebenso wie dessen Mangel an Demut gegenüber dem Künstler, die noch den Fürsten in Der Fürst und der Minner oder Menes in Manuel und Menes als „gleich geweiht“ (SW VI/ VII, 43) ausgewiesen hatte. Saul gehört nicht zur religiophilen, ästhetischen Sphäre Davids. Aufgrund mangelnder ästhetischer Sensibilität und seines profanen Neids auf die Befähigung des Künstlers, Leiden in Schöpfung zu transponieren, bleibt Saul ein impotenter Ästhet, den die Liebe des David vernichtet statt zu heilen, weshalb Ernst Osterkamp mit Blick auf die Verbindung zwischen beiden von der „Haßliebe des Königs zum Harfner“ spricht.21 Der dualistische Charakter von König und Harfner ist folglich ebenso unverkennbar wie jener der vorangegangenen Diptychen. Es lässt sich jedoch auch hier eine ‚neue Innerlichkeit‘ im dualistischen Prinzip der Gestalten erkennen, denn wie schon in Algabal und der Lyder ist die Gegensphäre Sauls keineswegs seine profane, Philister und Priester umfassende Umwelt. Sie gestaltet sich vielmehr durch sein eigenes Unvermögen, in der künstlerischen Welt Davids heimisch zu werden. In den folgenden Gedichten der Gestalten geht der Trend hingegen wieder weg vom Antagonismus des Innern. Sowohl in Sonnwendzug als auch in Hexenreihen sind Szenarien dokumentiert, die Begegnungen zweier auch äußerlich wahrnehmbarer Entitäten beschreiben. In Sonnwendzug (SW VI/VII, 48  f.) treffen dionysisch Berauschte einer kultischen Gemeinschaft, die im Anschluss an „die gluten und schatten / Langen feiertags“, eine 20 1 Sam 8–31 u. SW VI/VII, 209  f. 21 Ernst Osterkamp: Die Küsse des Dichters. Versuch über ein Motiv im ‚Siebenten Ring‘. In: WuW 69– 86, hier 76.

    Der Siebente Ring · Gestalten 

    

     367

    gleichsam nächtliche, heidnische Variante des Pfingstfestes, aus der Stadt heraus in die nahen Dörfer strömen auf deren Bewohner, um sich in einer stark sexuell konnotierten, morgendlichen Szene mit jenen zu vereinigen. Der „helle[] blick des traumes“ wird dabei in einer neuerlichen Variante des dualistischen Motivs dem „nährenden blicke“ der tierähnlich beschriebenen Landbevölkerung entgegengehalten. Das vom in Rausch und Ritual geschulten Wir gelenkte Vereinigungserlebnis hat dabei orgiastischen Charakter, bei näherem Hinsehn offenbart sich jedoch auch ein darüber hinausgehendes Motiv dieses multiplen Beischlafs: Die Jünglinge der Stadt leben in einer Art platonischer Akademie mit Säulengängen und bedienen sich der Landbevölkerung als erotischer Nahrung im ganz buchstäblichen Sinne. In den Schlussversen des Gedichts offenbart sich ein Szenario ‚nach der Schlacht‘: Zitternd tasten hände noch nach locken Da verdurstet schon manche Heiss von fang und flucht · besprizt vom safte Ausgequollener früchte · Blut und speichel harter lippen trinken Und auf qualmigen garben Andre wechselnd beide blumen küssen Auf der brust den Gewählten. (SW VI/VII, 49)

    Die Jünglinge der Akademie erwählen sich also einfache „mähder / Hirten pflanzer“, um sich an ihnen zu laben und einem triebhaft gezeichneten Rausch der Leiber zu frönen. In Sonnwendzug wird das dualistische Prinzip der Gestalten fassbar in der Gegenüberstellung von Feiertag und Rausch auf der einen und dem Gleichmut des Alltagslebens auf der anderen Seite. Bis zum Einschlag des „nachtwind[s]“ sind die Sphären von Akademie und Dorf streng getrennt, erst die Aura des Feiertags erlaubt die orgiastische Vereinigung der beiden, sonst nicht in Einklang zu bringenden Gegenwelten: „Blanke glieder hängen sich und schlingen / Um die sehnigen braunen“. Was sich hier Bahn bricht, ist ein panisch-dionysisches Moment, der „Ruf von lust und grausen“, dem es am Feiertag nachzugeben gilt. Dieses panisch-dionysische Element des Sonnwendzugs wird in Hexenreihen (SW  VI/VII,  50  f.) weiter ausgelotet, allerdings unter anderen Vorzeichen und mit anderem, eher an Blocksbergszenarien gemahnendem Impetus. Im ‚Wir‘ versammeln sich nun Hexen mit Augen „nächtig glau“, die im Gegensatz zu „Geschlechter[n] falschen spanes“ mit „augen blöd und blau“ die innere Zusammengehörigkeit der Dinge begreifen und darin – so schon Jürgen Egyptien – dem zeitkritischen „gewissen“ des zweiten Zeitgedichts (SW VI/VII, 32  f.) entsprechen.22 Während jene Tumben in ihrer

    22 Vgl. hierzu wie auch zu einer detaillierten Analyse der Form in Hexenreihen Jürgen Egyptien: ‚Hexen­reihen‘ (wie Anm. 7), S. 61  ff.

    368 

     Tina Winzen

    Leiblichkeit gefangen sind und nur die oberflächliche Textur der Dinge wahrnehmen – „Euch ist die haut nur kund“ –, stehen die Hexen als dämonische Wesen in Verbindung mit den Mächten der Natur. In einem scharf auf Spaltung und Sonderung bedachten Ritual trennen die Hexen das Wesen der Dinge von dem, „was euch gemein“, bis am Boden des Siebs „ein gebild von stein / Wie eines tieres hoden“ zum Vorschein kommt und sich in all seiner Archaik als Sediment des orgiastischen Sexus manifestiert (EM I, 244). Was die klarsehenden Hexen von der Masse der ‚Blöden‘ und ‚Dumpfen‘ unterscheidet, findet seinen Ausdruck durchgängig in Bildern des Auges und des Sehens: „Euch stach man nie den star“ ist somit das krankhafte, an Blindheit gemahnende Pendant zur Wahrnehmungsfähigkeit der dämonischen Hexen, die Am wasen der kafiller .. Im giftigen fosforschiller Sehn […] das wesen klar. (SW VI/VII, 51)

    Wiederum artikuliert sich in Hexenreihen also jenes dualistische Prinzip der Gestalten, von dem nun schon so häufig die Rede war.23 Wiederum liegt es in einer Variante vor, die den im Verborgenen agierenden dämonischen Mächten Herr zu werden sucht, indem es sie dem Ring der Gestalten eingemeindet. George macht sich hier im Modus der Neukodierung zunutze, dass eine übliche Konnotierung Hexen ebenjene Charakteristika zuschreibt, die diese hier an den Vertretern der dumpfen Masse verlachen: So ist der Wahn nicht länger Merkmal der Hexen selbst, sondern wird von diesen, eigentlich klar Sehenden in eine Zuschreibung für die dem Gedicht inhärente Gegensphäre des Profan-Menschlichen umgewandelt.24 In den beiden auf Hexenreihen folgenden Gedichten der Gestalten verschiebt sich der Fokus erneut: Diesmal stehen mit Templer und Die Hüter des Vorhofs zwei Gruppierungen im Brennpunkt, die weg vom Dämonischen und Dionysischen führen und erneut anknüpfen an Vorstellungen und Konzepte von Gemeinschaftlichkeit, die als Allegorien lebensweltlicher Idealtypen Georges und der Seinen fungieren. Templer (SW  VI/VII,  52  f.) schildert eine an anderer Stelle noch detaillierter zu erörternde Gruppe, die an mittelalterliche Tempeleisen wie die Rosenkreuzerbünde des 17. Jahrhunderts erinnert. Es fügt darüber hinaus der bisherigen dualistischen Struktur der Gestalten ein wiederum neues Moment bei, das man als Diskussion überschneidungsfrei separierter Konzepte von physischer Zeugung auf der einen und Schöpfung auf der anderen Seite verstehen kann. Letztere ist dabei als Metapher eines künstlerischen

    23 Egyptien benutzt analog die Begriffe Antithese und Opposition von ‚Wir‘ und ‚Ihr‘. Vgl. ebd., S. 63  f. 24 SW VI/VII, 50  f. – Jürgen Egyptien geht hier weiter und wähnt im Bild der das Wesen im Wasen sehenden Hexen chaotische Urmächte am Werk, die der kosmischen Runde nachempfunden seien und somit nicht der Meinung Georges Ausdruck verleihen. Mir geht es eher um seine konsequente Ausgestaltung antagonistischer Prinzipien mit Blick auf den Gesamtzyklus. Näheres wiederum in ebd., S. 65.

    

    Der Siebente Ring · Gestalten 

     369

    Schöpfungsaktes inszeniert, der – „Nie alternd nie entkräftet nie versprengt“ – der Endlichkeit des Lebens im unendlichen Angedenken des Bundes wie des ewigen Kunstwerks beizukommen sucht.25 Die Hüter des Vorhofs (SW VI/VII, 54  f.) hingegen beschreibt das Heranwachsen – man könnte auch sagen: die Zucht – einer solchen Gemeinschaft, die sich vom Profanen abwendet und dem Heiligen verschreibt. Durch das uns nun schon bekannte Motiv weltabgewandter Abschottung – „Ich liess euch erst erziehn auf magrer scholle“ –, die „sehnsucht“ wachsen und gedeihen lässt, formt das Ich aus Kindern „Fromme und Erhabne“, deren religiös fundierte Sonderstellung sich erneut auch in der selten verwendeten Großschreibung formal spiegelt. Die „rosen und […] reben“ der zweiten Strophe hingegen werte ich als Hinweise auf Eros und Dionysos, auf Liebe und Rausch also, die somit als Konstituenten der Erziehung zum Erhabenen gelten dürfen. Das so beschriebene Erziehungsmodell zielt auf die Erfahrung des Kerns der Dinge, der bereits in den Hexenreihen die zentrale ontologische Größe bildete: „So mehrt ich eure glut im innren kerne · / Dass ihr das wahre bild am reinsten fasstet.“ Wie eingangs erwähnt, glänzt die antagonistische Gegensphäre in Die Hüter des Vorhofs auffällig durch Abwesenheit, wenngleich die fünfte Strophe jenen „wahn“ der anderen, den schon die Hexenreihen detektieren, wieder aufgreift. Eigentümlich ist, dass der an alttestamentliche Tempelstrukturen erinnernde Titel des Gedichts von antikisierenden, heidnischen Strömungen konterkariert wird. Während jener Konnotationen aufruft, die an einen streng geschützten heiligen, inneren Bezirk des Tempels denken lassen, dem der Vorhof sondernd voransteht, kulminieren diese – am deutlichsten fassbar in den Strophen vier und fünf: „Die stirn die ihr mit wein und lorbeer höhtet“ oder „Und nackter tanz beginnt auf junger heide“ – in der an die menschenähnlichen Götter der griechischen Mythologie erinnernden Formulierung einer „Erinnerung wie ihr von göttern stammet“. Was die in ihrer Jugend „[i]n suchen Fiebernde · in leid Vergrabne“ von den Gemeinen unterscheidet, ist genau dieses Moment der Erinnerung an die göttliche Abstammung des Menschen, dessen verlustig jene anderen sich an der Erde versündigen und den Kontakt zum Heiligen vollends verlieren. In Der Widerchrist (SW  VI/VII,  56  f.) gesellt sich der dualistischen Struktur der Gestalten ein zusätzlicher Faktor der Scheinhaftigkeit bei.26 In der ersten Strophe

    25 SW VI/VII, 52  f., vgl. die folgende Modellinterpretation. – Diese Grundtendenz der Gestalten erkennt auch Michael M. Metzger, wenn er schreibt: „‚Gestalten‘ […] demonstrates art’s power to create a higher reality in myth.“ Michael M. Metzger: In Zeiten der Wirren. Stefan George’s Later Works. In: JR 99–123, hier 108. 26 Angesichts dieser im Widerchrist sich personifizierenden Scheinhaftigkeit dürfen wir es als besonders bösartigen, aber nichtsdestoweniger genialen Schachzug Rudolf Borchardts werten, dass er Stefan George durch wörtliches Zitat mit dem Widerchrist und den Mächten seiner Zeit im Bunde wähnt, George selbst zum widernatürlichen Antichrist stilisiert, dessen Macht über den deutschen Literaturbetrieb nicht von souveräner Beherrschung der Sprache herrühre, sondern von seiner dämonischen Natur, Formbrüche als Geniestreiche zu verkaufen. Vgl. Rudolf Borchardt: Stefan Georges

    370 

     Tina Winzen

    huldigt ein namenlos bleibendes ‚Wir‘, das diesem Gedicht einen dialogischen Auftakt beschert, dem Widerchrist unter deutlichem Rekurs auf die Wundertaten Jesu. Die Kommentierung durch den Widerchrist höchstselbst setzt in der zweiten Strophe ein, der seine Stunde schlagen hört und die irregeleiteten Adepten seines nur scheinbaren Heils wie „fische zum hamen“ strömen sieht.27„Die weisen die toren – toll wälzt sich das volk“ – Anklänge an die vielen vorherigen Gedichten eingeschriebene Menge der Blinden, schnöd Profanem Huldigenden sind offenkundig – gehen ihm buchstäblich ins Netz. Bewaffnet mit Versprechungen, alles Schwere leicht zu machen, „ein ding das wie gold ist aus lehm“, gelingt es dem Widerchrist mit einfachsten alchimistischen Tricks, der Menge Sand in die Augen zu streuen, ohne je mehr zu investieren als ein bisschen Talmi: „Ein haarbreit nur fehlt und ihr merkt nicht den trug / Mit euren geschlagenen sinnen.“ Hochmütig singt jener Widerchrist das Loblied des ­Kuckuckseis: Und was sich der grosse profet nicht getraut: Die kunst ohne roden und säen und baun Zu saugen gespeicherte kräfte. (SW VI/VII, 56)

    Angesichts mangelnden Widerstands vonseiten der Betrogenen fragt sich der Widerchrist ganz folgerichtig, warum er zahlen soll für Güter, die er sich auch einfach nehmen kann – ein in seiner Antichristlichkeit kaum zu überbietendes Motiv. Sein Hoheitsgebiet wächst folglich stetig – „Kein schatz der ihm mangelt · kein glück das ihm weicht ..“ Auf seinen Befehl „Zu grund mit dem rest der empörer!“ antworten die Toren mit entzücktem Jauchzen, vergeuden freien Willens und ohne Umschweife „was blieb von dem früheren seim“, unter dem wir lebensspendende Reste aus dem „untern borne“ der Templer verstehen dürfen (SW VI/VII, 53). Die Toren entdecken den Betrug – allerdings zu spät. Die letzte Strophe offenbart das unrühmliche Ende der vom teuflischen „Fürst des Geziefers“ Geblendeten. Wie Mastvieh darben sie an Trögen, die kein Wasser mehr bergen, irren umher, während „schrecklich erschallt die posaune“, Sinnbild der Zerstörung Jerichos.28 Aufmerken lässt hier erneut die Perspektivwahl, die schon in Der Kampf wundern machte. Nun spricht der archetypische

    ‚Siebenter Ring‘. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa I. Hg. v. Marie Luise Borchardt. Stuttgart 1957, S. 258–294, hier S. 260. 27 Vgl. hierzu die sehr knappe Zusammenfassung von Gerhard Schulz: Ein neuer Weltzusammenbruch. In: Frankfurter Anthologie. Bd. 5: Gedichte und Interpretationen. Hg. u. m. e. Nachbem. vers. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt/M. 1980, S. 135–137. 28 Während ich mit der Kommentierung der Bibel-Zitate im Widerchrist, die Gerhard Schulz in seiner Besprechung vornimmt, d’accord gehe, leuchtet mir der von ihm detektierte Wechsel der Sprecherinstanz in der letzten Strophe nur bedingt ein, vgl. ebd., S. 137. Meines Erachtens lässt sich anhand des Gedichts nicht entscheiden, ob hier Dichter oder Widerchrist spricht. Besieht man sich allerdings seinen dialogischen Charakter – die erste Strophe zitiert die irregeleitete Menge –, wird die Einführung des Dichters als dritte Sprecherinstanz unwahrscheinlich.

    

    Der Siebente Ring · Gestalten 

     371

    Antagonist selbst, der Feind alles Guten, dem auf den Leim nur geht – und das sind in der Darstellung Georges nicht wenige! –, wer vom Glauben vollständig abgefallen ist. Immer deutlicher tritt die kaleidoskopische Fülle der dualistischen modi vivendi der Gestalten in Erscheinung, die George bis in den absoluten Antagonismus von Christ und Antichrist hinein immer neuen Extremwerten zuführt. Die Kindheit des Helden (SW VI/VII, 58  f.) offeriert einen weiteren Blick auf die Vielfalt der Ausgestaltungsmöglichkeiten eines ursprünglichen Antagonismus. In stark an germanische Sagen erinnernder Manier steht nun der heranwachsende Held im Fokus, der noch ganz jung von âventiuren und Bewährungsproben träumt, während er einsam durch die Lande zieht, immer bereit, sich selbst durch Abgrenzung zu adeln und sein Führertum an jener traumhaften Gegensphäre zu schulen, die einzig als Bezugsgröße eines Helden gelten kann. Diese einsame Schulung mündet in den letzten Strophen des Gedichts in sich in Allmachtsfantasien ergehenden Schilderungen eines Kriegerhelden, der siegreich diejenigen „in angst und ehrfurcht“ erstarren und sich erniedrigen macht, die „ihn schmähn und schelten“. Ihnen bleibt nichts, als hündisch um Gnade zu winseln – die Übermacht des Helden, die sich in der „Proskynese, dem Fußkuß als Zeichen absoluter Unterwerfung“ versinnbildlicht, ist total.29 Mit Der Eid und Einzug finden die Gestalten einen Abschluss, der die sich exemplarisch formierenden Kräfte bündelt, gleichsam durch seinen Hauch zusammenschweißt,30 und zum Kampf gegen das feindliche Außen hinführt.31 Dieses ‚Außen‘ muss dabei verstanden werden als Sphäre ‚jenseits des Bundes‘, der sich um 1907 lebensweltlich ebenso herauszukristallisieren beginnt, wie er im Werk Georges Gestalt annimmt. Der Eid schwört die Gruppe erwählter, geretteter Figuren ein auf den Kampf gegen den gemeinsamen Gegner. Genauer besehen handelt es sich bei Der Eid (SW VI/VII, 60  f.) erneut um ein Dialoggedicht, schildert es die Zeremonie jener durch Blutsbrüderschaft Verbundener doch anhand der Wechselrede von Führer-Ich und Gemeinschaft. Dieses Ich wendet sich in der ersten Strophe mit folgenden Worten an sein Gefolge: „›Schreitet her und steht um mich im rund / Die ich auserkor zum bund‹“, seine Rolle als Menschenfischer beglaubigend durch die Rekapitulation seiner bedachten, sehe-

    29 Ernst Osterkamp: Die Küsse des Dichters (wie Anm. 21), S. 77. – So verstörend sich archaische Tapferkeit und germanisierender Kampfesmut vor dem Spiegel heutigen historischen Wissens ausnehmen, so wenig darf vergessen werden, dass sich Georges blonder Held mit azurblauen Augen – der Entstehungszeitpunkt des Gedichts ist nicht nachgewiesen – in Gesellschaft einer bunten Fülle weiterer Gestalten befindet, man also von der prinzipiell gleichordnenden Struktur des Zyklus keine wie auch immer geartete Hegemonialstellung des germanischen Helden ableiten kann. Im Hinblick auf seine lyrischen Qualitäten empfinde ich Die Kindheit des Helden als kleines Licht. 30 Vgl. ebd., S. 78. 31 Kai Kauffmann versteht den Aufbau der Gestalten analog als „auf die Ankunft einer neuen Zeit“ ausgerichtet. Vgl. GHb I, 178.

    372 

     Tina Winzen

    rischen Auswahl Einzelner zu Bundgenossen. Die zweite Strophe enthält zunächst das Pendant der Gefolgsleute, die sich affirmativ zu ihrem Anführer bekennen. In kurzen, schnellen Wechseln der Sprecherinstanzen dokumentieren die letzten vier Verse der zweiten Strophe die Reziprozität bündischen Lebens als eine Art Perpetuum mobile sich wechselseitig mobilisierender Kräfte: Unser glück begann mit deiner spur. ›Mächtig ich durch euren schwur.‹ Wir die durch dein atmen glühn und blühn. ›Ich von eurem marke kühn.‹ (SW VI/VII, 60)

    Die Verwendung des Paarreims, hier Zentrum und Peripherie des Bundes miteinander verbindend, und der eindringende Gestus der Wechselrede intensivieren den Eindruck bündischer Geschlossenheit und eingeschworener Gemeinschaft. Während die dritte Strophe als Ausdruck unbedingten Willens der Bundgenossen zu ‚Gefolgschaft und Jüngertum‘ zu lesen ist32 – „Pflüge über unsre leiber her: / Niemals mahnt und fragt dich wer!“ –, bezeugt die vierte und den Eid beschließende Strophe sodann das vom Ich geschaute Schicksal der Bundgenossen. Vermittels der Substantive „Boden“ und „Himmel“ drückt sich hier der absolute Geltungsanspruch jener bündischen Gemeinschaft in irdische und transzendente Sphären gleichsam als Gewährsmänner anführender Manier aus. George eröffnet ein großes, in seinem Vertikalismus allumfassendes Tableau. Das Ich kündet schon vor Beginn des Kampfes von „vollendung und […] lohn“, denn der Ausgang seines bündischen Unterfangens ist ihm unerschütterlich gewiss. Die Brücke zum Zyklus der Gezeiten schlägt George in ebenjenem Moment der Siegesgewissheit der Gestalten. In den Gezeiten wird es später heißen: „In fahr und fron  ·  wenn wir nur überdauern  ·  / Hat jeder tag mit einem sieg sein ende“ (SW VI/VII, 87). Es scheint, als habe George in der antagonistischen Struktur der Zeitgedichte wie der von Komplementarität und Dualismen geprägten Anordnung der Gestalten – deren lebensspendende Kräfte er noch dazu bündisch auf die neue Gemeinschaftlichkeit einschwört  – eine Losung für die Epiphanie Maximin gefunden, zu der sich im Folgenden der (platonische) Eros der Gezeiten gesellt (SW VI/VII, 60  f.). Im letzten, von Daktylen und Trochäen geprägten Gedicht der Gestalten, das seinen stampfenden Rhythmus konsequent betonten Auftakten wie einem deutlichen Übergewicht stumpfer Kadenzen verdankt, präsentiert George ein den GestaltenZyklus beschließendes Kampflied, das in seiner Wucht und Erbarmungslosigkeit – „Tötet und sichtet  ·  ihr Retter!“  – so gar nicht mit Tonfall und Motivwahl der sich anschließenden Gezeiten in eins zu bringen ist. Einzug (SW VI/VII, 62  f.) bildet den fulminanten Abschluss eines zweiten von sieben Ringen und besingt – von der Kyff-

    32 So der Titel eines Aufsatzes von Friedrich Gundolf in BfdK VIII.

    Der Siebente Ring · Gestalten 

    

     373

    häuser-Symbolik in der ersten bis hin zu mosaischen Bezügen in der fünften Strophe – die Rechtmäßigkeit des geschauten Wechsels, der bereits im Werden begriffen ist: Die ihr entfuhrt Dunkler geburt Euer reich hat begonnen.33 (SW VI/VII, 62)

    Im Bild des Samenkorns, das seiner Bestimmung gemäß „drängte zu sonnen“, sowie in den „Keimwolken“ und der „Lenzblüte“ der Schlussstrophe hält Einzug jedoch auch ein subtiles Bindeglied zur Gezeiten-Thematik des folgenden dritten Zyklus bereit, der sich in besonderem Maße durch Rückgriffe auf jahreszeitliche und mondphasenbedingte Motive konstituiert. Gestalten enthält ein Potpourri wesentlicher Kräfte und Gegenkräfte, die sich innerhalb und außerhalb der Mauern des erstarkenden Bundes beobachten lassen. Ihre Antagonismen sind vielschichtig und verschachtelt, sodass tatsächliche Gegnerschaft häufig vielfach gebrochen hinter konstitutiven Dualismen zum Vorschein kommt. Streng geschieden werden sollte in den Gestalten also ein dualistisches, häufig auf Komplementarität abzielendes Prinzip auf der einen von der Logik des Antagonismus auf der anderen Seite. Während jenes die Polarität eines Phänomens bezeichnet, z.  B. die eigentümliche Harmonie von Manuel und Menes, erstem und zweitem Führer oder Fürst und Minner herausstellt, die sich eben dadurch auszeichnet, dass ihre Konstituenten einander nicht zur Angleichung oder Synthese nötigen, kündet dieses von einem tatsächlichen Verhältnis ernster Gegnerschaft des sich formierenden Bundes gegen die zersetzenden Kräfte des profanen ‚Draußen‘.34 Indem George diese vielfach sich überlagernden Dualismen und Antagonismen ausstellt wie Artefakte in der Vitrine eines Museums, sie aber nicht deutend korrigiert, synthetisiert oder geschmäcklerisch überformt, entfaltet er ein Objektivität suggerierendes Tableau urmächtiger Seinsformen, dessen Ausstellungsstücke Bezeichnungen, seien sie nun

    33 Edith Landmann bemerkt zu Recht und unter Berücksichtigung der Logik des Zyklus, dass sich Einzug als Gegenstück zu Der Kampf ausnimmt. Während dieses den Sieg des Lichts über die Dunkelheit besungen hatte, beschwört jenes nun erwachende dunkle Mächte herauf und bildet so in der Tat das Negativ des Eingangsgedichts. Erklärlich wird die Bündelung dunkler, gleichsam apokrypher Mächte zum Kampfbund dadurch, dass Gewalt George für einen Wechsel der Verhältnisse unabdingbar schien – man denke z.  B. an die zwingende Natur der Templer –, sodass Landmann Einzug als „Sehnsuchtsschrei nach Revolution gegen eine untergangsreife Welt“ begreift. Vgl. Edith Landmann: Stefan George und die Griechen. Idee einer neuen Ethik. Amsterdam 1971, S. 83. 34 Ich widerspreche mit meinem Beharren auf das den Gestalten zugrunde liegende dualistische Prinzip Claude David, der schreibt: „Keines der Bücher des Siebenten Rings trägt deutlicher als das der Gestalten das Merkmal der Konflikte und Kämpfe. Eine zusammenhängende Lehre läßt sich aus ihm nicht entnehmen.“ (CD 247). Dualismus und Antagonismus auszuhalten, nicht zur Synthese zu zwingen, ist meines Erachtens eine solche zusammenhängende Lehre in Reinform.

    374 

     Tina Winzen

    Orts- oder Namensgebungen, nicht mehr bedürfen. In den Gestalten legt er Prototypen menschlichen und dämonischen Wirkens frei, in denen sich auf der einen Seite das Wesen zentraler Motive seiner früheren Dichtungen re-formiert, auf der anderen Seite aber auch Ideen einiger erst im Maximin-Zyklus, im Stern des Bundes und im Neuen Reich sich exemplarisch regender Typen als Blaupausen präfiguriert werden.

    Interpretationen von Die Führer (SW VI/VII, 38–39) und Templer (SW VI/VII, 52–53) Hinter den erklärungen geschichtlicher, schönheitkundiger und persönlicher art liegt der glaube dass von allen äusserungen der uns bekannten jahrtausende der Griechische Gedanke ‚[…] der leib sei der gott‘ weitaus der schöpferischste und unausdenkbarste, weitaus der grösste, kühnste und menschenwürdigste war, dem an erhabenheit jeder andere, sogar der christliche, nachstehn muss. (Das Hellenische Wunder, Blätter für die Kunst)

    In meiner Einführung in den zweiten von sieben Ringen, Gestalten, sprach ich von einer Fülle teils widersprüchlicher, teils sich ergänzender Typen menschlicher Art und wahrer Gestalt. Unter Rekurs auf die Gestalt-Konzeption Friedrich Wolters’ offenbarte sich im Siebenten Ring ein Potpourri der motivischen und stofflichen Weisen, Gestalten in monumentaler und typisierter, häufig auch idealisierter Manier aus der Taufe zu heben. Auch hinsichtlich der Darstellungsformen ließ sich ein lebendiger Artenreichtum der Gestalten nachweisen, wohingegen sich die fassbarste formale Diskrepanz des Zyklus in häufig dialogischen Diptychen und Gedichten auf der einen und monologisch ausformulierten Versgefügen auf der anderen Seite darzubieten schien. Es ist hier daher der Ort, eine vergleichende und gleichfalls exemplarische Analyse zweier Gedichte zu betreiben, die im einen Fall dialogischer, im anderen Fall monologischer Prägung sind. Ich habe mich mit Die Führer für das erste von fünf Diptychen entschieden, da sein formaler Aufbau mehr noch als die verbleibenden Gedichte gleicher Art eine Fülle antagonistischer Gestaltungsprinzipien schon auf formale, äußerliche Art und Weise ausprobiert. Korrespondenzen formaler Besonderheiten mit dem eigentümlichen Gehalt des Gedichts ergeben sich ungezwungen und machen die Fülle des dualistischen Spiels sich ergänzender und ausschließender Seinsweisen der Gestalt fassbar. Die dialogische Natur der Führer wird reguliert, gleichsam moderiert, durch die spürbare Instanz eines Beobachters, dem es obliegt, den impliziten Dialog der beiden Führertypen zu formen und zu steuern. Templer hingegen wähle ich, weil

    Der Siebente Ring · Gestalten 

    

     375

    es den Interpreten reizt, im Bild mittelalterlichen Tempeleisentums Querverweise auf die sich parallel zum Siebenten Ring etablierende Kreisstruktur der George-Anhänger zu entdecken, das Gedicht als Vision idealer Gemeinschaftlichkeit im Sinne Georges zu verstehen.1

    I Die Führer Der Erste

    Der Zweite

    Ich schaute viele auf geschmücktem wagen Halbnackt in gold- und farbigem geschnüre Die sprechend lachend sassen oder lagen.

    Die höfe waren voll betrieb und drauss Ging der mit maass und zirkel ums gebälk · Der steckte auf das dach den bänderstrauss.

    Und Einer nackt vom scheitel bis zur zehe Stand da am weg bis dies vorüberführe Und lief dann mit dass es ihm nicht entgehe.

    Die trieben ihre pferde durch mit schrei’n · Die luden waren auf: sie schauten drein Doch hatten ihre augen keinen glanz.

    Er jubelnd kreisend eilte um die wette Und auf der ganzen bahn hin alle schreiter Schlossen sich an und machten mit ihm kette.

    In einem garten war ein fest im gang · Sie sangen – viele weiber sangen mit Doch war ihr lied und lachen ohne klang.

    Sie kamen unter tanz und sang und sprunge Stets dem gefährte wieder bei und weiter Mit wildem jauchzen und unbändigem schwunge.

    Und Einer ging und warf das haupt empor Und stand dann betend wo vorm abendtor · Der war ein jüngling noch und trug den kranz. (SW VI/VII, 38  f.)

    Die Führer schildert aufeinanderfolgend in jeweils vier Terzetten die Beschaffenheit zweier Führungspersönlichkeiten. Die Redesequenz des Ersten gleicht formal dem Aufbau eines im italienischen Volkslied üblichen Ritornells, bestehend aus fünfhebigen Jamben, die durchgängig durch weibliche Kadenzen beschlossen werden.2 Im Unterschied dazu ist die Redesequenz im Zweiten zwar auch in Terzetten abgefasst, die sich dem Ritornell annähern, allerdings weist das Reimschema hier wiederum Variationen auf, die einer innerhalb des Ritornells unüblicheren Fügung des Reims entsprechen, indem sie zwei Waisen entstehen lassen, so in den Mittelversen der

    1 Vgl. Jürgen Egyptien: ‚Hexenreihen‘. In: CP 50 (2001), H. 250, S. 61–66, hier S. 66. 2 Der Erste weist ein Reimschema auf, das in den Strophen eins und zwei sowie drei und vier jeweils das Versende des Mittelverses wiederholt, ferner die einzelnen Strophen durch umarmende Reime zu unverrückbaren Sinneinheiten schmiedet, was eine spürbare Variante des im Ritornell üblichen Kettenreims darstellt.

    376 

     Tina Winzen

    ersten und dritten Strophe. Auch gestaltet sich die Bindung durch den Reim hier insofern anders, als sich nicht die ersten und letzten beiden Strophen gegenüberstehen, wie dies in Der Erste der Fall ist; vielmehr reimt der Schlussvers der zweiten Strophe auf den Schlussvers der vierten Strophe, stellt also ein Bindeglied zwischen den Strophen zwei und vier dar, die im Gegensatz zu den nicht durch Reime verbundenen Strophen eins und drei dichter aneinanderrücken. Die Strophen verbinden so in einem formalen Paradox Gehalte, die sich diametral entgegenstehen. Die glanzlosen Augen der einfachen Leute – ein Bild, das wohl die Seelenlosigkeit ihrer Art transportiert – sind durch den Reim verbunden mit dem „kranz“ des Schlussverses, der, einer Krone gleich, das Haupt des „jüngling[s]“ schmückt. Dieser gesonderte Jüngling blickt nicht um sich, nimmt Gartenfest und Marktgewühl kaum zur Kenntnis, richtet seinen Blick vielmehr nach oben, vielleicht zur Sonne, betet, während die Übrigen im Gegensatz zum hoheitsvollen Modus des gekrönten Betenden lärmiger Geselligkeit frönen, deren „lied und lachen ohne klang“ auskommt, keinen Nachhall besitzt und somit, ganz im Profanen verbleibend, kein Heiliges mehr ehrt. Die auffälligste formale Diskrepanz zwischen den Redesequenzen besteht in der Verwendung verschiedener Kadenzen. Hatten wir es in Der Erste durchgehend mit klingenden Kadenzen zu tun, so reguliert im Zweiten der ebenfalls einigermaßen regelmäßige, nur durch gelegentliche Spondeen variierend auftaktende fünfhebige Jambus, indem er auf die unbetonte elfte Silbe verzichtet, die Versstruktur durch die konsequente Verwendung stumpfer Pendants. Interessant sind diese arg schematischen Ausführungen natürlich nur, wenn sie sich in Bezug zum Gehalt des Gedichts setzen lassen, das, wie eingangs erwähnt, einer konsequent dualistischen Struktur folgt, die der Logik des Gesamtzyklus entspricht. Insofern lässt sich an Die Führer exemplarisch eine Kongruenz in formaler wie inhaltlicher Hinsicht belegen, die – sei’s durch Divergenzen in Reimschema, Kadenz und Versmaß, sei’s durch facettenreichen Blick auf die typisierte Figur des Führers – Reibung erzeugt und Spannungsmomente schafft. Der Erste schildert aus der Perspektive eines randständigen Beobachters die Szene eines Festtagsumzugs, an dem „auf geschmücktem wagen“ lebendig ins Gespräch und Amüsement vertiefte Figuren teilnehmen, die vermittels der Beschreibung „Halbnackt in gold- und farbigem geschnüre“ antikisierend gezeichnet sind. Von der lustigen Masse der Freizügigen gesondert, erblickt der Beobachter einen durch Versalien auch auf Zeichenebene deutlich abgesetzten ‚Einen‘, „nackt vom scheitel bis zur zehe“, der den Festzug zunächst an sich vorbeiziehen lässt und ihm dann „jubelnd kreisend“ nacheilt, die anderen „schreiter“ animierend, sich ihm anzuschließen und, dem Reimschema entsprechend, „mit ihm kette“ zu machen. Tanzend, singend und springend nähern und entfernen sich diese so Beseelten „dem gefährte wieder bei und weiter / Mit wildem jauchzen und unbändigem schwunge“, wobei es vielleicht jene sich nie völlig ergebende, immer wieder sich auch zurückziehende Art der Annäherung ist, die, pointiert aufgegriffen im „unbändige[n] schwunge“ des Schlussverses, die Variation des klassischen Kettenreims nach sich zieht, demgegenüber die hier

    

    Der Siebente Ring · Gestalten 

     377

    benutzten umarmenden Reime eine loser verbundene Fügung der einzelnen Strophen zeichnen.3 Während also jener erste Führer sich dadurch auszeichnet, mit der traumwandlerischen Sicherheit eines Rattenfängers die Menge der zunächst noch maßvoll schreitenden Zuschauer enthusiastisch zu beseelen, sie dem Treiben des Festzuges als Animierte nahzubringen, geht der Führer des Zweiten „mit maass und zirkel ums gebälk“. Maß und Zirkel weisen diesen als in der Tradition der Zimmerleute agierenden Führer aus, „[d]er steckte auf das dach den bänderstrauss“ und somit einen ein-weihenden, initiierenden Ritus vollführt.4 Der zweite Führer begeht den zum Richtfest stilisierten Ritus allein – formal korrespondiert dieser Beobachtung die Verwendung einer Waise im selben Vers –, und zwar im Kontrast zu der in der zweiten Strophe dargestellten unruhigen Szenerie eines Marktes, auf dem sich Menschen tummeln, die Waren ankarren, verladen und tauschen; ein Getümmel, das sich als seelenlos erweist: Die Augen der Menschen sind matt und glanzlos. Ebenfalls steht dieses Gartenfest in deutlicher Spannung zur antikisierenden Umzugsszenerie in Der Erste, die bei aller Leutseligkeit durchaus erhabene Züge trägt; die Männer auf dem Wagen gleichen Teilnehmern antiker Festumzüge, die auch George und die Seinen in der kosmischen Periode durchaus begeisterten. Jener zweite Führer stellt insofern das Gegenstück zum Anführer der Gemeinschaft des Ersten dar, als er das Los der Einsamkeit, der maßvollen Anmut ritueller Bewegung und des absondernden Gebets erträgt – und dies seinen jungen Jahren zum Trotz in einer Weise, die ihn über „lauter Animierte ohne anima“, um es mit einem Wort Botho Strauß’ zu sagen, erhebt.5 Was sich in den beiden Folgen der Führer offenbart, ist die Janusköpfigkeit wahren Führertums, das auf je verschiedene Art und Weise den Führer von der Menge der – hier bloß zum Tanz verführten, dort unbeseelte Feste Begehenden – trennt, ihn heraushebt und im Sondern besonders macht. Das den Gestalten-Zyklus prägende, antagonistische Prinzip stellt hier demgemäß nicht verschiedene Führungsstile einander gegenüber, sondern baut die gegensätzliche Struktur zwischen den Polen der beiden besonderen Führer und den im besten Fall bloß Mitlaufenden, im schlechtesten profane Wegwerfleben führenden ‚Anderen‘ auf. Beide unterscheiden sich einzig in Tonfall und Gebärde. Während der erste Führer weich, anmutig, tänzelnd daherkommt – entsprechend des Gebrauchs weiblicher Kadenzen, die jeden Vers sanft ausklingen lassen  –, vertritt der zweite ein prototypisch männliches Prinzip von Führertum – entsprechend ausgestaltet durch den Gebrauch stumpfer Kadenzen –, das von Würde, Maß und solitude bestimmt ist. Übrigens griffe, so betrachtet, Die Führer

    3 Verbindungen zwischen den Strophen bestehen dennoch, weil die ersten und letzten beiden Mittelverse jeweils aufeinander abgestimmt sind. 4 Winkelmaß und Zirkel als Kernsymbole der Freimaurer erlauben Bezüge zur Lebenswirklichkeit Georges und seiner Anhänger. 5 Botho Strauß: Die Unbeholfenen. Eine Bewußtseinsnovelle. München 2007, S. 56.

    378 

     Tina Winzen

    das schon aus Der Kampf bekannte poetologische Motiv der impliziten, allegorischen Diskussion verschiedener Kunstauffassungen wieder auf, allerdings ohne jenes ‚Auf Gedeih und Verderb‘, das seinem Vorgängergedicht Namen, Tonfall und Motivwahl einschreibt.6 Die Führer stellt eine Art Yin und Yang dar, in dem sicher eine Analogie zur in George sich verkörpernden poeta vates-Konzeption wurzelt. Allerdings tut es dies friedlich und beinahe gleichmütig, ohne sich des herrischen Tons der Zeitgedichte zu bedienen. Es scheint, als bestünde wahre Gegnerschaft nicht zwischen verschiedenen Kunstauffassungen oder Führungsstilen, sondern – die Logik der Zeitgedichte fortschreibend – zwischen dumpfer Masse und besonderer Gestalt.

    II Templer Wir eins mit allen nur in goldnem laufe – Undenkbar lang schied unsre schar der haufe · Wir Rose: innre jugendliche brunst Wir Kreuz: der stolz ertragnen leiden kunst. Auf unbenamter bahn in karger stille Drehn wir den speer und drehn die dunkle spille. In feiger zeit schreckt unsrer waffen loh’n · Wir geisseln volk und schlagen lärm am thron. Wir folgen nicht den sitten und den spielen Der andren die voll argwohn nach uns schielen Und grauen wenn ihr hass nicht übermannt Was unser wilder sturm der liebe bannt. Was uns als beute fiel von schwert und schleuder Rinnt achtlos aus den händen der vergeuder Und deren wut verheerend urteil spie Vor einem kinde sinken sie ins knie. Der augen sprühen und die freie locke Die einst den herrn verriet im bettelrocke Verschleiern wir dem dreisten schwarm verschämt Der unsre schatten erst mit glanz verbrämt. Wie wir gediehn im schoosse fremder amme: Ist unser nachwuchs nie aus unsrem stamme – Nie alternd nie entkräftet nie versprengt Da ungeborne glut in ihm sich mengt.

    6 Vgl. meinen Aufsatz zum Gestalten-Zyklus im vorliegenden Band.

    Der Siebente Ring · Gestalten 

    

     379

    Und jede eherne tat und nötige wende: Nur unser – einer ist der sie vollende – Zu der man uns in arger wirrsal ruft Und dann uns steinigt: fluch dem was ihr schuf’t! Und wenn die grosse Nährerin im zorne Nicht mehr sich mischend neigt am untern borne · In einer weltnacht starr und müde pocht: So kann nur einer der sie stets befocht Und zwang und nie verfuhr nach ihrem rechte Die hand ihr pressen · packen ihre flechte · Dass sie ihr werk willfährig wieder treibt: Den leib vergottet und den gott verleibt. (SW VI/VII, 52  f.)

    Die äußere Gestalt des Templer-Gedichts ist schnell umrissen: Neun regelmäßige, je vier Verse umfassende Strophen mit durchgängigem Paarreim beherrscht ein alternierender, fünfhebiger Jambus, der sich einzig durch die anaphorische Häufung des ‚Wir‘ in der ersten Strophe, das noch dazu durch einige Eingangs-Spondeen rhythmisch zum Einhalt gebietenden Ausruf hervorgehoben ist, irritiert zeigt. Der erste Paarreim jeder Strophe endet dabei durchgängig mit klingenden, der zweite hingegen konsequent mit stumpfen Kadenzen. Auffällig ist weiterhin ein Zeilensprung über die formale Zäsur zwischen achter und letzter Strophe hinaus, der eine Einheit des Sinns dieser beiden letzten Strophen suggeriert, die sich auch in inhaltlicher Hinsicht nachvollziehen lässt: Waren die Templer am Ende der siebten Strophe für ihre „eherne tat“ verdammt worden, worauf sie sich fluchend revanchieren, so schildern die letzten beiden Strophen in einer atemlosen Geste jene nur den Templern eigene Macht, die in der ebenso zentralen wie viel zitierten, chiastischen Formel „Den leib vergottet und den gott verleibt“ kulminiert.7 Zuvor offenbart sich ihre Widersacherin, die als „die grosse Nährerin“ apostrophiert wird und, so schon der Kommentar der Sämtlichen Werke (SW VI/

    7 Auch Claude David vermerkt in Anlehnung an die Thesen André Malraux’ Leibvergottung und Gottverleibung als „antagonistische Haltungen“ sowie als jene Pole, zwischen denen Georges Kunstreligion – von einer solchen spricht David freilich noch nicht! – ewig changiere. Mit dem Diktum „Nichts kennzeichnet ihn besser als diese Zwiespältigkeit“ kommentiert David Georges Problem, sich hinsichtlich der Inauguration Maximins zwischen Umrisszeichnungen zu entscheiden, die ihn entweder als göttlichen Menschen oder als jugendlich-menschlichen Gott ins Bild rücken. Vgl. CD 252. So sehr dieses Fazit besticht – sein Wort von der Unmöglichkeit, eine einheitliche Lehre aus den Gestalten zu ziehen, wirkt angesichts der Kongenialität seiner Maximin-Diskussion nur umso problematischer. Meines Erachtens ist es ebenjene unlösliche Spannung, ebenjene Antinomie, die in den Gestalten auf je verschiedene Art und Weise durchgängig Thema ist – und die sich nicht zuletzt im gottmenschlichen Zwitterwesen Maximin personifiziert. Vgl. ebd., S. 247.

    380 

     Tina Winzen

    VII, 210), eine alternative Allegorie zu ‚Mutter Erde‘ einführt, als weibliches Prinzip. Entgegen späterer Gedichte Georges, etwa Der Mensch und der Drud aus dem Neuen Reich (SW IX, 53–56), stehen die Templer als Vertreter edler Mächte hier nicht im Bund mit der Natur, sondern agieren als ihre Bezwinger: Heraufbeschworen wird ein Szenario, das die Zeugungsgewalt der weiblich apostrophierten Erde als „im zorne“ versiegt dokumentiert. Sie verweigert, ins Bild des Mischens gebannt, „starr und müde“ ihre lebensspendenden Aufgaben. Das ‚Wir‘ der Templer ist kodiert als der Erde entgegengesetzte Macht, die diese „stets befocht // Und zwang und nie verfuhr nach ihrem rechte“, als antagonistische Kraft also, die der weiblichen Erde buchstäblich Herr zu werden imstande ist.8 In der chiastischen Formulierung „Die hand ihr pressen · packen ihre flechte“ offenbart sich das gewalttätige Moment dieser Begegnung von Templern und weiblichem Erdgeist in einer neuerlichen Kongruenz von aufeinanderprallendem Inhalt und aufeinanderprallender Syntax.9 In diesen beiden letzten Strophen ist kein Raum für Zweifel an der Überlegenheit des ‚Wir‘.10 Fraglich ist hingegen, ob dieses Szenario eine Eventualität oder ein

    8 Böschenstein bemerkt hier überdies die Installation einer mythischen Weltsicht, die die Erde allegorisch und weiblich apostrophiere, „als ob die spezifische geschichtliche Situation vor der mythischen Sehweise zurückzutreten hätte.“ Bernhard Böschenstein: Stefan Georges Spätwerk als Antwort auf eine untergehende Welt. In: WuW 1–17, hier 4. – Zugespitzt formuliert könnte man seine und meine Sicht der Dinge übereinbringen, spräche man von der Installation des ‚Mythos Mann‘. 9 Ralf Simon fasst dies als ‚deklamatorischen Anspruch‘ Georges und versteht das Templer-Gedicht als Bebilderung der Emanzipation des Dichters in Sachen Wortfindung: „Im ‚Templer‘-Gedicht holt die deklamatorische Rede die gewaltlosere Semantik des Liedes wieder ein und verrät die Wahrheit über den Umgang mit Musen und Nornen. Durch Zwang kann die Signifikation dem unteren Born abgerungen werden.“ Ralf Simon: Das Wasser, das Wort. Lyrische Rede und deklamatorischer Anspruch beim späten Stefan George. In: WuW 48–68, hier 64. 10 Der Fairness halber sei hier H. Stefan Schultz’ avancierter Versuch erwähnt, das Templer-Gedicht von historischen Rahmungen des legendären Templerordens her zu verstehen, der durchaus stellenweise interessante Ergebnisse liefert. Vgl. H. Stefan Schultz: Templer. Interpretation des Gedichts aus dem Siebenten Ring von Stefan George. In: Auslegung. Düsseldorf u. München 1972 (Drucke der Stefan George Stiftung), S. 25–41. Was Schultz’ Deutung hingegen nachträglich ins Abseits verweist, ist sein Versuch, am in der Tat verwirrenden Gebrauch der Pronomina in Strophe vier ein historisierendes Verfahren Stefan Georges festzumachen. So sieht er den Wechsel von der ersten Person Plural zur dritten Person Singular nicht nur als Indiz, sondern als Beweis für eine Deutung im Sinne von: Das Volk, das sich derart wütend an den Templern vergangen hat, beweist seine Inkompetenz dadurch, dass es vor einem „kinde“ ins Knie sinkt. Das Kind ist in Schultz’ Deutung Christus, den die Templer nicht als Gott verehrt hätten, weil er zu jung und zu unrühmlich am Kreuz gestorben sei. Wie auch immer sich dies bei den als Ketzern verschrienen Templern tatsächlich verhalten haben mag: Schultz’ Deutung – der man gewiss an anderem Ort noch weitere Schwachstellen nachweisen könnte – verkennt sowohl die eindeutige Überformung Maximins durch an Jesu Leben und Tod gemahnende Attribute (vgl. Kai Kauffmann: Loblied, Gemeindegesang und Wechselrede. Zur Transformation des Hymnischen in Stefan Georges Œuvre bis zum ‚Stern des Bundes‘. In: WuW 34–47, hier 35) als auch das Konzept ‚kindlichen Königtums‘ (SW III, 76), das für George von großer Bedeutung ist. Meines Erachtens lässt sich der Wechsel der Pronomina in Strophe vier – der übrigens auch die beiden Schlussstrophen der Templer

    

    Der Siebente Ring · Gestalten 

     381

    mit Sicherheit eintreffendes, zukünftiges Ereignis beschreibt, da der Darstellung der letzten beiden Strophen meines Erachtens nicht entnommen werden kann, ob es sich beim „wenn“ des ersten Verses um eine konditionale oder eine temporale Konjunktion handelt. Besieht man sich den Siebenten Ring als Ganzes, darf man mit einiger Sicherheit folgern, dass es sich angesichts der sich vollziehenden Vergottung Maximins um eine konditionale Fügung handelt.11 Fassbar wird dieses eigentümliche Szenario einer sich den Naturgesetzlichkeiten gewaltsam entgegenstellenden Gruppe, die, ihrer durchgängig positiven Attribuierung nach zu urteilen, hierdurch kein Unrecht begeht, durch den Nachhall divergierender Konzepte des Zeugens in platonischen Dialogen. Im Gastmahl beispielsweise diskutiert Aristophanes zwei unterschiedliche Arten des Zeugens; zum einen die herkömmliche physische Weise, zum anderen jene geistig-schöpferische Variante, der die pädagogisch wertvolle Liebe von Männern zu Knaben entspricht.12 Begehrt ein kennzeichnet – leicht auch als Verfahren der Distanzierung eines geweihten Gestus der Anbetung einer Macht, die größer ist als die eigene Kampfeskraft, von der profanen Umwelt verstehen. Alternativ ließe sich schlussfolgern, dass sich der Wechsel vom ‚Wir‘ zum ‚Sie‘ in Bezug auf die Templer immer dann beobachten lässt, wenn die Ebene der antagonistischen Gegenüberstellung von Volk und Templern verlassen wird und sich die Templer größeren, bedeutsameren – allgemeingültigeren – und heiligeren Aufgaben zuwenden: Andacht und Vergottung des Leibes bzw. Verleiblichung des Gottes. – Träfe Schultz mit seiner Interpretation der vierten Strophe ins Schwarze, würde das bedeuten, die gottlose und unehrerbietige Menge der „vergeuder“ wäre fähig zu einem würdevoll gezeichneten Akt der Andacht, wie er fraglos im Ins-Knie-Sinken vor einem Kind gestaltet ist: Eine meines Erachtens ebenso absurde Vorstellung wie jene eines George, der seine Verse vielleicht nicht am Reißbrett, aber mit der Nase im Geschichtsbuch entwirft.– Ernst Morwitz möchte ich an dieser Stelle ebenfalls widersprechen, der die eindeutig negativ belegten „vergeuder“ irritierenderweise mit den Templern assoziiert (vgl. EM I, 245) und somit verkennt, dass auch im Bild der Beute der Templer, die nicht von diesen, sondern vom vergeudenden Volk „achtlos“ verschwendet wird, das dualistische Prinzip der Gestalten fühlbar ist. Es begegnet uns wieder im Stern des Bundes, vgl. Alles habend alles wissend seufzen sie, SW VIII, 29. 11 Grammatisch möglich ist in diesem Zusammenhang auch ein Nachvollzug des „wenn“ als einleitender Ausdruck eines wünschenswerten Zustands. 12 Ausgehend von der These, in vergangenen Tagen hätten sich kugelförmige Menschen aus zwei zueinander gehörenden Teilen zusammengesetzt, schildert Aristophanes folgende Herleitung menschlichen Begehrens: Einem ursprünglich weiblichen Geschlecht, von der Erde abstammend, und dem rein männlichen Sonnengeschlecht gesellt er in eigentümlich postmoderner Manier zusätzlich ein ursprünglich androgynes Geschlecht bei, das dem Mond zugeordnet war. Infolge menschlicher Hybris und göttlichen Ratschlusses des Zeus werden diese Urwesen geteilt mit dem Ziel, ihre Macht einzuschränken und das Verhältnis zwischen Göttern und Menschen kontrollierbar zu gestalten. Diese Teilung ist folgenreich, denn die dergestalt Unvollständigen vergessen auf der Suche nach ihrem Gegenstück, die abgesehen von wilden Umarmungen noch dazu unfruchtbar bleibt, alles andere und drohen auszusterben, denn Vereinigung und Zeugung neuen Lebens sind aufgrund nach innen gewendeter Geschlechtsteile nunmehr unmöglich. Zeus hat ein Einsehen, verlegt selbige wieder nach vorn und sichert sich dadurch menschliche Nachkommen, die ihm und den Seinen Opfer darbieten können. Sehnsucht nach dem anderen ist dem platonischen Aristophanes gemäß also eigentlich nur die Folge einer tiefergehenden Sehnsucht nach seinem verlorenen Gegenstück.

    382 

     Tina Winzen

    Mann also nach Maßgabe des platonischen Eros einen anderen Mann, mündet dieses Sehnen in geistiger Schöpfung, der man auch die Entstehung großer Kunstwerke zuschreibt. Spuren dieses unterhaltsamen Mythos finden sich im Templer-Gedicht und erklären, warum sich die exklusiv männliche Gemeinschaft der Templer bzw. Rosenkreuzer dem schnöden weiblichen ‚Mischen‘ widersetzt und der männlichen Herrschaft qua geistiger Zeugung zu ihrem Recht verhilft. Wie bereits anhand anderer Gedichte des Zyklus erläutert, ist dies durchaus zu verstehen im Sinne eines Sieges der künstlerischen, schaffenden Kräfte über das bloß Kreatürlich-Natürliche. Den Templern liegt somit erneut eine komplexe antagonistische Struktur zugrunde, die der Gemeinschaft der Templer zwei Widersacher gegenüberstellt. Zum einen ist dies das „volk“ der zweiten Strophe, durch dessen Hass der „wilde[] sturm der liebe“ erst geadelt wird, durch dessen Verkennung die Schatten der Edlen sich „erst mit glanz verbrämt“ sehen. Neben diesem „dreisten schwarm“ oder dem eine große Anzahl bezeichnenden „haufe“ der ersten Strophe emanzipiert sich die „schar“ der Templer auch noch von der natürlichen Macht der mütterlich gezeichneten Erde. Zum Zeugen haben sie ein weibliches Element nicht länger nötig; frei nach Platons Aristophanes wird hier der mann-männliche Zeugungsakt zur entweder wünschenswerten Zukunftsvision oder konditionalen Fügung stilisiert. Dass ein Nachhall platonischer Vorstellungen rein männlicher Schöpfungsakte in Templer keineswegs unwahrscheinlich ist, weist die Betrachtung weiterer Wendungen nach: In der dritten Strophe wird der bereits erwähnte Bannkreis eines ‚wilden Sturms der Liebe‘ beschworen, dem das Volk nur Abscheu entgegenbringt. Zunächst evoziert dieser schon aus dem Nietzsche der Zeitgedichte bekannte „kreis den liebe schliesst“, in den „[s]ich bannen“ dem großen Einzelgänger Gram und Kummer erspart hätte (SW  VI/VII,  12  f., hier  13), Gedanken an die dem erotischen Begehren wesensverwandte philia, die Freundesliebe also. Deutlicher ins Hoheitsgebiet des Eros verschiebt sich die philia des Liebesbundes im Sturm der Liebe – dem übrigens dasselbe Verb, bannen, beigeordnet ist. Auch hinsichtlich der Begriffe Zeugung und Schöpfung changiert Templer zwischen philia und eros, beispielsweise gebärdet sich die sechste Strophe, die im Bild des ‚Gedeihens in fremdem Schoße‘ rein physische Zeugungsakte als der Templer-Gemeinschaft wesensfremde Vorgänge überführt, sodass auch zukünftige Nachkommen der Gemeinschaft nicht von jenen selbst gezeugt werden, als Ausgestaltung eines geistigen Eros, der allerdings keineswegs leibfeindlich gedacht werden sollte, eher als eine ‚Verlängerung der Homoerotik in die Lyrik Georges‘.13 13 Vgl. Braungart u.  a.: Platonisierende Eroskonzeption in Briefen und Gedichten des George-Kreises (Maximilian Kronberger, Friedrich Gundolf, Max Kommerell, Ernst Glöckner). In: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Renate Stauf u.  a. Berlin u. New York 2008, S. 223–267, hier S. 230. – Denken ließe sich hier auch an die Formulierung „Neuen adel den ihr suchet / Führt nicht her von schild und krone!“ aus dem Dritten Buch des Sterns des Bundes, die sich ebenfalls gegen das Modell schnöden Geburtsadels wendet und stattdessen dem Ideal

    

    Der Siebente Ring · Gestalten 

     383

    ‚Zeugung‘ und ‚Schöpfung‘ stellen sich als vollkommen getrennt voneinander zu bewertende Vorgänge dar, wobei der mann-männlichen Schöpfung natürlich größere Bedeutung zukommt als dem schnöden Geschlechtstrieb, die Schöße der Ammen gehören einer fremden Ordnung an. Templer wäre allerdings wohl kaum ein derart viel diskutiertes Gedicht Georges, würde sich die Stoffwahl auf jenseits kosmischer Runden hanebüchen antik wirkende platonische Mythen beschränken. Es gilt, eine Vielzahl hierüber hinausweisender Bezüge offenzulegen. Einen wichtigen Impuls liefert die titelgebende Templer- bzw. Rosenkreuzer-Thematik (vgl. EM I, 244  f.). Gleich eingangs wird dem chronologischen Ablauf der Zeit das Konzept eines goldenen Zeitalters gegenübergestellt, das gleichsam die einzige Bezugsgröße jener Tempeleisen ist. In der knappsten möglichen Fügung, dem Symbol, offenbart sich die Gestalt der Templer als ‚Kreuz‘ und ‚Rose‘. Schon Wolfgang Frommel stellt unter seinem Pseudonym F. W. L’Ormeau in seinem sonst gelegentlich esoterisch daherkommenden Aufsatz Das Rosensymbol. Eine Meditation eindrücklich klar, dass diese Templer die Rose – und das Kreuz, könnte man hinzufügen – nicht nur verkörpern, sondern sind, wodurch sich Bezüge auftun zu Vorstellungen der Realpräsenz des Göttlichen, wie sie zuletzt unter anderem von George Steiner vertreten wurden, Frommel sie unter Rekurs auf Goethe jedoch auch bereits ausformuliert. Er nennt diesen Vorgang „die Ergriffenheit vor dem Bild, die Ehrfurcht vor aller gestalthaften Leibwerdung“14. Hier begegnet uns die Idee der Realpräsenz in radikalisierter – man könnte auch sagen: ursprünglicher – Form einer Vergottung des Leibes bei gleichzeitiger Leibwerdung des Göttlichen. Es ist offenkundig, dass die Gemeinschaft der Templer keine rein menschliche Gruppierung meinen kann – dafür ist sie viel zu potent. „Auf unbenamter bahn in karger stille“ vollbringen jene Templer ihr Werk, das sich durch eine Parallelisierung des Schmiedens von Waffen mit dem Spinnen des hier als ‚dunkel‘ attribuierten Lebens- oder Schicksalsfadens der Moiren der griechischen und der Nornen der germanischen Mythologie versinnbildlicht.15 Im Bild des Fadens, das implizit in der „spille“ mittransportiert wird, hallt ein klassischer griechischer Mythos nach; jener der Ariadne, die Theseus den goldenen Faden zur Orientierung im Labyrinth reicht, damit dieser nach der Vernichtung des Minotaurus wieder zu ihr zurückfinden möge. George beweist in Templer einmal mehr seinen Willen zur synkretistischen Kultivierung diverser Assoziationsräume des Mythischen und Mythologischen.16

    einer geistig-schöpferischen Elite, die gleichsam „[s]tammlos“ heranwächst (SW VIII, 85), huldigt. Vgl. EM I, 246. 14 F. W. L’Ormeau (Wolfgang Frommel): Das Rosensymbol. Eine Meditation. In: CP 1 (1951), H. 1, S. 15– 25, hier S. 17. 15 Vgl. EM  I,  245, der in der Spille ein traditionell weibliches, im Speer hingegen ein traditionell männliches Symbol erkennt. 16 Vielleicht nicht zufällig ließe sich dem ersten Paarreim der achten Strophe die Figur der weiblichen Norne beifügen. In Das Wort (SW IX, 107) ist diese hier nur angedeutete Verknüpfung manifest: „Und

    384 

     Tina Winzen

    Das „kind[]“ der vierten Strophe, das den kreuzfahrenden Tempelrittern bei allem archaischen Blut- und Tatendurst unvermittelt Verehrung abringt, weckt darüber hinaus christliche Assoziationen, die sich im Jesuskind verkörpern und im MaximinZyklus erneut wirksam werden. Die Gegenläufigkeit in den Templern ist vielschichtig. Im Bild sich formierender Gemeinschaft, die durch das Moment der Liebe die Patina des Währenden, ins Ewige des goldenen Zeitalters als der absoluten Gegensphäre verweisenden Habitus bekommt, definiert sich ein streng vom ‚Draußen‘ abgeschotteter, heiliger Bezirk, der insbesondere durch vielgestaltige religiophile und mythologisierende Überblendungen an Würde und Erhabenheit gewinnt. Antagonistisch hierzu verhält sich  – systemtheoretisch gewendet – die Umwelt des bündischen Systems, die den Code der Binnensphäre in keiner Weise rezipieren oder nachvollziehen kann. Was innen ist, verbleibt in Gestalt einer verräumlichten Gegensphäre zum Nur-Zeitlichen der Umwelt wiederum unbefleckt von der zersetzenden Logik des Draußen. Was friedliches Miteinander bedeuten könnte, verabsolutiert die antagonistische Logik der Gestalten zu Parteien im Widerstreit.17 Ein weiteres dualistisches Moment, das in Sachen Gehalt und Teilhabe am (transzendenten) Schöpferischen den Innen-Außen-Antagonismus von Templern und Volk wesentlich übersteigt, ist hingegen der Antagonismus von weiblicher Natürlichkeit und männlichem Schöpferwillen, der Anklänge an Platon erkennen lässt und wichtige Lektüren der Kosmiker der Logik des sich formierenden George-Kreises durch Umkodierung anschlussfähig macht:18 Die Ära des positiv konnotierten Mutterrechts, wie es sich prägend auf Ludwig Klages und Alfred Schulers auswirkte, ist Geschichte, ewige Gegenwart erzwingt ein schöpferisches Patriarchat der Bundgenossen.

    harrte bis die graue norn / Den namen fand in ihrem born“. – Schon Ralf Simon bringt übrigens Das Wort und Templer in einen Zusammenhang. Vgl. Ralf Simon: Das Wasser, das Wort (wie Anm. 9). Er benennt sie treffend als Gedichte antipodischen Charakters. Vgl. ebd., S. 63. 17 Die Spezifik des George-Kreises hat darüber hinaus, wissenschaftsgeschichtlich interessant, die Soziologische Kategorie des Bundes Herman Schmalenbachs wesentlich beeinflusst, ohne sich freilich von George im selben Maße gebilligt zu finden. Vgl. Herman Schmalenbach: Die soziologische Kategorie des Bundes. In: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften 1 (1922), S. 35–105. Dass die Kategorie des Bundes theologisch gewendet auch ein Verhältnis bezeichnen kann, das zwischen Gott und Mensch geschlossen wird, eröffnet dabei einen weiteren Resonanzraum des Siebenten Rings, der vielleicht deutlich macht, warum für George der Freundschaftsbund dem Kult um die Apotheose Maximin vorangeht. Vgl. das Gedicht Einverleibung, das, wie Wolfgang Braungart nachweist, in der Bezugnahme auf die christliche Eucharistiefeier an den Bund zwischen Gott und Menschen erinnert. Vgl. WB 242, u. H.-J. Hermisson: Bund und Erwählung. In: Altes Testament. Hg. v. Hans Jochen Boecker. Neukirchen-Vluyn 1983, S. 222–243. 18 Vgl. darüber hinaus Henning Bothe: ‚Ein Zeichen sind wir, deutungslos‘. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George. Stuttgart 1992 (Metzler Studienausgabe), S. 153, der in Georges Schöpfungskonzeption Anklänge an Hölderlin heraushört und schlüssig nachzeichnet.

    Tina Winzen

    Gezeiten Wer ist dein Gott? All meines traums begehr · Der nächste meinem urbild · schön und hehr. (SW VIII, 16)

    Die Gedichte des Zyklus Gezeiten sind Friedrich Gundolf und Robert Boehringer zugeeignet bzw. biografisch aus Begegnungen mit beiden Männern erwachsen (SW  VI/ VII,  211  f.). Da diese Information für das Verständnis einiger Einzelgedichte zwar grundlegend sein mag, die Gesamtkomposition des Zyklus jedoch nicht maßgeblich erschließen hilft, wähle ich einen Zugang, der nicht nach etwaigen Widmungen oder Zueignungen fragt oder das ins Gedicht transportierte Erlebte auf seine formale Beschaffenheit hin untersucht.1 Im Handbuch gibt Kai Kauffmann zu bedenken, die „streng anmutende Architektur der Gesamtkomposition“ des Siebenten Rings stehe „in Spannung mit der großen Vielfalt der Einzelgedichte“ (GHb I, 177). Er mahnt deshalb folgerichtig eine detaillierte strukturelle Analyse der gegebenenfalls nur scheinbar konzentrisch um den Maximin-Zyklus kreisenden sechs Ringe auf ihre Anordnung hin an.2 Gezeiten, der als dritter Ring dem Kraftzentrum des Siebenten Rings voransteht, bietet sich an, um diese Forderung Kauffmanns anhand eines sinnfälligen Beispiels einzulösen. Das Moment einer in der Tradition der platonischen Dialoge stehenden Erneue­ rung durch Liebe und eines Zugewinns an Erkenntnisfähigkeit durch die erlebte, durchlebte und schließlich abstrahierte Beziehung zu einem geliebten ‚Du‘ stellt eine Konstante im Schrei­ben Stefan Georges dar, die sich allerdings häufig in distanzierendem, verschleierndem Gestus artikuliert.3 Die Gezeiten, die Kai Kauffmann, immer

    1 Im Folgenden ist deshalb von ‚Liebendem‘ und ‚Geliebtem‘, ‚Älterem‘ und ‚Jüngerem‘ die Rede, wo bei der Wahl eines biografischen Zugangs genauere Analysen nötig würden. Auch erscheinen ‚Ich‘ und ‚Du‘ in meiner Analyse mithin als Abstraktionen, die mir notwendig scheinen. Im Zuge wünschenswerter Detailinterpretationen der Gedichte des Gezeiten-Zyklus können diese jederzeit ergänzt werden. First and foremost betrachte ich Gezeiten als absichtsvolle Anordnung, deren Sinn und Motivation ich nachspüren möchte. 2 Auch Rudolf Borchardt stellt die besondere Architektur des Siebenten Rings heraus – freilich nur, um sie als äußerliche, künstliche Komposition und Ausgeburt eines Übergangsdichters herabzuwürdigen. Vgl. Rudolf Borchardt: Stefan Georges ‚Siebenter Ring‘. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa I. Hg. v. Marie Luise Borchardt. Stuttgart 1957, S. 258–294, hier S. 261. 3 Vgl. die kenntnisreiche philologische Studie Margherita Versaris: Strategien der Liebesrede in der Dichtung Stefan Georges. Aus dem Italienischen v. Asta von Unger. Würzburg 2006. – Zur Platon-Rezeption im George-Kreis, die hier jenseits der Lyrik Georges keine Rolle spielen kann, vgl. den dichten Artikel Stefan Rebenichs: „Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel“. Platon im George-Kreis. In: GJb 7 (2008/2009), S. 115–141. Rebenich hebt an der Platon-Rezeption des George-Kreises folgende Aspekte

    386 

     Tina Winzen

    den Hinweisen des Kommentars der Sämtlichen Werke folgend, sowohl auf die Phänomene Ebbe und Flut wie den Wechsel der Jahreszeiten zurückführt,4 sind dieser zwingenden Logik der Liebeserfahrung gewidmet und schildern in vielen Facetten die einzelnen Stationen, die ein platonisches Liebeserlebnis von der singulären Liebeserfahrung zwischen Zweien bis hin zu deren Abstrahierung mit Blick auf die Liebe zum göttlichen Schönen allgemein umfasst. Hier wird die Symbolik der Gezeiten fruchtbar, stellen diese doch eine Abfolge, ein Aufeinanderfolgen verschiedener, unter Umständen einander bedingender Elemente dar, die nicht beziehungslos, sondern nur in ihrer Wechselhaftigkeit zu verstehen sind. Zum Einstieg mögen hier einige Worte Diotimas, wiedergegeben vom Sokrates des Gastmahls, verdeutlichen, in welcher Hinsicht ich die Gezeiten aus der Tradition platonischer Dialoge heraus verstanden wissen möchte: Wer nämlich auf die rechte Art diese Sache angreifen will, der muß in der Jugend zwar damit anfangen, schönen Gestalten nachzugehen, und wird zuerst freilich, wenn er richtig beginnt, nur Einen solchen lieben und diesen mit schönen Reden befruchten, hernach aber von selbst inne werden, daß die Schönheit an irgendeinem Leibe der an jedem anderen verschwistert ist, und es also, wenn er dem in der Idee Schönen nachgehen soll, großer Unverstand wäre, nicht die Schönheit in allen Leibern für eine und dieselbe zu halten, und wenn er dies inne geworden, sich als Liebhaber aller schönen Leiber darstellen, und von der gewaltigen Heftigkeit für Einen nachlassen, indem er dies für klein und geringfügig hält. Späterhin aber muß er die Schönheit in den Seelen für weit herrlicher halten als die in den Leibern, so daß, wenn Einer, dessen Seele zu loben ist, auch nur wenig von jener Blüte zeigt, ihm das doch genug ist und er ihn liebt und pflegt, indem er solche Reden erzeugt und aussucht, welche einen Jüngling besser zu machen vermögen, damit er so dahin gebracht werde, das Schöne in den Bestrebungen und in den Sitten anzuschauen und auch von diesem zu sehen, daß es sich überall verwandt ist, um so die Schönheit des Leibes für etwas Geringes zu halten. […] Wenn also jemand vermittels der ächten Knabenliebe von dort an aufgestiegen jenes Schöne zu erblicken anfängt, der kann beinah’ zur Vollendung gelangen. Denn dies ist die rechte Art, sich auf die Liebe zu legen oder von einem Andern dazu angeführt zu werden, daß man von diesem einzelnen Schönen beginnend, jenes einen Schönen wegen immer höher hinaufsteige, gleichsam stufenweise […], und man also zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne.5

    hervor: Die Wiederentdeckung des Sokrates als ‚Gestalt‘ (1), das Faszinosum einer nur in platonischen Dialogen erhaltenen, ungeschriebenen Lehre des Sokrates (2), den „im Rekurs auf den platonischen Eros“ geschaffenen, „neuen Bildungsbegriff“ des Kreises (3) sowie die Transzendierung der in Georges Geist übereinkommenden Gemeinschaft zum ‚Staat‘ oder ‚Reich‘ (4). Ich möchte mich – da ganz zentrale Platon-Publikationen von Kreismitgliedern oder dem Kreis nahestehenden Figuren, etwa Kurt Hildebrandts Übersetzung des Gastmahls inklusive einführender Bemerkungen (1912) oder Heinrich Friedemanns Platon. Seine Gestalt (1914), erst nach dem Erscheinen des Siebenten Rings ihre – unbestrittene! – Wirkung entfalten konnten – den Platon-Bezügen in den Gezeiten auf Basis der Lyrik Georges sowie zentraler Dialoge Platons nähern. Phaidros und Symposion (Das Gastmahl) kommen als Einflussfaktoren thematisch hier am ehesten in Frage. 4 Vgl. GHb I, 178 u. SW VI/VII, 211  f. 5 Platons Gastmahl oder Gespräch über das Wesen der Liebe. Übers. v. Friedrich Schleiermacher. Mit Vorwort, berichtigter Übertragung u. Erläuterung neu hg. v. Max Oberbreyer. Leipzig 1877 (RUB 927), S. 59  ff.

    

    Der Siebente Ring · Gezeiten 

     387

    Die Platon-Kennerin Edith Landmann fasst in ihrem Aufsatz Stefan Georges Auffassung von den Griechen zusammen, dass Georges Platonbild ihm eine Zusammenschau von Leib und Seele, Körper und Geist, ermöglicht hätte,6 die, hier denke ich Landmanns Schlussfolgerungen weiter, die eigentümliche Polyphonie der platonischen Liebe, der Liebe zum Schönen, zur schönen Seele, zum reinen Geist und zur ursprünglichen Idee, miteinander in Einklang bringt. Ebendiese Vielgestaltigkeit – hier folge ich Margherita Versari – macht es dem Interpreten so schwer, die ‚Liebesrede‘ Stefan Georges als genuine Liebeslyrik wahrzunehmen.7 Landmann versteht jenen Teil der platonischen Lehre, der in Jahrhunderten der Rezeption und Ausdeutung die Trennung von Leib und Seele als Grundelement der platonischen Lehre begreift, als den Geschicken unterworfenen, als abhängig insbesondere von christlichen Vereinnahmungen. Als ‚wahren‘ Platon George’scher Provenienz bezeichnet sie die ‚Gestalt Platon‘. Selbige hätte, „in unsere Zeit hineingeboren, den Leib wieder zu Ehren gebracht“. George habe die Lektüre der platonischen Dialoge den Weg zur Vergöttlichung des Irdischen geebnet, auf die Griechen habe sich George berufen können, sollte der schöne Leib im Fokus stehen.8 Es steht zu überprüfen, ob und inwiefern die Lehre der platonischen Dialoge in einem der Liebe gewidmeten Zyklus wie Gezeiten spürbar wird. Blicken wir zunächst auf die äußerliche Gestalt des Zyklus. Kai Kauffmann detektiert, wieder in Anlehnung an den Kommentar, in Gezeiten zwei Folgen, von denen die erste mit dem Gedicht Abschluss schließe und eine Entwicklung nachzeichne, die durch den Perspektivwechsel von ‚Ich‘ zu ‚Du‘ auf die „von Anfang an mitschwingenden Dissonanzen zwischen der dunklen, schwermütigen Seele des Ich und der als heller und leichtlebiger apostrophierten Seele des ‚du‘“ ein krisenhaftes Ende bedinge, das Liebesglück scheitern und in Trauer umschlagen lasse. Nach Kauffmann erweist sich das Modell der erfüllten Liebe somit als nur temporär wirksam werdendes (vgl. GHb I, 178). Die zweite Folge, so Kauffmann, thematisiere eine neuerliche Begegnung von ‚Ich‘ und ‚Du‘, die nicht in Entfremdung, sondern „im Moment der als Heiligung der eigenen Seele empfundenen Liebesvereinigung“ münde (ebd.). Während die inhaltliche Zusammenfassung Kauffmanns stichhaltig ist – sie lässt sich belegen

    6 Ergänzend sei hier auf die folgende, Edith Landmanns Feder entstammende, pointierte Formulierung aus dem Kapitel Diesseitslehre aus der umfangreichen Abhandlung Stefan George und die Griechen. Idee einer neuen Ethik verwiesen, die ich hier aus Platzgründen nicht ausreichend würdigen kann: „Georges Dichtertum vereint in sich das Ringen um geistige und seelische Inhalte mit dem Drang nach ihrer äussersten Versinnlichung. […] Lenkte die Religion, in der er erzogen war, den Blick auf himmlische Seligkeit, so richtete sich sein Auge auf das Hohe und Vollkommene, dessen das Irdische fähig ist und dessen dichterische Verewigung er als seine Sendung empfand.“ Edith Landmann: Stefan George und die Griechen. Idee einer neuen Ethik. Amsterdam 1971, S. 16. 7 Margherita Versari: Strategien der Liebesrede in der Dichtung Stefan Georges (wie Anm. 3). 8 Vgl. Edith Landmann: Stefan Georges Auffassung von den Griechen. In: CP 52 (2003), H. 258–259, S. 5–44, hier S. 35.

    388 

     Tina Winzen

    anhand vertiefender Betrachtungen der  21  Gedichte, die diesen dritten von sieben Ringen bilden –, wird seine Einteilung in zwei Folgen dem Zyklus bei näherem Hinsehen nicht vollständig gerecht. Zwar folgt Kauffmann damit der sicher suggestiven Logik des Kommentars, der angibt, „[d]ie ersten zwölf Gedichte […] sind nicht vor August 1899 entstanden, denn sie gestalten Georges Erleben mit Friedrich Gundolf“ (SW VI/VII, 211). Tatsächlich geben die Verfasser schlüssige Indizien aus dem Befund der Handschriftensituation an, die eine Widmung des Gedichts Danksagung an Friedrich Gundolf nahelegen, außerdem ist auch im Abschluss ein Nachhall der Beziehung zu Gundolf spürbar. In Anbetracht der inhärenten Logik des Zyklus erscheint mir eine derart an der Biografie und an der ‚Entstehungs- und Sozialgeschichte‘ geschulte Einteilung in 12+9 Gedichte jedoch fraglich. Ähnlich verhält es sich meiner Ansicht nach mit Einschätzungen in der Manier von Braungart u.  a., die in ihrer Einführung in die Platonisierende Eroskonzeption und Homoerotik in Briefen und Gedichten des GeorgeKreises folgern, aufgrund der ‚sozialen Modellierung‘ von Leidenschaft „wird sogar die Lyrik für George selbst wie für die Jünger zu einer Erweiterung der persönlichen und brieflichen Kreiskommunikation. In ihr kann erlaubt sein zu sagen, was selbst in den Briefen zwischen Meister und Jüngern zu indiskret wäre [–]“9 eine Schlussfolgerung, die ich ihrem erhellenden Gehalt zum Trotz nur eingeschränkt angemessen finde, weil sie genuin künstlerische Erzeugnisse der Kreiskommunikation nachordnet.10 Will man an Kauffmanns Vorschlag einer Zweiteilung prinzipiell festhalten und auch den Spuren von Braungart u.  a. folgen, was ich vorschlage, gilt es allerdings, Gezeiten von einer unbefangeneren Warte aus zu betrachten. Ich schlage folgende, auf dem Verhältnis der Gedichte zueinander beruhende Lesart vor: Eine erste Folge umfasse die ersten zehn Gedichte der Gezeiten, das elfte, Danksagung, fungiere als Scharnier und Mittler zwischen erster und zweiter Folge, die ich wiederum – bewusst gegen die Suggestion des Titels – mit dem Gedicht Abschluss beginnen lassen möchte, weil dieses, wie ich später eingehend erläutern werde, über einen höchst ambivalenten Charakter verfügt. Es gilt also, diese variierende Zwei(bzw. Drei-)Teilung der Gezeiten in zwei große, jeweils zehn Gedichte umfassende Einheiten, die durch ein Mittlergedicht in der Waage gehalten werden, mit Platon im

    9 Wolfgang Braungart u.  a.: Platonisierende Eroskonzeption in Briefen und Gedichten des George-Kreises (Maximilian Kronberger, Friedrich Gundolf, Max Kommerell, Ernst Glöckner). In: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Renate Stauf u.  a. Berlin u. New York 2008, S. 223–267, hier S. 227. – Hinsichtlich der Frage einer entstehungsgeschichtlichen Herangehensweise halte ich es mit Vincent J. Günther, der in seinem Aufsatz Der ewige Augenblick zu bedenken gibt: „Die Problematik dieses Verfahrens liegt darin, daß auf diese Weise die kompositorische Einheit einer Dichtung zerstört wird.“ Vincent J. Günther: Der ewige Augenblick. Zur Deutung von Georges „Der Siebente Ring“. In: SGK 197–203, hier 197. 10 Es handelt sich hierbei um eine Frage der Perspektive. Während bei Braungart u.  a. sozialgeschichtliche Fragen der Kreisstruktur dem ‚Phänomen George-Kreis‘ beizukommen suchen, was fraglos gelingt, ist es mein Anliegen, den Fokus auf die Lyrik Georges zu legen.

    Der Siebente Ring · Gezeiten 

    

     389

    Rücken zu überprüfen, um damit sowohl der Magie der Zahlen Genüge zu tun als auch einem möglichen sinnhaften Verständnis von Aufbau und Struktur dieses dritten von sieben Ringen nachzuspüren.11 Kauffmanns Rede von den Dissonanzen der Liebenden, deren erster, der ältere, im Eingangsgedicht Wenn dich meine wünsche umschwärmen (SW  VI/VII,  67) als „rauher umschlinger“ in Erscheinung tritt und sich seiner zudringlichen Sehnsucht nach dem „jugendlich biegsamen Baum“ nur allzu bewusst ist, überzeugt. Zur weiteren Illustration der Unvereinbarkeit von Jugend und Schönheit des Geliebten auf der einen und Sehnsucht nach dieser Anmut der Jugend auf der anderen Seite führt das Ich seine „erkaltete[n] finger“ an, die nach „wangen von sonnigem flaum“ tasten. Die Sphäre der Sprecherinstanz ist – im offensichtlichen Gegensatz zur Leichtigkeit des Angesprochenen – eine von Siechtum und Krankheit, Alter und Sorge geprägte (vgl. CD 213): Der „leidende[] hauch“ des Ich, seine „bleiche[,] von duldungen wund[e]“ Seele wie sein „verzehrendes fieber“ geraten dem Liebenden zum Anlass, Fragen nach der Ziemlichkeit seiner Zuneigung aufzuwerfen. Pointiert artikuliert sich seine Sorge in den ersten vier Versen der letzten Strophe, wenn das Ich dialektisch beschreibt: Mich hoben die träume und mären So hoch dass die schwere mir wich – Dir brachten die träume die zähren Um andre um dich und um mich …

    Dennoch mündet das Spiel von sich anziehenden Gegensätzen und fraglicher Ziemlichkeit in den leidenschaftlichen Kuss beider Liebender; die Vereinigung wird gleichsam als Heilung der zuvor beschriebenen Leiden paraphrasiert, ist es doch der Mund des Geliebten, der die infektiös konnotierte Sehnsucht des Liebenden stillt. Das darauf folgende, einstrophige Gedicht Für heute lass uns nur von sternendingen reden! (SW VI/VII, 68) knüpft an das Motiv der Heilung von krankmachender Sehnsucht an, wenn das Ich kündet, sein durch Attribute Jesu überhöhter Geliebter „bricht des blinden nacht mit einem fingerstreich“. Hinzukommt, dass die Züge des Geliebten ein weiteres Gran deutlicher in Erscheinung treten, indem sich seine „unbewusste[] würde“ ergänzend zu den Attributen der Jugendlichkeit und Unbeschwertheit aus dem vorangegangenen Gedicht gesellt. Das „wunder“ dieser erlösenden Liebe vollbringt ein „kind vom eden“, „[d]er weisheit schüler“. Im Moment der Schülerschaft klingt hier die platonische Provenienz des von George und den Seinen propa-

    11 Ernst Morwitz’ frühere Einteilung in 12 + 6 + 3 Gedichte erscheint mir in sich stimmiger als Kauff­ manns am Kommentar orientierte Zweiteilung, da sie die Sonderstellung der letzten drei Gedichte berücksichtigt. Für meinen Geschmack entfaltet aber auch sie sich zu stark entlang lebensweltlicher Orientierungspunkte. Vgl. EM I, 251  f.

    390 

     Tina Winzen

    gierten Meister-Schüler-Verhältnisses an,12 denn schon im Gastmahl wie im Phaidros ist es der pädagogische Eros des Sokrates, der ihm die Liebe der Jünglinge sichert und seine Stellung als Weisheitslehrer innerhalb des Gefüges der paideia festigt.13 Zu guter Letzt ist es die Rede vom „rätselwort der Veden“, das der Geliebte dem Ich löst und so den Bann von seinem Dasein hebt, die überleitet zum dritten Gedicht des Zyklus, in dem die Wirkung der Liebe des Jüngeren auf den Älteren ähnlich dargestellt wird. Auch hier ist es die Lösung „ängstende[r] rätsel“ (SW VI/VII, 69), die dem Geliebten zur Ehre gereicht. Er ist es, der, ganz der Entfaltung der Jahreszeiten gemäß, dem Ich im stürmischen Frühling vom nahen Sommer kündet, der die Schwere „beladener tage“ leicht macht im „schimmer“, der nicht zuletzt eigene Weisheit entfaltet und so den personifizierten Ausweg aus dem Schatten, aus „fahrvolle[r] böse“ und „[ü]ber­finsterte[n] wege[n]“ darstellt  – kurz: dem Sehnen des Liebenden Ziel und Richtung gibt. In der letzten Strophe dieses kurzen Gedichts tritt der „Stern der dies jahr mir regiere!“ als Zuhörer in Erscheinung, dessen Anteilnahme dem Ich Entlastung zuteilwerden lässt.14 Der Charakter des Geliebten in diesen „schenkenden nächten“ wird mit jenem der Doniazade, der Schwester der Scheherazade, verglichen (SW VI/ VII, 212  f.). Durch den wörtlichen Verweis auf 1001 Nacht stellt das Gedicht einen deutlichen Zusammenhang zwischen Liebe und Sprache, Wieder-Liebe und Rezeption her,

    12 Somit zeichnen sich schon in der Liebeslyrik der Gezeiten platonische Tendenzen ab, deren Auftauchen Claude David noch auf spätere Werke Georges datiert hatte (vgl. CD  209). Später schreibt David: „Nach dem Aufruhr der Gezeiten kann es für George keine andere Liebe mehr geben als den platonischen Eros“, eine zunächst einleuchtende These, die freilich davon profitiert hätte, selbigen im Werk Georges plastischer nachzuzeichnen. Ebd., S. 212. 13 Zum platonischen Bildungsbegriff im George-Kreis, der paideia, siehe Wolfgang Braungart u.  a.: Platonisierende Eroskonzeption und Homoerotik in Briefen und Gedichten des George-Kreises (wie Anm. 9), hier insbesondere Christian Oestersandforts Überlegungen, die sich auf die Seiten 230–237 erstrecken. Es ist vielleicht dem Rahmen dieser Publikation geschuldet, dass Oestersandfort zwar collageartig aus Platon-Publikationen des Kreises, Briefen und anderen Einzeldarstellungen zitiert, allerdings keine über „[d]ie platonische Sublimation“ (S. 237) oder den qua Platon befriedigten „Legitimationsbedarf“ (S. 229) hinausweisenden Schlussfolgerungen zieht. Was der platonische Eros im George-Kreis, let alone in der Dichtung, die ja eigentlich von hegemonialem Interesse ist, bedeutet oder bedeuten könnte, bleibt merkwürdig unklar. Schlüssig sind seine Ausführungen zu sublimierter Homoerotik im Kreis dennoch. Vgl. auch Christian Oestersandfort: Platonisches im Teppich des Lebens. In: GJb 7 (2008/2009), S. 100–114. – Um Schieflagen durch kreisinterne Intensivierungsmechanismen zu vermeiden, stütze ich mich im Bemühen um einen wertneutralen Zugang auf die Platon-Übertragungen Schleiermachers (wie Anm. 5). 14 Von einer „Einheit in Fühlen und Denken“, die Morwitz in diesem Gedicht ins Wort gebannt sieht (vgl. EM I, 254), würde ich angesichts der vielbeschriebenen Differenzen zwischen ‚Ich‘ und ‚Du‘ (vgl. CD 210, der die Ungleichheit der Liebenden als „schicksalhafte“ begreift), nicht sprechen, auch und gerade weil in diesem Gedicht mit Erzählendem und Hörendem zwei diametral entgegengesetzte Figuren ins Licht treten, die einander vielleicht ergänzen, kaum jedoch kongruent fühlen und denken dürften. Dass der Hörende ein gewisses Maß an Verständnis für das Ich aufbringen muss, bleibt davon unbetroffen.

    Der Siebente Ring · Gezeiten 

    

     391

    der auf eine Überformung der Liebeskonzeption im Siebenten Ring unter poetologischen Vorzeichen schließen lässt.15 Während das soeben diskutierte Setting vom Sommer nur als einer nahen Prophezeiung kündet, gleichzeitig zurückblickt auf den Herbst der „ernte“ – eine Übergangszeit, die das ‚Du‘ dem Ich erträglich gestaltete –, fragt sich das Ich des nächsten Gedichts, Umschau (SW VI/VII, 70), in der Rückschau auf vergangene Sommer: „Was je versprachen glutumsäumte firmamente / Der üppigen sommer – ward dies ganz gewährt?“ Seine Zweifel führt das Ich, gleichsam in der dritten Person von sich sprechend, auf die lange Zeit der Entbehrung zurück; er ist der „langgetrennte / Den heimat grüsst und der noch zweifel nährt“. Semantisch kündet Umschau allerdings zweifellos von Gewissheiten, namentlich einer völligen Neuordnung, ebenjener UmSchau durch Liebe. In der Rückschau betrachtet das Ich, seine im ersten Vers konstatierte Entfremdung von sich selbst vermittels des Gebrauchs der dritten Person Singular unterstreichend, die Verstetigung dessen, was er als „taumel“, als „jähen überfluss“ und als Betäubung klassifiziert hatte. Die Retrospektive des Ich mündet sodann in ein grand finale: Und eine stunde kam: da ruhten die umstrickten Noch glühend von der lippe wildem schwung · Da war im raum durch den die sanften sterne blickten Von gold und rosen eine dämmerung.16

    Eingeleitet wird jene die letzten drei Strophen umfassende Rückschau jedoch von zwei vorangehenden, einleitenden Strophen, die das Ich allein, wandernd, sinnend zeigen, seinen Zweifeln Raum geben, die sich vielleicht aus einem Moment der Distanz zum Geliebten speisen. In diesem Gedicht der Gezeiten erfährt der Leser Näheres über die Natur des Ich; es tritt hier ins Licht als „warter“, der die Kunst des Träumens beherrscht, der noch staunen kann und sich „willig“ von der Wucht der Liebe übermannen lässt  – sie gehört nach Osterkamp aufgrund der ihr inhärenten, „in einer

    15 Vgl. SW VI/VII, 69. – Einen anderen Zugang zur Parallelität von Liebe und Poetologie bei ­George eröffnet der Blick auf den Dialog Phaidros, in dem Sokrates hinsichtlich der Nähe der Liebe zum Wahnsinn ein Gleichnis anführt, das für George spätestens seit Weihe Geltung beanspruchen dürfte: „Wer aber ohne diesen Wahnsinn der Musen in den Vorhallen der Dichtkunst sich einfindet, meinend, er könne durch Kunst allein genug ein Dichter werden, ein solcher ist selbst uneingeweiht“. Platon: Phaidros. In: Platons Werke. Hg. u. eingel. v. Friedrich Schleiermacher. 2., verb. Aufl. Berlin 1817, S. 53– 170, hier S. 112. 16 Zum Motiv der Rose, hauptsächlich im Templer-Gedicht des Gestalten-Zyklus aber mit Anknüpfungspunkten an weitere Zusammenhänge, zudem höchst amüsant, vgl. F. W. L’Ormeau (Wolfgang Frommel): Das Rosensymbol. Eine Meditation. In: CP 1 (1951), H. 1, S. 15–25, hier insbes. S. 20  f. Frommels Analyse kulminiert in der durchaus auch platonisch zu verwendenden Formel, ihre Perfektion verleihe der Rose „einen Rang, der sie in Bild und Dichtung zum höchsten Beispiel schönheitverklärten Lebens erhebt.“ Ebd., S. 17.

    392 

     Tina Winzen

    sexualisierten Sprache entworfene[n] Vereinigungsphantasie“ zu „Georges gewagtesten poetischen Konzeptionen“17. In Sang und Gegensang (SW VI/VII, 71), dem fünften Gedicht des Gezeiten-Zyklus, erneuert sich die Furcht des Liebenden, einen zersetzenden Einfluss auf die blühende Kraft der Jugend auszuüben. Stellte sich der Geliebte in den ersten Gedichten noch als Löser der Angst und Verkrampfung des Ich dar, ist er nun Initiator einer neuen, unbekannten Sorge, die das Ich in drei Fragen bannt:18 Was sich für dich verströmt kannst du nicht in dich saugen? Befreie mich von meiner lauten angst! War das vielleicht Mein blick – der deiner toten augen? War das Mein hauch als du gebrochen sangst?

    Die Furcht des Ich scheint ausgelöst durch die Empfindung mangelnder Liebes­ fähigkeit seines Gegenübers, sie kulminiert in der manifesten Sorge, seine überschäumende Erregung münde nicht im anvisierten Hort, werde durch den Geliebten nicht in adäquater Weise verarbeitet bzw. rezipiert. Zurückgeführt wird diese Furcht jedoch nicht auf eine etwaige mangelnde Bereitschaft zur Wieder-Liebe, sondern auf den bohrenden Zweifel, den Geliebten unter Umständen, hier den Bogen zum Eingangsgedicht schlagend, mit dem eigenen Hauch angekränkelt zu haben. Im Folgenden, um eine Strophe längeren Gegensang kommt zum ersten Mal der Geliebte selbst zu Wort und artikuliert seinerseits Zweifel, die denen des Ich allerdings kaum entsprechen. Irritierend ist auf den ersten Blick das groß beginnende Substantiv „Versunknen“ im zweiten Vers, das sich durch die Verbindung mit dem Wort „kunde“ leicht irrtümlich als Adjektiv zu diesem, im Sinne einer ‚versunkenen Kunde‘ lesen ließe. Es ist jedoch stattdessen das Versunkene selbst, von dem die toten Augen wie der gebrochene Gesang des Geliebten Kunde geben. Was dieses Versunkene ist, bleibt bis zum letzten Vers des Gedichts im Dunkeln, und zwar sowohl für den Leser als auch in der Bildsprache des Gedichts.19 Der Geliebte, das Ich der letzten drei Strophen, artikuliert zögerlich – das zweifach wiederholte „Vielleicht“ am Beginn der letzten beiden Strophen deutet sein Zögern ebenso an wie das ebenfalls doppelt verwendete „mag“, das in beiden Strophen das jeweils dritte Wort des dritten Verses stellt –, welche Macht es sein könnte, die die Leidenschaft des Älteren entfesselt. Jene Sanftheit, die der Liebende an seinem Gegenüber lobend herausstellt, wird vom Geliebten hier ebenso aufgegriffen wie der Eindruck des „ersterbende[n]“, das die „toten

    17 Ernst Osterkamp: Die Küsse des Dichters. In: WuW 69–86, hier 80. 18 Schon Claude David begreift Gezeiten als „Rückkehr zur Leidenschaft. […] Anstelle der Resignation vermittelt sie [die Sprache der Gezeiten] nun den Konflikt, die Qual, die Angst.“ CD 209 19 Ich widerspreche hier Morwitz, der davon ausgeht, die Seele des Geliebten gebe „vom Versinken Kunde“ (EM I, 256), was sich mir angesichts der Substantivierung im zweiten Vers des Gegensangs ebenso wenig erschließt wie eine etwaige Bedeutung dieses ominösen Vorgangs des Versinkens.

    Der Siebente Ring · Gezeiten 

    

     393

    augen“ des Sangs vorwegnahmen. Dennoch enthält der Dichter dem Leser in einer Art poetischer Hinhaltetaktik die Quelle der Faszination des Geliebten bis zum Schluss des Gedichts vor. Was sich vor den Augen des Liebenden ebenso versteckt wie vor dem Angesicht des Lesers, ist die „versunkne[] seele“ des Geliebten, die ein „dumpfes gurgeln“ hören lässt, den Eindruck einer aufbrechenden Wunde vermittelt und  – leicht zu übersehen wie eine einzelne Blume oder das Licht eines Glühwürmchens – die Aufmerksamkeit des Ich fesselt, es anrührt und bannt. Es scheint also, als habe der in den ersten Gedichten des Zyklus so emphatisch Erhöhte Zweifel ganz eigener Art, die sich, dem zögerlichen ‚Vielleicht‘ des Gegensangs im Modus der Vorsicht entsprechend, als Furcht davor paraphrasieren ließen, den Ansprüchen des Liebenden nicht zu genügen, nichtiger zu sein, als dieser in der ersten Unvernunft der Begegnung zu sehen bereit war. Jedenfalls widerspricht der im letzten Vers artikulierte „kerker der versunknen seele“ der einfachen Anmut jugendlichen Übermuts, schöner Leichtigkeit und reinen Erblühens, den das Ich eingangs vermittelt hatte. Hinsichtlich der Düsternis in Motivik und Stimmung knüpft Betrübt als führten sie zum totenanger (SW VI/VII, 72) an diese lauter werdenden Zweifel der Liebenden an. Das Gedicht beschreibt eine Winterszene. Der Logik des Zyklus gemäß befinden wir uns hier jedoch nicht im Winter nach der Liebe, sondern im Vorfrühling vor dem „keim-monat[]“ des dritten Gedichts (SW VI/VII, 69), was sich unschwer daran zeigt, dass das „innre[] licht“ der Anemonen noch nicht zum Vorschein kommt und diese mit Seelen verglichen werden, die gleichfalls noch vor ihrer Blüte stehen: Und sind wie seelen die im morgengrauen Der halberwachten wünsche und im herben Vorfrühjahrwind voll lauerndem verderben Sich ganz zu öffnen noch nicht recht getrauen.

    Die ‚Entwicklung‘, die Kai Kauffmann in der vermeintlich ersten Folge des GezeitenZyklus beobachtet, wird vom Ich also nicht in chronologischer Folge wiedergegeben, sondern scheint eigenen, zwingenderen Gesetzlichkeiten zu unterliegen. In Du sagst dass fels und mauer freudig sich umwalden (SW VI/VII, 73) fungiert erneut die Gegensätzlichkeit der Liebenden als Motor der Entwicklung; nun situiert in hochsommerlicher Stimmung, die dem Älteren schon vom Sterben des Jahres kündet, den Jüngeren hingegen im „blüten-überschwall“ taumeln lässt. Die zweite Strophe gibt erste Hinweise, was es mit der Dunkelheit des Ich auf sich haben könnte: Die Wiederholung der Liebessituation lastet auf ihm und beschwert ihn, verbietet ihm, der dem Jüngeren das Bewusstsein über wiederkehrende Abgründe der Liebe voraushat, in der Konsequenz ebenjene Unbekümmertheit, die seinen jungen Geliebten ganz unbefangen den Sommer genießen lässt, ohne den kommenden Herbst zu fürchten. Das Ich schreckt in der Konsequenz vor der Fortentwicklung der Beziehung ebenso zurück wie vor dem Fortgang des Jahres:

    394 

     Tina Winzen

    Sie die nicht bleiben wollten und doch weinend schieden Umschweben mich indess du lächelnd schaust .. O kehren wir zurück da mir im mittagsieden Vor der entfachten qual geständnis graust!

    Im Folgenden spricht das befangene, sich grämende Ich von einem Trugschluss des Geliebten, der – einer Umkehrung der dialektischen Semantik des Eingangsgedichts entsprechend – den Zerfall des Ich bzw. seiner Träume, jedoch das Weiter-Leben des Geliebten zur Folge haben könnte. Es bietet sich an, in diesem etwaigen Trugschluss den jugendlichen Optimismus des Geliebten zu sehen, der im Gegensatz zum Älteren nur Sommer sieht, wo Sommer ist, statt den Fortgang der Gezeiten schon vor dem ersten Fall der Blätter herbeizuahnen, die Liebe also noch genießt, wo sein Gegenüber schon Abschied nimmt. Folgerichtig verharrt das Ich in Dankbarkeit für die flüchtige Schönheit des Augenblicks der Liebe, um in der letzten Strophe, eingeleitet durch einen scheidenden Gruß, sein eigenes Vergehen zu antizipieren und – nach einigen Hinweisen auf Gezeiten bewegende Gestirne in den vorangehenden Gedichten – der Sonne ihr Recht zu geben und hinter der im Verlust der Liebe „entseelten fläche“ einen neuen Tag beginnen zu lassen. Es sind „schmerz und schwäche“, die den Liebenden seinen Abschied durchdenken lassen. Vollzogen ist die Trennung zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was sich aus dem folgenden achten Gedicht des Zyklus ableiten lässt, in dem die Liebesbeziehung von Ich und ‚Du‘ offenkundig noch nicht beendet ist. Vielmehr schildert Trübe seele – so fragtest du – was trägst du trauer? (SW VI/ VII, 74) erneut anknüpfend an Momente der Naturnotwendigkeit wie Unausweichlichkeit des ‚Ereignisses Liebe‘, die fortbesteht, obwohl sie beiden Beteiligten längst kaum mehr glückliche Momente beschert, einen Dialog der Seelen. Dem Liebenden scheint die des Geliebten ‚schwach‘, ‚blind‘ und ,leicht‘, jener diesem ‚trüb‘, ,bleich‘ ‚hart‘ und ‚dunkel‘. Trübe seele ist in erster Linie eine sehr dichte Diskussion verschiedener Arten des Liebens, einerseits der leichten, sich hinschenkenden des Jüngeren,20 andererseits der nachdenklichen, zagenden, vieldimensionalen des Älteren. Beiden gemeinsam ist hingegen die Angst, die Liebe des Gegenübers zu verlieren. Darüber hinaus eint beide Positionen der Impuls, festzuhalten an dieser zerstörerischen Liebe, obwohl der Ältere betont, sein „ganzer schmerz ist sehnsucht nur die brennt[,]“ während der Jüngere konstatiert: „[I]ch muss dich lieben / Ist auch durch dich mein schöner traum nun tot.“ In Der Spiegel (SW VI/VII, 75) offenbart sich dieser Wechsel der Stimmung noch deutlicher. Es schildert die Situation einer Prüfung der Liebe auf Herz und Nieren, vergegenständlicht im Symbol des Spiegels, zu dem das Ich traditionell pilgert, um im Angesicht der Spiegelfläche zu prüfen, ob eine neue Liebe Bestand hat. Ernst

    20 An welcher Stelle das Ich „die Seele des Freundes mit formlosem Schaum“ (EM I, 257) vergleicht, erschließt sich mir nicht.

    

    Der Siebente Ring · Gezeiten 

     395

    Morwitz spricht hier korrespondierend von einer Art „Rechenschaft“, die der Dichter sich selbst gegenüber ablege (vgl. EM I, 258). Der Logik des Zyklus zufolge gilt uns die neue, im Vorhinein so wortreich beschriebene Liebe des Ich zu seinem geliebten ‚Du‘ als Gegenstand der Prüfung. Sie entgeht – wie die eingangs artikulierte Sorge des Ich ebenso vermuten ließ wie die immer lauter werdenden Zweifel beider Liebender  – der Unbestechlichkeit des Spiegel-Urteils nicht. Zwar wird das in der ersten Strophe eingeführte, bedauernde „›wir sind es nicht‹“ nicht länger vom Weinen der SpiegelStimmen begleitet, ihr nun „trüb und schlicht“ gesprochenes Urteil ist jedoch nicht minder vernichtend. Auch die dem Spiegel nun angetragenen Träume dieser neuen Liebe, voll froher Hoffnung und leidenschaftlicher Emphase an die Oberfläche herangeführt, genügen den strengen Maßstäben des Spiegels nicht. Der vermeintliche Traum entspricht nicht seinem Urbild, das schon Christian Oestersandfort als platonisches ‚Streben nach dem Schönen‘ begreift, als „Schau der Idee“, die die Seele im Phaidros vor ihrer Verleiblichung erblickt hatte und derer sie sich nun – im Sinne der anámnēsis  – wiedererinnert.21 Im nächsten Gedicht, So holst du schon geraum mit armen reffen (SW VI/VII, 76), dem letzten der hier zu überprüfenden ersten Sinneinheit, spricht ein nun beinahe gänzlich abgeklärtes, in seiner Ernüchterung sich merklich konsolidierendes Ich. Die Steigerung seines Unwohlseins kulminiert hier, angeleitet durch schon ganz anfängliche Ängste, in einem außerordentlich kritischen Verdikt. In der Sprache der Segler kommentiert der Liebende den Gestus des ‚Du‘, das sich im Reffen übt, also im Einholen der „gaben“ des Liebenden.22 Es ahnt jedoch nach Meinung des Älteren nichts

    21 SW VI/VII, 75. – Siehe auch Christian Oestersandfort: Platonisches im ‚Teppich des Lebens‘ (wie Anm. 13), S. 108  f., Zitat S. 110. – Makoto Hidaka sieht im Spiegel-Gedicht Georges auch einen (notwendigerweise in Enttäuschung mündenden) Konflikt zwischen der erträumten, innerlichen Welt des Künstlers und ihrer realen Surrogate bebildert: „[W]as wir in Der Spiegel finden, ist eben das widerspruchsvolle künstlerische Streben, das von dem wirklichen Leben abgewandt, daher weltlos geworden, nach Gestaltung der Landschaft der Seele trachtet, als könnte diese in seinem Innern vorgestellte Welt noch immer seine wahre Welt sein.“ Makoto Hidaka: Georges Gedicht „Der Spiegel“: Zum Problem des Selbst am Anfang des 20. Jahrhunderts. In: Doitsu Bungaku / Die Deutsche Literatur 32 (1964), S. 14–26, hier S. 26. Was bei Hidaka angesichts der Betrachtung des Spiegels als Monade, also ungeachtet seiner zyklischen Positionierung, sicher einleuchtet, sollte hinsichtlich des doch sehr deutlichen Versuchs des liebenden Ich, sich einer realen Liebe zu öffnen, zumindest relativiert werden. – Eine weitere produktive Deutung der Spiegelsymbolik im Werk Georges nimmt Hans-Michael Speier in seinem Aufsatz Die Ästhetik Jean Pauls im Werk Stefan Georges vor. In: Das Stefan-GeorgeSeminar 1978 in Bingen am Rhein. Eine Dokumentation. Hg. v. Peter Lutz Lehmann u. Robert Wolff. Heidelberg 1979, S. 197–207. Speier bemerkt im Hinblick auf Maximin: „Das Urbild tritt dem Dichter aus dem Spiegel entgegen: es ist die Erkenntnis seines Ich, aus dem sich dann das Ideal gebiert. […] Maximin ist weniger der Stifter einer neuen Religion als vielmehr der Vertreter des Ideals ‚Jugend‘.“ Ebd., S. 205. Damit wäre Maximin zu deuten als das erste zum Spiegel geführte Traumbild, das der Prüfung, dem Test auf Urbild-Qualität, standhalten dürfte. 22 Morwitz scheint sich auf die frühere Variante des Gedichts zu beziehen (er liest ‚in armen reffen‘, ‚arm‘ somit adjektivisch) und weitere mögliche Bedeutungen des Reffens nicht zu kennen, da er die

    396 

     Tina Winzen

    von der wahren Vielfalt seiner Zuneigung, den „tausend namen die für dich erschollen / Von allen küssen die geheim dich treffen“. Die Liebe des Ich scheint so stark wie eh, und doch ist das Objekt der Begierde nicht länger jugendlich makellos. Die kurze gemeinsame Zeit habe den Geliebten dazu verleitet, „waffenspiel von wahren siegen“ nicht unterscheiden zu können. Es ist die sich im Vorhinein bereits andeutungsweise darstellende mangelnde Leidenschaft des Jüngeren, die dem Älteren ein bestimmtes „›mehr hunger!‹“ abringt. Durch Versalien abgegrenzt von den zahlreichen zuvor artikulierten Ängsten ist DIE angst […]: dass für die uns gewährte Glückseligkeit wir keim und nähre speichern Um andre – nie uns selber zu bereichern Und süsses licht verblasst und sichre fährte.

    Ich möchte eine Deutung dieser Strophe diskutieren, die an Vorstellungen einer platonischen, über-individuellen Idee von Liebe anknüpft. Mit jener bleibenden Liebe zur Schönheit an sich konfrontiert, nimmt sich die einzelne Liebeserfahrung als nurmehr temporäres, vom Modus des Übergangs angekränkeltes Vergnügen aus.23 So besehen wäre das kurze, bereits im Vergehen begriffene Glück der Liebenden nur eine Vorstufe des eigentlichen Glücks – der Idee der Liebe, der Liebe zur reinen Schönheit –, das erst im zentralen, Maximin gewidmeten Zyklus ausgestaltet wird. Ab sofort regt diese absolute Liebe sodann zu Neugestaltung und Umgeburt an und mausert sich zum konstitutiven Bauprinzip, das z.  B. den Stern des Bundes maßgeblich determiniert.24 Was den Liebenden erster Stunde nurmehr bleibt, ist die Verantwortung, vom Aufwallen, Reifen und Vergehen einer Liebe zu künden, und, im Stand der Einsicht in die Macht des Eros, die Botschaft von der heilenden Liebe zum Schönen unter das interessierte Volk zu bringen. Im Bereich der persönlichen Erfahrung zieht die Verantwortung des gleichsam zum Priester des Eros erhöhten Liebenden Verzicht im Privaten, in der singulären Liebe von ‚Ich‘ zu ‚Du‘ nach sich. Was dem Ich bevorsteht, ist im Gegensatz zur erhebenden, vergangenen Liebeserfahrung ein unsicherer, noch völlig unbekannter Weg, auf dem „süsses licht verblasst und sichre fährte“. Danksagung (SW VI/VII, 77), das ich als Scharnier- oder Achsengedicht der Gezeiten begreife, gebietet der unweigerlichen Abwärtsspirale einer endenden, imperfekten Liebe Einhalt. Ich verstehe es als Atempause, die unter neuerlichem Rekurs auf die bis hierhin seltener gewordene Jahreszeitenmotivik tatsächlich innehält und Dank

    Präposition ‚mit‘ samt und sonders unter den Tisch fallen lässt. Da hilft es auch nicht, dass er der Ansicht ist, „eine Zusammenstellung von Arm und Reff [wäre] als Bild undichterisch.“ (EM I, 259) 23 Vgl. dazu Ernst Osterkamp: Die Küsse des Dichters. In: WuW 69–86, hier S. 83. 24 SW VI/VII, 76. – Vgl. auch das Gedicht Dies ist reich des Geistes: abglanz aus dem Dritten Buch des Sterns des Bundes (SW VIII, 83) und das frühere Ein knabe der mir von herbst und abend sang I (SW V, 64), das sich ebenfalls des Abglanz-Motivs bedient. Hierauf weist Christian Oestersandfort in Platonisches im ‚Teppich des Lebens‘ (wie Anm. 13) hin, siehe S. 109  f.

    Der Siebente Ring · Gezeiten 

    

     397

    sagt. Formal kommt seine Stellung einer Scharnierfunktion deshalb gleich, weil es die beiden anderen, mit jeweils zehn Gedichten deutlich umfangreicheren Einheiten des Zyklus in der Waage hält, gleichfalls aber eine deutliche Zäsur markiert.25 Für sich besehen enthält Danksagung das Kondensat des bisher zurückgelegten gemeinsamen Wegs von ‚Ich‘ und ‚Du‘ und spiegelt seine Scharnierfunktion anhand der eigenen deutlichen Zweiteilung gleichsam en miniature. In zwei Strophen, deren Umbruch eine spürbare Zäsur einleitet, wird noch einmal gebündelt, was im ersten Teil der Gezeiten beständig galt: Die jähe Ankunft des geliebten ‚Du‘ beendet eine sieche Phase hier sommerlich akzentuierten Überflusses und heißer Trägheit. In einem Szenario ausgedorrter Wiesen, „zertretnen kleees“ und „zähem schlamme“ kündet das Grollen eines nahen Sommergewitters von drohender Gefahr. Ich und Lerche singen gleichfalls „hoffnungslosen tones“. Mit dem Anbruch der zweiten Strophe präsentiert sich diese Katastrophe jedoch als ausbleibende. „[L]eichte[] sohlen“ und eine eintretende Helle kennzeichnen die Ankunft des Jünglings, der, antikisierend gezeichnet, Freude spendet und Schatten vertreibt. Die Einführung eines panegyrischen Topos markiert eine weitere Zäsur, die das Achsengedicht von den vorangegangenen Liebesgedichten der ersten Folge unterscheidet. Der Liebende mahnt: Wer wüsste je – du und dein still geleucht – Bänd ich zum danke dir nicht diese krone: Dass du mir tage mehr als sonne strahltest Und abende als jede sternenzone.

    Abzulesen ist zweierlei: Noch immer leuchtet der Geliebte, er überstrahlt dem Liebenden sogar die Himmelskörper. Und doch bliebe dieses Strahlen für die bisher gänzlich ausgeblendete Außenwelt völlig unsichtbar, sänge der Liebende seinem ‚Du‘ nicht ebenjenes Lied. Im Gegensatz zur Anmut der lauschenden Doniazade aus Stern der dies jahr mir regiere! steht nun die Macht des Künders im Fokus. Im Lob des Geliebten wertet der Liebende sich selbst auf. Offenkundig steht dieses Selbstlob der letzten vier Verse in deutlicher, nicht auflösbarer Spannung zum Titel des Gedichts. Indem das Ich dem Geliebten dankt, schlägt sich sein Dank schöpferisch zu Buche und besiegelt im selben Atemzug die eigene Macht, so wie im Dialog von Diotima und Sokrates im Gastmahl geistige Schöpfung dem Schöpfer die Unsterblichkeit des Nachruhms zuteilwerden lässt (SW VI/VII, 77).26 Entgegen der von Kauffmann in Anlehnung an den Kommentar der Sämtlichen Werke vertretenen Logik sehe ich in den Gezeiten eine Ordnung vollendet, die

    25 Das Bild der Waage entlehne ich sinngemäß den bestechenden Ausführungen Günthers, der angesichts der Diptychen des Zyklus Gestalten, der den Gezeiten vorangeht, bemerkt, „daß es George durchweg auf die Erhaltung dieses antinomischen Prinzips ankommt.“ Vincent J. Günther: Der ewige Augenblick (wie Anm. 9), S. 199. 26 Zum Nachruhm im Symposion siehe Platons Gastmahl (wie Anm. 5), S. 56  f.

    398 

     Tina Winzen

    Abschluss (SW  VI/VII,  78)  – die Aporie von Titel und Inhalt als bloß scheinhafte wertend – als erstes Gedicht einer zweiten Folge begreift. Ich gründe diese Positionierung auf die Beobachtung, dass die Semantik des Gedichts die Suggestionskraft des Titels fortwährend konterkariert. Das hier in fünf Strophen besungene Ende ist keineswegs klassisch beschließender Natur, offenbart es doch vielmehr den fortdauernden Charakter einer sich nur hinsichtlich des Moments der Leidenschaft dem Ende zuneigenden Liebe. Zwar spricht das Ich von „erloschnen gluten“ und einem Wechsel der ‚Farben der Erde‘, von Schwermut, Trennung und Darben und offenbart in der zweiten Strophe das Schwinden seiner Sehnsucht: Im Kern ist seine Zuneigung jedoch frühlingsjung wie eh. Das Ich beschließt: Und wird der innre ruf zu dir auch leiser – Ich fühle stets: ich muss mich nach dir neigen · Dein ist mein tag zuerst · ich bin dir eigen Und um uns stehn vom frühling her die reiser.

    Die Unendlichkeit des gemeinsamen Frühlings bildet zusammen mit dem zeitgleich beschriebenen Abschied meines Erachtens eine Spannungssituation, die sich nur auflöst, wenn man neuerlich auf Platon baut. Das in den platonischen Dialogen artikulierte Stufenmodell – also jene Entwicklung, die mithilfe des Eros von der Erfahrung einer singulären Liebe hin zur Huldigung der Liebe zum Schönen an sich voranschreitet27 – hilft nachvollziehen, warum am Ort des offenkundigen Endes einer leidenschaftlichen Liebe das Bild des Frühlings verbunden wird mit dem „stets“ einer unverbrüchlichen Zuneigung:28 Was zwischen ‚Ich‘ und ‚Du‘ nicht mehr in unmittelbarer Liebe fortbesteht, hat das Ich geweiht und dem Schönen empfänglich gemacht,

    27 Nachzulesen beispielsweise in der bereits zitierten Passage des Gastmahls, hier ausführlicher wiedergegeben: „Wenn also jemand vermittels der ächten Knabenliebe von dort an aufgestiegen jenes Schöne zu erblicken anfängt, der kann beinah’ zur Vollendung gelangen. Denn dies ist die rechte Art, sich auf die Liebe zu legen oder von einem Andern dazu angeführt zu werden, daß man von diesem einzelnen Schönen beginnend, jenes einen Schönen wegen immer höher hinaufsteige, gleichsam stufenweise von Einem zu Zweien, und von Zweien zu allen schönen Gestalten, und von den schönen Gestalten zu den schönen Sitten und Handlungsweisen, und von den schönen Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis man von den Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelangt, welche von nichts anderem als eben von jenem Schönen selbst die Kenntnis ist, und man also zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne.“ Platons Gastmahl (wie Anm. 5), S. 61. 28 Auch Claude Davids Deutung einer „Zärtlichkeit“, die an die Stelle der Leidenschaft tritt, überzeugt. Vgl. CD  210. Darüber hinaus deutet David einleuchtende Parallelen der Gezeiten-Gedichte zu den ersten Liedern des Siebenten Rings an, die hier keine Erwähnung finden können. Vgl. ebd., S. 210  ff. – Ich finde es grenzwertig, wie Morwitz verkleinernd von „Verantwortungsgefühl“ (EM I, 261) zu sprechen, das für den Dichter stets charakteristisch gewesen sei. Eine Bindung, die als „Dein ist mein tag zuerst · ich bin dir eigen“ umschrieben wird, hat meines Erachtens wenig vom air des bloßen Verantwortungsgefühls, dafür aber umso mehr von einer beständig sehnenden Nostalgie und genuiner Zuneigung, die sich in Sorge keineswegs erschöpft.

    Der Siebente Ring · Gezeiten 

    

     399

    sodass Reue nur bis zu einem gewissen Punkt funktioniert. Es gibt, um diese These durch ein weiteres Wort aus dem Gedicht zu untermauern, in der vierten Strophe gar zu bedenken: „nach dem zerknittern / Der falben reste bald an fremder stätte“ möge es zwar neue Freuden erleben, und doch „dringt wie zum verwandten blut ein zittern“. Der titelgebende Charakter von Abschluss wird somit maßgeblich konterkariert vom Eindruck des Fortbestands; entsprechend ist eines der augenfälligsten Worte in diesem nur vermeintlichen Schlussgedicht das Adverb „unlöslich“, das die Bindung von ‚Ich‘ und ‚Du‘ beschreibt. Abschluss ist das erste Gedicht der Gezeiten, das gänzlich retrospektiver Natur ist, und doch kündet es in erster Linie vom Bewahren (SW VI/ VII, 78). Wer mir bis hierhin folgen will, mag angesichts des nun folgenden kurzen Gedichts, Das lockere saatgefilde lechzet krank (SW VI/VII, 79), bemerken, meine bisherigen Annahmen zu Inhalt und Architektonik des Gezeiten-Zyklus würden unterwandert von einem Gedicht, das wiederum eine Frühlingssituation beschreibt, die folgerichtig von der baldigen Ankunft des Geliebten zeugen müsste und somit auf ein ‚vor der Liebe‘ verweisen würde. Meines Erachtens handelt es sich bei diesem Frühlingsgedicht jedoch um eine Variation des uns bereits bekannten Themas, eine Szenerie also, in der das Ich am Ende seines Winters nach der Liebe steht, einem neuen Frühling ohne das geliebte ‚Du‘ ins Auge blicken muss und nun in einer aufwallenden Bewegung den früheren Geliebten neuerlich, doch aus der Ferne, beschwört:29 Sei mir nun fruchtend bad und linder trank Von deiner nackten brust das blumige schauern Das duften deiner leichtgewirrten strähne Dein hauch dein weinen deines mundes feuchte.

    Der unaufhaltsame Wechsel der Gezeiten und die Melancholie des Ich, ins Bild der krankenden Wintersaat gebannt,

    29 Ernst Morwitz weist unter Rekurs auf den Entstehungszeitpunkt des Gedichts – nach dem Tod Kronbergers und nach der ersten Begegnung mit Robert Boehringer – darauf hin, dass dieses wie die folgenden Gedichte „die Essenz des Erlebens des Dichters mit Robert Boehringer“ einfange (EM I, 262). Das mag für diese Gruppe von Gedichten hinsichtlich lebensweltlicher Anlässe richtig sein, befriedigt angesichts der Struktur des Zyklus jedoch wenig. Zwar ist es meines Erachtens in Anlehnung an Morwitz durchaus möglich, in Boehringer jenes ‚Du‘ zu sehen, das den Dichter nun in Erwartung eines neuen Frühlings um Linderung und Stimulation bitten lässt, allerdings erscheint mir dies als zu unergiebige Wiederholung der Liebe zu Gundolf. Ich bin davon überzeugt, dass man dem gesamten Zyklus Gezeiten durch bloßen Rückgriff auf biografische Bezüge und sich hieraus ergebende Schlussfolgerungen eine Tiefendimension vorenthält, die anzuerkennen ihm gut zu Gesicht steht. Das fußt auf der Annahme, ‚Ich‘ und ‚Du‘ seien hier – und andernorts (Vorrede der Zweiten Ausgabe des Jahrs der Seele, SW IV, 7) – insofern dieselbe Seele, als sie mehr als eine konkrete Liebesbeziehung subsumieren, das Liebeserlebnis gleichsam transzendieren und heiligen (vgl. GHb I, 178). Daher empfinde ich es als fruchtbarer, stellenweise vom Einzelschicksal zu abstrahieren.

    400 

     Tina Winzen

    Da es nach hartem froste schon die lauern Lenzlichter fühlte und der pflüge zähne Und vor dem stoss der vorjahr-stürme keuchte[,]

    schaffen  – gleichsam als Drittes zwischen vergangener Liebe und zukünftigem Sehnen – die ort- und zeitlose Trauer des Liebenden, dem im Angesicht des Kommenden die Rückschau teuer ist. In Da waren trümmer nicht noch scherben (SW  VI/VII,  80), das ich als drittes Gedicht der rechten Waagschale verstanden wissen möchte, gerinnt dieser bereits angedeutete, rekapitulierende Charakter der Gedichte nach der Liebe im konsequenten Gebrauch des Präteritums: Wieder ist es die Erinnerung an den Frühling einer leidenschaftlichen Liebe, der, nun auf ungleich emphatischere, vielleicht von den Leiden des Umbruchs geheilte Weise, das Liebesglück vergangener Tage besingt. Das Lob dieser Liebe artikuliert sich so unbefangen wie exemplarisch in den Versen „Da war kein sehnen war kein werben: / Wo eine stunde alles gab.“ Der präteritale Eindruck der Rückschau wird – kaum gefestigt – sodann gleich wieder unterlaufen durch ein sehr gegenwärtiges „rasen das kein arm beengt –“ das also darauf hindeutet, einmal erlebter Rausch halle unablässig nach. Und doch, allem Nachhall zum Trotz: Nach Danksagung ist die eigentliche Liebeserfahrung eine Angelegenheit der Vergangenheit, die nurmehr in Echos von Zuneigung und Rausch kündet. In Das kampfspiel das · wo es verlezt · nur spüret (SW  VI/VII,  81) gibt ein Ich anhand dreier Beispiele zu bedenken, dass vergangene Verletzungen in der Rückschau eine eigentümliche Schönheit entfalten, die dem zugrunde liegenden Ereignis realiter abgeht. Es stellt somit eine weitere wichtige Stufe dieser Folge von Gedichten nach der Liebe dar. So thematisiert die Sprecherinstanz, das ‚Du‘ der vorangegangenen Gedichte, in der ersten Strophe manifeste Verfehlungen des Ich, indem es ein „kampfspiel“ detektiert, „[d]as solang prüfend greift bis es zerschnüret“, was gerade im Hinblick auf das Element der Probe dem Spiegel zu korrespondieren scheint. Auf das vergangene, allzu stürmische Begehren des Ich rekurriert die zweite Strophe, deren letzter Vers wie auch der Schlussvers der dritten Strophe das Ende der ersten Strophe variiert. Allen drei Versenden gemeinsam ist ihr anaphorischer Beginn, der immer die Worte „Wird nun im traume“ enthält und sich nur durch die Adjektive „gross“, „lind“ und „süss“ abgewandelt sieht. In der letzten Strophe steht das unerwartete Moment der Trennung im Fokus – ein Eindruck, der ebenfalls erst in der Retrospektive (bzw. im Traum) verwunden wird. Was dieses fünfzehnte Gedicht der Gezeiten in besonderem Maße von den anderen abhebt, ist der Wechsel der Sprecherinstanz. Wurde in der bis hierhin vorgelegten Deutung die Rolle des Ich nahezu ausschließlich vom älteren, liebenden, gleichsam versehrten Ich bekleidet, das neben der ganzen Last seiner Jahre auch jene der Erfahrung trägt, scheint es hier, als spräche der geliebte Jüngere, der wohl allein seinem Gegenüber einen verletzenden Hang zur zersetzenden Prüfung, die Wildheit seiner Begierde sowie sein nächtliches Scheiden, dies zumindest können wir vermuten, vor-

    

    Der Siebente Ring · Gezeiten 

     401

    werfen kann. Bei aller Bitterkeit, die sich erst im Traum abmildern oder ins Positive umdeuten lässt, endet der Prozess des Nachsinnens über die vergangene Liebe hier beinahe glücklich. Was ist dies fremde nächtliche gemäuer? (SW VI/VII, 82) mutet hingegen wie das alptraumhafte Gegenstück dieser versöhnlichen Verse an. Das Ich des Gedichts, nun wieder das uns gut bekannte, findet sich in einer fremden, nächtlichen (also auch: traum-haften) Gegend wieder, sieht sich von „Gestalten“, „schemen“, unangenehm bedrängt und eines „früheren ungeberdigen feuer[s]“ erinnert. Das Ich resümiert: Diese Schatten-Gestalten „drängen sich an mich und quälen mich“. Nach diesem einversigen Einschub, der nach jeder der drei Strophen metrisch gleich strukturiert und durch Reim gebunden variiert wird, wendet sich die Sprecherinstanz wieder dem ‚Du‘ zu, das sich aufgrund seiner ebenfalls schemenhaften Gestalt zunächst nur durch die Anordnung des Zyklus als Geliebter der ersten Folge identifizieren lässt. Gedenkt das Ich seines ‚Du‘ in der zweiten Strophe allerdings in den Worten „In all der sommerstunden glühender dürre / Hast du sie festgebannt in diese schwüle“, wird eindeutig, dass es sich beim ‚Du‘ um ebenjenes uns bekannte handelt, übte doch auch dieses stets lindernden, heilenden Einfluss auf das Ich aus. Deutlich wird aber auch, dass Heilung nicht von Dauer ist, dass die vermeintlich gebannten Schattengestalten im alptraumhaften Szenario des Gedichts dem Ich immer noch nahkommen können – und sei’s nur in der Sphäre des Traums. Die restliche, durch den extensiven Gebrauch des ü-Lauts zur fieberhaften Beschwörung sich verdichtende Motivik – „fühl ich“, „früheren“, „glühender dürre“, „schwüle“, „pfühle“, „frühwind“, „gartengründe“, „mich entzünde“  – verbleibt innerhalb der engen Grenzen eines wahn- und krankhaften Bezirks, nun nicht länger geklärt durch die Gaben des ‚Du‘, „einer spende rest von wein und myrrhe“, die vage an Residuen von Opfergaben erinnern und die Ängste des Ich eine Weile im Zaum halten konnten. Das Szenario wirkt wie eine Heimsuchung durch Schemen der Erinnerung, aus denen dem Ich nicht länger Heil erwächst. Im Gegenteil: Die letzte Strophe thematisiert, dass diese Geister der Erinnerung nur mehr „[a]ls schatten wirken[] da das wesen wich“, „[d]ieweil sie ihrem schöpfer nichts mehr gelten“. Es scheint, als habe sich der lebendige Geist des Geliebten so weit vom Ich entfernt, dass es dieses fiebern und schauern macht. Das Motiv der Vergänglichkeit lebendiger Erinnerung wird im folgenden Gedicht variiert (SW  VI/VII,  83). Hier sind es nicht länger Fieberwelten und alptraumhafte Gründe, sondern erneut Natur- und jahreszeitliche Motive, die die Entfernung des Liebenden vom Geliebten illustrieren. Beheimatet ist die Szenerie an der Schwelle von Sommer zu Herbst, wo einst blühende Trauben „nun zu most der lang im dunkel gärt / Zerstossen werden und zu schalen trestern.“ Die George naheliegende Sprache der Weinbauern beleuchtet hier, dass „keine unsrer saaten ohne zähre“, ohne nahendes Dunkel und Phasen des Stillstands aufgeht. Wieviel noch fehlte dass das fest sich jähre wirkt in besonderem Maße eingeschlossen in eine jahreszeitliche Motivik, weil das Ich abschließend rekapituliert:

    402 

     Tina Winzen

    So gilt für alle lust die uns erhöhte Für alle klagen und beweinten nöte Der eine sonnenumlauf nur als frist.

    Auch Nun lass mich rufen über die verschneiten (SW VI/VII, 84) kleidet sich in ähnliche Motive; mit „verschneiten / Gefilde[n]“, „der ersten mahd“ und „bei des laubes dorren“ spricht das Gedicht eindeutige jahreszeitliche Verortungen aus. Besonders ist hier, dass das verbindende Bild der zwingenden „gezeiten“ im dritten Vers wörtlich aufgenommen wird und in den letzten beiden Versen  – zum Bild verdichtet  – das Gedicht beschließt: „So ward dein sanfter sang der sang des jahres / Und alles kam weil du es so bestimmt.“ (SW VI/VII, 84)30 Die letzten drei Gedichte der Gezeiten, Flammen, Wellen und Lobgesang betitelt, leiten über zum folgenden, zentralen Zyklus des Bandes. Ich möchte sie aufgrund ihrer speziellen Funktion genauer ansehen, was allerdings an anderem Ort geschieht.31 Zum Zyklus Gezeiten lässt sich, die Diskussion hoffentlich nur vorläufig beschließend, zusammenfassend Folgendes sagen: Im Erleben zweier Liebender – hier gehe ich mit Kauffmann d’accord – bricht sich in der ersten Folge eine merkwürdig prädeterminiert wirkende Entwicklung von Leidenschaft Bahn, die sodann, inhaltlich wie formal von der zweiten Zehnereinheit abgespalten, in ein Achsengedicht mündet, das beide Zehnerfolgen in der Waage hält. Die zweite Folge beginnt paradoxal mit der Verabsolutierung einer Liebe, die doch schon an ihr natürliches, wie durch die Macht der Gezeiten vorbestimmtes Ende gelangt ist. Diese Gedichte der zweiten Folge verfügen über den gedenkenden, rekapitulierenden, zusammenfassenden und beschließenden Charakter einer abstrahierenden Retrospektive, die der abgeschlossenen Entwicklung einer leidenschaftlichen Liebe bald kränkelnd, bald glorifizierend, mal versöhnlichtraumhaft, mal fiebernd nachspürt. Auch mischt sich in diese Retrospektive die Ahnung neuer Lieben, was eine Distanzierung von dem im ersten Zehnt durchlebten Liebeserlebnis andeutet. Der nächste, finale Schritt zur platonischen Abstraktion vom singulären Liebeserlebnis zugunsten einer Hinwendung zu ideeller Schönheit vollzieht sich in den drei Abschlussgedichten dieses Zyklus, die folgerichtig überleiten zum nicht mehr nur menschlichen Erlebnis Maximin.32 In anderen Worten: Die

    30 Es erstaunt, dass David dem Chaos in seinen Ausführungen zum Charakter der Gezeiten zwar einen hohen Stellenwert einräumt, es als verstörende Macht anerkennt, die den Menschen ständig bedroht, Momente von Akzeptanz und schicksalhafter Fügung, die schon im titelgebenden Sinnbild der Gezeiten anklingen, jedoch nicht in ihrer relativierenden, prädeterminierenden Funktion wahrnimmt. Vgl. CD 213. 31 Schon Henning Bothe begreift Lobgesang als „auf Maximin vorausdeutende Gottesankündigung im ‚Gezeiten‘-Kapitel“ und stellt darüber hinaus erhellende Bezüge zu Hölderlins Hymnen her. Vgl. Henning Bothe: ‚Ein Zeichen sind wir, deutungslos‘. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George. Stuttgart 1992 (Metzler Studienausgabe), S. 156. 32 Erläuternde Hinweise auf das platonische Konzept der abstrahierten Liebeserfahrung, die ihren Weg vom bewegenden Erleben einer singulären Liebe hin zu einer Abstrahierung dieser zur Liebe zum

    

    Der Siebente Ring · Gezeiten 

     403

    kultbegründende Erfahrung der göttlichen, aus der dichterischen Kraft geborenen, die dichterische Geburt bedingende Erscheinung Maximins leitet sich – werkarchitektonisch wie semantisch – her aus der in die Gezeiten gebannten Kraft der Liebe eines ‚Ich‘ zu einem ‚Du‘. Die Möglichkeit der Liebe, die somit die Möglichkeit des Glaubens an eine überpersönliche, quasi-göttliche Macht erst schafft, ist jedoch keineswegs zwischen beliebigen Protagonisten denkbar, sondern wird ganz explizit im Spiel von Anziehung und Abstoßung einander umkreisender Gegensätze, asymmetrischer Gefährten, erzeugt.33 Die Bestimmung eines zur Liebe fähigen Wesens sowie einer Entität, die zu lieben das Ich imstande ist, konkretisiert sich im Siebenten Ring mit Blick auf die den Gezeiten-Ring umgebenden Zyklen nicht nur durch positive Umrisszeichnungen, sondern auch und wesentlich durch die Konturen diverser Negativfolien, die vor allem in Gestalt der Zeitgedichte oder der Jahrhundertsprüche der Tafeln all jene Kräfte ins Bild bannen, die als dem ‚Prinzip Liebe‘ entgegengesetzte, zersetzende Tendenzen der Gegenwart Georges wahrgenommen werden. So entsteht der Eindruck, die Erfahrung berauschender, mit Naturnotwendigkeit zuschlagender Liebe auf der einen und ein im Andenken reifendes Abstraktionsvermögen auf der anderen Seite gehörten unweigerlich zusammen. Letzteres erlaubt, eine singuläre Liebe über ihr Einzelschicksal hinaus zu globalisieren und in ein Urbild der Liebe zum Schönen zu bannen. Zusammengenommen bilden Rausch und Leiden, Abstraktion und Andenken jene Charakteristika, die George und die Seinen in Architektur und Bildsprache des Siebenten Rings von ihren schnöden Zeitgenossen separieren und ihnen Tür und Tor öffnen für die Apotheose eines irdischen Jungen. Liebe und Distanz generieren den Kult.

    Schönen allgemein einschlägt, fehlen bei Kauffmanns Einleitung in den Siebenten Ring nahezu völlig. Trotz seiner Rekapitulation von Albert Verweys 1907 in dessen Zeitschrift De Beweging erschienener Deutung des Siebenten Rings, den Kauffmann mit Verwey als „Ausdruck der spezifischen Seelenart“ (S. 181) Georges deutet, macht er in seiner Einleitung das Spezifische dieser an Platon geschulten Liebeskonzeption nicht fruchtbar für eine Gesamtdeutung des Bandes, verweist jedoch auf die bisher ausstehende Analyse des Platonismus im Werk Georges und damit auf das Habilitationsprojekt Christian Oestersandforts. Sein Aufsatz Platonisches im Teppich des Lebens (wie Anm. 13) stellt dabei eine erste Veröffentlichung aus diesem Projekt dar, die auf erhellende Art und Weise platonische Motive im Engel des Teppichs nachzeichnet. 33 Vgl. zum Moment der Hierarchisierung in den Küssen Georges Ernst Osterkamp: Die Küsse des Dichters. In: WuW 69–86, hier 73  ff. Interessant sind Osterkamps Ausführungen deshalb, weil er im Motiv des Kusses ein großes polysemes Potenzial entdeckt, eine „Promiskuität der Bedeutungen“, die dem Dichter erlaube in der Schwebe zu halten, ob er mit seinen Küssen auf heilige oder profane, spirituelle oder physische, Glauben oder Liebe betreffende Bestimmungsgründe rekurriere (vgl. ebd., S. 75). Pointiert könnte man für die Liebeslyrik der Gezeiten folgern, dass sie durch die Polysemie der Kuss- und weiterer Motive Bezüge zwischen Liebe zum Gegenüber und Liebe zum Gott ermöglicht, die wunderbar geeignet sind, zum Maximin-Zyklus überzuleiten.

    404 

     Tina Winzen

    Interpretationen von Flammen (SW VI/VII, 85), Wellen (SW VI/VII, 86) und Lobgesang (SW VI/VII, 87) Einführend in Inhalt, Struktur und Architektur des Zyklus Gezeiten aus dem Siebenten Ring schlug ich eine Einteilung dieses dritten Rings in zwei Zehnergruppen vor, die durch das Gedicht Danksagung in der Waage gehalten werden. Während ich auf den Charakter der Danksagung wie auf ausgewählte Eigenheiten der anderen 17 Gedichte bereits eingegangen bin, sollen nun die drei letzten Gedichte des Zyklus, nämlich Flammen, Wellen und Lobgesang betrachtet werden. Diese drei bilden in Charakter und Funktion zwar noch eine harmonische Einheit mit dem Gezeiten-Zyklus, leiten aufgrund ihrer Position wie ihres Inhalts jedoch als unmittelbare Vorläufergedichte zum Maximin-Zyklus auch hinüber zu etwas Neuem, das sich meines Erachtens aus der reinen Betrachtung der Gezeiten nicht vollständig erfassen ließe.1 Die sondernde Auswahl der letzten drei Gedichte fußt auf einer simplen Beobachtung: Das angesprochene ‚Du‘ oder ‚Ihr‘, dem sich die Sprecherinstanz der Gedichte Flammen, Wellen und Lobgesang zuneigt, scheint nicht mehr identisch mit jenem, das in der deutlichen Mehrzahl der 18 voranstehenden Gedichte das uns bereits bekannte ‚geliebte Du‘ einer singulären Liebeserfahrung bezeichnete – sei’s in Schilderungen gelebter Liebe, sei’s in der Rückschau auf jene.2 Flammen Was machst du dass zu höherem gerase Uns immer fernres fremdres wehn umblase? Wenn kaum wir eine weil in stille flacken Treibt uns ein neuer mund zu lohen zacken · Dass schräger brand zerfurcht die blanken barren Die heissen tropfen kaum in perlen starren · Dass unsre kraft in überwallendem sode Rinnt auf metall und grund zu schnellem tode ..

    1 Das erkennt schon Morwitz, dem ich hier zustimme, ohne seine biografisch basiere Einteilung des Gezeiten-Zyklus in 12 + 6 + 3 Gedichte mitzugehen, so hübsch sich diese zahlenmagisch ausnimmt. Vgl. EM I, 250 u. meinen Aufsatz zum Gezeiten-Zyklus im vorliegenden Band. 2 Mit Blick auf den Lobgesang formuliert schon Ernst Osterkamp Ähnliches, wenn er schreibt, Lobgesang beschreibe im Gegensatz zum intimen Ich-Du-Charakter der Gezeiten den Hymnus auf einen Gott. Vgl. Ernst Osterkamp: Die Küsse des Dichters. Versuch über ein Motiv im ‚Siebenten Ring‘. In: WuW 69–86, hier 83.

    Der Siebente Ring · Gezeiten 

    

     405

    ›Was oft und weither euch als hauch betroffen Schwoll von den gleichen und geheimen stoffen Durch die ihr brennt‹ – der Herr der fackeln sprichts – ›Und so ihr euch verzehrt seid ihr voll lichts.‹ (SW VI/VII, 85)

    Zunächst springt ins Auge, dass sich die Sprecherinstanz der Flammen – wie um ihre um einen Hauch ins Allgemeingültigere verschobene Frage von einer Frage bloß subjektiver Gültigkeit abzugrenzen – in der ersten Person Plural zu Wort meldet. Auch die in der einleitenden rhetorischen, sich über die gesamte erste Strophe – alle sechs Strophen des Gedichts umfassen zwei durch Paarreim eng aneinander geschmiedete Verse – erstreckenden Frage benutzten Adjektive „höherem“, „fernres“ und „fremdres“ deuten in Richtung einer Objektivierung persönlichen Erlebens, die die zwingende Macht der titelgebenden Gezeiten als Urmächte mit transportiert. Gegenstand der Frage ist, im Stil der Morwitz’schen Paraphrase, über welche Macht das angesprochene ‚Du‘ des Gedichts verfüge, die zum ‚Wir‘ formierte ‚Gemeinschaft der Entzündeten‘ zu immer neuen Höhen der Liebesglut zu treiben, wie ein ungünstig stehender Wind Brände in Minutenschnelle anfacht und um ein Vielfaches vergrößert.3 Als elementare Gewalt überblenden die Flammen das ‚Du‘ mit der übermenschlichen Wucht einer Naturgewalt.4 Mithin beschreibt die Sprecherinstanz einen prototypisch daherkommenden Lauf der Dinge, der sich wie folgt nachzeichnen ließe: Sobald die Flammen eines vergangenen Liebeserlebnisses nicht mehr ganz so hell lodern, begegnet der Gemeinschaft Entzündeter, dem lyrischen Wir, ein neues Objekt der Begierde. Verkürzt zu einem eingängigen „[d]ass“, dem die Vorsilbe ‚so‘ vorenthalten wird – diese ist aber unbedingt mitzudenken –, wird eine kausale Verbindung hergestellt zwischen dem „neue[n] mund“ des vierten Verses und den nun erneut bis an die Decke lodernden Flammen des fünften Verses, die schon „die blanken barren“ erreichen. Die Kürze der Atempause, des „stille[n] flacken[s]“ des dritten Verses wird pointiert dargestellt durch das Bild „Die heissen tropfen kaum in perlen starren“ in Vers sechs, das darüber hinaus nicht eben subtile, wenngleich in stringente FlammenLogik gewandete Konnotationen der Lust, des Sich-Ergießens, aufruft. In der vierten

    3 Morwitz erfasst den Gehalt der Frage ähnlich, wenngleich prosaischer und mit fast bewundernswerter Gleichmut dem erotischen Gehalt des Gedichts gegenüber, indem er konsequent von „Seelenfeuer[n]“ spricht und ohne jede Ironie den ‚neuen Mund‘ als bloßen Anhauch einer geistigen Macht begreift, die starrenden Perlen zwar als das sieht, was sie durchaus sein können, „Gebilde[] der Kunst“ nämlich, weitergehende Konnotate jedoch schlicht ausblendet. Vgl. EM I, 265. 4 Auch ohne Ebbe oder Flut, Frühling, Sommer, Herbst oder Winter zu sein, fügen sich die Flammen also ganz natürlich in die Gruppe der Gezeiten ein, eben weil alle Facetten der in den Zyklus integrierten Gezeiten ein wesentliches Merkmal eint: der Charakter ihrer Notwendig- bzw. Naturgewaltlichkeit.

    406 

     Tina Winzen

    Strophe wird neben Bildern immer neu entfachter Lust auf wechselnde Gegenüber das erschöpfende, auslaugende Element einer solchen Brunst thematisiert, wenn – abgeleitet vom mittelhochdeutschen ‚sieden‘ – das ‚Wir‘ davon spricht, seine Kraft quelle geradezu über „in überwallendem sode“; etwas glühend Heißes ergieße sich also, jedoch, wie der Folgevers verrät, auf unfruchtbare, erstarrende oder sogleich versickernde Art und Weise.5 Dem erschöpften, ratlosen ‚Wir‘ ist, wie die beiden Schlussstrophen des Gedichts zeigen, eine Antwort beschieden. Das ‚Du‘ löst das Rätsel und gibt die Antwort auf die Eingangsfrage bereitwillig, wenngleich nicht eben prosaisch, preis. Es erklärt, gleichsam im Tonfall eines Orakelspruchs, das Brennen des ‚Wir‘ speise sich, wie häufig und durch welchen Anlass es auch entfacht werden möge, aus ein und derselben Quelle, es „[s]chwoll von den gleichen und geheimen stoffen“. Diese Stoffe werden als das gleichbleibende Material immer neu auflodernder Brände klassifiziert, als Brand­ beschleuniger etwa, und es ist „der Herr der fackeln“, der dieses Diktum preisgibt. Er, der schon durch die Großschreibung übermenschliche Züge erhält, rückt spätestens durch die Paradoxie seines letzten, das Gedicht beschließenden Nachsatzes in die Nachbarschaft eines göttlichen Herrn – hierauf deutet nicht zuletzt und ganz im mystischen Sinne auch das ‚Geheime‘ der Brandursache hin. Er spricht „›Und so ihr euch verzehrt seid ihr voll lichts‹“, was wir verstehen können als ‚In dem Maße, in dem ihr euch durch die Einwilligung in das verzehrende Feuer einer Liebe selbst aufgebt, gewinnt ihr ein neues, eigentümliches Strahlen hinzu‘ – oder kürzer: Wer sich in der Liebe hingibt, leuchtet.6 Wellen Ihr wellen bracht euch erst an blauen kieseln Im waldestal wo sich die wege zwieseln. Als bäche rolltet ihr durch sonniges land · Verspriztet weinend am umgrünten strand.

    5 Wenn man bedenkt, dass Metall gemeinhin als relativ starr und kalt gilt und der „grund“ offenporig zu denken ist, erschließt sich, dass jener überquellende Sod der Entflammten so schnell und heiß emporlodert, dass er nicht anders als rasch erkalten bzw. ins Erdreich versickern kann. 6 Ernst Morwitz erkennt schon im Herrn der Fackeln einen Eros ähnlichen Gott, was ich plausibel finde angesichts der Tatsache, dass er auf bildliche Darstellungen des mythologischen Eros verweist, auf denen dieser eine Fackel trägt. Vgl. EM I, 265  f. – Vgl. hierzu auch Wolfgang Braungart u.  a., die (hier spricht Christian Oestersandfort) in Anlehnung an Edith Landmanns Stefan George und die Griechen (1971) ebenfalls schlüssig und unter gelegentlichem Rückgriff auf die Lyrik Georges das „Glühen“ in Liebe als ein Durchdrungensein begreifen, das für George und die Seinen höchste Bedeutung habe. Braungart u.  a.: Platonisierende Eroskonzeption und Homoerotik im George-Kreis (Maximilian Kronberger, Friedrich Gundolf, Ernst Glöckner). In: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Renate Stauf u.  a. Berlin u. New York 2008, S. 224–267, hier S. 234.

    Der Siebente Ring · Gezeiten 

    

     407

    Dann hat euch unter blitz und eisigen schlossen Der fluss zur grossen flut hinausgestossen. Am myrtenfels habt ihr euch wild gebäumt · Auf unfruchtbarem sand seid ihr verschäumt. Ihr spültet mit perlmutterfarbne leiber · Ihr waret glückerfüllter lasten treiber · Bis euch der sturm in weite öden jug · An riff und klippe gellend euch zerschlug. Nun werdet ihr in unsichtbarem schlunde Dahin gewälzt nicht wissend mehr von stunde Von trieb und ziel · nicht mehr von wind und lee Als uferlose ströme durch die see. (SW VI/VII, 86)

    Im Bild der den Gezeiten unterworfenen Wellen wird im vorletzten Gedicht des dritten Ringes, nicht unähnlich der dramatischen Entwicklung des Moldau-Zyklus Bedřich Smetanas, die Entfaltung eines fließenden Gewässers nachgezeichnet. Sie erstreckt sich über den kindlichen Zustand einer im Wald entspringenden Quelle über die zum Bach gebündelte, schon umfangreichere Struktur des Wassers, die bald Stromschnellen kennenlernt und schließlich ins Meer mündet, und, begleitet von rauen Stürmen, nun unterschiedsloser Teil unfasslich großer Mengen Wassers wird. Die dem Gezeiten-Zyklus inhärente Zusammenschau von Gezeiten, Jahreszeiten und Entwicklungsstufen von Menschen und Beziehungen erlaubt darüber hinaus, in der Geschichte der Wellen den Fortgang des Lebens typisierter Liebender zu lesen – von unschuldiger, idyllisch gezeichneter Kindheit über den Zustand anmutiger Jugend bis hin zur Mündung ins Meer; eine Zeit, die sodann deutlich gefahrvoller und aufreibender konnotiert ist, denn die Bäche münden ins Meer „unter blitz und eisigen schlossen“7. Angesichts der Verwendung von Begriffen wie „weite öden“ und „unsichtbare[] schlunde“ ist das reife Alter der Welle deutlich weniger harmonisch gezeichnet als die Schilderungen des noch jugendlichen Wellendaseins. Bestückt ist das Heranwachsen der Wellen  – erneut dem zwingenden Charakter der Gezeiten eingemeindet – mit Bestandteilen menschlicher Gefühlswelten: Die jugendlichen Bäche zerstäuben „weinend am umgrünten strand“, als Wellen des

    7 ‚Schlossen‘ dürften hier Hagel- oder Graupelschauer bezeichnen, das Substantiv ist dem mittelhochdeutschen ‚slōʒen‘ entwachsen und noch heute, selten, als landschaftlicher Terminus in Gebrauch.

    408 

     Tina Winzen

    Meeres treten sie als „glückerfüllter lasten treiber“ in Erscheinung. Insbesondere die letztgenannte Funktion der Wellen führt auch Anklänge an das in den Gezeiten durchaus übliche erotische Vokabular mit, verstärkt durch die Bilder „perlmutterfarbne[r] leiber“, die in den Fluten mitgespült werden.8 Der Kommentar der Sämtlichen Werke gibt Auskunft, dass der Myrtenfels in Verbindung mit Aphrodite, der Göttin der Liebe, gesehen werden solle, da die Myrte im Altertum selbiger geweiht war (SW VI/VII, 215) – und noch im Jahrhundert der Geburt Georges traditionelle Brautkränze ausmachte (EM I, 266) –, sodass sich Wellen auch hinsichtlich seiner Bildsprache harmonisch in die komplexe Liebesthematik der vorangegangenen Gedichte des Gezeiten-Zyklus einreiht. Immerfort bricht sich ergänzend auch das gewaltige, überwältigende Moment der Liebe Bahn, das in Wellen neben fraglos anmutigen Komponenten herausgestellt wird: Die durch kraftvolle Verben – ‚bäumen‘, ‚jagen‘, zerschlagen‘ – komplettierten Sturm- und Flutmotive sprechen eine eindeutige Sprache. In den beiden Schlussstrophen des Gedichts wird das Schicksal der Wellen als Zeit und Zwecksetzungen – „nicht wissend mehr von stunde / Von trieb und ziel“ – schlussendlich enthobenes beschrieben. Allerdings bleibt unklar, ob dieses Schicksal positiven oder negativen Charakters ist. Entsprechend der zwingenden Gewalt des Gezeiten-Prinzips werte ich diese Frage als wenig erheblich, da es hier nicht auf Gefälligkeit oder Wohltat des Liebeserlebnisses, sondern vielmehr auf ein Sich-Fügen in das schicksalhafte Moment notwendiger Entwicklungen ankommen dürfte. Im Bild der den Gezeiten unterworfenen Wellen verdichtet sich das hauptsächliche Thema des dritten Ringes: die Unausweichlichkeit und schicksalhafte Prädetermination eines liebenden, begehrenden Lebens.9 Dass dieses an seinem Ende „in unsichtbarem schlunde“ mündet, die Wellen nurmehr „[a]ls uferlose ströme durch die see“ treiben,

    8 Ernst Morwitz gibt sich erneut zugeknöpft, was allerdings auf dem Missverständnis fußen könnte, „[e]s [das Meer, T. W.] trägt willig perlmuttfarbene Leiber der Schwimmer und der Gestalten der Sage, wie auch die Lasten für menschliches Glück […].“ (EM I, 266) Keineswegs trägt das Meer willig zu bloßen Sportlern degenerierte Leiber, ebenso wenig trägt es die Bürde menschlichen Glücks. Stattdessen signalisiert die Fügung „Ihr waret glückerfüllter lasten treiber“, dass die Wellen des Meers Ansporn und Antrieb glückerfüllter Lasten waren, also aktiv ein erotisches Element befeuerten, wie auch immer sich dieses in einer retrospektiven Wertung im Vergleich mit einem Eros höherer Ordnung ausnehmen möge. 9 Hingegen finde ich Benjamin Bennetts Deutung, der in Gezeiten den zum Scheitern verurteilten Versuch erkennt, eine andauernde Gemeinschaft zu stiften, die überdauert, und der daher die Ziel- und Zwecklosigkeit sich im Meer verlierender Wellen rundheraus als Kritik an der menschlichen Natur begreift, die alle Orientierungspunkte aus dem Blick verloren hat, wenig treffsicher. Zum einen, weil die Gedichte der Gezeiten sich mir als Liebesgedichte zwischen einem fixierten Ich und einem zunächst auch konkreten ‚Du‘ darstellen, die keineswegs das Gros der Gemeinschaft ansprechen. Zum anderen, weil sich mir insbesondere das Gedicht Wellen als Illustration von Naturnotwendigkeiten offenbart, nicht jedoch als verklausulierte Kritik an verirrten Schafen, die vom rechten Weg abgewichen sind. Vgl. Benjamin Bennett: Stefan Georges ‚Ursprünge‘. Zur Deutung des ‚Siebenten Rings‘. In CP 31 (1982), H. 155, S. 28–51, hier S. 38.

    Der Siebente Ring · Gezeiten 

    

     409

    erklärt sich in meinen Augen am sinnfälligsten angesichts des bereits im GezeitenKapitel angerissenen ‚Eros-Prinzips‘ Georges, das sich als Idee eines, wenn nicht ausschließlich platonischen, so doch an Platon geschulten Eros zunächst durch einzelne Begegnungen initiiert zeigt, anschließend jedoch generalisiert wird und in der Liebe zum allgemein Schönen kulminiert. Demgemäß ist es nur natürlich, dass sich die heranwachsenden Wellen zunächst an Ufern verströmen, an Felsen aufbäumen, Lasten antreiben, schließlich brechen und einmünden in einen unterschiedslosen, dunklen Raum, der, unberührt von stürmischen – in Strophe drei beispielsweise zischen die scharfen S-Laute mit dem sturmgepeitschten Wasser um die Wette – oder windstillen Phasen, einem Rhythmus der Gleichmut unterliegt. Dieses ‚Prinzip Eros‘ verfügt demnach über ein dunkel pantheistisches Element und gleicht der ins Lyrische verdichteten Syntax eines in die Bildsprache des Naturgewaltlichen transponierten Entwicklungsromans. Lobgesang Du bist mein herr! wenn du auf meinem weg · Viel-wechselnder gestalt doch gleich erkennbar Und schön · erscheinst beug ich vor dir den nacken. Du trägst nicht waffe mehr noch kleid noch fittich Nur Einen schmuck: ums haar den dichten kranz. Du rührest an – ein duftiger taumeltrank Befängt den sinn der deinen odem spürt Und jede fiber zuckt von deinem schlag. Der früher nur den Sänftiger dich hiess Gedachte nicht dass deine rosige ferse Dein schlanker finger so zermalmen könne. Ich werfe duldend meinen leib zurück Auch wenn du kommst mit deiner schar von tieren Die mit den scharfen klauen mäler brennen Mit ihren hauern wunden reissen · seufzer Erpressend und unnennbares gestöhn. Wie dir entströmt geruch von weicher frucht Und saftigem grün: so ihnen dunst der wildnis. Nicht widert staub und feuchte die sie führen · Kein ding das webt in deinem kreis ist schnöd. Du reinigst die befleckung · heilst die risse Und wischst die tränen durch dein süsses wehn. In fahr und fron · wenn wir nur überdauern · Hat jeder tag mit einem sieg sein ende – So auch dein dienst: erneute huldigung Vergessnes lächeln ins gestirnte blau. (SW VI/VII, 87)

    Lobgesang ist ein antikisierender Hymnus wahrsten Wortsinnes und verzichtet folglich im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern auf eine Einteilung in Strophen und

    410 

     Tina Winzen

    den bindenden Charakter des Paarreims.10 Hinsichtlich seines Gehalts knüpft das Gedicht jedoch an beide, insbesondere Wellen, an, indem das lyrische Ich die Begegnungen mit seinem Herrn einem „weg“ gleichordnet, den es als seinen begreift und dessen einziges Credo lautet: „In fahr und fron · wenn wir nur überdauern · / Hat jeder tag mit einem sieg sein ende“. Dass es sich hierbei nicht um ein ‚Wir‘ handeln kann, wie es für die Anfangsgedichte des Gezeiten-Zyklus konstitutiv ist, also um ein Ich, das ein konkretes ‚Du‘ liebt und begehrt, sich ihm willfährig in „fahr und fron“ verschreibt, offenbart sich in einem Blick auf die Eingangszeilen von Lobgesang, in dem der „herr“ seinem Diener als „[v]iel-wechselnder gestalt doch gleich erkennbar / Und schön“ begegnet – also ein Prinzip verkörpert, das sich in Einzelgestalten lediglich inkarniert. Lobgesang rekurriert dabei ganz deutlich auch auf die Eingangsgedichte des Zyklus, in denen das ‚Du‘ ja noch konkreter, singulärer Natur zu sein schien, wenn es rückbezüglich bemerkt, er, „[d]er früher nur den Sänftiger dich hiess“, habe lernen müssen, dass die Liebe auch über distinkt zwingende, beherrschende Elemente verfügt. Begleitet wird jenes Prinzip, das ich Eros nennen möchte, von einer „schar von tieren“, die „klauen“ und „hauer[]“ haben und denen der „dunst der wildnis“ anhaftet.11 Hans-Michael Speier und Michael M. Metzger, um nur zwei Beispiele zu nennen, sehen in diesem gottgleichen Wesen wie schon Morwitz Dionysos einbrechen, denn diesen charakterisiere sein „Raubtiergefolge“12. Es steht allerdings zu fragen, ob eine Deutung in Richtung des Eros, obschon mit dionysischen Attributen ausgestattet, der bei Platon als dämonische Kraft geschildert wird, hier nicht sinnfälliger ist. Ich schließe dies – neben der im voranstehenden Gedicht der Mutter des Eros, Aphrodite, zugeeigneten Myrte – in erster Linie aus den Versen vier, sechs und sieben sowie acht bis zwölf. In Vers vier konstatiert das Ich, das angesprochene ‚Du‘ trüge „nicht waffe mehr noch kleid noch fittich“, was sich auf die dem Eros in bildlichen Darstellungen oft beigegebenen Attribute von Pfeil und Bogen sowie seine Flügel beziehen könnte.13 Ganz schmucklos ist jene an Eros erinnernde Macht jedoch nicht, er trägt „ums haar den dichten kranz“, der, ähnlich wie die wilden Tiere, in deren Begleitung der Herr erscheint, eher an bildliche Darstellungen des Dionysos – sein Wagen wird von Panthern gezogen, er trägt häufig einen Efeu- oder Weinrebenkranz – als des Eros erinnert.

    10 Vgl. auch die sehr gute Einzeldeutung Thomas Pittrofs: ‚Lobgesang‘. In: CP  50 (2001), H.  250, S. 67–78. 11 Vgl. ebd., S. 71. 12 Vgl. Michael M. Metzger: In Zeiten der Wirren. Stefan George’s Later Works. In: JR 99–123, hier 111. – Zitat aus: Hans-Michael Speier: Die Ästhetik Jean Pauls im Werk Stefan Georges. In: Das Stefan-GeorgeSeminar 1978 in Bingen am Rhein. Eine Dokumentation. Hg. v. Peter Lutz Lehmann u. Robert Wolff. Heidelberg 1979, S. 197–207, hier S. 204. Speier stellt darüber hinaus einleuchtende Bezüge zum Engel aus dem Teppich des Lebens her, aus dem George seinen nun dionysisch anmutenden Herrn entwickelt habe. Vgl. ebd. u. EM I, 266  f. 13 Vgl. Pittrof: ‚Lobgesang‘ (wie Anm. 10), S. 69  f., der darüber hinaus Lobgesang auf Ludwig Klages’ Kosmogonischen Eros (1922) bezieht.

    

    Der Siebente Ring · Gezeiten 

     411

    Die in den Versen sechs und sieben beschriebene betäubende, zauberische Wirkung, die der Anhauch des Herrn entfalte, kann sowohl auf die Wirkung des Pfeils des Eros als auch auf die berauschende Wirkung des dionysischen Weins wie die mit beidem verbundene Ekstase hindeuten. Allerdings erinnern die Verse acht bis zwölf, in denen die Wirkung des Herrn beschrieben wird, erneut eher an Eros denn an Dionysos, wird jener doch häufig Sandalen und eine Peitsche tragend dargestellt, worauf die „rosige ferse“, nun von allem Schmuck und Kleid befreit, und der „schlag“, durch den „jede fiber zuckt“, anspielen könnten. Wiederum eher dionysisch denn erotisch ist wohl der heilende, seliges Vergessen spendende Charakter des Herrn, der in Vers 21  f. zum Ausdruck kommt – „Du reinigst die befleckung · heilst die risse / Und wischst die tränen durch dein süsses wehn“ –, denn Dionysos trägt in der Mythologie – unter anderen – den Beinamen ‚der Sorgenbrecher‘.14 Die übermenschliche, quasi-göttliche Aura dieser um dionysische Charakteristika erweiterten Eros-Figur ergibt sich aus dem absolut gesetzten Diktum des Ich: „Kein ding das webt in deinem kreis ist schnöd.“ Dass diese „[v]iel-wechselnde[] gestalt“ hingegen kaum ohne Fahrlässigkeiten auf eine konkrete mythologische Figur allein zu reduzieren ist,15 erklärt sich meines Erachtens aus der Tatsache, dass der Herr des unmittelbar darauf folgenden Maximin-Zyklus, hier ergänzend ausstaffiert mit an Jesu Gestalt, Leben und Tod gemahnenden Charakteristika, als Kunstfigur George’scher Schöpfung – „Ich geschöpf nun eignen sohnes“ (SW VI/VII, 109) – nurmehr synkretistisch denkbar ist.16 Die Zeugung des Schönen – so entnehmen wir analog auch dem Dialog Diotimas mit Sokrates – ist das letztgültige Ziel der Liebe, „[d]enn die Liebe

    14 DNP 3, Sp. 651–664. – Ernst Morwitz sieht auch in diesem heilenden, ‚sänftigenden‘ Element eher ein der Theogonie entlehntes Attribut des Eros, wobei er manifeste platonische Tendenzen, den Eros als dämonische, immer auch gefahrvolle Macht zu ehren, ausblendet, was ich angesichts der lebendigen Platonlektüre des Kreises für wenig einleuchtend halte. Vgl. EM I, 266. 15 Schon Claude David bemerkt das dionysische und erotische Element des ‚Du‘ des Lobgesangs. Vgl. CD 212. 16 Vgl. Thomas Pittrof: ‚Lobgesang‘ (wie Anm. 10), S. 69 u. 73  f. – Ganz ähnlich argumentiert Henning Bothe, der in Lobgesang ebenfalls eine „auf Maximin vorausdeutende Gottesankündigung“ sieht. Vgl. Henning Bothe: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos.“ Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George. Stuttgart 1992, S. 156. Auch die antiken Wurzeln dieser Gotteserscheinung sind ihm ebenso offenkundig wie in ausgesuchten Texten Hölderlins. Vgl. ebd., S. 157. – Ebenfalls seien hier die Ausführungen Franziska Walters aus dem Joint Venture um Wolfgang Braungart erwähnt, die auf erhellende Art und Weise nachzeichnen, wie sich die reale Beziehung zwischen Maximilian Kronberger und Stefan George und die kunstfertig gestaltete, sakral überformte Bindung zwischen DichterMeister und Kultfigur voneinander unterscheiden. Sie kommt zu dem Schluss, „Georges Beziehung zu Kronberger wird erst nach dessen Tod und seiner Glorifizierung als ‚Maximin‘ religiös-erotisch aufgeladen. […] Die Liebe zu ‚Maximin‘ ist also für George eine poetisch produktive Kraft; ja sie ist eine poetische ‚Konstruktion‘. Dazu braucht George den Partner nicht wirklich; er imaginiert ihn sich.“ Das besondere an Walters Ausführungen ist, dass sie was hinlänglich bekannt scheint durch Rückgriffe auf Gedichte Kronbergers, Konversationsfetzen zwischen Meister und Schüler und, wichtiger, auf den Gehalt der Shakespeare-Umdichtungen überträgt und somit fühlbar macht. Vgl. Wolfgang Braungart

    412 

     Tina Winzen

    o Sokrates, gilt gar nicht dem Schönen, wie du meinst. – Sondern wem denn? – Der Erzeugung und Ausgeburt im Schönen. […] Notwendig also geht nach dieser Begründung die Liebe auch auf die Unsterblichkeit.“17 Ernst Morwitz kommentiert diese hier als synkretistisch benannten Züge der heterogenen Gottheit hellsichtig: Er [der in Lobgesang besungene Gott, T. W.] lässt sich nicht mit einem einzelnen Gott der Mythologie oder Religionsgeschichte identifizieren. Er weist Züge des kosmogonischen und des späteren Eros sowie des Dionysos und des Apollo auf. Auf der Erde erscheint er in viel wechselnder Gestalt, die aber stets nach menschlichem Vorbild geformt ist. (EM I, 266)

    Insofern stellt der Zyklus Gezeiten in der Tat eine sich gleichsam steigernde wie objektivierende Hinführung zu einem absoluten Ergriffensein durch die Liebe zum Schönen dar, die sich in einem ‚Du‘ personifiziert, das nicht länger nur-menschlich ist, vielmehr nun gottgleiche, auch dämonische Züge trägt.18 „Ein großer ‚Dämon‘“ ist aber auch Eros, wie Sokrates von Diotima lernt und während des Gastmahls den Umsitzenden vermittelt, und als solcher ist er, den George hier zu apostrophieren scheint, „zwischen dem Sterblichen und Unsterblichen[,] […] ein Mittelding zwischen Gott und dem Sterblichen.“19 Georges umstrittene ‚Religion‘ aber eröffnet sich vermittels genauer Lektüre der Gezeiten als ästhetische Religiosität in einem fundamentalen, durchaus auf Transzendentes verweisenden Sinne, da George dem Sokrates des Phaidros beipflichten dürfte in der Maxime: „Das Göttliche nämlich ist das Schöne, Weise und Gute und was dem ähnlich ist.“20 Dergestalt ließen sich auch der Ästhetizismus des George’schen Frühwerks und seine kunstreligiös überformte spätere Schaffensperiode, der Der Siebente Ring zuzuordnen ist, zusammendenken. Wenn Michael Winkler mit Blick auf die Entwicklung des Siebenten Rings hin zur Epiphanie Maximin also bereits 1965 von „Isolation“ spricht, die sich „als Folge der Unterwerfung unter das

    u.  a.: Platonisierende Eroskonzeption und Homoerotik im George-Kreis (wie Anm. 6), insbes. die Seiten 237–248. 17 Platons Gastmahl oder Gespräch über die Liebe. Übers. v. Friedrich Schleiermacher. Mit Vorwort, berichtigter Übertragung u. Erläuterung neu hg. v. Max Oberbreyer. Leipzig 1877 (RUB 927), S. 55. 18 Marita Keilson-Lauritz interpretiert Lobgesang in ihrem Aufsatz Übergeschlechtliche Liebe als Passion auf ganz andere Art und Weise und von einer ungleich anderen Warte. Beide lassen sich mit der hier verfolgten Deutung des Einzelgedichts vom Gesamtzyklus her nicht recht vereinbaren. Dennoch sei sie hier erwähnt als Beispiel für eine sozio-biografische Herangehensweise, die wertvolle Schlaglichter auf einzelne Aspekte des Lobgesangs wirft. Unter anderem mit ihrer Deutung, das ‚Du‘ des Lobgesangs gleiche einem „dionysischen Eros“ (S. 150), stimme ich explizit überein. Vgl. Marita Keilson-Lauritz: Übergeschlechtliche Liebe als Passion. Zur Codierung mannmännlicher Intimität im Spätwerk Stefan Georges. In: WuW 142–155. 19 Platons Gastmahl (wie Anm. 17), S. 49. 20 Platon: Phaidros. In: Platons Werke. Hg. u. eingel. v. Friedrich Schleiermacher. 2., verb. Aufl. Berlin 1817, S. 53–170, hier S. 115.

    

    Der Siebente Ring · Gezeiten 

     413

    Gesetz des erlesen Schönen“ ergebe und „die innere Voraussetzung für [Georges] Existenz als Dichter“ sei, transportiert er einen Gedanken, den man weiterhin bestätigen kann.21 Wenn Rudolf Borchardt vom ‚Du‘ des Lobgesangs als vom „Lebensdämon“ Georges spricht und Edith Landmann Georges Religiosität als an Platons Eroskonzeption geschulten Glauben an das Göttliche im schönen Knaben begreift, erkennen beide ungleich früher als heutige Interpreten die zwingende Gesetzmäßigkeit des George’schen Eros.22 Der Weg zu jenem Lebensdämon stellt eine Entwicklung dar, an deren Höhepunkt sich der Liebende tatsächlich auflöst, entselbstet und entrückt – „[d]em grossen atem wunschlos [s]ich ergebend“ (SW VI/VII, 111) – ganz wie der Werdegang der Wellen im gleichnamigen, vorletzten Gedicht des Gezeiten-Zyklus angedeutet hatte.

    21 Michael Winkler. Zu einigen Liedern im Siebenten Ring Stefan Georges. In: The German Quarterly 38 (1965), H. 3, S. 298–309, hier S. 308  f. 22 Vgl. Edith Landmann: Stefan George und die Griechen. Idee einer neuen Ethik. In: Amsterdam 1971, S. 48  ff.; Rudolf Borchardt: Stefan Georges ‚Siebenter Ring‘. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa I. Hg. v Marie Luise Borchardt. Stuttgart 1957, S. 258–294, hier S. 274.

    Gunilla Eschenbach

    Maximin

    In seinem Forschungsüberblick von 2005 schreibt Jürgen Egyptien: „Unausgeschöpft scheint auch die Frage nach Georges Religiosität zu sein. […] Von der religiösen Dimension wäre auch der Brückenschlag zu Geschichts- und Zeitkonzeptionen im Werk Georges vorstellbar.“1 Diese Fragestellung wurde bisher nicht aufgegriffen. Während frühere Arbeiten über Georges Religiosität dieser einen Erlebnisgehalt zusprechen,2 dominiert heute die Auffassung, in Georges Maximin-Religion ein rein literarisches Phänomen, gekoppelt mit einem hybriden Machtanspruch ihres Urhebers zu sehen.3 Zuletzt hat Gabriela Wacker im Anschluss an Ralf Simon4 und Manfred Frank5 diese Position vertreten.6 Im Folgenden möchte ich eine Argumentation verfolgen, die die religiösen Aussagen des Maximin-Zyklus ernst nimmt und sie mit dem Geschichtsstrukturdenken des George-Kreises in Verbindung setzt.7

    1 Jürgen Egyptien: Entwicklung und Stand der George-Forschung  1955–2005. In: TuK  105–122, hier 121  f. 2 Bodo Würffel: Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges. Bonn 1978, S. 133: „Für George selbst kann der Glaube an dieses Gotterlebnis kaum ernsthaft bestritten werden.“ 3 Stefan Breuer: Zur Religion Stefan Georges. In: WuW 225–239, hier 231: „Daß der jugendliche Gott ein Produkt der dichterischen Imagination sei, wird freimütig zugestanden.“ 4 Ralf Simon: Die Bildlichkeit des lyrischen Texts. Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke. München 2011, S. 215  f.: „Unübersehbar und mit nachgerade aufdringlicher Deutlichkeit wird darauf hingewiesen, dass Maximin allein das Realisat des lyrischen Sprechens ist“ und „als bloße Inszenierung gewusst wird.“ So auch EO 193: „Die Vorrede zu Maximin lässt keinen Zweifel daran, dass der neue Gott die Kopfgeburt dessen ist, der ihn verzweifelt suchte und endlich fand.“ 5 Manfred Frank: Stefan Georges „neuer Gott“. In: Ders.: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt/M. 1988, S. 257–314. 6 Gabriela Wacker: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne. Berlin und Boston 2013 (Studien zur Deutschen Literatur 201), S. 177. Vgl. jetzt den thematisch einschlägigen Band: Stefan George und die Religion. Hg. v. Wolfgang Braungart. Berlin u. Boston 2015 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 147); Simon Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George. Formen und Funktionen eines ästhetischen Rituals. Würzburg 2015 (Klassische Moderne 28) und Rainer Bayreuther: „Theologie und Politik der Maximin-Religion“, zum Druck angenommen im GJb 2018/2019. Reiser spricht ebenfalls von einer „konstruierten Kunstfigur“ (S. 118), während Bayreuther die Maximinfigur kerygmatisch versteht, deren Konstruiertheit oder Nicht-Konstruiertheit irrelevant sei. 7 Auch Dirk von Petersdorff plädiert zunächst für eine realreligiöse Deutung des Maximin-Geschehens („Man sollte einen derartigen Anspruch […] zunächst ganz ernst nehmen“, S. 115), kommt dann aber rasch auf die „subjektive[n] Anteile an der Genese des Gottes“ zu sprechen (S. 118), die das zuvor Behauptete relativierten. Diese Relativierungen hätten wesentlich dazu beigetragen, dass sich Georges Maximin-Religion nicht dauerhaft durchsetzte (S. 120). Dass der Zyklus selbst bereits die Erfolglosigkeit einer dauerhaften Religionsstiftung und die Dynamik von Epiphanie und Erlöschen des Gottes

    

    Der Siebente Ring · Maximin 

     415

    Maximin ist eine poetologische Figur wie der Engel aus dem Vorspiel zum Teppich des Lebens, hat aber einen wesentlich größeren Geltungsanspruch als jener. Denn es handelt sich um eine reale Person, die zum Gott erhoben wird. Es stellt sich daher die Frage, wie sich der Geltungsbereich der sogenannten ‚Privatmythologie‘ Georges definiert: Gilt sie nur innerhalb der literarischen Fiktion, die die Gedichte des Maximin-Zyklus etablieren, d.  h. für die Erzählinstanz (das Sprecher-Ich) und die im Text angesprochenen Adressaten (das kollektive Ihr)? Oder gibt es Signale im Text, die auf eine darüber hinausgehende Normativität weisen – in einem Text, der immerhin einen prinzipiell offenen Leserkreis hat? Rudolf Borchardt hat eine solche Verbindlichkeit nicht anerkannt und Maximin in seiner Besprechung des Siebenten Rings als rein private Angelegenheit abgetan.8 Aber das ist natürlich Polemik, denn es gilt: „Ein Individual- oder Privatmythos ist, wie eine Privatsprache, ein höchst paradoxaler Gegenstand.“9 Wer Mythen beansprucht, erhebt Anspruch auf Allgemeingültigkeit.10 Der Zyklus von 21 Gedichten bildet die Mitte des Siebenten Rings. Er weist eine klare Gliederung auf; Zeit (Kausalität von vergangenem und gegenwärtigem Geschehen, chronologische Folge der Jahreszeiten) und Raum (Raumsemantik von obenunten, von heiligen, profanen und magischen Bezirken) ihrer Handlung sind deutlich markiert. Obwohl sie ferner eine konventionelle Metaphorik mit christologischen Anklängen aufweisen, die das erzählte Geschehen dem religiösen Erfahrungsbereich ihres Adressatenkreises anpassen, obwohl also das unerhörte Geschehen der Epiphanie eines Gottes in möglichst kommensurabler Weise dargestellt wird, gibt es in diesen Texten hermeneutische Irritationen. Diese resultieren zum Teil rein äußerlich daraus, dass die Redeinstanzen in der Abfolge des Zyklus wechseln: In den Gedichten Kunfttag I–III redet das gläubige Sprecher-Ich das göttliche ‚Du‘ an als das noch lebende. Die Du-Anrede in den darauf folgenden Gedichten Erwiderungen I–III ist dagegen eine Selbstanrede des Sprechers. In Trauer I–III adressiert das (mit den vorigen Gedichten identische) Sprecher-Ich wiederum das göttliche ‚Du‘, nun aber als das gestorbene. Im Binnenzyklus Auf das Leben und den Tod Maximins tritt neben das solchermaßen definierte ‚Ich‘ und ‚Du‘ noch das ‚Ihr‘ oder ‚Wir‘ der gläubigen Gemeinde, wobei vorwegnimmt – und dies, ohne vom Anspruch einer wahren Göttlichkeit Maximins abzurücken –, gerät bei dieser Analyse in den Hintergrund (vgl. DP). 8 Rudolf Borchardt: Stefan Georges Siebenter Ring. In: Hesperus 1 (1909), S. 49–82. Wieder abgedruckt in: ders.: Prosa I. Textkritisch revidierte, chronologisch geordnete u. erw. Neuedition der Ausgabe von 1957. Hg. v. Gerhard Schuster. Stuttgart 2002, S. 68–104. 9 Volker Dörr: Mythomimesis. Mythische Geschichtsbilder in der westdeutschen (Erzähl-)Literatur der frühen Nachkriegszeit (1945–1952). Berlin 2004, S. 13. 10 Dies auch gegen Bodo Würffel: Wirkungswille und Prophetie (wie Anm. 2), der von Georges „Privatreligion“ spricht (S. 133), die in den „privatesten Bereich des Dichters“ gehöre und für den Jüngerkreis keine Verbindlichkeit gehabt habe. Würffel konstatiert eine Verflachung dort, wo die Jünger diese Religion adaptieren, verkennt aber in diesem Zusammenhang die Konsequenz, die dieses Phänomen für George selbst im Rahmen seines Imitatio-Verständnisses hat (S. 135).

    416 

     Gunilla Eschenbach

    zusätzlich in direkter und indirekter Rede ‚Herrenworte‘ des göttlichen ‚Du‘ eingestreut sind. In den folgenden Gedichten Gebete I–III wechselt die Redeinstanz: Das Sprecher-Ich ist nun identisch mit dem ‚Du‘ der Gedichte Kunfttag I–III. Die Gebete sind Worte des noch lebenden Maximin und das angesprochene ‚Du‘ ist in diesem Fall eine ihm übergeordnete numinose göttliche Instanz. Die zyklusübergreifende Verschränkung von göttlicher und menschlicher Ebene, die sich unter anderem im Wechsel der Redeinstanzen manifestiert, wird in den folgenden drei Gedichten fortgesetzt. Sie zielen auf die unio mystica, die Einswerdung (Einverleibung), Begegnung (Besuch) und Überschreitung (Entrückung) der Grenzen zwischen menschlichem Ich und göttlichem ‚Du‘. Die ersten beiden Gedichte haben wieder dieselbe Sprechsituation wie in Trauer I–III, aber die innere Haltung des Ich hat sich gewandelt. An die Stelle der Trauer tritt eine positive Emotionalität, die einhergeht mit religiösen Handlungen des Ich. Im letzten Gedicht des Zyklus geht die eingangs (Strophe 2–3) noch gewahrte Anrede an das göttliche ‚Du‘ Maximin in der überwältigenden Präsenzerfahrung eines übergeordneten Göttlichen auf. Das größte hermeneutische Irritationspotenzial des Zyklus liegt in den mit diesen Rollen verbundenen religiösen Zuschreibungen. Der Leser bleibt im Ungewissen darüber, ob die religiöse Bildlichkeit metaphorisch oder wörtlich zu verstehen ist. Die folgenden Ausführungen wollen sich nicht damit begnügen, der Religiosität des Maximin-Zyklus von vornherein mit dem Argument die Spitze abzubrechen, dass sie eine Form von Kunstreligiosität und damit poetologisch zu verstehen sei. Natürlich handelt es sich bei Maximin um Kunstreligion, denn das Medium, in dem sich die Heilsaneignung vollzieht, ist die Poesie  – eben weil die ‚Textzeugen‘ für den Gott Maximin Gedichte sind. Georges Maximin-Dichtung ist zwar das Organ der Gottesverkündigung. Aber die religiöse Erfahrung Georges, die ihr vorausging, ist nicht instrumentell durch die Dichtung selbst herbeigeführt. Sie ging ihr erstens zeitlich voraus; die Gedichte referieren die religiöse Erfahrung nur. Sie ist zweitens sachlich unabhängig von ihr; die Gedichtform mag zwar die einzig mögliche Sprache sein, die religiöse Erfahrung auszusagen, sie ist für den George-Kreis vielleicht der Ort, aber nicht die Ursache der religiösen Erfahrung. Für alle diejenigen aus dem Kreis, die Maximin persönlich erlebt haben, ist die Dichtung nicht einmal der ursprüngliche Erfahrungsort – das ist die Person Maximin selbst –, sondern nur der Erinnerungsund Kultort. Dieser realreligiö­sen Annahme nicht zu folgen, würde bedeuten, sämtliche Aussagen des Gedichtzyklus selbst und der Vorrede zum Gedenkbuch zu ignorieren. Dass Dichtung fähig ist, das Göttliche zu evozieren und zu bannen, ist für die Lyrik der Moderne ein Gemeinplatz.11 Symbolistische Lyrik hat geradezu die Absicht, im Rezipienten reli­giöse Gefühle zu wecken. Das Besondere an dem Maximin-Zyklus ist, dass er eine Kunstreligion ist, die einen Wahrheitsanspruch hat, der sich von einer nicht-fiktionalen Epiphanie des Göttlichen herleitet.

    11 Vgl. Gabriela Wacker: Poetik des Prophetischen (wie Anm. 6).

    

    Der Siebente Ring · Maximin 

     417

    Gegenstand der Gedichte sind nicht das Leben und der Tod Maximins, sondern bereits die Deutung dieses Geschehens. Das, was geschieht, widerfährt der Erzählinstanz. Gleich am Beginn des Zyklus heißt es – die Positionen des Sprecher-Ich und des empirischen Autors fallen in den meisten Gedichten des Zyklus ineins –:12 „Dem bist du kind, dem freund / Ich seh in dir den gott“ (SW VI/VII, 90). Diese Aussage ist nun nicht so zu verstehen, dass Maximin ein Gott von Georges Gnaden wäre.13 Gemeint ist: Ich, der Dichter-Seher, bin imstande, den Gott in Dir zu erkennen. Die Aussage formuliert die Paradoxie, dass sich das Göttliche nicht im Erhabenen und Transzendenten, sondern im Kleinsten (dem Kind) und Allernächsten (dem Freund) findet. Dieselbe Paradoxie ist mit dem Namen Maximin, in dem sprachlich das Maximum und das Minimum zusammenfallen, berührt. Sie koinzidiert mit der Vorstellung des göttlichen Kindes.14 Der Ältere beugt sich vor dem Jüngeren: Diese Konstellation ist schon aus der Bibel bekannt, aus dem Loblied Simeons und vor allem aus der Anbetung der drei Weisen. Das Zweite: Wallfahrt (SW VI/VII, 100) beruht auf dieser biblischen Urszene („Sind drei weise / Doch einst dem stern gefolgt zu einem stalle!“). In dem Gedicht Einverleibung äußert das Ich sein Erstaunen darüber, dass es „geschöpf nun eignen sohnes“ (SW VI/VII, 109) sei. Auch in diesem Vers wird das Paradox formuliert, dass das natürliche Generationenverhältnis durch die Göttlichkeit Maximins außer Kraft gesetzt sei. Da George von seinem Maximin-Erlebnis in Form von Gedichten erzählt (und da seine Lyrik dazu bestimmt ist, Gemeinschaft zu stiften), liegt es nahe, das Kunstwerk als den eigentlichen Ursprung und Endzweck der Maximin-Religion zu verstehen. Aber das Medium der Gotteserfahrung ist in diesem Gedichtzyklus nicht das dichterische Gebilde, sondern ein Mensch. Nicht die poetische Sprache selbst wird deifiziert, sondern eine reale Person. Man kann das auch anders sehen und aus dem Vers „Ich geschöpf nun eignen sohnes“ das Eingeständnis herauslesen, dass Maximin nur ein Kunstprodukt des Sprechers sei. Ralf Simon hat die Maximin-Gedichte das „hybride und frivole Spiel des Mythenstifters“ genannt. (Ist es nicht ebenfalls frivol, aus der partikularen Interpretation einzelner Verse das Gegenteil dessen beweisen zu wollen, was der gesamte Zyklus aussagt?) Unter anderem wird von ihm die folgende Belegstelle angeführt: „Am dunklen grund der ewigkeiten / Entsteigt durch mich nun dein gestirn“ (Hervorhebung d.V., SW  VI/VII, 105). Das „durch mich“ ist in der Tat prononciert gesetzt. Man muss aber nicht zwangsläufig daran – und an den vielen christlichen

    12 „[D]as Ich der Maximingedichte ist in einem sehr konkreten Sinne das Ich Georges, denn die Wahrheit des Sehers läßt sich nicht in einem ästhetischen Fiktionsspiel, sondern allein in der persönlichen Gotteserfahrung begründen.“ – Ernst Osterkamp: „Ihr wisst nicht wer ich bin“. Stefan Georges poetische Rollenspiele. München 2002, S. 35. 13 Zu dieser Deutung gelangt Ralf Simon: Die Bildlichkeit (wie Anm. 4), S. 216. 14 Georgios Varthalitis: Die Antike und die Jahrhundertwende. Stefan Georges Rezeption der Antike. Univ. Diss. Heidelberg 2000, S. 157: „Innerhalb des Kreises taucht der Mythos des Heiland-Kindes vor allem bei Derleth und Wolfskehl auf.“

    418 

     Gunilla Eschenbach

    Versatzstücken – die Konstruiertheit des Gottes Maximin festmachen.15 Das „durch mich“ besagt erst einmal nur, wie wesentlich für jede Religion und jeden Glauben die Person des Gläubigen ist. Das gilt auch für das Christentum: Erst der Glaube an Jesus bringt das Heil – aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Jesus Gott war und dass der Gottesglaube eines Menschen gottgeschenkt ist. Auch Maximin ist für George ein Gott, so wie es für ihn unabsehbar viele Epiphanien des Göttlichen gibt. Aber er wäre unerkannt gestorben, wenn George ihn nicht gesehen hätte. Im zwölften Vorspiel-Gedicht aus dem Teppich des Lebens heißt es zwar an die Adresse der Jünger: Da jedes bild vor dem ihr fleht und fliehet Durch euch so gross ist und durch euch so gilt .. Beweinet nicht zu sehr was ihr ihm liehet. (SW V, 21, Hervorhebung d.V.)

    Diese Einsicht soll an dieser Stelle tatsächlich den Wert des Angebeteten relativieren. Doch das Maximin-Erlebnis will George nicht relativiert wissen. Zwar wird in beiden Passagen betont, dass Anbeten, Glauben und Verehren intentionale Akte und daher einer subjektiven Perspektive unterworfen sind. Dennoch gilt die Relativierung des Angebeteten aufgrund dieses subjektiven Anteils nicht für das SprecherIch der Maximin-Gedichte. Während die Jünger in ihrem Subjektivismus befangen sind, nimmt das Sprecher-Ich – gemäß der Mimesis des Urgeists16 – einen objektiveren Standpunkt ein.17 Insofern ist die Metapher des Gestirns mehrdeutig, denn eine Sternenkonstellation erhält ihren Sinn erst aus einer bestimmten Perspektive heraus. Objektiv betrachtet existieren Sternbilder nicht, ihre einzelnen Sterne stehen im unendlichen Raum beziehungslos nebeneinander. Aber Querverweise innerhalb des Zyklus auf die biblischen drei Weisen legen nahe, diesem Gestirn einen objektiven Zeichencharakter zuzubilligen. Durch den dichtenden Urgeist („durch mich“) wird dieses verborgene Zeichen für andere sichtbar, ohne sein Zutun könnte es keine Wirkung in Raum und Zeit entfalten.18 Maximilian Kronberger hätte auch ohne den Dichter-Seher gelebt, aber wirkungslos und beziehungslos. Insofern hat der Dichter eine starke Rolle. Er sieht das Heil und macht es für andere sichtbar. Er bleibt in dieser Konstellation Urgeist und dem göttlichen Menschen Maximin eben-

    15 Dies tut Wolfgang Braungart, wenn er schreibt: „Maximilian Kronberger wird in einem voluntaristischen Akt zum Gott Maximin umgeschaffen, weil ihn George für sein Ritual braucht.“ – WB 246  f. 16 Vgl. Gunilla Eschenbach: Imitatio im George-Kreis. Berlin u. New York 2011 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 69), S. 31–33. 17 Anders Wolfgang Braungart, der unter anderem mit diesem Vers den Gedanken begründet, dass Maximin ein Geschöpf Georges sei und als solches von ihm auch begriffen werde. – WB 245 Anm. 96. 18 Zum Motiv des Sternbilds vgl. Bernhard Böschenstein: Stefan Georges Spätwerk als Antwort auf eine untergehende Welt. In: WuW 1–16, hier 6  f.

    

    Der Siebente Ring · Maximin 

     419

    bürtig, weil ihm exklusiv die Heilsoffenbarung zuteil wird (SW XVII, 64). Aber darf man in den Bekenntnissen zu einem göttlichen und geliebten ‚Du‘ nur die Selbstermächtigung des Dichters sehen, der sich in der Rolle des Priesters und ‚Gottmachers‘ gefällt? Wenn George das gemeint hätte, dann hätte er dem Gedenkbuch Maximin, in dem drei Gedichte des Zyklus erschienen, keine Vorrede vorangestellt. Sie hätte den Leser irre- und weggeführt von der Lyrik selbst als dem Medium, in dem sich das Göttliche emaniert. Aber die Vorrede macht deutlich, dass das Göttliche ihm in der menschlichen Person Maximilian Kronberger begegnet ist. Nichts anderes behaupten die Gedichte. Zwar setzt sich die Poesie an die Stelle der kirchlich konfessionalisierten Religion, indem sie den Anspruch artikuliert, vom Göttlichen zu künden und als heiliger Text auch andere an der religiösen Erfahrung teilhaben zu lassen, also sogar das Potenzial zur Gemeindebildung zu haben. Aber Georges Kunstreligion ist nicht ‚leer‘ (wie anders bei Mallarmé). Sie erschöpft sich nicht in religiösen Formen und religiö­ sen Gefühlen, die sie auszulösen vermag, sondern sie transportiert eine Botschaft, einen Glauben, sie behauptet eine göttliche Entität unabhängig vom Dichten, Feiern und Fühlen. George will eine religiöse Wahrheit verkündigen: Die Epiphanie Gottes in einem Menschen und die sinnliche Erfahrbarkeit des Göttlichen im Hier und Jetzt. Angestrebtes Rezeptionsereignis ist eine ideologische Neuorientierung des Lesers („Ihr fühltet endes-hauch durch alle räume – / Nun hebt das haupt! denn euch ist heil geschehn.“, Auf das Leben und den Tod Maximins: Das Erste, SW VI/VII, 99). Dass das Heil, von dem der Zyklus kündet, objektiv gegeben ist, muss man George glauben. Er begreift es als seinen Auftrag, die Wirkung des früh verstorbenen Maximilian Kronberger posthum zur Entfaltung zu bringen. Als Ersatz für die contagio mit dem noch lebenden Gott wird das Ich und mit ihm der ideale Leser durch die poetische Evokation Maximins ebenfalls von dessen Göttlichkeit ergriffen und umgestaltet. Die Suggestionskraft der poetischen Form hat wesentlichen Anteil daran. George verwendet Glaubenspartikel aus antiker und christlicher Überlieferung und erreicht dadurch auf der Textebene eine Art von liturgischer Objektivität. Aber erst die emotive Dynamik im Wechsel von tiefer Trauer und religiöser Ekstase macht das religiöse Erlebnis des Ich glaubhaft und nachvollziehbar für andere. Georges Maximin-Religion bildet keine Dogmatik aus (die in Prosa formuliert werden könnte).19 Sie existiert nur als – im weitesten Sinn – Liturgie der Gemeinschaft, und diese Liturgie ist im George-Kreis eben poetische Praxis (imitatio). In der intensiven Lektüre und Aneignung dieser Gedichte vollzieht sich die subjektive Heilsaneignung.

    19 Friedhelm Marx: Heilige Autorschaft? ‚Self-Fashioning‘-Strategien in der Literatur der Moderne. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hg. v. Heinrich Detering. Stuttgart u. Weimar 2002, S. 107–120, hier S. 115: „In diesem Sinne ist Georges dichterisches Prophetentum ‚dogmenfrei‘; sein Werk zele­ briert die Geste der Verkündigung – und verweigert deren Botschaft.“

    420 

     Gunilla Eschenbach

    In der Tat hat der George-Kreis Lyrik zu einem Medium geadelt, das den Menschen zu verwandeln imstande sei. Robert Boehringer schreibt in seiner Abhandlung Das Leben von Gedichten: „Wem es gelingt, das Gedicht sich derart einzuverleiben, daß dessen ‚heimlich bildende Gewalt‘ in ihm wirksam wird, der wird geistig und körperlich umgestaltet, gebildet im Goetheschen Sinne; er wird dem Großen, das im Gedichte steckt, nachgeformt.“20 Analog zur Kommunion, die das Bild Christi im Menschen freilegt, hat das Gedicht diesen Worten zufolge eine verändernde, heilsbringende Wirkung. Es ist Träger einer schöpferischen Energie, die nicht nur punktuellen (ästhetischen) Reiz hat, sondern eine andauernde Wirkung entfaltet. Nach dieser Überzeugung ist es durchaus denkbar, dass sich im gemachten Werk etwas Göttliches artikuliert. Der Dichter wird zum Mittler zwischen dem Göttlichen (das sich im gestorbenen Urgeist Maximilian Kronberger manifestierte) und den abgeleiteten Wesen (seinen Jüngern und Lesern). An sie gibt er die „verwandelnde[] kraft“ Kronbergers (SW XVII, 64) weiter. Der Dichter ist ein Sprachrohr dieses Göttlichen. Dieses liegt außerhalb der Lyrik selbst. Um das zu beglaubigen, legen die erklärende Vorrede zum Gedenkbuch und die Maximin-Gedichte selbst Wert darauf, reale Orte und reale Personen verschlüsselt oder unter ihrem Klarnamen zu benennen. Daher wissen wir, dass der Autor George an Orten, an denen er es am wenigsten vermuten konnte, nämlich innerhalb der Großstädte Berlin und München, auf etwas Göttliches traf. Die Orte der Epiphanie sind deutlich markiert: Kronbergers Geburtsort am Berliner Mariannenplatz und das Münchner Siegestor als Ort ihrer ersten Begegnung  – beides sprechende Namen, deren biblische und antike Konnotationen George in seinen Gedichten auswertet. Zwar taucht Maximilian Kronberger nicht unter seinem Klarnamen auf, aber Vor- und Nachname werden nur schwach verschlüsselt („Maximin“ für Maximilian, „berger der goldenen krone“ für Kronberger, SW XVII, 63). Dass es sich um eine reale Person handelt und nicht um eine literarische Fiktion, wird ferner durch das beigefügte Foto und die eigenen Gedichte Kronbergers beglaubigt. Ort und Zeit der Epiphanie werden konkret benannt, ebenso das Alter und der Geburtsort des Verstorbenen. Dass auch andere außer George die Göttlichkeit des Gestorbenen bezeugen, nämlich die weiteren Beiträger zum Gedenkbuch, dient der weiteren Beglaubigung. Die Publikation behauptet einen außerliterarischen Erlebniskern für die religiöse Erfahrung, von der das Ich des Maximin-Zyklus berichtet. George selbst sprach gegenüber Melchior Lechter, der die Buchausstattung übernahm, „von diesem mir übersinnlichen Ereignis“21. In der Vorrede heißt es dazu präzisierend: „Das ganze getriebe unsrer gedanken und handlungen erfuhr eine verschiebung seitdem dieser wahrhaft Göttliche in unsre kreise getreten war.“ (SW XVII, 64) Die Rede von einer „verschiebung“ und von einer „verwandelnden kraft“ verdeutlicht, dass die Begegnung mit Kronberger reale Wirkungen

    20 Robert Boehringer: Das Leben von Gedichten. Kiel 1955, S. 4. 21 Stefan George an Melchior Lechter, Brief vom 27. 4. 1905, zitiert nach: SW VI/VII, 218.

    

    Der Siebente Ring · Maximin 

     421

    zeitigte. Die Wirkung ist nicht literarisch vermittelt, weil – so die Vorrede weiter – die überdauernde Wirkung göttlicher Menschen „mehr in ihrer gestalt als in ihren worten und taten“ liegt. Dennoch stellt sich in der Vorrede eine untrennbare Verbindung zwischen Kronbergers Person und seiner Lyrik ein: Willig gaben wir uns der verwandelnden kraft hin die nur anzuhauchen oder anzurühren braucht um den alltäglichsten umgebungen einen jungfräulichen paradiesischen schimmer zu spenden. Die mitbürtigen die ihn nicht sahen und die späteren werden nicht begreifen wie von solcher jugend uns solche offenbarung zuteil wurde. Denn so sehr die zartheit und seherische pracht seiner hinterlassenen verse als bruchstücke eines eben beginnenden werkes jedes uns gültige maass übersteigt: er selber lieh ihnen keine besondere bedeutung und das tiefste seines wirkens wird erst sichtbar aus dem was unsren geistern durch die kommunion mit seinem geiste hervorzubringen vielleicht vergönnt ist. (SW XVII, 64)

    Die „verwandelnde[] kraft“ übt diesen Worten zufolge sowohl die Person Maximins als auch sein Werk aus. Das Bruchstückhafte seiner hinterlassenen Gedichte ist kein Makel; sie übersteigen „jedes uns gültige maass“. Die Tatsache, dass Maximin seinen Versen keine große Beachtung geschenkt habe, ist eine Zuschreibung Georges: Der reale Maximilian Kronberger hatte dichterische Ambitionen und legte seinen Gedichten und Begegnungen mit George höchste Bedeutung bei. Ähnlich wie für die biblischen Evangelienberichte ist es aber unerheblich, ob die Ereignisse, von denen die Vorrede berichtet, so geschahen und ob die in ihr überlieferten ‚Herrenworte‘ authentisch sind oder nicht. Der letzte Satz lässt mehrere Deutungen zu. Es bleibt im Ungewissen, ob das in der „kommunion mit seinem geiste“ Kommunizierte das hinterlassene Werk oder die Person Kronbergers ist. Beides ist ohnehin in dieser Argumentation eng verflochten. In der zweifachen Wirkung durch Person und Werk drückt sich die Doppelstruktur von imitatio im Kreis aus: exercitatio (die stilistische Schulung an „gültige[m] maass“) und contagio (das „an[]hauchen“ oder an[]rühren“) zusammen bedingen das Entstehen von Dichtung. Der reale Maximilian Kronberger entzog sich dem imitatio-Modell: Er ließ George warten, war selbstständig, riskierte einen Kontaktabbruch (GHb III, 252–255). Ein solches eigenständiges Agieren klingt in der Vorrede durch, wird aber im Sinne wechselseitiger contagio umgedeutet. Maximin ist zuerst Schüler, dann Freund des Meisters: „Ich entlasse dich als schüler, nimm mich zum freund! denn immer bleib ich ein teil von dir wie du ein teil von mir.“ (SW XVII, 66). Die Vorrede spricht weiter davon, dass George in Maximin seinen „erben“ erhofft habe, also den Urgeist der nächsten Generation. Aufgrund seines frühen Todes ist diese künftige Wirkmöglichkeit dahin. Stattdessen versucht der ältere Urgeist, die „neuen Zeichen“ des Jüngeren ins eigene Œuvre zu übertragen. Maximin soll als eine Inspirationsfigur George und seinem Kreis ermöglichen, „durch die kommunion mit seinem geiste […] vielleicht etwas [Neues] hervorzubringen“. Infolge inverser imitatio – nicht der Meister befruchtet den Jünger, sondern der Ältere zehrt von der Begegnung mit dem Jüngeren – endet dieser Passus mit der Hoffnung, dass das von Maximin gebrachte Göttliche auch nach seinem Ableben noch wirksam wird.

    422 

     Gunilla Eschenbach

    Die Forschung22 hat darauf hingewiesen, dass in Georges Umgang mit dem lebenden Maximilian Kronberger nichts auf eine dergestalt religiöse Verehrung schließen lässt, wohingegen aber in Georges Werk eine entsprechende Erlöser- und Inspirationsfigur überaus deutlich präfiguriert ist. Fraglos ist die Vorrede selbst bereits Literatur und kein Tatsachenbericht. Sie ist Teil eines Gesamtkunstwerks von Text, illustrativem Buchschmuck und Fotografie. Aber für das Denken Georges ist eine Unterscheidung zwischen Literatur und Leben hinfällig. Es ist innerhalb seines Denkens folgerichtig, dass sich eine religiöse Erfahrung in Gedichten äußert. Dichtung ist für ihn keine ‚Lüge‘, keine reine Fiktion, sondern ganz im Gegenteil eine verdichtete Form von Wahrheit. Daher verbürgt es geradezu die Echtheit von Kronbergers göttlichem Status, dass der Kontakt zu ihm das Ich befähigt zu dichten. Eben darum läuft die eben zitierte Passage aus der Vorrede auf das Schaffen von Gedichten hinaus. Während die Überzeugung, dass in den meisten Gedichten des Siebenten Rings die Instanzen des Sprecher-Ich und des empirischen Autor-Ich zusammenfallen, communis opinio in der George-Forschung ist, hat sie die Trennung zwischen Maximin und Maximilian Kronberger aufrechterhalten. Das erlaubte ihr, den normativen Anspruch des Maximin-Zyklus abzuschwächen. Es handle sich um einen poetologischen Mythos, der, analog zur Neuen Mythologie der Frühromantik, auf „der vernünftigen Einsicht beruht, dass eine gemeinsame, kollektiv verbindliche Anschauung notwendig ist.“ (GHb II, 545–550, hier 547) Die Religionsstiftung sei ein ‚sentimentalischer‘ Gewaltakt aus vorgängigem Unglauben heraus. Gilt das für Maximin? Die Vorrede behauptet etwas anderes: Dem Ich sei ein früherer, zwischenzeitlich verlorener Glaube an das Göttliche „wieder[ge]bracht[]“ worden. Die Auseinandersetzung mit dem Göttlichen, das George in Kronberger sah, fand nicht im persönlichen Umgang mit Maximilian Kronberger, sondern in den drei Gedichten statt, die noch zu dessen Lebzeiten entstanden und die George in den Zyklus aufgenommen hat. In ihnen ist von dem Wunder der Epiphanie die Rede (Erwiderungen: Das Wunder, SW VI/VII, 93), das in Bezug zum Engel aus dem Vorspiel zum Teppich des Lebens gesetzt wird (Erwiderungen: Einführung, SW VI/VII, 94) und angesichts dessen sich jeder Zweifel verbietet (Erwiderungen: Die Verkennung, SW VI/VII, 95). Maximilian Kronberger erscheint als Antitypus des Engels, in ihm erfüllt sich dessen Vision des Schönen Lebens. Die Gedichte antworten nicht nur auf das Phänomen der Person Maximilian Kronberger, sie antworten auch auf dessen Lyrik, die teils ins Gedenkbuch aufgenommen wurde. Georges MaximinGedichte greifen einige ihrer Themen – christlich-pietistische Todessehnsucht und Heiligungsstreben, kombiniert mit Nietzsche-Anklängen und antiken Motiven – auf. Die an Kronberger adressierten Texte reagieren also auf andere Texte, die ihrerseits intertextuelle Anspielungen enthalten. Insofern handelt es sich bei dem MaximinErlebnis um ein vorgängig literarisches Phänomen. Dass Lyrik reale Folgen hatte und „traum“ und „traum“ in der Realität zusammenflossen („nun geschieht das höchste

    22 Vgl. den Kronberger-Artikel von Franziska Walter in GHb III, 1500–1503.

    Der Siebente Ring · Maximin 

    

     423

    wunder / fliessen traum und traum zusammen“), war wohl das eigentlich Übersinn­ liche für George an diesem Erlebnis. Ein Fünfzeiler, den Maximin mit der Überschrift Das Ende versehen hatte, ist unter dem neuen Titel Erfüllung an den Anfang der Auswahl seiner Gedichte im Maximin-Gedenkbuch gesetzt. Der Text ist in der von Georg Peter Landmann besorgten Auswahlausgabe seiner nachgelassenen Werke auf den 23. Dezember 1902 datiert. Er reagiert auf Nietzsches Aussage im Antichrist: „Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott!“23 und behauptet, am Vorabend zu Weihnachten, die Ankunft eines neuen Gottes. Kronbergers Intention lässt sich nicht mehr nachvollziehen, aber George verlieh dem Gedicht durch die Art seiner Präsentation den Charakter einer ahnungsvollen Erkenntnis der eigenen Sendung. Jezt naht nach tausenden von jahren Ein einziger freier augenblick: Da brechen endlich alle ketten und aus der weitgeborstnen erde Steigt jung und schön ein neuer halbgott auf.24

    Das Göttliche realisiert sich dieser Auffassung zufolge zeitlich und räumlich begrenzt. Im Gedicht artikuliert sich der Glaube, dass durch Sehnen und Hoffen immer wieder ein Gott geboren werden kann. Es gibt im Maximin-Zyklus zwei Arten oder besser: zwei Emanationsformen des Göttlichen.25 Maximin ist eine Mittlerfigur (ein „gesandter“), die selbst göttlich ist und mit dem das Sprecher-Ich der Maximin-Gedichte eine religiöse Erfahrung macht. Darüber hinaus gibt es aber noch ein weiteres Göttliches, das sich nicht oder nur mittelbar offenbart. Das ist der Gott, zu dem Maximin betet (Gebete I–III, SW VI/VII, 106–108), und dem das Ich im letzten Gedicht (Entrückung) nahekommt. Obwohl die Metaphorik dieses Gedichts das nahelegt, glaubt George – wie programmatische Äußerungen in den Blättern für die Kunst beweisen – nicht an einen transzendenten, personalen Schöpfergott, sondern an eine immerwährende schöpferische Substanz oder Energie, die sich in der Natur, der Geschichte bzw. in Menschen und in Kunstwerken manifestiere. Das letzte Zeitgedicht deutet dies an: „Eins das von je war (keiner kennt es) währet / Und blum und jugend lacht und sang erklingt.“ (SW  VI/VII, 33) Obwohl die Frühlingsmetaphorik eine zyklische Abfolge

    23 Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, Abschnitt 19. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 6. München 1988, S. 165–253, hier S. 185. 24 Maximilian Kronberger: Erfüllung. In: Maximin. Ein Gedenkbuch. Hg. v. Stefan George. Berlin, o.P.; Datierung nach Maximilian Kronberger: Gedichte – Tagebücher – Briefe. Hg. v. Georg Peter Landmann, Stuttgart 1987, S. 21, hier unter der Überschrift Das Ende. 25 Darauf spielt auch die Ausstattung von Melchior Lechter an. Das Gedenkbuch behauptet mit den Worten „Lumen de lumine“ eine Wesensgleichheit zwischen dem übergeordneten Göttlichen und seiner menschlichen Erscheinung.

    424 

     Gunilla Eschenbach

    nahelegt, ist es unvorhersehbar und unkalkulierbar, wann, wie oft und wo sich diese Substanz manifestiert. Allerdings ist in Das Fünfte: Erhebung die Aussage getroffen, dass das Göttliche herbeigesehnt werden kann: Was du zu deines erdentags begehung Gespendet licht und stark Das biete jeder dar zur auferstehung Bis du aus unsrem mark Aus aller schöne der wir uns entsonnen Die ständig in uns blizt Und aus des sehnens zuruf leib gewonnen Und lächelnd vor uns trittst. (SW VI/VII, 103)

    Indem der Dichter vom Göttlichen kündet, hält er den Glauben an das Göttliche und die Sehnsucht danach wach. „Machen läßt er [der Gott] sich nicht: er ist die Fleischwerdung einer Weltkraft, nicht der ‚Mythus‘ einer fruchtbaren Phantasie“ (FG3 203  f.) schreibt Gundolf in Anlehnung an den Eingang des Johannesevangeliums: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh 1,14). Während die Fleischwerdung Christi von Gott ausgeht, geht die Verleiblichung Gottes in Georges Versen von Menschen aus. Das heißt: Maximilian Kronberger war nur gekommen, weil George eine solche vollkommene Erscheinung in seinen Gedichten herbeigesehnt hatte.26 Die Begegnung mit einem Gott, d.  h. mit einem Menschen, in dem sich die lebensspendende Kraft, welche die Keimzelle jeder geschichtlichen Erneuerung sei, manifestiert, wertet die eigene Gegenwart gegenüber der Vergangenheit auf („Preist eure stadt die einen gott geboren!“). Damit wird die Kritik an der Gegenwart leiser, die sich in den Zeitgedichten im selben Gedichtband artikuliert. Die heilsbringende Wirkung, die sich darin zeigt, dass die Gegenwart nun als sinnhaft und eingebettet in einen Heilszusammenhang begriffen wird, geht von einem einzelnen Menschen aus. Dieser Mensch bedarf aber des Sehers und Verkünders, um überhaupt erst eine Wirkung zu entfalten. Erhebung beginnt und endet mit einer Beschreibung des psychischen Zustands des ‚Wir‘. Die Sprecher sind „weinende im finstern“, die einer Aufforderung des gestorbenen ‚Du‘ Folge leisten. Es handelt sich dabei um keine real erklingende Rede, sondern um eine, die sich in der Erinnerung der Trauergemeinde vollzieht, wie in den Folgestrophen zwei bis vier markiert. Das Zitat „Auf! tore allesamt“ ist nicht als reale Anrede zu verstehen, sondern als eine imaginierte Forderung, die sich aus dem ver-

    26 Die Vorstellung, dass der Dichter dem Gott eine „Stätte“ bereite, findet sich schon bei Hölderlin. Breuer sieht darin, dass der Dichter „die Inkarnation bewirkt […], ein Indiz dafür, daß die Religion Stefan Georges nie ganz die Züge einer Intellektuellenreligion, eines Reflexionsprodukts, abzustreifen vermag.“ – Stefan Breuer: Zur Religion Stefan Georges (wie Anm. 3), S. 231.

    Der Siebente Ring · Maximin 

    

     425

    gangenen Leben des nun gestorbenen ‚Du‘ ergibt. Die Erinnerung an dieses vergangene Leben greift das Bild der verschiedenen Lichtqualitäten (schwach und bleich versus hell und brennend) auf: „Du warst für uns in frostiger lichter glosen / Der brand im dornenstrauch“. Es ist nur der erinnerte Brand, der als „feurig wehn“ zu agieren scheint. Aus der Erinnerung an Maximins frühere Existenz leitet sich die Aufforderung ab, „der kerzen bleiches glinstern“ zu löschen, wie es der Wille des Verstorbenen gewesen wäre. Dass der Gedichttitel Erhebung keine reale Auferstehung meint, sondern nur eine metaphorische, belegt der Schluss des Gedichts: Vom zug der schatten die nichts tun als stöhnen Dich und uns selbst befrein · Die schmerzen bändigen die uns zerrütten – Gebeut dein feurig wehn Und soviel blumen hinzuschütten Dass wir dein grab nicht sehn. (SW VI/VII, 103)

    Die Auferstehung von den Toten vollzieht sich nur in Handlungen und Einstellungsänderungen des ‚Wir‘. Der Anblick des Grabes ist so überwältigend, dass er durch Blumen verborgen werden muss. Der Trost, den die Blumen spenden, ist nur ein scheinbarer, er beruht auf einer bewussten Augentäuschung. Zwar spielt das „feurig wehn“ auf das christliche Pfingsterlebnis an. Aber aus dem gesamten Text geht deutlich hervor: Dieses Pfingsten erlöst die Jünger nicht, sie werden von ihrem Karfreitagstrauma nicht befreit. Daher tritt an die Stelle einer christlichen Auferstehungshoffnung eine Trauerarbeit, die sich mit der Endgültigkeit des Todes abzufinden hat. Verweise auf eine jenseitige, obere Welt (um einige Beispiele zu nennen: „die himmel“, „himmelsglanz“, „oben“, „obere chöre“ und „nach den sternen“, „zu der schatten“) sind konventionell-metaphorisch zu verstehen. Es gibt nur vage Andeutungen eines Jenseits: z.  B. ist Maximin  – in Umkehrung der Bewegungsdynamik des Johannesevangeliums – wieder „eins / mit dem Wort das von oben uns sprach“ (SW VI/VII, 101). Hinzu kommen die antike Vorstellung von einer schattenhaften Unterwelt („Vom zug der schatten die nichts tun als stöhnen / Dich und uns selbst befrein“, SW VI/VII, 103) und von der Verewigung einzelner Erwählter am Sternenhimmel („Am dunklen grund der ewigkeiten  / Entsteigt durch mich nun dein gestirn“ SW  VI/VII, 105). Aber so, wie das Sternbild keine reale Verbindung einzelner Sterne bedeutet, sondern nur im intentionalen Akt des Sehens von einem gewissen Punkt aus sich konstituiert, glaubt George auch nicht an einen ewigen Gott Maximin, der in einer jenseitigen Welt weiterlebt, sondern an die Kraft des Sehers, das Göttliche zu erkennen, zu verkündigen, zu preisen und damit diejenigen, die ihm folgen, zu besseren Menschen zu machen. Das Erinnern, Ersehnen und Verkünden des Göttlichen erkennt das Sprecher-Ich des Maximin-Zyklus als seine Aufgabe (Trauer I, Das Fünfte: Erhebung und Das Sechste) an:

    426 

     Gunilla Eschenbach

    Nun dringt dein name durch die weiten Zu läutern unser herz und hirn .. Am dunklen grund der ewigkeiten Entsteigt durch mich nun dein gestirn. (SW VI/VII, 105)

    Der Zyklus will der modernen, post-christlichen Heilsunsicherheit begegnen, und zwar der Unsicherheit, ob es das Göttliche heute noch geben kann. Der Geltungsanspruch von Georges Maximin-Religion ist, von der Realpräsenz des Göttlichen in götterloser Zeit zu künden – mit der Absicht, einem Gott den Weg zu bereiten. Daraus ergibt sich in einem zweiten Schritt der Anspruch einer Gemeindebildung. George apostrophiert Maximin als „Bringer unsres heils!“ (SW VI/VII, 100) und setzt dieses gegen die Décadence-Erfahrung, dass man am Ende sei. Interessant ist die Umkehrung des christlichen Heilsverständnisses: Ein weltzugewandtes, sinnliches Leben wird nicht als Tod und Sünde verdammt, sondern als Erfüllung gepriesen (Trauer I, Gebete III). In der Vorrede zum Gedenkbuch heißt es: „[D]er ist der grösste woltäter für alle der seine eigene schönheit bis zum wunder vervollkommnet.“ (SW XVII, 65). Das ist eine Anspielung auf das Johanneswort: „Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Der Gemeinschaft ist für George nicht durch den Tod gedient, sondern durch das Leben eines Menschen. Das „wunder“, das George „bezeuge[n]“ soll, ist die wunderbare Botschaft, dass göttliche Schönheit und Jugend heute noch möglich sind. Kein weiterer Sinn ist damit verbunden. Im Maximin-Zyklus finden sich zahlreiche Reminiszenzen an die Bibel und den christlichen Kultus, die aber immer dort enden, wo das Christentum die Jenseitigkeit Gottes und der künftigen Heilsgeschichte betont. Nicht zufällig liegen die stärksten Bezugnahmen in der Mensch- und Fleischwerdung der christlichen Dogmatik (Weihnachten, Abendmahl). Friedrich Gundolf hat Maximin eine „‚Geschichte‘ […] des neuen Glaubens“ genannt (FG3 208), aber Georges Auffassung von Heilsgeschichte ist nicht die christliche. Seine Heilsgeschichte ist punktuell auf die Gegenwart und die unmittelbare Zukunft bezogen.27 Im Unterschied zur christlichen Heilsgeschichte fehlt dem Maximin-Zyklus eine eschatologische, auf das Jenseits gerichtete Perspektive. Nach christlicher Vorstellung endet die Geschichte mit den vier letzten Dingen (Sterben, Tod, Himmel und Hölle) und das endgültige Heil liegt jenseits von Raum und Zeit. Zwar endet Maximin in der Tat mit einem Gedicht, das – in einer bestimmten Gattungstradition stehend – von einem Entrückungserlebnis erzählt, das einen tran-

    27 Breuer deutet die Verbindung von Religiosität und Geschichtsdenken im George-Kreis an, erkennt aber nicht die spezifische Verlaufsdynamik von Georges Geschichtsmodell: „Geschichte zerfällt auf diese Weise in Erlebnisse, die Gestalt werden, aber keinen Zusammenhang und keine Richtung haben“, Stefan Breuer: Zur Religion Stefan Georges (wie Anm. 3), S. 238.

    

    Der Siebente Ring · Maximin 

     427

    szendenten Bereich des Heiligen kennt. Aber es steht darin quer zu den Aussagen des übrigen Zyklus. Das Heil, die erfüllte und von Gott durchdrungene Zeit, ist eine zum Entstehungszeitpunkt der meisten Gedichte bereits vergangene. Angebetet wird ein gestorbener Gott, und es bleibt nur die Hoffnung darauf, dass ein neuer Gott kommt, der dem gestorbenen ähnlich ist (Das Fünfte: Erhebung). Die Chronologie der Gedichte erstreckt sich von der Zeit der Gottferne über die Epiphanie hin zu einer neuerlichen Gottferne, die aber gemildert ist durch die noch lebendige Erinnerung an den wirkenden Gott. Dass in den Gedichten, die das göttliche ‚Du‘, den verewigten Maximin anreden, der Blick ins Jenseits vermieden wird, ergibt sich aus der ganzen Maximin-Religion. Es gibt in diesem Denken kein Jenseits und keine Auferstehung, weder global noch individuell. Das Heil vollzieht sich rein im Diesseits. Analog zur imitatio-Theorie des Kreises gibt es in dieser Religion drei absinkende heilsgeschichtliche Stufen. Die erste Stufe ist diejenige, die mit dem emphatischen Wort „nun“ markiert ist. Der Dichter dichtet den Gott herbei, Gott erscheint, Gemeinschaft wird gestiftet. Die zweite Stufe ist demgegenüber bereits defizitär: Der Gott ist wieder entschwunden, aber die Gemeinschaft pflegt durch poetische imitatio seine Präsenz ‚virtuell‘ noch eine Weile weiter. Auf dieser Heilsstufe bewegen sich die Sprechinstanzen des Maximin-Zyklus (ausgenommen die Erwiderungen und Gebete). Die Emotionalität ist ambivalent, da sich in die Dankbarkeit Trauer um den gestorbenen Gott mischt. Sprachlich halten sich „nun“ und „nun nicht“ die Waage. Die Endstufe wäre innerhalb der Verlaufsdynamik des imitatio-Modells folgende: Die imitatio kommt zum Stillstand, Gott ist völlig entschwunden. An diesem Punkt müsste ein neuer Urgeist den nächsten Gott herbeidichten. Eine solche Endstufe wird im Maximin-Zyklus nur angedeutet. Sie ist Ausgangspunkt (siehe Kunfttag I und II) und Endpunkt des Zyklus insofern, als das letzte Gedicht (Entrückung) visionär eine erneute Verkündigung des Göttlichen vorbereitet. Innerhalb des Maximin-Zyklus gibt es viele rituelle Elemente, die von der Person des noch lebenden Maximin ausgehen: Maximin betet, feiert, opfert im heiligen Hain etc. (Das Wunder, Das Sechste). Er erlebt höchste Daseinsfreude im Fest (Gebete I bis III) und schafft einen Sakralraum in der Natur (Erwiderungen: Einführung). Der sinnlose Tod eines knapp Sechzehnjährigen ist ein kontingentes Geschehen. George konstituiert Sinn, indem er es in die mythische Erzählung des Frühlingsopfers einfügt. Thematischer Bezugsrahmen ist der Tod eines jungen Gottes, kombiniert mit der Vorstellung, dass die Götterlieblinge jung sterben. George bezieht sich auf Bilder, die seinen Lesern vertraut sind. Die zeitliche Einordnung des Geschehens in den Frühling (Kunfttag I und III, Trauer II, Das Vierte und Das Fünfte) bezieht sich auf den Monat April als Geburts- und Sterbemonat Maximilian Kronbergers und deutet ihn. Die Ankunft des Gottes harmoniert mit dem anbrechenden Frühling, aber auch der Tod erhält von da aus seinen Sinn als Selbstopfer (Gebete I). Dennoch bleibt Maximins Tod ein vom Ich betrauertes Ereignis: Der Tod als widernatürliches Ereignis bringt die logische Jahreszeitenfolge durcheinander und konterkariert die Erwartung der dem Frühling entgegenstrebenden Natur (Trauer II). Wie die Jahreszeitenmeta-

    428 

     Gunilla Eschenbach

    phorik und die Vorstellung einer zyklischen bzw. immer wiederkehrenden Emanation des Göttlichen in der Geschichte zeigen, liegt dem Maximin-Konzept mythisches Denken zugrunde. Generell ist ein Mythos dadurch gekennzeichnet, dass in etwas Materiellem etwas Ideelles, Göttliches west. Der Mythos bezieht sich auf die phänomenale Wirklichkeit und deutet sie; geschichtliche Ereignisse werden als göttlich durchwaltet aufgefasst.28 In der Wiederholung, im Ritual, ereignet sich der Mythos neu. Dies alles gilt für die Religiosität des Maximin-Zyklus. Obwohl die zugrunde liegende Gottesvorstellung mythisch ist, kommt dadurch, dass die Religiosität hier mit der Tatsache des Dichtens verschränkt wird (der Gott wird vom Dichter entdeckt, das religiöse Ritual ist nur Poesie), automatisch eine heilsgeschichtliche Struktur hinein, nämlich die Geschichtsstruktur von Urgeist – imitatio – Vermassung und Verflachung.29

    Interpretationen von Einverleibung (SW VI/VII, 109) und Entrückung (SW VI/VII, 111) Die Gedichte Einverleibung und Entrückung verhalten sich komplementär zueinander.1 In Einverleibung ist das göttliche ‚Du‘ dem Ich noch so nahe, dass seine Präsenz in der Dichtung beschworen werden kann. Im letzten Text des Zyklus, Entrückung, ist das Göttliche in seiner vermenschlichten Gestalt Maximin ferngerückt. Einverleibung Nun wird wahr was du verhiessest: Dass gelangt zur macht des Thrones Andren bund du mit mir schliessest – Ich geschöpf nun eignen sohnes.

    28 Kurt Hübner: Mythos I. Philosophisch. In: Theologische Realenzyklopädie. Studienausgabe. Berlin u. New York 2000, S. 597–608, hier S. 602. 29 Gunilla Eschenbach: Geschichte und Geschichtlichkeit in Stefan Georges Lyrik. In: Geschichtslyrik. Ein Kompendium. Bd. 2. Hg. v. Heinrich Detering u. Peer Trilcke. Göttingen 2013, S. 859–884. 1 Vgl. Edith Landmann: Stefan George und die Griechen. Idee einer neuen Ethik. Amsterdam 1971, S. 54: „In Einverleibung scheint ihm der zu den Sternen Entrückte sich auf die Erde herabzusenken und in ihn einzuziehen […]. In Entrückung dagegen sieht er sich zu jenen Höhen gehoben, in die er den Geliebten versetzt.“

    Der Siebente Ring · Maximin 

    

     429

    Nimmst nun in geheimster ehe Teil mit mir am gleichen tische Jedem quell der mich erfrische Allen pfaden die ich gehe. Nicht als schatten und erscheinung Regst du dich mir im geblüte. Um mich schlingt sich deine güte Immer neu zu seliger einung. All mein sinn hat dir entnommen Seine farbe glanz und maser Und ich bin mit jeder faser Ferner brand von dir entglommen. Mein verlangen hingekauert Labest du mit deinem seime. Ich empfange von dem keime Von dem hauch der mich umdauert: Dass aus schein und dunklem schaume Dass aus freudenruf und zähre Unzertrennbar sich gebäre Bild aus dir und mir im traume. (SW VI/VII, 109)

    Auffällig ist an diesem Gedicht die ausgeprägte Sprache der Sakramentsmystik. Bereits die Überschrift verweist auf das Abendmahl, und der „Andre[] bund“ zitiert die Einsetzungsworte Jesu. Auch der Beginn der zweiten Strophe referiert auf den Tisch des Herrn. Die fünfte Strophe greift die Vorstellung von der Austeilung der Sakra­mente auf. Das Eingehen des Göttlichen in den Menschen wird – typisch für die (katholische) Sakramentsmystik – körperlich und nicht geistig-spirituell verstanden. Die Metaphern von Seim und Keim, Schaum und Hauch deuten an, dass dieses Göttliche eine schöpferische Kraft ist. Sie wirkt im Blut und in jeder Faser des Körpers. Bezeichnend ist in diesen Versen die exponierte Rolle des Empfindens. Normalerweise dominiert in Georges Lyrik der Gesichtssinn; hier sind es das Schmecken und Fühlen. Er verwendet dafür das Vokabular der Brautmystik: Von „geheimster ehe“, „seliger einung“ und vom „verlangen“ des Ich ist die Rede. Tastsinn und Geschmack sind diejenigen Sinne, die eine direkte Berührung voraussetzen und daher innerhalb der Mystik für die Authentizität einer Gotteserfahrung bürgen. Einverleibung kündet von dieser Erfahrbarkeit und evoziert eine höchst sinnliche Präsenz des angeredeten ‚Du‘ trotz der Abwesenheit des realen leiblichen Körpers. Die letzte Strophe deutet an, dass aus der Vereinigung von ‚Ich‘ und ‚Du‘ etwas Neues hervorgeht. Der sakramentale Empfang des göttlichen Spermas – Georges Verse riskieren dieses krud sexuelle Verständnis –, der von starken (orgasmischen) Emo­tio­

    430 

     Gunilla Eschenbach

    nen begleitet ist („freudenruf und zähre“), führt zu einer Geburt. Die naheliegende poetologische Interpretation wäre, unter dem geborenen „Bild“ ein Kunstgebilde zu verstehen, zumal die Sphäre des Traums in Georges Lyrik emphatisch die Sphäre des Idealen bezeichnet.2 Entgegen der Tendenz, solche Aussagen bei George ausschließlich auf poetologische Selbstreflexivität zurückzuführen, möchte ich an der religiösen Dimension dieser Bildlichkeit festhalten. In Anlehnung an die Eingangsstrophe lässt sich unter dem „Bild aus dir und mir“ die imago dei verstehen, die wiedergewonnene Gottesebenbildlichkeit des Sprecher-Ich, das Züge des geliebten ‚Du‘ in sich aufgenommen hat. Es entsteht kein realer neuer Mensch, denn die Geburt vollzieht sich „im traume“, sondern das Ich selbst geht als erneuerter Mensch aus dieser Vereinigung hervor. Erst in einem zweiten Schritt führt diese neugewonnene Gottesebenbildlichkeit zu neuen dichterischen Gebilden. Durch die starke Bezugnahme auf das Abendmahl als einer semantisch determinierten, rituellen Handlung reduziert sich die Sinnpluralität dieser Verse auf eine (kollektiv-religiöse) Bedeutung und drängt mögliche andere Bedeutungen (sexuell, poetologisch, individual-religiös) in den Hintergrund. Allerdings wird das sakramentale Moment dadurch relativiert, dass sich die Handlung zwischen nur zwei Akteuren vollzieht und dadurch eher den Charakter einer Liebesvereinigung als eines religiösen Ritus hat. Die unio mystica ist immer eine außerhalb des Ritus stehende religiöse Erfahrung. Gleiches gilt für den mystischen Raptus, der ebenfalls nicht rituell herstellbar oder vermittelbar ist. Wie George im den Zyklus beschließenden Terzinengedicht diese Entrückung gestaltet, wirft ebenso wie seine Umsetzung der unio-Topik ein signifikantes Licht auf seine Maximin-Religion. Die Annäherung ans Göttliche geschieht nicht, indem das Ich in eine Transzendenz erhoben würde, sondern diese Entrückung ereignet sich innerhalb der diesseitigen Bezüge, die nur blass und ungewiss werden, indem sich das Ich ihnen entfremdet. Entrückung Ich fühle luft von anderem planeten. Mir blassen durch das dunkel die gesichter Die freundlich eben noch sich zu mir drehten. Und bäum und wege die ich liebte fahlen Dass ich sie kaum mehr kenne und Du lichter Geliebter schatten – rufer meiner qualen –

    2 Beispielhaft für viele andere: Margherita Versari: Strategien der Liebesrede in der Dichtung Stefan Georges. Würzburg 2006, S. 82.

    Der Siebente Ring · Maximin 

    

     431

    Bist nun erloschen ganz in tiefern gluten Um nach dem taumel streitenden getobes Mit einem frommen schauer anzumuten. Ich löse mich in tönen · kreisend · webend · Ungründigen danks und unbenamten lobes Dem grossen atem wunschlos mich ergebend. Mich überfährt ein ungestümes wehen Im rausch der weihe wo inbrünstige schreie In staub geworfner beterinnen flehen: Dann seh ich wie sich duftige nebel lüpfen In einer sonnerfüllten klaren freie Die nur umfängt auf fernsten bergesschlüpfen. Der boden schüttert weiss und weich wie molke .. Ich steige über schluchten ungeheuer · Ich fühle wie ich über lezter wolke In einem meer kristallnen glanzes schwimme – Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme. (SW VI/VII, 111)

    Das Gedicht orientiert sich an der Struktur des Raptus, indem es aus der Alltags­realität herausführt. Es ist der Zustand der Ekstase, der das Ich völlig absorbiert und jegliches Zeit- und Raumgefühl für eine gewisse Dauer ausschaltet („Ich löse mich in tönen · kreisend · webend“). Während in anderen Beispielen der Gattung wie den Enthusiasmen Jacob Baldes das Ich visionär in andere Zeiten und Orte versetzt wird,3 bleibt das Ich in Georges Gedicht dort, wo es ist. Es scheint sich nur zu erheben. Die Konsequenz daraus, auf der Götterstufe zu sein, ist, für die Menschen unverständlich zu werden. Gundolf schreibt zur Charakterisierung der Maximin-Gedichte, die anders als die Lyrik Hölderlins ein reales Gegenüber, ein göttliches ‚Du‘ kennen: „Gewisse Verse Hölderlins sind die nachlässigen Selbstgespräche eines göttlichen Menschen: wir ahnen daß sie einen Sinn haben der den unseren übersteigt, und mögen ihn Wahnsinn nennen, denn er ist nicht mehr für Menschenohren.“ (FG3 216). Gundolf fährt fort, dass George selbst nicht wie Hölderlin „dem leeren Raum“ seine Verse anvertraut hätte, sondern „dem Gott den er […] durch die Stärke seiner Liebe in sein Erdenleben hereingezogen“ habe (FG3 217). Das trifft für alle Gedichte des Zyklus mit Ausnahme dieses letzten zu. In diesem letzten Gedicht hat sich der Gott wieder entfernt. Die Rede des Ich auf

    3 Beate Promberger: Die „Enthusiasmen“ in den lyrischen Werken Jacob Baldes von 1642. Übersetzung und Kommentar. Univ. Diss. München 1995, S. 40–61.

    432 

     Gunilla Eschenbach

    der Götterstufe ist für die Menschen ebenso dunkel und unverständlich, wie dem Ich selbst in diesem Zustand die Umgebung diffus und unzusammenhängend erscheint („Der boden schüttert weiss und weich wie molke  ..  / Ich steige über schluchten ungeheuer“). Das, was das Ich spricht, ist nur noch als „dröhnen“ vernehmbar, es ist nicht mehr artikuliert. Damit ist in Entrückung eine Zeitstufe erreicht, in der sich göttliche und menschliche Ebene wieder ferngerückt sind. Allenfalls keimhaft ist in diesem Dröhnen bereits die Verheißung einer neuerlichen Epiphanie angelegt.4 Diese geschichtliche Endstufe bleibt beibehalten, bis der Dichter das Göttliche erneut herbeidichtet und eine neue Emanation des Göttlichen beginnt.

    4 Steffen Martus interpretiert das Dröhnen vergleichbar als eine „Art Ursprungsklang[]“, aus dem etwas Neues entsteht. – Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin 2007, S. 651.

    Gunilla Eschenbach

    Traumdunkel

    Traumdunkel besteht aus 14 Gedichten, die einen längeren Entstehungszeitraum aufweisen (weitgehend zwischen 1902 und 1904) und von George erst zur Drucklegung des Siebenten Rings zyklisch gruppiert wurden.1 Ein narrativer Zusammenhang wurde erst post festum durch die Anordnung, die Überschriften und das Eingangs­gedicht (entstanden 1905) hergestellt. Insgesamt dreimal scheint in Traumdunkel die Harfenmetapher auf: Als ‚Traumharfe‘ im Eingangsgedicht, als ‚Hehre Harfe‘ in der Überschrift des Schlussgedichts und im Schlussvers von Landschaft III („Wo jede wegspur sich verliert im düster  / Summen des abgrunds dunkle harfen“). Die Traumharfe führt in die Welt des Traumdunkel-Zyklus ein; die hehre Harfe führt aus ihr heraus. Dem Klang dieser heiligen Harfe sind lautlich (durch die vielen u-Laute), räumlich (Kontrast von oben und unten) und visuell (Licht-Dunkel-Kontrast) die dunklen Harfen des Abgrunds entgegengesetzt. In ihnen manifestieren sich, wie aus dem Text hervorgeht, innere Gefährdungen des Ich. Die hehre Harfe wirkt diesem auflösenden Moment entgegen und leitet die Rückkehr ein zur Wirklichkeit, die im letzten Gedicht des Zyklus – utopisch wie am Ende des letzten der Zeitgedichte – eine schöne und beglückende ist. Der Begriff des Traums ist bei George oft synonym mit dem des Ideals und damit das ästhetische Kondensat von bewussten Wünschen und Erwartungen. Das Lexem -dunkel führt hier zu einer leichten Bedeutungsverschiebung und deutet an, dass in diesem Fall der Traum auch in den Bereich des Unbewussten führt. Die Gedichte des Zyklus eröffnen beide Verstehensmöglichkeiten. Denn die poetologische Metapher der Traumharfe kann sowohl für ‚träumende‘, entgrenzende Romantik stehen als auch für die Sphäre des Apollinischen. Real erklingende Musik ist bei George der sinnlichen Triebsphäre zugeordnet, aber die Harfe als Instrument des Gottes Apoll steht für die mathematische Ordnung und schöpferische Gestaltungskraft der Musik. Beide Konnotationen der Harfenmetapher werden in den nachfolgenden Gedichten des Zyklus aufgerufen. Zum Verständnis der oppositären Konstruktion von Formung versus Entgrenzung ist es notwendig, die Bedeutung der antagonistischen Prinzipien von Sein und Werden, Statik und Bewegung bzw. von Klassik und Romantik für Georges Poetik zu kennen. In Traumdunkel hat George entgegen der herrschenden Tendenz im Siebenten Ring nicht den Anspruch, normativ und formgebend auf die Wirklichkeit einzuwirken. Der träumende Dichter ist hier kein visionärer Gestalter einer neuen Welt. Auch dort, wo er formt, nämlich auf der strukturalen Ebene des Textes, ist daran keine Ideologie geknüpft. In dieser Hinsicht schließt das Gedicht Eingang eng an Entrückung, das letzte des voranstehenden Maximin-Zyklus, an. Entrückung markiert den

    1 Vgl. den Kommentar in SW VI/VII, 219.

    434 

     Gunilla Eschenbach

    geschicht­lichen Endpunkt einer Epiphanie und leitet damit eine Zeit ein, in der der Dichter ohne Gott dichtet. Das ist die Position, aus der heraus der abstrakte Autor zu Beginn des Zyklus spricht.2 Der programmatische Abschied von einer typisierenden Darstellung im Eingangsgedicht kann als Versuch begriffen werden, die Wirklichkeit in ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit, in all ihrer Ambiguität, Inkohärenz und Irrationalität zu erfassen und auch das Moment des Nicht-Verstehens zuzulassen. George will in diesen Gedichten als Romantiker sprechen. Er gibt temporär – d.  h. innerhalb der Dramaturgie des Siebenten Rings unter dem Eindruck des entschwundenen Gottes am Ende von Maximin – seinen Anspruch auf, als Dichter-Urgeist ein tieferes Erkenntnisvermögen in die Dinge zu haben und das Sein symbolisch zu bannen. Dass die meisten der in Traumdunkel versammelten Gedichte vor dem Maximin-Erlebnis entstanden sind, ändert nichts an diesem Befund. Entscheidend ist nicht die Chronologie der Ereignisse, sondern ihre absichtsvolle Anordnung und Komposition im Gedichtband. Traumdunkel besteht aus drei Gruppen. Die erste Gedichtfolge errichtet eine ästhetische Gegenwelt zur Welt des Siebenten Rings, die zweite setzt sich kritisch mit dieser ‚romantischen‘ Position auseinander und die dritte führt aus ihr wieder heraus. Eine erste Gruppe bilden nach dem Eingangsgedicht die Gedichte Ursprünge bis Nacht. In dieser Gruppe wird eine ‚Werde-Welt‘ und keine ‚Seinswelt‘ dargestellt. Die spielenden Kinder im Gedicht Ursprünge stehen am Ende der Erzählung vom Werden einer Kulturlandschaft. Die schöpferische Substanz, die dieses Werden bewirkt habe, lebt weiter im kindlichen Spiel. Die Kinder erschaffen sich im Schilf des Rheinufers eine ästhetische Gegenwelt, die in der Schöpfung einer enthusiastischen, sinnlichen und rational nicht mehr fassbaren Sprachäußerung gipfelt: Doch an dem flusse im schilfpalaste Trieb uns der wollust erhabenster schwall: In einem sange den keiner erfasste Waren wir heischer und herrscher vom All. Süss und befeuernd wie Attikas choros Über die hügel und inseln klang: Co besoso pasoje ptoros Co es on hama pasoje boañ. (SW VI/VII, 117)

    2 Mit dieser Einschätzung widerspreche ich Gundolf, der erklärt, dass die Basis all dieser Traumdunkel-Gedichte der anwesende Gott sei: „[J]e sicherer er die göttliche Gestalt schaut desto freier und ferner kann er spielen.“ (FG3 235).

    

    Der Siebente Ring · Traumdunkel 

     435

    In diesem Gedicht wirken sinnlicher Trieb und Formtrieb zusammen. In den folgenden Gedichten werden unklare psychische Abläufe mit dem Dunkel der Landschaft metaphorisiert. Das Dunkle ist das Unkonturierte, psychisch noch nicht Bewältigte, das sich jeder klaren Erkenntnis entzieht. Die Gruppe dieser Landschaftsgedichte, zumal die Gedichte Landschaft II und Nacht, künden von einem diffusen und damit traumartigen Sich-treiben-Lassen des Ich. Die Texte schließen mit ihrem Verfahren, Seelenzustände und äußere Landschaftseindrücke miteinander zu kombinieren, eng an den Zyklus Gezeiten an, aus dem auch der Titel Traumdunkel ursprünglich kommt. Wiederkehrende Motive sind Naturszenerien mit Wald, Wasser, Hell-dunkel-Kontrasten und einem Wechsel von Offenheit und Geschlossenheit. Die Empfindungen des Ich gegenüber der Landschaft sind ambivalent. Mal empfindet es die Geschlossenheit des Waldes als „frohe haft“ (Landschaft II), mal als „wall von nacktem blutigen dorn“ (Landschaft I, SW VI/VII, 118). Landschaft II, III und Nacht werden vom Ich in Begleitung eines ‚Du‘ erlebt. In Landschaft III sucht das Sprecher-Ich die äußere Gefahrensituation einer Passüberquerung und nimmt eine Entsprechung zwischen inneren Abgründen und den Gletscherspalten der Berglandschaft wahr. In Nacht (SW VI/VII, 121) sind der „pfadlose“ Wald und das „dickicht“ Metaphern für den gesuchten Kontrollverlust, der den Rausch einer Liebesnacht vorbereitet. In diesem Text ermöglichen alle Komponenten der Szenerie: die Geschlossenheit des Waldes, der Gesang des „Heilige[n] brunnen“ und die nächtliche Dunkelheit es dem Paar, „vermischt“ zu werden, „zu versinken“ und „zu verfallen“. Die in der deutschen Sprache negative Vorsilbe ver- wird nicht nur auf die Handlungen des Paars, sondern auch auf den Wald selbst angewendet: Der „verworrene“ Wald lässt das ‚Wir‘ „vergessen“: Er erscheint als der aktive Part, wohingegen das ‚Wir‘ vom Bann dieses Walds erfasst wird, seinem „Locken in pfadlosen wahn“ folgt und bereit ist, „in einem träumenden meer“ zu „zerrinnen“. Die Aufhebung des Ich-Bewusstseins und der Kontrollverlust werden ersehnt und gefürchtet zugleich. Mit dem Gedicht Nacht ist die erste Gruppe des TraumdunkelZyklus abgeschlossen. Die zweite Gruppe – sie umfasst Der verwunschene Garten bis Stimmen der WolkenTöchter – weist einen höheren Abstraktionsgrad auf. In Form von Allegorien gestaltet sie den Konflikt zwischen Begehren und Affektkontrolle. Die Gedichte treffen eine Entscheidung zugunsten des Letzteren, wozu auch die allegorische Einkleidung ihr Teil beiträgt, da das uneigentliche Sprechen im allegorischen oder im Märchenton schon die Distanz vom Erzählten voraussetzt. In all diesen Gedichten wird die Suche nach sexuellen (Rosen, Stimmen der Wolken-Töchter) oder mentalen (Der verwunschene Garten: „Fern ist wer immer in tosenden schluchten gerast,  / Wer in den sümpfen und giftigen angern gegrast –“, SW VI/VII, 123) Grenzüberschreitungen bestraft. Da allein der Dichter die Schlüssel zum Verständnis der Allegorien hat – der Leser wird mit dem Auffinden ihrer Bedeutung alleingelassen –, ist er in diesen Texten gegenüber der ersten Gedichtgruppe wieder in der Position einer übergeordneten Autorität. Es spricht wieder der überlegene Dichter-Seher wie in den Zeitgedichten. Während aber die Sprechinstanz in den Zeitgedichten explizit auf historische Vorkommnisse

    436 

     Gunilla Eschenbach

    referiert, bleibt in dieser Gedichtgruppe unklar, ob es sich um innere Gesichte oder um verschlüsselte Realien, um Fakten oder Fiktion handelt. Ein Beispiel dafür ist das Gedicht Rosen. Der Text wurde von Interpreten sehr unterschiedlich aufgefasst. Karl Korn hält das angesprochene ‚Du‘ für Ida Coblenz und liest Rosen als autobiografischen Schlüsseltext,3 Ernst Morwitz versteht das Gedicht viel allgemeiner als „symbolische Gemäldefolge“ (EM I2, 295). Dieser Text wird im Anschluss an diesen Kommentar gesondert interpretiert. Die Gedichte der dritten Gruppe, Feier bis Hehre Harfe, vollziehen eine endgültige Abkehr von der Traumwelt des Beginns. Die sprachlich-motivische Religiosität dieser Gedichte speist sich aus antik-römischer (Feier), christlicher (Empfängnis, Litanei) und indischer Religiosität (Ellora) sowie einer unspezifischen, George-typischen Feier des Schönen Lebens (Hehre Harfe). Der religiöse Kultus dient der Domestizierung (Feier), Unterdrückung (Litanei, Ellora) oder der religiösen Umcodierung von Emotionen (Empfängnis). Im Unterschied zum Maximin-Zyklus steht hinter der religiösen Sprache kein religiöses Erleben. Feier und Ellora thematisieren religiöse Handlungen ohne ein positiv Göttliches. Die Handlungen bewirken nur die Dämpfung von Emotionen und Wünschen („Dumpfe beter auf den platten / Rufen nur zu ruh und dunkel […] / Mildern unsrer fieber sieden“, Ellora, SW VI/VII, 130). Der in Litanei (SW VI/VII, 129) angerufene Gott ist ein solcher, der Liebe und Hoffnung tilgt. Zwar ist dieser Gott dem Beter bekannt („Ein tret ich wieder Herr! in dein haus ..“). Aber das Glück, das dieser Gott spendet und das in der Abtötung von Liebe besteht („Nimm mir die liebe · gib mir dein glück!“), ist nicht das vom Ich ersehnte; die Rückkehr gleicht einer Niederlage. Empfängnis (SW VI/VII, 128) gehört insofern in diese Reihe, als es sexuelles Begehren (anders noch als in Nacht) positiv schildert, weil es einen ethischen Anspruch damit verbindet und damit das Aufbauende dieser Entgrenzungserfahrung akzentuiert. Biblische Metaphern für die Einwirkung Gottes auf den Menschen wie das Joch und das Gefäß werden verwendet, um die überwältigende Erfahrung der geschlechtlichen Vereinigung auszudrücken und zugleich die ethisch-pädagogische Forderung anzudeuten, die daraus erwächst. Das Ich äußert die Absicht, sich völlig dem ‚Du‘ zu öffnen und sich von ihm formen zu lassen. Auf diese Weise wird der sinnliche Trieb mit dem Wunsch nach ethischer Formierung kombiniert und damit der Bogen zum Generalthema des Zyklus geschlagen. Beschlossen wird diese Gruppe mit dem Lehrgedicht Hehre Harfe (SW VI/VII, 131), das die endgültige Abkehr von der Traumwelt vollzieht, indem es behauptet, dass die umgebende Wirklichkeit der Ort jeglicher Wunscherfüllung sei. Die Wirklichkeit sei sogar mit dem in der Kindheit visionär geschauten Land identisch:

    3 Karl Korn: Rheinische Profile. Stefan George, Alfons Paquet, Elisabeth Langgässer. Pfullingen 1988, S. 72.

    Der Siebente Ring · Traumdunkel 

    

     437

    […] Werfet euren blick voll zauber Auf die euch verliehnen gaue Auf das volk das euch umfahet Und das land das dämmergraue Das ihr früh im brunnen sahet.

    Dieses letzte Gedicht besagt, dass die vom Dichter-Ich eigentlich gesuchte und hier paränetisch verkündete Transzendenzerfahrung eine solche ist, die vom Schönen ausgeht, das Entzücken im Menschen hervorruft und in ihm das Gefühl existenzieller Zugehörigkeit weckt (das Gedicht nennt die sozialen Bezugspunkte „Gott und freund und braut“ sowie „volk“ und „land“). Zwar taucht der Gottesbegriff auf, aber dieser wird stark relativiert bzw. körperlich-immanent gedacht, indem das Gedicht eine Gleichwertigkeit der Liebesobjekte „Gott und freund und braut“ behauptet. Die eigentlich verehrte Größe ist nicht Gott, sondern die attrahierende Kraft der Schönheit im Lieblichen („holden blumen“) wie im Erhabenen („hohen sternen“). Das adressierte ‚Ihr‘ soll, so die Botschaft des Textes, für das Schöne in der Wirklichkeit empfänglich werden. Die Anschauung des sinnlich Schönen und die Liebe zum Ideal-Schönen („Gott und freund und braut“) ermöglichen Transzendenzerfahrungen („Des gebets entzückter laut / Schmilzt in eins mit jeder minne“) und das Entstehen von Kunst: Hegt den wahn nicht: mehr zu lernen Als aus staunen überschwang Holden blumen hohen sternen Einen sonnigen lobgesang. (SW VI/VII, 131)

    Der Tonfall von Hehre Harfe nimmt schon die Lyrik vom Stern des Bundes vorweg. Die Traumharfe ist das romantische Schweifen ohne Gott, die Hehre Harfe ist bereits die Verkündigung der Maximinreligion.

    Interpretationen von Eingang (SW VI/VII, 115) und Rosen (SW VI/VII, 124) Das erste Gedicht des Zyklus mit der Überschrift Eingang (SW VI/VII, 115) beginnt programmatisch mit den Zeilen: „Welt der gestalten lang lebewohl! ..“ Diese und andere imperativische Wendungen („Öffne dich wald“, „Traumfittich rausche! Traumharfe kling!“) deuten an, dass das Ich, das als das (abstrakte) Autor-Ich des Gedichtbands

    438 

     Gunilla Eschenbach

    identifiziert werden kann, sich bewusst von der ‚Welt‘ der vorangegangenen Gedichtzyklen abwendet. George hat mit diesem programmatischen Text eine Deutung des Zyklus vorgelegt. Es lautet: Eingang Welt der gestalten lang lebewohl! .. Öffne dich wald voll schlohweisser stämme! Oben im blau nur tragen die kämme Laubwerk und früchte: gold karneol. Mitten beginnt beim marmornen male Langsame quelle blumige spiele · Rinnt aus der wölbung sachte als fiele Korn um korn auf silberne schale. Schauernde kühle schliesst einen ring · Dämmer der frühe wölkt in den kronen · Ahnendes schweigen bannt die hier wohnen … Traumfittich rausche! Traumharfe kling! (SW VI/VII, 115)

    Das Gedicht bleibt seltsam unentschieden, ob es die Hinwendung zum Ungestalten und Unbewussten auf der strukturalen Ebene einlösen soll. Die Strophenform mit ausgeprägter Mittelzäsur und katalektischen Daktylen – der letzte Daktylus vor der Diärese und am Versschluss ist unvollständig  – hat die Anmutung antiker Metrik, ohne dass explizit eine Odenstrophe realisiert würde. Dem stehen die vierzeilige Strophenform und die umschließenden Reime gegenüber. Zwei Prinzipien treffen hier aufeinander: gehobene Sprache mit strenger metrischer Bindung (Ode) und eine einfache Reim- und Strophenform (Lied). Während das liedhafte Moment zur intendierten Lockerung passt, erweckt das von den Wortakzenten genau eingehaltene metrische Schema den Eindruck von Gebundenheit. Diese Unentschiedenheit setzt sich in der Bildlichkeit fort. Der evozierte Wald ist kein Urwald oder zumindest ‚naturnaher‘ Wald, sondern der geschlossene Bezirk einer Parklandschaft oder einer Kultstätte. An diesem Ort erwartet das Ich die poetische Inspiration. Dass dieser Ort eine beinahe bewegungslose Szenerie ist, in der selbst die Quelle – Topos poetischer Inspiration – nur langsam wie „Korn um korn auf silberne schale“ fällt und somit selbst Wassertropfen in der Anschauung des Dichters zu einem festen Gegenstand gerinnen, deutet die Grenzen der intendierten Entgrenzung an. Obwohl die Dichterrolle, die George in Eingang entwirft, darauf verzichtet zu sagen, wie die Welt sein soll, führt dieser Verzicht nicht dazu, dass er auf der strukturalen Ebene den souveränen Gestus desjenigen, der die Dinge formt und gestaltet, aufgeben würde. Die Kontrolle über die dichterische Form kann nun aber als ein Verfahren gelten, Kontingenz zu reduzieren. Die Landschaft, die in Eingang beschrieben wird, ist fast bewegungslos. Sie trägt deutliche Spuren des ästhetisch Überformten und Imaginären. Dazu gehören die

    Der Siebente Ring · Traumdunkel 

    

     439

    pastose Farblichkeit, die Statik und die Überdeterminiertheit der einzelnen Landschaftselemente. Einige wörtliche Anspielungen auf Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme aus Algabal, die hier nicht im Einzelnen genannt werden können, setzen beide Texte in Bezug zueinander. Die Parklandschaft von Eingang ist gleichsam der Antitypus von Algabals Gartenreich. „Laubwerk und früchte“ und die spielende Quelle wirken zwar artifiziell, sind aber dennoch vital und dem Sonnenlicht ausgesetzt. Das eine Gedicht endet mit der Beschwörung der schwarzen Blume, das andere mit der Evokation von Traumfittich und Traumharfe. Eingang formuliert damit programmatisch das Paradox eines kontrollierten Kontrollverlusts. Mit diesen intertextuellen Verweisen soll wohl besagt werden, dass das Sprecher-Ich nicht wie Algabal in ein Unterreich flieht und sich der Wirklichkeit verschließt. Die Träume in Traumdunkel sind Klarträume, die das Ich handlungsfähig belassen und eine Referenz in der Wirklichkeit haben. Entsprechend heißt es in Landschaft II: „Und jedes heimlich horchte im geäste / Dem sang von einem traum der noch nicht ist“ (SW VI/VII, 119). Das Paar geht davon aus, dass sein Traum einmal Wirklichkeit wird. Das Eingangsgedicht nimmt auf der Strukturebene die Entwicklung innerhalb des Zyklus vorweg, der sich schrittweise von dem programmatisch eingangs formulierten Ansatz, Inkohärenz und Nichtverstehen zuzulassen, verabschiedet. Damit ist Eingang typisch für ein häufiges Verfahren Georges, Texte in einer ambivalenten Spannung zueinander zu halten. Ebenso ambivalent ist das Gedicht Rosen aus der zweiten Gruppe des Zyklus. Rosen Im weissen und glutblumigen gewoge · Von büschen weithinwallend höh und mulde · Fingst du dich – sangst du · kosend und dich pressend Ins duftige dickicht .. du verloren ganz In dieser rosenpracht. Am mittag fielen Wechselnd an lust dir blätter auf den mund Und schlafend spielten mit dir büschel garben Wellen von rosen. Dass dich der abend hier noch traf! du irrest In dem gesträuch wo du dich nicht mehr kennst · Blind küssest du dich an den stacheln wund. Nun sitze da – das haupt gesenkt und blutend. Nun wirbeln reichlich von der nacht geregt Die blüten .. mag ihr purpur niederfallen Zu hüllen deine schmach! Nun lerne trauer Und ernst von rosen. (SW VI/VII, 124)

    Der Rosenhag ist ein sakraler Ort in der christlich-marianischen wie in der antiken Tradition als Hain von Pan und Aphrodite. Als erotischer Sehnsuchtsort ist er ein

    440 

     Gunilla Eschenbach

    Bildmotiv der Jahrhundertwende. In Otto Julius Bierbaums Tanzspiel Pan im Busch lautet die Regieanweisung zum Schauplatz: „Der Plan ganz eben; nur in der Mitte des Hintergrundes geht ein leiser Hügel hinan, der dicht mit Heckenrosenbüschen besetzt ist.“1 In diesem Rosenhag verbringen zwei Heranwachsende eine Liebesnacht. In Bierbaums Sammlung Der neubestellte Irrgarten der Liebe sind Roseninsel und Rosenhag Orte erotischer Wunscherfüllung.2 Zweifler, die daran erinnern, dass Rosen Dornen haben, werden in Von Rosen und weisen Männern mit Spott bedacht: Denn, verzeihe: Wenn die Rosen blühen Und die lieben kleinen Mädchen tanzen, Ist die Dornenweisheit überflüssig. Wenigstens für uns. Du selber kannst ja Eine Dissertation im Busche Oder meinetwegen zweie schreiben.3

    Dieser Text ist geradezu eine Gegenpointe zu Rosen; nicht nur seiner Moral, sondern auch seiner Form nach. Er steht in reimlosen, fünfhebigen Trochäen, ist sprachlich betont unprätentiös und alltagssprachlich. Die „lieben kleinen Mädchen“ marginalisieren den „ernst von rosen“, von dem Georges Gedicht weiß, in jeder Hinsicht: sowohl im Blick auf die Macht der Sinnlichkeit selbst als auch auf den Preis, der dafür zu zahlen ist. George greift ein zeitgenössisches Sujet auf, um es zu kritisieren. Das ‚Du‘ von Rosen ist ein Dandy, der zum Hiob wird. Die Kernaussage des Gedichts ist vergleichsweise banal. Sie geht nicht über die Redewendung hinaus, dass Rosen Dornen tragen. Aber die Art und Weise, wie George diesen Gedanken entwickelt, hat die Strenge und Verweiskraft eines Altarbilds gepaart mit der subtilen Sinnlichkeit eines präraffaelitischen Gemäldes. In der Tat wirkt dieses Gedicht wie die Beschreibung eines imaginären Bildes. Anders als andere Bildgedichte Georges beschreibt die Erzählinstanz von Rosen als teilnehmender Betrachter, der seine Gefühlsregungen angesichts des Bildes artikuliert (GHb II, 551–584, hier 556). Es handelt sich um ein zweiteiliges Tableau. In der ersten Szene ist Tag. Am Tag scheinen die Rosen belebt und mit dem ‚Du‘ zu interagieren. Nur wenige Textsignale wie „Fingst du dich“ und „du verloren ganz“ deuten die Gefährdung des ‚Du‘ an. Die kosenden Tändeleien im Liebesgarten finden in der Nacht ein abruptes Ende. In der nächtlichen Dunkelheit zeigt sich, dass die Rosen unbelebte Materie sind: Sie verletzen das ‚Du‘ und sind teilnahmslos ob seiner Qualen. In der zweiten Strophe gibt es Reminiszenzen an die biblische Gestalt des Schmerzensmannes („Nun sitze da – das haupt gesenkt und blutend.“). Diese erinnert

    1 Otto Julius Bierbaum: Pan im Busch. Ein Tanzspiel. Berlin 1900, S. 13  f. 2 Ders.: Sehnsüchtige Melodie. In: Der neubestellte Irrgarten der Liebe, um etliche Gänge und Lauben vermehrt […] aus den Jahren 1885 bis 1905. Leipzig 1908, S. 181  f. 3 Ebd., S. 8  f.

    

    Der Siebente Ring · Traumdunkel 

     441

    an die Dornenkrone als Marterwerkzeug. Der ‚teilnehmende Beobachter‘ als Sprecher des Gedichts verurteilt das Kosen nicht, er erschrickt nur über den Fehler des ‚Du‘, nicht rechtzeitig die Rosenbüsche verlassen zu haben. Die Gefühle des Sprechers sind ambivalent: in Strophe 1 und zu Beginn von Strophe 2 teilnehmend, am Ende distanziert, weil sich das Bild von etwas Schönem zu etwas Hässlichem gewandelt hat. Die angesprochene „schmach“ (auch sie eine Reminiszenz an den biblischen Gottesknecht) führt nicht zu Mitleid, sondern zur Aufforderung, im Leiden Haltung zu bewahren und damit das Tableau nicht zu stören. Auf welche Weise vermag nun dieser Text ästhetisch zu überzeugen? Eines ist die Form: die klare Zweiteilung von Strophe und Antistrophe. Die erste Strophe steht im Präteritum, die zweite im Präsens. Das heißt, die Erzählinstanz beobachtet das Geschehen der Nacht („Nun sitze da“) und berichtet zu Beginn retrospektiv das Geschehen vom Tag. In der ersten Strophe interagiert der Protagonist des Gedichts mit den Rosen, sie scheinen belebt, indem sie kosen und mit dem ‚Du‘ spielen („Und schlafend spielten mit dir büschel garben / Wellen von rosen.“). In der zweiten Strophe haben die Rosen diese Personalität verloren. Die Rosenblätter fallen nur noch „von der nacht geregt“ und nicht aus eigener innerer Beseelung. Strophe und Gegenstrophe sind identisch gebaut. Es handelt sich um zwei achtzeilige Strophen in Blankversen mit verkürztem Schlussvers, einem Adonäus, der auch die sapphische Odenstrophe beendet und zum getragenen und ernsten Duktus der Verse beiträgt. Bemerkenswert ist, wie George dieses metrische Schema unterschiedlich füllt. In der ersten Strophe werden die Blankverse frei realisiert. Der natürliche Wortakzent steht dem Metrum entgegen. Dadurch erhält der Vers etwas Schwebendes und verstärkt suggestiv das Bild des wogenden Blütenmeers. Auf diese Weise unterstützt die formale Gestalt die Textaussage: Die Strenge ist schon in der ersten Strophe da, sie wird nur vom Protagonisten (dem angesprochenen ‚Du‘) nicht erkannt. Man ist versucht, das Gedicht als Selbstanrede zu verstehen – gemäß der Vorrede vom Jahr der Seele, dass ‚Ich und Du dieselbe Seele‘ seien. Vor allem erscheint die geäußerte Kritik nur als Selbstkritik erträglich. Dagegen spricht der ekphrastische Charakter, der einen externen Betrachter voraussetzt, dafür spricht die sinnliche Präsenz der Rosen: Die Sprecher-Instanz scheint „dieser rosenpracht“ so nah zu sein, dass sie an ihrem Duft und ihrer Berührung teilhat. Die Lektion der Rosen – Trauer und Ernst – scheint die Erzählinstanz schon gelernt zu haben. So lässt sich an diesem Text die Beobachtung machen, dass sich das Dichter-Ich in der zweiten Gruppe der Traumdunkel-Gedichte stärker als in der ersten Gruppe auf eine distanzierte Beobachterposition zurückzieht, aber gleichzeitig mit Akteuren der jeweiligen Gedichte sympathisiert, die das Leben eben nicht bändigen, sondern Verstrickte und Ausgesetzte sind, die an romantischer Entgrenzung scheiterten.

    Torsten Voß

    Lieder

    Die Verbindung zwischen Heroischem und Liedhaften äussert sich in der Kunst in einer besonderen Wechselwirkung von Sicht- und Klangzauber. (Claude David, Stefan George) Die Lieder enthalten wenigstens sechs wirkliche Lieder, kürzeste Stücke von ergreifender Einfachheit, klassischem Umriß und einem unbeschreiblichen Zauber des geführten Gesanges, Beweise so großer Meisterschaft und so großer Seele, wie George sie noch in keinem früheren Buche gegeben hat. (Rudolf Borchardt, Stefan Georges ‚Siebenter Ring‘)

    Diese mit dem schlichten Titel Lieder überschriebene Gedichtsammlung (SW  VI/ VII, 135–163) bildet den sechsten und vorletzten Abschnitt von Georges Der siebente Ring, der bereits zu Lebzeiten vielfach rezipiert und diskutiert wurde. Zunächst erinnert die Überschrift an das Genre der Volkslieddichtung oder des Gelegenheitsgedichts, wie es vom ausgehenden 18. Jahrhundert über die Romantik bis hin zur Biedermeierzeit gebräuchlich war, aber auch schon in diesen Strömungen die Neigung zum poetologischen Gedicht nicht immer geleugnet hat. George selbst wählt auch bei einigen der Texte einen scheinbar einfachen Tonfall,1 transportiert aber gerade eben mit diesem hoch komplexe Inhalte.2 So warnt auch schon Michael Winkler vor zu starken literarhistorischen Analogisierungen: „Ebenso wird […] schon beim ersten Lesen deutlich, daß George mit der Volksliedbegeisterung Herders oder des jungen Goethe und mit der romantischen Vorstellung vom ‚Volkston‘ Arnims und Brentanos wenig gemeinsam hat.“3 Dennoch verführt die Einfachheit der Form zu autobiografischen Deutungsangeboten. So konstatiert bereits Morwitz zu Beginn seiner Exegese: „Das in Sang aufgegangene Erleben eines Altersabschnitts, dem bereits in früheren Werken des Dichters ein besonderer Teil zugewiesen war, erscheint im sechsten Ring unter dem Titel ‚Lieder‘.“ (EM  I2,  301) Gedichtyzklus bzw. einzelner Ring scheinen

    1 Freilich inspiriert gerade dieser simpel wirkende Tonfall die frühe Forschung dazu, unter anderem die einleitenden Gedichte der Sammlung in die Nähe der Stimmungslyrik zu rücken bzw. Teile des Zyklus als ein Zeugnis persönlicher Betroffenheit zu verstehen. So unter anderem: CD, bes. 210  f. 2 Diese paradoxale Grundstruktur wird am Einzelbeispiel nachgezeichnet von Paul Hoffmann: ‚Im windes-weben‘. In: GJb 1 (1996/1997), S. 44–52. Davor auch interpretiert, nicht ganz frei von bildungsbürgerlichem Gestus, durch Ernst Klett: Stefan George. Über seine Erneuerung der deutschen Dichtersprache, u.  a. am Beispiel des Liedes ‚Im windes-weben …‘ aus ‚Der siebente Ring‘. In: Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft 23 (1983), S. 42–61. Einige der Texte aus dem Zyklus werden miteinander verglichen und in Bezug gesetzt durch den Aufsatz von: Michael Winkler: Zu einigen Liedern im „Siebenten Ring“ Stefan Georges. In: The German Quarterly 38 (1965), S. 298–309; SB 288–306. 3 Michael Winkler: Zu einigen Liedern im „Siebenten Ring“ (wie Anm. 2), S. 298.

    

    Der Siebente Ring · Lieder 

     443

    für Morwitz so etwas wie eine Lebensphase zu implizieren. Doch dafür berühren die 28 Texte zu viele Bereiche, Themen und Motive, als dass sie einfach auf das MaximinErlebnis oder die Affäre mit Ida Coblenz zu reduzieren wären. Trotz der bereits bei George bekannten Unterteilung des Bandes in Gedichtgruppen wird hier nicht die stark sakral konnotierte Form des Triptychons gewählt, wie sie sich im Algabal oder in Überschriften und Widmungen fand. Auch der Verzicht auf so ein sublimes Strukturprinzip erhöht den Eindruck der vermeintlichen Simplizität. Dennoch finden sich unter dem Titel Lieder immer wieder Bündelungen, die von Einzelgedichten – mal mit, mal ohne Überschriften – innerhalb der Sammlung separiert werden und dementsprechend auch thematische Differenzen aufweisen. Unmittelbar anmutende Naturbeschreibungen, die in den Gruppen zusammengefasst sind, trennen sich von bedeutungsintensiven Einzelsituationen. Dennoch enthält auch dieser Zyklus den für George so typischen dichterischen introitus, hier mit dem bezeichnenden Titel Vorklang versehen. Bereits in dessen erster Strophe wird dem Dichten eine kosmische bzw. transzendierende Relevanz verliehen, durch die Erzeugung einer temporalen Synchronizität zwischen dem Gesang und den Bewegungen der Gestirne. Welcher der beiden Bereiche jedoch der dominierende ist, wird in Vagheit gehalten. Bei allen Kenntnissen über Georges ästhetischen Absolutismus4 ist eher zu vermuten, dass sich dem Wort des Dichters selbst die Gestirne zu fügen haben. Auch wenn Winkler zu sehr die Maximin-Episode ins Zentrum seiner Interpretation rückt, erkennt er doch auch das produktionsästhetische Primat des Dichters, der die Bekanntschaft mit Kronberger „völlig in die poetische Inspiration und Visionskraft verwandelt“5. Setzt man die kosmischen Sphären innerhalb dieses einleitenden Poems an die Stelle des Jünglings, wird die Tragweite von Winklers These deutlich. Auch andere Lieder untermauern diesen Eindruck. Für ihn ist der Dichter Teil „einer Einheit, die selbst die Ordnung im großen beeinflussen und zwingen kann“6. Denn alles wird dem Gedicht einverleibt bzw. alle Bereiche sind „durch Sanghaftigkeit so eng ineinander gefügt“ (EM I2, 302), wie es schon Morwitz passend beschrieb. Vor der Inhaltlichkeit hat also die Unterordnung unter das ästhetische Konzept einen eindeutigen Vorrang. Die sich der Einleitung anfügende Gedichtgruppe Lieder I–VI wird von Kommentar und Forschung gerne „in den Erlebniszusammenhang Ida Coblenz“ (SW VI/VII,

    4 Wie auch in meinen anderen Beiträgen in diesem Band gebrauche ich diesen Begriff nicht gesellschaftstheoretisch oder als Stellvertreter für eine Kultur- und Lebenspraxis eines Künstlers, sondern begreife ihn metaphorisch, um einen produktionsästhetischen Anspruch Georges und sein Verständnis von Autorschaft bzw. Künstlertum zu charakterisieren. Die sozialwissenschaftliche Alternative ist schon lange ein Gegenstand der George-Forschung, seit der bekannten Arbeit von Stefan Breuer, vgl. SB. 5 Michael Winkler: Zu einigen Liedern im „Siebenten Ring“ (wie Anm. 2), S. 299. 6 Ebd.

    444 

     Torsten Voß

    222) eingeordnet, aber auch zu „Georges größten Gedichten“7 gerechnet. Das mag für die Datierung von 1892/1893 sinnvoll erscheinen. Einer dichtungstheoretischen Interpretation dienen derlei Erkenntnisse weniger. Auf jeden Fall erfüllen diese sechs Poeme noch am ehesten den vermeintlichen Simplizitätscharakter sogenannter Lieddichtung. Da der erste Text sich mit den beiden Versen „Dies ist ein lied / Für dich allein:“ (SW VI/VII, 136) selbst einleitet und die zweite Zeile mit einem Doppelpunkt abschließt, liegt der Gedanke eines Liebes- und Widmungsgedichts selbstverständlich nahe. Die ersten beiden Verse erläutern zunächst die Absicht, den Zweck oder auch die Gelegenheit des Gedichts und nach dem Doppelpunkt beginnt der eigentliche lyrische Vollzug bzw. die performative Ausführung des zunächst nur konstativ Behaupteten. Ein genauerer Blick lässt jedoch auch die Deutung zu, dass sich durch die gesamten sechs Gedichte ein narrativer Ablauf von der Emotionalität hin zu einer Distanzierung abzeichnet, die sich auch als eine Genese des Künstlers rezipieren lässt. Das lässt sich daran ablesen, dass das erste der sechs Lieder beim angesprochenen Gegenüber noch so etwas wie Rührung evozieren soll, während die folgenden fünf Texte sich eher durch Distanzierung und eine zunehmende Thematisierung des lyrischen Pro­duk­tions­prozesses kennzeichnen lassen. In einer späteren Untereinheit, genauer gesagt in Lieder I–II–III, wird dem Übermaß an Emotionalität sogar mit Gewalt und Auslöschung begegnet. Es soll vollkommen aus der Dichtung verbannt werden. Doch zunächst sind die ersten sechs Lieder an scheinbare Naturereignisse gekoppelt. Jedoch werden diese nicht einfach unmittelbar wahrgenommen und beschrieben, sondern sind bereits Teil einer höheren Reflexion. Natur ist hier weder Ideal noch Trostspender. Über allem liegt der merkwürdige und melancholische Schauder eines Bereits-Gewesen-Seins. Winkler merkt dazu an: „Auch die Wortwahl kommt dem unmittelbaren Genießen nicht entgegen. Der Dichter bemüht sich, den allzu gängigen und geschmeidigen Ausdruck zu vermeiden. Er muß die Rührseligkeit, die größte Gefahr aller Liebeslyrik […], überwinden.“8 In der Tat wird die Rührung als rezeptive Haltung bereits im ersten Lied nur dem Gegenüber zugestanden, wenn es heißt: „Nur dir allein / Möchte es ein lied / Das rühre sein.“ Der lyrische Sprecher selbst exkludiert

    7 So bei Werner Kraft: Lieder. In: Ders.: Stefan George. München 1980, S. 249–258, hier S. 249. Ein wenig geheimnisvoll heißt es dort: „Die Motive sind eben auf jenes Nichts eingeschränkt, an dem gerade der große Dichter produktiv wird.“ Das könnte mit der vermeintlichen Einfachheit der Texte kongruieren. Jedoch warnt Wolfgang Braungart zu Recht vor einer zu kurz gegriffenen Lesart. Einerseits „neigt man dazu, diese ‚lyrischen‘ Gedichte einigermaßen erleichtert als Äußerungen des anderen George zu nehmen, in denen er authentischer spreche, und so das Paradigma der Erlebnislyrik doch wieder einzusetzen.“ Andererseits „muß man aber bedenken, daß die Lieder selbst Bestandteil der rituell-zyklischen Inszenierung sind und daß das Lied ja gerade nicht individuell sein will.“ WB 297  f. Durch den Ritual-Charakter enthält der sogenannte authentische und unmittelbare Text eine hoch komplexe und konstruierte Komponente. 8 Michael Winkler: Zu einigen Liedern im „Siebenten Ring“ (wie Anm. 2), S. 206.

    Der Siebente Ring · Lieder 

    

     445

    sich schon in den ersten Versen von diesem Zustand, wenn er ihn als „Von kindischem wähnen / Von frommen tränen ..“ diffamiert. Durch seine Umsetzung in das lyrische Sprechen oder auch Singen wird dieser Zustand jedoch ästhetisiert: „Durch morgengärten klingt es / Ein leichtbeschwingtes“ sind Wörter jenseits aller emotionalen Schwere und Sentimentalität. Durch den Klang hat sich das Gefühl von seinem Träger emanzipiert, nimmt einen Moment des Schwebens und der Leichtigkeit an. Die Aufbruchsstimmung ergibt sich aus der Vermischung von Stimme und Luft. Die sentimentale Wirkung wird allein dem unbekannt bleibenden Dialogpartner zugestanden, kaum aber dem lyrischen Sprecher. Dieser hat sein Fühlen lyrisch transformiert und das Lied den Lüften überlassen. Ungleich stärker wird das in den folgenden Liedern noch ausfallen. Die häufiger interpretierten Gedichte Im windes-weben und An baches ranft beschreiben, wie das Gefühl zunehmend „Nur träumerei“ (SW  VI/VII, 137), also Fiktion wird.9 Auch brechen sie mit den herkömmlichen Modalitäten der Frühlingslyrik. So endet das zweite Gedicht mit einem Beerdigungsszenario, wo der Frühling zum Bestatter der Zurückgebliebenen wird: Das feld ist brach · Der baum noch grau .. Blumen streut vielleicht Der lenz uns nach. (SW VI/VII, 138)

    Radikaler kann man mit Mörikes ,blauem Band‘ oder Goethes Sesenheimer Liedern kaum brechen. Ohne es direkt zu explizieren, verkünden Georges sogenannte Lieder damit auch einen Paradigmenwechsel innerhalb der lyrischen Produktivität. Ein anderes Dichten beginnt, das mit den traditionellen Rezeptionshaltungen und Erwartungshorizonten bricht – und das eben mit genau den Mitteln, die das typische Frühlingsgedicht vorgibt: Lied, Naturbildlichkeit und Gelegenheitsdichtung!10 Die folgenden drei Gedichte bewegen sich motivisch und sprachlich zwischen dem Erotischen als einer Spielart der literarischen Epiphanie – 9 Genaueres zu diesen beiden Gedichten in meinem nachfolgenden Beitrag in diesem Band. 10 Auch anderen überlieferten Formen bleiben die Texte bis in so manche Einzelheit verpflichtet. So erinnern Verse wie „Aus nasser nacht / Ein glanz entfacht“ in Wort- und Tonwahl (Vokale) stark an Friedrich Spees Passionslied Trawrgesang von der Noth Christi am Oelberg in dem Garten aus der barocken Sammlung Trvtz-Nachtigall. Dort lauten die ersten beiden Verse: „Bey stiller Nacht / Zur ersten Wacht.“ Vgl. Friedrich Spee: Trvtz-Nachtigall. Kritische Ausgabe nach der Trierer Handschrift. Hg. v. Theo G. M. Oorschot. Stuttgart 1985, S. 200–203, hier S. 200. Neben der onomatopoetischen Äquivalenz besteht auch eine inhaltliche Gemeinsamkeit. Es geht um eine Entäußerung während einer einsamen Nachtwache, in der sowohl der angstvolle Christus bei Spee als auch der sich sehnende Sprecher bei Stefan George ganz und gar auf sich selbst verwiesen sind. Beide verharren in absoluter Einsamkeit, bleiben ihrer Not einerseits und ihrer Sehnsucht andererseits überlassen. Das heißt bei George „Alle tage / In sehnen leben.“ (SW VI/VII, 137)

    446 

     Torsten Voß

    Im morgen-taun Trittst du hervor Den kirschenflor Mit mir zu schaun · (SW VI/VII, 139)

    – und weiteren Brüchen mit dem Genre des Frühlingspoems. Ja, es findet sogar ein Austausch der Jahreszeiten statt. Die Gattung des Lieds besingt nun den Winter: Kahl reckt der baum Im winterdunst Sein frierend leben[.] (SW VI/VII, 140)

    Von diesem tristen Naturschauspiel hebt sich jedoch die Kraft der Poesie entschieden ab: Lass deinen traum Auf stiller reise Vor ihm sich heben!

    Die Elevation erscheint hier als Opponent gegenüber der Schwere des kahlen Baumes. Zugleich bedeutet die Entscheidung des lyrischen Ich für die Kunst aber auch dessen Isolation. All seine Artikulationen bleiben vom angesprochenen Gegenüber unbeachtet, worauf das sechste und letzte Gedicht dieses Sub-Zyklus hinweist. Der fast schon deklamatorische Vers: „Dies ist das end“ deutet auch auf eine Schlussfolgerung oder Erkenntnis des lyrischen Ich hin, die es nun in den folgenden Zeilen zu ziehen gilt: Hände lockten: Was nahmst du nicht? Seufzer stockten: Vernahmst du nicht? Meine strasse Du ziehst sie nicht. Tränen fallen Du siehst sie nicht. (SW VI/VII, 141)

    Natürlich ist es an dieser Stelle sehr verführerisch, an Ida Coblenz zu denken.11 Zumal beide sich in der Tat oft auf Spaziergängen zu unterhalten pflegten. Einen solchen hat auch das sechste Lied als Ausgangssituation. Entscheidender ist jedoch die kommunikative Differenz der beiden Aktanten. Durch die Unachtsamkeit des Gegenübers ist

    11 An die Episoden in Georges Leben wohlgemerkt, nicht an die Dame selbst wird gedacht!

    Der Siebente Ring · Lieder 

    

     447

    das lyrische Ich isoliert und auf sich verwiesen. Zugleich geht derlei aber auch von dessen eigenen Ansprüchen aus. Die Disparitäten drücken sich hier vor allem metaphorisch in räumlichen Dimensionen aus, wenn es heißt: „Meine strasse / Du ziehst sie nicht.“12 Das impliziert nicht nur Trennung, sondern auch zwei vollkommen voneinander divergierende Anschauungen oder Lebenswirklichkeiten, vielleicht auch den bei George immer wieder verhandelten Unterschied von Kunst und Leben. Dass auch die Trauer in Form vergossener Tränen als ungesehen beschrieben wird, bestätigt die These, dass es rein imaginäre Tränen sind. Ungesehen sind sie an den Künstler gebunden und vom Diskurs der Mittelbarkeit innerhalb einer sozialen Gemeinschaft ausgeschlossen. Es hat somit einen ganz allgemeinen Charakter für die dichterische Existenz und ist daher – im Gegensatz zu einigen der anderen Gedichte – „nicht an eine bestimmte Jahreszeit gebunden“ (EM I2, 303), wie es auch Morwitz festgestellt und damit den übergreifenden und zusammenfassenden Duktus des Gedichts auf den Punkt gebracht hat. Das sechste Gedicht bildet einerseits die Synopse der ersten Einheit und leitet synchron zur nächsten Gruppe über. Die sich anfügende Trilogie Lieder I–II–III scheint ein Indiz für Georges Berührung mit der flämisch-niederländischen Variante des Symbolismus zu sein. Das Gedicht Fern von des hafens lärm erinnert stark an die melancholischen Reflexionsgedichte Albert Verweys, Émile Verhaerens13 oder Guido Gezelles. Unendlich zart offenbart sich eine Meereslandschaft, die aber – trotz der hier noch vorhandenen Tonalität – dennoch Trostlosigkeit suggeriert: Fern von des hafens lärm Ruht der besonnte strand · Zittern die wellen aus … Hoffnung vergleitet sacht. (SW VI/VII, 142)

    Das anmutige Zittern der Wellen korrespondiert mit dem Entschwinden der Hoffnung. Auch das bricht mit allen gängigen Vorstellungen von pittoresken Vorstellungen vom locus amoenus, da hier ein Zustand der Trauer hervorgerufen wird. Die hier erwähnte

    12 Letzteres, also allein auf der eigenen Straße zu sein, stellt einen diametralen Befund zu dem Hoffnungsschimmer dar, der sich beispielsweise in Nikolaus Hermans um 1561 entstandenem Kirchenund Sterbelied Wenn mein Stündlein vorhanden ist abzeichnet. Dort bittet das Sänger-Ich den Herrn um folgendes: „und soll hinfahrn mein Straße, so g‘leit du mich, Herr Jesu Christ, mit Hilf mich nicht verlasse“ (Gotteslob 658). Dieser Wunsch des Christenmenschen wird vom lyrischen Ich bei George nicht mehr ausgesprochen, geschweige denn von Glauben oder einer berechtigten Hoffnung begleitet. Radikaler kann die Einsamkeit des Künstlers daher kaum ausgedrückt werden. Der Coblenz-Komplex und Georges eigene Loslösung von dieser unerwiderten Liebe zur späteren Gattin Richard Dehmels, wenn man ihn schon dazuzählen möchte, wäre nur ein lebensweltliches Korrelat für diese Poetik des Rigorismus. 13 Von beiden niederländisch-flämischen Lyrikern übersetzte George einige ausgewählte Gedichte.

    448 

     Torsten Voß

    Sachtheit verrät aber nach Michael Winklers Einschätzung auch, dass diese Texte dem „gleichen Willen zur geistigen Beherrschung des Gefühls“14 unterliegen wie beispielsweise das Abschiedsgedicht des ersten Abschnitts. Das lyrische Ich setzt sich in seiner Genese zum absoluten Künstlertum immer stärkeren emotionalen Einflüssen aus, jedoch nur, um diesen umso heftiger zu entsagen. Das wird wie folgt inszeniert: Stürmen die Ufer ein … Wie nun das leiden tost! Lautere brandung rauscht[.]

    Auch hier ist wieder ein äquivalentes Verhältnis zwischen Natur und Stimmung zu konstatieren. Diesem für das Gelegenheits- und Naturgedicht typischen Gleichklang scheint sich jedoch der lyrische Sprecher immer wieder entziehen zu wollen, sodass man trotz aller Begegnung mit den Leidenschaften auch von einem Prozess der Katharsis sprechen kann. Winkler bestätigt das mit dem Verweis auf „das Unbändige der Macht des Elementaren.“ George jedoch „unterwirft es einer strengen Ordnung, in der sich […] die innere Ergriffenheit des Dichters im Bild der zerkrachenden und zischenden Wogen und in den Ausrufen noch erhält.“15 Das Ganze ist also ein Loslösungsprozess, der das Narrativ benennt, dem der gesamte Zyklus im Fortlauf unterworfen ist. Daran können auch das zweite und dritte Lied nichts ändern, die sich durch eine deutliche Orientierung an mythischen Topoi auszeichnen. Das Motiv des heimkehrenden Kindes16 könnte durchaus sein Repertoire aus der Bibel und dem Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn schöpfen. Im Gegensatz zur Odyssee Homers wartet hier nicht der Sohn, sondern eine Vaterfigur auf eine Rückkehr von der See und von Gefilden, die das lyrische Ich noch nicht erahnen kann. So heißt es in der dritten und ebenfalls reimfreien17 Strophe: „Sein blick ist schwer / Schon vom geheimnis das ich niemals weiss.“ Das könnte in der Tat eine Menge bedeuten! Die ältere autobiografische Forschung postuliert hier gerne Bezüge zu den Jünglingen Maximilian Kronberger und Hugo Zernik, den George 1902 in einer Berliner Pension kennen und bewundern lernte. Mit Blick auf den früh verstorbenen Kronberger, der George zum Maximin-Kult inspirierte, ließe sich das vom lyrischen Sprecher nie gekannte Geheimnis gewiss mit dem Tod verknüpfen. Aber das würde bereits den Stellenwert eines Gemeinplatzes annehmen. Poetologisch gesehen könnte der heimkehrende Jüngling mit seinen Geheimnissen auch für ein ästhetisches Ideal stehen, das dem Künstler-Ich (noch) fremd ist. Weitere Zeilen beschwören in Enjambements zumindest eine Situation der Distanz zwischen dem zurückgekehrten Kind und dem lyrischen Ich:

    14 Michael Winkler: Zu einigen Liedern im „Siebenten Ring“ (wie Anm. 2), S. 307. 15 Ebd., S. 308. 16 Gemeint ist das zweite Lied, also Mein kind kam heim (SW VI/VII, 143). 17 Das gilt für die meisten Gedichte des Zyklus der Lieder.

    Der Siebente Ring · Lieder 

    

     449

    So offen quoll Die knospe auf dass ich fast scheu sie sah Und mir verbot Den mund der einen mund zum kuss schon kor. (SW VI/VII, 143)

    Der Mund ist hier nicht so sehr die erogene Zone als vielmehr der anatomische Katalysator des Gesangs. Kind und Sprecher verhalten sich diesbezüglich noch nicht äquivalent zueinander.18 Ihr Gesang kann nicht gemeinsam erfolgen und die Scheu des lyrischen Ich dokumentiert die Sichtbarwerdung eigener Unvollkommenheit gegenüber dem hier zu preisenden Schönheitsideal. Letzteres findet sich bei den von George kreierten, oft sehr selbstbewussten Künstlerfiguren und ästhetisierten Alter Egos jedoch relativ selten. Der abschließende Vers unterstreicht noch diesen Eindruck in der merkwürdig anmutenden Paradoxie: „Mein eigentum und mir unendlich fern.“ Kunstwerk und Künstler scheinen voneinander separiert zu sein. Das erreichte Ideal übersteigt die Fähigkeiten des Schöpfers, der hinter seinem Werk zurückzutreten hat. Das dritte Lied (SW VI/VII, 144) schließlich scheint diesen Zustand der Disparität versuchsweise zu überwinden. Das Kind wird nun direkt angesprochen und erhält eine eindeutig männliche Attribuierung. Dennoch ist auch dieser Text ebenso wenig liedartig wie der zweite, was auch schon durch die kritische Bestandsaufnahme Rudolf Borchardts 1909 im Hesperus kundgetan wurde: „Es folgen drei Stücke, von denen bestenfalls das erste äußerlich liedartig sein mag, während die folgenden schöne, aber ganz redende, teilweise deliberierende Kompositionen sind.“19 In der Tat weist das dritte Gedicht diese redenden, oder besser gesagt anredenden, Komponenten auf. Nach der Darlegung einer Liebestheorie, die sich aus der Hypothese „Liebe nennt

    18 Allerdings ist das gegenseitige scheue und zaghafte sich Nähern an das geliebte Gegenüber auch typisch für die Liebeslyrik des dolce stil nuovo und des Petrarkismus. Bereits im ersten Sonett aus Dantes Vita Nuova heißt es: „Dann weckte er sie auf, und mit dem Brand / des Herzens nährte er die Scheue zag. –“ Vgl. Dante Alighieri: Das neue Leben. Vita Nuova. Aus dem Italienischen übertragen v. Hanneliese Hinderberger. 2. Aufl. Zürich 1995, S. 9. Das Begehren und die daraus geborene Möglichkeit zur ästhetisierenden Evokation werden ohnehin nur durch Distanz und Unerreichbarkeit des Ideals ermöglicht. 19 Rudolf Borchardt: Stefan Georges „Siebenter Ring“, in: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa I. Hg. v. Marie Luise Borchardt. 2. Aufl. Stuttgart 1992, S. 258–294, hier S. 263. Freilich muss mit Stefan Breuer daran erinnert werden, dass diese bisweilen pejorative Sichtweise nicht von Anfang an bestand. Vor der Besprechung dieses Gedichtzyklus und den ätzenden Polemiken in Intermezzo (1910) und der lange Zeit unedierten Aufzeichnung Stefan George betreffend schrieb er ihm das Verdienst zu, „eine verwilderte Sprache gebändigt und einen Stil ausgebildet zu haben“ (SB 150). Da Borchardt selbst an einer Spracherneuerung aus dem Geiste der europäischen Kulturtradition und ihrer lyrischen Formen interessiert war, kommt Breuer auch zu dem überzeugenden Schluss, „er ist weit mehr ein Antigeorgianer wider Willen geworden, weil der Platz, den er anstrebte, schon besetzt war – von Stefan George“. Ebd., S. 149.

    450 

     Torsten Voß

    den nicht wert der je vermisst ..“ und einer dreizeiligen Verifizierung zusammensetzt, erhält nun das Gegenüber konkretere Bezeichnungen und Eigenschaften. Es wird als „Teurer!“ aber auch als „Süsser!“ apostrophiert, was eine merkwürdige Kombination ergibt. Das Wertvolle paart sich mit dem Entzückenden, das Edle mit dem Erotischen und Begehrten. Dass auch diese Melange einen Idealzustand fokussiert, lässt sich daran ablesen, dass sich das Künstler-Ich von ebendiesem wiederum entfernt hält: „damit kein hauch / Dein holdes spielen stört bleib ich verbannt.“ Das freie Spiel ist hier die ästhetische Utopie, in die weder der Liebende noch der Schöpfer einzugreifen hat, was erneut die These von der Trennung zwischen Künstler und Werk erhärtet und die Radikalität von einer absoluten Kunst dokumentiert. Sie übersteigt quasi den Schöpfer. Mit dem wohl am meisten verklärten ou topos der Kunst des 18.  und 19. Jahrhunderts setzt sich das folgende Dreigespann auseinander, mit dem Süden, genauer gesagt, es ist ein Südlicher Strand, der hier als Panorama erscheint und sich in zwei Örtlichkeiten (Bucht und See) und eine anthropomorphe Figuration (Tänzer) aufspaltet (SW VI/VII, 145–147). Während die ersten beiden Gedichte nahezu jegliche Naturdarstellung zu Gunsten einer Introspektion des lyrischen Ich zurückstellen, nimmt in Tänzer der im Titel benannte Gegenstand eine deutlichere Gestalt an. Zugleich sind die Figuren auch den antiken Ringern verwandt und werden als „junge schwinger“ bezeichnet. Neben dieser antikisierenden Reminiszenz ist der Tanz schon in der Romantik ein Kennzeichen von Entmaterialisierung, Leichtigkeit und damit auch Fiktionalisierung. Bereits die Tänze der Zigeunerin Esmeralda in Victor Hugos NotreDâme de Paris (1831) haben diese Wirkung auf den Betrachter und auch der französische Ästhetizismus wird diese metaphorisch-instrumentelle Inanspruchnahme des Tanzes in einigen Gedichten von Théophile Gautier und Charles Baudelaire radikalisieren, so z.  B. Letzterer in Le Serpent qui danse (1857). Auch Georges tanzende Knaben erfüllen den dafür so notwendigen – fast transzendierenden – Parameter der Elevation: „Ihr hobet euch vom boden auf im takte.“ Zugleich verweist der Takt auf Ordnung und in der Tat enthält dieses Gedicht, wie auch seine beiden Vorgänger, wieder den Kreuzreim als durchgängiges und Ordnung garantierendes Reimschema. Ebenso rückt die Elevation das Geschehen in die Nähe des Fiktiven und damit der Kunst. Nicht umsonst fragt sich der Betrachter in der letzten Strophe: „Von welcher Urne oder welchem friese  / Stiegt ihr ins leben ab zum fest gerüstet.“ Das Prinzip der Mimesis wird damit umgekehrt. Nicht die Kunst bildet das Leben ab, sondern die Kunst tritt ins Leben, ist also an erster Stelle. So manifestiert sich die Verabsolutierung der George’schen Poetik in diesen Zeilen, vollzieht gewissermaßen eine transposition d’art, in der das bildende Kunstwerk das unmittelbare Vorbild bleibt und nicht ein reales bzw. nachzuahmendes Ereignis. Die folgenden drei Gedichte sind ebenfalls konkreten Ortschaften gewidmet. Obgleich konkret benannt, steht das Rhein-Gedicht nicht weniger in einer romantischen Tradition (Hölderlin, Heine etc.) als die numinoser betitelten Poeme Schlucht und Wilder Park. Alle drei weisen geografische und spatiale Topoi romantischer Dich-

    Der Siebente Ring · Lieder 

    

     451

    tung auf. Letztere sind in den Texten der Gothic Novel und auch der Schauerballade oft Entfaltungsformen für den locus terribilis. Der erste Text betreibt – und auch das ist ein romantischer Topos – eine Anthropomorphisierung des mythisch hoch aufgeladenen Flusses, indem er diesen zum Dialogpartner erklärt. Die Fragen an das Gegenüber innerhalb des durch den umarmenden Reim und den Kreuzreim im Strophenwechsel beherrschten Gedichts sind in der Mitte unterbrochen. Diese Zäsur verleiht den einzelnen Versen nicht nur einen stärkeren Rhythmus. Sie generiert auch Bedeutungssuggestivität, wenn es beispielsweise heißt: Blüht am hange  nicht die rebe? Wars ein schein nicht  der verklärte? Warst es du nicht  mein gefährte Den ich suche  seit ich lebe? (SW VI/VII, 148)

    Durch die Zäsur erhält die zweite Hälfte der einzelnen Verse eine stärkere Betonung. Während die erste und die dritte Strophe sich über einen umarmenden Reim definieren, weichen die zweite und die letzte Strophe mit einem Kreuzreim davon ab. Vor allem bei der vierten Strophe scheint mit diesem liedartigen und beinahe rituellen Reimschema die Sakralität des Beschriebenen als eine Klimax des gesamten Gedichts inszeniert zu werden: Weite runde  wo sich mische Ferne hoffnung  glück der stunde! Nur noch droben  in der nische Zeigt der Heilige  alte wunde …

    Eine Anspielung auf Christologie und Passion liegt hier auf der Hand. Zugleich wird sie aber in diesem Gedicht in weite Fernen und Höhen, also in Gebiete fernab der Zivilisation, verlegt. Das Zeigen der Wunde kommt damit einem Akt der Einweihung gleich, der nur Auserwählten bestimmt ist. Auch nimmt die Einweihung aufgrund ihrer Bindung an etwas Heiliges den Charakter des Epiphanen an. Die mythische Aufladung des Rheins in der Tradition Hölderlins tut ein Übriges, um diese sakrale Aura zu garantieren. Beinahe diametral verhalten sich die anderen beiden Ortsbeschreibungen. Schlucht und Wilder Park sind nicht nur weniger konkret bestimmt als das erste Gedicht. Ihnen scheint auch die Sublimität von Fluss und Höhen zu fehlen, die noch zuvor als Entfaltungsoptionen des Heiligen dargestellt wurden. Der uralte und zerbröckelte Fels und die vom Sperber gerissene Taube in der ersten und zweiten Strophe beschreiben eher ein gewalttätiges Szenario als eine Idylle. Das Motiv des wilden Parks scheint George von dem englischen Lyriker Charles Algernon Swinburne zu übernehmen. Dessen Gedicht A Forsaken Garden wurde in verschiedenen Varianten, unter anderem von Rudolf Borchardt, ins Deutsche übersetzt. Doch im Gegensatz zu Swinburnes von der Zivilisation vergessenem und dem Verfall preisgegebenem

    452 

     Torsten Voß

    Garten,20 womit ein typisches Décadence-Motiv berührt wird,21 kann sich gerade von dieser traurigen Landschaft die Epiphanie des Gottes in der zweiten und dritten Strophe umso mehr abheben. Die sich daran anschließenden drei Gedichte sind weder mit Überschriften versehen, noch sind sie in einem Subzyklus über einen Titel zusammengefasst, wie beispielsweise die immer wiederkehrenden Lieder I–II–III oder Südlicher Strand. Einen inneren Zusammenhang garantiert nur die triadische Aufstellung der Texte. Das erste Poem orientiert sich sogar an der Strophenform der Terzine und behandelt die Bindung allen Glücks an ein imaginäres Gegenüber, mit dem sich das lyrische Ich durch einen gemeinsamen Blick in die Landschaft22 und nicht durch körperliche Annäherung vereinigt. Ein Gedicht, das sich höchstens aufgrund der Entstehungs­ daten mit dem Ida Coblenz-Komplex vernetzen ließe,23 aber ansonsten amorph bleibt, wenn es heißt: Fenster wo ich einst mit dir Abends in die landschaft sah Sind nun hell mit fremdem licht. (SW VI/VII, 151)

    Allerdings wird diese Gemeinsamkeit aus der Rückschau betrachtet, ist also bereits der Vergangenheit überantwortet und damit ein entschwundenes Glück, was sich für Kurt Hildebrandt vor allem an dem „von Fremden bewohnte[n] Heim“ abzeichnet. „Es ist ein Abschied, der beide in Trauer versenkt.“ (KH I, 302) Die Trennung davon führt auch zu einer Entfremdung der eigenen Umgebung in der ersten Strophe und lässt diese schlussendlich in eine Atmosphäre des Todes gleiten:

    20 Das dekadent-melancholische Attribut der Verlassenheit findet sich auch in Georges Langgedicht Der verwunschene Garten (SW VI/VII, 122  f.) und wird dort bereits in den ersten Versen erwähnt. 21 Wobei selbstverständlich sowohl semantisch als auch motivlich ein Unterschied besteht zwischen dem wilden und ursprünglichen, der Natur überantworteten Park auf der einen Seite, und dem vom Menschen vergessenen und vernachlässigten, ja zurückgelassenen Garten auf der anderen Seite. Bei Swinburne kommt dadurch auch noch eine melancholische Dimension hinzu. Wie auch immer, beide Gartenimaginationen sind Gegenmodelle zur Konzeption des Gartens als historisch gewachsene und gepflegte Kulturlandschaft, wie sie unter anderem Georges Antipode Rudolf Borchardt in seiner Arbeit Der leidenschaftliche Gärtner um 1938 entworfen hat. Vgl. dazu Torsten Voß: Der Garten als Text. Rudolf Borchardts Gartenimagination als ästhetische Theorie. In: Text & Kontext 37 (2015) S. 59–86. 22 Dadurch ist es gewissermaßen die gemeinsam gesehene und eventuell auch gestaltete Landschaft. 23 Oder aufgrund ihrer eigenen Aussagen, auf die sich Robert Boehringer und Ernst Morwitz berufen: „Isi Coblenz hat zu Robert Boehringer nach dem Lesen dieser Gedichte geäußert, dass das Gedicht ‚Fenster wo ich einst mit dir …‘ sich auf ein Erlebnis des Dichters mit ihr beziehe.“ (EM I2, 308) Derlei Rekonstruktionen scheinen sowohl für Ida Coblenz’ Selbstwahrnehmung als auch die frühen Interpreten von großer Tragweite gewesen zu sein, die ja mitunter auch in allzu großer Nähe zum Dichter und zum späteren Kreis standen.

    Der Siebente Ring · Lieder 

    

     453

    Dunkel – schweigen – starre luft Sinkt wie damals um das haus. Alle freude nahmst du mit.

    Der letzte Vers artikuliert sich als Konklusion oder als Fazit der gesamten lyrischen Reflexion, zeigt aber auch die Konsequenz auf, die das Künstler-Ich ziehen muss und emphatisiert die trostlose Aussage der dritten Strophe: „Doch es war zu spät zum ruf.“ Die Entscheidung für die Kunst wirkt sich zu Ungunsten sozialer Beziehungen aus und eine Rückkehr scheint nicht möglich zu sein. Das zweite und dritte Gedicht setzen sich wieder aus vier Strophen zusammen, die sämtlich im Kreuzreim gehalten sind und damit dem Lied wieder näherstehen als der erste Text dieser Gruppe. Beide Gedichte nehmen zugleich auch wieder eine poetologische Dimension an, die den Eindruck eines Naturgedichts dekonstruiert. Hier ist vor allem Wir blieben gern bei eurem reigen drunten (SW VI/VII, 153) hervorzuheben. Das Gedicht zelebriert eine Differenz zwischen Berg und Tal. So sehr sich im letzteren pittoreske Landschaften finden mögen – das lyrische Ich, das sich hier in einem pluralis majestatis inszeniert, entwirft sogar eine Art Produktionsästhetik in der zweiten Strophe –,24 werden doch die kargen Gebirgshöhen als der eigentliche Entfaltungsort dichterischer Fantasien angesehen. Das rückt diese in einen Anflug von Strenge, wenn es heißt: Doch über kahlen fels und starre büsche Führt uns ein trieb hinauf zu andrem fund · An spitzigem steine und gedörntem brüsche Wird hand und sohle wund[.]

    Dieser „trieb“ scheint das lyrische Ich (oder auch das lyrische Wir) stärker zu dominieren als die Gebundenheit an einen locus amoenus im sicheren Tal. Allerdings wird das zu erreichende Ziel als Utopie oder Wunschfantasie dargestellt: Auf dass für unser fährdevolles wallen Einmal uns lohnt des reinsten glückes kost: Uns nah am abgrund azurn und kristallen die wunderblume sprosst.

    24 Folgende Verse erinnern stark an die beinahe handwerklichen Anweisungen aus Komm in den totgesagten park und schau (SW IV, 12): „Wir nähmen gern von faltern und libellen / Den samtnen staub und brächen blumen viel / Und machten draus zum murmeln glatter wellen / Ein zierlich leichtes spiel.“ Der Leser erfährt hier, wie dieses Spiel erschaffen werden kann und aus welchen Segmenten es sich zusammensetzen muss, doch ist damit noch nicht das ästhetische Ideal erreicht. Dieses ist – einer Metaphorik des Erhabenen folgend – in höheren und damit transzendierenden Sphären zu finden. Dass damit der Aufstieg ins Gebirge konnotiert ist, verdankt sich einer literarischen Motivkette, die von Petrarcas Aufstieg auf den Mont Ventoux über Albrecht von Hallers Alpen bis hin zum Sils MariaKomplex bei Nietzsche (und später auch Celan) reicht.

    454 

     Torsten Voß

    Das ganze Projekt erscheint hier als Suche oder als Wanderung, die das Ziel nur erahnen, aber noch nicht ergreifen lässt.25 Auch erinnert die sprießende „wunderblume“ wieder entfernt an das Bild der absoluten Künstlichkeit und formalen Vollkommenheit, die sich in der ‚schwarzen Blume‘ in Georges frühem Algabal-Zyklus kundtut, dieser zur Allegorie gewordenen Figuration des l’art pour l’art-Prinzips. Dass diese in der Nähe von „azurn und kristallen“ wächst, erhöht nicht nur ihren Wert, sondern auch den Aspekt der Künstlichkeit, die es aber gerade in der Kargheit der Felsen zu finden gilt und nicht im üppigen Garten.26 George emanzipiert sich an dieser Stelle aber auch vom Dekor des Unterreichs aus dem Algabal. Die totale Koppelung an Symbolismus und Ästhetizismus scheint nun nicht mehr notwendig zu sein. Das Gedicht preist zwar noch das absolute Kunstwerk, kommt aber weitgehend ohne dessen Pretiosentum aus und scheint eher ein Postulat der Strenge und der Härte zu propagieren. Weniger mit dem Kunstwerk an sich, sondern eher mit dem Weg zur Kunstausübung scheint sich die nächste Untergruppe auseinanderzusetzen, die wieder mit der auf die Gattung selbst anspielenden Überschrift Lieder I–II–III bezeichnet ist. Hier wird wieder die Loslösung von Sozietät und Emotionalität behandelt, letztendlich sogar in einem Vorgang brutaler Gewalt. Das dritte Lied Darfst du bei nacht und bei tag führt zur völligen Vernichtung des imaginierten Gegenübers und damit auch der eigenen Gefühle. Fast erinnert das Szenario der Auslöschung an Baudelaires Satanismus in der zweiten Hälfte von À une Madone, an Swinburnes sadomasochistische Erotismen in den Langgedichten Anactoria und Laus veneris oder auch an Algabals Brudermord, über den der amoralische Künstler-Kaiser bekanntlich in einer dandyhaften Geste der Kälte hinwegschreitet, wenn es heißt: Bringt noch dein saugen mir lust Der du das erz aus mir schürftest · Der du den wein aus mir schlürftest – Schaudr ich noch froh beim verlust? Ob ich nun satt deiner qual Mit meinen spendungen karge? Zwing ich dich nieder im sarge · Treib ich ins herz dir den pfahl? (SW VI/VII, 156)

    25 Das erinnert freilich an den Spruch aus Philipper 3: „Nicht dass ich es schon ergriffen hätte oder schon vollkommen wäre. Aber ich strebe danach und möchte es ergreifen.“ 26 Die Verbindung des Ideals mit der Einfachheit, die jedoch den Zierat an formaler Perfektion übertrifft, findet sich auch bei Rudolf Borchardt in dem kleinen Gedicht Mit Narzissen, wo „statt aller geliebten Gestalt der eiserne Lorbeer / Streng entgegen gehäuft“ den pittoresken Narzissen vorgezogen wird. Er erfüllt die formalen Vorgaben des Klassizisten Borchardt. Vgl. Rudolf Borchardt: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Gedichte. Hg. v. Marie Luise Borchardt u. Herbert Steiner. 2., unveränd. Aufl. Mit einem Gedenkwort v. Rudolf Alexander Schröder. Stuttgart 1998, S. 52.

    

    Der Siebente Ring · Lieder 

     455

    Auch wenn der Akt der Gewalt hier noch nicht vollzogen wurde, ist doch offensichtlich, dass die Zerstörung des Herzens durch das Pfählen automatisch die Emanzipation von der eigenen und quälenden Emotionalität bedeutet, die eben auch schon das lyrische Ich in Baudelaires blasphemischem Madonnengedicht von 1860 betreibt.27 Damit ist auch der von Kurt Hildebrandt referierte Vorgang der „magische[n] Bannung der vampirischen Fesselung des Leichnams“ (KH I, 303) nur der Stoff, aber nicht der eigentliche Gehalt des Gedichts. Dieser besteht im Konflikt zwischen Kunst und Leben, zwischen Emotion und Abstraktion. Die beiden letzten Gruppen der Lieder sind versehen mit einer betitelten und erneut in narrativer Abfolge angelegten Gruppe und vier Gedichten ohne Überschriften, die noch einmal die Poetologie des Künstlers und die sich daraus ergebenden sozialen und anthropologischen Konsequenzen zusammenzufassen scheinen. Zum einen stellt die vorletzte Gruppe einen Prozess dar, der aus drei Stationen besteht. Fest und Heimgang sind durch Die Schwelle voneinander getrennt. Letzteres stellt, mit den Worten des strukturalen Anthropologen Victor Turner gesprochen, ein Übergangsphänomen28 zwischen zwei Bereichen dar, die hier wohl in Öffentlichkeit und Privatheit aufgeteilt werden können. Allein schon aufgrund einer solchen Aufteilung lässt sich meines Erachtens Winklers These anzweifeln, dass sich „trotz der Einteilung in Gruppen mit einem thematischen Leitgedanken ein entwicklungsmäßiges Fortschreiten nicht feststellen“29 ließe. Dafür ist beispielsweise das Gedicht über die Pfählung zu klimatisch und die sich daran anschließende Triage zu narrativ angelegt, um den seriellen oder zyklischen Charakter der Sammlung zu unterschätzen. So beschäftigt sich das dritte Gedicht, Heimgang (SW VI/VII, 159), auch mit dem exis-

    27 Bei Baudelaire wird die Gewährleistung der Perfektion des Kunstwerks oder des demotionalisierten Künstlers erst im zweiten Abschnitt des Gedichts À une Madone erreicht. Er bricht bewusst mit der am petrarkistischen Frauenlob orientierten Ekphrasis der Madonnenfigur in der ersten Strophe: „Enfin, pour ton rôle de Marie, / Et pour méler l’amour avec la barbarie, / Volupté noire! des sept ­Péchés capitaux, / Bourreau plein de remords, je ferai sept Couteaux / Bien affilés, et, comme un jongleur insensible, / Prenant le plus profond de ton amour pour cible, / Je les planterai tous dans ton Cœur pantelant, / Dans ton Cœur sanglotant, dans ton Cœur ruisselant!“ Charles Baudelaire: Sämtliche Werke. Briefe in acht Bänden. Hg. v. Friedhelm Kemp u. Claude Pichois. Bd. 3. München u. Wien 1977, S. 170, V. 37–44. Der krönende Abschluss des Kunstwerks erfolgt – wie bei George – in der Zerstörung des Herzens als Quell der Liebe, die das lyrische Ich als „jongleur insensible“, sozusagen als kalter Künstler, praktiziert. Er empfindet tiefste Verachtung, ja sogar großen Ekel gegenüber diesem Symbol aller großen Gefühle, was man an den Adjektiven „pantelant“, „sanglotant“ und „ruisselant“ ablesen kann. Von diesen Eigenschaften, die wohl als Ablenkung verstanden werden sollen, versucht sich der lyrische Sprecher bei Baudelaire zu befreien. 28 Vgl. zum Begriff der Liminalität Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Aus dem Englischen u. m. e. Nachwort v. Sylvia M. Schomburg-Scherf. Frankfurt/M. u. New York 1989. Bei Turner ist damit auch der Übergang zwischen zwei Lebensaltern gemeint, der unter anderem durch Praktiken der Initiation vollzogen werden kann. Bei George trennt das Gedicht Die Schwelle auch den Aktivitätscharakter des Festes vom Ruhepol des Heimgangs. 29 Michael Winkler: Zu einigen Liedern im „Siebenten Ring“ (wie Anm. 2), S. 309.

    456 

     Torsten Voß

    tentiellen Prozess von Askese und Entsagung, wenn es verkündet: „Keinen wird des sanften fastens / Frohen schweigens dort gereun ..“ Denn dieses kann zu folgendem Resultat führen: Eh ihr in den friedensforsten Euren ruheplatz erlast – Wisset: ist dies herz geborsten Von der glut die drin gerast.

    Diese Katharsis greift die Entemotionalisierung im Vampir-Gedicht wieder auf und apostrophiert sie als die konstitutive Bedingung für die Heimkehr. Auch das abschließende Gedicht des gesamten Zyklus, also das vierte der letzten Gruppe, deren einzelne Segmente zunächst noch einmal beschreiben, was nicht der Ort der Dichtung sein kann: „Hier ist nicht mein lichtrevier“, formuliert einen Ruhepol gegenüber Gefühl und sozialen Ansprüchen. Dann ist „Verschwunden das sehnen · / Verheerender glutschwall!“, was für das lyrische Ich bedeutet: Die hände die mienen Erflehn von mir ruh nun · Ich frieden vor ihnen .. Und wach bleibest Du nur. (SW VI/VII, 162)

    Nach aller kathartischen Reinigung wird das Künstler-Ich zum Priester, der mitbeschwörenden Händen quasi den Segen erteilen kann. Doch nicht ohne Skepsis bleibt dieser zurück. Mit dem wachenden ‚Du‘ spricht er sich am Ende selbst an und erkennt damit seine spezifische, aber auch seine isolierte Funktion und Stellung als Wachender an. Das steht für die Trennung von der schlafenden und vielleicht ungeformten Welt. Jenseits aller dichtungstheoretischen Dimensionen dieser Texte Georges30 ist Winkler allerdings mit Blick auf deren spezifischen Stil zuzustimmen, wenn er behauptet: „Wo George menschliches Geschehen im Einklang mit Landschaftsbildern gestaltet, gelingen ihm Formulierungen, die durch den gedrängten Ausdruck und die Stärke der symbolischen Implikation überzeugen.“31 Diese besondere Qualität scheint sich aus der auch in diesem Beitrag festgestellten Vermengung poetologischer Konzeptionen mit anthropologischer Relevanz durch Modi der Musikalität zu speisen. Oder anders ausgedrückt: Durch die Verortung der ästhetischen Theoriebildung in anthropologisch relevante Topoi, Szenen und Bilder, wird ebendieser ein Ausdrucksmedium verschafft.

    30 Dass sich lyrisierte Lyriktheorie nicht nur im Zyklus der Lieder findet, hat Hartung in folgendem Aufsatz herausgearbeitet: Harald Hartung: Spange, Zwerg, Lied. Über einige Gedichte von Stefan G ­ eorge. In: JbDSG 52 (2008), S. 647–656. 31 Michael Winkler: Zu einigen Liedern im „Siebenten Ring“ (wie Anm. 2), S. 309.

    

    Der Siebente Ring · Lieder 

     457

    Interpretationen von Im windes-weben (SW VI/VII, 137) und An baches ranft (SW VI/VII, 138) Die vier Zeilen […], die ich zu dem Unwiderstehlichsten zähle, was jemals der deutschen Lyrik beschieden war, sind wie ein Zitat, aber nicht aus einem anderen Dichter, sondern aus dem von der Sprache unwiederbringlich Versäumten. (Theodor W. Adorno, Rede über Lyrik und Gesellschaft) Georges Gedichte an Ida Coblenz sind grandiose Variationen der Trauer über eine von Anfang an aussichtslose Beziehung. (Thomas Karlauf, Stefan George)

    Zwei vollkommen verschiedene Herangehensweisen an den Unterzyklus der Lieder (1893) stehen sich hier gegenüber, da sie zwei völlig verschiedenen Epistemologien entstammen. In den Eingangsmotti trifft der Theoretiker des Ästhetischen auf den akribischen Biografen. Poetologie und tragische Anekdoten reiben sich aneinander, oder berühren sie sich vielmehr? Wird Theodor W. Adornos enthusiastische Rezeption des Gedichts Im windes-weben als unwiderstehlichste Variante lyrischer Expressi­vität1 nicht vielleicht sogar unterstützt durch Thomas Karlaufs umfangreiche Rekonstruktion der unglücklichen und zugleich zum dichterischen Tätigsein inspirierenden Liebe Stefan Georges zur späteren Dehmel-Gattin Ida Coblenz? (Vgl. TK 132  f.) Diesen 1 Vgl. Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft, in: Ders.: Noten zur Literatur. Hg. v. Rolf Tiedemann. 6. Aufl. Frankfurt/M. 1996, S. 49–68, bes. S. 64  f. Derlei Bekundungen sind für Adornos Umgang mit Lyrik ja nichts Ungewöhnliches. Wann immer sich die Lyrik zugunsten einer erhöhten Musikalität den konventionellen Semantisierungen zu entziehen trachtet, findet sie bei Adorno großes Lob. So auch das Gedicht Pause des George-Kontrahenten Rudolf Borchardt. Der dortige – zum Hermetismus neigende – Vers Ich habe nichts als Rauschen scheint für Adorno Borchardts gesamte Poetik zu verkünden, sodass für ihn in dem frühen Gedicht „Sprache selber redet. Der redende Gestus fast jeglicher Zeile, die er verfaßte, ist weniger der des Redenden als, der Absicht nach, die Epiphanie der Sprache.“ Theodor W. Adorno: Die beschworene Sprache. Zur Lyrik Rudolf Borchardts. In: Ebd., S. 536–555, hier S. 536. Für Adorno „revoltiert das musikhaft formende Verfahren gegen den traditionellen Vorrang des Sinnes in der Lyrik.“ Ebd., S. 540. Damit hat Borchardt „Zeilen geschrieben, wie sonst nur Musik Stellen kennt.“ Dass dadurch der gestrenge Gattungs-Traditionalist Borchardt moderner perspektiviert wird, als ihm lieb gewesen wäre, lasse ich einmal unkommentiert. Deutlich wird vielmehr, warum Adorno auch von dem geheimnisvollen windes-weben in Georges Lieder-Zyklus so fasziniert ist, weil allein dieser Vers eher auf Klanglichkeit als auf eine konkrete Bedeutung setzt und ebendiese Tonalität aus sich selbst heraus beschreibt und zur Ausgangslage für eine melancholische Grundstimmung innerhalb des Gedichts genutzt werden kann. Letzteres muss nicht im Widerspruch zur autobiografischen Lesart Karlaufs stehen, der an dem situativ gebundenen Widmungs-Charakter der Lieder festhält. Vielmehr möchte ich in meiner Lektüre beides ineinander verschieben und sowohl den tonalen Hermetismus und den Geheimnischarakter der Verse als auch die entscheidenden Ausdrucksmodalitäten und Medialisierungsoptionen von Melancholie, Unwiederbringlichkeit und Vergeblichkeit erkennen.

    458 

     Torsten Voß

    Fragen soll in den folgenden Ausführungen genauer nachgegangen und dabei auch die komplexe Gemengelage der Gedichte Im windes-weben und An baches ranft aus den Liedern (SW VI/VII, 137  f.) ergründet werden, die sich zusammenfügt aus der Tradition der liedhaften Gelegenheitsdichtung (Goethe, Mörike), aus einer die Inhalte relativierenden Musikalität und aus impliziter und metaphorisch verschlüsselter poetologischer Reflexion. Im windes-weben War meine frage Nur träumerei. Nur lächeln war Was du gegeben. Aus nasser nacht Ein glanz entfacht – Nun drängt der mai Nun muss ich gar Um dein aug und haar Alle tage In sehnen leben. (SW VI/VII, 137)

    Auf den ersten Blick scheint sich das Gedicht durch die situative Gebundenheit an ein Naturerlebnis auszuzeichnen. Doch schon als solches vermag es, für Irritationen zu sorgen. Nicht vom Wehen der Winde ist die Rede, sondern von ihrem Weben. Dadurch wird der Lufthauch verdinglicht und nimmt feste Formen an. Ob damit nun Spinnweben gemeint sind oder der Verweis auf den praktischen Vorgang des Fadenwebens, ist nicht relevant. Beides kann in der lyrischen Motivik eine starke Verbindung mit dem Schreibprozess aufweisen, so vor allem durch Clemens Brentanos programmatisches Gedicht Der Spinnerin Nachtlied, wo die traurigen Reminiszenzen der Titel­ figur unmittelbar mit dem Webprozess vernetzt werden, ja durch diesen begleitet bzw. sogar evoziert werden.2 Dadurch nähert sich das Weben dem Schrei­ben an. Auch hier erfolgen „frage“ und „träumerei“ in einer temporären Synchronizität im Weben der Winde, womit diese in einen Ablauf des Produzierens und Erstellens integriert werden. Genau diese Selbstthematisierung des lyrischen Produktionsprozesses emanzipiert das Gedicht von der scheinbaren Gelegenheitslyrik, wie man sie beispielsweise in Goethes Mailied oder dem heiteren Sesenheimer Gedicht Erwache Friederike findet, wo das lyrische Ich das Verschlafen der Geliebten und den dadurch gemeinsam verpassten Sonnenaufgang mit harmlosen Vorwürfen spöttisch bedauert. Von dieser spontanen Vorreflexivität ist bei George ebenso wenig etwas zu spüren wie von frühlinghafter Heiterkeit und Ausgelassenheit. So erkennt auch Wolfgang 2 Vgl. zu dieser Metaphorologie der Schrift: Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln, Weimar u. Wien 2002.

    

    Der Siebente Ring · Lieder 

     459

    Braungart in Abweichung zu Goethes früher Lyrik: „Dennoch ist der ‚drängende Mai‘ in Georges Gedicht kein Bild der Hoffnung. Aus ihm gehen vielmehr Trauer und unerfülltes ‚sehnen‘ hervor.“ (WB 303) Mit dieser luziden Deutung Braungarts ist die gesamte Tradition des Frühlingsgedichts in einer Radikalität auf den Kopf gestellt, die unübersehbar zur Dissonanz zwischen den Aktanten Frühling und Melancholie führen muss. Dem Neubeginn des Lebens wird auf eine Weise mit Trauer geantwortet, die sich in dieser Disharmonie vielleicht nur noch in der Dichtung Charles Baudelaires findet3, aber vielleicht gerade deshalb die Ursache für ihre exquisite und von Adorno so begrüßte Tonalität darstellt. Das sind freilich allgemeinere Kriterien als eine ad hoc-Transformation der lyrisch vermittelten Stimmung auf die Beziehung des Autors zu Ida Coblenz. Sogar ein daran verständlicherweise interessierter Biograf wie Karlauf muss eingestehen: Rückschlüsse auf den tatsächlichen Verlauf der Beziehung lassen die Gedichte kaum zu, sie spiegeln fast nie das unmittelbare Empfinden ihres Verfassers. […] Fast alle Gedichte sind retrospektiv, aus dem Abstand von Tagen, oft Wochen geschrieben. Erst wenn ein Erlebnis verarbeitet war, konnte es im Gedicht neu gestaltet werden. (TK 133  f.)

    Damit ist George auch hier alles andere als ein spontaner, sich von pseudoromantischen Inspirationen leiten lassender Gelegenheitsdichter, sondern ein Arbeiter am Vers bzw. an der „mache“ des Gedichts,4 wie er es selbst in den Blättern für die Kunst gerne bezeichnete, was ihn wieder in die Nähe der lyrischen Konstruktivisten Mallarmé und Poe rückt. Der Transformationsvorgang der Erfahrung in die Lyrik wird als Komplex angesehen, was sich auch an der von Braungart attestierten und ungewohnten Widersprüchlichkeit von Frühling und Trauer aufzeigen lässt, weil „sich semantisch das tradierte Schema der Liebeslyrik nicht erfüllt“ (WB 303), aber auch,

    3 Das rührt vor allem daher, dass der lyrische Sprecher bei Baudelaire sehr oft von dieser Fröhlichkeit und Vitalität ausgeschlossen ist und das Gedicht eben die Bewusstwerdung dieser Exklusion beschreibt, so in den berühmten Versen aus den Fleurs du mal: „Der Frühling und das Grün kränkten mein Herz so sehr, / daß ich die Frechheit der Natur an einer Blume strafte.“ (Charles Baudelaire: À celle qui est trop gaie / An jene, die allzu fröhlich ist, in: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe in acht Bänden. Hg. v. Friedhelm Kemp u. Claude Pichois. Bd 3. München u. Wien 1977, S. 315  f.) Auch George thematisiert häufig die Differenz zwischen dem Naturding und dem lyrischen Ich, so auch in dem Gedicht Die blume die ich mir am fenster hege aus dem Unterzyklus Waller im Schnee, wo die Pflanze für die Traurigkeit des Sprechers büßen muss: „[…] und ich knicke / Die blasse blume mit dem kranken herzen.“ (SW IV, 31) 4 Dazu Genaueres bei Manfred Durzak, MD 129–132. Verwandt mit dieser Visibilisierung des dichterischen Tätigseins und des Konstruktcharakters der Lyrik ist bei George auch der Begriff des „gebildes“. Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen zum Teppich des Lebens in der Monografie von: Annegret Schaub-Bungers: Die Poetik Stefan Georges im Rahmen seiner Kunstanschauung. Versuch einer Ideologiekritik, Göttingen: Diss. masch. 1972, bes. S. 103–116.

    460 

     Torsten Voß

    weil „die verhaltene Trauer des Gedichtes […] geradezu aus dem ‚drängenden Mai‘ entspringt“ (WB 304). Letzteres wird durch das Gedicht folgendermaßen suggeriert: Auf die beinahe stürmische Formulierung „Nun drängt der mai“ kann das lyrische Ich nur mit einer unerfüllten Sehnsucht nach dem „aug und haar“ eines sich entfernenden Gegenübers antworten, womit herkömmliche Glücksvorstellungen aufgehoben werden. Bereits Victor A. Schmitz hat es in seiner Interpretation von 1971 treffend und zugleich nicht frei von Sentimentalität auf den Punkt gebracht: „Der Mai allein kann den Menschen, der liebt, nicht freuen. Er weckt nur heftiger die Sehnsucht nach einem geliebten Du.“5 Diese Pervertierung des Frühlingsgedichts übernimmt George laut Schmitz von dem dänischen Décadent Jens Peter Jacobsen, dessen Verse Lass frühling kommen wann er will nicht nur von George übertragen wurden,6 sondern auch eine vom Gestus des ennui gekennzeichnete Teilnahmslosigkeit und Indolenz des lyrischen Sprechers gegenüber den Frühlingsfreuden ausmachen: „Was tut das mir?“ lautet die Quintessenz in Jakobsens Gedicht von  1882.7 So weit allerdings geht das lyrische Ich bei George nicht. Seine Gleichgültigkeit wird durch direktes Leiden abgelöst, was den Text zunächst wiederum dem Erlebnisgedicht annähert und von der ennuyierten Reflexionslyrik der Décadents wegführt. Denn die Liedgedichte Georges weisen „meist nur Landschaftsbilder, die eine Erwartung der Liebe oder Freude begleiten oder täuschen“8, auf. Dieser trostlose Eindruck Schmitz’ lässt sich bereits mit den ersten drei Versen bestätigen, die auf eine Situation der Vergeblichkeit hinauslaufen: Im windes-weben War meine frage Nur träumerei.

    Das Weben der Winde sabotiert hier die Frage des lyrischen Ich, nimmt ihr die semantische und signifikative Autorität. Aus der bedeutungssuggestiven Frage wird nur ein

    5 Victor A. Schmitz: Bilder und Motive in der Dichtung Stefan Georges. Düsseldorf u. München 1971, S. 95. Vgl. auch: Paul Hoffmann: ‚Im windes-weben‘. In: GJb 1 (1996/1997), S. 44–52. 6 Vgl. Victor A. Schmitz: Bilder und Motive in der Dichtung Stefan Georges (wie Anm. 5), S. 95  f. 7 Damit greift Jacobsens Lyrik das Hauptthema seines Romans Niels Lyhne (1880) auf, jenem dänischen Pendant von Gontscharows Oblomow (1859). Vgl. auch Jens Peter Jacobsen: Den Lenz lasst kommen, wann er will. In: Ders.: Sämtliche Werke. Übertragen v. Mathilde Mann, Anka Matthiesen u. Erich von Mendelssohn. Leipzig 1929, S. 862: „Den Lenz laßt kommen, wann er will, / laßt Grün ihn krönen / Mit muntrer Vögel Flötenspiel, / Wenn Blumen blühen / Und all des Schönen / Holdestes Holde / Im Sonnengolde / Weit über Wiesen und Ackerstellen / Flattert und quillt aus verborgenen Quellen, / Strömt seinen Duft über Wiesen und Wellen – / Was tut das mir? / Mein Herz ist keine Blume, kein Blatt, / Und der Lenz macht es nicht satt: / Den eignen Frühling es sich spann – / Wann?“ Auch hier fühlt sich das lyrische Ich – repräsentiert durch das Herz – nicht mehr der Natur zugehörig. Es findet also keine Identifikation mehr statt, sondern die Kultivierung eines eigenen und fiktiven Frühlings. 8 Victor A. Schmitz: Bilder und Motive in der Dichtung Stefan Georges (wie Anm. 5), S. 96.

    

    Der Siebente Ring · Lieder 

     461

    Traum und damit eine Illusion, die vielleicht sogar durch die Allmacht der Winde verwischt wird. Durch das Possessivpronomen gewinnt die „frage“ eine existentielle Dimension, die aber bereits in den ersten drei Versen einer Negation unterworfen ist. Auf die Lyrik übertragen, verweist die Desemantisierung und damit Fiktionalisierung der „frage“ auf eine radikale Verweigerung der Kunst gegenüber sozialen und identifikatorischen Belangen. Diese Haltung als Grundprinzip der Dichtung Georges hat bereits Adorno pointiert formuliert: „Die Harmonie des Liedes ist einem Äußersten an Dissonanz abgezwungen: sie beruht auf dem, was Valéry refus nannte, auf einem unerbittlichen sich Versagen alles dessen, woran die lyrische Konvention die Aura der Dinge zu besitzen wähnt.“9 Hier kann sich das lyrische Ich in keinster Weise an einem Besitz erfreuen oder gar an dauerhafter Präsenz. Denn „Nur lächeln war  / Was du gegeben“. Der sympathische Vorgang des Lächelns wird hier entzaubert und durch das relativierende „Nur“ stark eingeschränkt. Das mit ihm konnotierte Versprechen der Nähe und der Zuneigung weicht durch die Reduktion einer Sphäre des Flüchtigen, einer Temporalität des fugitive, wie es für viele Gedichte Baudelaires10 auch kennzeichnend ist, die damit ihre eigenen Glücksversprechen sabotieren. Dem Lächeln des angesprochenen Gegenübers ist also jegliche Dauerhaftigkeit entzogen und daher kann es auch nicht die „frage“ des lyrischen Sprechers beantworten. Dass sich das „gegeben“ des Lächelns auf das „windes-weben“ reimt und den Anfangsreim nun wieder aufgreift, ist bei einem Konstrukteur wie George kein Zufall. Beides wird dadurch in eine Einheit gesetzt, die im Verschwinden begriffen ist und nicht festgehalten werden kann, ist doch der Wind in der literarischen Symbolik nach Marco Castellari auch ein „Symbol der Nichtigkeit des menschlichen Lebens, Tuns und Redens“11. Die auf eine Epiphanie verweisenden und im Paarreim stehenden Zeilen „Aus nasser nacht / Ein glanz entfacht“ bleiben unkommentiert stehen und können anscheinend auch keinen kompensatorisch ausgerichteten Trost mehr spenden. Ulrich Port verweist auf den Zusammenhang zwischen der Aussage und der verhaltenen Tonalität des Gedichts, wenn er schreibt: In der Tat gelingt der ‚hohe Stil‘ hier vor allem durch Aussparungen, durch den Verzicht auf das ‚ausstoßen von wehlauten‘ und die ‚anwendung heftiger worte und bilder‘ wie George es selbst programmatisch verortet hat [in Über Kraft]. Der genus vehemens wird vermieden, und ebenso falsch wäre es offensichtlich die Redeweise dieses Textes genus grave zu nennen. Schon eher passt die Bezeichnung genus sublime, wenn man am ‚Erhebenden‘ und ‚Hochstrebenden‘ das Schwebende, Entstofflichte markiert, das das ‚windes-weben‘ […] und ihre lockere praktische

    9 Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft (wie Anm. 1), S. 65  f. Letzteres fällt nach ­ dorno bekanntlich nun eher den Produkten der Kulturindustrie zu, die der Masse die gewünschte A Zerstreuung bieten. 10 Ich denke dabei vor allem an das paradigmatische Gedicht À une passante (1857). 11 Marco Castellari: Wind. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. v. Günter Butzer und Joachim Jacob. 2., erw. Aufl. Stuttgart u. Weimar 2012, S. 485–486, hier S. 485.

    462 

     Torsten Voß

    Fügung hinterlassen. Dieser Leichtigkeit fügt sich mit seiner Dehnung aus klingenden Kadenzen und Assonanzen auch das verhaltene Pathos, ‚Alle tage / In sehnen leben‘ zu müssen.12

    Daraus entwickelt sich jedoch nicht eine Form von trockener Lakonie, sondern eher die resignierende Einsicht in die Vergeblichkeit sozialer Unterfangen und Bemühungen, die eben auch den Bruch mit dem herkömmlichen Verständnis von Mailiedern13 und Frühlingsgedichten hervorruft: Nun drängt der mai · Nun muss ich gar Um dein aug und haar Alle tage In sehnen leben.

    Das Drängen des Mais bzw. das Erwachen von Begehrlichkeiten verhält sich hier diametral zu ihrer Realisierung. Das lyrische Ich kann sich nur auf wahrgenommene Details des Gegenübers wie „aug und haar“ berufen. Während diese jedoch in der petrar­kis­tischen Liebes- und Lyriktradition dem lyrischen Sprecher noch eine vollständige Erfüllung durch die aus dem Verzicht geborene Versprachlichung und Entkörperung der Schönheit bieten konnten,14 fällt diese Möglichkeit in Georges Lied nahezu weg. Das Sehnen bleibt als qualvoller Dauerzustand bestehen und kann nicht auf eine höhere bzw. produktionsästhetische Ebene transzendiert werden. Dass es dennoch in der vorliegenden Gedichtform gelingt, lässt sich aus der poetologischen Selbstreflexivität dieses scheinbaren Stimmungs- und Gelegenheitsgedichts erklären. Die „prägnante Schlichtheit der Form, frei von Prunk und Preziosität“ und des Dichters „Sehnsucht nach liedhafter Entschwertheit“15 bilden auch hier markante K ­ ontraste zu den verborgenen poetologischen Aussagen der Verse, sodass Hoffmann nur anerkennend behaupten kann: „Daß George der schlichtesten Form die höchste Differenziertheit des Ausdrucks abzugewinnen vermochte, macht den Rang seiner liedhaften Lyrik aus.“16 Umso wichtiger ist daher die Achtsamkeit gegenüber einzelnen Worten.

    12 Ulrich Port: ‚die neue geste‘ & ‚das neue pathos‘. Über einen Gemeinplatz der klassischen Moderne. In: Geste und Gebärde. Beiträge zu Text und Kultur der klassischen Moderne. Hg. v. Isolde Schiffermüller. Innsbruck, Wien u. München 2001, S. 14–39, hier S. 28. 13 Letzteres vermag auch insofern zu verwundern, da der Katholik und ehemalige Ministrant George natürlich mit dem lebensbejahenden Marienlob der Maiandacht sehr vertraut war. Dieser allgemeine Schöpfungsoptimismus ist in diesen einfachen Zeilen aufgehoben. Der sich nahende Mai verkündet nicht mehr neues Leben, sondern markiert vielmehr dessen Unerreichbarkeit und die daraus erwachsende und niemals zu stillende Sehnsucht. Darin liegt die paradoxale Grundstruktur dieses Frühlingsgedichts. 14 Vgl. dazu: Torsten Voß: Die Vernichtung des Körpers durch die Geburt des Kunstwerks in der petrarkistisch-manieristischen Lyrik. In: DVJS (2009), S. 103–128. 15 Paul Hoffmann: ‚Im windes-weben‘ (wie Anm. 5), S. 45. 16 Ebd., S. 52.

    Der Siebente Ring · Lieder 

    

     463

    Schon Theodor W. Adorno hat in seiner Rede über Lyrik und Gesellschaft mit Nachdruck auf das Füllwort „gar“ hingewiesen,17 das jegliche Form tatsächlicher Annäherung auf die bloße Sehnsucht reduziert und durch diese Einschränkung keinerlei alternative Optionen mehr zulässt, ja eine beinahe verzweifelte Ausschließlichkeit herbeiführt. Das lyrische Ich muss sich mit diesem „gar“ zufriedengeben. Mehr noch, um mit Hoffmanns Worten zu sprechen: „Hoffnung klingt auf, und bittere Resignation steht am Ende.“18 Dieser Zustand ist an „dein aug und haar“ gebunden. Beides sind in der petrarkistischen und manieristischen Lyrik die zentralen Erotismen und Fetische, an denen sich der Lyriker in metaphorisierender Ekphrasis abarbeitet.19 Hier lässt es jedoch das lyrische Ich mit dem melancholischen Eingeständnis bewenden, dass sich das „sehnen“ wirklich „Alle tage“, also bis in unendliche temporäre Weiten ausdehnen lässt. In diesem Zusammenhang ist das für Werner Kraft sogar „ein langer, alles Dazwischenliegende melodisch übertönender Schrei der Sehnsucht“20. Da er nicht in das traditionelle Frauenlob der Barockzeit gegossen werden kann, bleibt er bestehen und lässt das lyrische Ich mit der als Sehnsucht zu erlebenden Erinnerung an das Gegenüber zurück. Da sich sogar kein sprachlicher Ausgleich als eine Form der Erfüllung anbietet, werden diese Verse vollends zu einem Anti-Frühlingsgedicht. Von ebenso vermeintlicher Simplizität ist auch das zweite zu interpretierende Gedicht aus den Liedern, also An baches ranft, gekennzeichnet:21 An baches ranft Die einzigen frühen Die hasel blühen. Ein vogel pfeift In kühler au. Ein leuchten streift Erwärmt uns sanft Und zuckt und bleicht. Das feld ist brach · Der baum noch grau .. Blumen streut vielleicht Der lenz uns nach. (SW VI/VII, 138)

    17 Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft (wie Anm. 1), S. 66. 18 Paul Hoffmann: ‚Im windes-weben‘ (wie Anm. 5), S. 47. 19 So unter anderem in Giambattista Marinos Gedicht Mentre la sua donna si pettina. Und in Dantes Vita nuova ist es bekanntlich der Blick, welcher den Dichter auf Beatrice aufmerksam werden lässt und ihn niemals mehr loslassen wird. 20 Werner Kraft: Stefan George. München 1980, S. 253. 21 So betont auch Wolfgang Braungart „dessen einfaches Sagen und dessen so wenig ambitionierte Bildlichkeit“. WB 304. Wie man sich denken kann, ist das nur der erste Eindruck!

    464 

     Torsten Voß

    Bisweilen erfahren diese Zeilen in der Forschung sogar eine nahezu onomatopoetische Deutung. So verweist Eugen Gomringer in einem knappen Aufsatz darauf, dass es vor allem das Wort „ranft“ gewesen ist, „an dem ich hängen blieb. Der ‚Ranft‘ wirkt auch klanglich so stark nach, daß sich das Reimwort ‚sanft‘ erst in der siebenten Zeile einzustellen braucht.“22 Was wird durch dieses kaum noch gebräuchliche Wort ausgelöst und wie wirkt es? Welche Funktion erfüllt es innerhalb dieses ebenfalls einfach anmutenden Gedichts? Zunächst könnte es in einer rein naturalistischen Betrachtung auf ein ausgefranstes Flussufer an steilen Hängen verweisen, in dem Pflanzen und Sträucher wachsen. Zugleich wirkt es aber gerade dadurch auch geheimnisvoll und ursprünglich, was zu einer Erhöhung der symbolischen Bedeutung und tonal-akustischen Funktion führt. Im Gegensatz zu Ufer mutet „ranft“ sehr rauh und unbehauen an, sodass gerade deshalb in ihm Pflanzen wie die „hasel blühen“ können. Doch das Gedicht ist weit entfernt von der Beschreibung einer Idylle. Bereits die ersten Zeilen bergen einen versteckten Hang zur Melancholie in sich. Inwieweit sich dieser Ton aus der situativen Gebundenheit an den unglücklichen Ida Coblenz-Komplex ergibt, auf den sich mitunter auch der Kommentar der Werkausgabe bezieht (SW VI/VII, 222  f.), möchte ich weitgehend undiskutiert lassen und stattdessen wieder auf das poetologische und dichtungstheoretische Potential des Textes zu sprechen kommen. Gegen die Tradition der Frühlingslyrik spricht beispielsweise allein schon die Singularität der „einzigen frühen“. Nahezu unbewusst wird damit auf einen Zustand von Einsamkeit und Isolation verwiesen, der den melancholischen Grundton des Gedichts einleitet. Zwar blühen die wenigen „hasel“. Jedoch lässt sich daraus kaum ein lebensbejahendes Tonikum herauslesen. Auch andere Entäußerungen der Natur sind auf wenige Einzelheiten beschränkt. Das Vogelsingen erfolgt in einer „kühlen au“, wodurch diesem traditionellen Frühlingssymbol seine vitalisierende Wirkung genommen wird. Sämtliche dieser Naturexpressionen erfolgen auch unabhängig von den Wahrnehmungen des lyrischen Sprechers bzw. er setzt sich in keinen emphatischen, emotionalen oder sozialen Bezug zu ihnen. Er registriert sie lediglich, was einen Unterschied zum lyrischen Subjektivismus der Dichtung der Empfindsamkeit oder des Sturm und Drang bedeutet, wo Naturwahrnehmung und subjektive Empfindung oft ineinander übergehen.23 Auch die folgenden Verse, in denen das lyrische

    22 Eugen Gomringer: Blumen folgen unserem Abgang. In: Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen. Hg. u. m. e. Vorwort v. Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt/M. 1976, S. 65–68, hier S. 67  f. 23 Neben den fast noch anakreontisch anmutenden Sesenheimer Liedern Goethes oder der enthusiastischen, einen universalistischen Anspruch vertretenden Frühlingsfeier Klopstocks denke ich dabei auch an Gedichte wie William Wordsworths Lines written a few miles above Tintern Abbey oder P. B. Shelleys Ode to the westwind und The cloud.

    Der Siebente Ring · Lieder 

    

     465

    Ich entweder in einem pluralis majestatis24 spricht oder sich mit einem imaginären Gegenüber verbindet,25 können darüber nicht hinwegtäuschen: Ein leuchten streift Erwärmt uns sanft Und zuckt und bleicht.

    Die Konfrontation mit Licht und Wärme erfolgt hier beinahe zärtlich, doch ebenso flüchtig, sodass vom Erreichen eines dauerhaften Glückszustands in diesem Text ebenso wenig gesprochen werden kann wie in dem trostlosen Im windes-weben. Das Zucken steht daher auch nur noch für letzte Regungen des eigentlich schon zum Tode verurteilten Lebens und das auf Leichen hindeutende Bleichen radikalisiert diesen Eindruck nur noch. Schließlich wird dieser destruierte Zustand vom lyrischen Sprecher und seinem Gegenüber auf die gesamte Umgebung ausgedehnt. Das sagt einiges aus über dessen Autorität. Auch wenn derlei hier nur noch als Negation durchgeführt werden kann, ist die expansive Wirkung von der persönlich erlebten Trauer auf die Umwelt doch enorm: „Das feld ist brach / Der baum noch grau ..“ Trotz der eingangs erwähnten Frühlingstöne konnte sich neues Leben weder im lyrischen Ich noch in der es umgebenden Landschaft durchsetzen. Wenn hier noch eine Identifikation von Subjekt und Natur in der traditionellen Manier stattfindet, dann ist sie jenseits allen Optimismus und aller Euphorie angesiedelt, wofür die Naturlyrik des späten 18. Jahrhunderts stand. Vom eigentlichen Frühling sind der Sprecher und sein anonym bleibendes Gegenüber ausgeschlossen, wofür die geheimnisvollen und paradoxal anmutenden letzten beiden Verse stehen: „Blumen streut vielleicht / Der lenz uns nach.“ Das ist die Umkehr aller Erwartungen an die Begegnung mit dem Frühling26 und der durch ihn symbolisierten Vitalität: Man selbst ist nicht mehr des ‚Lenzes‘ teilhaftig, hat ihn wie alles hinter sich gelassen. So wird das vermeintliche Gelegenheitsgedicht zur melancholischen Reflexion, was auch Gomringer in seiner prägnanten Interpretation erkannt hat:

    24 Letzteres wäre angesichts des Nimbus und Selbstverständnisses Georges und der von ihm geschaffenen Figuren (vgl. Algabal) durchaus denkbar. 25 Und genau das verführt vor allem die frühe Forschung auch immer wieder dazu, in den Liedern Abschiedsworte gegenüber Ida Coblenz, Maximilian Kronberger oder sogar ins Lyrische transformierte reale Begebenheiten innerhalb dieser beiden schwierigen Beziehungen zu vermuten. Vgl. KH 297–306 u. CD  208–213. Immerhin bemerkt David bisweilen „die Gleichgültigkeit […], die der Leidenschaft folgt“ (S. 211) in einigen dieser eher untypischen Frühlingsgedichte. 26 Akribisch hat das auch Wolfgang Braungart herausgearbeitet und aufgrund der sich verändernden Wortarten und Betonungen auf die Zäsur durch die letzten beiden Verse aufmerksam gemacht: „So beginnt der vorletzte Vers mit einem Substantiv und einer deutlich betonten Silbe.“ (WB 304)

    466 

     Torsten Voß

    Die letzten beiden Zeilen dieses Lieds bilden wohl einen der unvergeßlichsten deutschen Verse: ‚Blumen streut vielleicht der Lenz uns nach.‘ Überraschend wird der ganze Gedicht-Rhythmus auf den Kopf gestellt. Eine große Gebärde wird ausgesprochen. Blumen folgen vielleicht unserem Abgang. Daß der Lenz uns vielleicht Blumen ‚nachstreut‘ habe ich immer als Jugendstilgebärde gesehen.27

    Hier wird eigentlich von Gomringer ein Beerdigungsszenario angesprochen. Der Lenz überlebt den lyrischen Sprecher und streut ihm seine letzten Blumen nach. Daher findet auch eine Pervertierung der eigentlichen Bedeutung dieser dem Jugendstil entnommenen arabesken Ornamentalik statt. Die vitalistischen Komponenten des Jugendstils sind ausgeschaltet bzw. werden in ihr düsteres Gegenteil verkehrt, nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich, sodass Braungart anmerken kann: „Der harte Rhythmus und die weniger geschmeidige Lautgebung (‚streut vielleicht‘) wirken wie eine inszenierte Ungeschicklichkeit, die der gleichmäßigere letzte Vers nicht mehr ausgleichen kann und will.“ (WB 304  f.) Diese „Ungeschicklichkeit“ ist nicht zufällig, denn sie korrespondiert mit der Ungeheuerlichkeit der Aussage des Poems: Mit dem typischen Frühlingsgedicht ist es vorbei. An seinen Verheißungen hat der lyrische Sprecher keinen Anteil mehr, sodass es auch zum formalästhetischen Bruch kommen muss. Es muss die tröstenden Versprechungen der Frühlingsassoziationen zurücklassen, sodass sich dahinter auch eine Absage an vorherige lyrische Stilhaltungen und ästhetische Konzepte vermuten lassen könnte. An die Stelle des Jugendstils wird bald der teilweise imperiale Tonfall des Sterns des Bundes treten, wodurch der ästhetizistische Anspruch von der permanenten Dauer der Formen eine krasse Relativierung erfährt. Das widerlegt auch Michael Hamburgers Einschätzung, der behauptet: „Hätte George französisch geschrieben, so hätte man ihn eher als einen Parnassien denn als einen Symbolisten angesehen.“28 Trotz aller auch von Hamburger konstatierten Klassizität Georges ist dieser doch in verschiedenen formalen Traditionen zu Hause und hält nicht eisern an ihnen fest – wie beispielsweise Leconte de Lisle oder José Maria de Heredia am Sonett. Die Modernität seines Werks liegt darin, dass er die Wechsel zwischen ihnen auf selbstreflexive und vermeintlich liedhaft einfache Weise medialisiert. Auch Braungart verweist auf diesen formalen Bruch mit der Liedform, wenn er schreibt: „Georges Lieder zeigen, daß es auch für ihn in Wahrheit eine dauerhafte Rückkehr zum einfachen, ‚selbstverständlichen‘, liedhaften Sprechen nicht mehr geben kann. Diese Möglichkeit wird vorgeführt und zugleich poetisch bezweifelt.“ (WB 305) Der Künstler verabschiedet sich damit symbolisch verschlüsselt von vorherigen Schaffensperioden und Konzepten.

    27 Eugen Gomringer: Blumen folgen unserem Abgang (wie Anm. 22), S. 68. 28 Michael Hamburger: Wahrheit und Poesie. Spannungen in der modernen Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart. Übers. v. Hermann Fischer. Berlin u. Wien 1985, S. 99.

    Anika Meier

    Tafeln

    George veröffentlichte seinen siebten Gedichtband Der siebente Ring sieben Jahre nach dem Vorgänger Teppich des Lebens im Jahr 1907. Der Band besteht aus sieben Zyklen mit einer jeweils durch sieben teilbaren Anzahl von Gedichten. Die Tafeln bilden nach den Zeitgedichten, den Gestalten, den Gezeiten, Maximin, Traumdunkel und den Liedern den siebten Zyklus mit 70 Gedichten. Als ein wichtiges Ordnungsprinzip dient George die Zahl, hier die sieben, die über das Einzelgedicht und die Zyklen einen Zusammenhang zwischen den Gedichtbänden herstellt. Ursprünglich sollte der Zyklus den Titel Aufschriften und Tafeln tragen, wie einem Brief Melchior Lechters an George vom 6. 6. 1907 zu entnehmen ist. Die zunächst noch im Titel enthaltenen Aufschriften als Übersetzung des Altgriechischen epigramma deuten auf die lyrische Tradition hin, in der die 70 Texte stehen. Die Form der Tafeln ist letztlich doch offener, auch wenn Ernst Morwitz in seinem Kommentar zur Dichtung Georges von „aphoristisch zugespitzte[n] lyrische[n] Epigrammen“ spricht (EM I, 315). Die ersten 27 Tafeln beziehen sich auf Personen aus dem Leben Stefan Georges, die folgenden 43 Gedichte widmen sich Künstlern und Kunstwerken sowie Orten samt historischer Persönlichkeiten oder Kulturgüter. Morwitz schlägt eine Dreiteilung des Zyklus vor: 27 Tafeln sind an Personen gerichtet, noch einmal 27 behandeln Orte und Kunstwerke und die letzten 16 befassen sich mit dem damaligen Zeitgeschehen (ebd.). Entstanden sind die auf Personen bezogenen Tafeln zwischen Ende 1898 und Ende 1905. Den datierten Texten zufolge stehen diese ersten 27 in chronologischer Reihenfolge. Alle übrigen Gedichte sind wohl eher thematisch gegliedert, da die wenigen vorhandenen Datierungen nicht auf eine chronologische Zusammenstellung hinweisen. Widmungsgedichte sind eine Konstante in Georges Werk. Den Hymnen. Pilgerfahrten. Algabal stellte er noch in Form eines Paratextes eine Aufschrift und eine Widmung an Carl August Klein voran (SW II, 8–9), im Jahr der Seele finden sich im Mittelteil Überschriften und Widmungen, im Teppich des Lebens tragen die ersten zehn Gedichte im Zyklus Lieder von Traum und Tod Widmungen im Untertitel (SW V, 62–73), im Siebenten Ring bilden die Tafeln den Abschluss und im Neuen Reich richtet sich der Dichter mit Sprüchen an die Lebenden und an die Toten. Der Übergang zwischen Leben und Werk ist fließend. Das poetische Werk kann zum Spiegel des sozialen Kreises werden, wobei die poetische Zyklenbildung der sozialen Kreisbildung entspricht.1 Die Tafeln gehören zum kulturkritischen Teil des dichterischen Werks. In einigen der kurzen Gedichte, etwa den Jahrhundertsprüchen, schlägt George einen herrischen

    1 Wolfgang Braungart: „Was ich noch sinne und was ich noch füge / Was ich noch liebe trägt die gleichen züge“. Stefan Georges performative Poetik. In: TuK 3–18, hier 11  f.

    468 

     Anika Meier

    Ton an. Aus dem Sänger der Hymnen und dem Décadence-Dichter des Algabal wurde ein Prophet und Erzieher. Entsprechend dem Geist des Symbolismus und des Ästhetizismus distanzierte sich George in seinem Frühwerk von der zeitgenössischen bürgerlichen Gesellschaft. Der Dichter hoffte gemäß dem Leitsatz der Blätter für die Kunst auf eine „glänzende wiedergeburt“ in der Kunst. Mit Erscheinen des Siebenten Rings geht er von der ästhetischen Opposition2 in die kulturkritische Offensive. Er beginnt ein gegenwartsbezogenes Programm zu entwickeln, das vom Siebenten Ring über den Stern des Bundes hin zum Neuen Reich Gestalt annimmt. Bereits das den Siebenten Ring einleitende Zeitgedicht macht deutlich, dass seine Lyrik fortan Appell ist und mitten ins Zeitgeschehen führen soll: […] greift er die fanfare · Verlezt das morsche fleisch mit seinen sporen Und schmetternd führt er wieder ins gedräng. (SW VI /VII, 6)

    Mit seiner Dichtung will George die Trennung zwischen Ästhetik und Ethik, Kunst und Leben aufheben. Sein Werk ist „ethisch-ästhetischer Lebensvollzug“3. Die Instanz des lyrischen Ich ermöglicht es ihm, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Er tritt als Priester, Prophet und Pädadoge in Erscheinung. Zuallererst ist er aber Künder und Schöpfer eines neuen Gottes: Maximin. Dreh- und Angelpunkt der Autor-Ich-Kongruenz sind denn auch die Anfangszeilen des Maximin-Zyklus in der Mitte des Siebenten Rings: „Dem bist du kind · dem freund. / Ich seh in dir den Gott.“ (SW VI /VII, 90) Maximin legitimiert Georges prophetische Rede, seine drastischen Verwerfungen und Kritik der Gegenwart. Nur die persönliche Gotteserfahrung erlaubt die „Aufwertung des Dichters zum charismatischen Seher in finsteren Zeiten“, denn die Wahrheit des Sehers lässt sich nicht in einem ästhetischen Fiktionsspiel begründen.4

    Personen Mit den vier- bis achtzeiligen Gedichten bedachte George Personen aus seinem Umfeld: Dichterkollegen und Mitarbeiter an den Blättern für die Kunst, wie Carl August Klein, den (nominellen) Herausgeber der Zeitschrift, Richard Perls, der nach der Bekanntschaft mit George 1895 kurzzeitig mitarbeitete, sowie die Dichter Albert Verwey, Henry von Heiseler und Lothar Treuge. Texte Letzterer erschienen in den

    2 Gert Mattenklott: Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George. Frankfurt/M. 1985. 3 Wolfgang Braungart: Stefan Georges performative Poetik (wie Anm. 1), S. 7. 4 Ernst Osterkamp: „Ihr wisst nicht, wer ich bin“. Stefan Georges poetische Rollenspiele. München 2002, S. 35.

    Der Siebente Ring · Tafeln 

    

     469

    Blättern. Frühen und langen Weggefährten wurden Zeilen gewidmet, wie der Malerin Sabine Lepsius, dem Ehepaar Karl und Hanna Wolfskehl, den Brüdern Friedrich und Ernst Gundolf, dem Neugotiker und Gestalter der Gedichtbände zwischen 1897 und 1907 Melchior Lechter, Ernst Morwitz und – zwei Gedichte – dem späteren Nachlassverwalter Robert Boehringer. Kurze Bekanntschaften wurden ebenso bedacht, etwa der Großherzog Ernst Ludwig zu Hessen sowie seine jung verstorbene Tochter Elisabeth, die der Dichter auf Einladung 1902 besuchte, der junge Argentiniendeutsche Hugo Zernik, dessen Bekanntschaft George 1903 in Berlin machte,5 der Engländer und Teilnehmer des Maskenzuges im Jahr 1904, Hugh Gramatzki, Gerlof van Vloten, der Schwager Albert Verweys, sowie Anna Maria Derleth, die Schwester des Kosmikers Ludwig Derleth, dem ebenfalls Zeilen zugeignet sind. Nur fünf dieser 27 Tafeln sind nicht konkreten Personen gewidmet. Kairos, Gaukler, Vormundschaft, Nordmenschen und Einem Pater bleiben unbestimmt in der Anrede, richten sich vielmehr, obwohl ursprünglich einem Einzelnen zugedacht (EM I, 317), an eine Gruppe. Der Titel der Gedichte ist häufig im Stil einer persönlichen Widmung gehalten, meist reicht der Vorname. Der Dichter richtet sich beispielsweise direkt An Gundolf, An Sabine oder An Henry. Mal nennt er den vollen Namen, wenn er sich An Melchior Lechter wendet, oder nur den Nachnamen, wenn Zeilen An Derleth gehen, mal müssen Kürzel genügen: G. v. V. Zwei Vierzeiler sind mit Einem Dichter überschrieben, bleiben also völlig unbestimmt, wohingegen die Verse an den Großherzog Ernesto Ludovico: Die Sept. Mens. Sept. sogar mit Nennung des Datums genau bestimmt sind. Die Verse an dessen im November 1903 mit 8 Jahren verstorbene Tochter gemahnen mit den Worten In Memoriam Elisabethae an eine Grabinschrift. So persönlich wie die Anrede einzelner Tafeln ist, so persönlich ist auch deren Inhalt oder ihre ursprüngliche Bestimmung. Der Vers An Karl und Hanna bezieht sich auf den Hochzeitstag des Ehepaares Wolfskehl, an dem es ihm von George am 29. Dezember 1908 übergeben wurde (EM I, 316). Und die Zeilen An Melchior Lechter waren eigentlich als Widmung für die öffentliche Ausgabe des Teppichs des Lebens gedacht (ebd.). Eine Würdigung kann auch einen Tadel beinhalten. Kurz nach Friedrich Gundolfs erstem Besuch in Bingen verfasste George den bekannten Vierzeiler an ihn: An Gundolf Warum so viel in fernen menschen forschen und in sagen lesen Wenn selber du ein wort erfinden kannst dass einst es heisse: Auf kurzem pfad bin ich dir dies und du mir so gewesen! Ist das nicht licht und lösung über allem fleisse? (SW VI /VII, 165)

    5 Diese Bekanntschaft fand auch im Lieder-Zyklus im Gedicht Mein Kind kam heim (SW VI /VII, 143) einen Niederschlag.

    470 

     Anika Meier

    Bereits zu Beginn der Freundschaft mit Gundolf ermahnt George ihn, stellt in Frage, wofür dieser sich interessiert. Forschen, lesen und lehren, kurz die Wissenschaft, seien all die Mühen nicht wert. Die Zeilen enthalten eine kaum zu überlesende „Herabsetzung des Nur-Wissenschaftlichen gegenüber dem Künstlerischen“6.

    Erinnerungsorte und Bildgedichte Auf die Personen-Tafeln folgen die sechs Rhein-Gedichte, sechs Bildgedichte sowie 15 mit Städtenamen überschriebene Tafeln, deren Inhalt zumeist historische Persönlichkeiten sind. Das Haus in Bonn ist Beethovens Geburtshaus und In Worms wird Luthers vor dem Reichstag 1521 gedacht. Die in den Tafeln versammelten Personen und besuchten Orte sind Teil von Georges kultureller Heroenwelt, die historischen Gestalten gelten als vorbildlich und beispielhaft. Geschichtliches Wissen wird gespeichert, erinnert und weitergegeben. Erinnerung wird mit Nationalgeschichte verbunden.7 Der Zyklus der Rhein-Gedichte war, laut Albert Verwey,8 Teil eines größeren Gedichts mit dem Titel Rheingedanken. Im ersten Rheingedicht ist die Rede von einem „fürstlich paar geschwister“, bei dem es sich laut Morwitz mit Bezug auf Georges eigene Aussage um Personifikationen der Philosophie und Musik handelt. Bis dato waren sie die wichtigsten Künste im Land („des weiten Innenreiches mitte“). Bald aber wird, aus einem „jahrhundertschlaf“ erwachend, „das dritte / Auch echte kind“ den Nibelungenschatz heben und auch eine Krone tragen (SW VI/VII, 174). Gemeint sei, so wieder Morwitz nach George, dass mit der Plastik eine dritte Kunst in Deutschland bedeutend wird. Seit der Gotik seien dort keine wichtigen Werke mehr geschaffen worden (EM I, 323). Auch im zweiten Rhein-Gedicht (SW VI/VII, 174) erfolgt ein Erwachen als Zeichen der Erneuerung. „Einer steht auf und schlägt mit mächtiger gabel / […] Aus ödem tag erwachen fels und borte“. Assonanzen und Alliterationen in der ersten Zeile betonen die Dynamik. Wer oder was dieser „eine“ ist, bleibt offen. Gemeint sein könnte die Dichtung, deren Erneuerung Georges Ziel war, allerdings ist der Dreizack Neptuns, mit dem der Aufständische parat steht, kein klassisches Dichter­attribut. Vielleicht blieb George aber auch nur mit den Attributen des personifizierten Rheins im Bild. In Straßburg stand von 1902 bis zum Ende des Ersten

    6 Bertram Schefold: Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft. In: Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft. Hg. v. Bernhard Böschenstein u.  a. Berlin u. New York 2005, S. 1–34, hier S. 13. 7 Jan Andres: Stefan Georges Erinnerungsorte in den ‚Tafeln‘ des ‚Siebenten Ring‘. In: „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Hg. v. Jan Andres, Wolfgang Braungart u. Kai Kauff­ mann. Frankfurt/M. u. New York 2007, S. 166–187, hier S. 181 u. 179. 8 AV 25 u. ES 257.

    

    Der Siebente Ring · Tafeln 

     471

    Weltkriegs der Vater-Rhein-Brunnen von Adolf von Hildebrand, die Brunnenskulptur stützt sich auf einen gegabelten Schifferhaken.9 Rhein III (SW VI/VII, 174) greift die Dynamik auf, folgt dem Lauf des aus seiner Quelle in den Alpen donnernden Rheins ins Tal („Dann fährt der wirbel aus den tiefsten höllen“) über Basel („Worin du donnerst bis zur Ersten Stadt“), Straßburg und Mainz („Drängt von der Silberstadt zur Goldnen Stadt“) bis nach Köln. Dieser Weg des Wassers führt in vergangene Zeiten, in eine Zeit, in der etwa Straßburg noch seinen lateinischen Namen Argentorato, wie auch die Inschrift auf dem Sockel des VaterRhein-Brunnens lautet, trug. Obwohl George, „je älter er wurde“, die Plastik der Malerei vorzog, wie Morwitz zu berichten weiß (EM I, 326), folgen auf die sechs Rhein-Gedichte vier Bildgedichte und nur ein Skulpturengedicht, das einen namentlich nicht genannten Bildhauer zum Thema hat. Der Kanon der bildenden Kunst im George-Kreis ist fast deckungsgleich mit den Künstlern und Kunstwerken, die George in seinen Bildgedichten in den Hymnen10 und im Siebenten Ring bedichtete. Kolmar: Grünewald trägt den Künstler im Titel, um den es geht. Kölnische Madonna thematisiert die Madonna mit der Erbsenblüte von einem Kölner Meister, im Bild: Einer der 3 Könige versteckt sich der junge König aus dem Liesborner Altar, der Nordische Meister ist eventuell Rembrandt, von dem König und Harfner stammt, sprich David spielt die Harfe vor Saul, und in Bamberg befindet sich der Reiter. Formal verbindet die vierzeiligen Gedichte neben dem Gegenstand der Kreuzreim und der fünfhebige Jambus.11 Das Bildgedicht Kolmar: Grünewald bildet den Übergang von den Bildgedichten zu den Tafeln, die Städte und historische Persönlichkeiten zum Thema haben. Das Gedicht trägt bereits den Ortsnamen im Titel, wo sich das Werk des Künstlers befindet. So auch Heisterbach: Der Mönch, Winkel: Grab der Günderode, Aachen: Graböffner, Bozen: Erwins Schatten, Trausnitz: Konradins Heimat. All diese Gedichte eint der gleich gebaute Titel: Ortschaft, Kolon, nähere Bestimmung, wer oder was ist der Protagonist der Tafel. Mal ist es der Zisterzienser Caesarius von Heisterbach, mal Caroline von Günderode, deren Grab sich in Winkel befindet und deren 100. Todestag sich jährte, mal sind es die Graböffner, die in Aachen nach dem Grab Karls des Großen suchen, mal ist es mit Erwin eine Figur aus Leopold von Andrians Erzählung Der Garten der Erkenntnis, der sich zwischen seinem 14. und 17. Lebensjahr in Bozen aufhielt und mal ist es der letzte Hohenstaufen-Kaiser Konradin, der auf der Burg Wolfstein in Trausnitz geboren wurde. Dazwischen steht etwa das Haus in Bonn, das über die Rede Beethovens aus dem Jenseits die Brücke nach Kolmar zu Grünewald schlägt. Auch hier ein

    9 Bereits Joachim Mundt wies auf die Skulptur Adolf von Hildebrands hin. Joachim Mundt: Die Landschafts- und Städte-Tafeln und die Jahrhundert-Sprüche in Stefan Georges „Siebentem Ring“. Eine politisch-historische Deutung. In: CP 39 (1990), H. 193, S. 5–91, hier S. 11. 10 Gemeint sind die beiden Bildgedichte Der Infant und Ein Angelico im Zyklus Bilder (SW II, 26  f.). 11 Eine detaillierte Kommentierung dieser Gedichtgruppe bietet die folgende Interpretation.

    472 

     Anika Meier

    Entrückter. Beethoven macht sich daran, von seinen „oberen sternen“ aus ein Lied über seine Kunst, die Musik, zu singen. Nur mittels Musik sei die Erfahrung von Transzendenz möglich, der „traum bei ewigen sternen“ (SW VI/VII, 177). Einige der Städte-Tafeln sind auf oder nach Georges Reisen entstanden, etwa in Hildesheim, wo er mit Friedrich Gundolf im Juni 1903 einige Tage verbrachte oder in Quedlinburg, von wo aus er zusammen mit Ernst Gundolf 1906 eine Postkarte an Melchior Lechter sandte. Zwischen all den Vierzeilern findet sich das zweistrophige rhetorische Skulpturengedicht Bamberg, das nicht mit einer Reise Georges in Verbindung gebracht werden kann. Und dies ist auch die einzige der 70 Tafeln, der die Forschung größere Aufmerksamkeit schenkte.12 Die ebenfalls zweistrophige Tafel Die Schwesterstädte greift die Konfrontation von Kunst und Macht auf. Weimar als kulturelles Zentrum der Klassik wird zum Sitz „[v]on Göttern Helden die in der entlegnen  / Landstadt für eine weil den thron erhuben“. Den Dichterfürsten wird in der zweiten Strophe der Kaiser als ebenbürtig gegenübergestellt.13 Er thront ebenfalls, droht „herab vom bergeszacken“ vor Jena, von wo aus er die Schlacht 1806 beobachtet haben soll. Mit einem seiner letzten Siege fügte Napoleon Deutschland eine große Niederlage zu („Die schmach die von dir kam“), dennoch feiert der Dichter diesen Sieg über die Preußen. Napoleons „fuss im nacken / War mehr uns wert als manche matten siege“. Das Konzept der Erinnerungsorte aus der Fünf-Stadien-Lehre der antiken Rhetorik überträgt Jan Andres auf die Tafeln. Die ars memorativa gilt in der Rhetorik als fester Bestandteil individueller und kollektiver Identität, deren Grundlage Erinnertes ist. Erinnerungsorte, so Andres, „konservieren die bedrohte Vergangenheit und verbinden das mit der Gegenwartskritik“ in der Hoffnung auf eine gelingende Zukunft. Ziel der Erinnerungsorte sei, ein Gedächtnis zu ermöglichen, das zukunftsfähig ist.14

    Noch einmal: Zeitgedichte Den dritten Teil des Zyklus der Tafeln leiten die sechs Jahrhundertsprüche ein. Der erste Jahrhundertspruch ist noch als solcher betitelt, die weiteren fünf Tafeln sind durchnummeriert: Ein Zweiter, Ein Dritter und Ein Sechster, dazwischen werden Ein Vierter und Ein Fünfter nach einem Kolon näher mit Schlacht und Östliche Wirren bezeichnet. George greift den Duktus des den Siebenten Ring einleitenden Zeitgedichts auf. Er richtet sich erneut an seine Zeitgenossen, tut kund, was er beobachtet haben will, urteilt und lässt sie wieder wissen, dass sie fehlten. „Ihr fehltet“ (SW VI/VII, 6) lauteten seine Worte im Zeitgedicht, sie hätten seine Dichtung falsch beurteilt und 12 Siehe dazu die folgende Interpretation. 13 Ebd., S. 14  f. 14 Jan Andres: Stefan Georges Erinnerungsorte (wie Anm. 7), S. 181.

    Der Siebente Ring · Tafeln 

    

     473

    ihn damit zu Unrecht verurteilt. Jetzt ist offenbar der Dichter mit einer Gegenrede an der Reihe. Immer wieder geht es um den Einen, den Bedeutenden, der sieht, was alle anderen nicht sehen. Während „Zehntausend sterben ohne klang […] / Hält einer nur das maass. In jeder ewe / Ist nur ein gott und einer nur sein künder“ (SW VI/ VII, 182). Im dritten Jahrhundertspruch wird bereits das Kommen des einen Mannes vorhergesagt, der eine nicht näher benannte Tat verrichten wird, auf die alle hoffen. „Der mann! die tat! so lechzen volk und hoher rat“. Jahre später, im Gedicht Der Dichter in Zeiten der Wirren im Neuen Reich prophezeit George erneut als poeta vates einen Führer, der für Zucht und Ordnung sorgen werde. Dieser „Mann“ werde aus den Reihen einer Elite, einem „jung[en] geschlecht“, hervorgehen, „das wahre sinnbild auf das völkische banner“ heften und das „Neue Reich“ pflanzen (SW IX, 27–30). Auch hier wird darauf hingewiesen, dass dieser Mann nicht aus den eigenen Reihen hervorgehen wird. Hofft nicht auf einen der an euren tischen ass! Vielleicht wer jahrelang unter euren mördern sass · In euren zellen schlief: steht auf und tut die tat. (SW VI /VII, 182)

    Zwölf Jahre später war es nicht schwer, die Prophetie des poeta vates auf die Tagespolitik zu übertragen und den 1921 noch namenlosen Mann mit dem neuen Reichskanzler Adolf Hitler zu identifizieren. Im Dritten Reich erfüllte sich für nicht wenige die Prophezeiung des Neuen Reichs. Das ‚Werben‘ (Klaus Mann) um George begann. Und noch etwas anderes, so zumindest Morwitz (EM I, 333) soll George bereits 1907 im vierten Jahrhundertspruch Eine Schlacht vorhergesagt haben: den Ersten Weltkrieg. Dort heißt es: Ich sah von fern getümmel einer schlacht So wie sie bald in unsren ebnen kracht. Ich sah die kleine schar ums banner stehn … Und alle andren haben nichts gesehn. (SW VI/VII, 183)

    Vom politischen Tagesgeschehen in den Jahrhundertsprüchen geht es in den zwei Tafeln kurz vor Abschluss des Bandes um das Tagesgeschehen im George-Kreis. Die beiden Gedichte Maskenzug und Feste (SW VI/VII, 185) handeln von den Münchner Festen im Jahr 1903 und 1904 im Hause Wolfskehl in München. George trat als Dante auf, Wolfskehl als Homer und Maximilian Kronberger als Florentiner Edelknabe. Den Abschluss des Bandes bildet ein Zyklus im Zyklus aus wiederum sechs Gedichten à vier Versen, die bis auf die erste der Tafeln mit Ein Gleiches, in einigen Fällen mit Titelzusatz wie Frage, Kehraus oder An Waclaw überschrieben sind. Zum Abschluss des VII. Rings ist das erste dieser vermeintlich gleichen Gedichte betitelt und weist damit auf die Funktion dieses Zyklus hin, den Groß-Zyklus zu schließen. Zugleich verweist das erste abschließende Gedicht zurück an den Anfang des Bandes.

    474 

     Anika Meier

    Auch hier wie im Zeitgedicht Aufruhr und Zerstörung sowie ein möglicher Neubeginn, der dadurch erst möglich wurde. Wogen brachen aus einer tosenden see. Wracke und leichen schlang eine grollende see .. Später erglitzerten unter dem sternengold Längs den gestaden korallen und perlen und gold. (SW VI/VII, 186)

    Diese sich gleichenden und sich doch voneinander unterscheidenden Gedichte verlangen vom Leser, dass er im Unterschiedenen das Gleiche erkennt und umgekehrt, wie George es auch im ersten Zeitgedicht mit Blick auf sein Œuvre tat.15 „Ihr sehet wechsel · doch ich tat das gleiche“ (SW VI /VII, 7). Thema ist hier wie dort einmal mehr das eigene dichterische Werk, die Sicht der Rezipienten, die Aufgabe des Dichters in seiner Zeit. Ganz ohne Einflüsse sei dieses Werk entstanden: Ganz wuchs empor in vaterländischer brache Dies werk und ging der reife zu ganz ohne Fernluft … Was früher klang im tempeltone Deucht nun den menschen mehr in ihrer sprache. (SW VI /VII, 187)

    Der französische Symbolismus hat keinen Einfluss mehr auf sein Werk, stellt George klar. Mallarmé und Baudelaire hat er hinter sich gelassen. Mit dem Wort als Ausgangspunkt und der poésie pure als Ziel gelangten Mallarmé und George an einen Scheideweg, der den einen über die Isolation des Wortes ins Nichts führte und den anderen später über die Ideologisierung des Wortes zum Vorläufer für das „choreographische Arrangement des Veitstanzes“ (Benjamin) werden ließ. In Georges Dichtung traten ab dem Siebenten Ring die Ideen schließlich doch neben die Worte, ganz entgegen Paul Valérys Erinnerung im Namen Mallarmés, Dichtung werde mit Worten, nicht mit Ideen gemacht. Diese Verirrung ist reichlich mit Kritik bedacht worden, sodass es hier genügen soll, stellvertretend Adorno sprechen zu lassen, der seine Kritik zugleich mit einer ‚Rettung‘ Georges (Benjamin) verband. Er gibt in seinem Aufsatz über den Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und George zu bedenken, dass der Dichter „kaum ein schlackenloses Gedicht hinterlassen“16 habe. Groß seien nur die Gedichte, in denen es George um die Errettung der Idee einer reinen Sprache gehe. Das Interesse an der reinen Sprache wird ab dem Siebenten Ring allerdings von der Umsetzung der Idee des neuen Reiches überlagert, der Prophet löst den ‚Reformator‘ (Benjamin) ab.

    15 Steffen Martus: Stefan Georges Poetik des Endens. ‚Zum Abschluß des VII. Rings‘. In: GJb 6 (2006/ 2007), S. 1–30, hier S. 21. 16 Theodor W. Adorno: George. In: Ders.: Noten zur Literatur IV. Frankfurt/M. 1974, S. 48.

    Der Siebente Ring · Tafeln 

    

     475

    Im Gegensatz zu Mallarmé weist George in seinem Spätwerk die Instanz des Autors nicht zurück, der Autor ist in seiner Dichtung als Sprecher präsent. Während Mallarmé bis zu seinem letzten Werk Un coup de dés jamais n’abolira le hasard die Kommunikationsstruktur des Textes dekonstruiert und zuletzt sogar die gebundene Verssprache aufgibt, zeichnet den Siebenten Ring und später den Stern des Bundes die Dialogstruktur aus. Das letzte Gedicht des Bandes ist Ausblick und Rückblick zugleich, auf die Verwerfung folgt der Glaube an einen Neubeginn. Es lautet: Da mich noch rührt der spruch der abschieds-trünke Ihr all! und eure hand noch wärmt: wie dünke Ich heut mich leicht wie nie · vor freund gefeit Und feind · zu jeder neuen Fahrt bereit. (SW VI /VII, 187)

    Wie die Einzelgedichte zu Zyklen geordnet werden, so werden die Einzelwerke in das Gesamtwerk eingeordnet. Steffen Martus hat die These formuliert, es gehe George um die Organisation von Aufmerksamkeit, über die er beim potentiellen Leser einen Umgang mit dem Text provozieren wolle, der auf die dauerhafte Bewahrung des Werks abziele. Wenn er die äußeren Umstände nicht kontrollieren könne und damit den Kontext, in dem sein Werk damals stand und jetzt steht, stellt der Dichter diesen Bezug selbst her, um aktuell zu bleiben. Die Antwort lautet Selbstkontextualisierung. „Georges Werkpolitik zielt darauf, das Werk zum privilegierten Kontext seiner selbst zu machen.“17 Diese Einheit des Werkes wird durch den Bau eines Formganzen sichtbar gemacht.

    Interpretationen zu den Bild- und Skulpturengedichten (SW VI/VII, 176–177 und 180) Von Thomas Mann ist der Satz überliefert, er sei ja eigentlich kein Augenmensch, sondern ein in die Literatur versetzter Musiker.1 Von George ist eine Aussage überliefert, die ebenso häufig zitiert wird wie der Ausspruch Thomas Manns, wenn es um den Dichter und die bildende Kunst geht. Wenn er nicht eines Tages sein erstes

    17 Steffen Martus: Stefan Georges Poetik des Endens (wie Anm. 15), S. 4. 1 Thomas Mann: Briefe 1937–1947. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt/M. 1963, S. 574.

    476 

     Anika Meier

    Gedicht geschrieben hätte, wäre er vielleicht Architekt oder Bildhauer geworden.2 1919 hat er das gesagt, 30 Jahre nach seinen dichterischen Anfängen, als Berufsalternativen längst keine Rolle mehr für ihn spielten. Für George ist die Kunst des Bauens und Bildens im Dreidimensionalen mit seiner dichterischen Tätigkeit vergleichbar. Wie sein Schriftstellerkollege steuert er damit die Rezeption seines Werks in eine Richtung, allerdings in die entgegengesetzte: in die der bildenden Kunst. Das Thema ,Stefan George und die bildende Kunst‘ ist ein weites Feld. Bild- und Skulpturengedichte finden sich in den Hymnen, im Teppich des Lebens und konzentriert in den Tafeln im Siebenten Ring, Bildbeschreibungen haben Eingang gefunden in Georges Sammlung Tage und Taten, in den Zyklus Bilder. In den Tafeln des Siebenten Rings finden sich unter den insgesamt 70 Gedichten sechs, die Werke der bildenden Kunst oder einen Künstler selbst thematisieren. Fünf folgen direkt aufeinander, während das Gedicht Bamberg dem Titel entsprechend den Tafeln über Orte samt historischen Persönlichkeiten und Kulturgütern zugeordnet ist. Im Gegensatz zu Stefan Georges in seiner Dichtung sonst kunsthistorisch breiter gelagertem Themenspektrum beschränkt er sich in den Tafeln fast ausschließlich auf deutsche und nordische Kunst und hier wiederum auf eine Epoche. Die Kunst des deutschen Mittelalters werde in den Tafeln wie in einem Museum behütet und gefeiert, so Bernhard Böschenstein.3 Sei es die Kölnische Madonna, die Hoffnung auf eine neue Blüte der deutschen Kunst machen soll, sei es das Bild: Einer der 3 Könige mit dem jungen König des Liesborner Altars, sei es der den Glauben stärkende und Trost spendende Grünewald des Isenheimer Altars in Kolmar oder der Reiter in Bamberg, den der Dom als beispielhaftes Denkmal „herab vom ross / Streitbar und stolz“ (SW VI/VII, 180) zeigt. Die Bild- und Skulpturengedichte in den Tafeln sind nicht klassisch deskriptiv. Es wird nicht einfach ein Werk beschrieben, das dann vor dem inneren Auge des Lesers im Sinne der Ekphrasis erscheint. George setzt die Präsenz der Kunstwerke voraus, sofern ein bestimmtes Gegenstand ist. Sie sind dialogisch und zum Teil assoziativ mit persönlichen Erlebnissen verknüpft. Da ist die Kölnische Madonna, an die sich der Sprecher im gleichnamigen Gedicht wendet (SW  VI/VII, 176). Als „Schirmherrin“ spricht er sie an, sie habe ihn oft am Tor empfangen, wenn er von Westen nach Hause gekommen sei. Er bekommt eine Antwort: „›Einst bracht ein volk so klar wie tief hervor / Mich lächelnde Madonna mit der Wicke.‹“ Madonna mit der Wicke, so nannte George das Gemälde des Meisters Wilhelm mit dem Titel Madonna mit der Erbsenblüte. George beschreibt das Werk nicht, wie er es zuvor in einer sich im Nachlass befindlichen Notiz tat, die der Reproduktion des Bildes beiliegt. „Madonna mit 2 Zit. nach Arnold Rönnebeck: Zusammenstellung des Wesentlichen aus dem Gespräch mit Stefan George, am 30. Oktober 1919 (Typoskript StGA). Dieses Zitat findet sich auch bei Wolters, bei dem sich Curt Stoeving an eine ähnliche Aussage Georges erinnert. BG 121. 3 Bernhard Böschenstein: Georges widersprüchliche Mittelalter-Bilder und sein Traum der Zukunft. In: „Ist mir getroumet mîn leben?“ Vom Träumen und vom Anderssein. Festschrift für Karl-Ernst Geith zum 65. Geburtstag. Hg. v. André Schnyder. Göppingen 1998, S. 207–213, hier S. 212.

    Der Siebente Ring · Tafeln 

    

     477

    der bohnenblüte. Zartheit würde schönheit den derzeitigen Italienern ebenbürtig. leichte gesichtsproportionenveränderung verschwiegen / / farben der bohnenblüte über dem ganzen bild, das helle braun des kleides, das kaum merklich im dunkelgrünen von überwurf und kopfhülle“ (SW VI/VII, 231). Er verwandelte diese Notiz nicht in ein deskriptives Bildgedicht. Die Dargestellte steht pars pro toto für die Kunst der Hochgotik, als deren Stellvertreter darf sie auch dem gram dreinblickenden Heimkehrer antworten. Sein Blick ist vielleicht ein Hinweis auf seine Einschätzung der gegenwärtigen Kunstlandschaft in seiner Heimat, denn schließlich lässt ihn die „lächelnde Madonna“ hoffnungsvoll wissen, dass die deutsche Kunst einst „klar“ und „tief“ war, eine Wiederholung scheint für sie nicht ausgeschlossen. Während dem Vierzeiler Kölnische Madonna noch Hinweise zum Kunstwerk, von dem die Rede ist, eingeschrieben sind, wird im Folgenden darauf verzichtet. Bild: Einer der 3  Könige, Nordischer Meister, Nordischer Bildner, die Titel sind unspezifisch; welches Gemälde, welche Künstler angesprochen sind, ist ohne Hintergrundwissen kaum zu erahnen. Eine Gattungsbezeichnung fällt, es handelt sich also um ein Gemälde, das entweder die heiligen drei Könige oder nur einen von ihnen zeigt. Wieder einmal muss Ernst Morwitz vertraut werden. Er ordnet das Gedicht einem heute im Museum in Münster befindlichen Gemälde des Liesborner Meisters zu. Friedrich Wolters habe George damals darauf aufmerksam gemacht, allerdings befand es sich da noch in Privatbesitz (EM I, 325). Die Sprechersituation lässt sich jedoch auch ohne die Kenntnis des Werkes klären. Die Überschrift liest sich wie eine Regieanweisung. Bild: Einer der 3 Könige, es folgt direkte Rede: Dir · neuer Heiland! bracht ich meinen zins. Nun lass mich wieder nach dem heimatplatze! Noch bin ich jung und lebe frohen sinns Der süssen krone und dem schönen schatze. (SW VI/VII, 176)

    Der jüngste der heiligen drei Könige richtet sich während der Anbetung an den neuen Heiland, sagt ihm, dass er seine Schuldigkeit getan hat und bittet nun darum, sich wieder weltlichen Dingen, der „süssen krone und dem schönen schatze“, zuwenden zu dürfen. Die häufige Verwendung von s, z, und sch („zins“, „sinns“, „süss“, „schönen schatze“) lässt die Rede des Königs wie gezischt klingen, ganz so, als wende er sich mit seiner Bitte nicht selbstbewusst und mit voller Stimme an den Angebeteten. In den nächsten Vierzeilern tritt der Sprecher umso selbstbewusster auf. Gleich zweimal hintereinander richtet er sich an nordische Künstler. Zuerst ist der Nordische Meister an der Reihe:

    478 

     Anika Meier

    Wo dein geheimnis lag und dein gebreste War unsrer nächte quälender vertreib: Du malst in deine himmel ein die reste Von glanz um der gefallnen engel leib. (SW VI/VII, 176)

    Bei dem adressierten Meister handelt es sich um einen Maler. Die Tafel ist ein rhetorisches Frage- und Antwort-Spiel. Nächtelang quälte man sich mit der Frage, was sein Geheimnis und sicher auch das seiner Kunst ist. Eine Antwort hat man auch gefunden. Aus himmlischer Verklärung wird in seinen Werken irdisches Elend, dem der sogenannte Meister, so die Kritik, noch Glanz abzugewinnen versucht.4 Der Kreuzreim „gebreste / reste“ macht deutlich, dass gerade dieser Glanz zugleich auch die Schwäche des Malers ist. Gemeint ist Rembrandt, da ist sich Morwitz sicher (EM I, 326). Das Gedicht kritisiert denn auch, wofür ebendieser Meister sonst gerühmt wird: die HellDunkel-Malerei, also die Reste von Licht, die aus dem Dunkel seiner Gemälde leuchten. Nicht besser kommt der Nordische Bildner weg. Ihm werden direkt Handlungsanweisungen gegeben. Im Befehlston heißt es: „Noch diese hüllen wirf! noch diese ketten / Zerbrich! die hemmen bei vervollkommnung ..“ Offenbar ist er diesem Ratschlag unumwunden nachgekommen, denn schon geht es fast aufatmend weiter: „Nun klebst du nirgends mehr am schweren letten.“ Der Archaismus „letten“ für Tonerde macht erst den Kreuzreim zu „ketten“ möglich und wird eingesetzt, um hervorzuheben, dass der Bildner zu sehr am Alten haftet. Die letzte Handlungsanweisung gibt wieder Aufschluss, woran es seiner Kunst bisher mangelte. Ins freie Licht solle er sich wagen zu springen. Offenbar war er bisher nicht bereit für Wagnis, Spontanität und Risikobereitschaft. Und dieses eine Mal ist sich nicht einmal Morwitz sicher, um wen es sich bei dem hier Belehrten handelt. Er vermutet, dass es „wahrscheinlich“ (ebd.) um Stephan Sinding geht. Der nächste Vierzeiler trägt einen Ort und einen Künstlernamen im Titel. Kolmar: Grünewald (SW VI/VII, 177). Schon die Überschrift ruft ein Werk ins Gedächtnis des Lesers. In Kolmar befindet sich der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald, der ursprünglich für die Kapelle des Spitals des Antoniterklosters in Isenheim zur Heilung der vom Antoniusfeuer befallenen Pilger auf dem Weg nach Rom oder Santiago de Compostela bestimmt war. Nicht lange bevor Friedrich Gundolf sich im Februar 1906 von Freiburg aus auf die Reise nach Kolmar ins Museum Unterlinden machte, von wo aus er George am 2. Februar per Postkarte Grüße „aus dieser finstren unheimlichen Stadt mit dem unheimlichsten unsrer Meister M. G.“ (G/G 172) sendete, war Joris-Karl Huysmans kunsthistorische Trilogie Trois Primitifs erschienen.5 Darin war ein einlei4 JA 236–275, hier 261. Bei Aler sind die Hintergründe zu der Diskussion zwischen George und Albert Verwey zu finden, die diesem Gedicht vorausging und hier sicherlich auch angesprochen ist. 5 Achim Aurnhammer: Joris Karl Huysmans’ ‚Supranaturalismus‘ im Zeichen Grünewalds und seine

    

    Der Siebente Ring · Tafeln 

     479

    tender Essay, in dem der Verfasser der Bibel des europäischen Ästhetizismus den Isenheimer Altar und andere spätgotische Werke beschrieb. George musste derweil nicht einmal ein Werk des Franzosen selbst zur Hand nehmen. Denn schon 1895 war in der Kunst- und Literaturzeitschrift Pan als Auszug aus Huysmans vier Jahre zuvor erschienenem Roman Là-Bas die deutsche Übersetzung seiner Beschreibung der Tauberbischofsheimer Kreuzigung von Grünewald erschienen. Ob George diese tatsächlich gelesen hat, wie Aurnhammer aufgrund der „scharfe[n] Gegenüberstellung“ beider Autoren von Kreuzigung und Verklärung, der Betonung des Physischen in der Kreuzigung und des Metaphysischen in der Transfiguration vermutet, lässt sich nicht mit letzter Gewissheit sagen.6 Sicher ist, dass George zumindest von Huysmans Publikation gehört hat. Im Juli 1895 informierte Albert Saint-Paul ihn darüber, dass dem französischen Pan neuerdings ein Supplement, in Aufmachung und Erscheinung der Berliner Zeitschrift sehr ähnlich, beiliegt. Einen kurzen Blick in das Inhaltsverzeichnis gewährt er ihm auch. Verse von Régnier fänden sich darin, die Namen von Nietzsche, Maeterlinck und Huysmans sowie ein Stich der Kreuzigung von Grünewald.7 Da er George nicht den gesamten Inhalt der Zeitschrift brieflich mitteilt, sondern eine Auswahl getroffen hat, setzt er bei ihm wohl ein Interesse für die erwähnten Autoren und den Künstler voraus. Die Publikation im Pan markiere den Beginn der Entdeckung Grünewalds durch die Künstler und Kunsttheoretiker der Moderne, so Katharina Heinemann in ihrer Studie über dessen Rezeption.8 Doch erst mit der Gründung der Künstlervereinigung Brücke im Jahr 1905 setzte in Deutschland eine erste Begeisterungswelle für die Kunst Grünewalds ein. Max Beckmann und August Macke pilgerten nach Colmar, um sich den Isenheimer Altar anzusehen, Paul Klee hat die Tauberbischofsheimer Kreuzigung in Karlsruhe gesehen. In ihrem Bestreben, sich vom klassizistischen Schönheitsideal abzuwenden, fanden sie bei Grünewald, wonach sie suchten: Gefühlsintensität, Ausdruck des Inneren durch Farbe, Form und Hell-Dunkel-Kontraste und eine bis dato unerreichte Gestensprache. Grünewald wurde zwar mit einem Gedicht bedacht, in der Erinnerungsliteratur des Kreises aber wird er fast gar nicht erwähnt. In einem Gespräch kommen George und Edith Landmann auch auf ihn zu sprechen, was schon fast zu viel gesagt ist. Sie notierte: „Über Kunst: dass er liebe, wo was drin steckt. Tizian, Raffael haben

    deutsche Rezeption. In: Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Beiträge des Heidelberger Colloquiums vom 12. bis 16. September 2006. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Roman Luckscheiter. Freiburg i. Br., Berlin u. Wien 2008, S. 17–42, hier S. 35  f. 6 Ebd., S. 36. 7 Albert Saint-Paul an George, 13. 7. 1895. StGA George III, 1081. Im Juni war die zweite Nummer des ersten Jahrgangs erschienen. 8 Katharina Heinemann: Entdeckung und Vereinnahmung. Zur Grünewald-Rezeption in Deutschland bis 1945. In: Grünewald in der Moderne. Die Rezeption Grünewalds im 20. Jahrhundert. Hg. v. Brigitte Schad u. Thomas Ratzka. Köln 2003, S. 8–17, hier S. 9.

    480 

     Anika Meier

    das nicht immer, aber Giorgione; Bellini ist schon an der Grenze, wo es süsslich zu werden beginnt. Und es kommt auch drauf an, was drin steckt. Dürer, Grünewald, nein, das geht nicht.“ (EL 100) Für sein Gedicht wählt er das Werk eines Malers, der mit seinem expressiven Gestus, den überdrehten Gliedern und der ausgestellten Hässlichkeit so ganz und gar nicht seinem Geschmack entsprochen haben dürfte.9 Es deutet denn auch nichts außer der intermedialen Referenz in der Überschrift der Tafel darauf hin, dass es sich um ein Bildgedicht handelt. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem religiösen Sujet und der theologischen Bedeutung der Kreuzigung. Der Vierzeiler thematisiert die Passion Christi, am Ende steht der Kreuzestod, der die Erlösung der Menschheit ermöglicht. Ein entrückter Jesus hängt am Kreuz, an den sich der Sprecher des Gedichts richtet: Kolmar: Grünewald Dein wunder leib erträgt der henker klaue · Der ungeheuer huf und ekle härung Sein lebtag · dass er für ein nu sich schaue Im rosigen lächeln siegender verklärung. (SW VI/VII, 177)

    Auf der Mitteltafel der ersten Schauseite hängt der hier metonymisch („Dein wunder leib“) Angesprochene am Kreuz.10 In der dritten Zeile springt das Gedicht von der Kreuzigungstafel zur Auferstehung auf dem rechten Seitenflügel der zweiten Schauseite des Wandelalters und vom Diesseits ins Jenseits. Das physische Leid überwindend erhebt sich der Auferstandene im Gedicht und tatsächlich wörtlich genommen „im rosigen lächeln“ in der Gloriole der Altartafel. Für diesen Moment der Transfiguration habe sein irdischer Leib das Leid ertragen, ist der Tafel zu entnehmen. Einen zweiten leidenden Leib zeigt der rechte Flügel der dritten Schauseite, der, so das Gedicht, „[d]er ungeheuer huf und ekle härung“ ertragen muss. Angesprochen ist der Protagonist des Gemäldes Versuchung des heiligen Antonius, der,11 obwohl der Titel Trugbilder des Teufels verspricht, von Dämonen gepeinigt wird. Sie ziehen an seinen Haaren, schlagen auf ihn ein und trampeln auf ihm herum. Die Anfangsworte „Dein wunder leib“ lassen an das Vaterunser denken: „Dein Wille geschehe, wie im

    9 Karl-Josef Partsch überliefert, dass George Grünewald „freilich nicht“ schätzte. Ute Oelmann: Karl Josef Partsch. Politik und Kunstgeschichte im George-Kreis. In: GJb 3 (2000/2001), S. 176–191, hier S. 188. 10 Achim Aurnhammer: Huysmans’ Supranaturalismus (wie Anm. 5), S. 35. 11 Während Achim Aurnhammer (wie Anm. 5) überliest, dass George einen zweiten Protagonisten einführt, konstatiert Böschenstein (wie Anm. 3), S. 212, dass er zwei Altartafeln zu einem Bild vereinigt. Auch Peter Wolfgang Guenther (Stefan George und die bildenden Künste. Diss. University of Texas at Austin 1968, S. 40) zählt drei Tafeln im Gedicht, die er als in „eine Zusammenschau gepresst“ bezeichnet, jedoch identifiziert er als Gegenstand der ersten Zeile nicht die Kreuzigung, sondern die Grablegung der Predella. Einen Grund hierfür nennt er nicht.

    Der Siebente Ring · Tafeln 

    

     481

    Himmel so auf Erden […] und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“ Das ist auch die Aussage des Gedichts. Der Gekreuzigte und der Heilige stehen pars pro toto für den Willen Gottes. Sie sollen Trost spenden, indem sie zugleich die Ewigkeit personifizieren. Mit jeder neuen Zeile blendet das Gedicht eine neue Tafel des Altars ein. Dessen Gehalt wird in diesem einen vierzeiligen Satz erfasst, ohne diesen im Detail zu beschreiben. Auf all die apostrophischen, zum Teil panegyrischen Bildgedichte folgt in der Reihe der Städte-Tafeln ein Skulpturengedicht, weshalb im Titel nur der Name der Stadt Bamberg fällt (SW VI/VII, 180). Es besteht aus zwei jeweils vierzeiligen Strophen. Im Bamberger Dom unterhalten sich der Bamberger Reiter und der Arzt aus dem Relief Heilung des Kaisers von seinem Steinleiden12 von Tilman Riemenschneider miteinander. Eigentlich wäre der Arzt gar nicht da. So will es zumindest die Legende, der zufolge der Hl. Benedikt Heinrich II. von seinem Blasenleiden heilte. Das Relief zeigt den Arzt, wie er dem bettlägrigen Kaiser und dem Papst an dessen Seite den Rücken zukehrt, melancholisch stützt er seinen Kopf mit dem linken Arm ab, seine Augen sind geschlossen. Dieser Arzt, so die Lesart des Gedichts von Bock und Fricker,13 richtet sein Wort in der ersten Strophe an den Bamberger Reiter. Dessen Identität ist nicht geklärt, zwei Deutungsmöglichkeiten stehen mit Stephan  I. von Ungarn und  – der historischen Leitfigur des George-Kreises – Friedrich II. von Hohenstaufen im Raum. Auch George legt sich nicht fest. Den Arzt lässt er sagen: Bamberg Du Fremdester brichst doch als echter spross Zur guten kehr aus deines volkes flanke. Zeigt dieser dom dich nicht: herab vom ross Streitbar und stolz als königlicher Franke!

    Ein Superlativ in der Anrede unterstreicht, dass die Identität des Reiters ungeklärt ist. Gewiss ist, er ist der „echte spross“, der im Dom als „königlicher Franke“ hoch zu Ross sitzt. Von dort oben herab antwortet er dem Arzt: Dann bist du leibhaft in der kemenat Gemeisselt – nicht mehr Waibling oder Welfe – Nur stiller künstler der sein bestes tat · Versonnen wartend bis der himmel helfe.

    12 Das Relief ist für das Grab des 1146 heiliggesprochenen Kaisers Heinrich II. (gest. 1024) und der 1200 ebenfalls heiliggesprochenen Kaiserin Kunigunde (gest. 1033). 13 Claus Victor Bock u. Christophe Fricker: Gespräch in Stein: Die Begegnung von Kunst und Macht in Stefan Georges Gedicht ‚Bamberg‘. In: Publications of the English Goethe Society 79 (2010), 1, S. 5–17, hier S. 12.

    482 

     Anika Meier

    Die Worte werden von Kunstwerk zu Kunstwerk gewechselt, dieses Fiktionsspiel wird deutlich formuliert. Den einen „[z]eigt dieser dom […] herab vom ross“, der andere ist „leibhaft in der kemenat / Gemeisselt“. Aus dem Arzt14 des Reliefs wird im Gedicht ein „stiller künstler der sein bestes tat“, aber dem Kaiser nicht helfen konnte. Stattdessen wartete er auf Hilfe, die in Gestalt des Hl.  Benedikt kam. Ein Künstler und ein Kaiser kommunizieren in dem Wissen miteinander, dass sie selbst Kunstwerke sind. Sie sprechen miteinander über das, was sie geleistet haben oder eben gerade nicht leisten konnten, wie sie dargestellt sind und sie respektieren einander. Es findet ein Gespräch in Stein über die „Bedeutung von Hoheit und Kunst“ statt, zu diesem Schluss kommen Bock und Fricker. Macht und Kunst werden miteinander konfrontiert, der Mächtige akzeptiert und achtet den Künstler und sein Werk.15 George entwirft in diesen Bild- und Skulpturengedichten weder eine Kunsttheorie, noch beschreibt er einfach nur ein Kunstwerk. Er bindet die Tafeln über Gemälde, Skulpturen, Maler und Bildhauer in seine kulturelle Heroenwelt ein, zugleich übt er Kunstkritik. Der Dichter geht an Werke der bildenden Kunst mit einer gewissen Erwartungshaltung heran, wie die beiden Vierzeiler Nordischer Meister und Nordischer Bildner zeigen, gleichzeitig dienen ihm Kunstwerke als Projektionsfläche für religiöse und machtpolitische Fragen, wie die Gedichte Kolmar: Grünewald und Bamberg.

    14 Ob es sich im Relief um einen Arzt oder einen Kämmerer handelt, diskutieren Justus Bier (Riemenschneider’s Tomb of Emperor Henry and Empress Cunegund, in: The Art Bulletin 29  [1947], S. 95–117, hier S. 100) und Claus Victor Bock/Christophe Fricker (wie Anm. 13), S. 15  f. Bock/Fricker plädieren dafür, dass ein Arzt zugegen ist, da George ihn als „künstler“ und damit gewissermaßen als Kollegen vom Fach anerkennt. Er stelle sich in eine Tradition mit Riemenschneider, der sich in dieser Figur selbst dargestellt haben soll. Mit ihrer These werden Bock/Fricker richtig liegen, George wird im Arzt den Humanisten gesehen haben. 15 Ebd., S. 16  f.

    Der Stern des Bundes

    Bruno Pieger

    Eingang

    Die erste Triade des Eingangs gibt die an einer konkreten Figur erkannte Gottes­ erscheinung wieder. Die zweite Triade taucht hingegen in das Experiment kosmischer Welterfahrung ein, das nach der in der ersten Triade geschilderten Epiphanie als defizitär erkannt wird. Doch liegt in der Münchner Kosmik insofern ein Recht, als sie von sich aus nach Überwindung zugunsten der leibhaften Gegenwart einer göttlichen Gestalt verlangte. Sie bot die Voraussetzung, von der sich die gestalthafte Gotteserfahrung abstoßen und die sie zugleich in sich verwinden konnte. Nach dieser Erinnerung des Gewesenen ist in der dritten Triade der Weg frei, sich der neuen, durch die Gottes­ erscheinung erreichten Wirklichkeitsstufe hinzugeben mit den Gesetzmäßigkeiten, durch die sie hervortreten konnte, mit der Neuaneignung der Überlieferung und einer Phänomenologie, wie der erschienene Gott als Gegebenheit da ist. Dabei steuert die dritte Triade auf die damit verbundene Frage zu: „Wer ist dein Gott?“ (SW VIII, 16) – ein deutlicher Hinweis, dass sich die Gotteserscheinung weder zu einem Bild oder zu einem Glaubensinhalt verfestigen lässt, noch in einem konkreten Menschen absterben darf.

    Erste Triade Die Spannung innerhalb der ersten Triade ergibt sich schon aus den Anreden. Das erste und das zweite Gedicht sprechen jeweils im ersten Vers ein scheinbar vertrautes ‚Du‘ an, das aber ohne Eigennamen bleibt und im dritten Gedicht jede falsche Nähe schroff zurückweist: „Ihr wisst nicht wer ich bin ..“ (SW VIII, 10). Die Sprechsituation wechselt also nach dem zweiten Gedicht. Das erste und zweite spricht der Dichter und Meister stellvertretend für die ihm Nahestehenden. Sie sind durch achtmaliges „uns“ oder „unser“ einbezogen. Im dritten Gedicht redet der zuvor mit ‚Du‘ Angerufene selbst. Auch die Tempora gliedern die erste Triade. Sie setzt – angezeigt durch das hervorgehobene „Dringt“ – mit drei Versen im Präsens ein und unterstreicht die Gegenwärtigkeit des göttlichen ‚Du‘. Dann geben das erste Gedicht ab Vers vier und das ganze zweite Gedicht im Imperfekt ein Geschehen wieder, das vorausgegangen und zu durchlaufen war, damit die Gegenwart hervortreten konnte. Im Präsens spricht das Ich des dritten Gedichts, greift aber auf Vergangenheitsformen zurück, um das bereits Eingetretene auszusagen, und am Ende auf den Optativ, der das Geschehen ins Künftige trägt. Dabei unterstreicht der mehrfache Gebrauch des Imperativs die machtvolle Instanz dessen, der hier spricht. In der ersten und zweiten Person Singular und der ersten Person Plural redet der Dichter, während dem göttlichen ‚Du‘ die erste Person Singular vorbehalten ist: Es darf ‚Ich‘ sagen. Als göttliche Gestalt, die

    486 

     Bruno Pieger

    vom Dichter mit ‚Du‘ angesprochen wird, enthält sie sich zunächst, umgekehrt auch diesen mit ‚Du‘ anzureden. Das ‚Ihr‘ des dritten Gedichts bezieht sich auf einen Kreis von Menschen, doch schwingt die Höflichkeitsform mit, sodass die Gegenrede des sich vergöttlichenden ‚Du‘ den Dichter am meisten angeht. Was teilt die erste Triade über das göttliche ‚Du‘ mit? Zuallererst wird sie mit einer Formel bezeichnet, die christliches, aber auch frühgriechisches Gedankengut anklingen lässt: „Du stets noch Anfang uns und End und Mitte“ (SW VIII, 8).1 Doch ist mit Georges Formulierung der Absolutheitsanspruch zurückgenommen. Weder wird der Angeredete mit dem Namen Gottes oder des höchsten Gottes benannt, noch die christliche Vorstellung des ewigen Gottes bekräftigt. Im Gegenteil: Es kommt schon mit dem ersten Vers eine Zeitlichkeit ins Spiel, die anhebt und endet und in ihrer ursprunghaften Endlichkeit mittebildend wirkt. Auch soll der Angesprochene keine Gaben gewähren, sondern hat durch die Art seiner Gegenwart schon beschenkt. Genausowenig wird ein universeller Anspruch formuliert, sondern ‚nur‘ ein Geschehen gedichtet, das sich zwischen einem ‚Du‘ und ‚uns‘ ereignet. Die Zeitlichkeit, die hier zum Tragen kommt, klingt im ersten Vers in zwei Worten an, die leicht als Füllwörter überlesen werden: „stets noch“, was soviel heißt wie: Das Stetige und Beharrliche des in Frage stehenden Geschehens in seiner Gegenwendigkeit von ‚Du‘ und ‚uns‘ setzt in immer noch anderer Weise die abgründige Fülle der Gotteserscheinung frei (SW VIII, 8). Der, um den es geht, wird – diese konstitutive Zeitlichkeit aufnehmend und vertiefend – im zweiten Vers des ersten Gedichts als „Herr der Wende“ apostrophiert. Allzu schnell verweisen die bisherigen Kommentatoren auf „Maximin als mythische Gestalt“2 und ziehen dafür einschlägige Stellen aus der Vorrede zum Gedenkbuch heran, wo eine Umkehr von Grund auf am Beispiel Maximins geschildert wird (SW XVII, 62–63, 64 u. 66). Doch ist nicht der Name (und die damit benannte historische Person), sondern das in Frage stehende Geschehen die Hauptsache, ein Geschehen, das aber durch Verkörperung bzw. ‚Einverleibung‘3 ein menschliches Antlitz

    1 Vgl. Offenb. 1,8: „Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott, der Herr, der ist und der war und der kommt, der Herrscher über die ganze Schöpfung“ (zit. n. der Einheitsübersetzung). Vgl. ferner den orphischen Vers: „Zeus ist Haupt, Zeus ist Mitte, aus Zeus ist alles vollendet.“ (Zit. n. Die Vorsokratiker I. Hg. v. Gemelli Marciano. Düsseldorf 2007, S. 218) Oder Theognis: I. Buch, Verse 1–5: „Herr, Sohn der Leto, Kind des Zeus, dich will ich nie / vergessen, nicht wenn ich beginne und nicht, wenn ich aufhöre, / sondern immer an erster und letzter Stelle und auch dazwischen / werde ich dich besingen; du aber höre mich an und gib mir nur Gutes.“ (Zit. n. d. Übersetzung v. Dirk Uwe Hansen. Darmstadt 2005, S. 43.) Ferner Platon: Nomoi 715e-716a, woraus George fast wörtlich zitiert: „der Gott, wie auch die alte Rede sagt, welcher Anfang und Ende und Mitte alles dessen innehat, was da ist“. Schließlich Aristoteles: De cael. 268a 10: „Denn wie die Pythagoreer sagen, das All und alle Dinge seien durch die Dreizahl bestimmt; denn Ende und Mitte und Anfang enthalten die Zahl des Alls, ebenso aber auch die Dreizahl.“ (Vorsokratiker I, S. 157). 2 So Ute Oelmann in SW VIII, 127. Zuvor schon EM I, 342 u. KH I, 356. 3 Für ‚Einverleibung‘ als dichterisches Wesenswort vgl. das gleichnamige Gedicht Georges in SW VI/ VII, 109. Zum Wort ‚Einverleibung‘ im Blick auf die griechische Kunst wie die Dichtung Stefan Georges

    

    Der Stern des Bundes · Eingang 

     487

    erhält und als solches der innig verhaltenen Anrede mit ‚Du‘ zugänglich wird. Der „Herr der Wende“ darf fürs Erste als Bürge einer radikalen Umkehr (gr. metanoia, metabole, metabasis) betrachtet werden.4 Die Art der Bürgschaft ergibt sich daraus, wie jener in Erscheinung tritt. Die grammatische Einheit von Vers zwei und drei im ersten Gedicht, die durch ein und dasselbe Subjekt und Prädikat für zwei sich entgegnende Präpositionalobjekte hergestellt wird – das Preisen „dringt“ zugleich „auf deine Bahn hienieden“ wie „hinan zu deinem sterne“ –, spannt den Wirkungskreis des angeredeten ‚Du‘ bzw. des „Herrn der Wende“ zwischen Erde und Himmel auf. Es wäre falsch zu sagen, er sei allumfassend, denn es geht gerade um die Entgegnung zwischen beiden Bewegungsrichtungen, aus der erst die Wende hinreichend motiviert ist und das Neue Leben erscheinen kann. Die Verse vier bis neun, mit einem sich distanzierenden „Damals“ einsetzend, erinnern die alte, in sich brüchige und im Untergang begriffene Welt. Sie wird dreifach charakterisiert: Ein „dunkel“ hat sich über sie gelegt, weil ihr die mittebildende „flamme“ fehlt, das Adyton als geheime Kammer aller Lebensentfaltung. Zweierlei Arten von „fiebern“ im Doppelsinn von ungesundem Sich-Erhitzen („fieber“ stand noch in der Fassung BfdK IX von 1910) und vergeblicher Hoffnung werden dafür verantwortlich gemacht: Für das erste stehen die „väter“ als weit ausdeutbare Chiffre. Man darf an die auf wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Fortschritt setzenden Generationen der beginnenden industriellen Revolution und der Gründerzeit denken, die die Erde vernutzten, aber auch an die geistigen Väter, die durch ihre metaphysischen Denkgebäude Hinterwelten geschaffen und den Sinn der Erde entleert haben. „Von andrem fiebern“ waren der Dichter und die ihm Nahestehenden selbst befallen: von der Sehnsucht nach dem alten Griechenland, dem vergeblichen Verlangen, die antike Götterwelt, also „der Heitren / Der Starken Leichten unerreichten

    vgl. Gertrud Kantorowicz: Vom Wesen der griechischen Kunst. Heidelberg u. Darmstadt 1961, passim. Vgl. dazu meine Interpretation von SW VIII, 27. 4 Die ‚Figur der Wende‘ hat Jürgen Söring als subversive Grundfigur der Dichtung Stefan Georges erkannt und insbesondere für den Stern des Bundes als konstitutiv erwiesen, vgl. Jürgen Söring: Die Figur der Wende als poetologisches Prinzip. Zum lyrischen Verfahren Stefan Georges. In: ZDP 102 (1983), S. 200–221. Einige Zitate: „Es gilt, die innere Selbstbewegung der Dichtung Georges, in der sie sich an ihren exponierten und gewiss kritischen Ort hervorbringt, poetologisch aus dem Prinzip der Wende zu begreifen.“ (S. 205). – „Eine Dichtung, die gänzlich im Zeichen der Umkehr steht, die sich der Wende nicht versagt, sondern sie ansagt im Namen einer Instanz, die sich im Vollzug der Wende überhaupt erst hervorbringt. Diese Instanz ist der ‚Herr der Wende‘. Er ist der ‚Halt‘ […], der die zerreißenden Spannungen dieser ‚wendewelt‘ […], ihre tödlichen Gefahren, bestehen und aushalten lehrt“ (S. 211). – Doch wird der „Herr der Wende“ verfehlt, wenn er, um theologischer Spekulation zu entgehen, am Ende nicht mehr als eine gesetzte Kunstfigur sein soll, die mit dem Dichter oder einem von ihm geschaffenen Gegenüber identifiziert wird. Zwar wird die Auseinandersetzung mit der Welt betont, dann aber der ‚Umsetzung‘ in Kunst wie überhaupt der ‚poetischen Setzung‘ subordiniert (vgl. ebd., S. 212–217). Der Herr der Wende bliebe dann entgegen Sörings ursprünglicher Absicht seltsam blutleer und weltarm.

    488 

     Bruno Pieger

    thronen“, könnte in die Gegenwart gezogen werden.5 Doch folgte daraus nur, dass die in die Ferne gerichtete Sehn-Sucht die besten Kräfte raubte und verpuffen ließ. Solche Erinnerung des Gewesenen kehrt bei George beständig wieder. Das ‚Damals‘ wird nicht einfach verdammt und als Vergangenheit entsorgt. Vielmehr bildet es die Voraussetzung, von der sich das Neue abstoßen und in seiner Neuheit sichtbar werden kann. Das Bisherige mit all seinem Unzulänglichen und Unbefriedigenden bleibt in die Figur der Wende einbehalten. Dadurch gewinnt diese erst an Schubkraft für das mit einem Mal Hereinbrechende und wirft sich so weit ins Künftige voraus, dass sie zu jeder Zeit, sofern diese wahrhaft ausgestanden wird, aufs Neue eintreten kann. Auch vermeidet der Dichter auf diese Weise, dass der Untergang des Alten und das Hervortreten des Neuen haltlos werden, als ob das eine das andere nichts anginge. Bloßes revolutionäres Fiebern wird allzu schnell vom Alten eingeholt. Das Neue wird erst souverän, wenn es das Bisherige in seinem Eigenen anzuerkennen und zu verwinden versteht. Prophetischer Sinn mit Einsicht in das schicksalhaft Notwendige, das bei George gerne durch das Wort ‚muss‘ angezeigt wird, beglaubigt sich nur dort, wo sich eine entsprechende Geschichtlichkeit entfaltet.6 Von Vers zehn an, mit dem schon die Zahl das Moment der Vollkommenheit anzeigt, darf von der widerfahrenen Epiphanie gesprochen werden. Ihr Ereignischarakter wird vom dreimaligen „Da“ unterstrichen, zusätzlich – auf das ganze Gedicht bezogen – von achtmal anlautendem „d“ am Versanfang.7 Dass etwas zum Durchbruch kam, unwiderruflich und von Grund auf verwandelnd, ist damit scharf markiert. Von dem, was erschienen ist, erfahren wir wenig, nur, dass es sich um das angesprochene ‚Du‘, den „Herrn der Wende“ handelt. Alle Aufmerksamkeit des Dichters gehört der Art und Weise, wie er hervorgetreten ist und sich zu erkennen gab. Vers 5 EM  I,  342 bezieht die Antikensehnsucht fälschlicherweise auf die Väter und versteht unter dem „andren fiebern“ das Suchen des Dichters und der Seinen in verkommener Zeit nach einer Daseinsmitte. Der nach „väter“ gesetzte Doppelpunkt in Vers sieben trennt aber das ‚andre Fieber‘ von dem der Väter ab. Auch betont die grammatische Konstruktion „von andrem […] als dem der väter“, dass nach dem Doppelpunkt eine andere „sucht“ zum Tragen kommt, die mit dem „uns“ in Vers neun zweifellos auf den Dichter und seinen Umkreis bezogen ist. 6 Dies in Anklang an Hölderlins Sophokles-Anmerkungen, in denen es heißt: „Denn vaterländische Umkehr ist die Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen. Eine gänzliche Umkehr in diesen ist aber, so wie überhaupt gänzliche Umkehr, ohne allen Halt, dem Menschen, als erkennendem Wesen unerlaubt.“ (Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Michael Knaupp. Bd II. München u. Wien 1992, S. 375. Im Folgenden werden Zitate aus dieser Münchner Ausgabe unter Angabe der Sigle MA, Band- und Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen.) Schon Jürgen Söring zieht diese Stelle für die Erläuterung der Figur der Wende heran, setzt freilich den Herrn der Wende voreilig als Halt gebende Figur im Vollzug der Wende, ohne zu vergegenwärtigen, dass auch im Bisherigen, aber Altgewordenen erhaltenswerte Momente liegen, vgl. Jürgen Söring: Die Figur der Wende als poetologisches Prinzip (wie Anm. 4), S. 211. 7 Kurt Hildebrandt hat in seinem George-Kommentar mehrfach auf „das für George so ausdrucksstarke Da“ verwiesen, das er auch einmal als „des Dichters offenbarendes und strahlendes Da“ bezeichnet, KH I, 136 u. 417, vgl. ferner 95 u. 419.

    

    Der Stern des Bundes · Eingang 

     489

    zehn hält fest, dass das erscheinende ‚Du‘ „aus eignem stamm“ entsprossen ist – dies in strikter Gegenwendung zur Griechenlandsehnsucht und mit der Doppeldeutigkeit, dass der Betreffende dem eigenen Volk entstammt oder zu den eigenen Erwählten gehört. Die Verse elf und zwölf geben das Erkennungszeichen. Der Erschienene ist von einer Schönheit und plastischen Präsenz („greifbar“), die noch über das von George geschätzte künstlerische „bild“ und die von ihm geliebten Traumgesichte hinausgehen. Der zweimal mit „wie kein“ eingeleitete Vergleich bedeutet nicht Abwertung von Bild und Traum, sondern höchste Auszeichnung der epiphanischen Gestalt, deren Ausmaß an Wesensgewinn noch über jene hinausreicht. Schönheit und Präsenz sind gewiss leiblicher Natur, doch wird der Leib nicht ausdrücklich genannt, allein, wie er dem Dichter und den ihm Nahestehenden ‚entgegen kam‘: „Im nackten glanz des gottes“. Die Epiphanie ist nur in solcher Begegnung erfahrbar und hebt sich damit von jeder Form der Idolatrie und des Fetischismus ab. Die Nacktheit des Erscheinenden wird allein als leibliches Erstrahlen und das Erglänzende nur als nackter Leib sichtbar. Es handelt sich um eine durch das Ereignishafte, das Welthaltige und den Begegnungscharakter transformierte Leiblichkeit, wie sie den Liebenden offensteht und auch in der Alltagserfahrung in einem leuchtenden Blick, dem Schimmern der Haut oder einer anmutigen Bewegung anklingt. Ereignischarakter und Art der Epiphanie können in den letzten beiden Versen des Gedichts schließlich daran abgelesen werden, wohin sich das Leben gewendet hat: Es ist mit einem Mal ein Zustand der „erfüllung“ eingetreten, den das ‚Du‘ „aus geweihten händen“ verschenkt. Der neu hervorgetretene Daseinsraum verbindet sich mit bestimmten synästhetischen Erfahrungen: Das Erinnerungsvermögen und die Imaginationskraft sind mit dem Wiedererkennen des eigenen ‚Sprosses‘ als der gesuchten Gestalt angesprochen. Der Entgegenkommende löst ein Bewegungsverhalten der von ihm Begegneten aus. Der Tastsinn weiß sich von der ‚greifbaren‘ Plastizität der begegnenden Gestalt angeregt. Die geweihten Hände lassen den Duft des Salböls erahnen. Glanz und Lichtfülle legen sich auf Augen und Haut. Nur das Gehör scheint nicht einbezogen, doch liegt im Schweigen, das mit dem letzten Wort des Gedichts eingetreten ist, ein Hören auf die Stille, die sich mit der Fülle verbindet. Die Epiphanie, so lässt sich zusammenfassend sagen, geht von einem ‚Du‘ aus, das mit seinem Auftreten eine alle Sinne ergreifende Atmosphäre verbreitet und eine leibhaft vernehmbare Aura ausstrahlt. Dafür steht Maximin und daran wird er erkannt.8 Von ihm geht

    8 Zum Wesen der Atmosphäre vgl. die Phänomenologie von Hermann Schmitz, der von da aus auch eine Deutung von Georges sogenanntem Maximinerlebnis vornimmt. Siehe ders.: System der Philosophie. Dritter Bd.: Das Göttliche und der Raum. Bonn 1977, S. 169  f. Es heißt dort, „daß für George in Maximin alias Max Kronberger eine göttliche Atmosphäre sich verdichtete und konkret wurde, genauer eine sinnliche göttliche Atmosphäre […] mit überströmender Helle, Duft, Wärme und paradiesischem Schimmer. George wird von dieser Atmosphäre als einer Ausstrahlung Maximins, in deren Bann er bleibt, ergriffen. Treffend ist die Autorität als wesentliches Merkmal des Göttlichen ins Auge gefaßt. Daß Maximin ein Gott (für George, zur Zeit der Begegnung und seither) war, ist hiernach […] eine

    490 

     Bruno Pieger

    die „helle die uns überströmte“ aus, und diejenigen, die nicht anders konnten, als ihm nachzugehen oder auf sein Vorüberkommen zu warten, „blieben im banne seiner ausstrahlung […]: seine blosse anwesenheit im raum genügte um bei allen das gefühl von leibhaftem duft und wärme zu erwecken“ (SW XVII, 63  f.). Das zweite Gedicht der ersten Triade, wiederum vom Dichter und Meister gesprochen und an den in leiblicher Schönheit Erschienenen gerichtet, nimmt das ‚Du‘ des ersten Gedichts auf, setzt diesem aber einen absolut gebrauchten Artikel voraus, der zugleich als Relativpronomen einen vorangestellten, die ersten drei Verse umfassenden Relativsatz einleitet („[Du], Der du uns […]: / Du warst der beter“). Den absolut gestellten Artikel findet man in der antiken Lyrik oder auch in den späten Gedichtüberarbeitungen Hölderlins und bei George selbst. Damit ist jeweils der fast objektive Gehalt einer exemplarischen Figur angezeigt und dies wird nun auch an dem in Frage stehenden ‚Du‘ erwiesen. Sein Wesen tritt dabei in zweifacher Hinsicht hervor: Der „Herr der Wende“ aus dem ersten Gedicht wendet die „qual der zweiheit“ in eine „verschmelzung“ um, die auf die Weltformel zu Beginn des dritten Verses zusteuert: „Eines zugleich und Andres“ – nach der Figur der Wende eine weitere Grundfigur im Stern des Bundes wie in Georges Dichtung überhaupt. Der „Herr der Wende“ vollzieht aber auch selbst eine Wende mit der beginnenden Verwandlung in die Gottheit, der „geburt des gottes“, die der Schlussvers ausspricht. Beide Arten der Wende hängen eng miteinander zusammen und verweisen dabei auf die Gegensätzliches vereinigende Weltformel. Vom vierten bis zehnten Vers wird das erschienene ‚Du‘ in seinem Vermögen dargestellt, sich hinzugeben und zu empfangen, aber auch aktiv vorzugehen und zu dominieren. Die aktive Seite liegt im ringenden Ergreifen des Geistes und klingt beim flehenden und erbittenden Beter, beim Angebot des Opfers und der Komplizenschaft mit der alles durchflutenden „frühlingswelle“ allenfalls an. Das noch zu vollziehende Opfer, auf das die zwei Punkte am Ende von Vers sechs vorausdeuten, die Hingabe an das „schmeicheln“ des Frühlings, der „schläfer in den fluren“ und die Ankunft eines „Himmlischen“ bei ihm gehören dagegen eher auf die passive, empfängnisbereite Seite. Gegen Ende des Gedichts skandalisiert sich das bisherige Geschehen in seinem ganzen Strukturverlauf durch jene andere Wende, die dem ‚Du‘ selbst auferlegt ist. Die „geburt des gottes“ kann im Niedersinken vor dem Leib, der Einung gewährt, also von der damit verbundenen ersten Wende aus, nicht gewusst werden. Dies leistet erst die Anrede des Dichters und der ihm Nahestehenden durch das sich zur Gottheit wandelnde ‚Du‘ im dritten Gedicht. Doch auch die Angesprochenen haben ihre Posischlichte Tatsache“ (ebd. S. 170). Schmitz warnt davor, mit der Möglichkeit solcher Erfahrungen sein Spiel zu treiben und aus dem Gott einen Abgott zu machen. Ergänzend lässt sich sagen, dass George durch die Transformation Maximins in das begegnende göttliche ‚Du‘ und das ihr auferlegte Zurücktreten in die Gottheit solcher Gefahr vorgebeugt hat. – Wegweisend in historisch-biografischer wie exegetischer Hinsicht ferner Corrado Hoorweg (d.i. Conrad Michael Stibbe): Stefan George en Maximin. Amsterdam 2012.

    

    Der Stern des Bundes · Eingang 

     491

    tion gewechselt: Aus dem, was „uns“ widerfahren ist im ersten Gedicht und bis zum zehnten Vers des zweiten, zum ‚Wir‘ der mit den Gesten des Schmückens, Huldigens und Kniens verehrend Antwortenden in den folgenden Versen elf bis vierzehn und schließlich hin zum  – innerer Notwendigkeit folgenden  – distanzierenden ‚Ihr‘ im dritten Gedicht, mit dem ein kaum behebbares Nicht-Wissen unterstrichen wird: „Ihr wisst nicht wer ich bin .. nur dies vernehmt“. Wie stellt das göttliche ‚Du‘ die ihm auferlegte Wende dar? Es grenzt sich in den nun folgenden Versen von den irdischen Dingen, von „wort und tat“, die die Bahn des Menschen bestimmen, als etwas ab, das es nicht einmal begonnen habe. Dies ist Voraussetzung dafür, dass es seine „neue form“ bestimmen kann. Tatsächlich scheint die nun anhebende Verwandlung ein selbstbestimmter Akt und willentliche Entscheidung zu sein: „ich […] bestimme“, „ich wandle mich“, „ich werde“. Doch ist damit nur die Auszeichnung des „Herrn der Wende“ mit besonderem Wesensvorsprung angezeigt, der ihn in einer Menschen nicht erlaubten Weise das ihm aufgegebene Schicksal durch Einsicht beinahe selbst lenken lässt. Dabei sind unübersteigbare Vorgaben mit benannt: Es muss für die Bestimmung der „neue[n] form“ die rechte Zeit sein („nun naht das jahr“), Wende und Verwandlung müssen ‚gleiches wesen wahren‘, das darüber als Mitgift entfaltet sein will. Und es ist nicht ‚seine‘, sondern „die wahl“, die hier getroffen wird und dem „Herrn der Wende“ den Status zuschreibt, wählend gewählt zu sein: „Schon ward ich was ich will.“ Durch diese wesensmäßig andere Art des „Herrn der Wende“, die auf der ihm eigenen Wandlungsfähigkeit beruht, öffnet sich immer mehr die Differenz zwischen ihm und denen, die er im Gestus des Imperativs anspricht. Die Differenz und die Situation des Abschied-nehmens und Scheidens gehen zwingend auseinander hervor. Sie werden nicht kognitiv, sondern rein gestisch vollzogen. Der Dichter und die Seinen bringen auf Geheiß des „Herrn der Wende“ dem Hinscheidenden, sich aber in Wahrheit Verwandelnden „zweige“, „kränze“, ‚veilchenfarbene Todesblumen‘ und „die reine flamme“ dar, mit denen sie vor dem Geheimnis des Todes zurücktreten.9 Der so Geehrte spricht im Moment des eben eingetretenen Übergangs das Abschiedswort und antwortet mit der ihm vorbehaltenen „gabe“: dem ‚belebenden anhauch‘ und dem sich ‚tief einbrennenden kuss‘. Auf diese Weise ist Verbindung zwischen ihnen gestiftet (SW VIII, 10).

    9 „Von veilchenfarbenen von todesblumen“: In der Antike war das Veilchen mit Tod und Unterwelt, aber auch mit Wiedergeburt verbunden – versteckter Hinweis auf das andere Leben des göttlichen ‚Du‘ nach seinem Hinscheiden, d.  h. der von ihm vollzogenen Wende. Vgl. Hesiod: Theogonia, Vers 3: ‚ioeidea‘  – ‚veilchendunkel‘ und dazu Hesiod: Theogonie. Übers.  u. erl. v. Raoul Schrott. München 2014, S. 133.

    492 

     Bruno Pieger

    Zweite Triade Die zweite Triade taucht in das ‚Damals‘ ein, das für Georges Weg unabdingbar war. Gemeint ist die Welt der Münchner Kosmik, die sich mit Namen wie Karl Wolfskehl, Ludwig Klages, Alfred Schuler und Ludwig Derleth verbindet, sich in öffentlichen Schwabinger Festen und Umzügen und in den intimeren der Kosmischen Runde am deutlichsten manifestierte. Sie bezog entscheidende Anregung aus Bachofens Mutterrecht und verkehrte dessen Darstellung und Auffassung in eine eigene Weltanschauung. Im Mittelpunkt dieser Welt stand mit Franziska von Reventlow eine Frau, die wirkliches Heidentum zu verkörpern schien, manchen der damaligen Protagonisten zu beglücken wusste, dann aber am treffendsten das kosmische Treiben als Melange zwischen echter Vision und Scharlatanerie entlarvt hat.10 Das erste Gedicht dieser Triade wiederholt im Blick auf die kosmische Erfahrung die Wende von einem früheren in ein neues Dasein. Beides wird im Präsens geschildert, das frühere also keineswegs abgewertet, sondern in seinem Eigenrecht hingestellt, auch wenn ihm etwas fehlt. Die ersten acht Verse gehen einem überpersön­ lichen Andrang nach, den auch das „wilde herz“ des Dichters, der zunächst mit sich selbst spricht, in sich als etwas verspürt, das vor langer Zeit anhub („ein brand […] von tausendjahren“), sich aber „nicht entladen kann“, also sich nicht richtig auszusprechen und keine bändigende wie bündige Gestalt auszubilden vermag. Deshalb bleibt dem Dichter nur, „den spiegelungen“, der Bilderflut zu ‚folgen‘. Indem Verbum und zugehöriges Dativobjekt weit auseinandergehalten sind, ja dieses erst durch einen vorangestellten Gedankenstrich als solches ausgewiesen ist, werden das unaufhörlich Heranwälzende und das Unzureichende der Lösungsversuche besonders sinnfällig. Das durchgehend jambische Metrum signalisiert dabei die Trauer über das Eintönige, Unerfüllte und Endlose dieses wilden Treibens und der Phantasmagorien, die es hervorbringt. Das Herz des Dichters überfällt eine große Ratlosigkeit angesichts der schwindenden Erscheinungen, die nicht zum Stehen gebracht werden und unaufhörlich in die Vergangenheit wegsinken. Allenfalls hilft ein geringfügiger Blutzoll, bei dem offen bleibt, ob ihn der Dichter durch eine entsprechende Entlastungshand10 Ohne auf die umfangreiche Primär- und Sekundärliteratur eingehen zu können, verweise ich auf Werner Ross: Bohemiens und Belle Epoque. Als München leuchtete. Berlin 1997, S. 73–169: Hier konzentrieren sich die Vorgänge um Franziska von Reventlow, deren eigenständige Position und beißende Kritik, die sie im kurzfristig erscheinenden Schwabinger Beobachter äußert, herausgearbeitet werden. Als es zum Krach kam, enthielt sie sich nicht nur jedes antisemitischen Affekts, sondern stand fest auf der Seite der jüdischen Freunde und Verehrer. – Ferner sei ein nicht auszuschöpfender Ausstellungskatalog erwähnt: Schwabing. Kunst und Leben um 1900. Hg. v. Helmut Bauer u. Elisabeth Tworek. München 1998 mit dem dazugehörigen gleichnamigen, unter Mitarbeit v. Sandra Uhrig von Helmut Bauer hg. Bildband, der auf dem von Rolf von Hoerschelmann gegründeten Schwabinger ­Archiv beruht. – Sehr wichtig für die Transformierung der Kosmik in die Maximin-Gestalt ist der Aufsatz von Jürgen Egyptien: ‚Kosmische Elemente‘ in der Dichtung Stefan Georges. In: Hestia. Jahrbuch der KlagesGesellschaft 19 (1998/1999), S. 11–27.

    

    Der Stern des Bundes · Eingang 

     493

    lung (Ritzen, Schneiden – Werther!) erbringt oder ob ein Rest an Lebenssaft, der den Erscheinungen noch eignet, verströmt wird. Die „endlos laute fülle“, worauf die ersten acht Verse zulaufen, ist nicht die „zeiten-fülle“, nach der das folgende Gedicht fragt und die in der ersten Triade schon aufgeblitzt war. Dort wurde das Sehnen beschwichtigt und es traten Schweigen und Stille ein. Hier herrscht das Laute, das sich endlos „selbst“ übertönen muss und nur eine Karikatur der Fülle zustande bringt. Durch „herz“ und „blut“ ist freilich schon die leibliche Dimension ins Spiel gebracht. In ihr ereignet sich die Wende, von der die Verse neun bis vierzehn sprechen. Die ersten acht Verse stehen zu den folgenden sechs im Verhältnis  4:3. Man könnte sich damit begnügen, eine Anlehnung an die Sonettform festzustellen: Auf zwei zusammengezogene Quartette folgen zwei ebenso und wiederum mit jenen zusammengezogene Terzette. George folgt aber zugleich der altgriechischen Zahlentheorie im Umkreis der Pythagoreer, die „primär die größere Zahl vor die kleinere stellte“11. Die zwischen dem achten und neunten Vers liegende Gedichtachse wäre dann der hóros, also die Grenze, durch die „das als Einheit vorgesehene Anfangsstück“ abgegrenzt wird, während der längere Teil um ein Drittel von ihm erweitert ist.12 Die Pointe liegt beim vierten Gedicht des Eingangs nun darin, dass der Teil des Gedichts bzw. der Ton, der um einen Überschuss verlängert ist und scheinbar tiefer bzw. voller klingt, an Daseinsgewinn zurückbleibt gegenüber der ursprünglichen Einheit und dass der zuunterst liegende, am höchsten klingende Ton, die Verse neun bis vierzehn bzw. die „‚Nete‘ […] in der Nomenklatur des griechischen Tonsystems“13, die höhere Möglichkeit verwirklicht. Sie setzt sich wiederum als Epiphanie in Szene, wie das an den Anfang von Vers neun gestellte „Da“ anzeigt. Dafür muss der Erscheinungscharakter des Adverbs stark gemacht werden. Es gibt nicht einfach eine Umstandsbestimmung von Ort und Zeit wieder, sondern das Ereignis, dass etwas „da“ ist, Da-Sein gewonnen hat, von dem man sich ergriffen fühlt und nicht wegschauen kann. So ergeht es jetzt dem Dichter allein vor dem emportauchenden ‚Du‘ und „Gott“ („vor mir“), doch ist die Situation exemplarisch  – stark gemacht durch ihre Faktizität und dadurch auch für andere vollziehbar. Das entscheidende Kriterium, die Auszeichnung der in den Versen neun bis vierzehn gegebenen ‚Grundeinheit‘ tritt scheinbar als Paradoxon entgegen: Die im ersten Abschnitt des Gedichts überschießende Fülle an Erscheinungen und die von weither kommenden Triebkräfte des Dichters, die sich in jenen symbolisieren wollen, werden von einer Gestalt gebannt, nicht irgendeiner, auch nicht von bloßer, das Begehren auf sich lenkender Körperlichkeit, sondern vom „erdenleib“, der als wirkliches ‚Du‘ den Gott durchscheinen lässt: „Dein erdenleib dies enge heiligtum /

    11 Frieder Zaminer: Musik im archaischen und klassischen Griechenland. In: Die Musik des Altertums. Hg. v. Albrecht Riethmüller u. Frieder Zaminer. Laaber 1989, S. 184. 12 Vgl. ebd., S. 183–190 zur frühgriechischen „Saitenmessung nach dem Verlängerungsprinzip“. 13 Ebd., S. 185.

    494 

     Bruno Pieger

    Die spanne kaum für eines arms umfassen“. Diese ‚Grundeinheit‘ ist mehr als „die endlos laute fülle“ der „spiegelungen“. Wo das Maß verletzt ist, das am menschlichen Leib abgenommen wird, droht Unheil. Das Wort „kaum“ verwendet George hier ähnlich wie Hölderlin: Es ist kaum etwas und doch liegt darin das Wesentliche und die Lebensfülle.14 Der „erdenleib“ als „heiligtum“ vollbringt die entscheidende Wende, für die das Wort „Stern“ ein einziges Mal negativen Beiklang erhält: Die „sternenflüchtigen Gedanken“ werden durch den Leib, in dem sich der Gott zeigt, zurückgebogen zur Erde. In ähnlicher Weise hatte Hölderlin in den Anmerkungen zur Antigone von Zeus als dem „Vater der Zeit oder: Vater der Erde“ gesagt, es sei „sein Karakter […], der ewigen Tendenz entgegen, das Streben aus dieser Welt in die andre zu kehren zu einem Streben aus einer andern Welt in diese“ (MA II, 372). Das Ergebnis ist jene Gegenwärtigkeit, der „tag für den ich bin“, den George angesichts des göttlichen ‚Du‘ starkmacht (SW VIII, 11). Das mittlere Gedicht der zweiten Triade setzt mit der Frage ein: „War wieder zeiten-fülle?“ Damit ist die Grundfigur der Zeitenwende und der hereinbrechenden, erfüllten Zeit auch für die zweite Triade konstitutiv. Von Vers drei bis sieben wird das kosmische Treiben durch Assoziationen evoziert, die wie Erkennungszeichen sind, aber nicht in vollständige Sätze gefasst werden. Sie beantworten die zweite eingangs gestellte Frage, mit der die „glut“ des damaligen Geschehens anerkannt, ihr Ergebnis aber in den Irrealis gesetzt wird: „›Als wollte eine welt sich neu gebären?‹“ Der Vers zitiert – ergänzt um ein Fragezeichen – die zweite Zeile von Maximilian Kronbergers Gedicht Sonnenaufgang vom August 1903, das nicht allein von kosmischer Flutung gespeist wird, sondern Welt begegnen lässt: Die Sonne wendet „das göttliche Gesicht“ der Erde zu, das Scheinen des Lichts wird zur Offenbarung der Landschaft, doch fehlt noch das leibhaftige ‚Du‘.15 Wie gerät die Welt der Kosmiker durch die Erkennungszeichen in den Blick? Als ein Geschehen, das von den „hell-lichten mittagen“ über die „nächte“ bis zur Morgendämmerung reichte. Seine Träger traten nicht gestalthaft, sondern tagfremd als ent-individualisierte Teilnehmer eines dionysischen Geschehens auf, das sich mit „aller einung im gemischten kuss“ vollendete. Die Gedichtachse liegt diesmal genau in der Mitte des Gedichts zwischen dem siebten und achten Vers. An ihr ist die Vereinigung vollzogen und aus ihr gehen die daran Beteiligten so hervor, dass sie ‚der Geist ergreift‘ und sie von ihm besessen sind. Die letzten vier Verse bringen die Ahnung

    14 Vgl. Hölderlin: „und was zuvor geschah, doch kaum gefühlt, / Ist offenbar erst jezt“ (Wie wenn am Feiertage, MA I, 263); „kaum weiß zu sagen ein Halbgott“ (Brod und Wein, MA I, 376); „denn noch kaum / War mir im warmen Schatten / Sich manches beredend, die Seele / Italia zu geschweift / Und fernhin an die Küsten Moreas“ (Der Rhein, MA I, 342); „Denn euer schönes Angesicht zu sehn, / Als wärs, wie sonst, ich fürcht’ es, tödtlich ists / Und kaum erlaubt, Gestorbene zu weken“ (Germanien, MA I, 405) usw. 15 Maximilian Kronberger: Gedichte Tagebücher Briefe. Hg. v. Georg Peter Landmann. Stuttgart 1987, S. 71. Vgl. Ute Oelmann in SW VIII, 129.

    

    Der Stern des Bundes · Eingang 

     495

    einer Wende, eingeleitet mit „Bis jeder lezte schauer bat“. Das kosmische Treiben, ob dionysisch oder apollinisch, führt von selbst an jenen Punkt heran, wo ein leibhaftes ‚Du‘ erfleht wird, als „halt“ gegenüber dem orgiastischen Geschehen, in dem es sich insgeheim schon als „klang“ angekündigt hat und in dessen „dunklen träumen“ es wie ein „strahl“ vor-scheint. An der Empirie der kosmischen Erfahrung bildet sich von selbst das Verlangen aus, dass ein göttliches und leibhaftes ‚Du‘ die Wende bringen möge. Nicht von ungefähr ging Alfred Schuler davon aus, dass eine solche Gestalt, die „mehr oder minder die absolute Quintessenz enthaelt“, notwendigerweise „von Zeit zu Zeit“ auftreten muss.16 Das dritte, die zweite Triade abschließende Gedicht gibt in seinen ersten sieben Versen eine Séance wieder, also eine Sitzung, bei der versucht wird, mit der Totenoder Geisterwelt in Verbindung zu treten. Solche Zusammenkünfte fanden in München oder auf Stift Neuburg bei Heidelberg statt,17 auch ein Schwabinger Fest, so etwa das von Klages überlieferte ‚römische Fest‘ vom April 1899, konnte es darauf angelegt haben: „Blüten“, „Weihrauchduft“, Erzeugung eines „magischen Feldes“ durch Schulers pathetischen Vortrag seiner Gedichtfragmente, ein entnervter Stefan George …18 Auf Stift Neuburg pflegte man einen Tisch kreisen, wackeln und abheben zu lassen. Er wurde dann zum Medium, auf dem befragte Abwesende durch Klopftöne Antworten gaben. Der davon erzählende Alexander von Bernus berichtet auch, dass der zweioder dreimal teilnehmende Stefan George „eher retardierend als inspirierend“ gewirkt habe.19 Doch evozieren die entsprechenden Verse ein durchaus gültiges Versuchen. „Stolze schatten“ treten hervor, es kommt zu einer gewissen Annäherung zwischen Lebenden und Toten, und die Atmosphäre, in der sich „die gewesnen widerscheine“, „die urnächtig frühen“ einstellen, ist ganz ernst zu nehmen. Das Unzureichende besteht darin, dass es ihnen nicht gelingt, sich zur Gestalt „zu verdichten“, dass sie nur „quälend“ herantreten und schon ‚verbleichen‘. Das Resultat gibt Vers acht, der zugleich die Gedichtachse bildet: Macht- und Ratlosigkeit ob solchen Ahnens und Schwindens, angezeigt durch drei Punkte am Ende des Verses, um einen mehr als zuvor beim siebenten Vers, der das Vergebliche der Schattenbilder schildert. Die verbleibenden sechs Verse sind dann ein einziger ‚Wehschrei‘, der fragend und befehlend

    16 Alfred Schuler: Cosmogonische Augen. Gesammelte Schriften. Hg. v. Baal Müller. Paderborn 1997, S. 265. 17 Zu Letzterem vgl. Jürgen Egyptien: Stefan George auf Stift Neuburg. Marbach am Neckar 2009 (Spuren 85). 18 Vgl. Hans Eggert Schröder: Ludwig Klages. Die Geschichte seines Lebens. Erster Teil. Die Jugend. Bonn 1966, S. 359  f. 19 Alexander von Bernus: Sommertage und Sommernächte auf Stift Neuburg in den Jahren 1909 und 1910. In: Ders.: Ausgewählte Prosa aus seinem Werk. Heidelberg 1966, S. 21–32, hier S. 28 u. S. 30. Vgl. auch Jürgen Egyptien: Kultur und Schatzsuche im Abendschein des alten Europa  – George und der George-Kreis zu Gast bei Alexander von Bernus auf Stift Neuburg 1909/10. In: Gnostika 16 (2012), 50, S. 49–66.

    496 

     Bruno Pieger

    nicht durch Abwehr kosmischer Mächte und Medien, wie sie mit ‚Flamme‘, ‚Blut‘, ‚Dünsten‘ und ‚Purpurwelle‘ gegeben sind, sondern durch ihre Katharsis („rein“, „lebendig“) zu einer höheren, kernhaften Wirklichkeit vordringen will (SW VIII, 13).

    Dritte Triade Die dritte Triade lässt sich durch das Wort charakterisieren, mit dem sie anhebt: „Ergeben“. Nach der Epiphanie des göttlichen Menschen und dem Absprung von der Kosmik ist nun ein selbstverständlicheres Mitschwingen in der sich am ‚Du‘ entzündenden Welt möglich geworden, begleitet von der Einsicht in ihre Gesetzmäßigkeiten und deren Akzeptanz. Der Gang durch die geschichtlichen Welten, die Zeitreise des Dichters mit dem vertrauten ‚Du‘, hat sich darüber neu belebt und vollendet sich in der freudigen Erwartung einer Zeit höchster Erfüllung, die zugleich in Form eines grammatikalischen Phänomens vergegenwärtigt wird. Das auf dem erreichten Wissensstand beruhende, also einem ursprünglichen Erkennen entspringende Bekennen des neunten Gedichts, das den Eingang abschließt und zugleich den Fortgang des Geschehens wie des Gedichtzyklus animiert, ist von großer Innigkeit (SW VIII, 16). Ergebenheit bedeutet aber nicht Geborgenheit in einem Sinn, dass nun alle Übel überwunden sind und sich das Dunkel endgültig gelichtet hat. Vielmehr erfüllt sich die Ergebenheit darin, dass sie ehrt, was unergründlich bleibt, ja Opfer und Tod verlangt und nicht ohne Grauen und Gewalt auskommt. Das erste Gedicht dieser Triade (SW VIII, 14), das eine weitere Grundfigur ins Spiel bringt und mit dem „rätsel“ eines scheinbar naiven Wechselverhältnisses das Grundgesetz des Gesamtgeschehens formuliert, steht an siebter Stelle des Eingangs und verdient schon rein zahlenmäßig besondere Aufmerksamkeit. Es darf getrost als eines der größten Gedichte Stefan Georges bezeichnet werden. Den vierzehn Versen scheint in großer Regelmäßigkeit ein jambisches Metrum unterlegt zu sein. Nur in Vers neun, der sich noch als Gedichtachse zu erkennen geben wird, unterbricht ein Daktylus („éwiger“) zwingend diesen Ablauf und hebt das ewig Unaufklärbare des in Frage stehenden Geschehens hervor, das schon im ersten Vers ein „rätsel“ genannt wird. Die Gliederung des Gedichts ist fast den Satzzeichen vorbehalten. Die ersten zwei Verse, die die Grundfigur geben, klingen in zwei Punkten aus. Das wiederholt sich nach dem neunten und zwölften Vers. Damit geben sich vier Gedichtabschnitte zu erkennen. Einfache Punkte nach dem fünften und dem achten Vers untergliedern Abschnitt zwei, in dem aus der Grundfigur hervorgehende Gesetzmäßigkeiten aufgerufen sind. Im dritten Abschnitt werden im mittleren Vers zweimal Ausrufezeichen gesetzt, wodurch die durch Leiden gefundene Einsicht zur imperativ vorgetragenen Botschaft wird. Der letzte Abschnitt, der wie der erste nur zwei Verse umfasst, setzt stattdessen Doppelpunkte und damit eine Folge, durch die eine aus Widerfahrnis und Einsicht hervorgegangene Botschaft in eine gestische Handlung umgesetzt wird.

    

    Der Stern des Bundes · Eingang 

     497

    Mit dem Punkt am Ende des Gedichts ist die anfangs angezeigte Grundfigur, die vom Gedicht so enthüllt wird, dass ihr Rätselcharakter erhalten bleibt, dann auch auf den Punkt gebracht. Das erste Wort des Gedichts gibt das Thema vor: „Ergeben“, so lautet die Grundhaltung, aus der heraus der Dichter und Meister, der hier spricht, im Sein verankerte Grundverhältnisse hervorkehrt, in die er sich und das ihm begegnete und begegnende ‚Du‘ einbehalten weiß und woraus er von Vers zehn an, also mit dem dritten Abschnitt, für die ihm Zugehörigen wie schon für sich ein Verhalten ableitet, das die erforderliche Ergebenheit mit dem Senken des Hauptes gestisch vollzieht. „Ergeben“-Sein ist vom „Verfallen“-Sein abzuheben, ein Wort, das der Dichter zur Charakterisierung seines Verhaltens zur Zeit der Münchner Kosmik verwendet. Insgesamt handelt es sich um Vorgänge, die diskursiv nicht hinreichend behandelt werden können. Die ersten beiden Verse geben die Grundfigur vor. Dabei wird das Machtvolle und Weitreichende durch das Unscheinbare und Selbstverständliche ausgesagt: Der Dichter fügt sich naiv einem rätselhaften Geschehen und bezeichnet es mit einer Formel, deren paradoxer Gehalt der Alltagserfahrung zugänglich bleibt. Er betrifft das Verhältnis des Vaters zu seinem Kind. Der Vater ist der Zeugende, sein Urheber. Das Kind, das er gezeugt hat, lächelt ihn an. Er wird sich an ihm erfreuen und sich davon neu beleben und verändern lassen. Am eignen Kind, das ohne ihn nicht wäre, wird er ein Lernender und bleibt ihm untertan. Dies wird vom Dichter mit Leichtigkeit vorgetragen, doch schwingt darin das Grundgesetz des Lebens: Alle Setzung (Hypothese) wird erst gültig, wo sie sich verliert und statt ihrer selbst Welt empfängt (Hypostase).20 Jedes der beiden folgenden Verstripel verwirklicht diese Gesetzmäßigkeit auf eigenständige Weise, sofern nur ein sich je anders wendender paradoxer, ja tragischer Strukturverlauf Leben verbürgt. Jenes Kind muss aus „erdenstoff“, also ganz im Irdischen verwurzelt sein, um zum „Hohen“ werden zu können, der in leibhafter Schönheit als gött­liches ‚Du‘ erscheint und entgegenkommt. Hat es diese Höhe erreicht, muss es auch schon wegtreten. Ein Tätertum würde es nur in seine irdischen Bedingungen und die damit einhergehenden Kompromisse verstricken. Doch wendet es sich auf seinem „heimweg“ nicht einfach von der Erde ab. Es bleibt als HinwegTretendes und Heim-Kommendes erdverliebt. Das bezeugt die das Fort-Müssen begleitende Gebärde „mit schmerz und lächeln“, in der sich ein tragisches Wissen kundtut.

    20 Karl Kerényi hat darauf hingewiesen, dass das Verhältnis Vater – Sohn (‚Kabiros‘ – ‚Pais‘), Mutter – Tochter (‚Demeter‘ – ‚Persephone‘), Vater – Tochter (‚Zeus‘ – ‚Athene‘) mythische Grundfiguren sind, vgl. ders.: Humanistische Seelenforschung. Stuttgart 1996, S. 114 u. S. 116. – Zu ergänzen wäre das Verhältnis Mutter – Sohn, das man nicht ödipal auffassen möge, sondern als Erglänzen der Mutter im Heldensohn (‚Thetis‘ – ‚Achilleus‘). Anders als Kerényi annimmt, zeugen diese der Generationenfolge verdankten Paarungen aber nicht nur vom unendlichen, unerschöpflichen Leben, sondern von einem ganzen Strukturverlauf, durch den die Weltphänomene geborgen und d.  h. verleiblicht werden. Zum Verhältnis zwischen Hypothese und Hypostase vgl. Heinrich Friedemann: Platon. Seine Gestalt. Berlin 1914, passim.

    498 

     Bruno Pieger

    Das zweite Gesetz, unter dem das Kind steht, lautet zum einen, dass Erfüllung nicht im Festhalten und in der Selbstbewahrung, sondern in der Hingabe und im Opfer liegt, und zum anderen, dass aus dem größten Opfer, dem Tod, mit einem Mal die Tat hervorgeht. Was also leichthin dahergesagt schien, verlangt ein Letztes, Äußerstes, ja Ungeheures ab. Man muss sich klar vor Augen führen, dass die Epiphanie des Göttlichen allein aus paradoxen Erfahrungen, aus Todesnähe, Untergang und Übergang hervorgeht und der darin aufscheinenden Erfüllung stets eine Verweigerung eingeschrieben bleibt. So kehrt auch das siebte Eingangsgedicht – das aufs Schönste mit dem Gedicht Über wunder sann ich nach korrespondiert, mit dem das dritte Zehnt des Zweiten Buches eröffnet (SW VIII, 70) – von Vers neun an, der Gedichtachse, die Verhältnisse um. Die bis dahin ausgesprochenen Gesetzmäßigkeiten können „des rätsels macht“ nicht brechen, ja verlangen im Sinne des ihnen einwohnenden Entzogenen und Abschiedlichen von selbst die gleichsam kultische Verehrung des Geheimnisses und Wunders, das sich nach weitestem Weg und abgrundnah als göttliches ‚Du‘ leibhaftig zugesprochen hat und nun als „Retter“ angerufen wird. Wie schon im vierten Eingangsgedicht stehen die Verse vor und ab der Gedichtachse im Verhältnis 4:3 bzw. 8:6 zueinander. Die Sonettform hilft hier nicht weiter, weil die Sinneinschnitte wenig mit einer versuchsweisen Einteilung in Quartette und Terzette zu tun haben. Wieder liegt entsprechend der altgriechischen, pythagoreisch grundierten Zahlentheorie im kürzeren zweiten Teil des Gedichts (Vers neun bis vierzehn) das Anfangsstück, die Grundeinheit, sodass die kultische Verehrung des Rätsels, seiner Gesetzmäßigkeiten und des daraus hervorgetretenen göttlichen ‚Du‘ das Ursprünglichere ist und die zuvor im Gedicht versuchte Deutung davon relativiert und begrenzt wird. Das Machtvolle und Herrschaftliche der Epiphanie geht den Wissensformen voraus und begründet sie. Der Erscheinungsgestus verlangt die antwortende Gebärde und lockt das nennende Wort hervor. Nur soweit dies gewährleistet und darin das Maß gefunden ist, gedeiht auch die Einsicht in die Grundfiguren des Daseins. Das zweite Gedicht, also das achte des Eingangs, erweist sich – wie es die Zahl acht anzeigt und verlangt – als wahrhaftes Geschehen zwischen Erde und Himmel: Die Werke der Überlieferung, die ansonsten einem Arsenal an irdischen Dingen gleichkämen, werden zu neuem Leben erweckt. Die dabei erfahrenen Aufschwünge konvergieren in den vier letzten Versen zu dem „tag“, an dem alle Lebenstendenzen bei sich selbst sind und sich zum Schönen Leben gerundet haben. Das ist Georges Phänomenologie des Geistes, aber anders, als sie sich Hegel je erträumt hätte. Ihre Voraussetzung ist der „heimlichere bund“ zwischen dem Dichter und dem göttlichen ‚Du‘. Das hier vorliegende und zu erfassende Phänomen besteht „nun“ darin, dass kein objektiver Geist mit allen Filiationen der Vernunft und Reflexion die geschichtliche Arbeit betreibt und läutert, sondern zwei Befreundete wie von selbst die Dioskurenreise durch die Geschichte antreten, vom einstmals Da-Gewesenen angesprochen und dieses selbst erleuchtend. Vom Vermögen, das dem heiligen Paar vorbehalten ist, von der ihm innewohnenden Welt-Kraft bzw. dem sich an ihm ereig-

    

    Der Stern des Bundes · Eingang 

     499

    nenden Zuwachs an Sein und von der darin zum Austrag kommenden Geschichtlichkeit heißt es im Zweiten Buch des Sterns: Wo du dich schenkst und dich nur mehr empfindest Der raum den wir verengern mehr sich weitet Du nur mir bist und alle so mir blühn … Sieh dieser sonnentag sprengt jede grenze Die zeiten vor und nach begreift er ein! (SW VIII, 57)

    Damit ist auch das ‚Heimlichere‘ dieser Verbindung angesprochen. Sie steht unter zarteren, innigeren Gesetzmäßigkeiten, die fast paradox erscheinen und dem ZweiBund vorbehalten sind, ja nur an ihm erscheinen können. Träger oder Ferment der Geschichte sind hier nicht der große Mensch, schon gar nicht der Kraftmeier, auch nicht die Monumentalgestalt, sondern die dem Dioskurenbund Fügsamen, also die wahrhaft Befreundeten. Er gibt das Modell bzw. Vorzeichen für die Runde, die der Stern des Bundes dichterisch gründet und auf die schon das achte Eingangsgedicht zusteuert. Der Bund „mit dir“ dient ab dem dritten Vers allein dazu, am geschichtlichen Leben das Du-Fähige hervortreten zu lassen. Die Anrede des heimlich Verschwisterten mit ‚Du‘ erfolgt bis zum letzten Vers viermal. Verschiedene Werke und Taten der Überlieferung werden angezeigt. Das Entscheidende liegt darin, dass die aufgerufenen Begebenheiten in der Zeitreise ein Gottesantlitz annehmen, wie es dem ‚Du‘ eigen ist und die unerschöpfliche „goldne Flut“ nicht als kosmischer Strom, sondern nur am gestalthaften ‚Du‘ zu Zeiten hervortreten kann. Damit verbindet sich eine großartige Geschichtsvision, die Einsichten Hölderlins anklingen und einleuchtend werden lässt. Das, was war, wird nicht aufgehoben zugunsten dessen, was erst am Ende zu sich kommt, sondern steht in sich und offenbart aus dem zeitlichen Abstand, der „idealischen Erinnerung“, wie Hölderlin sagen würde, die in ihm angelegte höchste Möglichkeit.21 Sie bleibt bei George dem exemplarischen Bund zwischen Dichter und erscheinender Gottheit vorbehalten. Erklärungsbedürftig bleiben einige Verse: Mit dem „weisesten“ und „frömmsten seher-spruch“ (Vers sechs) ist vor allem Hölderlin gemeint und das an seiner Dichtung Aufgegangene, in dem sich bereits „wach“ und „schamvoll […] verhüllt“ das gött­liche ‚Du‘ ankündigt. „Was über noch so stolzen nachbarn fürstet –“, hebt unterstützt vom Gedankenstrich „ein uralt unerschöpftes erbe“, dessen Wiederkehr dem „heimlicheren bund“ vorbehalten bleibt, ab von dem, was anderen aufgegeben ist, ohne deren Eigenrecht zu bestreiten. Auch über ihnen „fürstet“ etwas, das sie stolz macht. Allein schon als grammatikalisches Meisterstück erweist sich der Tag, an dem das gött­ liche ‚Du‘ „schleierlos“ hervortritt. „Gewähr und hoffen“ deuten schon darauf hin,

    21 Vgl. Hölderlins Aufsatz Das untergehende Vaterland in MA II, 72–77.

    500 

     Bruno Pieger

    dass Dagewesenes und Künftiges in einer Zeiterfahrung übereinkommen, die von der Epiphanie des Göttlichen bestimmt ist. Der erste Halbvers, wo nicht „wird“, sondern „muss“ steht, mit dem George stets ein den Menschen übersteigendes schicksalhaftes Geschehen aufruft, richtet den Blick in die Zukunft wie auf das, was war. Das verkürzte Perfekt, in dem Vers zwölf spricht, „Wo du erschienen bist“, bzw. das Präsens im Sinne von „du bist da“, bringen diese Tempora so ins Spiel, dass ihr Spezifikum, von einem noch nicht abgeschlossenen bzw. gegenwärtigen Sachverhalt zu handeln, dahingehend modifiziert wird, ein auf Wiederkehr angelegtes Ereignis anzuzeigen, den Tag der Epiphanie. An ihm erweist sich das leibhaft erschienene göttliche ‚Du‘ als mittebildend, anfänglich und von plastischer Gestalt. Es bewahrt dabei  – fern aller Idolatrie und Verfestigung – eine Geistigkeit und Frische, die es zum Schutzgeist jener prädestinieren, in denen am meisten Zukunft liegen sollte, „der heiligen jugend unsres volks!“ (SW VIII, 15). „Wer ist dein Gott?“ Vielleicht überrascht es, dass damit ein Fragen von vorne anhebt, das mit den ersten acht Gedichten schon beantwortet schien. Doch geht es in den hervorragendsten Dichtungen Georges immer so zu: Das darin gedichtete Geschehen muss in sich selbst zurücklaufen und sich darüber erneuern. Wer fragt und wer gibt Antwort? Dies lässt sich kaum entscheiden. In den ersten vier Versen werden unverzichtbare menschliche Verhaltungen genannt, in denen der Gott schon als Gegenhalt insgeheim anwesend ist. In des „traums begehr“ des Traumfähigen steht er als Vision vor Augen. Als der dem „urbild“ des Menschen „nächste“ stärkt er dessen Haltung und Schönheit. Er kündigt sich bereits in der triebhaften Gewalt der „dunklen schösse“ an und vermag das Ursprunghafte des Menschen zu erhalten. Der fünfte und sechste Vers geben Strukturprinzip und Wesensart, in welcher Weise der Gott („Er“) da und nahe ist: nur eben als geheime und zutiefst verlangte Ergänzung, durch die sich die unterschiedlichen Verhaltungen als reine, in sich gültige Gegebenheiten zu erkennen geben. So ist es am Ende nur eine zarte, jedoch helle Differenz, die das Menschliche vom Göttlichen scheidet, wie auch von „mein“ zu „dein“ das „geheimnis des übergangs“ waltet (SW XVII, 70). Die Verse sieben bis zehn sprechen gegenwendig von den Verhaltungen des Gottes, von der Art, wie er sich zuschickt: lösend, ladend, sich ergießend und schwellend. Die letzten vier Verse, mit denen der Eingang abschließt und auf die er zuläuft, geben in genauer Proportion die ganze Konstellation der göttlichen Epiphanie. Was in der Lehre des George-Kreises von Wolters nur unzureichend als Konzept von ‚Herrschaft und Dienst‘ entworfen und scheinbar neuplatonisch fundiert wurde,22 nimmt in 22 Vgl. Friedrich Wolters: Herrschaft und Dienst. Berlin 1909 und dazu Wolfgang Christian Schneider: Staat und Kreis, Dienst und Glaube. Friedrich Wolters und Robert Boehringer in ihren Vorstellungen von Gesellschaft. In: Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis. Hg. v. Roman Köster, Werner Plumpe, Bertram Schefold u. Korinna Schönhärl. Berlin 2009, S. 97–122, und ders.: „Aus einer ewe pfeilgeradem willen / Führ ich zum reigen reiss ich in den ring“ – Zu Ethik und Philia bei Stefan George. In: Stefan George.

    

    Der Stern des Bundes · Eingang 

     501

    Georges Dichtung eine lebendige Struktur an, die auf einer Wechselseitigkeit beruht, bei der Eins ans Andre verwiesen und dabei auseinandergehalten wie aufeinanderzubewegt wird. Weihe und Segnung locken einander hervor, die Gottheit braucht den Erdensohn zur Darstellung, dieser aber muss aus kosmischer Ferne gezeugt sein. Geboren wird er von einer Menschenrunde, die sich so um eine Mitte versammelt hat, dass ein gemeinsamer Geist in ihr herrscht. Aus ihm vermag die Geburt der Gottheit erst in der rechten Weise zu erfolgen. Die in Frage stehende Konstellation und Proportion zeichnet sich durch Zusammenspiel und Unterscheidung, Bewegtheit und Ruhe aus. Sie ist dabei deutlich mehr als nur ein funktionaler Zusammenhang einzelner Elemente. Diese erhalten vielmehr erst durch Teilnahme, Durchlässigkeit und Verkörperung ihre Bedeutung und wachsen in der Begegnung. Indem sie sich zueinander verhalten und ins Verhältnis setzen, entsteht – Irdisches und Kosmisches, Menschliches und Göttliches wohlunterschieden miteinander verbindend – eine lebendige Situation, eine Sphäre, ein Nomos. Doch was hierfür alles auszutragen ist und sich keineswegs von vornherein organisch einfügt oder als Lehre und Weltanschauung festhalten lässt, bleibt dem Gang durch die drei Bücher des Sterns des Bundes vorbehalten.

    Dichtung Ethos Staat. Denkbilder für ein geheimes europäisches Deutschland. Hg. v. Bruno Pieger u. Bertram Schefold. Berlin 2010, S. 289–306.

    Bruno Pieger

    Erstes Buch Vorbemerkung Auch wenn für das Erste Buch relativ leicht anzugeben ist, dass der Aufbruch des jungen Dichters im ersten Zehnt und die Kritik an der Zeit, den Zeitgenossen und an früheren Weggefährten im zweiten und dritten Zehnt aufeinander verweisen, so besteht doch eine große Schwierigkeit, den Zusammenhang genau zu fassen. Es fällt nicht leicht, die Sprechsituation zu bestimmen und dem gerecht zu werden, womit sich der Dichter in diesem Teil des Sterns auseinandersetzt und was er darin tatsächlich austrägt. Eine starke Stellung beanspruchen im Ersten Buch jeweils das erste Gedicht eines Zehnt und das ein jedes abschließende letzte Gedicht, das gereimt ist und den Übergang vom einen zum anderen Abschnitt herstellt. Die Aufteilung in drei Triaden fällt gegenüber dem Eingang weniger stark ins Auge, sodass wir uns auf die Neunzahl und die Eins konzentrieren dürfen. Zu vermuten ist, dass die Grundfrage, die es noch zu klären gilt, neunfach gewendet sein will, bis sie zu der einen, die gegenläufigen Wendungen vereinigenden Antwort und Weiterführung des zehnten Gedichts findet.

    Erstes Zehnt Das erste Gedicht setzt mit einer deutlichen Veränderung der rhythmischen Struktur ein, die dem Aufruhr der Kräfte und Mächte entspricht, der im ersten Zehnt wie überhaupt im Ersten Buch durchgehend spürbar bleibt. Jetzt jagen und schieben sich Daktylen, Jamben, Trochäen und Anapäste, wobei dem Leser ein Spielraum bleibt, wie er die Versfüße setzt und rhythmisch realisiert. „Gewitter“ und „sturmwind“ beherrschen das Szenarium, und beide sind ausdrücklich über das Possessivpronomen „dein“ einer Instanz zugewiesen, die als „Donnrer“ in Erscheinung tritt. Die Assoziation an den donnernden Gott stellt sich unweigerlich ein und damit ein Attribut, das in der griechischen Antike dem höchsten Gott, also Zeus, vorbehalten war, der zugleich als Wettergott galt. Doch ist dieses Gegenüber – und das gibt uns einen ersten Hinweis auf die Sprechsituation – im ersten Zehnt nicht mehr das göttliche ‚Du‘, das den Eingang bestimmte. Genauer: Dieses ist tatsächlich in einen Hintergrund zurück- bzw. eine entfernte Sphäre hinweggetreten, bei der man etwa an die Sternenwelt denken darf. Der Ent-wirklichung des leibhaft gegenwärtigen ‚Du‘ entspricht ein größeres Maß an Verborgenheit, woraus aber der göttlichen Gestalt, die nun besser als Gottheit benannt wird, neue Macht und Wirkung zuwächst. Sie ist mit einem Mal welterschütternd. Es leuchtet ein, dass der Dichter dem göttlichen ‚Du‘ des Eingangs

    

    Der Stern des Bundes · Erstes Buch 

     503

    nicht die Fragen hätte stellen können und sich von ihm nicht in der Weise hätte fragen und ansprechen lassen können, wie es nun geschieht. Im ersten Gedicht fragt der Dichter die Gottheit, inwieweit sein Dichter-Sein vor dem Schicksal der Zeit, das von göttlich forciertem „unheil“ geprägt ist, bestehen kann. Die Antwort der Gottheit trägt erhabene Züge: Zum einen steht für das DichterSein eine umfassende Musenkunst im Sinne der altgriechischen musiké, bei der das tönende Wort schon den Reigen evoziert und die hier durch die „hehre harfe“ und die „geschmeidige leier“ angezeigt ist. Zum anderen sagt diese zur musiké erweiterte Dichtkunst den „willen“ der Gottheit und das, was „unwandelbar ist in der ordnung der sterne.“ Zunächst klingt es sehr eigenmächtig, wenn von „meinem willen“ die Rede ist, und würde bedeuten, dass die Gottheit einer christlichen wie nietzscheanischen Willensmetaphysik unterworfen wäre. Doch ist die Stelle auch eine Anspielung auf den Anfang der Ilias, wo es in Vers fünf des ersten Gesanges heißt: Διòς δ’ ἐτελείετο βουλή – So trat des Gottes (des Zeus) wägender Fug hervor.1 Dann wäre der Dichter fast wie der alte homerische Sänger ein Helfer der Gottheit beim Zum-Vorschein-Bringen. Und tatsächlich wird er in diesem Sinn gebraucht; denn der göttliche Wille und das Unwandelbare „in der ordnung der sterne“ lassen sich nicht positiv bestimmen und inhaltlich füllen. Wir erfahren nur, dass sie in einem beinah heraklitischen Sinne die „steigend und stürzende zeit“ durchragen. Also ist der Dichter dafür zuständig, durch die Fügung des Gesangs, der immer wieder abgewandelt und erneuert sein will, die Gefügtheit der Welt zu erkennen zu geben. Dies steckt in dem auf die Musenkunst wie auf den göttlichen Plan bezogenen Wort „Sagt“, mit dem Vers fünf und Vers sechs jeweils einsetzen. Dazu muss dem Dichter von Anfang an etwas zugesprochen sein. „Diesen spruch“ verkündet die Gottheit in den Versen sieben bis zehn. Sie stehen zu den Versen eins bis sechs im Verhältnis von 3:2 bzw. 6:4, also wie in einer Quinte zu­einander. Das Gedicht baut wiederum auf den letzten vier Versen als Grundton seiner Harmonie und d.  h. seiner Gefügtheit auf. Den darin formulierten Spruch soll der Dichter in sich „verschliessen“. Also ist zu vermuten, dass er vom eigensten Auftrag des Dichters handelt, der bei allem, was er tut, insgeheim leitend bleibt. Es dreht sich um das, was der Dichter bei aller Kunstfertigkeit nicht selbst in der Hand hat. Wie der „herzog“ und „heiland“, mit denen er verglichen wird und womit ein herrschaftlicher wie Heil verbürgender Wesenszug ins Spiel kommt, muss er von Geburt an eine Luft eingeatmet haben, die ihn mit visionärer („profeten-musik“) und heroischer („heldengesang“) Kraft erfüllt. Wiederum gibt George entgegen seiner angeblichen Musikferne dafür Metaphern, die aus dem Bereich der Musik genommen sind und ein weiteres Mal

    1 Βουλή wird von den deutschen Homer-Übersetzern entweder mit ‚Wille‘ (Voß, Latacz) oder mit ‚Ratschluss‘ (Schadewaldt, Hampe) wiedergegeben. Die Διὸς βουλή erscheint laut dem Basler Kommentar als „handlungslenkender Faktor“ und meint „werkinterne Planungen bzw. Entscheidungen des Zeus“: Homers Ilias. Gesamtkommentar. Hg. v. Joachim Latacz. Bd. I, Fasz. 2. 3., durchges. Aufl. Berlin u. New York 2009, S. 20.

    504 

     Bruno Pieger

    in die schon genannte musiké weisen. Die Frage nach der angemessenen Tonart, die bald auftaucht und im fünften Gedicht des ersten Zehnt deutlich hervortritt (SW VIII, 22), wird dies weiterführen. Es darf aber auch an Hölderlins Vers aus der Hymne Wie wenn am Feiertage gedacht werden, wo es von den Dichtern heißt, dass sie „in leichtem Umfangen“ von der Natur erzogen werden.2 Mit dem ersten Gedicht ist dem ersten Zehnt sein Thema vorgegeben. Es besteht in einer Frage. Analog zum Eingang, der in gewisser Weise von der Frage, „Wer ist dein Gott?“ (SW VIII, 16) bestimmt war, fragt nun das erste Zehnt: Wer ist der Dichter? Wer bin ich als Dichter? Schon von daher ist es zu Hölderlins eben zitierter ‚Dichterhymne‘ nicht weit. Deutlich wurde schon, dass der Dichter diese Frage nur aus dem Gegenüber zur Gottheit beantworten kann und sich dafür mit ihr im ersten Zehnt inständig auseinandersetzt. Er konstituiert sein Dichter-Sein, sofern er daseinsmäßig in den Bereich einrückt, in dem das Gegenüber zwischen ihm und der Instanz spielt, die sich als Gottheit zuspricht. Zu vermuten ist, dass auch die Zeitkritik, die im Ersten Buch geübt wird, nicht um ihrer selbst willen oder aus gesellschaftspolitischen und kulturkritischen Gründen erfolgt, sondern der Befreiung des Dichters dient. Im zweiten Gedicht fragt die Gottheit den Dichter. Im ersten Gedicht hatte sie ihm auf die Frage nach dem Sinn seines Tuns in Zeiten der Not die musiké als Bürgschaft für eine göttlich gefügte Welt überantwortet. Nun fragt sie ihn, ob er als junger Dichter dieser Aufgabe im dionysischen „tanz“ und „spiel“ schon hinreichend entsprochen habe. Dabei wird das Erklingen von „horn und flöte“ im fallenden, von Trochäen geprägten Rhythmus gegenwärtig. Die Verse drei bis neun geben die an den „Herrn“ gerichtete Antwort: Alle Versuche des jungen Dichters, ob Lockung, Beglückung, Erforschung und Wanderschaft, sind nur Schritte einer Gottsuche gewesen, die ganz darauf abgestellt ist, das „eigne leben“ an einem Größeren bestätigt zu sehen. Das dritte Gedicht nimmt diese früheren Zeiten als Zeiten der Not und Gefahr auf, in denen der Dichter, der jetzt wieder zur Gottheit spricht, schon den göttlichen Samen in sich trug und wachsen ließ, so sehr, dass er sich inzwischen vervielfältigt hat und nicht mehr übersehen oder getilgt werden kann. Auf dieser Stufe angelangt, auf der das ihm Aufgegebene schon weit gediehen ist und andere Menschen erreicht hat, bittet der Dichter die Gottheit, dass er von der „segnung“, unter der er steht, „nichts verlaute“, sie „wahre“ und der Gottheit „heiliges geheimnis treu behüte.“ Der Dichter scheint die Gefahr zu spüren, dass die Früchte für sich genommen ein falscher Reichtum wären. Das ihm Auferlegte erfüllt sich nicht, wenn die Freunde lobend zustimmen, wenn die gesellschaftliche Positionierung gelingt und die Öffentlichkeit erreicht ist. Sein Dichter-Sein realisiert sich nur, wenn es in der Geheimnis-Struktur und der ihr eigenen Dynamik aushält, um das innige Gegeneinander von Gottheit und

    2 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Michael Knaupp. Bd. I. München 1992, S. 262. Im Folgenden werden Zitate aus dieser Münchner Ausgabe unter Angabe der Sigle MA, Band- und Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen.

    

    Der Stern des Bundes · Erstes Buch 

     505

    Mensch, zwischen der stimmenden Stimme und dem Übergang in die Kundgabe des Gedichts auszutragen und allein diesen Ertrag zu den Menschen zu bringen. Ja der Dichter sagt sogar, dass dies selbst ihm nur zeitlich befristet erlaubt ist und gelingen wird. Der Klärung bedürfen das „süsse licht“, die „verschwiegnen lieder“, und die Frage, wie der Dichter Menschen überhaupt erreichen möchte, wenn es nicht ohne weiteres die Freunde sind und auf keinen Fall „des schwarms getriebe und gemurre“. Auch darf es nicht durch Verletzung des Geheimnisses geschehen. Vermutlich hängen alle drei Dinge eng miteinander zusammen. Das Licht wird im Stern des Bundes fünfzehnmal aufgerufen. Einmal, im ersten Gedicht des Dritten Buches, wird es zum „breiten licht“, in dem alle, die an ihm Anteil haben, erstrahlen (SW VIII, 82). Sonst ist das Licht eher den Wenigen und herausgehobenen Situationen vorbehalten. Aber von ihm angestrahlt zu sein, bildet die Voraussetzung, um im Geheimnis zu stehen und an der von diesem gefügten Welt, die in der innigen Begegnung von Mensch und Gottheit gipfelt, teilzunehmen. Der Dichter als ein bestimmtes Individuum, das Verse schmiedet, reicht nicht in diesen Bezirk, genauso wenig die sogenannten Freunde, die sich durch die Bekanntschaft mit einem Dichter geehrt fühlen und ihm schöntun. Das „süsse licht“ (SW VIII, 20) ist die dem Dichter wesensnotwendige Seinserhellung, in der sein Dasein, Mit-Sein und Zur-Welt-Sein erst zum Stehen kommen und die ihm immer schon voraus liegt. Unter den „verschwiegnen liedern“ dürfen Lieder verstanden werden, die in der Zwiesprache des Dichters mit der Gottheit anlauteten, genauer: die dem Dichter als göttliche Mit-Teilung und stimmende Stimme vorgesungen wurden, bevor sie wie von selbst ins Schweigen zurücksanken. Verboten wäre ein unmittelbares Verlauten, das die göttliche Stimme ohne Vermittlung preisgibt.3 Doch verlangt sie die Kunstfertigkeit des Dichters, durch die er die göttliche Mit-Teilung (gr. theia moira) als „Bild ton und reigen“ zu „behüten“ weiß (SW VIII, 100). Die Sprechsituation ändert sich nun insofern, als im vierten, fünften und sechsten Gedicht (SW VIII, 21–23) zwar die Gottheit zum Dichter spricht, aber dieser so in das ihm auferlegte Geschehen verwoben ist, dass er die Deutung beinahe nach Art eines Selbstgesprächs vornehmen kann. Einmal mehr zeigt sich in dieser Anlage der Sprechsituation das dichterische Ingenium Stefan Georges, das ‚Mein‘ und ‚Dein‘ und eine darüber stehende Instanz so einander annähert und unmerklich ineinander übergehen lässt, dass niemand genötigt ist, an eine einzige Person oder eine wo auch immer anzusiedelnde Entität zu glauben. In allen drei Gedichten geht es um eine „fügung“, ein „geschick“, um etwas, das „verhängt“ ist und „verkündigt“ wird oder schon „in vorgeburten / Beschlossen“ lag. Das vierte Gedicht vergegenwärtigt in den ersten drei Versen, wie sehr der Lebensweg des Dichters von Fall und Sturz, Dopplung und Spaltung geprägt ist. Er ist der Dyas, die dem Sein eingeschrieben ist, besonders ausgesetzt, aber so, dass er daraus

    3 Vgl. zum Folgenden Jean-Luc Nancy: Die Mit-Teilung der Stimmen. Zürich 2014.

    506 

     Bruno Pieger

    Leben gewinnt, indem er sich tatsächlich zu „doppeln“ und zu „spalten“ versteht. Schon hier klingt an, dass er sich ein dem Sein entspringendes Geschick einzuverleiben vermag und sich dadurch ausgezeichnet weiß. Die Verse vier bis sieben deuten auf eine sich steigernde Folge von Verhängnissen, die den Dichter nicht zugrunde richten, sondern immer mehr in seinem Dichter-Sein verankern. Die Steigerung und Zuspitzung der Ereignisse führt im sechsten und siebenten Vers auf Georges MaximinErlebnis zu, das vom achten bis elften Vers erläutert wird: Den Dichter, der durch alle Schwierigkeiten hindurch bis dahin gekommen und in diesen Erschütterungen stark geworden ist, ficht es nicht an, dass er sich der Erscheinung des göttlichen ‚Du‘ subordinieren muss. Die Gedichtachse liegt zwischen dem fünften und sechsten Vers. An ihr wendet sich die Dynamik des Ansturms und der Spaltungen in einen Halt und eine Stärke, die für die Epiphanie und für ein Dichter-sein, das sich ihr gegenüber als Diener-Sein begreift, frei geworden sind. (Zum fünften Gedicht siehe den folgenden Beitrag.) Im sechsten Gedicht wird der Dichter, der jetzt um sein Dichter-Sein weiß, daran erinnert, dass er sich schon in jungen Jahren als Staatsschöpfer und Gesetzgeber betätigt hatte. Diese Aufgabe des seiner selbst bewusst werdenden Dichters wird an dieser Stelle fast spielerisch und märchenhaft eingeführt. Dahinter verbirgt sich aber ein hoher Ernst, bedenkt man, dass bei dem frühgriechischen Dichter Solon Dichtung und Gesetzgebung Hand in Hand gingen. Woraus legitimiert sich die nomothetische Aufgabe des Dichters? Zunächst ist von einem „unfassbar geschehn“ die Rede, von dem erst einmal nur im Konjunktiv gesprochen werden kann. Es ‚liege‘ – wie Dichter meinen  – „in vorgeburten  / Beschlossen“. Die „vorgeburten“ korrelieren mit dem „frühsten traum“, dem er um derselben Aufgabe willen folgen soll. Zu den leibhaft empfundenen Stößen gesellt sich also die visionäre Kraft. Der Einschnitt im Aufbau des Gedichts liegt mehr nach dem Ausrufezeichen am Ende des dritten Verses als schon nach dem Gedankenstrich am Ende des zweiten. Die Verse vier bis neun erinnern das nomothetische Wirken des jungen Dichters, das vielleicht nach Art des ‚kindlichen Königtums‘ aus einem Spiel der Kindheit oder Jugendzeit hervorgegangen ist. Damals erwies sich das Unfassbare als das Unscheinbare, das „staubkorn“, fast als ein Nichts, aus dem der Dichter Staat und Verfassung entworfen hatte. Doch war es kein Akt der Willkür, vielmehr Ergebnis eines Zuspruchs, durch den sich der Dichter „geführt“ und „erkoren“ vorkam, wie es in Vers fünf, der Gedichtachse, heißt. Dieser Zuspruch ist nicht als Gnade aufzufassen, sondern geht aus der Art und Weise hervor, wie sich der Dichter zum All und sich dieses zu ihm ins Verhältnis setzt: „›Beim druck des alls dem du entgegenwirktest‹“. George zitiert sich mit diesem Vers selbst.4 Wichtiger ist aber der Bezug zu Mallarmés Dichtungstheorie, nach der sich das Dichter-Sein am Kosmos inspiriert und aus dem Wechselverhältnis von Druck und Gegendruck gültige

    4 Schlussvers vom fünften Bild des Manuel-Fragments, siehe SW XVIII, 29; vgl. EM I, 351.

    

    Der Stern des Bundes · Erstes Buch 

     507

    Konstellationen hervorgehen.5 Der junge Dichter verließ – so heißt es jetzt – den von ihm errichteten Staat, so wie sich Solon zehn Jahre außer Landes begab, nachdem das Gesetzeswerk vollbracht war. Warum dieser Schritt? Solon soll befürchtet haben, dass die Gesetze, die er gab, wieder verändert werden. Bei George vermeidet das Fortziehen des Nomotheten hingegen das Positivwerden der Gesetze, ihre Erstarrung im positiven Recht und im schlimmsten Fall die Tyrannis qua Recht. Deshalb teilt er auch den Thron, bevor er weggeht. Der Dichter muss, soll seine Gesetzgebung lebendige Verhältnisse im Staate schaffen und erhalten, um „weitre welten“ wissen, von denen jede aus dem Grundverhältnis zwischen Dichter und All genauso als Konstellation hervorgehen könnte. Er weiß also um das Vorläufige aller Gesetzgebung gegenüber dem Unfassbaren. Dieses Wissen macht seine Gelassenheit aus, die auch in der Darstellungsart des Gedichts mitschwingt (SW VIII, 23). Im siebenten Gedicht spricht der Dichter zur Gottheit, die sich fast als das göttliche ‚Du‘ des Eingangs aktualisiert. Vielleicht führt er aber einfach nur ein Selbstgespräch. Der Dichter greift den Topos des Verschweigens aus dem dritten Gedicht wieder auf. Wenn er das empfangene göttliche „licht“ bewahren will, darf er die Gottheit nicht direkt aussagen, sondern nur mit einem „wort / Das dafür steht“. Aus der Einsicht, dass Licht und Stimme der Gottheit sich als Mit-Teilung und somit jedem den ihm zukommenden Teil zusprechen, gehen dem Dichter zugleich die Augen auf für die eigene Endlichkeit. So ruft ihn die Pflicht, aber auch der Traum darf wach bleiben, der nun nicht mehr wie im vorangegangenen Gedicht der „frühste“, sondern der „von morgen“ ist – einer wie der andere dem unfassbaren Licht entsprungen, von dem es in den abschließenden Liedern des Neuen Reichs heißt: „Wir wären kinder · wollten wir dich fassen –“ (SW IX, 109). Im achten Gedicht spricht der Dichter zu den ihm Nahestehenden, und es klingt in den ersten fünf Versen, als ob er kaum zu sagen wüsste, was mit ihm geschehen ist. Dreimal setzen die Verse mit „Nennt es“ ein und insgesamt werden in der ersten Gedichthälfte sechs Möglichkeiten der Bezeichnung für das entscheidende Ereignis angeboten: Der „blitz“, der „wink“, das „ding“, der „keim“, der „funke“, die „kehr“. Wir hören noch, dass ein zeitlicher Aspekt („zu meiner stunde“) eine Rolle spielt und das, was sich ereignet hat, so „ungreifbar“ wie „wirklich“ ist. Auch könnte es „dem nichts“ oder einem „kreisenden gedanken“ entstammen. Besser lässt es sich nicht benennen, wie es überhaupt im Gedicht, wenn man das „ists“ in Vers drei einbezieht, durch sechsmaliges „es“ angezeigt wird. Wie im vorigen Gedicht liegt die Gedichtachse zwischen dem fünften und sechsten Vers. Auch jetzt ist aus der ersten Gedichthälfte eine Konsequenz zu ziehen, die hier noch durch eine Folge von Doppelpunkten

    5 Vgl. etwa Karl Hölz: Destruktion und Konstruktion. Studie zum Sinnverstehen in der modernen französischen Literatur. Frankfurt/M. 1980, S. 35; ferner Ludwig Lehnen: Mallarmé et Stefan George. Politiques de la poésie à l’époque du symbolisme. Paris 2010, S. 131–156.

    508 

     Bruno Pieger

    am Ende des fünften, in der Mitte des sechsten und nach dem achten Vers unterstrichen wird: Die Konsequenz ist zwingend in drei Stufen aufgebaut. Die erste Einsicht lautet: Das entscheidende Ereignis kann nicht in „sprüche“ gefasst werden. Im Wort „sprüche“ schwingt eine Doppeldeutigkeit mit: Es könnte sich darum handeln, nur Sprüche zu machen, aber meint doch eher, dass selbst Wahr-Sprüche, das Gnomische, die Spruchdichtung, nicht hinreichen. Das Ereignis, „kraft und flamme“ zugleich, verlangt eine umfassende Umsetzung „in bild in weltund gottesreich“. Während im Gedicht zuvor ein Verzicht formuliert wurde, der den Dichter vor einem Verfehlen des Maßes und vor Hybris schützt, darf nun der höchste Anspruch walten: Getreu den Worten Heraklits, „All dies steuert der Blitz“ bzw. von den Winken, die der Gott des Delphischen Orakels gibt, und von der physis, die sich zu verbergen liebt,6 hat sich der Dichter mit Verwunderung und Bekräftigung dem überlassen, was mit einem Mal „in ihn kam“. Daraus leitet er für sich und seine Freunde eine Geschichte gründende und Welt stiftende Aufgabe ab („Füllt es“), die sich nicht als einmaliger Gründungsakt erledigt, sondern ein sich fortpflanzendes Vollbringen verlangt. Das Eingestalten „in bild in welt- und gottesreich“ erlangt seine höchstmögliche Intensität und volle tektonische Entfaltung, wenn alle füreinander einstehen und in­einander gefügt sind. Welt erfährt eine Heiligung, wenn sie als Gebilde dem Ereignis entspringt. Gottes Reich ist nichts Jenseitiges, sondern öffnet sich als Phänomenologie der Gegebenheiten, als welche die Weltkräfte entgegenkommen. Das hatte sich schon an der Epiphanie des göttlichen ‚Du‘ gezeigt. Die drei übrigen Verse vollziehen die letzte Konsequenz: Wenn das Gestalten und Vollbringen ursprünglich und anfänglich bleiben soll, reicht es nicht, wenn der Dichter „ein neues Einmal“ verkündet, sei es ein Zukunftsbild oder die Rückkehr zu etwas Vergangenem oder das bloße Hier und Jetzt. Vielmehr braucht es dafür den „reigen“ und den „ring“, also die Ausbildung einer gemeinschaftlichen Sphäre, die für das heilige Ereignis bürgt, es festlich vergegenwärtigt und bauend aufnimmt und von der es in weitere Lebenskreise ausstrahlt. Damit verbindet sich der Übergang von einem Weltalter in ein anderes. Das bisherige war vom ‚pfeilgeraden willen‘ bestimmt, das neue wird dem „reigen“ und dem „ring“ gehören. Der ‚pfeilgerade wille‘ entstammt der christlich-jüdischen Tradition, auch der Fortschrittsglaube hat damit zu tun. Dagegen war die griechische Weltauffassung auf einen geordneten Kosmos ausgerichtet, dem auch die Gottheit verpflichtet und der dem Erwägen, Erkennen und Gestimmtsein wie einem daraus hervorgehenden Wissen zugänglich war. Ein eigenes Wort für ‚Wille‘ erübrigte sich. Mit seinem Sinn für Gegebenheiten, Phänomene, Epiphanien und Strukturverläufe knüpft George an die griechische Welterfahrung an, wie sie sich zwischen Homer und Aristoteles ausgebildet hatte. Er entgeht dabei dem Abweg Nietzsches, der den Willen

    6 Die Vorsokratiker I, Hg. v. Gemelli Marciano. Düsseldorf 2007, S. 307 (Fr. 38 = DK 22 B 64), S. 289 (Fr. 7 = DK 22 B 93) u. S. 301 (Fr 25 = DK 22 B 123).

    

    Der Stern des Bundes · Erstes Buch 

     509

    leiblich verankert, dabei aber in ein Machtbegehren umbiegt, das sich als Selbstermächtigung zunehmend entleert. Allerdings scheint in den letzten beiden Versen viel Nietzsche zu stecken, wenn der Dichter ins neue Weltalter nicht nur „führt“, sondern „reisst“. Doch ist genau zu lesen. „Aus einer ewe“ führt und reisst er in eine andere. Die Ermächtigung gilt nur für den Übergang (SW VIII, 25). Nicht zufällig steht das Gedicht, das mit der Frage „Kommt wort vor tat kommt tat vor wort?“ einsetzt, an der neunten Stelle des ersten Zehnt. Es handelt sich um eine Selbstvergewisserung des Dichters in neun Versen. Die letzten drei sprechen dann, eingeführt durch das Possessivpronomen „Mein“, vom Beispiel, das der Dichter selbst gegeben hat. Unter der Neunzahl muss das in mehrfacher Gegenwendung errungene Dichter-Sein seine Berechtigung überprüfen, bevor es im zehnten Gedicht seine vollkommene Gestalt aussprechen darf. Die Sprechsituation erinnert an ein Selbstgespräch des Dichters, doch könnte er das dabei Bedachte auch der Gottheit oder seinen Anhängern vorgetragen haben. Erstaunlich fällt schon die manifeste Antwort in Vers sechs auf die Eingangsfrage aus, da sie nicht probiert, in faustischer Manier dem Wort oder der Tat den Vortritt zu lassen: „So tauscht das schicksal lächelnd stand und stoff“. Der sechste Vers sieht demnach beide im „schicksal“ vereint, in dem die „ungreifbare“ Dimension des vorausgehenden Gedichts mitschwingt. Das heißt zugleich, dass dem Schicksal in dem, wie es sich zuschickt, Wort wie Tat wesensnotwendig sind. Es muss sich in beide entfalten können und tatsächlich entfalten. Die Grundfigur des ‚Eines zugleich und Andres‘ gilt auch hier. Doch macht sich von da aus eine eigentümliche Chemie zwischen Wort und Tat bemerkbar, wodurch sie sich, als wäre etwas wie Osmose im Spiel, austauschen, ja vertauschen. Das objektivierende geschichtliche Beispiel gibt das Handeln des Dichters im „altertum“. Von der Polisgemeinschaft dazu aufgefordert und dafür gebraucht, trat er, bevor der Kampf begann oder wenn das Heer daniederlag, vor die Krieger und stachelte sie mit seinem Gesang an. Wir dürfen beispielhaft an Tyrtaios denken, der auf Geheiß des delphischen Orakels von den Spartanern, als sie die aufständischen Messenier nicht besiegen konnten, in Athen angefordert wurde. Anders als es sich die Athener gewünscht hatten, trat er in Sparta als Dichter auf, und zwar mit der Autorität dessen, den Apollon eingesetzt hatte und der „stets von neuem durch die Macht seines Wortes die Spartaner zum Kampf rief und anspornte“7. Vielleicht griff er auch selbst in die Kämpfe ein, was George aber beiseite lässt, genauso wie er den Bezug zu Delphi verschweigt. Es kommt ihm ganz auf die Botschaft an: Das Wort von einem, der nicht tatkräftig zu handeln scheint, spendet den Sieg, der doch erst vom Heer erkämpft werden muss, einem Heer, das ohne die Anfeuerung durch den Dichter schon aufgegeben hatte. Wer handelt? Was vermag das Wort? Das Gedicht endet mit dem Größten, was der Dichter selbst vollbracht hat: Was ihm der Traum, „der frühste traum“ wie

    7 Conrad M. Stibbe: Das andere Sparta. Mainz 1996, S. 90. Vgl. Pausanias: Reisen in Griechenland. IV. Buch, 6. Abschnitt.

    510 

     Bruno Pieger

    „der traum von morgen“, eingab und sein Dichter-Sein und Dichten ergriff und leitete, trat in die Verwirklichung über und erscheint als „das kind“, das von ihm ausgesandt wurde und sich nun in irdischer Vollkommenheit zeigt. Das zehnte Gedicht ist das erste Reimgedicht, das uns im Stern des Bundes begegnet. Zu diesem Gedicht sind Bemerkungen Edith Landmanns überliefert, die das Widerfahrene, das diesem Gedicht zugrunde liegt, eindrücklich veranschaulichen: Ich habe damals George einmal gesehen, so dass ich erschrocken, wie vor etwas, das zu sehen nicht erlaubt ist, den Blick wegwandte. Er sass auf einer Bank zusammengekauert wie ein Vogel; wollte ich sagen, dass er nach innen zu lauschen oder zu schauen schien, so läge darin noch etwas Aktives, aber er schien wie jemand, mit dem etwas geschah, wie ein Gefäss, in dem eine andere Macht wirkte. – Etwas Ähnliches schien mir an dem letzten Abend, bevor die anderen abreisten, als er Gedichte aus dem Stern las. Er las das: ‚Ich bin der eine und bin beide …‘ wie einer, der es erduldet hatte, und der es nun als ein Erlittenes aussagte.8

    Das Gedicht präsentiert zwölf Verse, die alle mit „Ich bin“ einsetzen. Es folgt immer ein zweiteiliges Prädikatnomen, von dem das erste für etwas steht, zu dem das zweite das Gegenstück liefert. Beide sind entweder durch Konjunktion oder Wiederholung der Kopula miteinander verbunden (gelegentlich auch durch beides). Der Dichter scheint also über eine Identität zu verfügen, die bipolar angelegt ist. Doch könnte man ihm vorwerfen, dass er sich alle Erscheinungen rein selbstbezüglich aneignet und in allem nur sich selbst sieht. Das wäre eine Situation, wie sie im ersten Abschnitt der Hyperion-Trilogie kritisiert wird: „Ihr auch zu zweien allein: / Ihr mit dem spiegel“ (SW IX, 12). Vermutlich ist dem Dichter auf seinem bisherigen Weg eine komplexere Identität zugewachsen. Bereits der erste Vers, „Ich bin der Eine und bin Beide“, erfüllt die Grundfigur des ‚Eines zugleich und Andres‘, was mehr als Bipolarität bedeutet. Der Dichter muss nämlich zu dem einen Aspekt auch schon die Gegensicht in sich vereinigt haben. Sein Dichter-Sein lebt daraus, dass es sich in das Eine wie das Andre entfalten kann, aber so, dass es immer schon im Horizont des Anderen steht. Als „der Eine“ weiß er, dass er beide umfasst, und sofern er „Beide“ ist, vermag er dies als „der Eine“. Mythologisch betrachtet liegt darin das Produktive einer Dyade.9 Anschaulicher sind die weiteren Aussagen. In den Versen zwei bis vier sind jeweils ein aktives Moment und sein passives Gegenstück genannt. Dabei steht in den Versen zwei und drei das aktive voran, während sich dies im vierten Vers umkehrt und das passive Moment vorgezogen ist: „zeuger“ – „schooss“, „degen“ – „scheide“, 8 EL 21, Anm. 1; vgl. Ute Oelmann in SW VIII, 133. Baudelaires Gedicht L’Héautontimorouménos (Der Selbsthenker), auf das Oelmann ebd. verweist, zeigt vor allem, wie sehr der Gedichtsprecher hier noch in sich selbst verstrickt ist, im Gegensatz zum freien, weltenerschließenden Dastehen des Dichters am Ende des ersten Zehnt (Erstes Buch) im Stern des Bundes. 9 Vgl. Hesiod: Theogonie. Übers.  u. erl. v. Raoul Schrott, S. 89–103, wo dies von Schrott an der Dyade Hekate/Muse (griechisch) bzw. Hepat/Mus(u)ni (hethitisch) gezeigt wird.

    

    Der Stern des Bundes · Erstes Buch 

     511

    „opfer“  – stoss“. Die sexuelle Konnotierung ist unverkennbar, aber nicht exklusiv. Doch wird man sagen dürfen, dass der Dichter produktive und rezeptive Anteile als unterschiedene und sich wechselseitig ergänzende in sich integriert hat. In den Versen sechs bis acht garantiert die eine Sache das Gelingen der anderen bzw. umgekehrt dieses die Berechtigung jener: der „bogen“, dass der „bolz“, das Geschoss, losschnellen kann, der Altar, dass der „fleher“ gehört wird und  – unter Umkehrung der Reihenfolge – das Holz, dass sich das Feuer entfachen kann. Das hier waltende Verhältnis kann nicht ohne weiteres als eines zwischen aktiv und passiv bezeichnet werden. Eher handelt es sich um ein gegenseitiges Verpflichtet-Sein, das daraus lebt, dass dem Einen etwas fehlt, was der Andere hat und so Eines ins Andere übergehen kann. Bei Bogen und Bolzen etwa übertragen sich das aktive und das passive Moment so aufeinander, dass innerhalb einer präzisen Abfolge jedem einmal das Eine oder Andere zukommt. Ähnliches war schon in vorausgegangenen Gedichten der Fall. Es trifft auf das Verhältnis von Barde und Kämpfer zu wie auf das von Traum und Verwirklichung oder von Geschick und Gestaltung. In den Versen neun bis elf kippen die Erscheinungen, nämlich von Reich zu Arm, vom Zeichen zum Sinn, vom Schattenbild zur Wahrheit und dann wieder zurück. Keines ist ohne das Andere und das Eine kann nur hervortreten, wenn das Andere den Hintergrund abgibt. So verhält es sich zwischen kosmischem Andrang und menschlicher Gestalt, zwischen den verschwiegenen und den verlauteten Liedern, zwischen dem Höheren und dem ihm Dienenden. Bleiben der fünfte und der zwölfte Vers, die durch ihre zahlenmäßige Stellung herausgehoben und besonders erklärungswürdig sind. In dem durch die Hochzeitszahl ausgezeichneten fünften Vers kommt es tatsächlich zu der für das Dichter-Sein entscheidenden Vermählung. Der Seher steht im Horizont der Sicht, und diese bleibt angewiesen auf ihn, den sie anblickt und der zurückblickt, worin sich das Sehen konstituiert. Geheimnis und Vollendung des Dichter-Seins liegen also in etwas, was mit Merleau-Ponty als Chiasmus (Verflechtung) bezeichnet werden kann und von ihm auch das ‚Fleisch‘ der Welt wie des Leibes genannt wurde.10 Bei George steht dafür das Wort ‚Einverleibung‘.11 Aus dem zwölften Vers geht hervor, dass die Verflechtung bzw. Einverleibung immer von neuem ausgetragen werden muss, dass ihr eine Zeitlichkeit eingeschrieben ist und sie unter dem Vorzeichen der Endlichkeit steht. Der einverleibte Dichter erfährt sich selbst als Übergang und somit als denjenigen, mit dem etwas endet und anfängt. Damit ist die Auseinandersetzung vorgegeben, die das zweite und dritte Zehnt des Ersten Buches führen werden. 10 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare (entstanden 1959–1961, veröffentlicht postum 1964). München 1986, S. 172–203 und passim. Vgl. ferner Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe. Unter Mitarb. v. Klaus Ebner u. Ulrike Kadi hg. v. Helmuth Vetter. Hamburg 2004, Stichworte ‚Chiasma‘, ‚Chiasmus‘ und ‚Fleisch‘. 11 Vgl. dazu Gertrud Kantorowicz: Über die griechische Kunst. Hg. u. eingel. v. Michael Landmann. Heidelberg u. Darmstadt 1961, und Georges Gedicht Einverleibung (SW VI/VII, 109).

    512 

     Bruno Pieger

    Zweites Zehnt Wenn der Dichter nach den bestandenen Widerfahrnissen, die in das erste Zehnt eingegangen sind, nun am Ende eine Stufe erreicht hat, auf der ihm die Einverleibung der gegenstrebigen Weltphänomene gelungen ist, darf er – neben seiner nomothetischen Aufgabe – auch ein Richteramt beanspruchen. Zu vermuten ist, dass jenseits von bloßer Zeitkritik die Richtsprüche mit dem zu tun haben, was dem Dichter im Eingang als Epiphanie und im ersten Zehnt als Genese seines Dichter-Seins widerfahren und zugewachsen ist. Parallel zum ersten Gedicht des ersten Zehnt setzt auch der Anfang des zweiten Zehnt mit einer Rede der göttlichen Instanz bzw. der Gottheit ein. Wurde sie zuvor „Donnrer“ genannt und im Gewitter erkannt, so spricht sie jetzt als „des Himmels Zorn“ aus „Purpurgluten“, also zu einer Zeit, bei der offen bleibt, ob das letzte Abendlicht den Himmel entzündet oder der Morgen entflammt ist. Der Spruch „Ich bin ein end und ein beginn“ (SW VIII, 27), der das vorausgehende Gedicht und erste Zehnt beschloss, wird auf diese Weise ins zweite Zehnt hinübergenommen. Dabei hat die Gottheit schon gesprochen, denn das Imperfekt des ersten Verses setzt ihre Rede in die abgeschlossene Vergangenheit. Das Urteil ist bereits gefällt. Die Verse vier bis neun zeichnen ein Gegenbild. Es handelt von denen, die „nach dem heiligen bezirk  / Geflüchtet sind“ (SW  VIII, 28), die sich dort einer göttlich inspirierten musiké hingeben, die vorgeschriebenen Opfer tun und noch wahrhaft Suchende sind. Für dieses Suchen, das den Menschen jenseits aller Gewissheit „als das noch nicht festgestellte Tier“ zwischen „Übergang“ und „Untergang“ ansiedelt,12 findet George ein gestisches Bild von großer Eindringlichkeit. Es wird von denjenigen verkörpert, „die den weg noch suchend / Brünstig die arme in den abend strecken“. Nur den „schritten“ der Suchenden schenkt die Gottheit Aufmerksamkeit. Ihnen bleibt sie gewogen („folg ich noch mit huld“). Die Übrigen trifft aufgrund der eingetretenen Lage das Urteil: „Und aller rest ist nacht und nichts.“ Die Sprechsituation wechselt mit dem zweiten Gedicht des zweiten Zehnt. Es spricht der Dichter und Meister, doch er spricht im Sinne der Gottheit, sodass seine und ihre Stimme nicht immer zu unterscheiden sind, so sehr hat er sich seines Richteramts rückversichert, bis er sich dazu berufen fühlen durfte. Das zweite Gedicht spricht in der dritten Person Plural von den Vielen, die außerhalb des „heiligen bezirks“ geblieben sind. Doch sind damit diejenigen mit gemeint, die dem Dichter nahe zu stehen glauben. Ab dem dritten Gedicht spricht der Dichter dieselben Menschen des Öfteren mit ‚Ihr‘ an, seine Rede schlägt dann in Warnung, Anklage, Befehl und Verurteilung um (drittes, viertes, sechstes und achtes Gedicht dieses Zehnt). Seine Stimme vermischt sich hier mit der zornigen Stimme der Gottheit. An die fünfte und neunte Stelle sind ohne Anrede Gedichte als Denkbilder gesetzt, die in einem genauen geschichtlichen Sinn die Lage der Zeit, ihr Bedrohtes und eine schiere Aus-

    12 Vgl. einschlägige Formulierungen bei Nietzsche.

    

    Der Stern des Bundes · Erstes Buch 

     513

    weglosigkeit anzeigen. An siebter Stelle innerhalb des zweiten Zehnt wird unter Inanspruchnahme der heiligen Zahl Nietzsche als einziger geschichtlicher Figur gedacht. Er kommt als Diagnostiker ins Spiel, zugleich als Richter der Zeit und Warner, der den Niedergang aufhalten und eine Umkehr einleiten will. An ihm scheiden sich die Geister und ihn hält der Dichter den Vielen wie den Nahestehenden als Maßstab vor, den sie nicht wahrhaben wollen. Nietzsche bekommt damit einen hohen Rang als Vordenker und Vorkämpfer zugewiesen, der trotz eines scheinbar erfolglosen Bemühens die Voraussetzungen schuf, unter denen sich künftig Gottfindung und Kreisbildung ereignen können und Georges Maximin-Erlebnis stichhaltig wird. Das an zehnter Stelle stehende gereimte Gedicht, das sich an die Wenigen, vielleicht an einige der Vielen richtet, die wirklich „nacht und nichts“ durchleiden, gibt diesem Zehnt am Ende eine erstaunliche Wendung. Es führt in einen Bereich, in dem dissoziative Erfahrungen mit einem Mal produktiv werden und die Entscheidung fällt, wer Zukunft hat und wer in die Vergangenheit wegtreten muss. Wo versagen die meisten der Vielen und was fehlt ihnen? Das zweite Gedicht (SW VIII, 29) zeigt die Diskrepanz auf zwischen der Vielzahl der Güter und ihrer leichten Zugänglichkeit einerseits und dem Gefühl andererseits, dass sie trotzdem nicht sättigen und sich Leere und Langeweile ausbreiten. Es sind diesmal Trochäen, in denen die ersten drei Verse schwer herabtropfen und womit die ausbleibende Fülle rhythmisch verdeutlicht wird. Den Klagen darüber antwortet der Dichter auf dreifache Weise, wobei der Vers jedesmal das trochäische Maß aufnimmt, um dann im darauf folgenden mit einem nicht zwingenden, aber doch angedeuteten Anapäst am Verseingang einen Aufschwung anzudeuten, der von Jamben weitergetragen wird. Dies wird auch von den Verben dieser Verse unterstrichen, die verschiedene Bewegungsarten ausdrücken („fliegen“, „häufen“, „versiegen“, „verströmen“, „verstreuen“, „streifen“). Jeder dritte Vers besteht jeweils nur aus einem zweisilbigen und einem einsilbigen Wort. Der Klage, die das erste Tripel beschließt, „Fülle fehlt!“, entgegnet der Dichter am Ende des zweiten, dritten und vierten Tripels in genau gleicher Betonung, dass sie nur nicht in ihren verschiedenen Manifestationen wahrgenommen und gekostet wird: „Keiner nimmt ..“ – „Keiner trinkt ..“ – „Keiner sieht.“ Die formale Gestaltung des Gedichts führt also vor Augen, dass die Fülle nicht etwas ganz Anderes wäre, sondern insgeheim schon da ist und durch einen kleinen Ruck in die richtige Richtung auch wahrnehmbar würde. Allerdings wären dadurch alle Verhältnisse von Grund auf verwandelt. Es folgt ein Gedicht, das in seinen ersten vier Versen das von „fratze wahn und irrtum“ (SW VIII, 30) und viel Grausamkeit begleitete Streben des mittelalterlichen Menschen über das scheinbar freie, unbeschwerte und allzeit aufgeklärte Leben der Heutigen stellt. Das Kriterium, das der Dichter aufstellt, ist eindeutig: Jene wollten „hin zum gott“, während diese ‚den gott getilgt‘ haben. Stattdessen verschrieben sich die neuzeitlichen Menschen einem selbst- und nicht nach der Gottheit Bilde geschaffenen Götzen, der vom Dichter nicht mit Namen, aber in seinen grässlichen Auswir-

    514 

     Bruno Pieger

    kungen benannt wird. Mit einem Kosenamen bemäntelt wird dem Trugbild das Beste des Menschen, also das, wodurch dieser erst in seiner Würde zu stehen kommt, d.  h. seine Transzendenz, geopfert. Was als der eigene Weg ausgerufen und vertreten wird, als vermeintliches Recht des menschlichen, nun aber in sich selbst verstrickten Subjekts, ist nichts als ein freudloser Taumel, eine Sucht ohne Ausweg, die feige und käuflich macht und durch die am Ende „statt Gottes rotem blut / Des götzen eiter in den adern rinnt.“ Es ist eine der schärfsten Verurteilungen, die der Dichter vornimmt. Sie gewinnt an Unerbittlichkeit, indem als Gegenbild eine Welt gewählt wird, die nichts Behagliches an sich hat, über die man sich erhaben glaubt und deren dunkle Seiten nicht verschwiegen werden. Das vierte Gedicht des zweiten Zehnt (SW VIII, 31) ist eines der umstrittensten im Werk Stefan Georges. In den letzten drei der zehn Verse scheint der Dichter allen Ernstes „wahnsinn“, „seuche“ und „krieg“ herbeizureden oder gar mit angemaßter Sehergeste zu verhängen. Wie ist das zu verstehen? Das Gedicht richtet sich an die Vielen. Sie werden als konkrete Personen vom ersten Wort an angesprochen (‚Ihr‘), getadelt und verurteilt, weil sie das Maß verletzt, Grenzen missachtet haben. Darin besteht ihr Verbrechen und deshalb sind sie „verbrechende“, die mit dem, was Menschen als heilig gelten muss, gebrochen haben und immer weiter brechen. Ihr ‚Bauen‘ wuchs ins Riesenhafte, doch ist der Zenit längst überschritten, nichts kann den Bau mehr stabilisieren, er beginnt bereits zu „wanken“. Wir befinden uns durchaus im Bereich der Architektur, an der sich am sichtbarsten ablesen lässt, ob eine Epoche die am Menschen abnehmbaren und ihm als Spielraum zugewiesenen Maße in Ehren hält oder nicht. In dem Moment, in dem der von ihnen geschaffene und immer höher getriebene Bau zu wanken und zu implodieren beginnt und die Baumeister des Riesenhaften und der Machenschaften mit ihrem Latein am Ende sind, soll mit einem Mal der Himmel helfen. Die der Hybris Verfallenen wissen zumindest noch, was sie angerichtet haben, wovon sie sich blenden ließen und was ihnen droht. Sie bekommen Antwort, aber von wem? „Der lacht“, heißt es zu Beginn. Der absolut gestellte Artikel kann sich auf den „himmel“ am Ende von Vers vier beziehen, bedeutet aber auch, dass eine Gestalt auftritt. Es könnte der Dichter sein, der sein erlangtes Richteramt im Bunde mit den Himmelskräften ausübt, es könnte aber sogar der Gott selber sein, der hier in ein grässliches, keineswegs homerisch-heiteres Gelächter über den Dünkel der Menschen ausbricht. Denn es ist selbst für den Gott „zu spät“, „für stillstand“ zu sorgen und wirksame „arznei“ zu reichen. Die Gegebenheiten liegen so, dass selbst ein Gott nicht, geschweige der Dichter, helfen kann. Auch der Gott und umso mehr der Dichter muss das Geschick achten, das sich an der eingetretenen Lage von sich aus und zwangsläufig vollzieht. Das dreimal wiederholte „muss“ in den drei letzten Versen gewährt vielleicht die insgeheime Aussicht, dass es auch den Zeitpunkt nach der Katastrophe gibt und es sich dort, wo das Verhängte als Opfer übernommen wird, einmal noch wenden kann. Erst wenn sich darüber ein unvordenklicher Lebensgrund zuspricht, wäre das Wort „heilig“, das den Untergängen beigefügt ist, gerechtfertigt.

    

    Der Stern des Bundes · Erstes Buch 

     515

    Im fünften Gedicht (SW  VIII, 32) gibt der Dichter eine ganze Geschichtsvision zu bedenken. Seine Vision vom „Aufruhr der götter über diesem land“ mit dem eindrücklichen Bild von der „flachen klinge“, die sich ihm angesichts der bevorstehenden Ereignisse „aufs haupt“ legt, soll der Modellinterpretation vorbehalten sein. Das sechste Gedicht (SW VIII, 33) erlegt den Vielen wie den Nahestehenden Schweigen auf, dreifach eingefordert mit dem wiederholten „Schweigt mir“ am Anfang dreier Verse. Das ist zuvorderst nötig, weil diejenigen, denen der Dichter dies zuruft, die einfachsten Lebensgesetze verkennen und den Tatsachen des Lebens nicht mehr gewachsen sind. Würden sie – so das erste Vers-Tripel – vom „Höchsten Gut“ reden oder dem Gott begegnen wollen, wäre dies durch ihr kümmerliches Dasein auch schon als Farce entlarvt. Das zweite Vers-Tripel geht auf die Ahnungslosigkeit gegenüber der Frau, die hier als „weib“ in ihrer kreatürlichen, dabei Mythisches evozierenden Verfasstheit und in ihren entsprechenden biologischen Gegebenheiten genommen ist. Dies ist die erste Stelle im Stern des Bundes, die sich dem Wesen der Frau widmet. Verkürzung ist hierbei oberstes Darstellungsmittel. Der Dichter liest am Geschlechtsverkehr das Grundverhältnis ab. Dazu verteilt er zehn Jamben auf zwei Verse. Das den Satz brechende Enjambement liegt nach dem fünften Versfuß, sodass der fünfte Vers mehr dem „prall“ des Mannes und der sechste mehr dem „lust“-vollen „erstöhnen“ des Weibes gehört, beide Zeilen aber deutlich von männlicher Warte aus formuliert sind. Wortlaut und Sprachrhythmus haben dabei ebenfalls zusammengefunden. Darüber hinaus bilden die beiden Zeilen das mittlere Verspaar des Gedichts. Sie machen entweder zusammen die Achse des Gedichts aus, oder es liegt diese im Sinne des ‚Eines zugleich und Andres‘ eher dazwischen. In einem Verspaar kulminiert also das Lebensgesetz überhaupt. Es bringt Unterschiedenes hervor und lebt aus einem Gefälle, das gängigen Vorstellungen von Gleichheit zuwiderläuft, sich aber als „fruchtbar“ (nicht ‚furchtbar‘) erweist. Wieder fällt am Ende des sechsten Verses das „muss“ als Anzeige eines unverrückbaren, wenngleich sich immer anders zeigenden Lebensgesetzes. Nach Ansicht und das heißt gemäß der Einsicht des Dichters „muss“ es sich so verhalten. Wer ahnungslos bleibt, sollte besser schweigen. Wer sich darüber zu stehen dünkt oder sich davon lossagt, den trifft Schlimmeres. Dies betrifft auch die bald inflationär anschwellende und weltanschaulich verbrämte Rede „vom volk“ (drittes Tripel). Der Ahnungslosigkeit solcher Vereinnahmung wird ein architektonisches Bild entgegengesetzt: Erst wo Erde, Land und Stein in den Aufriss des Hauses eingebracht sind und das entworfene Haus aus ihnen hervorspringt, also eines das andere ermächtigt, ist der Fug erfüllt und geht daraus ein wohlgefügter Bau hervor, der am „rechten mit- und auf- und unterstieg“ zu erkennen ist. Der abschließende zehnte Vers des Gedichts, dem ein Gedankenstrich am Ende des neunten vorausgeht, steht zu den übrigen im Verhältnis 9:1. Er zieht das Resümee aus dem vom Dichter verordneten Schweigen, das den Ahnungslosen auferlegt wurde, im günstigsten Fall aber auch das erschweigt, worauf es in allen drei Beispielen ankäme: die Aufmerksamkeit für die „goldnen fäden“, dafür, dass sie jetzt noch „zersplissen“

    516 

     Bruno Pieger

    scheinen. Doch sind im Gegebenen Verknüpfungen angelegt, und daraus erwächst die Aufgabe, behutsam an ihnen mitzuknüpfen. Im siebten Gedicht (SW  VIII, 34) würdigt der Dichter die Rolle Nietzsches. Die ersten fünf Verse skizzieren sein Auftreten, die folgenden verzeichnen die ausbleibende Reaktion der Zeitgenossen. Die Gedichtachse liegt zwischen dem fünften und sechsten Vers. Schon die Anlage des Gedichts lässt vermuten, dass Nietzsche unbedingt in seiner überragenden Stellung und trotzdem kritisch gesehen wird. Er ist der Diagnostiker und „warner“, der wie ein Arzt unerbittlich aufzeigt, woran der Patient leidet. Ja, er verschärft die Krisis absichtsvoll, damit ihr Umfang deutlich wird und sich ihre Abgründe auftun. In diesem Gedicht mischen sich Bewunderung für Nietzsches Leistung, Entsetzen vor dem Vergeblichen seines Tuns, einem nicht mehr aufzuhaltenden Verfall, mischen sich Gewarnt-sein durch das Schicksal des Warnenden selbst und ein überlegenes Wissen, dass die Bahn des Niedergangs weiter hinabführen muss, damit neue Lebenszeichen hervorbrechen. Eine entschlossene Nachdenklichkeit legt sich über die Verse, die mehrmals in Punkte auslaufen oder von ihnen unterbrochen sind. Wie soll man die Sprechsituation des achten Gedichts (SW VIII, 35) einschätzen? Die ersten zwei Verse formulieren eine Art Einspruch gegen die im Nietzsche-Gedicht in Aussicht genommene Katastrophe. Sind es die Zeitgenossen, die einen Einwand an den Dichter herantragen? Oder wird er von den Freunden des engeren Bezirks vorgetragen? Doch „ihr“ und „wir“ im zweiten Vers werden nicht spezifiziert. Möglich wäre auch, dass der Dichter selbst ein Bedenken vorträgt und in die Zeit stellt. Vielleicht führt er nur ein Selbstgespräch. Im Imperativ ergeht die Aufforderung, gründlich die „gefahr“ abzuschätzen für „kostbar bild und blatt“, wenn es zur vernichtenden Geschichtskatastrophe, dem „grossen brand“, kommen sollte. Einigkeit herrscht unter den Einen wie den Anderen („ihr […] wie wir“) darüber, dass diese Gebilde als echte schöpferische Umsetzungen verehrungswürdig sind, ja dass man vor ihnen „kniet“. Dann wird vom dritten Vers an die Stimme, die Bedenken trägt, von einer anderen Stimme überholt, die in den verbleibenden Versen spricht und deren nun einsetzende Rede durch ein Anführungszeichen markiert ist, das nicht mehr geschlossen wird. Beginnt der Dichter auf den Einwand zu antworten? Spricht nun eine andere Stimme in ihm? Teilt sich darin die Instanz mit, in die das göttliche ‚Du‘ zurückgetreten ist? Sie behauptet, dass die kostbaren Werke, wenn sie erhalten bleiben, „viel mehr vernichtet“ werden durch die Tatsache, dass sie längst zur bloßen Ansammlung toter Gegenstände („sammelgrab“) bzw. zu einem Suchtmittel oder Objekt sezierender Analyse („eur ätzend gift“) verkommen sind. Der Bezug zum „viel mehr“ stellt sich erst zwei Verse später her: „Viel mehr […] / Als trümmerstatt und mütterlicher schlund.“ Doch ist dies keine einseitige Forcierung von Untergang und Vernichtung. Die strukturelle Disposition des zweiten Zehnt ist anders gelagert. Die Metaphorik des Untergangs reicht darin von „nacht und nichts“ über das aus der eingetretenen Lage hervorgehende „muss“ der Katastrophen bis hin zum „knüpfen“ der „zersplissnen goldnen fäden“ und der bergenden Qualität des Schutts. Im vorliegenden Gedicht

    

    Der Stern des Bundes · Erstes Buch 

     517

    kennt die Stimme, die spricht, sowohl eine Vernichtung, die zugrunde richtet, als auch Zertrümmerung und Schwund, durch die etwas aufbehalten bleibt. Wiederum liegt die Gedichtachse in der Mitte des Gedichts. Zunächst muss das Kostbarste in den Abgrund hinab, der als „trümmerstatt“ und „mütterlicher schlund“ ausgewiesen wird. In der zweiten Gedichthälfte spricht die Stimme von dem, was „einst“ aus „noch kargern resten“ hervorgehen kann. Der Komparativ bleibt rätselhaft: noch karger als das, was Katastrophe und Vernutzung angerichtet haben? Jedenfalls wird, was geborsten ist, nicht mehr seine alte Form zurückerhalten. Der dreimalig anlautende Labiallaut ‚v‘ zeigt das unwiederbringlich Versehrte an. Aber es steuert auf den entscheidenden Moment zu: dass daran – gegen alle Erwartung und Machbarkeit – „ein leben sich entzünde!“ Das ist der Hauptpunkt. Geschichte und Überlieferung sind ganz aus dem epiphanisch Hervorbrechenden heraus bedacht, das stets den Horizont des Untergehens mit umfasst. Damit weist das achte Gedicht entschieden auf das zehnte Gedicht voraus, das in einem bestimmten Sinn die Auflösung der rätselhaften Zusammenhänge bringt. Auf kunstvolle Weise dazwischengeschoben ist mit dem neunten Gedicht (SW VIII, 36) das zweite Denkbild dieses Zehnt, das einfach eine Situation hinstellt, die an Apokalypse denken lässt, ohne dass sich der Dichter an einen bestimmten Personenkreis wendet. Die Unterbrechung der Gedichte, die sich als Richtsprüche an die Vielen und die Wenigen wenden, ist poetologisch sinnvoll, ja notwendig, damit durch einen Perspektivwechsel der Verselbstständigung des Richteramts entgegengewirkt wird und der Gründungsbereich, aus dem es hervorgeht, gewahrt bleibt. Auch muss der Dichter das von ihm Erfahrene in ein Gegenüber versetzen, damit es sich weiter objektiviert. Das alles sind Operationen, die uns aus den theoretischen Schriften Hölderlins, die George durch Hellingrath nahegebracht wurden, geläufig sind.13 Die Zeit, von der das Gedicht spricht, ist der „Weltabend“, der anfangs des ersten und zu Beginn des neunten Verses aufgerufen wird. „Wieder“ geschieht etwas, wie es zu Wendezeiten passieren muss. Der Ort ist eine „reiche stadt mit tor und tempel“. Als Personen stehen sich „der Herr“ und diejenigen gegenüber, die als Bewohner der Stadt gelten dürfen. „Sie“, die Reichen, treten umtriebig und wortgewandt auf. Sie streiten um Geld und Besitz, und einer sticht den andern aus. Der „Herr“ geht als Paria zu ihnen hinein. Er ist „arm“ und wird „verlacht“ und ist doch „der Herr“. Zweierlei zeichnet ihn aus: Er weiß, dass um des ‚Grundes‘ und des ‚Ganzen‘ willen in der Stadt kein Stein auf dem anderen bleiben darf, und das ist sowohl auf die errichteten Gebäude als auch auf Denkweisen, Haltungen und Verhalten gemünzt. Und er weiß,

    13 Erinnert sei nur an Hölderlins Frage in seinem Aufsatz Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …: „Wie muß nun der Stoff beschaffen seyn, der für das Idealische, für seinen Gehalt, für die Metapher, und seine Form, den Übergang, vorzüglich receptiv ist?“ (MA II, 80); ferner an manche Bemerkung in seinen Frankfurter Aphorismen mit der poetologischen Maxime, „daß man alles Einzelne in die Stelle des Ganzen sezt, wohin es gehört“ (MA II, 57–61, hier 59). – Hellingrath las George im Winter 1909/1910 aus Hölderlins Theoretischen Schriften vor. Vgl. Bruno Pieger: Eine Erfahrung mit Dichtung. Hellingrath als Leser des ‚Siebenten Rings‘ und des ‚Sterns‘. In: WuW 335–352, hier 347.

    518 

     Bruno Pieger

    dass er es ist, „der all dies stürzen wird.“ Wer ist der Herr? Wenn das Denkbild das Niveau des Sterns des Bundes halten soll, kann es nur der „Herr der Wende“ sein, der dem Dichter in der Gestalt des göttlichen ‚Du‘ erschienen ist. Diese Auszeichnung garantiert, dass er sich in einer komplexen Struktur und Dynamik verankert weiß und darüber das Anmaßende verliert. Und doch ist er in diesem Denkbild anders ­situiert und zwar als Gestalt, die in der Geschichte zu besonderen Wendezeiten auftreten kann. Wenn dies verstanden ist, dürfen für den „Herrn der Wende“ entsprechend dem achten Gedicht des Eingangs geschichtliche Gründer und Umgestalter wie Christus eingesetzt werden, die sich als göttliches ‚Du‘ zu erkennen gaben. Der Schlussvers spricht den Richtungswechsel aus. „Rechts“ steht für das Geordnete, Rechtmäßige, Eingespielte und weiter so Betriebene. „Links“ zielt auf die unscheinbare Abweichung, das Ausgesetztsein in das Disparate, die unerwartete Erneuerung – den nicht fassbaren Lebensfunken. Das zehnte Gedicht (SW  VIII, 37), das acht gereimte Verse umfasst und schon von beiden Zahlen her auf Vereinigung des Unterschiedenen (Erde und Himmel) und Vollendung angelegt ist, führt auf überraschende Weise die Erfahrung der Disso­ zia­tion („zerstückt“) und der damit verbundenen Untergänge mit dem der Lebenserneuerung zusammen. Wer sich von diesem Gedicht angesprochen fühlt, soll sich nicht vor Brüchen und Verwundungen fürchten, die ihn ereilen. Die Widerfahrnis der Dissoziation steht in einer Dimension, die nicht nur „zerstückt“, sondern ebenso zusammenfügt. Das Heil liegt nicht in der Abwehr der Verletzungen, sondern in ihrer Übernahme aus dem Wissen heraus, dass sie an den Punkt führen, wo mit einem Mal Heilung einsetzt. Der Dichter nennt dies den „zauber“, der das Dasein umfängt und aus dem beides, Verletzung wie Genesung, herstammt. Die Dinge sind dann nicht nur „wie vordem heil und schön“. Vielmehr entfacht sich, wenn der Durchgang durch die Zerrüttung gewagt wurde, an ihnen der Lebensfunke neu: „Nur dass unmerkbar neuer hauch drin west.“ Der Dichter beschönigt nichts, hält aber an einem unverletzlichen Lebensgrund fest, zu dem auch das Versehrende gehört. Auf „schrammen“ reimt sich „zusammen“, auf „genest“ „west“. Nach der Gedichtachse, die zwischen dem vierten und fünften Vers liegt, handeln die Verse fünf bis sieben von denen, die am Alten festhalten und beim schon Erreichten stehengeblieben sind. Das sprachliche Problem, das sich damit verbindet, wird hervorgehoben. Das Schon-genannt-Sein erweist sich als größte Gefahr für den Lebensfunken. Die Nennkraft der Sprache bringt die Dinge zwar erst zum Erscheinen, doch verstößt sie gegen das Erscheinen selbst, wenn sie – und wer sich ihrer bedient – glaubt, den Namen schon endgültig gefunden zu haben, und darauf verzichtet, es immer wieder anders sagen zu müssen. Dann drohen Verfestigung und Erstarrung, Abstumpfung und Entleerung. Der Dichter ist ein Meister in der Kritik alles positiv Geronnenen. Wenn der siebte Vers zweimal nur den absoluten Artikel setzt für diejenigen, die sich darin verfangen haben, so weist er damit auf das dritte Zehnt des Ersten Buches voraus, in dem sich der Dichter mit ihnen auseinandersetzen wird. Sie sind „die eingereihten und die rückgewandten“, doch Zukunft verleiht nur „der Ungenannte“, dem als wahrer

    

    Der Stern des Bundes · Erstes Buch 

     519

    König „kranz und krone“ gebühren. So müssen selbst das erschienene göttliche ‚Du‘, die Gottheit, in die es zurücktrat, und der Dichter ins Äußerste und d.  h. Namenlose und erst zu Nennende gehalten sein. Nur wenn sie von dorther kommen und das lösende Wort bringen, bleibt das, was sie mit-teilen, der Entfaltung des Lebens zuträglich. Nur die entsprechende Dimension bewahrt vor der Hybris des Machenschaftlichen, der von ihr ausgehenden Lebenszerstörung und dem bloßen Untergang.

    Drittes Zehnt Das Richteramt, das der Dichter ausübt, nachdem er sein Dichter-Sein errungen hat, steuert mit dem ersten Gedicht des dritten Zehnt (SW VIII, 38) auf den „Richttag“ zu, der eine zeitliche, ja mehr noch eine aus dem Lebensgrund stammende Zäsur setzt, durch die ein „Für und Wider“ und ein „hinüber“ und „dort“ geschaffen und unwiderruflich vollzogen wird. Gerichtet wird über die eingangs aufgerufenen „Helfer von damals“, die im Folgenden leicht als bestimmte Personen zu identifizieren sind oder als ein Kreis von Personen. Doch wichtiger als Namen sind Haltungen, die kritisiert bzw. anerkannt werden. Denn auch hier gilt: Die früheren Gefährten werden nicht einfach aufgegeben und die Erinnerungen an sie nicht ausgelöscht. Dass sie einmal „Helfer“ waren, bleibt unvergessen und wird noch in der Trennung von ihnen anerkannt. Was aber den Unterschied ausmacht zwischen dem jetzt gesetzten ‚Wir‘ des Dichters und den Seinen und dem ‚Ihr‘ der Ehemaligen lässt sich noch immer nicht leicht sagen, denn „mit kraft und kunst und redlichster begehr“ sind laut dem ersten Gedicht auch diese in Erscheinung getreten. Aber die danach folgende zweite Gedichthälfte macht die schlimmsten Verheerungen namhaft, die aus scheinbar besten Absichten herrühren. Dabei wird dreimal ein hohes Gut in seine absolute Verfallsform verkehrt: Aus „himmels-manna“ wird „giftiger mohn“, aus „bestem nachwuchs“ ein „rudel von verrassten hunden“, aus der ihr Antlitz erleuchtenden Traumfähigkeit der Kinder die verwaschenen Gesichter von vorzeitig Abgestumpften. Die einstigen Helfer treiben mit ihren Bemühungen, die der Lebensreform und Welterneuerung dienen sollten, „nicht minder zum verruchten end“ als die vielen Zeitgenossen, die sich schon allem Zauber entschlagen hatten. Das zweite Gedicht (SW VIII, 39) spricht die „Helfer von damals“ als „Schwärmer“ und „Sehner“ an. Dabei wird deutlich, dass sie jeweils einer Kompensierung und Ersatzhandlung aufsitzen. Der Schwärmer überspringt den von den Lebensgesetzen eingeräumten Spielraum, zu dem auch Festgefügtes und Grenzziehung gehören, und flüchtet in einen falschen und unverbindlichen Idealismus. Der Sehner vermag gerade nicht von sich abzusehen und sich hinzugeben. Ihm fehlt die Durchlässigkeit für das Begegnende, an dem er mit einer weltarmen Sehnsucht vorübergeht. Die Anklage, der vom richtenden Dichter stattgegeben wird, lautet daher: „Ihr seid in uns befasst wir nicht in euch“. Denn wer für die Weltphänomene durchlässig ist und sie sich im Sinne

    520 

     Bruno Pieger

    der ‚Einverleibung‘ aneignet wie ihnen zugehört, vermag das Andere zu- und sein-zulassen und weiß beizeiten in es überzugehen und sich wieder davon zu unterscheiden. Der nächste Anklagepunkt betrifft die Art und Weise, wie der Stoff behandelt wird. Vom „stoff“ sagt der Dichter in einem Gedicht des Dritten Buches, dass er „kein mindres heiligtum“ sei als der Geist (SW  VIII,  96). Den Zeitgenossen und früheren Gefährten wird vorgeworfen, dass sie zwar alles, was sie leisten, bestimmten „stoffen“ entnehmen, ohne aber die Würde des Stoffes, die ihm eigene Wesensart zu achten. Nach der Zurückweisung des Schwärmerischen und Sehnsüchtigen setzt das dritte Gedicht (SW VIII, 40) den Kontrapunkt. Gegen das Ewige steht die „hohe zeit“, gegen das bloße Fluten und Erschauern die Erfüllung im Bild, gegen das Fristen des Daseins die Exzellenz aus Vornehmheit, gegen die „dauer“ der „untergang“, gegen das Hinaushalten ins Jenseitige und Unendliche „das grössre wunderwerk der endlichkeit“. Mit dem dritten Gedicht liegt eines der sprechendsten Wende- und Umkehrgedichte Georges vor, die nicht einfach eine Umkehrung des Bisherigen vornehmen, sondern die in Frage stehenden Verhältnisse neu gründen und von daher echte Umkehr erlauben. Dem Gedicht ist ein nicht zu unterschätzendes Wissen um die Verwindung der Metaphysik eingeschrieben, aus der George oftmals so reich geschöpft hat. Auch wird der neuzeitlichen Musik auferlegt, zugunsten der Umstimmung auf einen anderen Ton zurückzutreten. Der Dichter erkennt das „sinn- und klangnetz zum Gestirnt“ in der Größe und dem Reichtum seiner Manifestationen an, aber er sieht darin etwas Gewesenes, das für sich allein nicht mehr weltbildend wirken kann. Die Pathetik von Musik und Metaphysik, die noch in der Großschreibung von „Gestirnt“ gegenwärtig ist, weiß die ihr eigene, auf lange gültig gewesene ‚Erprobung‘ von der Zeit zurückgenommen und auf andere Bahn versetzt. Der eine Weg, der bleibt, ist einfacher und unscheinbarer und doch, soweit er den leiblichen Menschen in seiner vollen Realisierung braucht, „das grössre wunderwerk“. Aber auch er ist ‚Erprobung‘, auch er hält die Richtung zum „Gestirnt“, das dann – auch dies deutet die Großschreibung an – als Präpositionalobjekt für die gewesenen wie für die künftigen Haltungen steht. Das Gedicht geht diesen Weg im einfachen Gleichmaß eines aus Jamben aufgebauten Rhythmus, befestigt durch ausschließlich männliche Versschlüsse. Die folgenden drei Gedichte üben an bestimmten Menschengruppen Kritik. Diese werden vom ersten Wort an jeweils mit ‚Ihr‘ angerufen und einer Vereinseitigung geziehen, der sie auf unterschiedliche Weise aufgesessen sind. „Nie erfüllt“ – „durch euch der tod“ – „meuchlings […] durchbohrt“ (SW VIII, 41–43) heißen die Schlussworte, auf die sie enden. Aber jedes Gedicht deutet zwischen den Zeilen auch die Lösung an und verweist damit auf das ganze zu durchlaufende Verhältnis. Das vierte und das sechste Gedicht stellen die Frage nach der rechten Mischung, der Fähigkeit zur Amalgamierung, die nach Auffassung des Dichters am ehesten im „reich von wein und korn“ gelingen, „wo sich leben / Zu ende lebt in welt von gott und bild!“ Es wäre zu kurz gegriffen, das vierte Gedicht in erster Linie auf das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden oder zwischen Nordmenschen und Wüstensöhnen zu beziehen. Nur unter dem Vorzeichen der Mischung, zu der auch ein der Amalgamierung einge-

    

    Der Stern des Bundes · Erstes Buch 

     521

    zeichnetes konstruktivistisches Moment gehört und die in wechselseitiger Ergänzung kulminiert, lässt sich das Künftige eines solchen Gedichts befreien. Ähnliches gilt für das sechste Gedicht, das auf die „hellhaarige schar“ des „recken-alters“ und nicht zuletzt auf Ludwig Klages zugesprochen ist und dabei einen ähnlichen Gedanken entfaltet. Dieser wird auch vom dazwischenliegenden Gedicht unterstützt. Es zeichnet eine Menschenart, die sich – wie der Hans Dampf in allen Gassen – für alles zuständig hält und deshalb geliebt zu werden beansprucht. Doch erfolgen ihre Umtriebe nur aus innerer Leere. Sie hat nichts zu geben und erwartet von den anderen alles. Die Voraussetzungen für Durchlässigkeit, echten Austausch und sinnvolle Mischungsverhältnisse sind dann denkbar schlecht. Im siebten bis neunten Gedicht des dritten Zehnt (SW  VIII, 44–46) spricht der Dichter anerkennend und beinahe zärtlich von den produktiven Kräften der Münchner Kosmik und von zwei Gestalten, in denen er sie besonders verkörpert sah: Ludwig Derleth und Alfred Schuler. An ihnen geben sich auch die äußersten Gegenpole der Kosmik zu erkennen. Einmal mehr zeigt sich, dass George, der sich in der Auseinandersetzung mit den Zeitkräften zu seinem Dichter-Sein befreit, keineswegs vergisst, was er früheren Weggenossen und der von ihnen repräsentierten Wirklichkeitsstufe verdankt. Schon der erste Vers des siebten Gedichts nennt Größe und Grenze der Welt der Kosmiker: „Unholdenhaft nicht ganz gestalte kräfte“  – das heißt, sie wird von Kräften gespeist, die als ‚unholdenhafte‘ etwas Ruppiges, Ungeschliffenes, Gewaltsames haben und als solche eine Stoßkraft besitzen, die der Dichter nicht missen möchte. Der Unhold ist kein Verbrecher, aber ein ungeschlachter Mensch. Doch stehen die Kosmiker weit über der „allhörigen zeit“. Den kosmischen Kräften kommt mehr an Wirklichkeit zu als der „allweisen“ und zuvor schon als „allhörig“ bezeichneten Zeit, die in dem, was ihr zu wissen aufgegeben wäre, „unkund“ bleibt. Doch rückgebunden ans Gewesene reichen jene Kräfte nicht an die Dimension des Geschichtlichen heran. Auch im tragischen Verfehlen des Widerspiels zwischen geschichtlicher Zeit und kosmischen Kräften klingt der Gedanke von Mischung, Durchdringung und produktiver Amalgamierung wieder an und erneut steht er im Zeichen der Umsetzung in die gültige Gestalt. Eine solche noch unzulängliche Gestalt wird vom achten Gedicht mit Ludwig Derleth vor Augen gestellt, und es ist bedeutsam, dass sie der Dichter mit ‚Du‘ anredet. Der in Frage stehenden Figur hat sich ein radikalisiertes Christentum einverleibt, doch deutet sich an, dass in diesem Fall ein Extrem vorgeführt wird, das in Gefahr steht, den Gestaltungsanspruch zu überspannen und in den Eifer des Fundamentalismus umzuschlagen. Das ist historisch gesehen der Derleth der Proklamationen, die in erster Fassung 1904 erschienen.14 Mit ‚Du‘ und damit ebenfalls als dialogfähig wird im folgenden Gedicht eine weitere entsprechende Gestalt angeredet, in der sich Alfred

    14 Ludwig Derleth: Die Proklamationen. Leipzig 1904, erw. u. umgearb. München 1919. Vielleicht war Derleth für solche Warnungen empfänglich. Denn schon seine in den BfdK veröffentlichten Gedichte

    522 

     Bruno Pieger

    Schuler, der Münchner Kosmiker, zu erkennen gibt. Die erste Hälfte handelt von dem besonderen Sensorium, mit dem er ausgezeichnet war und durch das er vergangenes Dasein „fast körperhaft“ zu evozieren wusste. Er wird vom Dichter als „hausgeist“ bezeichnet, also mit dem deutschen Wort für die in der Religion der Römer bedeutungsvollen Laren, die am Herd des Hauses kultisch verehrt wurden und den Schutz der familiären Sphäre garantieren sollten. In diesem Sinn ist mit dem Wirken dieser Gestalt ein ganzes „denkbild“ verbunden,15 das an eine Notiz Georges gemahnt, nach der es darum gehe, „dinge des ‚hauses‘ religiös sehen“ zu lernen.16 Wichtig ist, dass dieses Denkbild aus lauter leiblich verankerten Haltungen hervorgeht: das Wittern, das empfängnisbereite Kauern, das Saugen verborgener Daseins­partikel und die haptische Berührung der alten Scherben – nach Herders von Geor­ge geschätzter Abhandlung über Plastik (1778) steht der Tastsinn bei der seelischen und geistigen Erfassung der Skulptur wie überhaupt der bildenden Kunst voran.17 Die in Vers vier genannte „hand“ (bzw. die „hände“) taucht im Stern des Bundes allein neunmal auf, bis sie schließlich „als lebendige hand“ in Erscheinung tritt (SW  VIII,  108): als leiblicher Gestus, in den seelische, geistige, motorische und sprachliche Regung zusammenfließen. Der mittlere Abschnitt evoziert ein Gastmahl der römischen Kaiserzeit. Es ist ganz auf die Synästhesie der Düfte und Farbklänge angelegt. Das Schlingen der „blumenkette“ wird von den Umarmungen der fluoreszierenden Leiber aufgenommen. Die Szene spielt in einem Raum, der vertikal von „goldnen säulen“ und horizontal von den „purpurlagern“ gehalten wird. Mit einem Mal kommt Bewegung in ihn, als „zage füsse durch die pforte“ schleichen, die an einen Knaben oder ein Sonnenkind denken lassen. Das Denkbild, das der „hausgeist“ heraufzubeschwören wusste, erinnert an und sein späteres Werk, allen voran Der Fränkische Koran, Weimar 1932, sprechen eine andere Sprache. 15 ‚Denkbild‘ ist ein von George hochgeschätztes Wort, das sich nur viermal in seiner eigenen Dichtung findet. Es zielt auf die einem Selbst offenstehenden Erfahrungen, die sich in ihrer Wiederkehr und in wiederholender Besinnung auf sie so ins Überpersönliche gehoben haben, dass sich daran eine gültige Gestalt des Seins und ein ganzer Lebenszusammenhang zu erkennen gibt. So wundert es nicht, dass George das Wort vor allem für das mit Mallarmé Beginnende und sich an Maximin Vollendende reserviert hatte und nun auch Alfred Schuler und seinem Erspüren von gewesenem Dasein zusprach. 16 So Georges Kommentar unter den letzten Satz von Gertrud Simmels unter dem Pseudonym Marie Luise Enckendorff erschienenem Buch: Realität und Gesetzlichkeit im Geschlechtsleben. Leipzig 1910. Vgl. dazu Ute Oelmann: Das „protestantische erblaster“ und die Frauenfrage. Gertrud Simmel im ­Gespräch mit Stefan George. In: Frauen um Stefan George. Hg. v. Ute Oelmann u. Ulrich Raulff. Göttingen 2010, S. 143–155, Zitat S. 152. Georges Bemerkung umfasst mehr als eine Stellungnahme zur Frauenfrage. 17 Johann Gottfried Herder: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traum [1778]. Hg. u. eingel. v. Lambert A. Schneider. Köln 1969. Vgl. dazu Bernhard Schweitzer: J. G. Herders ‚Plastik‘ und die Entstehung der neueren Kunstwissenschaft. In: Ders.: Zur Kunst der Antike. Ausgewählte Schriften. Bd. I. Tübingen 1963, S. 198–252.

    Der Stern des Bundes · Erstes Buch 

    

     523

    Alfred Schulers spätere Ausführungen über das ‚offene Leben‘ in seinen Vorträgen Vom Wesen der ewigen Stadt.18 Doch trennt sich hier auch der Weg des Dichters von dem des Kosmikers, denn die scheinbar am offenen Leben Teilhabenden sind ihm nur darin „verstrickt“. Vermutlich verharren sie in einem Austausch, der keine Grenzen kennt und damit keine gültige Gestalt ausbildet und geschichtslos bleibt. Die letzten drei Verse erneuern den Einwand gegen die Münchner Kosmik: „Im Tag“, also vor der Geschichte, schwindet ihr Denkbild schnell dahin, ein „schattenchor“, der im Gewesenen verharrt. Das „weib Roma“ ist beim Dichter negativ konnotiert, während Schuler am Übergang von römischer Republik zur Kaiserzeit die Mutterherrschaft mit einer neuen Erdnähe und stofflichen Gebundenheit hereinbrechen sieht und den Schmutz des Sittenverfalls als notwendige Zerstörung der überkommenen Sittlichkeit zugunsten reiner Lebensquellen auffasst.19 (Zum zehnten Gedicht siehe folgenden Beitrag.)

    Interpretationen von Als sich dir jüngling dein beruf verkündigt (SW VIII, 22), Auf stiller stadt lag fern ein blutiger streif (SW VIII, 32) und Fragbar ward Alles da das Eine floh (SW VIII, 47) Drei wichtige Gedichte des Ersten Buches, jeweils einer der drei Zehnergruppen entstammend, seien nun ausführlicher bedacht. Im Falle der ersten beiden Zehnte handelt es sich um das jeweils fünfte Gedicht, abschließend sei das letzte Gedicht des Ersten Buches besprochen. Als sich dir jüngling dein beruf verkündigt Warst ein verstossner du in klammer luft Und trugest als der eine aller qual. Da drang aus dir ein solcher schrei zu sternen Dass erde nicht noch himmel ihn ertrug Und antwort kam mit solchem ton von sternen Wie vormals keines sterblings ohr vernahm .. Der lockte dich riss dich empor: ›Verbleib!

    18 Vgl. Alfred Schuler: Cosmogonische Augen. Gesammelte Schriften. Hg. von Baal Müller. Paderborn 1997, S. 217–304. – Zu den Leitmotiven von Schulers Denken vgl. Michael Pauen: Alfred Schuler. Heidentum und Heilsgeschichte. In: CP 42 (1993), H. 209–210, S. 21–54. 19 Vgl. Alfred Schuler: Cosmogonische Augen (wie Anm. 18), bes. S. 282–287.

    524 

     Bruno Pieger

    So fremder gang entbehrt der ersten leite Dir kann nur helfen was du mitgeboren – Schilt nicht dein leid du selber bist das leid .. Kehr um im bild kehr um im klang! (SW VIII, 22)

    Das fünfte Gedicht des ersten Zehnt, das unter dem Signum der Hochzeitszahl steht, dichtet die Vermählung des „jüngling[s]“ mit dem Dichterberuf. Es ist günstiger, den ersten Vers mit einem Daktylus beginnen zu lassen, dem Trochäen folgen, oder wenigstens den ersten Jambus durch einen Trochäus zu substituieren, als ihn rein jambisch zu lesen. Nur so erhält das „Als“ das ihm zukommende Gewicht und zeigt den ‚verkündigten beruf‘ in seiner ganzen Faktizität an. Durch sie wird als erstes ein Herausfallen aus allen gewohnten Bezügen bewirkt. Wenn es dem Dichter aufgegeben ist, im Sinne der Wendefigur ein Umgestalter und geschichtlicher Gründer zu sein, muss er das Herkömmliche und Gängige verlassen und zunächst ein „verstossner“ werden. Aber es ist nicht einfach der autonome Akt der Kunst, der sich der gesellschaftlichen Bezüge enthält, um das ihm Eigene zu entfalten und schließlich wieder in die Gesellschaft einzubringen,1 sondern es versetzt an den Ort, wo „in klammer luft“ das auszuhalten ist, was einer Gesellschaft fehlt und „aller qual“ ausmacht. An die Christusfigur, aber auch an Hölderlins Empedokles ist zu denken. Von ihm sagt Hölderlin, dass er „das Resultat seiner Periode“ sei und „ein Opfer seiner Zeit“ werden sollte.2 In Empedokles findet das Schicksal der Zeit „ihr unbekanntes Bedürfniß und ihre geheime Tendenz“ zugunsten einer Lebenserneuerung aufgelöst. Da sie sich aber nur in einer Gestalt „individualisirt“ hat, muss diese notwendigerweise untergehen, damit „die gefundene Auflösung ins Allgemeine übergehen“ kann (MA I, 873). Zu welcher Auflösung kommt es in Georges Gedicht? Zunächst folgt dem der Faktizität verpflichteten „Als“ das Ereignishaftes anzeigende „Da“ des dritten Verses. Schon dies weist darauf hin, dass die Leiderfahrung als tatsächlich ausgehaltene auf einen Punkt zusteuert, an dem sie sich zu wenden beginnt. Zunächst entfährt dem verstoßenen und leidversehrten jungen Dichter ein „schrei“, eine ungeheure stimmliche Entladung vor aller sprachlichen Artikulation. Er dringt an „erde“ und „himmel“, die ihn nicht ertragen können, und bis hinauf zu den „sternen“. Von diesen, als dem weitesten sinnlich vernehmbaren Gegenüber, kommt „antwort“, die zunächst als „ton“ vernommen wird und vor aller Aussage die Wende weiter hervorruft. Der Dichter wird von diesem Ton angelockt und emporgerissen. Neben dem Ausharren

    1 So die an Schillers ästhetischem Programm gewonnene Auffassung Dirk von Petersdorffs, vgl. ders.: Wie viel Freiheit braucht die Dichtung? ‚Das Zeitgedicht‘ im ‚Siebenten Ring‘. In: GJb 5 (2004/ 2005), S. 45–62, u. DP. 2 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Michael Knaupp. Bd. I. München u. Wien 1992, S. 871  f. Im Folgenden werden Zitate aus dieser Münchner Ausgabe unter Angabe der Sigle MA, Band- und Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen.

    

    Der Stern des Bundes · Erstes Buch 

     525

    in der Nacht des Leids haben also die nackte Stimme und das Verlauten der Töne entscheidenden Anteil an der Wende. Erst unter ihrer Vorgabe teilt sich die Botschaft mit. Sie wird in den verbleibenden Versen neun bis zwölf und dem letzten Wort von Vers acht ausgesprochen. Es liegt die Grundkonsonanz einer Oktave (2:1 bzw. 8:4) vor, wobei die ersten acht Verse in das von diesen schon nahegelegte und großgeschriebene Schlüsselwort „Verbleib!“ münden, dessen Sinn und Auftrag die restlichen vier Verse verkünden. Es handelt sich um eine vierfache Botschaft, die deutlich macht, dass und warum das Verbleiben notwendig ist und lohnt. Vers neun: Wer Umgestalter und Gründer sein will, muss ins Ungestalte, Aorgische hinaus und muss dabei die bislang gültigen Grundsätze und Leitfiguren hinter sich lassen. Das Entbehren „der ersten leite“ ist das Geschick ursprünglichen Dichter-seins. Hölderlin sagt im Umfeld der Hymne Wie wenn am Feiertage, „daß immer die Erst- / linge Sterblichen nicht, / daß sie den Göttern / gehören“ (MA I, 235). Nur was aus diesem Eintauchen ins Unergründliche hervorgeht, wird sich als hilfreich und tragfähig erweisen. Das „mitgeboren“ geht nicht in erster Linie auf den Kreis der Freunde, sondern auf die jenem Eintauchen entsprungene neu gestaltete Welt, zu deren Adepten die Freunde gehören sollen, um ‚Mitgeborene‘ zu werden. Auf sein Leid schimpfen bringt keine Veränderung. Leid muss einverleibt werden, um es zu wenden. Es folgt der Schlussvers, der die Wende, die das Gedicht vollzogen hat, als Imperativ und Merkspruch formuliert: „Kehr um im bild kehr um im klang!“ Wir wissen von Platon, dass die Veränderung der Tonart auch eine Veränderung der Verhältnisse im Staat mit sich bringt.3 Aber wieso ist auch die Umkehr „im bild“ verlangt? Es könnte wie am Musikleben eine Kritik an der zeitgenössischen bildenden Kunst beinhalten. Aber mehr noch betrifft die Umkehr Georges Gedicht selbst. Die Tonkunst ist als Stimme und Tönen in das Sprachgebilde eingegangen, ja schafft entscheidend an ihm mit. Das Bild wird nicht von einer gesuchten oder arabeskenhaften Metaphorik erzeugt, sondern durch ein einfaches, anzeigendes und rhythmisch durchgebildetes Sagen, bei dem sich das einzelne Wort auflädt, an Plastizität gewinnt und die in ihm verborgene Wesensfülle antönen lässt. Um es mit einer Formulierung aus der aristotelischen Rhetorik zu sagen: Das in sich spannungsgeladene Wortbild ermöglicht es, „die Dinge in ihrer (aktuellen) Verwirklichung“ anzuzeigen und vor Augen zu führen.4 So wird in Georges Gedicht selbst die Umkehr vollzogen. Aber ist es am Ende nicht eine Umkehr ohne Opfer und Untergang, wie sie der EmpedoklesGestalt und dem Heimgang des göttlichen ‚Du‘ aufgegeben waren? Doch wie sich dem Selbstopfer von Empedokles und dem Scheitern des Empedokles-Projekts Hölderlins Spätdichtung entringt, geht auch aus Untergang und Verwandlung des begegneten göttlichen ‚Du‘ das spätere Werk Georges hervor. Die Umkehr und die ihr eigene Tragik

    3 Über die staatliche Wirkung der Musik vgl. Platon: Politeia 424b–c und Nomoi 700a–701b. 4 Aristoteles: Rhetorik III, 1411b 24–25; zit. n. Paul Ricœur: Die lebendige Metapher. München 1986, S. 291.

    526 

     Bruno Pieger

    sind dann keine einmaligen Vorgänge mehr, die man empirisch ausweisen kann oder zu denen man den Dichter nötigen möchte, sondern wiederkehrende Ereignisse, die sich der Tektonik einer Dichtung eingeschrieben haben. Auf stiller stadt lag fern ein blutiger streif. Da zog vom dunkel über mir ein wetter Und zwischen seinen stössen hört ich schritte Von scharen · dumpf · dann nah. Ein eisern klirren .. Und jubelnd drohend klang ein dreigeteilter Metallen heller ruf und wut und kraft Und schauer überfielen mich als legte Sich eine flache klinge mir aufs haupt – Ein schleunig pochen trieb zum trab der rotten .. Und immer weitre scharen und derselbe Gelle fanfaren-ton … Ist das der lezte Aufruhr der götter über diesem land? (SW VIII, 32)

    An wiederum fünfter Stelle, nun des mittleren Zehnt des Ersten Buches – also erneut am Vereinigungspunkt eines Zehnt im Sinne der Hochzeitszahl –, kommt ein Gedicht zu stehen, das unmittelbar auf das vom Dichter formulierte „muss“, das Unausbleibliche kommender Katastrophen, folgt und der Anklage der Ahnungslosigkeit der Zeitgenossen und Mitstreiter vorausgeht. Es ist bisher wenig beachtet worden, gibt aber in einem machtvollen Bild, dem traumhafte Züge eingeschrieben sind, die Geschichtsvision des Dichters wieder, die sich auf die nächste oder auch eine fernere Zukunft beziehen kann. Sie handelt von dem, was Deutschland und damit auch den Völkern bevorsteht. Ernst Morwitz teilt mit, dass George diese Vision laut Karl Wolfskehl „vor 1913 auf einem Gang vor den Toren Münchens hatte“ (EM I, 356). Alle Elemente, die sie umfasst, wären dem Dichter damals sichtbar vor Augen gestanden, doch hütet sich Morwitz, die Vision auszudeuten.5 Er unterstreicht nur die Frage, in die das Gedicht mündet, ob nämlich das vom Dichter Geschaute „der letzte Aufruhr der Götter über Deutschland sei, ob die Götter sich von Deutschland abwendeten“, und betont anhand zweier Beispiele aus der Überlieferung den epochalen Einschnitt, der sich damit verbinden würde (EM I, 356  f.). Zunächst ist festzustellen, dass der Dichter in jener Frage, in die das Gedicht mündet, von den „götter[n]“ spricht. Das geschieht im Stern des Bundes nur ein weiteres Mal und nur rückblickend auf die „frühern götter“ (SW VIII, 16). Die Vision öffnet also die Begegnung mit dem göttlichen ‚Du‘ und der hinter ihm stehenden Gottheit für einen größeren Geschichtsraum, in dem Götter anwesend sind, genauer gesagt: in dem es zur herausfordernden Frage wird, ob es sich um einen

    5 Kurt Hildebrandt spricht „vom Aufruhr der Götter über Deutschland“ und einer „Vision der Götterdämmerung“, um zu ergänzen: „es ist nicht unsre Sache, es zu deuten“ (KH I, 365).

    

    Der Stern des Bundes · Erstes Buch 

     527

    „Aufruhr der götter“ handelt, und wenn, ob es nicht „der lezte“ sei. Es handelt sich also weniger um eine Götterdämmerung oder gar um die Gewissheit, dass hier Götter im Spiel sind, sondern um die Anzeige großer Unentschiedenheit, wie die visionär vernommenen geschichtlichen Vorgänge überhaupt zu deuten sind. Unentschiedenheit eignet nicht nur der Schlussfrage und der metaphorischen bzw. visionären Ebene in einem grundsätzlichen Sinn, sondern auch den verschiedenen Elementen der mitgeteilten Vision. Wir suchen zunächst die Doppeldeutigkeiten auf, die ihr eingeschrieben sind: Die Stille der Stadt ist vom „blutige[n] streif“ am Horizont bedroht. Das im „dunkel“ in mehreren „stössen“ hinwegziehende „wetter“ wird nicht ausdrücklich als Gewitter oder Sturmwind oder Regenfront spezifiziert. Aber es muss ein machtvolles Heranbrausen sein, und nur wenn es kurzzeitig abflaut, sind „schritte / Von scharen“ zu hören, die scheinbar die Stöße des Wetters aufnehmen und denen doch das Anbranden und Verebben abgeht, das die Witterung auszeichnet. Das Stampfen der Scharen ist erst „dumpf“ aus der Ferne und dann „nah“ zu hören. Durch welche Attribute zeichnen sie sich aus? Durch etwas Eisernes, das doch nur ein Klirren zustande bringt, durch einen Jubel, der zugleich droht, durch einen dreigeteilten „ruf“, also einen skandierenden Kampfruf, der hell und zugleich „[m]etallen“ klingt. Entsprechend zwiespältig fallen die Gefühle aus, die den Dichter angesichts dieser Vorgänge überkommen – eine Mischung aus „wut und kraft / Und schauer“, also eine tiefe Erregung, die ihn angesichts des andrängenden Wetters und der vermeintlich ebenso andrängenden Schritte und Rufe der Scharen ergreift. Sichtbarsten Ausdruck findet das Unentschiedene, das in diesem Geschehen liegt, im Auflegen der „flache[n] klinge“. Es erinnert an den Ritterschlag und würde eine Adelung durch das erregende Geschehen bedeuten. Doch wird der Ritterschlag auf der Schulter, nicht am Kopf ausgeführt. Also ist die andere Funktion der Klinge mitzudenken, die im Sprichwort ‚jemanden über die Klinge springen lassen‘, d.  h. ihn zu Fall bringen, zu stürzen oder zu beseitigen, zum Ausdruck kommt. Die Hinrichtung durch Enthauptung war ursprünglich dem Adel vorbehalten, die Durchführung erforderte, insbesondere wenn der Verurteilte kniete, vom Henker großes Geschick. Das „aufs haupt“-Legen der „flache[n] klinge“ zeigt also an, dass es sich noch nicht entschieden hat, ob die sich abzeichnenden Vorgänge adeln oder – bei aller Bedeutsamkeit – vernichten. Der zehnte Vers sagt allerdings, dass man ihnen nicht entgehen wird, weder die direkt am „trab der rotten“ Beteiligten noch der Dichter. Beide sind hier oder zumindest zunächst Getriebene. Gibt es auf der formalen Ebene entsprechende Merkmale für die angezeigte Zwiespältigkeit und Unentschiedenheit? Nur im ersten Vers wird mit dem Attribut „blútiger“ das Gleichmaß der Jamben durchbrochen, gerade als ob sich etwas Unheilvolles oder Umstürzendes ereignen könnte. Dieses Gleichmaß bleibt dann aber von Vers zwei bis zehn erhalten, doch wird das Ereignishafte der Vorgänge unterstrichen, wenn die ersten zwei Worte des zweiten Verses („Da zog“) als Trochäus aufgefasst werden. Mit dem elften Vers kippt das Metrum insofern, als nun der erste Versfuß durch einen Trochäus substituiert wird, der das Gellen der Fanfaren unterstreicht. Der letzte Vers setzt

    528 

     Bruno Pieger

    wiederum mit einem Trochäus ein, doch besser werden die ersten drei Silben zu einem Daktylus zusammengenommen, auf den drei Trochäen und ein verkürzter Trochäus folgen. Der Aufruhr, der sich im ersten Vers am „blutige[n] streif“ abzeichnete, ist in der Zuspitzung der Vorgänge in den letzten zwei Versen eingeholt und lässt nicht nur Metrum und Rhythmus, sondern das ganze Geschehen in die Frage umschlagen, auf die das Gedicht zusteuert: „Ist das der lezte / Aufruhr der götter über diesem land?“ Was ist unter dem „Aufruhr der götter“ zu verstehen? In den späten Bruchstücken und Entwürfen Hölderlins werden die Götter immer stärker zu reißenden, ja gewalttätigen Mächten, die sich vom „unnüz Treiben / Der Erd‘“ herausgefordert fühlen (MA I, 402). „Im Zorne“ (MA I, 393) und mit brennendem Feuer greifen sie in das Schicksal der Menschen ein. Mehreres ist dabei zu bedenken: Die Götter handeln bei Hölderlin nicht für sich und keinesfalls aus einer bloßen Laune heraus; vielmehr bilden sich die göttlichen und menschlichen Verhältnisse gegenseitig ab, ohne sich deshalb einfach nur zu spiegeln. Das Verhältnis, das zwischen ihnen herrscht, bestimmt die Lage im Himmel wie auf Erden, das eine ist nicht ohne das andere, doch reagiert jede Seite auf ihre Weise seismographisch darauf. Dabei kommt auch eine Ungleichzeitigkeit ins Spiel, von der die göttliche und die menschliche Ebene auseinandergehalten werden. Von hier aus gesehen wäre der „Aufruhr der götter“ in Georges Gedicht nicht identisch mit dem „trab der rotten“, dem ‚jubelnd-drohenden‘ und ‚eisern klirrenden‘ Aufmarsch der Massen, sondern angesichts dieser Vorgänge ein ganz anderer „Aufruhr“ auf höherer Ebene. Es könnte sogar sein, dass es sich bei dem irdischen Treiben um eine ganz und gar gottlose Angelegenheit handelt, und sie ist es, die jenen höheren Aufruhr hervorruft. Umgekehrt ist aber auch dieser nicht ohne Verbindung zu den menschlichen Machenschaften, die sich schicksalhaft ereignen müssen, wenn das Verhältnis zwischen der menschlichen und göttlichen Welt gestört ist. Unter Göttern sind Daseinsmächte zu verstehen, über die der Mensch nicht verfügen kann. So vorbereitet lassen sich vier Ebenen unterscheiden:  1.  die Stöße der Wetter, die ereignishaft („Da zog“) in die Stille der Stadt einbrechen; 2. die zwischenherein stampfenden und rufenden Menschenkohorten; 3. der von beidem ergriffene Dichter, dem sich das Unentschiedene und Mehrdeutige des Geschehenden wie eine Last „aufs haupt“ legt;  4.  sein Hinausfragen, auf welche Weise der „trab der rotten“ und der „Aufruhr der götter über diesem land“ einander entgegnen. Am leichtesten ist dabei der historische Sinn von Georges Vision zu begreifen: Der Dichter sieht die Aufmärsche der sich weltanschaulich und militärisch bekriegenden Parteiungen voraus, wie sie dem heraufziehenden Weltbürgerkrieg und seinen Geschichtskatastrophen zu eigen sind, ein epochales Geschehen, das noch andauert. Schwieriger ist es schon zu verstehen, dass sie nicht einfach Menschenwerk und als solches menschlicher Entscheidung unterworfen, sondern in umfassendere Vorgänge einbehalten sind. Zu erinnern ist daran, dass sich solche Vorgänge nach Hölderlins von George als „Jahrhundert-Hymne“ (ES  20) bezeichnetem Gesang Wie wenn am Feiertage „zwischen Himmel und Erd“ ereignen und den „Wettern […] in der Luft“ und „in Tiefen der Zeit“ überantwortet bleiben (MA I, 263). Erst dadurch gehen sie den Dichter an. Er bleibt für

    

    Der Stern des Bundes · Erstes Buch 

     529

    die Geschichtsvision unverzichtbar. Zugleich öffnet sich in ihr sein Dichter-Sein dem weitesten geschichtlichen Raum, so wie dieser umgekehrt erst am Dichter in seiner Bedeutung erscheint. Doch ist der Dichter-Seher nicht der Allwissende, sondern  – geringer zugleich und größer – derjenige, der das Geschehende am stärksten fühlt und seinen Austrag am unmittelbarsten erleidet. Er steht den Zeitereignissen nahe und sieht zugleich über sie hinaus. Sie kommen ihm aus einer Ferne entgegen, die nicht auszuloten ist. Auf das Anwachsen der Massenaufläufe und ihr schrilles Gebaren in Vers zehn und elf folgen deshalb drei Punkte und markieren eine Unterbrechung. Indem sich das Geschehen an der Zäsur staut, bleibt der Dichter nicht länger ein Getriebener, der schon fast dem Rhythmus der Stöße und Schritte verfallen war. Vielmehr wendet er mit einem Mal diese Vorgänge in einen Bereich, in dem sie gebrochen und in Frage gestellt werden durch das, was ihnen aus der Ferne als „Aufruhr der götter“ entgegenkommt. Dieser Bereich lässt sich nicht durch eine Prophezeiung, sondern nur durch eine alles verwandelnde Frage öffnen und stetig in ihn hinaus fragend übernehmen. Auch hier ist die Figur der Wende im Spiel. Dass Fragen allerdings keineswegs gleich Fragen ist, verrät ein Blick auf das letzte Gedicht des Ersten Buches: Fragbar ward Alles da das Eine floh: Der geist entwand sich blindlings aus der siele Entlaufne seele ward zum törigen spiele – Sagbar ward Alles: drusch auf leeres stroh. Nun löst das herz von wut und wahn verschlackt Von gärung dunkelheit gespinst und trubel: Die Tat ist aufgerauscht in irdischem jubel Das Bild erhebt im licht sich frei und nackt. (SW VIII, 47)

    Was darf man nun vom letzten Gedicht des Ersten Buches erwarten? Gewiss keine Synthese, doch entringt sich ihm unterschwellig, was die Wende bringt bzw. schon gebracht hat: „Die Tat ist aufgerauscht in irdischem jubel / Das Bild erhebt im licht sich frei und nackt.“ Auf diese zwei Verse steuert das zehnte Gedicht und damit das Erste Buch zu, auch wenn ihm das, was ereignishaft eingetreten ist, vorausliegt und andererseits dann in diesem Teil des Sterns des Bundes Dinge berührt wurden, die historisch gesehen vor der widerfahrenen Epiphanie und der davon ausgelösten Wende liegen und nur durch diese gewürdigt und gedeutet werden können. „Tat“ und „Bild“, jeweils großgeschrieben, geben die Antwort auf das Tun und Lassen der Zeitgenossen und Weggefährten und deren Weltanschauungen, die von einer Metaphorik und Semantik des Nichtigen gezeichnet sind, trotz scheinbar ungeahnter Möglichkeiten. „Alles“ kann gefragt und gesagt werden, doch bleibt „Alles“ – wiederum zweimal großgeschrieben – „drusch auf leeres stroh“, weil es des „Eine[n]“, der Seinsfuge, entbehrt. Der Dichter spricht

    530 

     Bruno Pieger

    ausdrücklich von der Flucht des Einen, und dass dadurch „geist“ und „seele“ – beide vor der erdrückenden Übermacht des „Alles“ kleingeschrieben – blind und töricht und haltlos geworden sind. Die Achse des Gedichts liegt genau in seiner Mitte. Gegenüber der absoluten Nichtigkeit, die mit Vers vier erreicht ist, beginnt im fünften und den folgenden Versen nicht gleich ein Zustand absoluter Erfülltheit. Vielmehr setzt die Aufgabe einer Katharsis ein, die das vielfach ‚verschlackte herz‘ von seinen emotionalen Entgleisungen („wut und wahn“) und von seiner Verfallenheit an die bloße Verworrenheit („gärung dunkelheit gespinst und trubel“) zu lösen imstande ist. Der Schnitt erfolgt gegenüber denjenigen, die im Nichtigen verharren wollen oder schon in ihm versunken sind. Einbezogen bleibt, wer sich der Katharsis zu öffnen versteht. Hinter den sechsten Vers ist ein Doppelpunkt gesetzt. Er weist auf die „Tat“ und das „Bild“, die vom siebten und achten Vers aufgerufen werden und die unabdingbar gewordene Reinigung motivieren. „Die Tat“ ist das Erscheinen des göttlichen ‚Du‘ in seiner leibhaften Schönheit und Gegenwart – eine Befeuerung des Irdischen, eine an der Menschengestalt sich vollziehende kosmotheistische Transzendenz, kein Überspringen der Welt zugunsten eines jenseitigen Reiches.6 „Das Bild“ aber ist das Merkzeichen für die erforderliche Katharsis und so angelegt, dass in einfachen einsilbigen Worten alle unverzichtbaren Momente seiner Errichtung versammelt sind. Als „Bild“ – das wissen wir jetzt – muss sich Leben zu einem ganzen Weltverhältnis entfaltet haben und sich darin ‚zu Ende‘ leben. Wenn dies gelingen soll, muss es schon von einem unfassbaren Licht angestrahlt sein, durch das es erst zum Leuchten kommt. Sich in diesem Licht zu bewegen und von ihm inspiriert ein ganzes Weltverhältnis einzugehen, darin liegt seine Freiheit. Und es ist der so zum Leuchten gebrachte nackte Leib selbst, in dem das Bild seine höchste, kaum mehr bildhafte Verkörperung findet. Umgekehrt lässt sich auch sagen: Kein gültiges Bild, das nicht in diesem Licht und solcher Freiheit und Nacktheit steht.

    6 Zum Begriff des Kosmotheismus vgl. Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheimus. München 2003.

    Jürgen Egyptien

    Zweites Buch Entsprechend der strengen Architektonik des Sterns des Bundes besteht auch das Zweite Buch aus dreißig Gedichten ohne strophische Gliederung und mit einer Länge von sieben bis zwölf Versen. Die metrische Gestaltung variiert stark, wobei der Blankvers dominiert. Die übliche innere Gliederung der dreißig Gedichte in drei Zehnergruppen geschieht auf doppelte Weise. Zum einen weisen das erste, elfte und einundzwanzigste Gedicht Anfangszeilen in Kapitälchen auf, zum anderen sind das zehnte, zwanzigste, neunundzwanzigste und dreißigste Gedicht gereimt, wobei jedes Mal eine andere Reimform benutzt wird. Darüber hinaus begegnen vereinzelte Reime. Die ästhetische Durchformung der Gedichte auf der Ebene der Klanglichkeit ist deutlich erkennbar und setzt somit Georges symbolistische Prägung auch im Spätwerk fort. Die Entstehungszeit der Gedichte des Zweiten Buchs dürfte sich  – wie für den Stern des Bundes insgesamt – auf den Zeitraum von 1907 bis 1913 erstrecken. Konkrete Anhaltspunkte für einzelne Gedichte sind spärlich. Einzige Ausnahme im Kontext des Zweiten Buchs ist das sogenannte ‚Schlachtgebet‘ (SW VIII, 75), das durch eine briefliche Äußerung Georges gegenüber Friedrich Gundolf ziemlich sicher auf den Herbst 1910 datiert werden kann (vgl. G/G 210  f.). Unter den fünfzehn Gedichten aus dem Stern des Bundes, die im Januar 1910 in der IX. Folge der Blätter für die Kunst vorabgedruckt sind, befinden sich vier aus dem Zweiten Buch. Sie bilden dort den Schluss der Textgruppe, die unter dem neutralen Titel Neue Gedichte steht. Es sind in der Buchfassung die drei ersten Gedichte des Zweiten Buchs und das Eröffnungsgedicht des dritten Zehnt, Über wunder sann ich nach (SW VIII, 70). Zwischen den Fassungen in der IX. Folge der Blätter für die Kunst und im Stern des Bundes bestehen nur minimale Unterschiede, einzig nennenswert ist die Ersetzung von ‚sonne‘ durch ‚stille‘ im ersten Gedicht des Zyklus. Jan Aler charakterisiert das Zweite Buch des Sterns des Bundes als „intimste und zarteste Liebeslyrik.“1 Sie schließe aber trotz dieser ereignishaften Thematik „Spruchdistanz und Sentenzabstraktion“ (ASF 187) nicht völlig aus. Strukturell sieht Aler im Zweiten Buch „einen Gang, der an alte Mysterien gemahnt, wo nach der Reinigung und der Einweihung in die ganze Tiefe der Liebe sich dem Neuling die waltende Macht dieses Lebensbereichs ganz enthüllt und der neue Eros erscheint.“ (ASF 235) Der Tendenz nach lässt sich dem durchaus zustimmen, allerdings werden wir sehen, dass es dabei sowohl antizipierende als auch retardierende Elemente gibt.

    1 Jan M. M. Aler: Im Spiegel der Form. Stilkritische Wege zur Deutung von Stefan Georges Maximindichtung. Amsterdam 1947, S. 187. Im Folgenden werden Zitate daraus im Fließtext unter Angabe der Sigle ASF und Seitenzahl nachgewiesen.

    532 

     Jürgen Egyptien

    In der Forschung, die den Stern des Bundes ohnehin etwas stiefmütterlich behandelt (vgl. GHb I, 199  ff.), wird das Zweite Buch noch deutlich weniger diskutiert als die Gedichte des Eingangs und des Ersten Buchs. Das hängt sicher mit dem zugleich ‚intimen‘ wie ‚lehrhaften‘ Charakter dieses Zyklus zusammen. Wohl eben aus diesem Grund hat sich Wolfgang Frommel von ihm affizieren lassen und 1937 das Projekt eines close-reading-Kommentars in Form von ‚Meditationen‘ verfolgt, das er allerdings 1942 mit der Behandlung des dreizehnten Gedichts abgebrochen hat.2 Der Weg zum Verstehen der Gedichte des Zweiten Buchs, den Frommel eingeschlagen hat, erscheint durchaus legitim, denn das Eröffnungsgedicht Breit’ in der stille den geist (SW VIII, 50) stimmt mit der ersten Zeile auf einen meditativen Charakter ein. Sie lässt sich zugleich als eine rezeptionsästhetische Anweisung lesen, wie die Aufnahme dieser Gedichte am besten zu erfolgen habe. Das Thema dieses ersten Gedichts ist die Reinigung des Geistes, die für die Öffnung der Sinne und die Regung des Göttlichen im Subjekt die Voraussetzung schafft. Dieser Akt darf nicht allein als Sujet des fiktionalen Raums des Gedichts aufgefasst werden, sondern ebenso als Appell an den Leser. Auch er soll sich von allen ‚Hüllen befreien‘, die eine Öffnung für das Göttliche sabotieren. Diese Denkfigur ruft Georges Werk seit dem Gedicht Weihe (SW II, 10) am Beginn der Hymnen immer wieder an exponierter Stelle auf. Das ‚Breiten‘ der ersten Zeile erscheint daher nicht bloß unter einem räumlichen Aspekt, es leitet unmittelbar über zur ‚Bereitung‘ für die Wahrnehmung des Gottes im Subjekt. Der letzte Vers legt nahe, dass dieser sich „wie ein Kind im Mutterleib“ (WFM  74) regende Gott Eros ist. Damit knüpft das Eröffnungsgedicht des Zweiten Buchs an die letzte Zeile des Ersten an: „Das Bild erhebt im licht sich frei und nackt.“ (SW VIII, 47) Es ist darüber hinaus in vielfältiger Weise mit den im Zweiten Buch folgenden Texten verflochten, wie an einigen Beispielen gezeigt werden mag. Bei näherem Blick auf den ganzen Stern des Bundes ergibt sich ohnehin die Vorstellung eines einzigen rhizomartigen Textgeflechts. Zu nennen wäre die Korrespondenz mit „strengster stille brauch“ (SW VIII, 79) im letzten Gedicht des Zyklus, die ebenfalls auf die Bereitung für das ‚Erblühen‘ orientiert. (Hat George um dieses Brückenschlags willen ‚Sonne‘ durch ‚Stille‘ ersetzt?) Der in den Versen drei bis fünf formulierte Gedanke, dass die Reinigung des Geistes ein lang währendes Gehaltensein „in die furchtbare nacht“ erfordere, kehrt im drittletzten Gedicht des Zweiten Buchs wieder, das den ‚Einen‘ feiert: „Entstiegen aus der nacht der reinigung“ (SW  VIII, 77). In nächster Nachbarschaft dazu steht der Vers „Verdamm das grausen nicht das dich umfing“ aus dem letzten Gedicht des zweiten Zehnt (SW VIII, 69), das das Erschrecken über „soviel nacht“ ebenfalls als die unumgänglichen „mühen der notwendigen trage“ rechtfer-

    2 Wolfgang Frommel: Meditationen zum Zweiten Buch des ‚Stern des Bundes‘ von Stefan George. Amsterdam 1994. Im Folgenden werden Zitate daraus im Fließtext unter Angabe der Sigle WFM und Seitenzahl nachgewiesen. Die ersten Drei Meditationen zum Zweiten Buch des ‚Stern des Bundes‘ erschienen in CP 32 (1983), H. 159–160, S. 5–19.

    

    Der Stern des Bundes · Zweites Buch 

     533

    tigt. Damit wird im Zweiten Buch des Sterns der im Eingang bzw. im Ersten Buch mehrfach anzutreffende geschichtsphilosophische Gedanke von der notwendigen Durchschreitung der tiefsten Finsternis vor dem Anbruch eines neuen und von göttlichem Licht erfüllten Reichs auf die Ebene der Subjektbildung übertragen. Für deren Prozess ist nun das Lehrer-Schüler- bzw. Meister-Jünger-Verhältnis konstitutiv oder – neutraler gesagt – die Existenz einer engen emotionalen, auf Vertrauen und Liebe gegründeten Partnerschaft. Es ist daher nur schlüssig, in den Gedichten des Zweiten Buchs auf eine dialogische Struktur zu stoßen. Sie besteht allerdings nicht über den gesamten Zyklus hinweg. Im ersten Zehnt sind das zweite, vierte und neunte Gedicht in sich dialogisch, während die übrigen als Äußerungen einer Sprecherinstanz erscheinen, die sich immer an ein ‚Du‘ wendet oder über ein ‚Wir‘ spricht. Bis auf das Eröffnungsgedicht tritt diese Sprecherinstanz als lyrisches Ich hervor. Ich will sie fortan Meister nennen; außer im siebten Gedicht, wo der Sprecher der Jünger ist. Im zweiten Zehnt bieten die ersten acht Gedichte einen regelmäßigen Wechsel der Sprecherinstanz vom Meister zum Jünger, während die letzten beiden vom Meister gesprochen werden. Hier fehlt in den ersten beiden Meister-Gedichten das lyrische Ich. Das dritte Zehnt spricht ausschließlich aus der Perspektive des Meisters, der nur im siebten Gedicht die Funktion der Sprecherrolle an den ‚Herrn des Herbstes‘ abgibt. Hier kommen das dritte und letzte Gedicht des Zehnt ohne lyrisches Ich aus. Nach dem Eingangsgedicht zum ersten Zehnt bilden die Gedichte zwei bis vier und sieben bis neun jeweils Dreiergruppen, wobei die Gedichte fünf und sechs einen Doppelkern darstellen. Im zweiten bis vierten Gedicht geht es primär um die Überwindung von Widerständen auf Seiten des Jüngers. Das zweite Gedicht Entbinde mich vom leichten eingangsworte (SW VIII, 51) beginnt mit der Selbstbezichtigung des Jüngers, der wegen seines ‚Unwerts‘ um Entlassung und Suspendierung von der ‚weitren weihe‘ bittet. Der Meister hingegen begründet seine Überzeugung von der Eignung des Jüngers mit seiner Beobachtung, dass durch das Alltagsgesicht des Jüngers hindurch „das zweite / Das gottesantlitz“ erwachsen und für ihn sichtbar geworden sei. Der großartige Schlüsselvers, der eine Art mystische Erkenntnistheorie postuliert, lautet: „›Denk nicht dass dort nichts ist wo du nichts siehst.[‹]“ Wie nach dem Modell des bekannten ‚Wissensgedichts‘ im Dritten Buch („Drei sind des wissens grade“, SW  VIII, 95), geht auch dieses Gedicht von einer Hierarchie des Erkenntnisvermögens aus, wobei die Pointe darin besteht, dass der liebevolle Blick von außen Qualitäten des Partners wahrnimmt, die dessen Selbstwahrnehmung verborgen bleiben. Entscheidend ist aber, dass dies nicht auf einer projektiven Leistung des Betrachters beruht, er etwas in den Partner ‚hineinsieht‘, sondern aus seiner Sensibilität für eine verborgene Qualität erwächst, die der erotische Blick zum Vorschein bringt. Das dritte Gedicht Auf der brust an deines herzens stelle (SW VIII, 52) schließt an die Reinigungs-Idee des ersten Gedichts und den notwendigen Durchgang durch die „Schwarze[n] dünste von verwesten träumen“ an. Sie werden vom ‚Brand der Liebe‘ aufgewirbelt und vernichtet. George lässt den Meister für die ‚Entgiftung‘ des Jüngers auf metaphorische Weise eine Therapie übernehmen, die er in Jean Pauls Roman Hes-

    534 

     Jürgen Egyptien

    perus gefunden hatte. Dort wird ein Leichen- oder Schlangenstein auf die Brust gelegt, um alles Gift auszusaugen.3 Hier nun legt der Meister den Mund auf die Brust des Jüngers, um die Reinigung zu vollziehen, unterstützt vom Ineinanderlegen der Hände, durch die die Energie des Meisters den Leib des Jüngers durchströmt. Das vierte Gedicht Mich den finstren musst du fesseln (SW VIII, 53) kann als ein erstes Beispiel für eine ästhetische Durchformung dienen, die die rhetorischen Mittel des Parallelismus (in den ersten sechs der acht Zeilen) und der Anapher (Vers 1/2 u. 5/6) mit dem klangästhetischen der Alliteration (in den ersten beiden und letzten drei Zeilen) kombiniert. Hier begegnet auch ein Reim außerhalb der Schlussgedichte der Binnenzyklen. Meister und Jünger sind wiederum verschiedener Meinung über die richtige Strategie zur Überwindung der Schlacken der Vergangenheit. Der Aufforderung zur Anwendung von Gewalt („fesseln“, „töten“) antwortet der Meister mit dem Wärmestrom der Freundschaft („Sonne-walten sollst du spüren“), der in den nächsten Text hinüberfließt. Das fünfte Gedicht Heilige nacht von Ihm befohlen (SW VIII, 54) unterbricht den Dialog zwischen Meister und Jünger und löst ihn durch die Hinwendung des Meisters zum Gott Eros ab, der sich hinter dem großgeschriebenen Personalpronomen verbergen dürfte. Der Gott hat dem Sprecher eine heilige Nacht gewährt, um deren Fortdauer dieser bittet, um das von der Nacht ermöglichte Glücksgefühl zu vollenden. Die Entrücktheit der heiligen (Liebes-)Nacht soll durch „kein werk des tags“ vor ihrer Erfüllung beendet werden. Nun erscheint der Sprecher als Empfänger der ‚Wärme‘, die der vom Eros entzündete Partner abstrahlt. Das sechste Gedicht ER ist Helle (SW VIII, 55) setzt die Anrufung des Eros fort, zumal die ‚Helle‘ direkt an das ‚Licht‘ aus dem letzten Vers des vorigen Gedichts anschließt. In verallgemeinerter Form erfolgt hier die Aufforderung, sich sowohl den Höhen wie den Tiefen des Eros hinzugeben, ihm ohne Bedingung die Führung zu überlassen. Morwitz (vgl. EM I, 367) rückt die beschriebene Dualität in die Nähe der von Nietzsche herausgearbeiteten Polarität von Apollinischem und Dionysischem. Für ein Nietzsche-Echo spricht auch das „Lachen in kristallner höh!“ Georges Gedicht lässt dabei keinen Zweifel an der Gleichrangigkeit der apollinischen und dionysischen Komponenten. Hier wie andernorts lässt sich eine Konzeption erkennen, der zufolge „erst beide zusammen die ganze Wahrheit bedeuten“4, weil sie, „trotz schroffer Gegensätzlichkeit, doch in Wahrheit durch ein ewiges Band verknüpft sind“5. Das siebte Gedicht Wenn meine lippen sich an deine drängen (SW VIII, 56) eröffnet die zweite Trias, die der Konstellation Meister–Jünger gewidmet ist. Ich folge hier der Ansicht Frommels, der in der Sprecherinstanz den Jünger erblickt (WFM 42), wohin-

    3 Die Passage findet sich im Brief Giulias aus dem 22. Hundsposttag des Hesperus und wurde in Georges gemeinsam mit Karl Wolfskehl herausgegebene Jean Paul-Auswahl aufgenommen, vgl. DD I, 25. 4 Walter F. Otto: Dionysos. Mythos und Kultus. 5. Aufl. Frankfurt/M. 1989, S. 187. 5 Ebd., S. 189.

    

    Der Stern des Bundes · Zweites Buch 

     535

    gegen Morwitz den Älteren als Sprecher ansieht.6 Die Ambivalenz des Eros findet hier ein Echo im Umschlag von der glühenden Umschlingung der Leiber zum Gewahrwerden einer übergroßen Verwandtschaft, die den Sprecher beschämt zurücktreten lässt. Dem ‚Dunkel‘ entspricht die in ‚Schreckensferne‘ aufscheinende Herkunft aus dem „gleichen königstamm.“ Insofern das Erschrecken an die Erkenntnis des „eigen fleisch“ gebunden ist, wirkt die Loslösung wie eine Reaktion auf das Inzestverbot. Das empfundene (und problematische) Eins-Sein wird in der entscheidenden Zeile („So ist’s weil ich mein eigen fleisch errate“) klanglich durch die Häufung des Diphtongs ‚ei‘ unterstützt. Das achte Gedicht (SW  VIII, 57) feiert die Integration des ‚Du‘ in die gemeinsame Runde, wobei „die gegenwärtige Liebe die vorige nicht auslöscht oder auch nur mindert, sondern im Gegenteil neu verwirklicht“ (WFM 61). Es formuliert dialektische Kerngedanken der meisterlichen Lebenslehre, so etwa den Gewinn, den der sich Schenkende empfängt, oder die Weiterung des Raums um diejenigen, die zusammenrücken. Das Gedicht schließt mit der zentralen Idee des ewigen Augenblicks: „Sieh dieser sonnentag sprengt jede grenze / Die zeiten vor und nach begreift er ein!“ Das Erlebnis der Aufnahme in die Runde – in den „kreis den liebe schliesst“, wie es im Nietzsche-Gedicht des Siebenten Rings hieß (SW VI/VII, 13) – ist ein erfüllter Moment, der Geschichte selbst transgrediert. Dieses Ende findet seinen Widerklang am Ende des folgenden Gedichts, das aus einem Dialog zwischen dem Älteren und dem Jüngeren über die völlige Hingabe der Liebenden und die sie belohnende Ganzheit besteht. Die Glückserfahrung kulminiert im Erleben des ewigen Augenblicks: „solch ein umlauf ist die ewigkeit“ (SW VIII, 58). Jan Aler fasst den Verlauf des Binnenzyklus bis hierhin mit den Worten zusammen: Materialiter bietet die zweite Trias eine Weiterführung der ersten, indem sie die Hingabe, welche in 5 erreicht wurde, zu ihrem Ausgangspunkt hat. So gliedert sich der Prozess der Begegnung in zwei Phasen, deren Angelpunkt (5) sich mit dem Schwerpunkte dieses Kernes, einer allgemeinen Bestimmung der Liebe, verbindet (6). (ASF 201)

    Abgerundet wird das erste Zehnt von dem resümierenden Gedicht Was gelitten ist beschwichte! (SW VIII, 59). Es blickt auf den überwundenen Widerstand und die niedergerungenen düsteren Träume zurück und verkündet die Leitfunktion des Eros: „der gott nur gibt die richte.“ Die auf höherer Stufe erreichte innere Balance rechtfertigt den Reim, der Blick richtet sich nach vorn: „Nun bestimmt die höhere sende / Wie ich mich in dir vollende.“ An dem kurzen siebenzeiligen und pro Zeile achtsilbigen Gedicht fällt klanglich die Dominanz des Vokals ‚i‘ auf, der in den geraden Versen zwei-

    6 Die Abweichung hat ein irritierendes Moment, wenn man die Behauptung von Morwitz berücksichtigt, das ganze erste Zehnt des Zweiten Buchs gestalte das Freundschafts-Geschehen zwischen ihm selbst und Stefan George (vgl. EM I, 365). Dieser biografische Aspekt ist aber für meine Interpretation irrelevant.

    536 

     Jürgen Egyptien

    mal auftaucht, im ersten und dritten dreimal und im fünften und siebten fünfmal. Er verleiht dem ersten Binnenzyklus einen hellen triumphalen Abschluss. Das mittlere Zehnt steht im Zeichen der Wechselrede von Meister und Jünger. Es geht nun nach der erfolgreichen Initiation um den rechten Ort, das rechte Maß und den rechten Habitus in der partnerschaftlichen Beziehung und im Rahmen der ‚heiligen Schar‘. Im ersten Gedicht spricht der Ältere den Jüngeren als „der gerte finder“ (SW VIII, 60) an, der über sein Vermögen, mit der Wünschelrute Wasser- und Goldadern aufspüren zu können, nicht erschrecken oder staunen, sondern diese Gabe freudig nutzen solle. Die beschließende Aufforderung „geniess und hilf  / Solang der stab in deiner hand gehorcht“ ermutigt zur Haltung eines carpe diem. Wer über Reichtümer – im Sinne von Begabungen – verfüge, möge nicht nach Gründen fragen, sondern sie zu seinem und dem Besten der ‚Runde‘ produktiv machen. Metaphorisch dürfte die Sensibilität der Wünschelrute für das Aufspüren besonderer menschlicher Qualität stehen, wie sie von Seiten des Meisters im zweiten Gedicht des Zweiten Buchs beschrieben wurde. Dabei übt die Gerte verschiedene Wirkungen aus. Im Verhältnis zum aufstiegswilligen Wasser hat sie eine gleichsam Spannung lösende, geburtshelferische Funktion. Den in der Tiefe schlummernden „adern goldes“ gegenüber dient die Gerte zunächst als Ortungsinstrument. Dieser Schatz muss eher gehoben werden, als dass er sich von alleine entbirgt. Farbmetaphorisch ist diese verborgene Qualität des Einzelnen mit den „zersplissnen goldnen fäden“ (SW VIII, 33) einer verlorenen Gemeinschaft verbunden, deren Zusammenhalt die Dichtung neu zu knüpfen unternimmt. Das folgende Gedicht Selbst nicht wissend was ich suchte (SW VIII, 61) verhält sich dazu komplementär. Der Jünger ahnt zwar „reiche triebe“ in seinem Inneren, bedarf aber des erweckenden ‚Odems‘ eines ‚Helfers‘, um sich aus der Starre zu lösen und ‚aufzutauen‘. Im dreizehnten Gedicht Du hast empfangen hast gegeben (SW VIII, 62) wird der Jüngere gemahnt, den ihm gemäßen Platz in der Gemeinschaft zu suchen und nicht mehr zu verlangen, als was seinem Wesen entspricht. Es ist Ausweis der edlen Gesinnung eines der Runde Zugehörigen, die durch diese Partizipation eröffneten Möglichkeiten eines gehobenen Lebens maßvoll zu nutzen. „Der edle schlürft nicht wein des gottes / In gierigem zug hinab.“ Der Sprecher weist darauf hin, dass der Jüngere seine persönliche Bürde mit Stolz auch am Rande des Festes („in der begehung schatten“) tragen dürfe, und hält den Trost bereit, dass eine weniger exponierte Position den Vorzug habe, das Risiko eines Sturzes in den Abgrund zu vermindern. Im folgenden Da ich mit allen fibern an dir hänge (SW VIII, 63) wird von Seiten des Jüngeren noch einmal die unbedingte Hingabe an den geliebten Meister beschworen. Dabei betont der Jüngere, dass dieser Hingabe ein autonomer Entschluss zugrunde liege: „Ich selbst ein freier gab mich frei zu eigen ..“ Wenn er sein Bekenntnis mit den Worten fortsetzt: „Getilgt sei jeder wunsch jed band zerriss / In solchem dienst der liebe“, so erinnert dies an Jesu Gebot an seine Jünger, ihm ohne Einschränkung zu folgen und alle Bindungen derjenigen an ihn zu opfern. Das Gedicht nimmt am Ende

    

    Der Stern des Bundes · Zweites Buch 

     537

    nur das Opfer der ‚heiligen Ehre‘ von dieser Hingabe aus. Die Exklusivität der ‚Ehre‘ wird durch die Verwendung desjenigen Attributs unterstrichen, das Bestandteil des von George ursprünglich vorgesehenen Titels für den Stern des Bundes war. Er sollte zuerst Die heilige Schar heißen, wie George bei einer privaten Lesung Melchior Lechter an dessen Geburtstag am 2. Oktober 1909 mitteilte (vgl. GHb I, 191).7 Dieser ‚Schar‘ kann nur angehören, wem die eigene Ehre sakrosankt ist. Damit wird der entscheidende Aspekt der notwendigen Selbstbewahrung angesprochen, anders gesagt: Der sich frei zu eigen Gebende wird durch sein Tun nicht unfrei, sein Selbstwertgefühl wird durch die Bindung an den Meister gehoben, nicht gebrochen. Nicht hündische Unterwerfung ist das Ziel, sondern Daseinssteigerung als Wirkung einer auf dem Eros fußenden geistigen und emotionalen Bindung. Das fünfzehnte Gedicht (SW VIII, 64) beginnt mit fünf rhetorischen Fragen, in denen der Meister seine unbedingte Hingabe an den Jüngeren dokumentiert. Er ist ohne Vorbehalt bereit, sich an den Händen, dem Herzen, dem Wesen („mark“), dem Blick und Schritt des anderen zu orientieren. Gerade auf diesem Weg gewinnt auch der Ältere an Substanz für seine Visionen („träume“), seine Wünsche (‚Gebete‘) und seine Dichtung („in meinem wort der sterne“). Hier, in der Mitte der drei Bücher des Sterns des Bundes, wird das Werk also explizit selbstreferentiell. Motivisch schlägt die geschilderte Konstellation zwischen Jünger und Meister eine Brücke zu dem Gedicht Empfängnis (SW VI/VII, 128) im Zyklus Traumdunkel. Das sechzehnte Gedicht setzt mit der Frage des Jüngeren ein: „Was ist geschehn dass ich mich kaum noch kenne“ (SW VIII, 65) und bringt damit das zentrale Motiv der Verwandlung zur Sprache. Der Jünger konstatiert erstaunt, kein anderer geworden und doch mehr als zuvor zu sein. Das Gedicht mündet in einer klassischen dialektischen Sentenz, die einen Kerngedanken des gesamten Phänomens ‚George-Kreis‘, den wir schon mehrfach berührt haben, bündig formuliert: „Seitdem ich ganz mich gab hab ich mich ganz.“ Diese Idee bildet das Fundament der personalen, ethischen und geistigen Beziehungen zwischen Meister und Jünger. Man kann es auch pädagogischen Eros nennen, und es gilt für beide Seiten. Im kritischen Rückblick sieht der Jünger den Irrtum des Widerstrebens: „Ich war noch arm als ich noch wahrt und wehrte“. Die Aufgabe eines falschen (bürgerlichen) Verständnisses von ‚Persönlich-

    7 Morwitz überliefert die Titelvariante Lieder an die heilige Schar (EM I, 379). Tatsächlich erschien unter dem Titel Die heilige Schar 1918 im Insel-Verlag ein Gedichtband. Der Verfasser war Johannes R. Becher. Zeilen des Eröffnungsgedichts könnten auf eine Kenntnis von Georges Stern des Bundes schließen lassen: „Der Dichter strahlt dich urgewissen Geist. / […] / Dann trefft ihr euch im fabelhaftesten Bund. // Ihr aller Reiche Ärmste! Wie Versprengte / Des Dichters Psalter tauft euch: Heilige Schar. / Daß bald dies Sternbild glänz, da hoch ihr schwenktet!“ (Johannes R. Becher: Die Heilige Schar. Gedichte. Leipzig 1918, S. 7.) Der Dichter-Seher meint hier mit der ‚heiligen Schar‘ in gut expressionistischer Manier die Beleidigten und Erniedrigten des ganzen Erdkreises.

    538 

     Jürgen Egyptien

    keit‘ schlägt um in die bereicherte Erfahrung des Selbst.8 Der Jüngere macht zudem die Beobachtung, dass ihn die Wandlung für sein soziales Umfeld attraktiver erscheinen lässt: „Gefährten suchen mich mit schöner scheu.“ Das siebzehnte Gedicht Du nennst es viel dass du zu eigen nimmst (SW VIII, 66) setzt das Bekenntnis des Älteren zur unbedingten Fokussierung auf das Wohl des Jüngeren fort. Selbst dessen Bitten haben für den Älteren die Verbindlichkeit eines Befehls. Er schreibt sich sowohl die Rolle des Schützenden als auch des Entlastenden und sogar stellvertretend Leidenden zu. Das folgende drittletzte Gedicht des mittleren Zehnt knüpft an das dritte dieses Binnenzyklus an und greift das Thema der gemäßen Positionierung innerhalb der ‚Runde‘ auf. Erneut – und letztmals im Zweiten Buch – spricht ein Jünger. Er blickt zurück auf seine Annäherung an den Meister „mit vollem sturm der jugend“, der seine Antwort im ‚glühenden Schwung‘ fand, mit dem ihm die Stelle des Glücks zugewiesen wurde. Der Schlussvers „Schon trat ich schweigsam in die andre riege“ legt eine vorausgegangene weitere Wandlung und Reifung nahe. Morwitz leitet diese neue Rolle plausibel aus dem ‚Erstarken zur eigenen Tat‘ (vgl. EM I, 374) ab, womit konkret die Fähigkeit gemeint sein könnte, einen eigenen Kreis von Jüngeren um sich zu scharen. Das neunzehnte Gedicht Wie man zurücksieht nach dem klippensteg (SW  VIII, 68) verwendet ein Gleichnis, um die besondere Qualität der zwischen Meister und Jünger bestehenden Gemeinschaft zu begründen. Da sie aus dem Bestehen einer gemeinsam überstandenen Gefahr erwächst, nennt Aler die Gedichte siebzehn bis neunzehn eine „Trias der Duldung, des Verzichts und des Wagnisses“ (ASF 203). Das neunzehnte gehört dabei zu denjenigen, in denen Worte des Gottessohnes nachklingen.9 Das letzte Gedicht des zweiten Binnenzyklus (SW VIII, 69) greift die literarische Gattung der Gleichnisrede auf. Sie wird hier in den Versen zwei bis fünf von einem „samenkorn im untern schacht“ als Rollensprecher gehalten. Das Gleichnis rekurriert, wie ich schon im Kontext des Eröffnungsgedichts zum Zweiten Buch zeigte, auf den Gedanken, dass die Finsternis notwendig durchschritten werden müsse, um den Anbruch einer neuen Zeit ins Werk setzen zu können. Die letzten beiden Zeilen bilden in den Worten des Meisters eine Anwendung dieses Gesetzes auf die partnerschaft­ liche Beziehung zwischen Liebendem und Geliebtem. Das dritte Zehnt des Zweiten Buchs wird von dem Gedicht Über wunder sann ich nach (SW VIII, 70) eröffnet, das mit „der weisheit untern kammern“ an die Perspektive des vorangegangenen anschließt. Ab hier spricht, wie schon gesagt, nur noch

    8 Es mag vielleicht abwegig erscheinen, aber an einer solchen Stelle sehe ich Koinzidenzen zwischen George und Kafka. Man kann etwa konkret an seine kleine Parabel Gibs auf! denken, aber ganz allgemein sehe ich in der Idee des Verzichts auf Widerstand, der den Menschen sein existentielles Ziel eher erreichen lässt als ein trotziges Sich-Abmühen, eine bemerkenswerte Verwandtschaft. Das Ziel freilich könnte divergenter kaum sein. 9 Vgl. die folgende Modellinterpretation.

    Der Stern des Bundes · Zweites Buch 

    

     539

    der Meister selbst. Das Gedicht steht im Zeichen der Selbstbefragung und der Reflexion über das erlebte Wunder, womit unausgesprochen die Begegnung mit Maximin gemeint sein dürfte. Der Sprecher fragt sich, ob dieser ‚Gott und Geist‘ aus „unermessnen höhn“ zu ihm gesandt worden sei oder ob er ihn selber geschaffen habe. Er verbietet sich aber energisch jede weitere Spekulation („Schweig gedanke!“) und verordnet sich stattdessen  – klangvoll  – spirituellen Dank: „seele bete!“ Dennoch bricht das Staunen über das erlebte Wunder, das alle anderen Wunder übertrifft, sich erneut Bahn und gipfelt in der nicht ohne Stolz geäußerten, in die Form einer Frage gekleideten Feststellung: Riss ich nicht ins enge leben Durch die stärke meiner liebe Einen stern aus seiner bahn?

    Damit fügt sich dieses Gedicht in die Reihe derjenigen, die das Leitmotiv des Sterns des Bundes konstituieren und in der semantischen Überlappungszone poetologischer, religiöser, erotischer und kosmischer Aspekte halten. Das folgende Gedicht Rückgekehrt vom land des rausches (SW VIII, 71) setzt die retrospektive Anrufung der Gottesbegegnung fort. Nach dem bewährten Modell der Rückwendung zu den heimatlichen Gefilden nach der Erkundung südlicher Landschaft und Sprache, wie es in Georges Werk seit dem Gedicht Rückkehr aus dem Jahr der Seele (SW IV, 59) mehrfach anzutreffen ist, kontrastiert der Sprecher hier das „land des rausches“ mit dem spröden „heimat-lenze“ und dem ‚weißen Birkenstamm‘. Als dessen ‚blanker‘ Nachbar erscheint das ‚Du‘ als „gott der nähe“ und „gott der frühe.“ Der Vergleich des göttlichen ‚Du‘ mit einem Hirten evoziert zum einen eine pastoralarkadische Szene und lässt andererseits die Verwandtschaft mit einer Christus-Figur assoziieren. Mit der Verschleifung der Grenze zwischen einer heimatlichen und einer antiken Landschaft bereitet dieses Gedicht die große epiphane Verwandlung des Vorabend-Gedichts vor (SW VIII, 74). Morwitz weist aufgrund dieses antiken Einschlags zu Recht darauf hin, dass das schattenlose Auge ein Zeichen dafür sei, dass der Hirtengott „noch kein Sehnen nach Erlösung in einem Jenseits kennt“ (EM I, 376), also ganz dem Diesseits zugehörig sei. Das nächste Gedicht Ist dies der knabe längster sage (SW VIII, 72) spricht von der Verwandlung des erwarteten Jünglings, der alles Mädchenhafte und Üppige abgelegt hat und „schlank und straff“ statt Wollust den Kampf sucht. Nach der rein funktionalen Erledigung seines Zeugungsauftrags drängt er „in mühe und gefahr“. Im folgenden Gedicht fällt ein Blick auf eine Zeit nach dem Kampf, in der „leichte paare in den hainen“ (SW VIII, 73) lustwandeln könnten. Der Sprecher bricht diese arkadische Vision aber abrupt ab und lässt das ‚Du‘ wissen, dass es auch selbst noch nicht den Rang des Sprechers ganz begriffen habe. Das fünfundzwanzigste Gedicht Vor-abend war es unsrer bergesfeier (SW VIII, 74) stellt nach den beiden vorangegangenen eher schwächeren Texten sicher einen der

    540 

     Jürgen Egyptien

    Höhepunkte im Stern des Bundes dar. Sein zentraler Gedanke ist die poetische Verwandlung von Georges heimischer rheinischer Landschaft in ein neues Hellas.10 Das folgende Gedicht ist das eingangs erwähnte ‚Schlachtgebet‘ (SW  VIII, 75), über das George in einem Brief an Friedrich Gundolf am 7. November 1910 schrieb, es gehe sprachlich bis an „die lezte grenze dessen was man noch sagen darf“ (G/G 211). In diesem Brief geht Georges Gedicht die Abschrift eines Gedichts von Ernst Morwitz voran, das mit einer Reihe von Varianten im Jahr darauf den zweiten Teil seiner im Verlag der Blätter für die Kunst erschienenen Gedichtsammlung eröffnete.11 Der titellose Text von Morwitz führt die Bildlichkeit von Kampf und Waffen in den ersten Zeilen ein: Jetzt da du sieger bist wirst du erlöser Da ich besiegt bin wurde ich befreit: Du nahrung meine flamme zu entfesseln Stoff meines stoffes waffe meiner waffen!

    Auch der Gestus des Gebets ist bei Morwitz in den letzten Versen präfiguriert, wo der angerufene Herr „mit segnerhänden“ den in Liebe Verschworenen zuwinkt. Georges Antwort spitzt die Motivik von Morwitz zu. Sie spricht ebenfalls von Erlösung, meint damit aber konkret den Tod in der Schlacht („blutige taufe kann mich lösen“), der wiederum in eine christliche Metaphorik eingeschmolzen wird. Der Sprecher weist die Rolle des Siegers hier ab, er träumt nicht von Ruhm, sondern von „willkommner rast“, was abermals den Tod meint, der ihm „am künftigen tag“ gewiss ist. Umso intensiver genießt er die „ruhe lezter nacht in deinem arm“ und das „glück berauschter morgenfrühe!“ Die gemeinsame Nacht mit dem „bruder“ wird im Bewusstsein verbracht, dass im Kampf beide zum „preis der sterne“ fallen werden. Aler spricht nicht ohne Grund vom „Sprung ins Nichts“ (ASF 228), in den dieses Gedicht mündet. Fragt man sich, was George mit der ‚Grenze‘ gemeint haben könnte, liegt es nahe, die Schlachtmetaphorik als Liebeskampf zu deuten, als (Selbst-)Opfer im Zeichen des Eros, den Willen des Lenkers vollstreckend. Die Zusendung der beiden Gedichte sollte für Gundolf nach Georges Worten auch den Zweck erfüllen, „dass du siehst wie hier die wellen hoch gehen!“ (G/G 211) Damit dürfte er auf den Kontext der gleichzeitigen Jahrbuch-Debatten anspielen, in denen ein aggressiver, die Grenzen der Polemik und Zivilisationskritik austestender Ton herrschte. Zu ihm passt der martialische Gestus des ‚Schlachtgebets‘, das den Anklang an den sonst verpönten preußischen Militärjargon im Schlussvers nicht scheut. Das nächste Gedicht ist das Rollengedicht, in dem der „trunkne Herr des Herbstes“ (SW VIII, 76) den Dichter anspricht. Die Attribuierung des Sprechers lässt wenig Zweifel daran, dass es sich bei dieser Gestalt um Dionysos handelt. Was er zu sagen

    10 Vgl. die folgende Modellinterpretation. 11 Ernst Morwitz: Gedichte. Berlin 1911, S. 23.

    

    Der Stern des Bundes · Zweites Buch 

     541

    hat, klingt wie ein kritisches Echo zur Utopie des Vor-abend-Gedichts. Mit diesem ist es auch durch das Motiv der Einladung zum Weingenuss verbunden. Das legt nahe, bei der ‚Frucht‘ an Trauben zu denken. Die Aufnahme von Trauben und Wein erscheint in den Augen des Sprechers als notwendige Bereitung, bevor der Angesprochene daran denken könne, in sich selbst („Im eigenleib“) den ‚Zwilling‘ der Gottheit zu finden oder zu erzeugen. Die Ortsbestimmung „aus diesem gau“ dürfte einen deutlich engeren Sinn als ‚deutsch‘ haben und vorzüglich die Weinbaugegenden des Mittelrheins bzw. Rheingaus, vielleicht auch des (Hölderlin’schen) Neckars meinen. Hier, so die Auskunft der dionysischen Gottheit, könne „Des edlen edelstes“ gedeihen, während Gewächse von mittlerer Qualität „Dort drüben voller duftiger als bei euch“ wachsen. Morwitz versteht unter ‚drüben‘ Italien (vgl. EM I, 378), womit sich das Gedicht in die Reihe derjenigen fügte, in denen der Zuwendung zur deutschen Heimat die Abwendung vom Süden entspricht. Die exzeptionelle Qualität der rheinischen Landschaft, wie sie im Vor-abendGedicht auf epiphane Weise erfahren wurde, liegt der Vorstellung vom Gedeihen des Edelsten vom Edlen zugrunde. Das oben sogenannte kritische Echo besteht darin, dass auf dieser Bühne der Zeitpunkt für die Verkörperung eines hesperischen Dionysos noch nicht reif ist („zu kühner wunsch zu überschwenglich hoffen“). Er kann aber nach der nötigen Einverleibung der dionysischen Attribute eintreten. Im Gedicht Ich weiss nicht ob ich würdig euch gepriesen (SW VIII, 77) nimmt das lyrische Ich, das nun wieder der Dichter ist, das Thema der Verkörperung des Gött­ lichen erneut auf. Es fragt sich, ob sein Preis, womit Georges eigene Dichtung gemeint ist, der Qualität des bereits Geborenen und des noch Ungeborenen bislang angemessen war. Unter dem ‚Gebornen‘ wäre am ehesten Maximin zu begreifen, der als Präfiguration des ‚Ungebornen‘ dessen Existenz und zukünftiges Erscheinen verbürgt. Der Sprecher wendet sich dann einer Reflexion über den Charakter beider zu, die er letztlich als Verkörperungen des ‚vielgestaltigen Einen‘ versteht, dessen Wesensgesetz der Wandel und die stetige Vernichtung und Erneuerung ist. Zur Veranschaulichung dieser unausschöpfbaren Erneuerungskraft zieht George den Vergleich mit dem Phönix heran, der aus seiner Asche sich immer neu gebiert. Dieser Gedanke wird in den Versen drei bis fünf und sechs bis acht, die jeweils einen Satz bilden, variierend wiederholt, wobei die Satzschlüsse „neue flamme“ und „nacht der reinigung“ miteinander korrespondieren. Das vorletzte Gedicht des Zweiten Buchs (SW VIII, 78) kann besondere Aufmerksamkeit für sich beanspruchen, weil es als einziges neben den drei Abschlussgedichten der Binnenzyklen ein durchgehendes Reimschema aufweist. Es ist zudem ein besonderes, da seine drei Kreuzreime alle identische Reime sind. Das Gedicht ruft zu Beginn konventionelle Denkformen auf, die ihre Gemeinsamkeit in einem schematischen Dualismus haben. Dagegen erhebt die Sprechinstanz Einspruch und verkündet ihr Credo von der untrennbaren Einheit der scheinbaren Widersprüche: „Hier künde sich: wie ist ein irdisches ewig / Und eines notdurft bei dem andern fülle.“ Die mittleren vier Verse exemplifizieren den Gedanken am Thema des Schönen. Das Gedicht nimmt Züge einer

    542 

     Jürgen Egyptien

    versifizierten ästhetischen Theorie an. Die fünfte Zeile spricht vom Schönen als einer sich selbst unbewussten Qualität, die blüht und welkt wie etwas rein Naturhaftes. Der weitere Fortgang des Gedichts legt es nahe, unter diesem Träger des Schönen die Jugend zu verstehen. Gegen das zuletzt erwähnte Welken setzt die sechste Zeile das Bleiben des Geistes, der, was vergänglich ist, an sich reißt – und damit in den Bereich des Bleibenden. Die siebte Zeile faltet die Tätigkeiten des Geistes in Bezug auf das Schöne auf: „Er denkt er mehrt und er erhält das Schöne“, wobei das ‚Denken‘ sich auf das Schöne, nicht auf dessen Mehrung beziehen dürfte. Mit der neunten und zehnten Zeile erfolgt die Überführung der abstrakten ästhetischen Theorie in die Sphäre des persönlichen Erlebens und Gestaltens: „Ein leib der schön ist wirkt in meinem blut / Geist der ich bin umfängt ihn mit entzücken“. Die Erfahrung sinnlicher Schönheit hat ihrerseits eine sinnliche, nicht bloß intellektuelle Dimension. Der Geist des Dichters wird durch die sinnliche Gewalt des schönen Leibes verwandelt und umfängt ihn seinerseits mit sinnlichem Entzücken. Die geistig-intellektuelle Aneignung geht unmittelbar sowohl in Sinnlichkeit („entzücken“) als auch in ästhetische Transformation („werk von geist und blut“) über. Das aus dieser Erfahrung hervorgehende Werk transferiert das eigene Entzücken aus der leiblich-geistigen Erlebnissphäre in den Bereich der Kunst und schreibt es als Qualität dem ästhetischen Werk ein. Damit gewinnt der ‚schöne Leib‘ im Medium der Kunst ästhetische Perseveranz („dauernd ein entzücken“) und kann das Entzücken immer wieder im Akt der Rezeption vergegenwärtigen. An der Erfahrung der Anwesenheit des sinnlich Schönen entfaltet das Gedicht somit seine Behauptung von der Durchmischtheit irdischer und göttlicher Sphäre. Im Kontext von Georges Werk und Vorstellungswelt kann man dabei an den Prozess der Transsubstantiation denken, den er Maximilian Kronberger unterzieht, um aus ihm den ästhetischen Gott der Jugend, also Maximin zu gewinnen. Allgemeiner gesprochen dient dieses Gedicht als Exemplum für die Überwindung eines dualistischen, in Scheinwidersprüchen erstarrten Denkens. Das Zweite Buch endet mit dem achtzeiligen Gedicht Wo sind die perlen süße zähren (SW VIII, 79), das einen Kreuzreim und einen umarmenden Reim kombiniert. Auffällig an der Klangfärbung ist die Abundanz des ‚ü‘, das zehnmal vorkommt. Erneut wird hier in einer an Juli-Schwermut gemahnenden Weise der Abschied vom Üppigen, Süßen, Prunkvollen proklamiert, an dessen Stelle die ‚strengste Stille‘ treten soll, womit – wie bereits anfangs erwähnt – der Bogen zum Eröffnungsgedicht des ganzen Zyklus geschlagen wird. Es ist die Stille des ‚Keimmonats‘, in dessen ‚frühster Frühe‘ sich das ‚keusche Blühen‘ vorbereiten kann. Das Gedicht schließt mit seiner Erwartungshaltung einerseits an das Eröffnungsgedicht des Zweiten Buchs an und weist andererseits auf das Erblühen der Landschaft im Eröffnungsgedicht des Dritten Buchs (SW VIII, 82) voraus. Versucht man abschließend den Stellenwert des Zweiten Buchs für den ganzen Stern des Bundes näher zu bestimmen, so kann man vielleicht auf folgende Aspekte hin-

    

    Der Stern des Bundes · Zweites Buch 

     543

    weisen: Zum einen erscheint es als eine exemplarische Ausfaltung des persönlichen Geschehens zwischen Meister und Jünger in seiner ganzen Fülle und Dramatik. Erfahrungen höchster Intimität und Nähe bis hin zur Verschmelzung gehören ebenso dazu wie diejenigen notwendiger Befremdung, Abgründigkeit und des Konfliktaustrags. Im Kontext des George’schen Werks könnte man diese Dimension des Zweiten Buchs als Fortsetzung und Radikalisierung der Thematik des Gezeiten-Zyklus im Siebenten Ring betrachten. Weiterhin kann man in dieser in der Mitte des Gedichtbands platzierten und gegen alle Anfechtungen verteidigten Idee der personalen Bindung eine Antwort auf die Zivilisationskritik sehen, die vor allem im vorangegangenen Ersten Buch breiten Raum einnimmt. Pointierter gesagt: George möchte der mit großer Geste verworfenen Gegenwart, der alle Werte auflösenden Moderne in ihrer liberal-kapitalistischen, westlichen Version ein konkretes, leibhaftes, habituell, ethisch und geistig durchformtes Gegenmodell entgegenstellen. Das Fundament für dieses Gegenmodell liefert dabei die eigene nicht hintergehbare Erfahrung von der Existenz des Gött­lichen im Diesseits. Dieses Wissen um die Möglichkeit der epiphanen Begegnung mit etwas Sternenhaftem gibt dem Bund die existentielle Grundlage. Denn es zeigt sich am ehesten dem, der seine menschliche Substanz in den Exerzitien des Bundes für diese Begegnung bereitet hat.

    Interpretationen von Wie man zurücksieht nach dem klippensteg (SW VIII, 68) und Vor-abend war es unsrer bergesfeier (SW VIII, 74) I Wie man zurücksieht nach dem klippensteg Den man nur einmal heil durchmisst – nie mehr Nachdem man jedes tritts gefahr schon kennt: So schauderst du bei dem was dir gelang Als ich in deine Hände mich befahl .. Sie leichter mürber – und ich war zerschellt! Nun ehre das unbeugbare gesetz Und diese form in der ich ihm genüge: Da menschenwesen sich nur dort erhält Wo sich das dunkle opfer wiederholt. (SW VIII, 68)

    544 

     Jürgen Egyptien

    Mit dem neunzehnten Gedicht des Zweiten Buchs liegt eine Gleichnisrede vor, die den exzeptionellen Grad der Auslieferung des Ich an das ‚Du‘ zum Thema hat. Sprecher ist der Ältere, die Gestalt des Meisters. Im blinden Vertrauen gelingt ihm und dem Jüngeren die Bewältigung eines Wegs, den keiner von ihnen bewusst gewagt hätte. Aler hebt an diesem Gedicht die „Höchstzahl metrischer Freiheiten“ hervor,1 die mit seinem grenzgängerischen Thema korrespondiere. Die Bildlichkeit des unbewussten Überwindens eines gefahrvollen Wegs, den in Angriff zu nehmen der Zurückblickende niemals den Mut aufgebracht hätte, hat George dem ersten Gesang des Inferno aus Dantes Divina Commedia entnommen. Dort lauten die Verse 22 bis 27 in Georges eigener Übersetzung: Und wie ein mann der sich herausgezogen Schwer-atmend an das ufer aus den riffen Und umdreht nach den fährlich wüsten wogen: So wandte sich mein geist im fliehn begriffen Noch einmal rückwärts um die bahn zu schauen Die nimmermehr lebendige durchschiffen. (SW X/XI, 7  f.)

    Der Gedanke, etwas ohne Bewusstsein zu schaffen, was mit Bewusstsein nicht zu schaffen ist, hat in der deutschen Literaturgeschichte in Kleists Text Über das Mario­ net­tentheater seine klassische Gestalt gefunden. George geht über beide Intertexte insofern hinaus, als die bewusstlose Leistung von etwas Einmaligem ein Gemeinschaftserlebnis ist. Die Verse „So schauderst du bei dem was dir gelang / Als ich in deine hände mich befahl“ machen deutlich, dass sich das Ich nicht etwa ohne nachzudenken in die Obhut eines erfahrenen Ortskundigen begeben hat, sondern das ‚Du‘ ebenso schlafwandlerisch den Abgrund überwunden hat wie das von ihm an den Händen geführte Ich. Hätten diese Hände weniger fest („leichter“) und entschlossen („mürber“) das Ich gehalten, hätte es zerschellen können. Es versteht sich, dass ein derartiges gemeinsames Erlebnis eine Bindung von ganz besonderer Qualität stiftet. Ihren außergewöhnlichen Status signalisiert vorab schon der zuletzt zitierte fünfte Vers. Die Anspielung auf das Kreuzeswort von Christus: „In deine Hände befehle ich meinen Geist“ ist nicht zu überhören. Hier gelten die entsprechenden Worte nicht der väterlichen Figur, vielmehr strukturell der des Sohnes. Das Verwirrspiel mit solchen hereditären Konstellationen ist George nicht fremd, denkt man an die Formulierung „Ich geschöpf nun eignen sohnes“ (SW VI/VII, 109) aus dem Gedicht Einverleibung im Zyklus Maximin. Die trinitarische Konstellation besitzt in Georges spielerischen Anverwandlungen einen durchaus dynamischen Charakter.

    1 Jan M. M. Aler: Im Spiegel der Form. Stilkritische Wege zur Deutung von Stefan Georges Maximindichtung. Amsterdam 1947, S. 214.

    

    Der Stern des Bundes · Zweites Buch 

     545

    Das Gedicht besitzt nach der Gleichnisrede und ihrer immanenten Auslegung in den Versen drei bis sechs eine Zäsur. Aus dem gemeinsam Erlebten wird nun vom Meister ein allgemeines Gesetz abgeleitet, das als ‚unbeugbar‘ qualifiziert wird. Es lautet: „Da menschenwesen sich nur dort erhält / Wo sich das dunkle opfer wiederholt.“ Wie gelangt George zur Formulierung dieses Gesetzes? Ist ein ‚dunkles Opfer‘ eines, das spontan und unbewusst aus seelischer Tiefe erwächst? Bezieht man das Opfer zunächst auf die Aufopferung des Bewusstseins, die der Erhaltung des Menschen diente, ergibt sich ein immanenter Widerspruch, denn ein Opfer ist per definitionem eine rituelle, auf bewusste Gestaltung und Wiederholbarkeit angelegte Handlung. In diese Richtung weist auch der Gesetzesbegriff. Bezieht man Opfer alternativ auf den alludierten Kreuzestod von Christus, ergibt sich vielleicht folgende Verstehensmöglichkeit. Das ‚dunkle Opfer‘ meint ein Menschenopfer, zumindest poten­ tiell. Das Ich hat sein Leben unter der Gefahr des ‚Zerschellens‘ in die Hände des ‚Du‘ gelegt, als es ihm bedingungslos vertrauend gefolgt ist. Dies war in Bezug auf das von Christus präfigurierte ‚Gesetz des dunklen Opfers‘ seine „form in der ich ihm genüge“. Die Wiederholbarkeit und das ‚Rituelle‘ bestehen also insofern, als das ‚dunkle Opfer‘, d.  h. die potentielle Preisgabe des eigenen Menschseins zur Erhaltung des Menschenwesens, von Mal zu Mal in einer je individuellen Form auszugestalten ist. Implizit wird mit der Erfüllung dieser Form durch den Meister der Anspruch einer imitatio Christi erhoben.

    II Vor-abend war es unsrer bergesfeier Wo du den wein aus meinem becher trankst. Wir stiegen von dem strom aus gipfel-an Da ward mit eins des himmels rasengrüne Durchleuchtend blau wie in der süder buchten. Entrückter goldschein machte bäum und häuser Zum sitz der Seligen .. zeitloses nu Wo landschaft geistig wird und traum zu wesen. Schauder umfloss uns .. nu des grössten glückes Das ganzen erdenwandel fassend krönte Und nicht mehr neiden liess den alt-ersehnten Den glanz des göttlichen des Inselmeers. (SW VIII, 74)

    Das Gedicht Vor-abend war es unsrer bergesfeier stellt sicher einen der Höhepunkte im Stern des Bundes dar. Sein zentraler Gedanke ist die Verwandlung von Georges heimischer rheinischer Landschaft in ein neues Hellas, der mit großer evokativer Kraft ästhetisch umgesetzt wird. Schon die gewählte Tageszeit des Vorabends betont die Übergänglichkeit der Atmosphäre. Die bevorstehende „bergesfeier“ rückt ebenfalls

    546 

     Jürgen Egyptien

    das Gedicht in den Horizont der Erwartung. Der gemeinsame Weingenuss, bei dem der Sprecher seinem Gast den eigenen Becher reicht, schafft eine festliche Stimmung und erinnert an die Abendmahlsgeste von Christus. Zugleich ist er in der regionalen Kultur verwurzelt und schlägt das liturgische Motiv der Wandlung an. Auf diese Libation folgt der Aufstieg auf den Gipfel, worunter hier die mittelrheinische Mittelgebirgslandschaft zu verstehen ist. Wer sie kennt, wird das in den Versen vier bis sechs beschriebene atmosphärische Farbenschauspiel als poetische Evokation zu schätzen wissen. Dort wird die Wandlung in eine südliche Stimmung für alle Sinne greifbar. Natur und Kultur („bäum und häuser“) werden beide „zum sitz der Seligen“. Es ist eine Präsenz des Göttlichen über die Landschaft gebreitet, die an die großen Gesänge Hölderlins denken lässt. Suchte man nach einer biografischen Veranlassung für das geschilderte gemeinschaftliche Erlebnis, bieten sich zwei Quellen an. Zum einen behauptet Morwitz, dieses Gedicht halte „die Erinnerung an einen im Jahr 1907 gemeinsam in Bingen verbrachten Nachmittag und Abend fest“ (EM I, 377). Der Besuch von Morwitz dürfte auf eine Einladung Georges vom 25. 4. hin Ende April oder Anfang Mai erfolgt sein. Zum anderen enthält das Erinnerungsbuch Opus Petri von Percy Gothein die Beschreibung eines Aufstiegs auf den Rochusberg Anfang Mai 1911, die dem landschaftlichen Eindruck des Gedichts ähnelt. Gothein überliefert dazu einen Kommentar Georges, der der Deutung des Sprechers im Gedicht exakt entspricht: So bleibt mir das bild stets gegenwärtig wie wir zusammen von der höhe des Rochusbergs dem Rheingau zu herabschauten: üppigkeit, gepaart mit herber strenge, wie der majestätisch breite und silberne strom seine fülle in die strengen linien der umgrenzenden weinberge schmiegt. […] Es sei die landschaft, sagte der Dichter, und wies den breiten strom entlang, über der am meisten in unserem vaterland ein griechischer hauch liege.2

    Eingeleitet wird die Verwandlung der Landschaft mit ‚Da‘, einem bei George oft sehr bedeutungsvollen Wort, das die Erfahrung eines kairos indiziert. In diesem Gedicht findet George für diese Erfahrung die eindrucksvolle Formulierung: „zeitloses nu / Wo landschaft geistig wird und traum zu wesen.“ Inhaltlich ist es eine gleichsam chiastische Konstruktion. Die materielle Landschaft wird durchscheinend und erlaubt die epiphane Erfahrung ihres genius loci, der rein geistige Traum materialisiert sich im plastischen Wesen. Der ewige Augenblick besitzt einen eminent utopischen Charakter, er sprengt die Zeitlichkeit. Allein an dieser Stelle wechselt das Gedicht vom Präteritum ins Präsens. (Was sich rhythmisch leicht hätte vermeiden lassen, wenn George wie im vierten Vers ‚ward‘ benutzt hätte.) Die Erfahrung der Epiphanie wird am Schauder, der die beiden Freunde umfließt, leibhaft manifest. Die darauf folgenden dreieinhalb Schlussverse enthalten in nuce Georges ästhetisch-kulturelles

    2 Percy Gothein: Erste Begegnung mit dem Dichter. Aus einem Erinnerungsbuch. In: CP 1 (1951), H. 1, S. 5–14, hier S. 8  f.

    

    Der Stern des Bundes · Zweites Buch 

     547

    Erneuerungsprojekt. Deutschland ist das neue Griechenland – so lautet die z­ entrale Botschaft dieses Gedichts, das „in typisch Georgischer Weise die Unmittelbarkeit des Lebens geistesgeschichtlich verankert“3. Die mittelrheinische Landschaft liefert mit ihrem epiphanen Potential dafür die Beglaubigung. Die beiden Zeugen der ästhetischen Gestaltwerdung dieses Potentials sehen ihr ganzes Leben („erdenwandel“) durch diese Erfahrung von Glück gekrönt. Seit diesem Moment ist es ihnen zur Gewissheit geworden, dass sie nicht nostalgisch auf die antike Kultur zurückzublicken brauchen, sondern die Gegenwart und die eigene Heimat alles in sich trägt, was ihre Utopie Wirklichkeit werden lassen kann. Die Sehnsuchtsformel „Hellas ewig unsre liebe“ (SW V, 16) aus dem Vorspiel des Teppichs des Lebens findet in diesem Gedicht ihre Erfüllung und Manifestation. In dieser Emphase weist dieses Gedicht auch auf das Eröffnungsgedicht zum Dritten Buch voraus, das den Erneuerungsgedanken in seiner umfassendsten, kosmischen Form ausspricht: „Die schöpfung schauert wie im stand der gnade.“ (SW VIII, 82)

    3 Jan M. M. Aler: Im Spiegel der Form (wie Anm. 1), S. 227.

    Achim Aurnhammer

    Drittes Buch

    Das dritte Buch des Sterns des Bundes besteht wie die ersten beiden Bücher aus dreißig Gedichten. Es birgt „die Gesetzestafeln des neuen Bundes“1. Die esoterischen Tendenzen, welche die ‚Lieder für die heilige Schar‘ zu einem ‚Geheimbuch‘ machen, erscheinen hier besonders ausgeprägt. So erklärt George in der späteren Vorrede zur Gesamt-Ausgabe von 1928, der Stern des Bundes sei „zuerst gedacht“ gewesen „für die freunde des engern bezirks“, seine Verehrergemeinde. „Nur die erwägung dass ein verborgen-halten von einmal ausgesprochenem heut kaum mehr möglich ist“, habe ihn dazu bewogen, paradoxerweise „die öffentlichkeit […] als den sichersten schutz“ zu wählen.2 Doch sind die Weistümer des Kreises vor exoterischer Veralltäglichung durch rhetorisch-stilistische Strategien geschützt, wie sie für kultische Dichtung typisch sind.3 So wird kein Name genannt, nicht einmal Maximin, der ‚Stern des Bundes‘, wird namentlich erwähnt. Die Verlagerung vom Ästhetischen

    1 Kai Kauffmann gibt in GHb  I,  191–203, hier  194, zu bedenken: „Stellt in den ersten beiden Zehnergruppen der Dichter-Lehrer eine Reihe von Geboten und Verboten für den ‚neuen Adel‘ auf, so kommen in der letzten Zehnergruppe einzelne Jünger zu Wort, die ihr Leben ganz dem ‚heiligen ziele‘ widmen. Im Schlusschor stimmt die Gemeinschaft der Gläubigen unisono den Lobpreis des Gottes an.“ – Bereits in einer zeitgenössischen Rezension findet sich das Bild der Gesetzestafeln in Anlehnung an Stefan Georges Gedicht Auf neue tafeln schreibt der neue stand, vgl. Ernst Blaß: Stefan Georges ‚Stern des Bundes‘ [Rez.]. In: Die Argonauten. Eine Monatsschrift 1 (1914), S. 219–226, hier S. 222: „In wenig Gestalten und Erlebnissen ist der Gehalt von Lehre und Leben gedichtet: im Gott, im Jüngling Maximin, im Dichter und in den Jüngern. Es steht, in Tafeln gegraben, da, bezwungen, eine Satzung.“ 2 SW VIII, 5: Vorrede. Eckhard Heftrich deutet diese paradoxe Aussage als Warnung an die Kreismitglieder und stellt die Frage nach dem Verhältnis von Kreis und Öffentlichkeit: „wenn er [George] die Öffentlichkeit als sichersten Schutz für ein Geheimbuch vorzog, war das, wie jede seiner Warnungen, nicht so eindeutig, wie manche seiner Freunde vielleicht glauben mochten. Wahrscheinlich bemerkten gerade jene Schüler, denen die Warnung am ehesten galt, gar nicht, daß die Öffentlichkeit als sicherster Schutz für ein Geheimbuch ein paradoxes Wort ist. Es enthält auch ein Urteil über den engeren Bezirk selbst. […] War Georges Glaube an die Gemeinschaft, deren Idee er einst als Bund des Sterns entworfen hatte, wankend geworden?“ In: Eckhard Heftrich: Stefan George. Frankfurt/M. 1989, S. 66  f. Vor dem Hintergrund der erstaunlich hohen Auflagenzahl bereits kurz nach dem Erscheinen der Erstauflage scheint sich jedoch Georges Befürchtung, dass „einmal ausgesprochene[s]“ nicht verborgen werden könne, zu bewahrheiten. Für einen Kommentar der Auflagenzahlen vgl. Hans Norbert Fügen: Der George-Kreis in der „dritten Generation“. In: Deutsche Literatur in der Weimarer Republik. Hg. v. Wolfgang Rothe. Stuttgart 1974, S. 334–358. Kai Kauffmann bemerkt, dass „‚anders als bei allen vorangegangenen Gedichtbänden StGs, kein privater Druck im Verlag der Blätter für die Kunst vorausging.“ GHb I, 193. 3 Zum Religiösen in der Dichtung Georges vgl. Hansjürgen Linke: Das Kultische in der Dichtung Stefan Georges. Düsseldorf, München 1960. Wolfgang Braungart behandelt Georges Katholizismus und dessen ‚Liturgische Lyrik‘ in seiner Studie Ästhetischer Katholizismus (WB).

    

    Der Stern des Bundes · Drittes Buch 

     549

    aufs Reli­giöse zeigt sich überdies in einer einfachen Lexik und Syntax, gnomischen Setzungen, einem Verzicht auf strophische Gliederung und schlichtem poetischen Ornat. Im Dritten Buch wendet sich George in der Funktion eines Priesterdichters der Gemeinschaft des Kreises zu, der nach außen hin abgeschlossen und nach innen als Kultgemeinde gefestigt werden soll.4 Mit diesem esoterischen Habitus etabliert George besonders im Dritten Buch ein ‚Gruppencharisma‘, einen „Anspruch auf einzigartige und exklusive Eigenschaften“, das die Kohäsion seines Kreises stärkt und gegen externe Kritik immunisiert.5

    Entstehung und Aufnahme Die meisten Gedichte des Dritten Buchs sind wohl um 1910 in engem Zusammenhang mit Norbert von Hellingraths Herausgabe von Hölderlins Pindar-Übertragungen entstanden.6 Den Zusammenhang verdeutlicht deren gemeinsame Publikation in der

    4 Zur esoterischen Ambition des Werkes äußert sich Rudolf Pannwitz im Jahre 1919: „Das Werk handelt von seinem Kreise und gehört seinem Kreise. Es ist veröffentlicht worden – so darf man wohl glauben – um diesen Kreis ins Unsichtbare fortzusetzen, nicht aber um auf eine Außenwelt zu wirken.“ In: Ders.: Maßstäbe und Beispiele lyrischer Synthese. IV. Stefan Georges Stern des Bundes. In: Das junge Deutschland. Monatsschrift für Literatur und Theater 2 (1919), H. 9, S. 240–41, hier S. 240. 5 Vgl. hierzu die methodologisch hilfreiche Weiterentwicklung von Max Webers ‚Charisma‘-Theorie im nachgelassenen Text von Norbert Elias: Gruppencharisma und Gruppenschande. Hg. v. Erik Jentges. Mit einer biographischen Skizze von Hermann Korte. Marbach 2014 (Aus dem Archiv 7). 6 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Begonnen durch Norbert von Hellingrath, fortgeführt durch Friedrich Seebass u. Ludwig von Pigenot. Berlin 1923 u. 1943. Zum Einfluss von Hellingraths Hölderlin-Ausgabe auf Georges Werk, vgl. Bruno Pieger: Eine Erfahrung mit Dichtung. Hellingrath als Leser des ‚Siebenten Rings‘ und des ‚Sterns‘. In: WuW 335–352. – Die Bedeutung der Pindar-Übertragungen Hölderlins für Georges Schaffen wird außerdem dargestellt in den Begleittexten zur Sonderausstellung im Hölderlinturm Tübingen vom 24. Mai bis 31. Juli 1992, zusammengestellt v. Bruno Pieger. Tübingen 1992, S. 5: „Erst durch Hellingraths Entdeckungen und Deutungsversuche wurde – bei aller Vorarbeit durch Dilthey, Nietzsche und George – der Wahrheitsanspruch von Hölderlins Dichtung manifest. Maßgeblichen Anteil daran hatte die 1912 von Hellingrath begonnene und bis zu seinem Tod auf drei Bände angewachsene historisch-kritische Ausgabe von Hölderlins Sämtlichen Werken. Ihr berühmter vierter Band war wiederum der Spätdichtung vorbehalten. Wenige Wochen vor Kriegsbeginn als Sonderdruck herausgebracht, übte er auf George und Rilke und wahrscheinlich noch auf Trakl große Wirkung aus.“ Und S. 28: „Hölderlin war im George-Kreis gewiß vor Hellingraths Entdeckungen bekannt. Dies zeigt etwa die Auswahl an Hölderlin-Gedichten, die George und Wolfskehl in die 1902 erschienene Sammlung Das Jahrhundert Goethes aufgenommen haben. Was sich dort nicht findet, sind die meisten Elegien, die Hymnen, Fragmente und Übertragungen aus den Jahren 1800–1806. Sie wurden erst durch Hellingrath als eigenständige Werkstufe und eigentliches Zentrum von Hölderlins Dichtung sichtbar.“

    550 

     Achim Aurnhammer

    IX.  Folge der Blätter für die Kunst, die Anfang 1910 erschien.7 In derselben Folge finden sich nämlich auch die beiden ersten Gedichte des Dritten Buchs, Von welchen wundern lacht die Morgen-erde und Dies ist reich des Geistes: abglanz. Es sind neben dem Schlusschor, der hier noch den Titel Chor trägt, die einzigen Gedichte des Dritten Buchs, die bereits vor der Buchausgabe des Sterns des Bundes – erschienen 1913 – mit Impressum 1914 veröffentlicht worden waren. Dass somit nur ein verschwindend kleiner Teil der dreißig Gedichte vorab publiziert worden war, spricht für den ausgeprägten Ensemblecharakter und die Zyklik, die den Stern des Bundes von den anderen Gedichtsammlungen Georges unterscheidet. Die Geschlossenheit der Sammlung, die auch und vor allem das Dritte Buch betrifft, haben schon die zeitgenössischen Kritiker bemerkt.8 Selbst wenn gelegentlich die Didaktik und das Weltanschauliche, die „Gedankendichtung“ und der „Willen zur Form“ beklagt werden,9 wird dem Stern des Bundes doch eine „ungeheure Zentrierung […] in so großartiger Einseitigkeit und Geschlossenheit“ attestiert.10 Die neue „Heldenverehrung“ wird im kontrastiven Vergleich mit den Zeitgedichten erhellt: Werden dort noch Namen heroischer Präfigurate genannt, so bleiben die Erlöser- und Führergestalten im Stern des Bundes ungenannt.11 Wenn auf bestimmte Personen

    7 Eine Auswahl von Hölderlins Pindar-Übertragungen erschien 1910 als Erstveröffentlichung in BfdK IX, aufgeschlagen S. 8. Im selben Jahr folgt die Ausgabe: Hölderlins Pindar-Übertragungen. Hg. v. Norbert Hellingrath. Berlin 1910. – Kai Kauffmann stellt die hohe Wahrscheinlichkeit einer Einflussnahme heraus: „Die Engführung der Pindar-Übertragungen mit den Neuen Gedichten im Blätter-Heft weist auf die wachsende Bedeutung Hölderlins für StG hin. Norbert von Hellingrath, von dem 1910 die späten Pindar-Übertragungen und Hymnen-Entwürfe Hölderlins in der Stuttgarter Landesbibliothek entdeckt worden waren, hatte unverzüglich Abschriften für StG gemacht, sodass ein direkter Einfluss auf die seitdem entstandenen Gedichte des Stern des Bundes möglich erscheint, wie das Vorbild auch auf den schweren ‚Ton‘ und den sakralen ‚Geist‘ der Gesamtkomposition gewirkt haben mag.“ GHb I, 191. 8 Werner Kraft kommentiert die „Einheit“ des Werkes in seiner Rezension Der ‚Stern des Bundes‘ und ‚Wannsee‘. In: Die Aktion 4 (1914), Sp. 394–397, hier Sp. 394: „hier preist er [George] sich selbst als die Vereinigung aller Gegensätze; oder anders ausgedrückt: er nimmt für sich allein die Einheit in Anspruch“, und Sp. 397: „Zum Schluß möchte ich folgendes sagen: Man wird bemerkt haben, und es liegt mir daran, daß man es deutlich merke, wo ich, junger Wille, stehe: George, der Seine Menschliche Einheit zum Prinzip der Kunst macht, kann den Menschen nichts mehr sagen, er wird aus dem Konkretesten aller Landschaften – die wirkliche und die seelische! – völlig abstrakt“. – Auch Victor Meyer-Eckhart schreibt George eine „Tendenz zu formaler Einheit und Schönheit“ zu, vgl. Victor Meyer-Eckhardt: Der Stern des Bundes. Ein Beitrag zu Stefan Georges jüngster Entwicklung. In: Die Tat 8 (1916/1917), S. 333–341, hier S. 333: Selbst wenn „die ersten Programme der Blätter für die Kunst für eine solche Deutung [eine Bemessung der ethischen Werte] der l’art pour l’art-Dichtung keinen Raum ließen, so zeigte sich doch schon in ihrer und Georges unerbittlicher Tendenz zu formaler Einheit und Schönheit jener Lebenstrieb, der auch des Klassizismus eigentliche Seele war.“ 9 Vgl. etwa Victor Meyer-Eckhardt: Der Stern des Bundes (wie Anm. 8), S. 333–341, hier S. 334. 10 So die Besprechung von M. Kestner im Berliner Tageblatt vom 11. 2. 1914 zit. nach dem rezeptionsgeschichtlichen Überblick von Kai Kauffmann, GHb I, 194–199, hier 195. 11 Victor Meyer-Eckhardt: Der Stern des Bundes (wie Anm. 8), S. 334.

    

    Der Stern des Bundes · Drittes Buch 

     551

    referiert wird, sind sie antonomastisch verrätselt und damit nur für die esoterische „schar“ eindeutig. Auf den zyklischen Zusammenhang der Sammlung heben vor allem die kreisinternen Würdigungen ab. So erklärte Friedrich Gundolf den Stern des Bundes zu einem geschlossenen „Weltbild“, das dort bereits  – in Antizipation des letzten Gedichtbandes – zum „Reich“ verdichtet sei.12 Noch stärker stilisiert Wolters, dessen Überhöhung des George-Kreises zum „Staat“ die Konzeption des Gedichtbands geprägt hat, den „dichterischen Sprachleib“ als den „geistigen Leib aller Einzelleiber“: „Das eine Ganze“ habe „alle Vielheiten aufgefangen und allen Besonderheiten eine höhere Bedingtheit aufgeprägt“ (BG 397). Da auch die literaturwissenschaftliche Forschung die Geschlossenheit der Sammlung betonte, wurde das Dritte Buch in den Gesamtwürdigungen nur selten eigens charakterisiert. Der Monogrammist O. L. [Oscar Lang] sieht darin „die positiven Wertschätzungen gesetzt“13, Victor Meyer-Eckhardt nennt es „ein Buch der Sehnsucht“, das „vom Reich des Geistes“ erzähle.14 Er betont Platons und Nietzsches Einfluss sowie den Attentismus, zu dem George als „Prophet“ einer glücklichen Zukunft mahnt, wenn er im „Vorausschauen […] mitten im Ansturm ermattender Gegensätze seine […] Stimme erheb[t]“.

    Struktur, Metrik und Stil Abgesehen von dem zwölfversigen Eingangsgedicht umfassen alle dreißig Gedichte des Dritten Buchs jeweils acht bis zehn Verse. Die Gesamtzahl der Verse im Dritten Buch beträgt 288, mit dem zwölfversigen Schlusschor also genau 300 Verse. Alle Gedichte mit Ausnahme der Gedichte X, XX und XXX sind reimlos. Gereimt sind lediglich die drei achtversigen Gedichte, die jeweils eine Dekade beschließen und auch durch anaphorische Versanfänge auffallen. Durch ihre metrische Besonderheit gliedern diese ‚Beschlussgedichte‘ den Zyklus in drei Teile. Die interne Dreigliederung ist durch die in Kapitälchen typographisch hervorgehobenen Eingangszeilen der Gedichte  I, XI und XXI zusätzlich markiert. Da sich das Abschluss-Poem XXX mit zwei umarmenden Reimen von der Reimbindung der beiden vorgängigen Dekaden-Gedichte X und XX unterscheidet, ist der Abschluss des Zyklus auch formal betont.15 Trotz der klaren metrischen Struktur ist das Dritte Buch insofern keineswegs monoton, als Hebungszahlen und Metra variieren. Nur die Verse eines einzigen Gedichts sind dreihebig  (III), das berühmteste und wirkmächtigste Gedicht des

    12 FG 243–269, hier 243. 13 O. L. [Oscar Lang]: Stefan George. Der Stern des Bundes [Rez.]. In: Der Bücherwurm 4 (1913/14), S. 179. 14 Victor Meyer-Eckhardt: Der Stern des Bundes (wie Anm. 8), S. 338. 15 Vgl. Renate Birkenhauer: Reimpoetik am Beispiel Stefan Georges. Phonologischer Algorithmus und Reimwörterbuch. Tübingen 1993; zum Stern des Bundes bes. die S. 103  f.

    552 

     Achim Aurnhammer

    Zyklus: Wer je die flamme umschritt.16 Exakt zehn Gedichte weisen vier Hebungen auf (II, IV, V, VI, IX, X, XVI, XVII, XXIV, XXVIII), während die Mehrzahl, neunzehn Gedichte, aus Fünfhebern besteht. Zwar sind die Gedichte überwiegend jambisch metrisiert, doch finden sich immer wieder auch trochäische Gedichte (II, IV, V, VI, IX, XVI, XVII, XXVIII). Zahlreiche Tonbeugungen lockern zudem den Binnenzyklus merklich auf. Auch sind die drei Zehnergruppen durch starke motivische und sprachliche Rekurrenzen miteinander verbunden: Misogyne Töne etwa, die das homosoziale Milieu des Bundes abschirmen, kommen ebenso in zwei Dekaden vor (V und XV) wie das Nomen „blut“ (VIII, XXII, XXVIII, XXIX). Das „land“, das den Wirkungsraum der Schar umreißt, findet sich im Zyklus breit verteilt: I, X, und XXIX („Entlassen seid ihr […] in das weite land.“). Der einprägsame, stark repetitive Sprachgestus ist zahlreichen und unterschiedlichen Wiederholungsfiguren geschuldet. In manchen der astrophischen Gebilde kommt ein und dasselbe Wort nicht selten mehrfach vor. So findet sich etwa das Nomen „Weib“ gleich viermal in dem misogynen Gedicht Die weltzeit die wir kennen schuf der geist (XV). Ebenso oft begegnet die Verbform „blüht“ am Schluss des Gedichts So will der fug: von aussen kommt kein feind .. (XIII) als identischer Haufen- und Binnenreim: Hemmt uns! untilgbar ist das wort das blüht. Hört uns! nehmt an! trotz eurer gunst: es blüht – Übt an uns mord und reicher blüht was blüht! (SW VIII, 94)

    Solche sprachlichen Rekurrenzen sind oft paronomastisch verdichtet. Paronomasien bestimmen sogar den Charakter des Gedichts Hier schliesst das tor: schickt unbereite fort (XIX), das Zwillingsformeln prägen: „Mund nur an mund“, „wort für wort“, „die ihr geschaut und schauen werdet“. Bisweilen gewinnen die paronomastischen Figuren einen sprachspielerischen Selbstbezug: „Damals beim mahl griff dich des mahles herr“ (XXVII). Figurae etymologicae wie „In kenntnis kennen“ (XXIV), „Ein weiser […] weiss“  (XXIV), „Das […] Tuende tut die allheit bald“  (XXI) oder „kampf gekämpft“  (XXX) kommen ebenso vor wie der paronomastische Intensitätsgenitiv „der Bücher Buch“ (XV). Zudem prägen zahlreiche Zwillingsformeln den Stil des Dritten Buchs, etwa in Form antithetischer Begriffe wie etwa „keim und welke“  (XXIV) oder in Kombination synonymer, bisweilen alliterierender Nomina wie „gras und kraut“ (X). Gehäuft finden sie sich in dem Gedicht, das den historischen Wandel der Völkergeschichte mit der Konstanz des Kosmos vergleicht: Vor dem glanz der stetigen sterne (IX). Hier illus-

    16 Zu dem Gedicht sowie seiner enormen Nachwirkung und nationalistischen Indienstnahme vgl. den instruktiven Aufsatz von Dieter Martin: „Wer je die flamme umschritt“. Stefan George am Lagerfeuer. In: Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. FS Wilhelm Kühlmann. Hg. v. Ralf Bogner u.  a. Berlin u. New York 2011, S. 427–446.

    Der Stern des Bundes · Drittes Buch 

    

     553

    trieren zu Paarformeln verbundene Antonyme die Unvollkommenheit des isolierten Einzelzustands, der nur mit seinem Komplement eine Ganzheit darstellt: „tag und nacht der völker“, „der geister wuchs und dürre“, „das gleiche schlaf und wache“, „ebb und flut“. Im Schlussgedicht (Nachdem der kampf gekämpft das feld gewonnen) repräsentieren die Paarformeln dagegen den vollkommenen Zustand der glücklichen Zukunft, die das lyrische Ich seiner „schar“ vor Augen führt: „mann und maat“, „flöt und horn“, „sang und tanz“, „frucht und blüte“. Gerade das letzte Bild, das Nebeneinander von Blüte und Frucht auf einem Baum, ist typisches Merkmal von ParadiesSchilderungen oder davon inspirierten Utopien.17 Typisch für das Dritte Buch wie für den gesamten Stern des Bundes ist ein litaneihaftes Sprechen, das stilistisch sowohl in den strukturell dominanten Wiederholungsfiguren wie auch in Parallelismen und anaphorischen Wendungen zum Ausdruck kommt. Diese stehen häufig am Ende eines Gedichts und beschwören in eindringlichen Formeln die zuvor dialektisch abgeleitete oder antithetisch verbürgte Lehre: Solche Lehrsätze in der einvernehmlichen Wir-Form dienen der gruppenspezifischen Vergewisserung: Uns bedrückt nicht solches wissen Unser jahr ist uns die grenze Unser licht die glut im ringe Und ihr dienst uns ziel und glück. (SW VIII, 90)

    Aber auch Befehlsformen oder durch Modalverben bekräftigte Verhaltensvorschriften der Sprecher-Instanz an das ‚Ihr‘ der Schar verwenden solche einprägsamen Parallelismen: Ihr sollt das morsche aus dem munde spein Ihr sollt den dolch im lorbeerstrausse tragen Gemäss in schritt und klang der nahen Wal. (SW VIII, 92)18

    17 Vgl. zum Nebeneinander von Blüte und Frucht: Frank Zöllner: Zu den Quellen und zur Ikonographie von Sandro Botticellis „Primavera“. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 50 (1997), S. 131–157 u. S. 357–366. Armando de Bellovisu (1296–1323) interpretierte in seinem Werk De B. Virgine Maria (in: Alva y Astorga: Bibliotheca Virginalis, III, 181 col. 1 D) die Orangenblüte als Symbol der Jungfrau Maria und pries den Orangenbaum als den schönsten aller Bäume, weil er gleichzeitig Früchte, Blüten und Blätter trage. Ein Überblick über den Orangenbaum als Symbol findet sich in: Mirella Levi D’Ancona: The Garden of the Renaissance. Botanical Symbolism in Italian Painting. Firenze 1977, S. 272–277. Auf den Seiten 275–277 sind Altarbilder mit dem frucht- und blütentragenden Orangenbaum zusammengestellt, auf den Seiten 208–209 mit dem Zitronenbaum in gleicher Bedeutung. 18 Das Bild vom ‚Dolch im Lorbeerstrauß‘ variiert ein Skolion über die Tyrannenmörder Harmodius und Aristogeiton, derer auch Hölderlins Hyperion in seinem XXXII. Brief an Bellarmin sehnsüchtig gedenkt: „Aber Harmodius! deiner Myrte will ich gleichen, deiner Myrte, worin das Schwert sich ver-

    554 

     Achim Aurnhammer

    Die erste Dekade (Gedichte I–X) In der ersten Zehnergruppe des Dritten Buchs dominiert als Dialogsituation die Ansprache eines lyrischen Ich an ein lyrisches Ihr, die zum Schluss durch ein einvernehmliches ‚wir‘ abgelöst wird (IX, X). Die kollektive Identität wird durch repetitiv eingesetzte und anaphorisch markierte Personalpronomina der Ersten Person Plural unterstützt.19 Eine Ausnahme bildet der verkürzte Relativsatz mit unbestimmter Personenangabe „Wer je die flamme umschritt“ (III), dessen konjunktivischer Modus im Hauptsatz sich allerdings durchaus auch als Empfehlung an die angesprochene Gruppe deuten lässt. In dieser Dekade wird der „schar“ dargelegt, welche tiefgreifenden biografischen Folgen die Konversion zum ‚Stern des Bundes‘ für die Mitglieder hat. Auf den performativen Charakter des Dritten Buches mag auch die geheime Beschwörungsformel hindeuten, die Max Dessoir aus den Schlussworten des  71. bis  73.  Gedichts, den Gedichten  II bis IV des Dritten Buches, herauszulesen meint: „Wagt / welt all glut (zu) tragen“20. Die erste Dekade bestimmt ein ‚Alt-Neu‘-Gegensatz.21 Er zeigt sich mehrfach explizit in direkten Ableitungen und Komposita: „von neuerwachten welten“ (I), „Neu-

    barg. Ich will umsonst nicht müßig gegangen sein, und mein Schlaf soll werden, wie Öl, wenn die Flamme darein kömmt“ (In: Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Zweiter Band, Erstes Buch, XXXII, München u. Wien 1992, S. 699). Diesen Vers alludiert Karl Wolfskehl 1944 in einem Erinnerungsgedicht auf Claus von Stauffenberg, als dieser nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler hingerichtet worden war („Ein Lorbeerforst von Ruhm und Weh gedeiht / Um dich Harmodios, dich Aristogeit“), vgl. Karl Wolfskehl: Gesammelte Werke. Hg. v. Margot Ruben u. Claus Victor Bock. Bd. 1: Dichtungen, Dramatische Dichtungen. Hamburg 1960, S. 281. Vgl. dazu Manfred Riedel: Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg. Köln, Weimar u. Wien 2006, bes. S. 165  f., und Fernande Hölscher: Die Tyrannenmörder – ein Denkmal der Demokratie. In: Die griechische Welt: Erinnerungsorte der Antike. Hg. v. Karl-Joachim Hölkeskamp u. Elke Stein-Hölkeskamp. München 2010, S. 244–258, bes. S. 256  f. 19 Jürgen Wertheimer sieht in der Adressierung durch Pronomina ein Charakteristikum des Sterns des Bundes, das dessen Dialogizität von der anderer Werke Georges unterscheidet: „In der Tat weist die Untersuchung der Sprechformen dieses Zyklus bereits auf einen kennzeichnenden Unterschied zu bisher geübten Praktiken hin. Wollte man den Versuch unternehmen, dialogische Formen, wie sie in Algabal, in Der Siebente Ring zu beobachten waren und wie sie in Das Neue Reich zu beobachten sein werden, als ‚geschlossen‘ zu bezeichnen, insoweit dort durch definite Benennung von Sprecher und Adressat der Leser von unmittelbarer Interaktion ausgeschlossen bleibt, wäre die Anlage der allermeisten Gedichte des Sterns als ,offen‘ zu sehen, weil dort nur in den seltensten Fällen die sprechenden und angesprochenen Instanzen nominell – d.  h. den Leser als potentiellen Adressaten ausschließend – benannt sind, die dialogischen Relationen vielmehr nahezu ausschließlich pronominal angezeigt werden (ich/du, mein/dein, mir/dir oder die entsprechenden Pluralformen).“ Jürgen Wertheimer: Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. München 1978, S. 135  f. 20 Max Dessoir: Vom Jenseits der Seele. Stuttgart 1917, S. 234. 21 Michael M. Metzger unterstreicht die Bedeutung des Wortes „neu“ in seinem Aufsatz Die Zeiten der Wirren: Stefan George’s Later Works. In: JR 99–123, hier 113: „‚Neu‘ occurs with exceptional frequency in George’s writings and clearly has a semantic weight for him. In ‚neue mitte‘, it signifies that an

    

    Der Stern des Bundes · Drittes Buch 

     555

    gestaltet umgeboren / Wird hier jeder“ (II), „Neuen adel den ihr suchet“ (IV).22 Das Schlussgedicht der ersten Dekade hebt die Bedeutung der epochalen Wende durch einen anaphorisch intensivierten synthetischen Parallelismus hervor. Der gebetsartige Anruf an ein namentlich ungenanntes ‚Du‘, den ‚Stern des Bundes‘, Maximin, alludiert nicht zufällig ähnliche Parallelismen in den biblischen Psalmen: „Das neue wort von dir verkündet / Das neue volk von dir erweckt.“ (SW VIII, 91) Das „neue wort“ ist wie in der biblischen Worttheologie als Synonym für einen Heilsbund zu verstehen, das „neue volk“ entsprechend dem erwählten Volk Israel in der Bibel wohl dem ‚Geheimen Deutschland‘ oder gar der von ihm erweckten Nation.23 Der worttheologische Ansatz etabliert den Mittler George, der Maximin als ‚Stern des Bundes‘ einsetzt. Den ‚neuen Bund‘, mit dem George seinen Kreis zur Kultgemeinschaft festigt, greift vergewissernd der Eingangsvers des Folgegedichts auf, das die zweite Dekade einleitet: „Auf neue tafeln schreibt der neue stand“. In der Konfrontation von neuer und alter Existenz wird den Mysten auch noch einmal das Mysterium, die kultische Offenbarung, in Erinnerung gerufen, die metaphorisch als Gottesdienst („geweihtes haus“, „eure kniee beugtet“) und Feier („begehung“)24 stilisiert ist: Da zur begehung an des freundes arm Ihr in geweihtes haus geleitet waret Sprachlos erschüttert eure kniee beugtet Im kern ergriffen an ein all euch gabet: Da brach die alte not – euch ward ein Sinn .. Ihr richtet euch empor in stolz und freude Nicht nur am haupt: am ganzen leibe strahlend ..

    unprecedented, radically different balance has been ordained between the hitherto incommensurable extremeties of matter and spirit.“ 22 Das II. Gedicht Dies ist reich des Geistes … lässt sich als poetisch inszenierte Wiedergeburt der Erwählten im Dienste elitistischer Herrschaftsfantasien lesen. Es oszilliert zwischen symbolistischer Verklärung („[…] ort der wiege / Heimat bleibt ein märchenklang“), raunender Beschwörung eines geeinten Kreises und Selbstüberhöhung des lyrischen Ich: „Aus der sohnschaft · der erlosten · / Kür ich meine herrn der welt.“ Cornelia Blasberg sieht in Dies ist reich des Geistes … zwei unterschiedliche poetische Prinzipien in Konkurrenz. Sie kommentiert: „Tatsächlich balancieren die Zyklen Der Siebente Ring, Der Stern des Bundes, Das Neue Reich virtuos die Zugkraft des abstrakten symbolistischen Simulationsdenkens gegen die Stoßkraft jener antizipierten, zum Thema gemachten Lektüre aus, die im ‚Jüngertum‘ mehr sehen wollen als ein poetisches Experiment. Vollkommenster Ausdruck der im Kunstwerk zusammengeführten Widersprüche ist wohl das Gedicht Dies ist reich des Geistes … aus dem Stern des Bundes.“ Cornelia Blasberg: Charisma in der Moderne. Stefan Georges Medienpolitik. In: DVjs 74 (2000), H. 1, S. 111–145, hier S. 128. 23 Vgl. Manfred Riedel: Die Stauffenbergbrüder im George-Kreis. „Geheimes“ oder „anderes Deutschland“? In: Ders.: Geheimes Deutschland (wie Anm. 18), S. 165–180. 24 Das Nomen ‚Begehung‘ hat hier die ursprüngliche Bedeutung von kultischer ‚Feier‘, vgl. EM I, 384  f.

    556 

     Achim Aurnhammer

    Ein herz voll liebe dringt in alle wesen Ein herz voll eifer strebt in jede höhe Und heilig nüchtern hebt der taglauf an. (SW VIII, 88)25

    Das Gedicht ist entsprechend zweiteilig: Der erste Teil (V. 1–5) resümiert in drei elliptischen Temporalsätzen, abhängig von der Konjunktion ‚da‘, im Imperfekt die göttliche Erfahrung („sprachlos erschüttert“, „eure kniee beugtet“). Das Mysterium eines neuen Lebens haben die Mysten mit ehrfurchtsvoller Hingabe – sprachlos, kniefällig und im Aufgehen in einer anderen Welt – erfahren, illustriert durch das Überwiegen passivischer Formen („geleitet“, „erschüttert“, „ergriffen“). Die epochale Wirkung der Wandlung stellt der fünfte Vers dar, dessen einleitende Konjunktion ‚da‘ im Zusammenspiel mit dem assonierenden Verbum ‚brach‘ Plötzlichkeit vermittelt: Er reaktualisiert das Gemeinschaftserlebnis der Gruppe: „euch ward ein Sinn ..“. Das Ergebnis der Verwandlung, das dem Gedankenstrich folgt, wird durch Akzentakkumulation – jedes der vier einsilbigen Wörter verlangt Betonung – als bedeutungsschwer hervorgehoben: Die Großschreibung des Nomens „Sinn“ und der als Zahlwort fungierende unbestimmte Artikel „ein“ markieren den Umschlag von der individuellen Existenz zu einem Bund. Zur stilistischen Repräsentation dieses Mysteriums belehnt George wiederum die Bibel, überbietet aber den dort geschilderten Alten Bund: Während nach 2. Mos. 29–34, Moses, als er mit den Gesetzestafeln vom Berg Sinai zurückkehrte, nur „am haupt“ strahlte, das er deswegen mit einem Schleier („Decke“) bedeckt, strahlen Maximins Mysten, die Mitglieder des neuen Bundes, „am ganzen leibe“. Die Verwandlung wird stilistisch durch einen Wechsel ins Präsens und semantisch durch eine Aufwärtsbewegung dargestellt („Ihr richtet euch empor“), Totalitätsvokabeln („all“/“alle“, „ganz“, „voll“, „jede“) illustrieren die neue Gemeinschaft. Die bün­ dische Gemeinschaft wird in einem den Psalmen nachgebildeten synonymen Parallelismus bestärkt: „Ein herz voll liebe dringt in alle wesen / Ein herz voll eifer strebt in jede höhe“. Doch der Schlussvers: „Und heilig nüchtern hebt der taglauf an“ setzt dem Enthusiasmus mit einer Anleihe bei Friedrich Hölderlin ein Maß: „heilig nüchtern“. Prätext ist hier aber wohl nicht Hälfte des Lebens, sondern eher der Deutsche Gesang, in dem Hölderlin den gesegneten „deutschen Dichter“ preist, der „des heilignüchternen Wassers / Genug getrunken“26. Da Hellingrath mit dieser Formel bereits den

    25 Vgl. hierzu auch meine frühere Interpretation: Achim Aurnhammer: Stefan George und Hölderlin. In: Euphorion 81 (1987), S. 81–99, hier S. 89  f. 26 Vgl. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Jochen ­Schmidt, Bd. 1. Frankfurt/M. 1992, S. 320 (Hälfte des Lebens) u. S. 379–381 (Deutscher Gesang). Die Stuttgarter Ausgabe, Bd. 2, I, S. 202  f., löst das Kompositum „heilignüchternen“ auf zu „heiligen nüchternen“. Der Begriff ‚heilignüchtern‘ ist keineswegs exklusiv auf Hölderlin zurückzuführen, sondern findet sich bereits in der geistlichen und homiletischen Literatur der Frühen Neuzeit. So charakterisiert etwa Herculanus Flörsheimensis: Apotheosis menstruo-eucharistica, Das ist: Lobsprechung Jesu Christi in dem Hochwürdigs-

    

    Der Stern des Bundes · Drittes Buch 

     557

    Priesterdichter Hölderlin charakterisiert hatte, zeigt ihre Verwendung im Gedicht, wie George seine Kultstiftung mit dem anerkannten Seher verknüpft.27 Zudem deutet die intertextuelle Referenz von Hölderlins Paradoxon Georges Absicht an, „Inspiration und Organisation zu vereinen“28; gewissermaßen eine Mahnung an die Jünger, in dem neuen Bund weniger ein einmaliges Erlebnis als vielmehr eine dauerhafte Verpflichtung auf ein gemeinsames Zentrum zu sehen, die sich täglich neu zu bewähren hat. George nimmt in der ersten Dekade seinen Kreis auch insofern in die Pflicht, als er ihm Regeln der Vergemeinschaftung gibt. So verdeutlicht er, dass die bündische Orientierung lebenslang gilt, untersagt die Verbindung mit „frauen fremder ordnung“ (V), warnt vor dekadenter Ästhetik als überwundenem „herbstgesang“ (VI) und hält zum Widerstand gegen Spott an. Zugleich versichert George die Mitglieder seines Bundes, Teil einer Elite zu sein, deren charismatische Überlegenheit nichts mit dem herkömmlichen Adel der Standesgesellschaft zu tun hat: „Neuen adel den ihr suchet / Führt nicht her von schild und krone!“ Maßgeblich ist vielmehr eine charismatische Begabung, die von ihresgleichen als ‚Glanz‘ erkannt wird: „Und ihr kennt die mitgeburten / An der augen wahrer glut“ (SW VIII, 85).

    Die zweite Dekade (Gedichte XI–XX) Die zweite Dekade setzt die Ansprache an die mit ‚Ihr‘ angeredete Schar strukturell dominant fort: In sieben Gedichten spricht das lyrische Ich einseitig die Gruppe an (XI, XII, XIII, XV, XVI, XIX), in den dialogischen Gedichten XVII und XVIII beantwortet es kritische Fragen der Schar. Dem Bund werden die ‚Solidaritätsriten‘ mitgeteilt, die

    ten Sacrament des Altars. Augsburg u. Innsbruck 1757, S. 71, die „geistliche Liebs-Trunckenheit“ als „heilig-nüchtern“. Eine ausgezeichnete ideengeschichtliche Skizze zur ‚heiligen Nüchternheit‘ bei Hölderlin gibt Werner Kraft: Wort und Gedanke. Kritische Betrachtungen zur Poesie. Bern u. München 1959, bes. S. 61–71; siehe auch Hans Lewy: Sobria ebrietas. Untersuchungen zur Geschichte der antiken Mystik. Gießen 1929 (Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft, Beiheft 9). 27 Schon nach der Publikation von Hölderlins Hälfte des Lebens, nach der Ausgabe von Hölderlins Briefen (vgl. Friedrich Hölderlins Leben. Hg. v. C. C. T. Litzmann. Berlin 1890, S. IX u. S. 668) und vor allem nach Hellingraths Neuentdeckung des Spätwerks (vgl. Norbert von Hellingrath: Pindar-Übertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe. Phil. Diss. München 1910, S. 59 oder S. 77) wurde der Begriff allerdings allgemein und fast schon inflationär mit Hölderlin verbunden, z.  B. bei Heinrich Mann und Thomas Mann. Daher gelang es dem George-Kreis, der sich um  1910 als Verheißungserbe Hölderlins inszenierte, nicht recht, diese Hölderlin-Reminiszenz exklusiv für sich zu usurpieren. Beispielhaft für den Versuch ist Friedrich Gundolfs George-Monografie, in der er den „Meister“ als „heilig-nüchtern“ charakterisiert (FG 204). Vgl. dazu Achim Aurnhammer: Stefan George und Hölderlin (wie Anm. 25). 28 Vgl. ebd., S. 90.

    558 

     Achim Aurnhammer

    in ihren Abgrenzungen, „legitimierende Fremdreferenzen durch Opposition“29, eine identitätsstiftende Funktion haben und zugleich das Gruppencharisma stärken. Im Mittelteil des Dritten Buchs überwiegt daher der imperativische Redegestus: Fünfzehn Imperative finden sich allein in der zweiten Dekade des Dritten Buchs. Dementsprechend dominiert der Gegensatz zwischen ‚wahr‘ und ‚falsch‘ den Mittelteil, zu dessen Unterscheidung die Gruppe ermahnt wird. Die Abgrenzungsstrategien dienen vor allem dazu, einen heroischen Habitus zu propagieren, der verinnert und vergemeinschaftet ist. So wird der Bund nicht generational aufgefasst, vielmehr von „alle[r]“ als „sklaven“ denunzierten „jugend“ abgegrenzt, „Die heut mit weichen klängen sich betäubt / Mit rosenketten überm abgrund tändelt“ (SW  VIII, 92). Zum heroischen Habitus gehört es auch, das eigene Fehlen unbarmherzig zu sühnen – hier wird der Freitod antiker Helden als Vorbild proklamiert („Habt ihr im kleinen gegen euresgleichen / Gefehlt – so geht und sühnet stumm mit tat / Dann kommt zurück“, SW VIII, 93). Da fremde Kritik nicht zugelassen wird („von aussen kommt kein feind“, SW  VIII, 94), ist die Gruppe selbst dafür zuständig, den zur inneren Kohäsion notwendigen Widerspruch aus sich heraus zu „schaffen“. Umso mehr wird das Gruppencharisma mit einem exklusiven Geheimwissen des Bundes verbürgt, dem der Erfolg in der Zukunft gewiss ist. So wird der Gruppe „getrost“ schon die Widerrede szenisch vorgestellt, die sie „den fremden schadern“ zurufen sollen: Hemmt uns! untilgbar ist das wort das blüht. Hört uns! nehmt an! trotz eurer gunst: es blüht – Übt an uns mord und reicher blüht was blüht!

    In dem wiederholten Verb ‚blüht‘ gewinnt die Metapher vom ‚blühenden Wort‘, das George Ernst Moritz Arndts Worttheologie und Wortpolitik abgeborgt hat, eine spezifische Bedeutung: „Wo das Wort in der Rede und Dichtkunst am mächtigsten und fröhlichsten blüht, da ist ein Volk am kräftigsten und tugendhaftesten“30. Aus dem Prätext geht der nationalistische Impetus klar hervor, den George mindestens implizit übernimmt. So allgemein auch die Warnung vor möglichen Gefahren des Bundes bleibt, manche konkurrierenden kritischen Positionen lassen sich durchaus identifizieren. So zielt die Warnung vor „den siedlern“, die zur „Schau auf Eins“ auffordern, „das alles wäre / Um aufs Nichts euch zu bereiten“ (SW VIII, 97), sicherlich auf den materialistischen Entwicklungsmonismus eines Ernst Haeckel und die freireligiösen Tendenzen im Deutschen Monistenbund.31

    29 Vgl. Erik Jentges: Charisma bei Max Weber und Norbert Elias. In: Norbert Elias: Gruppencharisma und Gruppenschande (wie Anm. 5), S. 49–72, hier S. 70. 30 Ernst Moritz Arndt: Von dem Wort und dem Kirchenliede nebst geistlichen Liedern. Bonn 1819, S. 16. 31 Zum Monistenbund als konkurrierender freidenkerischer Weltanschauung vgl. die neueren Studien von Adrian Brücker: Die monistische Naturphilosophie im deutschsprachigen Raum um 1900 und

    Der Stern des Bundes · Drittes Buch 

    

     559

    In der Formierung eines gesellschaftlichen Autoritätsgefüges hat Kommunikation eine entscheidende Bedeutung.32 George etabliert ein charismatisches Selbstbild dieser Gruppe, indem er deren „Wissen“ für esoterisch erklärt und sowohl dem kreatürlichen Instinkt als auch dem gemeinen Buch- und Schulwissen überordnet: Ein wissen gleich für alle heisst betrug. Drei sind des wissens grade. Eines steigt Aus dumpfer menge ahndung: keim und brut In alle wache rege eures stamms. Das zweite bringt der zeiten buch und schule. Das dritte führt nur durch der weihe tor. (SW VIII, 95)

    Indem die letzte Stufe, „der weihe tor“, mit Georges Person untrennbar verbunden ist, festigt die Stiftung des Gruppencharismas zugleich die Autorität des Kultstifters George. Diese Autorität verbürgt die fiktive Rollenrede der Schar an den Meister: Brich nun unsrer lippe siegel Sag dass wir die rune lösen Vor dem volk das hungernd ruft .. (SW VIII, 98)

    Die Antwort, mit der gesellschaftlichen Öffnung des Bundes noch zu warten, da die Gefahr einer vorzeitigen Öffentlichkeit die Gefahr einer noch größeren Not berge, gipfelt in der autoritären Setzung des Zeitpunkts: „Nur der meister weiss den tag“ (XVII). Zugleich versichert er seiner Schar, sie würde, da sie durch ihn entsprechend präpariert sei und das Sensorium („das wahre auge“) besäße, „den Echten“, wenn er denn komme, auch erkennen. Die esoterischen Lehrgedichte  XIX und XX überhöhen den Bund zu einem Mysterienkult. Die Mitglieder werden nicht zufällig als „Tempeleis“ bezeichnet, wie die ‚Gralsritter‘ im Parzival genannt werden.33 Ihr

    ihre Folgen. Rekonstruktion und kritische Würdigung naturwissenschaftlicher Hegemonialansprüche in Philosophie und Wissenschaft. Berlin 2011, und Ulrich Dankmeier: Naturwissenschaft und Christentum im Konflikt. Die Konstruktion konkurrierender Weltanschauungen unter dem Einfluss des naturwissenschaftlichen Paradigmas durch den Deutschen Monistenbund und den Keplerbund am Beginn des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2007. 32 Vgl. Erik Jentges: Charisma bei Max Weber und Norbert Elias. In: Norbert Elias: Gruppencharisma und Gruppenschande (wie Anm. 5), S. 49–72, hier S. 60. 33 Ernst Morwitz kommentiert: „Das neunzehnte Gedicht fängt mit einem symbolischen Ausruf an, der ankündigt, dass es sich hier um eine Geheimlehre handelt“, EM I, 392. In der Besprechung des zwanzigsten Gedichts verweist er auf die Tafelrunde als Motivspender: „Die Runde, hier von der Tafelrunde genommen, bei der der Platz am runden Tisch jedem Teilhaber den gleichen Rang gibt, wird als ein durch Liebe zum Meister gebildeter Liebesring bezeichnet, dem nichts entfalle, das heißt entfallen kann. […] Aus der im Ring kreisenden, ihm deshalb niemals entfallenden Kraft holt sich jeder neu in

    560 

     Achim Aurnhammer

    Zusammenhalt wird zum hermetischen „liebesring“ stilisiert, gemäß der entsprechenden literarischen Konfiguration, in der alle beteiligten Personen durch Liebe miteinander verbunden sind. Wie Conrad Ferdinand Meyers Römischer Brunnen, dessen dreischalige Kunstform einen vollkommenen Ringschluss darstellt („Und jede nimmt und gibt zugleich / Und strömt und ruht“), wird der ‚Bund‘ als ein hermetisches Gefüge präsentiert, als ein ‚Kräftereigen‘ (Gundolf), in den jeder, mit jedem in Liebe verbunden, Kraft einspeist und gewinnt: Aus diesem liebesring dem nichts entfalle Holt kraft sich jeder neue Tempeleis Und seine eigne – grössre – schiesst in alle Und flutet wieder rückwärts in den kreis. (SW VIII, 101)

    Die dritte Dekade (Gedichte XXI–XXX) Die dritte Dekade des Dritten Buchs unterscheidet sich von den zwei vorgängigen Zehnergruppen durch eine andere Kommunikationssituation. Überwiegen in den ersten zwanzig Gedichten die Ihr-Anreden, so bestimmt die intime Du-Ansprache das letzte Drittel des Bandes. Die veränderte Kommunikationssituation erklärt sich aus der Binnenstruktur der letzten Dekade. Eingeleitet wird sie durch das programmatische Einsetzungsgedicht Ihr seid die gründung wie ich jetzt euch preise. Ihm folgen sechs personenbezogene Gedichte, deren Referenzgestalten die Forschung nach kreisinternen Schriften identifiziert zu haben meint,34 bevor das vorletzte Gedicht wieder die Schar anspricht, um sie nun „aus dem innern raum […] in das weite land“ zu entlassen (XXIX). Das Schlussgedicht präsentiert die Zukunftsvision eines ‚Neuen Reichs‘ so, als wäre es schon präsent. Das Programmgedicht Ihr seid die gründung wie ich jetzt euch preise (SW VIII, 102) betont vor den Einzelwürdigungen noch einmal das Gruppencharisma des Bundes. Die dreifachen Ich-Aussagen („Ihr seid“, „Ihr seid“ und „ihr tragt“) des Lobpreises verpflichten die Mitglieder jedoch in der Gegenwart zu einem entsagungsvollen Leben, auch wenn unklar bleibt, wann sich die Verheißung erfüllt. Die vielen Zeitadverbien in dem Gedicht („Bald vor bald nachher“, „schneller“, „bald“, „heut“, „nie“) verdeut-

    den Kreis Tretende, der hier im Anschluss an das Templer-Gedicht Templarius, Tempeleis genannt wird, neue Kraft, und seine eigne, dadurch vermehrte Kraft fliesst in den Kreis zurück und somit auch in alle, die im Kreis vereint sind.“, EM I, 394. 34 Dementsprechend referiert das Gedicht XXII auf Karl Wolfskehl, XXIII auf Friedrich Wolters, XXIV auf Berthold Vallentin, XXV auf Herbert Steiner, XXVI auf Albrecht von Blumenthal, XXVII auf Ludwig Thormaehlen. Vgl. SW VIII, 148–149.

    Der Stern des Bundes · Drittes Buch 

    

     561

    lichen das Treueversprechen gegen die Zeit: „Und was ihr heut nicht leben könnt wird nie.“ Die folgenden Einzelgedichte enthalten lebensgeschichtlich bedeutsame Anekdoten oder lakonisch verkürzte Biogramme, welche die Teilnahme, aber auch die Nichtteilnahme am Bund als inneren Zwang illustrieren. So erweist sich der analeptisch resümierte Bildungsgang, der das mutmaßlich auf Berthold Vallentin (SW VIII, 149) bezogene Rollengedicht Ich liess mich von den schulen krönen eröffnet, als unzureichend, bis das Ich als Konvertit seine bündische Existenz als Glück präsentiert: Durchs heilige feld komm ich geschritten Mit dir dem heiligen ziele zu .. Im einklang fühl ich keim und welke Mein leben seh ich als ein glück. (SW VIII, 105)

    Der als Herbert Steiner identifizierte attraktive Repräsentant in dem Dialoggedicht Wer soll dich anders wünschen wenn du so ist dagegen den strengen Gesetzen des Bundes nicht gewachsen. In seiner Antwort gesteht er freimütig den Status des gescheiterten Postulanten ein: Sprecht nicht zu streng vom schwachen der sich trennte Erinnert euch wie ihr mir freundlich tatet Ich war ein blondes wunder euch – nichts mehr. (SW VIII, 106)

    Zu den anekdotisch zugespitzten Ansprachen gehört die Mahnung an den als A ­ lbrecht von Blumenthal identifizierten Jünger: Denk nicht zuviel von dem was keiner weiss! (SW VIII, 107). Er wird daran erinnert, dass er einen „wildschwan“ geschossen und das verwundete Tier erfolglos gepflegt hatte, und dessen „brechend auge“ ihn „schalt“, „dass du ihn / Um-triebst in einen neuen kreis der dinge“. Die Episode wird so auf den einfachen „sinn“ verkürzt, den Lebenskreis nicht zu wechseln. Die diversen biografischen Gedichte der Novizen schließt das unbedingte TreueGelöbnis eines Novizen zu dem ‚Meister‘ ab, das in seinem absoluten Bekenntnis einen anderen Ton anschlägt. Dieser Eindruck trügt wohl nicht, wenn man Ernst Morwitz glaubt, der beansprucht, die letzten vier Verse des Gedichts stammten von ihm (SW VIII, 149  f.): Drum hab ich mich dir verschrieben Sende mich von pol zu pol Deinen feind lass mich erschlagen Nimm zu deinem werk mein blut. (SW VIII, 109)

    562 

     Achim Aurnhammer

    Es gehört sicher zum Kompositionsprinzip des Dritten Buchs, dass zum Ende hin die Jünger selbst das Wort ergreifen. Die apostolische Sendung bestätigt das vorletzte Gedicht, in dem die Sprecherinstanz ihren Bund „aus dem innern raum […] in das weite land“ aussendet. Wie bei den Aposteln erfüllen die Mitglieder dieselbe Mission in unterschiedlichen Lebensbereichen: „Ihr seid im gang getrennt im zweck gesellt.“ (SW VIII, 110). Der „dreifache wein der liebe“ animiert die Schar auch fürderhin im Zeichen des ungenannt bleibenden „Erweckers“, der wohl als Maximin zu verstehen ist. Das Schlussgedicht entwirft die Vision einer bereits erfüllten Verheißung. Die Zukunftsvision, die Erfüllung des triadischen Konzepts, wird paradoxerweise mit der Temporalkonjunktion ‚nachdem‘ eingeleitet, die den „kampf“, auf den der Bund zuvor noch verpflichtet wurde, als bereits siegreich beendet darstellt: Nachdem der kampf gekämpft das feld gewonnen Der boden wieder schwoll für frische saat Mit kränzen heimwärts zogen mann und maat: Hat schon im schönsten gau das fest begonnen Wo zu der huldigung von flöt und horn Von aller farbe sang und tanz umschlungen Von aller frucht und blüte duft umdrungen Das heilige Loblied steigt: der ewige born. (SW VIII, 111)

    Mit dem erkämpften Sieg korrespondiert in der zweiten Hälfte des Gedichts die Beschreibung des „fests“, das „schon“ begonnen hat. Die kultische Feier, als vierzeiliges Hyperbaton gedehnt mit der abbildenden Endstellung des Verbs „steigt“, wird in drei synästhetischen Zwillingsformeln erläutert: Neben der musikalischen und choreographischen Liturgie deutet das paradiesische Nebeneinander von „frucht und blüte“ den futurisch-unwirklichen Charakter des beschworenen Glücks an. Im „heiligen Loblied“, das als „ewiger born“ charakterisiert wird, wirkt die Zeit ohnehin aufgehoben. Indem George die Metapher „ewiger born“, die in der christlichen Tradition Gott zugedacht ist, auf das Instrument, das „heilige Loblied“, umwidmet, relativiert er den Adressaten zugunsten des Kultus. Das „heilige Loblied“ antizipiert zugleich den anschließenden Schlusschor, der den gesamten Stern des Bundes abschließt.

    

    Der Stern des Bundes · Drittes Buch 

     563

    Interpretation von Hier schliesst das tor: schickt unbereite fort (SW VIII, 100) Wie George seinem Kreis im Stern des Bundes ein Gruppencharisma zuschreibt, zeigt sich im Dritten Buch paradigmatisch an dem Gedicht XIX:1 Hier schliesst das tor: schickt unbereite fort. Tödlich kann lehre sein dem der nicht fasset. Bild ton und reigen halten sie behütet Mund nur an mund geht sie als weisung weiter Von deren fülle keins heut reden darf .. Beim ersten schwur erfuhrt ihr wo man schweige Ja deutlichsten verheisser wort für wort Der welt die ihr geschaut und schauen werdet Den hehren Ahnen soll noch scheu nicht nennen. (SW VIII, 100)

    Formal fügt sich das Gedicht passgenau in das Dritte Buch: Es umfasst neun Verse, ist reimlos und nicht strophisch gegliedert. Die Verse sind als jambische Fünfheber rhythmisiert, doch die Verseingänge der ersten Hälfte lockern den jambischen Rhythmus durch schwebende Betonungen (V.  1 u.  3) oder Tonbeugungen (V.  2 u.  4) auf. Damit ist auch äußerlich eine gewisse inhaltliche Zweiteilung markiert: Denn in den Versen 1 bis 5 redet eine ungenannte Sprecherinstanz eine ihr untergebene Gruppe mit zwei Imperativen an („schließt“ und „schickt […] fort“), um die Exklusivität und Esoterik der Gruppe anschließend zu begründen und mit dem Gebot zum Stillschweigen zu bekräftigen. Im zweiten Teil, den Versen 6 bis 9, wird die angeredete Gruppe an ein vorgängiges Schweigegelübde erinnert, das mit einer Initiation und einem hermetischen Wissen begründet wird. Die raumzeitliche Deixis des Gedichts („hier“, „heut“) und die beiden Imperative des ersten Verses verleihen dem Gedicht einen performativen Charakter, wie er für viele Gedichte im Stern des Bundes charakteristisch ist. Der Anfang alludiert zugleich die erste Römerode des Horaz: Odi profanum vulgus et arceo, dem Imperativ „favete linguis“ entspricht das Schweigegebot, das der Mittelvers ausdrückt.2 Wie dort Horaz das „profanum vulgus“ abwehrt, fordert George den Bund auf, die „unbereiten“ auszuschließen. Die Exklusivität wird einerseits als Schutzmaßnahme begründet, da die nicht näher spezifizierte „lehre“ eine tödliche Wirkung auf die ausübe, die sie nicht „fassen“ könnten. Die Hermetik der Lehre ist dadurch gewährleistet, dass sie nicht unverblümt, sondern ästhetisch verbrämt ist. Dem Topos gemäß, Dich1 Vgl. dazu meine frühere, knappe Interpretation: Achim Aurnhammer: Stefan George und Hölderlin. In: Euphorion 81 (1987), S. 81–99, hier S. 90  f. 2 Horaz, Carm. III 1. Vgl. dazu Eduard Fraenkel: Horaz. Darmstadt 1976, S. 311–313.

    564 

     Achim Aurnhammer

    tung sei „verborgene Theologie“, ist der Kult durch Kunst, Dichtung, Musik und Tanz geschützt. Möglicherweise stellt diese Wendung auch eine Allusion dar auf Friedrich Hölderlins späte Hymne Wie wenn am Feiertage, die Norbert von Hellingrath wiederentdeckt hatte und die George und Wolfskehl in die zweite Auflage ihrer Anthologie Deutsche Dichtung aufnahmen. Auch darin beansprucht das lyrische Wir, als ‚Mittler‘ zwischen Gott und Menschen zu wirken und Gottes Wort („des Vaters Strahl“) im „Lied“ dem „Volk“ weiterzugeben: Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk ins Lied Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.3

    Die paronomastischen Wendungen in Vers 4 („mund nur an mund“, „weisung weiter“), in Vers 7 fortgesetzt („wort für wort“), bilden phonetisch die Hermetik des Zirkels ab, wobei das Polyptoton ‚mund an mund‘ die allgemeine Wendung ‚von Mund zu Mund‘ kühn zum Kuss intensiviert. Damit wird neben der erotischen Komponente die Hermetik der Kultgemeinde abgebildet, die dafür sorgen soll, dass in der esoterischen Kommunikation nichts ‚geäußert‘, also exoterisch wird oder verloren geht. Auch das Schweigegelübde, an das der Mittelvers erinnert, illustriert insofern eine mimetische Wortstellung, als die Negationspartikel „keins“ als Mittelwort wie in einem Figurengedicht exakt das Zentrum des gesamten Gedichts bildet – integriert man es in eine Diagonalachse mit dem Anfangs- und Schlusswort des Gedichts, ergäbe sich eine Variation des Schweigegelübdes: ‚Hier – keins – nennen‘. Die zweite Gedichthälfte setzt mit einer Erinnerung an einen vorgängigen Eid ein, dessen Zahlwort auf eine mystische Stufenleiter schließen lässt („beim ersten schwur“). Um den Zirkel auf das Schweigegelübde einzuschwören, wird er in einem bekräftigenden „ja“ daran erinnert, dass ihm durch einen verlässlichen Propheten („deutlichster verheisser“) eine heilsgewisse Zukunft visionär vermittelt wurde, die in einem triadischen Geschichtskonzept die glückliche Vergangenheit wiederherstellen wird („der welt die ihr geschaut und schauen werdet“). Mit diesem Rückblick in die gemeinsame Vergangenheit und dem Ausblick in die Zukunft des Bundes wird das für die Gegenwart geltende Prinzip des Schweigens im Schlussvers bekräftigt: „Den hehren Ahnen soll noch scheu nicht nennen.“ Der auf den ersten Blick etwas kryptisch-sperrige Satz ist syntaktisch so

    3 Friedrich Hölderlin: „Wie wenn am Feiertage …“. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Jochen ­Schmidt. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt/M. 1992, S. 239–241. – Die „in diesen tagen aufgefundene hymne Hölderlins“ (Vorrede zur zweiten Ausgabe, S. 6) trägt in Georges und Wolfskehls Deutscher Dichtung lediglich den Titel Hymne (DD III, 50). Neben dem Nachwort von Ute Oelmann (ebd., S. 193  f.), vgl. dazu Edgar Salin: Hölderlin im George-Kreis. Berlin 1950, sowie Achim Aurnhammer: Stefan George und Hölderlin (wie Anm. 1) und TK 406–409.

    

    Der Stern des Bundes · Drittes Buch 

     565

    aufzulösen, dass ‚scheu‘ nicht nur als Nominativ, sondern auch als Subjekt des Satzes fungiert im Sinne von: ‚Scheu verbietet es (noch), den hehren Ahnen zu nennen‘. Indem der ungenannte „verheisser“ mit dem archaisierenden Adjektiv „hehr“ – im Sinne von ‚herrlich, verehrungswürdig‘ – antonomastisch als „Ahne“ bezeichnet ist, wird er einerseits zeitlich entrückt, andererseits aber mit dem Bund in eine verwandtschaftliche Beziehung gebracht. Zugleich betont die exklusive Großschreibung des „Ahnen“ seinen hervorgehobenen Status. Die Identität des heimlichen Propheten hat Edgar Salin erkannt und Ernst Morwitz überliefert:4 Es handelt sich um Friedrich Hölderlin. Der Name ist in Form eines ‚wandernden Akrostichons‘ im Gedicht verborgen. Gerade in der kultischen Dichtung dient ein Akrostichon, gelegentlich auch Mesostichon oder Akroteleuton, häufig dazu, Namen zu verbergen, sei es des Verfassers oder Adressaten. Die seltene Form eines wandernden Akrostichons, das sich aus dem ersten Buchstaben des ersten Verses, dem zweiten Buchstaben des zweiten Verses, dem dritten Buchstaben des dritten Verses und so fort zusammensetzt, verdankt George vielleicht Edgar Allan Poe, der dieses Prinzip in seinem Gedicht A Valentine angewandt hat.5 Georges Poe-Kenntnis ist durch seine nachgelassene Bibliothek belegt, überdies dürfte der amerikanische Dichter George als Vorbild Baudelaires und des französischen Symbolismus bestens bekannt gewesen sein.6 Da George den auratischen Charakter des Gedichts erhalten wissen wollte, hat er seine eigene rhetorisch kunstvolle Verrätselung des „verheissers“ Hölderlin als Zufall erklärt und sich selbst nicht weiter über das Gedicht geäußert.7 Für die Hölderlin-Rezeption im Stern des Bundes und im späten George-Kreis ist dieses Gedicht höchst aufschlussreich. Im Dritten Buch sind mehrere Hölderlin-Bezüge eingestreut. So wird im Gedicht Da zur begehung an des freundes arm die Wendung „heilig-nüchtern“ gebraucht. Auch Auf neue tafeln schreibt der neue stand dürfte in der Wendung „Ihr sollt den dolch im lorbeerstrausse tragen“ (SW VIII, 92) Hölderlin alludieren, in dessen Hyperion sich die Wendung „Myrthe, worinn das Schwerd sich

    4 Vgl. EM I, 392: „Äusserlich genommen ist dies [die Geheimlehre] die Nichtnennung des Namens Hölderlins, von dem die letzten drei Verse des Gedichts sprechen und der, wie Edgar Salin fand und der Dichter ihm bestätigte, sich aus Zusammenfügung des ersten Buchstabens des ersten Verses mit dem zweiten des zweiten Verses und so fort ergibt.“ 5 Poes Gedicht aus dem Jahre 1846 ist ein Widmungsgedicht, das den Adressaten verschweigt, aber erklärt, die Lösung des Rätsels (d.i. Frances Sargent Osgood) liege in ihm verborgen. Dazu und zu weiteren Formen des Namenverhüllens bei Poe und dessen Umkreis vgl. Edgar Allan Poe: Collected Works. Bd. 1: Poems. Hg. v. Thomas Ollive Mabbott. Cambridge, Mass. 1969, S. 386–391, bes. S. 388. 6 George besaß eine Werkausgabe Poes (The complete poetical works and essays on poetry of Edgar Allan Poe. London u. New York 1888). Vgl. Gisela Eidemüller: Die nachgelassene Bibliothek des Dichters Stefan George: Der in Bingen aufbewahrte Teil. Hg. v. Robert Wolff. Heidelberg 1987 (Stefan George: Bilder und Bücher aus dem Nachlass 2), S. 141. 7 Vgl. dazu auch EM I, 392.

    566 

     Achim Aurnhammer

    verbarg“ (2, 7) findet.8 Die Genitiv-Konstruktion „Des mahles herr“ könnte auf Hölderlins Wendung „Fürst des Festes“ in den Entwürfen zur später entdeckten Reinschrift der sogenannten Friedensfeier hinweisen.9 Nach Edith Landmann soll die Bezugnahme auf Hölderlin im George-Kreis eher als heimliches Schibboleth fungiert haben. George habe 1919 geäußert, „dass bei Hölderlin die Ursprünge liegen; aber man soll nicht darüber sprechen“ (EL 87). Gegen eine solche angeblich esoterische Verehrung Hölderlins im Kreis spricht aber der Umstand, dass George im gleichen Jahr 1919 seine ‚Lobrede‘ auf Hölderlin in der letzten Folge der Blätter für die Kunst eingerückt hatte. Zudem reicht die Hölderlin-Verehrung Georges und seines Kreises viel weiter zurück. So hatten George und Wolfskehl bereits in den dritten Band ihrer Anthologie Deutsche Dichtung (1902), die doch klar die poetische Tradition des Kreises enthält, mehrere Gedichte Hölderlins aufgenommen. „Hölderlin […] hätte nach der Meinung Georges und Wolfskehls, auch wie sie ihn damals sahen, fast mit allen Gedichten aufgenommen werden müssen“ (BG 220). Sicher hat aber Hellingraths Neuentdeckung des späten Hölderlin dessen Bedeutung für den Kreis maßgeblich gefördert. So spiegelt sich in Gundolfs Heidelberger Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1911 über Hölderlins Archipelagus-Gedicht die Nationalisierung und Usurpation Hölderlins für den Kreis deutlich wider. Das Gedicht Hier schliesst das tor verdeutlicht zudem die Funktion, die Hölderlin im späten George-Kreis hat. George stellt sich in eine ‚Verheißer‘-Tradition Hölderlins. In einer retrospektiven Teleologie wird Hölderlin als Vorläufer Georges reklamiert und als Prophet Maximins usurpiert. Zugleich stilisiert George mit seiner Indienstnahme Hölderlins seinen zum ‚Bund‘ verfestigten Kreis zu einer charismatischen Gruppe, da sie in ihren Praktiken, ihren Ritualen und ihrem Selbstverständnis eines ‚heim­lichen Deutschlands‘ an eine durch Hölderlin verbürgte Heilsgewissheit glaubt. Indem George seine Funktion als Stifter des Maximin-Kults mit Hölderlins Autorität abstützt, verleiht er auch seiner eigenen Person zusätzliche Autorität und Dauer.

    8 EM I, 387 verweist noch auf „die drei von den Tyrannenmördern handelnden Skolien und die Übersetzung, die Hölderlin wohl noch in Maulbronn gefertigt hatte“; George habe sie bisweilen zitiert. Der Kommentar relativiert diesen Beleg mit der Parallelstelle in Hölderlins Hyperion, vgl. Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Zweiter Band, Erstes Buch, XXXII, München u. Wien 1992, S. 699. 9 Vgl. Heike Bartel: ‚Centaurengesänge‘. Friedrich Hölderlins „Pindarfragmente“. Würzburg  2000, bes. S. 98–100.

    Das Neue Reich

    Armin Schäfer

    Interpretationen von Goethes lezte nacht in Italien, Hyperion, An die Kinder des Meeres, Der Krieg, Der Dichter in Zeiten der Wirren und Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg (SW IX, 7–33) Das Neue Reich erschien im Oktober 1928 als IX. Band der Gesamt-Ausgabe im Verlag Georg Bondi. In der Vorrede erklärt George: Dieser band umfasst alle seit dem Stern des Bundes entstandenen gedichte. Viele sind in den Blättern für die Kunst erschienen (1914–19). Der Krieg und Der Dichter in Zeiten der Wirren mit zwei andern gedichten in gesonderten heften. Goethes lezte Nacht in Italien · die eröffnung einer neuen reihe · reicht bis 1908 zurück. (SW IX, 5)

    Trotz der Verschiedenheit der lyrischen Formen und Sprechweisen, die den Zweifel an der Geschlossenheit und kompositorischen Einheit des Bands nährten, sind die Gedichte vielfach aufeinander bezogen und bilden eine übergreifende Struktur mit einer eigenständigen Semantik aus, die nicht zuletzt im Titel Das Neue Reich angezeigt wird: Sie kündigen die Ankunft eines neuen Gottes und den Anbruch einer neuen, umfassenden Ordnung an, die politisch-staatlich wirksam sei. Auch wenn die Forschung herausgearbeitet hat, dass die Prophetie eines neuen Reichs das Zentrum des Spätwerks ausmacht, besteht über die Inhalte dieser Prophetie keine hinreichende Klarheit. Allenfalls ist eine Stoßrichtung auszumachen: Die Gedichte zielen auf eine „subjektive und nationale Utopie“1, die eine von Männern getragene Ordnung notwendiger Ungleichheit in Aussicht stellt. Diese Männer haben ihre Präfiguration in dem angekündigten neuen Gott, der reine Immanenz ist und an seinem Leib fasslich wird. Als Grundzug von Georges Werkbiografie wurde die Transformation des Ästhetizismus in eine politische Haltung herausgearbeitet, die, wie auch sein Kreis, eine „Präferenz für eine Ordnung der Ungleichheit und eine deutliche Gravitation nach rechts erkennen lässt“ (GHb II, 771–826, hier 779), aber über deren genauere Einordnung kein Konsens erzielt wurde. Die Schwierigkeit liegt in der ungeklärten Frage, wie der „prophetische Gestus“2 des Spätwerks zu bewerten und wie der Übergang von den Gedichten zur Politik zu begreifen sei. Das Konfinium von George und seinem Kreis erschwert zusätzlich eine Bewertung des Spätwerks. 1 Jürgen Egyptien: Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg. In: WuW 197–212, hier 211. 2 Ebd., S. 197.

    570 

     Armin Schäfer

    Insbesondere über Georges Stellung zum Nationalsozialismus wurde eine umfängliche Debatte geführt. Strittig ist, inwiefern George „Vorläufer“3, Ahnherr, Kritiker oder Gegner des Nationalsozialismus war, der ihm sowohl eine Rolle in der Kulturpolitik antrug als auch eine „ideengeschichtliche Vereinnahmung“4 des Dichters unternahm. Einerseits wird herausgestellt, dass George auf Distanz zum Nationalsozialismus ging, die Versuche zur Vereinnahmung zurückgewiesen und insgesamt den „Nationalsozialismus nicht nur wegen der üblen Charaktere seiner Führer ab[lehnte]“, sondern „auch einige seiner wesentlichen Ideen und Ordnungsprinzipien“5 verwarf. Auch der Widerstand vom 20. Juli 1944 ist von der George-Rezeption im Nationalsozialismus nicht abzulösen.6 Andererseits gibt es eine moralisch-politische Verurteilung Georges, die seine „utterances“ als „seeds“7 für das Verbrechen des Nationalsozialismus ansieht. Das Augenmerk der Forschung war lange Zeit weniger auf die Gedichte als vielmehr auf Georges Stellung zur Moderne, zum Weltkrieg und zur Politik gerichtet: Favorisierte Lektüremodelle der Gedichte waren die biografische Deutung, die werk­ immanente Interpretation und der Kommentar, die im Neuen Reich eine fundamentale Opposition gegen die Moderne erkannten. Obwohl George grundlegende Züge der Moderne kritisiert, bleibt fraglich, ob er als Gegner der Moderne hinreichend zu charakterisieren ist. Während Studien zur Biografie und Rezeption mittlerweile erschlossen haben, wie der Kreis funktionierte, aber die Analyse der Gedichte selbst ausklammern,8 nehmen neuere literaturwissenschaftliche Forschungen deren rhetorische Techniken, literarische Verfahren und performative Strategien in den Blick. Allerdings werden aus den Analysen unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen. So wird einerseits herausgestellt, dass George im Spätwerk den „ethischen Ernst des poetischen Wortes“9 unterstreiche, oder erklärt, dass Georges „Reichsutopie“ mit den „zeitgenössischen Reichsideen aus dem Umkreis der konservativen Revolution, so

    3 Eckhart Heftrich: Stefan George. Frankfurt/M. 1968, S. 131. 4 Barbara Beßlich: Vates in Vastitate. Poetologie, Prophetie und Politik in Stefan Georges „Der Dichter in Zeiten der Wirren“. In: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpreta­tionen. Hg. v. Olaf Hillebrand. Köln u.  a. 2003, S. 201–219, hier S. 202. 5 Wolfgang Graf Vitzthum: Staatsdichtung und Staatslehre. Das Beispiel Stefan George. In: Recht, Staat und Politik im Bild der Dichtung. Hg. v. Hermann Weber. Berlin 2003 (Juristische Zeitgeschichte, Recht in der Kunst – Kunst im Recht 15), S. 103–126, hier S. 111. 6 Manfred Riedel: Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg. Köln u.  a. 2006. Joachim Fest: Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli. Berlin  1994, S. 244; Peter Hoffmann: Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder. Stuttgart 1992, S. 381. 7 Robert E. Norton: Secret Germany. Stefan George and his Circle. Ithaca (NY) 2002, S. 547. 8 Siehe RK, TK, Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der GeorgeKreis 1890–1933. Köln u.  a. 1997, Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München 2009. 9 Wolfgang Braungart: „Was ich noch sinne und was ich noch füge / Was ich noch liebe trägt die gleichen züge“. Stefan Georges performative Poetik. In: TuK 3–18, hier 6.

    

    Das Neue Reich · Erste Textgruppe 

     571

    z.  B. mit Moeller van den Brucks germanischem Weltreich als Rassestaat […] wenig gemeinsam hat“10. Andererseits wird das Spätwerk nach der „Vorbereitung auf den intellektuellen Bürgerkrieg“ (DP  127) im Stern des Bundes als die Fortsetzung der „Linie der kämpfenden Poesie“ (DP 129) interpretiert. Ungeachtet der divergierenden Bewertungen hat die Forschung das rhetorische Stilprinzip der harten Fügung und die performative Strategie des Sprechens in Rollen als allgemeine Kennzeichen des Spätwerks identifiziert und die Rezeption von Goethe, Hölderlin, Dante und Shakespeare in den Blick genommen. Der Katalysator für den stilistischen Wandel der Gedichte seit dem Stern des Bundes war die „Entdeckung der Pindar-Übertragungen und der Spätdichtung Hölderlins durch Nobert von Hellingrath“ (SW IX, 116), die durch eine hohe Frequenz von Enjambements und Inversionen der Syntax, unregelmäßige, nicht alternierende Metren und ungleichmäßige Verslängen gekennzeichnet sind. Die Rezeption solcher hart gefügter Gedichte – insbesondere in Georges Vortragsweise des ‚Hersagens‘ (AS 149–167) – unterscheidet sich von glatt gefügter Lyrik. Den Unterschied erläutert Hellingrath am Beispiel von Pindar: wo glatte fügung einfachste formen und ordnungen/ viel gebrauchte worte/ möglichst wenig auffälliges zeigte/ erstaunt die harte durch ungewohnte und fremde sprache. der glatten fügung kam alles darauf an zu vermeiden dass das wort selbst dem hörer sich aufdrängte. der sollte gar nicht bis zum worte gelangen/ nur damit verbundene assoziationen erfassen die als factoren das eigentlich wesentliche bildhafte oder gefühlartige ergeben. […] harte fügung dagegen tut alles das wort selbst zu betonen und dem hörer einzuprägen/ es möglichst der gefühls- und bildhaften associationen entkleidend auf die es dort gerade ankam. hier wird also in der wortwahl/ auch wo man keine besondere dichtersprache hat/ das tägliche und gewohnte vornehmlich aber die hergebrachte verbindung vermieden/ das schwer prangende und die vielsylbige zusammensetzung gesucht/ als welche von selbst ton und sinn auf sich lenken. […] und wenn bei glatter fügung der hörer zunächst von vorstellungen erfüllt war/ so sehr dass im äuszersten falle er das wort selbst kaum noch erfasst/ so erfüllt ihn hier so sehr das tönende und prangende des wortes/ dass er im äuszersten falle dessen bedeutung und was damit zusammenhängt kaum noch erfasst.11

    Während die glatte Fügung den Signifikanten vergessen macht, tritt in harter Fügung die Materialität der Sprache hervor. Der Leser wird am einzelnen Wort aufgehalten und ist vor die Aufgabe gestellt, zuallererst die syntaktische Konstruktion zu entschlüsseln. Die Effekte harter Fügung konvergieren mit den Effekten der Rollenfiktion, die eine persona hervorbringt, die als Maske dient und die vorschnelle Identifikation des fingierten Sprechers mit George blockiert: Die Gedichte, die sich durch Unbestimmtheit des Ausdrucks, Unschärfe der Semantik und Überdetermination ihrer Elemente

    10 Ute Oelmann: Anhang. In: SW IX, 114–121, hier 120. 11 Norbert von Hellingrath: Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe. Jena 1911, S. 5  f.

    572 

     Armin Schäfer

    gegen vereindeutigende Paraphrasen sperren, erschweren das unmittelbare Verständnis.

    Die Prophetie eines neuen Gottes Goethes lezte Nacht in Italien (SW IX, 8–10) wurde 1909 im dritten Ausleseband der Blätter für die Kunst gedruckt und erschien erneut in der VIII. Folge der Blätter für die Kunst (1908/1909), die im Februar 1910 ausgeliefert wurde. Es ist „möglicherweise vor Sept. 1905, nicht nach 1908“ (SW IX, 129) entstanden. Eine Handschrift des Gedichts ist als Beilage zu einem Brief Georges an Melchior Lechter vom September 1905 überliefert (ebd.). Es besteht aus sieben Strophen zu je zwölf Zeilen in trochäisch-daktylischem Metrum. In dem Gedicht schlüpft der Sprecher in die Rolle Goethes, der eine nächtliche Szene in Italien beobachtet, dann in seiner Vorstellung über den Limes, also die Grenze des römischen Reichs, nach Deutschland ins Rheinland blickt, um schließlich angesichts der nächtlichen Szene die Vision einer Erneuerung des Lebens zu entwickeln, in der ein an der Antike orientiertes klassisches Ideal von nationalen Elementen überlagert wird. Das Gedicht ist durch einen Chiasmus von Abschied und Aufbruch geprägt, der insgesamt überdeterminiert ist. Es fingiert eine Sprechsituation, die auf Goethes Abschied von Rom bzw. Italien bezogen ist und eine Kaskade weiterer Verweise evoziert, die durch intertextuelle Relationen und semantische Bestände angereizt werden: So wurden Prätexte einzelner Formulierungen in Goethes siebter und elfter Römischer Elegie und der Elegie Euphrosyne ebenso identifiziert wie in Ovids Tristien.12 Diese Relationen umschließt eine Hüllkurve, die von der Selbstansprache Goethes über die Prophetie einer Erneuerung des Vaterlands bis zur Vision verläuft, dass eine Erneuerung des Lebens schon begonnen habe. Mittels der Rollenfiktion wird ein Rückraum eröffnet, in dem Goethes Konzeption des Klassischen als eine Präfiguration des neuen Reichs aufscheint. Das Gedicht wurde entweder als eine Fortsetzung des klassischen Ideals, wie es Goethe formuliert hat, gelesen: Es reihe „sieben Bilder aneinander, die eine Vision der Erneuerung deutschen Geistes durch südliche Helle und Wiedergeburt antiken Menschentums umspielend“13. Oder es wurde als ein dezidierter Bruch mit Goethes Position aufgefasst, die durch Georges eigene Geschichtsvision abgelöst werden soll. Ernst Osterkamp erklärt, dass „das Gedicht nichts Geringeres als eine Grenzziehung zwischen zwei Zeitaltern – dem Jahrhundert Goethes und dem Jahrhundert Georges – vornimmt“ (EO 79). Es sei durch eine Spannung zwischen der „unerlösten Figur des 12 Manfred Riedel: „Welch ein schimmer traf mich vom südlichen meer?“ Zu Georges Gedicht „Goethes lezte Nacht in Italien“. In: DES 95–130, hier S. 115. 13 Ebd., S. 121.

    

    Das Neue Reich · Erste Textgruppe 

     573

    Sehers, der Verkündigung und Abschied ineinanderfallen lässt“ (EO 60  f.), und der „Geschichtsprophetie eines Neuen Reiches der wiedergewonnenen Ganzheit“ (EO 61) gekennzeichnet. Die Vision, die durch die persona namens Goethe verkündet wird, sei mit dem Wissen verzollt, dass der Sprecher von ihrer Erfüllung ausgeschlossen bleibe und das neue Reich selbst nicht betreten werde. Die erste Strophe setzt nicht allein mit ihren sprachlichen Mitteln eine Form, sondern lässt die Formsetzung selbst in dem Hervortreten einer Gestalt und in dem übergreifenden Bildcharakter einer nächtlichen Szene thematisch werden. Der Sprecher beobachtet ein Paar, das umschlungen vor einem Marmorbild einen Schwur leistet. Die Beobachtungssituation ist durch eine Rahmung („Fichten seh ich zwei ihre schwarzen flügel / Recken ins stetige blau der nacht“, SW IX, 8), durch die Einnahme eines festen Betrachterstandpunkts und eine Fokussierung des Blicks auf das Paar geprägt. Diese „Medialität der Wahrnehmung“ (EO 63) präsentiert die Szene – trotz ihrer Belebung – im Modus des Abgelaufen-Seins und verleiht ihr insgesamt einen Bildcharakter. Aus der „amorphen Natur (‚Aus den büschen‘)“ tritt „die konturierte Gestalt eines Paares hervor, die sich sofort zur plastischen Ganzheit formt.“ (EO 62) Das Gewordensein der Szene ist in deren Bildcharakter aufgehoben und gewinnt die temporale Struktur eines ‚ewigen Augenblicks‘. Diese temporale Struktur korrespondiert mit einer Lexikalisierung, die durch den „bestimmten Artikel“ und den „Singular“ das „Individuelle ins Repräsentative zu überführen“ (ebd.) sucht. Das Paar, das vor dem Kunstwerk des Marmorbilds auftritt, findet seine ästhetische Gestalt unter dem Zeichen der Transzendenz, die als „ein einziger stern“ ins Bild eintritt. Die geschaute nächtliche Szene evoziert eine Folge innerer Vorstellungsbilder, die durch einen Wechsel der Anrede markiert wird. Goethe geht vom Selbstgespräch zur Anrede der Deutschen über. Anstatt eines Dichters wie Homer, der als „sohn“ der Erde seinem Volk als „ein Seher erstand“, hat Deutschland an ihm einen Dichter, der nur „ein enkel der Gäa“ sei und nicht mit gleicher Autorität wie „ein Seher“ wirken könne. Goethe tritt in seiner Vorstellung an die Grenze des römischen Reichs („Dort an dem römischen Walle · der grenze des Reichs · / Sah ich in ahnung mein heimliches muttergefild.“, SW IX, 9) und beobachtet eine Weinlese im Rheinland. „The central verse of ‚Goethes lezte Nacht in Italien‘ describes a wine-harvest in the Rhineland, an area that has retained something of its classical heritage and is thus destined to be the center of cultural renewal.“14 Was im Fest der Weinlese aufscheint, ist ein Begriff von Heimat, den Goethe mit einer Rekapitulation seiner Dichtung und Biografie kontrastiert: von den Anfängen des Sturm-und-Drangs und seiner Straßburger Zeit („Unter euch lebt ich im lande der träume und töne / In euren domen verweilt ich“) über die Flucht nach Italien („Bis mich aus spitzen und schnörkeln aus nebel und

    14 Ray Ockenden: Kingdom of the Spirit: The Secret Germany in Stefan George’s Later Poems. In: A Poet’s Reich. Politics and Culture in the George Circle. Hg. v. Melissa S. Lana u. Martin Ruehl. Rochester (NY) 2011, S. 91–116, hier S. 99.

    574 

     Armin Schäfer

    trübe / Angstschrei der seele hinüber zur sonne rief.“) bis zu seiner Rezeption in der Heimat. Der Aufbruch nach Italien erscheint ihm als Flucht vor der Formlosigkeit, der Ertrag seines Aufenthalts ist das Programm einer Klassik („Heimwärts bring ich euch einen lebendigen strahl“), das mit einem pädagogischen Projekt einhergeht: „Bis sich verklebung der augen euch löst und ihr merket: / Zauber des Dings – und des Leibes · der göttlichen norm.“ In der Heimat jedoch wird Goethe verkannt und als „Feind unsres vaterlands · opfrer an falschem altar“ (SW IX, 10) denunziert. Er muss einsehen, dass „die Freudige Botschaft“ nicht gehört wird und erst dann, „wenn die fülle der zeiten gekommen“ ist, eine Bekehrung zur „wildesten wundergeschichte“ erfolgen kann und ihm gedankt werden wird. In der letzten Strophe findet die nächtliche Szene ihre Fortsetzung in der Evokation eines ganzheitlichen Lebens, das Züge des antiken Griechenlands trägt: „Doch wohin lockst du und führst du · erhabenes Paar?“ Die Vision mündet in eine Szene, in der griechische Elemente („Die gebärden / Attischer würde .. die süssen und kräftigen klänge / Eines äolischen mundes.“) von nationalen überlagert und abgelöst werden: […] Doch nein: ich erkenne Söhne meines volkes – nein: ich vernehme Sprache meines volkes. (SW IX, 10)

    Goethe verkündet eine kunstreligiöse Erlösung, die als ein neuer Tag über Deutschland anbrechen wird, an der er aber selbst nicht mehr teilhat. Die Anhaltspunkte sind viel zu vage, um von dem Gedicht auf Georges GoetheRezeption schließen zu können. Die Instrumentalisierung des klassischen Ideals ist zweideutig und lässt offen, wie die Prophetie einer nationalen Erneuerung aufzufassen ist. Der Auffassung, dass „das Spätwerk Georges für eine Ideologisierung des Heimatbegriffs nichts hergibt“15 und der „übernationale Charakter“16 des neuen Reichs jeglichem Nationalismus fernstehe, steht die Interpretation gegenüber, das Gedicht inszeniere „den Abschied vom Universalismus der humanistischen Bildungsidee und vom bürgerlichen Individualismus zugunsten der Nobilitierung eines Kollektivs, das nicht menschheitlich, sondern über Kategorien wie ‚volk‘, ‚heimat‘ und ‚blut‘ definiert wird. Der Name dieser neuen Elite ist Deutschland, ihre politische Organisationsform das Reich.“ (EO 93  f.) Goethes lezte Nacht in Italien tritt als die Aktualisierung eines virtuell in Goethes Italienischer Reise angelegten Gedichts auf.17 Goethe berichtet von seiner letzten

    15 Friedmar Apel: Landschaftsdarstellung als Zeitkritik im Spätwerk Georges. In: WuW  213–224, hier 220. 16 Georgios Varthalitis: Die Antike und die Jahrhundertwende. Stefan Georges Rezeption der Antike. Diss. masch. Heidelberg 2000, S. 199. 17 Manfred Riedel: „Welch ein schimmer traf mich vom südlichen meer?“ (wie Anm. 12), S. 115  f.

    

    Das Neue Reich · Erste Textgruppe 

     575

    Nacht in Rom, dass ihn an den antiken Stätten – Capitol, Triumphbogen, Colosseum – ein „Schauder überfiel und seine Rückkehr [zum Corso vgl. AS] beschleunigte.“18 Er zieht auf dem Weg zurück „gleichsam ein unübersehbares Summa summarum [s]eines ganzen Aufenthalts: Dieses in aufgeregter Seele tief und groß empfunden, erregte eine Stimmung, die ich heroisch elegisch nennen darf, woraus sich in poetischer Form eine Elegie zusammenbilden wollte.“19 Goethe hat diese Elegie nicht geschrieben; am Schluss der Italienischen Reise zitiert er aus Ovids dritter Elegie aus dem ersten Buch der Tristia ex Ponto, in der der ans Schwarze Meer verbannte römische Dichter seine letzte Nacht in Rom erinnert. Indem George über Goethes Abschied aus Italien ein Gedicht schreibt, das in sich das klassische Ideal aufnimmt, tritt er als Vollender der literarischen Tradition der Klassik auf. Hierbei ermöglicht es die Rollenfiktion, Goethe eine Prophetie aussprechen zu lassen, die ihn als Vorläufer von George hinstellt und die in dessen neuem Reich eingelöst werden wird. Das Gedicht Hyperion I · II · III (SW IX, 12–14) wurde erstmals in der X. Folge der Blätter für die Kunst gedruckt, die am 12. 11. 1914 erschien. Es entstand „wohl nach dem Erscheinen von Hellingraths ‚Pindarübertragungen von Hölderlin‘ 1911 und vor Oktober 1914, der Drucklegung“ (SW IX, 131) der X. Folge der Blätter. Die Entdeckung von Hölderlins Spätwerk durch Norbert von Hellingrath war für George „[v]on alles überragender Bedeutung“ (ebd.,  116). Die titelgebende Formulierung vom ‚neuen Reich‘ findet sich in Hölderlins Hyperion ebenso wie in dessen Entwurf einer Vorrede zum Hyperion, sodass zu vermuten ist, dass „George den Begriff des neuen Reichs Hölderlin verdankt“20. Während in der von George und Karl Wolfskehl herausgegebenen Anthologie Das Jahrhundert Goethes (1902) noch ein „romantischer Hölderlin“21 präsentiert wird, verschiebt die Entdeckung der Pindar-Übertragungen und der späten Hymnen den Akzent: George erhebt „Hölderlin zum nationalen Propheten“22 und korreliert die innovativen wortkünstlerischen Verfahren mit der Rolle des Dichtersehers: „Nicht dass seine dunklen und gesprengten silbenmaasse ein muster werden für suchende versschüler .. denn es gilt höheres. Durch aufbrechung und zusammenballung ist er der verjünger der Sprache und damit verjünger der seele ..“ (SW XVII, 60) Diese Neubewertung findet ihre Resonanz im George-Kreis, der Hölderlin zum Künder des ‚Geheimen Deutschland‘ stilisiert. Insbesondere Hölderlins sogenannter Zyklus von vaterländischen Gesängen aus dem Homburger Folioheft, die Hellingrath im vierten Band seiner historisch-kritischen Ausgabe edierte, wurde als nationale ­Prophetie gedeutet. „Der ‚Gesang des Deutschen‘“, erklärt Hellingrath in einem 18 Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise. In: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 15.1. Hg. v. Christoph Michel u. Hans-Georg Drewitz. Frankfurt/M. 1993, S. 596. 19 Ebd. 20 Achim Aurnhammer: Stefan George und Hölderlin. In: Euphorion 81 (1987), S. 81–99, hier S. 91. 21 Ebd., S. 81. 22 Ebd.

    576 

     Armin Schäfer

    Vortrag während des Ersten Weltkriegs, „nennt einige Zeichen, daß das geheime Deutschland noch lebt.“23 Seine Gleichsetzung von Hölderlins geschichtsphilosophischer Konzeption eines neuen Reichs mit dem ‚Geheimem Deutschland‘ erläutert er wie folgt: Ich nenne uns ‚Volk Hölderlins‘, weil es zutiefst im deutschen Wesen liegt, daß sein innerster Glutkern unendlich weit unter der Schlacken-Kruste, die seine Oberfläche ist, nur in einem geheimen Deutschland zutage tritt; sich in Menschen äußert, die zum mindesten längst gestorben sein müssen, ehe sie gesehen werden, und Widerhall finden; in Werken, die immer nur ganz wenigen ihr Geheimnis anvertrauen, ja den meisten ganz schweigen, Nicht-Deutschen wohl nie zugänglich sind; weil dieses geheime Deutschland so gewiß ist seines innern Wertes oder so unschuldig unbekannt mit der eigenen Bedeutung, daß es gar keine Anstrengung macht, gehört, gesehen zu werden.24

    George konnte an diese Vereinnahmung Hölderlins anknüpfen, wenn er in seiner 1919 in den Blättern für die Kunst erschienenen Lobrede Hölderlin als „unerschrocknen künder der eine andre volkheit als die gemeindeutliche in bewusstsein rief“ (SW XVII, 59) feiert. Das Gedicht trägt ein Motto, das aus Hölderlins alkäischer Ode Rousseau zitiert: „DEM SEHENDEN WAR / DER WINK GENUG · UND WINKE SIND / VON ALTERS HER DIE SPRACHE DER GÖTTER“ (SW  IX,  12). Hellingrath hatte 1911 die Verse als „Teil eines ungedruckten Entwurfs, ohne Nennung Rousseaus“ (SW  IX,  132) vorgestellt und „als Selbstansprache Hölderlins bezeichnet“ (ebd.). Das Motto zeigt einen Modus un­eigent­lichen Sprechens an, wie ihn das nachfolgende Rollengedicht inszeniert, indem es die literarische Figur des Hyperion als eine persona hinstellt, durch die sowohl Hölderlin als auch George sprechen. Die erste Strophe ist in acht dreiversige Gruppen gegliedert. Die ersten zwei Verse jeder Gruppe bestehen aus zwei Daktylen und einem Trochäus, denen als dritter Vers ein Daktylus und ein Trochäus, d.  h. ein Adonius folgt. Aurnhammer, der die metrische Struktur des Gedichts aufgedeckt hat, erkennt in ihr eine „anklingende Odenform“, die aber „unvollkommen“25 ist: Diese metrische Struktur bringe „das Leiden des lyrischen Ich an der Gegenwart und seine Wahlverwandtschaft mit der Antike gleichermaßen zum Ausdruck“26. Hyperion fragt nach seiner Herkunft, da er inmitten der „Brüder des volkes“ (SW IX, 12) ein „Fremdling“ bleibt. Nicht nur das Volk ist entzweit, sondern selbst die Paarbildung misslingt: „Ihr auch zu zweien allein: / Ihr mit dem spiegel.“

    23 Norbert von Hellingrath: Hölderlin. Zwei Vorträge (Hölderlin und die Deutschen und Hölderlins Wahnsinn). München 1921, S. 40. 24 Ebd., S. 16. 25 Achim Aurnhammer: Stefan George und Hölderlin (wie Anm. 20), S. 93. 26 Ebd.

    

    Das Neue Reich · Erste Textgruppe 

     577

    In der zweiten Strophe reist Hyperion nach Griechenland, wo er sich ein gelingendes Leben in der Antike imaginiert, in der seine „götter“ (SW IX, 13) geboren bzw. erfunden wurden. Das antike Griechenland wird in einer Folge von Apostrophen vergegenwärtigt: Die angesprochenen „exemplarischen Vertreter des alten Athen, die in den Versen vier bis zehn ohne Namensnennung aufgezählt werden, sind wohl als Sophokles, Perikles oder Alkibiades, die Vorsokratiker und Aristoteles als Erzieher des Alexander des Großen zu identifizieren“27. Die Heraufkunft des Christentums – Christus wird, wie in Hölderlins Roman, als ‚Syrer‘ bezeichnet – lässt diese griechische Welt schließlich kollabieren: „Weh! auf des Syrers gebot / stürzte die lichtwelt in nacht.“ In der dritten Strophe kehrt Hyperion „zur heimat“ (SW IX, 14) zurück, die im Zeichen eines frühlingshaften Aufbruchs steht.28 Er verkündet eine Erneuerung des Lebens durch das griechische Ideal, aber räumt ein, dass er an dieser Erneue­rung selbst nicht teilhaben wird und „im Reich nie wandeln darf“. So wie Moses das gelobte Land zwar sieht, aber nicht betritt, so muss auch Hyperion auf dessen Schwelle verharren, die ihre Konkretion in einer „Blut-und-Boden-Bildlichkeit“29 erfährt. Diese Semantik ist Schlussstein einer Umcodierung, die jene Differenzen einkapselt, die zwischen Hölderlins ursprünglicher Konzeption und Georges unscharfem und verfälschendem Nachbild bestehen. Die Umcodierung betrifft die Geschlechterdifferenz: Während Hyperion in der Schönheit Diotimas den Einbruch des Göttlichen erkennt, ist die Frau aus dem Männerbund des neuen Reichs ausgeschlossen. Und sie betrifft eine Reterritorialisierung von Hölderlins utopischer Konzeption, die das verheißene neue Reich in den Boden der Heimat einsenkt, deren Lexikalisierung von einer Landschaft als Feld, Hain, Fluss und Berg zur politischen Semantik des Bodens überspringt: „Ich werde heldengrab · ich werde scholle“. Dass Hölderlin als Prophet eines national codierten Ideals inszeniert werden kann, hat eine Voraussetzung in seiner literarisch-geschichtsphilosophischen Spekulation, die nach dem Verlust der natürlichen Ganzheit eines Lebens, wie es in der griechischen Antike noch gegeben war, die Wiedergewinnung solch eines Zustands durch ästhetische Erziehung erwartet. Hölderlins neues Reich besitzt gerade keine ursprüngliche, natürliche oder selbstverständliche Beziehung zu einem Territorium, sondern ist ein offener geschichtlicher Prozess. Diese offene temporale Struktur von Hölderlins neuem Reich wird in eine Parusieerwartung umgebogen: „bald geht mit leichten sohlen / Durch teure flur greifbar im glanz der Gott.“ Das Gedicht verkehre, so Osterkamp, die „Frage“, die Hölderlins Suche nach einem neuen Reich antreibt, in „ihr Gegenteil“: „George fragt nicht wie Hölderlin nach einem Menschheitsideal, das höher steht als das Vaterland […], sondern fragt nach dem Ort des Ideals mit dem Ziel, am Ende Menschheitsideal und Vaterland in eins fallen zu lassen.“ (EO 166)

    27 Ebd., S. 94. 28 Ray Ockenden: Kingdom of the Spirit (wie Anm. 14), S. 99. 29 Achim Aurnhammer: Stefan George und Hölderlin (wie Anm. 20), S. 95.

    578 

     Armin Schäfer

    Im Frühjahr 1914 sandte George aus Italien an Ernst Morwitz ein dreiteiliges Gedicht An die Kinder des Meeres. Morwitz schrieb daraufhin Nachklang, das den vierten Teil des Gedichts bildete (EM I, 414). Gedruckt wurde An die Kinder des Meeres erstmals in der X. Folge der Blätter für die Kunst, wo es unmittelbar auf Hyperion I · II · III folgt. Weder im Erstdruck noch in Das Neue Reich (SW IX, 16–20) wird Morwitz als der Verfasser von Nachklang genannt. Die biografischen Anlässe, die George zur Produktion anreizten, wurden von Mitgliedern des Kreises aufgedeckt und für den ersten Teil des Gedichts als die Begegnung Georges mit dem aus Danzig stammenden Knaben Hans Troschel, für den zweiten als die Erinnerung an einen jungen Italiener am Strand von Neapel und für den dritten als die Person von Woldemar von UxkullGyllenband benannt (EM I, 414  ff.). Die Verkündung des neuen Gottes, die Fluchtpunkt der Hyperion-Gedichte ist, lässt noch unbestimmt, wer der neue Gott sei und welche Rolle er im neuen Reich spielen werde. Die Identifikation des neuen Gotts mit Maximin und dessen Gleichsetzung mit dem Knaben Maximilian Kronberger verdeckt, dass der neue Gott gerade keine spezifische Person ist. Vielmehr ist er reine Immanenz und in nichts anderem als in seinem Körper zu fassen, der erotisch aufgeladen wird. Weil er von transzendenten Bezügen abgelöst und einzig Mensch ist, ist er wie eine freie Position, die von wechselnden Figurationen besetzt werden kann. Unter den Kandidaten für diese Position sticht vor allem der schöne jugendliche Mann hervor, der in sich zwar eine Vergangenheit einschließt, insofern er deren Produkt ist, aber auch die Verkörperung einer (noch) offenen Zukunft ist. In An die Kinder des Meeres treten solche Verkörperungen des neuen Gotts als epiphanische Erscheinungen auf, die durch Plötzlichkeit, sinnliche Präsenz und Intensität gekennzeichnet sind. Sie sind am Ufer eines Meeres geboren und personifizieren das Gewordensein der schönen Form aus der Formlosigkeit, dessen mythologische Urszene die Geburt der Aphrodite ist. Allerdings besitzt der neue Gott keinen dauerhaften Referenten, sondern ist eine flüchtige Erscheinung und tritt nur in der Erinnerung auf: Der Sprecher präsentiert die verschiedenen Begegnungen mit den Jugendlichen als die Evokation eines Augenblicks.

    Der Erste Weltkrieg In einem Brief vom 1. 6. 1917 an Friedrich Gundolf berichtet George, dass er das Gedicht Der Krieg beendet hat (G/G  305). Der Erstdruck erfolgte in einer achtseitigen Broschüre, die im Verlag Georg Bondi erschien und den Vermerk „Gedruckt bei Otto von Holten in Berlin C im Juli Neunzehnhundertsiebzehn“ trägt. Der George-Kreis stimmte 1914 in die allgemeine Kriegsbegeisterung ein. Im Stern des Bundes wird ein heiliger Krieg prophezeit („Zehntausend muss der heilige Wahnsinn schlagen / Zehntausend muss die heilige seuche raffen / Zehntausende der heilige krieg“, SW VIII, 31), den die

    Das Neue Reich · Erste Textgruppe 

    

     579

    Mitglieder des Kreises mit dem Weltkrieg identifizierten.30 Der Schluss vom Kreis auf Georges Haltung zum Krieg ist jedoch problematisch: George trat weder kriegsapologetisch auf, noch war er Pazifist.31 Er sprach in Briefen (G/G 263  f. u. 207  f.) und im privaten Kreis (EL 82, 119) seine Skepsis gegenüber dem Krieg aus, die angesichts von Materialschlachten und Stellungskrieg stetig wuchs, aber schwieg zunächst demonstrativ in der Öffentlichkeit und wartete den Verlauf des Kriegs ab. Der Krieg (SW  IX, 22–26) trägt ein Motto, das aus Georges Übersetzung des 17. Gesangs von Dantes Paradiso zitiert: … WEM DAS GEWISSEN DROHE MIT EIGNER ODER FREMDER SCHANDE DRUCKE EMPFINDET DEINE WORTE WOL ALS ROHE. DEM OHNGEACHTET HALT DICH FREI VON SCHMUCKE UND GANZ ERÖFFNE DAS VON DIR GESCHAUTE. LASS ES GESCHEHN DASS WEN ES BEISST SICH JUCKE. WENN AUCH BESCHWERLICH WERDEN DEINE LAUTE BEIM ERSTEN KOSTEN: WIRD LEBENDIGE ZEHRUNG MAN DRAUS ENTNEHMEN WENN MAN SIE VERDAUTE. DANTE · GÖTTLICHE KOMÖDIE · HIMMEL XVII

    Das Gedicht besteht aus zwölf Strophen mit jeweils zwölf Versen im fünfhebigen Jambus und nimmt eine „paränetische Sprechhaltung“32 mit einer Verdammung des Kriegs, der Warnung vor seinen Folgen, Ermahnung zur Umkehr und der Prophetie des neuen Reichs ein. Es führt zwei Sprecher ein: einen Siedler auf dem Berg sowie eine anonyme Sprechinstanz, die dessen Rede wiedergibt. Obwohl es Markierungen wörtlicher Rede, Konjunktive und Relativsätze gibt, die der Analyse eine Orientierung bieten, scheinen die Redeanteile ineinander zu verfließen. Es gibt keine festen Konturen der jeweiligen Reden, die insgesamt im Stil harter Fügung verschwimmen. Diese Konstruktion verknüpft den Effekt der Rollenfiktion mit dem der Redeanführung: Während die Rollenfiktion die Persona eines Siedlers etabliert, die George als Maske dient, verleiht die Redeanführung den Äußerungen des Siedlers den Status einer Rede, die nur vermittels einer anonymen Instanz wiedergegeben ist. Das Gedicht ist das Medium einer Rede, die selbst jedoch nicht auftritt. Insofern verschmilzt jede Botschaft, die dem Gedicht zu entnehmen wäre, mit der spezifischen Konstruktion der Sprechsituation, die wiederum mit der formalen Einheit des Gedichts korrespondiert.

    30 Den Lektüren des Sterns des Bundes als Kriegsbuch ist George in der Vorrede zu dessen Neuauflage mit Hinweis auf die Chronologie der Geschichte begegnet. Siehe SW VIII, 5. 31 Vgl. Jürgen Egyptien: Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg (wie Anm. 1), S. 205  f. 32 Ebd., S. 207.

    580 

     Armin Schäfer

    Die Syntax ist entweder isomorph zum Vers und lässt einzelne Sätze wie Sentenzen herausragen: „Am streit wie ihr ihn fühlt nehm ich nicht teil.“ (SW IX, 23) Oder die Syntax wird durch Inversionen aufgespreizt und von Enjambements zerteilt. Der syntaktische Zusammenhang wird weniger durch subordinierende, hierarchisierende und logisch-kausale Konstruktionen als vielmehr durch Aneinanderreihung erzeugt. Es finden sich Parallelismen („Das meiste war geschehn und keiner sah .. / Das trübste wird erst sein und keiner sieht.“, SW IX, 22  f.), elliptische Konstruktionen („Nach speichel niedrigster umwerbung: geifer / Gemeinsten schimpfs!“, SW IX, 25) und unverbundene Reihung: „Spotthafte könige mit bühnenkronen · / Sachwalter · händler · schreiber – pfiff und zahl“ (SW IX, 24). Die erste Strophe wird durch einen Vergleich von Krieg und Naturkatastrophe eröffnet, der die Topoi der Kriegsapologie aufnimmt. Die ubiquitären Reden vom Burgfrieden, von der Einheit des Volkes oder vom Neuanfang der Geschichte, wie sie im August 1914 geführt wurden, bezeichnen jedoch keine dauerhafte Einheit des Volks, sondern sie sind nur ein aus der Not geborener Vorschein künftiger Gemeinschaftsbildung: […] ein hauch Des unbekannten eingefühls durchwehte Von schicht zu schicht und ein verworrnes ahnen Was nun beginnt … Für einen augenblick Ergriffen von dem welthaft hohen schauer Vergass der feigen jahre wust und tand Das volk und sah sich gross in seiner not. (SW IX, 22)

    Der Siedler verweigert eine Parteinahme und berichtigt die Perspektive des Volks auf den Krieg. Das Kriegsgeschehen ist Ausdruck eines verfehlten Lebens und Vorbote eines noch weitaus schlimmeren Krieges. Statt der gängigen Kriegsgründe und gegen das Oppositionsschema von Freund und Feind führt er tiefere Ursachen an („Abfall von Mensch zu Larve“, SW IX, 23), vor deren Hintergrund die Positionen der Kriegsparteien verwischen. Auf eine Kritik an der politischen und militärischen Führung („Wo zeigt der Mann sich der vertritt?“, SW IX, 24) folgt die Identifizierung des Gegners in den eigenen Reihen: Hier hat das weib das klagt · der satte bürger · Der graue bart ehr schuld als stich und schuss Des widerparts an unsrer söhn und enkel Verglasten augen und zerfeztem leib. (SW IX, 23)

    Ein Verzicht auf Gewalt wäre, so wird der Siedler wiedergegeben, allerdings heuchlerisch: „Was ist IHM mord von hunderttausenden / Vorm mord am Leben selbst?“ Er hat in den Krieg die „jüngsten / Der teuren“ gesandt, die um ihrer selbst willen

    Das Neue Reich · Erste Textgruppe 

    

     581

    kämpfen: „Sie wissen was sie treibt und was sie feit .. / Sie ziehn um keinen namen – nein um sich.“ Der Krieg ist „Konsequenz und nicht Umkehr der Modernisierungsprozesse“33. Er erscheint als eine Eskalation der Technik, die sich verselbstständigt hat: „Des schöpfers hand entwischt rast eigenmächtig / Unform von blei und blech · gestäng und rohr.“ (SW IX, 24) Aus dem Krieg werde kein Sieger hervorgehen: „Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein · / Nur viele untergänge ohne würde ..“ Der Krieg ist angesichts der Stellungskämpfe und Materialschlachten inkommensurabel geworden: Der selbst lacht grimm wenn falsche heldenreden Von vormals klingen der als brei und klumpen Den bruder sinken sah · der in der schandbar Zerwühlten erde hauste wie geziefer .. (SW IX, 24)

    In der Kategorie des heroischen Kampfes ist das formlose Geschehen des Kriegs nicht mehr zu fassen: „Der alte Gott der schlachten ist nicht mehr.“ Diese Kriegskritik verharrt so sehr im Allgemeinen, dass sie nicht als Kritik an Deutschland aufgefasst zu werden braucht. Aus der Konfrontation des tatsächlichen Kriegsgeschehens mit der Phrase von der Wandlung des einzelnen im Kriegsgeschehen („Wer gestern alt war kehrt nicht / Jezt heim als neu“, SW IX, 25), mit dem intellektuellen Gerede („Und was schwillt auf als geist!“), mit der Beschränktheit von stichhaltigen Aussagen („und wer ein richtiges sagt / Und irrt im lezten steckt im stärksten wahn.“), mit den falschen Tröstungen der Kirchen („Der hilft sich · kind und narr: ›Du hasts gewollt‹“) oder mit den falschen Prognosen der Politik („Der lügt sich · schelm und narr: ›Diesmal winkt sicher / Das Friedensreich‹.“) wird jedoch nicht die Notwendigkeit eines Friedensschlusses oder Waffenstillstands abgeleitet, sondern der Eintritt eines messianischen Ereignisses. Allerdings werde die Ankunft des neuen Gottes von den Zeitgenossen ebenso wenig erkannt werden wie die Christus’, den Tacitus als „Ein ›Hass und Abscheu menschlichen geschlechtes‹“ (SW IX, 26) bezeichnete. Anstatt zur Beendigung des Kriegs aufzurufen, erhofft der Siedler seine Steigerung bis zum Äußersten. Denn der Opfer sind noch zu wenige, um eine tatsächliche Änderung zu erzwingen: „Weit minder wundert es dass soviel sterben / Als dass soviel zu leben wagt“ (SW IX, 25). Der Schluss des Gedichts evoziert die Vision, dass die „jugend“ (SW IX, 26) eine neue Ordnung herzustellen vermag, in der griechische und germanische Götter konvergieren: […] Apollo lehnt geheim An Baldur: ›Eine weile währt noch nacht · Doch diesmal kommt von Osten nicht das licht.‹ (SW IX, 26)

    33 Dirk von Petersdorff: Als der Kampf gegen die Moderne verloren war, sang Stefan George ein Lied. Zu seinem letzten Gedichtband „Das Neue Reich“. In: JbDSG 43 (1999), S. 323–352, hier S. 331.

    582 

     Armin Schäfer

    Mit dem Eintritt eines messianischen Ereignisses werde schließlich dann auch der Krieg beendet: […] Sieger Bleibt wer das schutzbild birgt in seinen marken Und Herr der zukunft wer sich wandeln kann.

    Das Motto gibt Hinweise, wie diese Prophetie zu lesen sei. George hat den Abschnitt Himmel der Commedia in seiner eigenen Übersetzung überschrieben: „Cacciaguida, Voraussage der Verbannung“ (SW X/XI, S. 119–124). Der Abschnitt spielt im Himmel des Mars, in dem Dante seinen Vorfahren Cacciaguida trifft, der im zweiten Kreuzzug fiel. Der historische Hintergrund ist folgender: 1095 hatte das Dekret des Konzils von Clermont Ablässe für die Kreuzfahrer festgelegt. Wer als reuiger Sünder am Kreuzzug teilnahm, dem wurden die von der Kirche auferlegten Bußen erlassen, wenn auch eine Teilnahme nicht die Vergebung der Sünden bewirken konnte. Jedoch geriet diese Einschränkung auch von kirchlicher Seite bald in Vergessenheit. „Unter dieser Voraussetzung konnte“, wie Ernst H. Kantorowicz erläutert, „der Tod eines Kreuzfahrers in der Schlacht leicht als ein neues Martyrium erscheinen. Der Kreuzfahrer, dem der vollkommene Ablaß all seiner Sünden sicher war, konnte für seine Selbstaufopferung im Dienste des Königs auf eine sofortige Aufnahme ins Paradies und die Märtyrerkrone in der Nachwelt zählen.“34 Das Motto legt insofern einen Analogieschluss nahe: So wie die Kreuzfahrer durch ihren Tod im heiligen Krieg erlöst worden sind, so auch die Soldaten, die für das neue Reich fallen. Allerdings sind solche Übersetzungen in einen Klartext durch die spezifische Konstruktion von Sprechsituation und Rollenfiktion von vornherein mit der reservatio versehen, dass Georges dichterische Äußerungen keine unmittelbar politischen Aussagen seien. Was zur Überbrückung der Kategorien oder zum Übersprung in einen Appell zur Opferbereitschaft anreizt, sind aber jene Formulierungen, die in Rezeption und Forschung als die biopolitische Botschaft des Gedichts gelesen wurden: ›Die ihr die fuchtel schwingt auf leichenschwaden · Wollt uns bewahren vor zu leichtem schlusse Und vor der ärgsten · vor der Blut-schmach!‹ Stämme Die sie begehn sind wahllos auszurotten Wenn nicht ihr bestes gut zum banne geht. (SW IX, 23)

    Der Krieg, so hat eine kritische Forschung gezeigt, betreibt nicht nur Kriegsapologie, sondern appelliert an eine Biopolitik. Es sei „one of the most devastating poems 34 Ernst H. Kantorowicz: Pro patria mori im politischen Denken des Mittelalters. In: Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums. Hg. v. Eckhart Grünewald u. Ulrich Raulff. Stuttgart 1998, S. 290–314, hier S. 300.

    

    Das Neue Reich · Erste Textgruppe 

     583

    written in German during the four-year conflict“35. Und es werde auch „geradezu offen rassistisch gesprochen“ und eine „ethnische Säuberung“ bzw. „Ausrottung“ eingefordert.36 In den „utterances the seeds were planted of later crimes“37. Insofern setze es „biopolitics by other means“38 fort: „the poet openly and unmistakably calls for the wholesale extermination of those who practice or allow interracial unions“39. Das Modell solcher Lektüren ist Gottfried Benns 1935 publizierte Rede auf Stefan George, die George mit dem Nationalsozialismus konvergieren lässt. Benn erkennt in Georges Gedichten einen „formalen Standpunkt“40, der zwar mit der alltäglichen Politik nicht zu vereinbaren sei, aber die Biopolitik des Nationalsozialismus antizipiert habe. Georges „unerbittliche Härte des Formalen“ bedürfe „keiner Ergänzung von der moralischen oder soziologischen Seite her“41. Die Gedichte, so Benn, beziehen vielmehr eine eigenständige politische Position und artikulieren einen „Geist“, der nunmehr im Nationalsozialismus verwirklicht werde: „Dieser Geist ist ungeheuer allgemein, produktiv und pädagogisch, nur so ist es zu erklären, daß sein Axiom in der Kunst Georges wie im Kolonnenschritt der braunen Bataillone als ein Kommando lebt.“42 Der Dichter in Zeiten der Wirren (SW IX, 28–30) erschien erstmals 1921 in der achtseitigen Broschüre Drei Gesänge bei Georg Bondi. Das Gedicht ist dem „Andenken des Grafen Bernhard Uxkull“ gewidmet. Bernhard Victor von Uxkull-Gyllenband, der 1907 in den Kreis gelangte, war Anwärter zum Berufsoffizier und hatte sich im August 1918 im Alter von 17 Jahren selbst getötet. In der Forschung wurde das Gedicht als „eine Kampfansage an die Weimarer Republik“43 verstanden: Es habe „zur idealen Projektionsfläche für konservativ-revolutionäre, völkische und nationalsozialistische Wunschträume“44 gedient, habe im „Zentrum des nationalsozialistischen Interesses am Werk Stefan Georges“ gestanden und sei als „Prophezeiung Hitlers“45 gelesen worden. Dennoch ist das Gedicht als die Versifizierung einer Ideologie oder einer Botschaft, die anderswo – etwa in den Gesprächen mit George oder in den Schriften aus dem Kreis – im Klartext formuliert wäre, nicht hinreichend zu begreifen: Der Dichter in Zeiten der Wirren besteht aus drei Strophen mit je 30 Versen in reimlosen Blankversen. Der Sprecher tritt als der Beobachter des Verhältnisses von Dichter und Volk auf.

    35 Robert E. Norton: Secret Germany (wie Anm. 7), S. 544. 36 Klaus Siblewski: „Diesmal winkt sicher das Friedensreich“. Über Stefan Georges Gedicht „Der Krieg“. In: TuK 19–34, hier 19. 37 Robert E. Norton: Secret Germany (wie Anm. 7), S. 547. 38 Ebd., S. 544. 39 Ebd., S. 547. 40 Gottfried Benn: Rede auf Stefan George. In: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Hg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt/M. 1989, S. 479–494, hier S. 487. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 488. 43 Barbara Beßlich: Vates in Vastitate (wie Anm. 4), S. 211. 44 Ebd., S. 218. 45 Ebd., S. 202.

    584 

     Armin Schäfer

    „Das Chaos und die Orientierungslosigkeit der Menge spiegelt sich grammatisch in hypotaktischer Verwirrung, während die ordnende Kraft und die klare Überschau des Dichters harten und einfachen Fügungen entspricht.“46 Der Dichter tritt, wie schon in Der Krieg, nicht mehr unmittelbar und selbstständig als Seher auf, sondern seine Vision wird durch eine spezifische Redesituation vermittelt. Obwohl der Dichter „allein / Das ganze Elend und die ganze schmach“ (SW IX, 28) fühlt und als „einzig seher“ in der Lage ist, die tatsächlichen Verhältnisse im und nach dem Krieg zu beurteilen, wird sein „profeten-ruf“ nicht gehört. Die „tollge­ wordne menge“ verkennt ihn, der die Nachfolge von Kassandra und Jeremias antritt. Vielmehr wird er vom Volk um „tröstlicheren spruch der löse / Aus dieser trübsal!“ (SW IX, 29) gebeten. Doch weder fällt der Dichter in den Ästhetizismus zurück, noch nimmt er eine politische Haltung des Engagements ein. Den Erwartungen an ihn wird eine Absage erteilt und stattdessen eine noch weitaus größere Katastrophe prophezeit, die eine Auflösung jeglicher Ordnung herbeiführen werde. Je näher und größer die Katastrophe, desto dringlicher die Forderung nach einem Neuanfang und desto dringlicher der Appell zur Umkehr: „wenn alles / Was eine Sprache spricht die hand sich reicht!“, könne doch noch eine neue Gemeinschaft entstehen. Vor diesem Hintergrund des Chaos tritt schließlich die Aufgabe des ,Dichters in Zeiten der Wirren‘ hervor: Er schart ein „jung geschlecht das wieder mensch und ding / Mit echten maassen misst“ (SW IX, 30) um sich und verkündet, dass diese Elite den „einzigen der hilft den Mann gebiert“. Der Dichter übernimmt also nicht nur einen pädagogischen Auftrag, sondern übt auch die Funktion eines Katecheten aus, die sowohl darin besteht, die Frist bis zum Eintritt der Apokalypse zu verlängern, als auch, diese Frist durch die Vorbereitung der Ankunft des Messias zu verkürzen. Diese Funktion gewinnt in Zeiten der Wirren ihren politischen Sinn, weil sie eine Dezision einfordert. Der Dichter führt seine „schar“ aus dem Chaos heraus: Der sprengt die ketten fegt auf trümmerstätten Die ordnung · geisselt die verlaufnen heim Ins ewige recht wo grosses wiederum gross ist Herr wiederum herr · zucht wiederum zucht · er heftet Das wahre sinnbild auf das völkische banner Er führt durch sturm und grausige signale Des frührots seiner treuen schar zum werk Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich. (SW IX, 30)

    Das Gedicht operiert mit einer semantischen Unbestimmtheit, die zum Kurzschluss der poetischen Äußerungen mit der sozialen und politischen Lage der Weimarer Republik provoziert. Die Gegenwart erscheint als Wartezeit auf die geeignete

    46 Ebd., S. 207.

    

    Das Neue Reich · Erste Textgruppe 

     585

    Führerpersönlichkeit. Auch wenn Revolution, Dolchstoßlegende, Versailler Vertrag oder die Besetzung des Rheinlandes nicht benannt werden, reizt die Kommentarbedürftigkeit der poetischen Äußerungen zu Konkretionen. Auch wenn der „geile markt“ als Kapitalismus, das „dünne hirngeweb“ als akademische Welt oder die „verruchte[n] jahre“ als die Zeit des Kaiserreichs zu dechiffrieren sind, besteht über den Sinn einzelner Formulierungen keine hinreichende Klarheit: Ist „Vor Fremdem stolz“ als „Abwehr und Xenophobie“47 zu verstehen? Ist die Formulierung, dass „des erdteils herz die welt erretten soll“, als nationale Sendung oder – unter Rückgriff auf Hölderlins Gesang des Deutschen, dem die Metapher entstammt –48 als geschichtsphilosophische Rahmung zu verstehen? Welche Bedeutung hat das Wort „völkisch“? Jedenfalls löst die apologetische Kommentierung nicht das Problem, das die poetischen Verfahren aufwerfen: „Das Adjektiv ‚völkisch‘ ist hier noch als deutscher Ausdruck für ‚national‘ verwendet.“ (SW IX, 144) „Das ‚wahre sinnbild‘ des ‚völkischen banners‘“ verweise „auf die Konstantin-Legende um das Christuszeichen in der Schlacht gegen Maxentius“49. „Das ‚wahre sinnbild‘ […] bedeutet nichts anderes als die erneute Unterordnung des Politischen und Gesellschaftlichen unter ein geistiges Prinzip, wie es auch von Mallarmé […] grundsätzlich gefordert wird.“50 Jedoch arbeitet das Gedicht selbst gegen solche Vereindeutigung an: Die rhetorischen Operationen, wortkünstlerischen Verfahren und performativen Strategien blockieren den unmittelbaren Durchgriff auf einen gedachten Referenten. Die irrationale und unverständliche Macht des Dichters wird durch eine performative Strategie des Sprechens abgesichert: Der Sprecher des Gedichts tritt nicht als neutraler Beobachter auf, sondern ist Echowand des Dichters und verleiht ihm zuallererst seinen Status, der in Opposition zum Volk steht. In der Sprechsituation der Beobachtung werden mittels einer Operationalisierung der Logik, die in den Personalpronomina steckt, die Subjektpositionen von Dichter und Volk konstituiert. In einer Rede besitzt die dritte Person weder im Singular noch im Plural einen selbstständigen Status, sondern ist von einer ersten Person abhängig, die sie als Subjektivität konstituiert und ausformt. Das Gedicht konstituiert solch eine dritte Person Singular – den Dichter – durch eine erste Person – den Sprecher –, der diese dritte Person zwar aussagt und von ihr sachlich und logisch unterschieden ist. Aber Sprecher wie Dichter sind Teil eines gemeinsamen sprachlichen Gefüges, in dem die Positionen nahezu ununterscheidbar werden, einander Echo geben und der Dichtung insgesamt eine performative Kraft verliehen wird. In der Lyrik des Ersten Weltkriegs dominierten epigonale Formen und apologetische Inhalte, und auch nach der sogenannten pazifistischen Wende von 1916 entstan47 Ebd., S. 213. 48 Bernhard Böschenstein: Von Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan. München 2006, S. 128  f. 49 Ludwig Lehnen: Gäas neue Söhne oder die Macht der „finsteren bräuche“. Zur Bedeutung Mallarmés in den späteren Werken Georges. In: DES 164–188, hier 185. 50 Ebd., S. 187.

    586 

     Armin Schäfer

    den jenseits der historischen Avantgarden wenige Gedichte, die der Kriegserfahrung in ästhetischer Hinsicht Rechnung trugen. Während zahlreiche Dichter jedoch aus ihrer Erfahrung des Kampfgeschehens heraus sprachen, war für George, der nicht am Krieg teilnahm, die Sprecherposition eines Soldaten keine, die er glaubwürdig einnehmen konnte. George „habe das innerste Mitgefühl mit jedem Soldaten im Schützengraben“, so berichtet Edith Landmann ein Gespräch mit ihm, „aber es gelinge ihm nicht hierüber etwas zum Ausdruck zu bringen. Es werde banal.“ (EL 119) Das Gedicht Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg (SW IX, 32  f.) wurde erstmals 1921 in der Broschüre Drei Gesänge im Verlag Georg Bondi veröffentlicht. Es besteht aus fünf Strophen in „reimlosen daktylischen Langversen mit Zäsur, wobei der Strophenschluss jeweils nach fünf Versen durch einen zweitaktigen Adoneus markiert ist“ (SW IX, 145). Der fünfsilbige Strophenschluss evoziert nicht zuletzt eine sapphische Ode. Adressat des Gedichts ist Erich Boehringer, der als Feldartillerie-Offizier im Krieg diente. Der prophetische Gestus ist in die Zählung des Weltkriegs als „Erster“ eingewandert und tritt als Lobgesang eines jungen soldatischen Führers in „knabengestalt“ (SW IX, 32) auf, der über die Niederlage und seine enttäuschten Erwartungen getröstet wird. Auch wenn das Gedicht in enthistorisierender Lesart den Weltkrieg „beinahe nur als Hintergrund zur Bewährung des Selbst“51 ansieht, scheint die Frage nach der „Ethik der richtigen Haltung in widrigen äußeren Umständen“52 jedoch kaum von der historischen Situation ablösbar. Der Sprecher tröstet den jungen Mann, der durch den verlorenen Krieg um seinen „schatz / Wichtigster jahre“ betrogen wurde, mit der Erinnerung an eine flüchtige Erscheinung: Alles wozu du gediehst  rühmliches ringen hindurch Bleibt dir untilgbar  bewahrt stärkt dich für künftig getös .. Sieh · als aufschauend um rat  langsam du neben mir schrittst Wurde vom abend der  sank um dein aufflatterndes haar Um deinen scheitel der schein  erst von strahlen ein ring Dann eine krone. (SW IX, 33)

    Der junge Führer soll sein Selbstvertrauen daraus beziehen, dass sein Körper in den Augen eines Dritten für einen Augenblick zur ästhetisch-symbolischen Erscheinung wurde. Die Szene ist in einer Symbolik stillgestellt, die den Führer mit dem Zeichen eines Herrschers ausstattet: Die untergehende Sonne lässt den Kopf des Jungen als ein Bild erscheinen und verleiht ihm eine virtuelle (Kaiser-)Krone. Der Blick erzeugt sein eigenes Objekt in einer Vision. Was der Sprecher erinnert, ist eine privilegierte Wahrnehmung, die dem Adressaten gerade nicht selbst zugänglich war: Es ist einzig der Blick des Sprechers, d.  h. Georges, der den aus der Niederlage des Kriegs heim-

    51 Ebd., S. 182. 52 Ebd.

    

    Das Neue Reich · Erste Textgruppe 

     587

    gekehrten Soldaten zu einem virtuellen Kaiser überhöht. In dieser epiphanischen Erscheinung fallen der neue Gott und der künftige Führer ineins. Es findet sich bei George nirgends eine Definition, was er unter dem Neuen Reich verstanden wissen will. Das Konzept dieses Reichs ist einzig in seiner poetischen Darstellung gegeben. Die Gedichte operationalisieren die Differenz zwischen der Lyrik und den anderen Diskursen: Sie provozieren fortlaufend zur Paraphrase und Übersetzung in einen Klartext und sollen dennoch ihrer hermeneutischen Interpretation entzogen sein. Die politische Haltung, die sie artikulieren, zielte auf eine grundsätzliche Verwerfung der Demokratie und auf eine Ersetzung des modernen Begriffs Staat durch die Leerformel des Reichs, in die eine konservative, nationale oder völkische Semantik einfluten konnte. Insofern liegt das Politische der ersten Gedichtgruppe in Das Neue Reich nicht allein in der Option für den Nationalismus, in der Ablehnung der parlamentarischen Demokratie, dem Plädoyer für eine Biopolitik oder der Arbeit an einer Wiederverzauberung der Lebenswelt, sondern es ist in die rhetorischen Techniken, lyrischen Verfahren und performativen Strategien der Gedichte eingelassen.53

    53 Wegen des Redaktionsschlusses war es leider nicht möglich, noch detailliert auf die Beiträge zu den hier behandelten Gedichten im GJb 11 (2016/2017) einzugehen, auf die jedoch zur Fortsetzung der aktuellen Auseinandersetzung mit diesen zentralen Texten hingewiesen sei.

    Bruno Pieger

    Interpretationen von Die Winke, Gebete, Burg Falkenstein und Geheimes Deutschland (SW IX, 35–49) So lass geschehn dass ich an jeder freude / Gemäss dem satz des lebens mich entfache! (Stefan George, Gebete III)

    Vorbemerkungen und Datierungen Es ist unschwer zu erkennen, dass die mit den Winken einsetzende und mit Geheimes Deutschland schließende Gruppe von Dichtungen, die im Inhaltsverzeichnis des Neuen Reichs ursprünglich durch unscheinbare Absätze vor dem ersten und nach dem letzten der vier Gedichte entsprechend gekennzeichnet war,1 sich von den vorausgehenden Texten, die enger das Zeitgeschehen im Zeichen des Ersten Weltkriegs im Blick hatten, und von den darauf folgenden Dialogen und Gesprächen abhebt. Was zeichnet jene Vierergruppe aus? Erste Hinweise geben  – soweit ermittelbar  – die Entstehungszeiten der vier Gedichte und der ursprüngliche Zusammenhang, in dem sie standen.2 Die Winke eröffnen nach der diskursiv gehaltenen Einleitung die 1919 erschienene XI./XII. Folge der Blätter für die Kunst. Es folgen dort das zweite und das dritte der Gebete, während das erste wiederum nach der Einleitung bereits an den Anfang der X.  Folge (1914) gestellt war. Der leitmotivische Charakter der Winke wie der Gebete ist von daher unverkennbar. Obendrein stehen in beiden Folgen diese Gedichte unmittelbar vor Texten, die Hölderlin gewidmet sind: in der X. Folge vor der Hyperion-Trilogie, in der XI./XII. Folge vor der Lobrede auf Hölderlin. Bereits in der IX. Folge war eine Verbindung zwischen den Pindar-Übertragungen Hölderlins und jenen 15 Gedichten Stefan Georges hergestellt worden, die dann z.  T. als Initialgedichte in den späteren Stern des Bundes Eingang fanden. Jedenfalls ist eine enge Verzahnung zwischen den Winken und Gebeten mit Georges Hölderlin-Verständnis gegeben, worauf schon Kurt Hildebrandt hingewiesen hat (KH I, 411), ein Zusammenhang, den Ute Oelmann für das

    1 Vgl. Stefan George: Das Neue Reich. Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung. Berlin 1928, S. 146. – In SW IX, 177, ist eine vom Satzspiegel markierte Abhebung unterblieben. 2 Hier bietet der von Ute Oelmann verfasste Anhang zu SW IX die wichtigsten Zusammenhänge und wertvolle, noch kaum aufgenommene Anregungen.

    

    Das Neue Reich · Zweite Textgruppe 

     589

    Neue Reich überhaupt und für die Gedichte, die sich Preislied, Hymne und Gesang nähern, im Besonderen in Anspruch nahm.3 Was bedeutet das nun für die hymnischen Langgedichte Burg Falkenstein und Geheimes Deutschland, die vorab nicht veröffentlicht wurden und auch schwierig zu datieren sind? Eindeutig scheint allein die Mitteilung von Ernst Morwitz, Burg Falkenstein sei ihm gewidmet. Es „beschreibt einen Gang, den der Dichter mit ihm von Königstein nach Falkenstein im Sommer 1922 unternahm“ (EM  I,  436). In der den Druck vorbereitenden und eher chronologisch verfahrenden Sammelhandschrift steht Geheimes Deutschland vor Burg Falkenstein. Für den Druck wurde diese Reihenfolge umgestellt.4 Dies könnte bedeuten, dass Geheimes Deutschland vor dem anderen Gedicht entstanden ist, und tatsächlich weist manches in das Jahr 1915 zurück. Georges Besuch bei Norbert von Hellingrath am 20. Januar  1915 in München5 gibt einen wichtigen Anhaltspunkt. Dieser hatte damals an seinen beiden HölderlinVorträgen gearbeitet. Im ersten, der den Titel Hölderlin und die Deutschen trug, ist von einem „geheimen Deutschland“ die Rede, das sich an der Sprache zu erkennen gibt wie an der gemeinsamen Welt, die unter Liebenden entsteht.6 Das „Daseinerwachen der Welt, […] das ‚Entstehen einer gemeinsamen Sphäre‘ und damit einer ‚gemeinsamen Gottheit‘“ sah Hellingrath als das ‚eigentliche Geschehnis‘ an, von dem Hölderlins Spätdichtung zeugte.7 George forciert diese Konzeption, wenn er den neuen Daseinsraum erst durch die lebendige Geste und leibhafte Erscheinung konstituiert sieht. Aber auch die Kehrseite des Welterwachens, das Untergehen, ist in Hellingraths Vorträgen wie in den vier George-Gedichten stets gegenwärtig. Und selbst die Weltkriegsstrophe, die im Gedicht Geheimes Deutschland recht unvermittelt zwischen die Episoden des Mittelteils gesetzt scheint und reales Geschehen ins Mythische wendet, weist in die Anfangsjahre des Ersten Weltkriegs, wo man vielleicht noch geneigt war, einen entsprechenden Horizont anzusetzen.

    Die Winke Was ist ein Wink, was ein „EINZIGER FREIER AUGENBLICK“, von dem das Motto spricht, das dem Gedicht vorangestellt ist? Wer ist der darin verkündete Halbgott, wann und wie erscheint er? Weshalb verweist – wiederum nach Art eines Winks – nur

    3 Ute Oelmann im Anhang von SW IX, insbesondere 116  f. u. 119  f. 4 Ute Oelmann in SW IX, 114. 5 Norbert von Hellingrath an Imma von Ehrenfels, Briefe vom 20. 1. und 24. 1. 1915. Hellingrath-Nachlass, II. Teil im Hölderlin-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. 6 Norbert von Hellingrath: Hölderlin. Zwei Vorträge (Hölderlin und die Deutschen und Hölderlins Wahnsinn). München 1921. 7 Ebd., S. 55. Vgl. auch BG 426, wo diese Hölderlin-Deutung übernommen wird.

    590 

     Bruno Pieger

    ein „M“ und ein darüber gesetzter Stern auf Maximilian Kronberger als den Verfasser des Mottos?8 Wer verbirgt sich hinter dem „Einer“ genannten der ersten Strophe, wer hinter den „Dreien“ der zweiten und den „Sieben“ der dritten Strophe? Bislang wurde das Gedicht (SW IX, 36) eher diachron gelesen.9 Danach wäre in der ersten Strophe mit „Einer“ der Dichter gemeint, der sich tieferregt bei seinem „Herrn“ rückversichert, dass er dessen Zeichen richtig deute, und von der Stimme die Antwort erhält: „Es ist so weit.“ Die erste Strophe gäbe danach das Urerlebnis, das dem Dichter mit Maximin als dem „Herrn der Wende“ (SW VIII, 8) vorbehalten war. In der zweiten Strophe wäre schon ein späterer Zeitpunkt erreicht. Der „Herr“ wendet sich nun an „Dreie“, die vom Glück der leibhaften Gotteserscheinung überwältigt sind. In der dritten Strophe sind es schon „Sieben“, die Botschaft scheint sich verbreitet zu haben, doch ist dem Erfolg der Mission etwas in die Quere gekommen. Es hat sich inzwischen eine Geschichtskatastrophe zugetragen, von der Natur und Kultur gleichermaßen versehrt sind und bei der man an den Ersten Weltkrieg denken darf. Angesichts der ‚verhängten brache‘ bleibt dem Kreis der Auserwählten in Anbetracht des ihnen erschienenen Lichts nur noch eine Wächterfunktion und die Möglichkeit, todesfroh zu sterben. Unter ‚Winken‘ wären bei dieser Lesart mehr oder weniger deutliche Hinweise auf die Geschichte des George-Kreises zu verstehen. Anders verhält es sich, liest man die drei Strophen eher synchron, ohne das Moment der Diachronie zu leugnen. Doch können die drei Strophen zeitlich so eng aneinanderrücken, dass sie nur durch den Moment vor und den nach der K ­ atastrophe voneinander getrennt sind, ansonsten aber durch dreierlei Perspektiven auf eine gemeinsame Situation blicken. Für das Gemeinsame spricht schon der formale Aufbau: Drei Strophen aus jeweils acht Versen, wobei jeder Vers aus fünf Trochäen besteht, katalektisch endend mit durchweg männlichem Versschluss. Das Gedicht nennt keine Personen, sondern mit Absicht unpersönlich gehaltene Gestalten, die der Anzahl nach unterschieden sind. Selbst vom „Herrn“ ist nicht mit Gewissheit zu sagen, dass es sich stets um dieselbe Instanz handelt. Nicht einmal sicher ist, ob es seine Stimme ist, die am Ende der ersten Strophe ertönt. Klar ist nur, dass die Protagonisten der jeweiligen Strophe zu ihm in einem vertrauten Verhältnis stehen: Sie vermögen ihm die verschiedenen Zeichen und empfangenen Gaben eindeutig zuzuordnen („dein“, „deine“, „deinen“). Auch „das ewige kind“ der zweiten Strophe kann nicht mit einem bestimmten Menschen- oder Gotteskind identifiziert werden. Das legt nahe, dass es mehr darauf ankommt, sich auf das zeichenhafte Geschehen einzulassen als auf bestimmte historische Personen oder festgelegte poetische Figuren zu rekurrieren.

    8 Maximilian Kronberger: Gedichte, Tagebücher, Briefe. Hg. v. Georg Peter Landmann. Stuttgart 1987, hier auf S. 21 unter dem Titel Das Ende und dem Datum 23. 12. 1902. Statt „naht“ stand im ersten Vers ursprünglich „kommt“. 9 Vgl. EM I, 433  f. u. KH 411  f.

    

    Das Neue Reich · Zweite Textgruppe 

     591

    Die erste Strophe lebt zunächst aus dem Gegensatz zwischen einem „purpurn blau entflammten“ Gebirg am Horizont und der toten Atmosphäre der in Schlaf versunkenen Stadt, der mit dem „erdgetös“ ein schreckliches Ereignis bevorzustehen scheint. Dem Protagonisten dieser Strophe wird der Gegensatz auf seinem Gang „vom feld her nach dem tor“, also im Vollzug dieser Bewegung sinnfällig. Was ihm da widerfährt, löst in ihm ein körperliches Beben und die an den „Herrn“ gerichtete Frage aus, ob er dessen „zeichen recht“ deute. Nur die erschallende Stimme, die sich vielleicht in Worte fasst, scheint zu bestätigen: „Es ist so weit.“ In der zweiten Strophe, die mit den „Dreien“ die kleinstmögliche Zusammensetzung einer Gruppe vor Augen hat, ist die ursprüngliche, an einem Gegensatz aufgegangene Erfahrung schon etwas gemildert. Zwar herrscht eine ängstliche Atmosphäre, doch halten die drei dagegen, indem sie sich an der Hand nehmen und ‚verzückte blicke‘ tauschen. Sie sind von der „stunde“ überwältigt, in der sie der „Herr“ aufsucht, und sie glauben, von ihm für die Botschaft auserwählt zu sein, die von der ihnen unvergesslichen Erscheinung des „ewigen kindes“ ausgeht. Sie bitten den „Herrn“, die „überwucht“ ihres „glücks“ „tragbar“ zu machen. Sie sind zwar die Verzückten, Auserwählten und Bezeugenden, doch nur mehr die Boten. Schon ist ein Abstand vom anfänglichen Ereignis eingetreten, das der Protagonist der ersten Strophe am meisten verspürte. In der dritten Strophe hat sich mit den „Sieben“ der Kreis noch einmal erweitert, ohne dass er über die Wenigen und Seltenen hinausgehen würde. Denn der Ort ihrer Zusammenkunft und die ihnen vorbehaltene Perspektive sind dem Berg zugeordnet, von dem sie Ausschau halten. Obwohl sie ihrem Herrn gedient haben, indem sie seine Botschaft verbreiteten und in seinem Sinne wirkten, widerfährt ihnen eine Kränkung, die dem ursprünglichen Ereignis ganz und gar zu widersprechen scheint. Die Saat ist nicht aufgegangen, das „erdgetös“ der ersten Strophe hat sich auf negative Weise durchgesetzt, das Land, das sie von oben erblicken, liegt versehrt unter ihnen. Es scheint der weiteste Abstand zur anfänglichen Wende eingetreten zu sein. Jetzt wird in Vers fünf der dritten Strophe der „Herr“ wie schon zuvor in der Stunde des ErwähltSeins (zweite Strophe) mit ‚Du‘ angerufen. Im Angesicht des Herrn wird das vermeintliche Ende zwar als ein hartes Los, aber zugleich als notwendiges Verhängnis auf sich genommen. Der größtmögliche Abstand zu dem, was sich ursprünglich ereignete, gewährt zugleich eine geheime Nähe. In mehr synchroner als diachroner Lesart lassen Die Winke die Desavouierung einer Naherwartung erkennen. Ihrer Destruktion sind aber eine Struktur und Dynamik, also ein Strukturverlauf eingeschrieben, der die ursprüngliche Erfahrung, die sich scheinbar erfüllende Zeitenwende, mehr befreit, als es ihr bloßes Eintreten vermöchte. Erst in der Verweigerung wächst die Stoßkraft des Ereignishaften. In der Opferbereitschaft der Auserwählten wird die Erinnerung an „das ewige kind“ wie an den „Herrn der Wende“ stärker. Von daher sind Die Winke immer auch rückwärts zu lesen, d.  h. die dritte Strophe weist über die zweite auf das „Es ist so weit“ der ersten zurück. Dieses bleibt wiederum nur erhalten, sofern es im Kreis der davon Getroffe-

    592 

     Bruno Pieger

    nen und Auserwählten, mit ihrem Wirken und durch ihr Untergehen weitergetragen und bezeugt wird. Die Winke rühren an das Geheimnis der Wiederkehr. Zu ihr gehört eine tragische Kunst, die in sich das Vermögen nährt, das Schönste und Liebste als abwesend zu erkennen. Nun lassen sich die eingangs gestellten Fragen beantworten: Ein ‚Wink‘ geht auf ein Geschehen, das nicht restlos aufgeklärt und erst recht nicht beherrscht werden kann. Dies ereignet sich immer dann, wenn in das Überkommene und Gewöhnliche etwas kaum Erwartetes hereinbricht und einen Aufbruch initiiert. Dieser Moment wird im Vorspruch zu den Winken gedichtet. Das „Da“ am Anfang des mittleren Verses zeigt ihn unmissverständlich an. Die Freiheit ist an diesen Augenblick geknüpft. Es ist keine Freiheit der Wahl, sondern des schon Gewählt-Seins, also eine bindende Freiheit, die sich im Untergehen erfüllt. Der höchste Augenblick besteht nicht in einem verschwommenen mystischen Erlebnis, sondern verleiblicht sich in der Gestalt des ‚jungen‘, ‚schönen‘ ‚Halbgottes‘. Es bedarf von Zeit zu Zeit solcher Halbgötter, in denen das Menschliche und das Göttliche sich von Neuem und auf neue Weise berühren. Es zeichnet Maximilian Kronberger und seine Verwandlung in die Maximin-Gestalt, ebenso den Dichter und seine Getreuen aus, an solchen, dem Dasein unverzichtbaren Strukturverläufen teilzuhaben und als einverleibende und einverleibte Figuren ins Überpersönliche, Welthafte zu reichen. Die gemeinsame Situation ist nicht zuletzt durch ihren zeitlichen Charakter definiert. Dem „Es ist soweit“ der ersten Strophe entspricht das „Deine stunde · Herr · traf uns hier an ..“ der zweiten und wird scheinbar ad absurdum geführt, letztendlich aber aufgefangen vom Verhängen der Not in der dritten Strophe. Das Zerbrechen des göttlichen Tages als notwendige Voraussetzung, um sein Ereignishaftes treu zu bewahren und die Möglichkeit der Wiederkehr zu erhalten, liegt als eine zentrale geschichtsphilosophische Denkfigur der Spätdichtung Hölderlins zugrunde.10 Das „ewige kind“, das am Ende der dritten Strophe genannt wird, erweist sich dann nicht als Anlass für Idolatrie, weil schon alles gesagt und geschehen ist, sondern als Offenhalten jenes Bereichs, in dem „EIN EINZIGER FREIER AUGENBLICK“ einmal noch gewährt, was das von Georges Dichtung vielfach genannte göttliche Kind auszeichnet: das Wunder des Unverbrauchten und neu Geschenkten, das sich an ihm, dem kaum dem Nicht-Sein Enthobenen und stets Fragilen, in seiner höchsten Würde zeigt, über dessen Entfaltung aber noch nicht entschieden ist.11

    10 Vgl. etwa die Hymne Patmos, erste Fassung, achte Strophe, in: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Michael Knaupp. Bd I. München 1992, S. 450. Im Folgenden werden Zitate aus der Münchner Ausgabe unter Angabe der Sigle MA, Band- und Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen. 11 Die sprechendste Stelle im Werk Georges ist hierzu das Gedicht Für heute lass uns nur von sternendingen reden aus den Gezeiten des Siebenten Rings, SW VI/VII, 68. – Zum Mythologem vom göttlichen Kind bzw. Urkind vgl. Karl Kerényi: Humanistische Seelenforschung. Stuttgart 1996, S. 54–91, insbes. den Schluss.

    

    Das Neue Reich · Zweite Textgruppe 

     593

    Gebete Wurde mit den drei aufeinander verweisenden Winken eine falsche Naherwartung destruiert, um das ursprüngliche Ereignis weiter zu befreien, so treiben die aus dreimal zwanzig Versen bestehenden Gebete, die in ihren sich ergänzenden Momenten ebenso streng zusammengehören, die ‚Dekonstruktion‘ des Maximin-Erlebnisses, die für Georges Maximin-Dichtung von Anfang an ausschlaggebend ist, weiter voran. Alle drei Gebete sind intime Zwiesprache des Dichters mit dem göttlichen ‚Du‘, das ihm entgegengekommen ist. Der Dichter spricht von sich in der Ich-Form und redet den Erschienenen mit ‚Du‘ an. Es ist eine Erinnerung an das Dagewesene, Rechenschaft über das, was daraus geworden ist und ins Künftige reicht. Dabei werden unverrückbare Lebensgesetze formuliert und der künftige Charakter jener epiphanischen Erfahrung gegründet. Was aber der Dichter betend vorspricht, kann der Freund und Jünger und selbst der geneigte Leser nachsprechen, denn auch hier handelt es sich um Dinge, wo „ich und du die selbe seele“ sind.12 Das erste Gebet (SW IX, 38) ruft zunächst die hohe Zeit festlichen Zusammenlebens auf, die von der Nähe des göttlichen ‚Du‘ und der von ihm verschenkten Lichtfülle bestimmt war. Sie ist zwar vorüber, steigt aber in der Erinnerung wie von selbst wieder auf. Nur kommt es dem Dichter so vor, als ob das dichterische Bild von dieser göttlichen Gegenwart, obwohl es seinem „besten blute“ entstammt, nur ein bescheidener „abglanz“ des Erschienenen sei, dass er dieses Ereignis nicht hinreichend gedeutet habe und seine Dichtung daher Gefahr läuft, „dem wahren gang“ der Dinge, also dem Strukturverlauf des nach Entfaltung drängenden Phänomens, nicht gerecht zu werden. Die Lösung liegt nicht darin, dass es der Dichter besser machen, d.  h. richtiger dichten könnte. Verlangt ist vielmehr, dass er auch in seinem Dichten zurücktritt vor dem, was sich ihm zugesprochen hat. Er muss dies auf dreifache Weise tun: 1. Er darf nicht exklusiv beanspruchen, dass er als „ein mund“ die ganze „wirklichkeit“ jener Jahre und die darauf bezogene „Verkündigung“ der „Seher und Weisen“ ‚erschöpfen‘ könnte.  2.  Er sieht zudem, dass Dichten für sich genommen bzw. als ästhetischer Akt diese Wirklichkeit nicht erfasst, sondern dies nur gelingt, wo sie  – und damit die Dichtung – in die menschliche Gestalt übergeht und ihr ein Sich-Verhalten entspricht.  3.  Der Dichter erkennt, dass er nicht über seine mangelnde Erfassung des Wirklichkeit Gewordenen „klagen“ sollte, sondern ihr gegenüber in seine höchste Möglichkeit eintreten darf: Sein Versagen als redlicher Werker ist die größte Preisung des göttlichen ‚Du‘, da es den Blick auf seine höhere Wirklichkeit freigibt. Bei Hölderlin heißt es am Ende der Ode Dichterberuf, dass „Gottes Fehl hilft“13, was hier

    12 So die Vorrede zur zweiten Ausgabe des Jahrs der Seele, SW IV, 7. 13 Zweite Fassung, MA I, 331. Vgl. dazu auch die von Hölderlin im Umfeld dieses Gedichts und der Hymne Wie wenn am Feiertage formulierte Einsicht: „Die Sphäre / die höher / ist, als / die des Men-

    594 

     Bruno Pieger

    so zu deuten wäre, dass der von Gott ausgehende Fehl, den der Dichter notwendig begehen muss, erst die höhere Sphäre der Gottheit zu erkennen gibt. Wichtig ist, dass das göttliche Gegenüber selbst wiederum als „Beter und Schöner“ bezeichnet wird. Es unterstreicht bei allem Abstand die Nähe und Durchlässigkeit und den unmerklichen Übergang zwischen dem Menschlichen und Göttlichen. Das erst nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte, aber schon im Frühjahr 1916 verfasste zweite der Gebete14 ruft in den ersten drei Versen die Verwirrung und Zerstörung einer Welt auf, erinnert an die Toten, die Trauer um sie und das vergebliche Harren auf Lebenserneuerung (SW IX, 39). Der Dichter fragt sich, wohin er sich noch wenden könne, um das Aufgegebene zu realisieren und entgegen den Verheerungen geschichtlich zu befreien: „wohin entfliehen / Dass ich das fest der erde frei begehe?“ Was ist „das fest der erde“? Dies kann nur aus der zweiten, mit „Da“ einsetzenden Gedichthälfte erschlossen werden. Wie schon in der ersten Strophe der Winke und im Stern des Bundes im Gedicht Von welchen wundern lacht die Morgen-erde ereignet sich die Welterneuerung vom Gebirge her. Ein Luftzug, ein Leuchten, ein Duften finden synästhetisch zu einer belebenden Atmosphäre zusammen, die sogleich um das Hören des hallenden Schrittes und die fast imaginierte Berührung des wiederkehrenden und sich ‚neu gestaltenden‘ ‚Du‘ ergänzt wird. Für „das fest der erde“ wird damit der Zeitraum bestimmbar: Er ereignet sich immer dann, wenn die Natur von Neuem sich öffnet und sich in dafür bereiten Menschen wiederfindet. Er besteht nicht für alle Zeiten, sondern zeichnet sich durch Endlichkeit und damit durch die Möglichkeit der Wiederkehr aus. Wiederkehr und Erinnerung gipfeln dabei in der Erscheinung des geliebten ‚Du‘, das erst in den letzten fünf Versen und dann gleich viermal genannt ist und allem, nämlich einer ganzen Stadt, Glanz verleiht. Das dritte der Gebete (SW IX, 40) nimmt solche Einsichten auf und verdichtet sie in der ersten Gedichthälfte zu Grundfiguren und Lebensgesetzen. Die ersten drei Verse wenden sich gegen die Verfestigung, das Positiv-Werden des erschienenen ‚Glücks‘. Ausdrücklich wird abgelehnt, dass ihm durch ein „verharren“, ein In-Besitz-Nehmen, entsprochen werden könnte. In einem fast heraklitischen Sinn wird ein Wissen um den unumgänglichen „auf- und niedergang“ formuliert, durch den der große Augenblick erst „bestehen“ kann. Die zweiten drei Verse ziehen die Konsequenz für den aus solcher Erfahrung schöpfenden Dichter und Gestalter und formulieren in IchRede den persönlichen und zugleich – angezeigt durch das „muss“ – schicksalhaften Auftrag. Er darf bei keiner Form stehenbleiben und sie für die endgültige halten, muss sich vielmehr dem „dunklen“ Geschehen zuneigen und anvertrauen, um das gültige Bild zu finden. Mit der Formel „Anders und immer Du“ wird die hier waltende Gesetzlichkeit auf den Punkt gebracht. Das heißt: Das ‚Du‘ bleibt nur erhalten, wenn es sich

    schen / diese ist / der Gott“, Friedrich Hölderlin: Sämtliche werke. Frankfurter Ausgabe. Bd. 8: Gesänge. Hg. v. D. E. Sattler. Frankfurt/M. u. Basel 2000, S. 559. 14 Zur Entstehung vgl. EM I, 434  f.

    

    Das Neue Reich · Zweite Textgruppe 

     595

    immer wieder anders zeigen darf; und im Hinausgehalten-Sein in das Andere scheint doch das geliebte ‚Du‘ auf. An die Weltformel im zweiten Eingangs-Gedicht des Sterns des Bundes – „Eines zugleich und Andres“ (SW VIII, 9) – und seine verschiedenen Abwandlungen im selben Gedichtzyklus ist zu erinnern. Die folgenden Verse sieben und acht formulieren ein weiteres, mit den beiden vorherigen eng zusammenhängendes Lebensgesetz, wonach nur die Wiederkehr und die ihr zugehörige Flüchtigkeit und d.  h. Endlichkeit „dauer“ verbürgen. Eine Einsicht in das Wesen kultischer Feier verbindet sich damit, vermag sie doch die kosmische und zugleich ein menschliches Antlitz zeigende Wirklichkeit, die ihren Reichtum ausmacht, nur darzustellen, wenn sie durch ‚Verjüngung‘ von Neuem mit dieser Wirklichkeit als ihrem Ursprung in Verbindung gekommen ist.15 Der neunte und zehnte Vers ziehen aus den bisher in den Blick genommenen Gesetzlichkeiten das Resümee und fassen sie in eine einfach klingende Lebensregel, die freilich das Schwierigste enthält, was nur das göttliche Gegenüber gewähren kann: „So lass geschehn dass ich an jeder freude / Gemäss dem satz des lebens mich entfache!“ Das ist höchste Zurücknahme, größte Freiheit und göttliches Ereignet-Sein in einem. Man darf hier an den Vorspruch zum ersten Band von Hölderlins Hyperion-Roman denken: „Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est – Vom Größten nicht eingeschränkt zu werden und noch vom Kleinsten umfangen zu sein, ist wahrhaft göttlich“ (MA I, 610). Worin besteht also der „satz des lebens“? Er wird im Vernehmen und Hinnehmen der Lebensphänomene, ihrer Struktur wie ihrer Dynamik, erkannt und ins Wissen gehoben und verlangt ein Verhalten, das ihm entspricht. In diesem Sinn kann ein Glück erscheinen und sich eine Freude entfachen. Der Erscheinungscharakter der Phänomene selbst vermag Glück, Freude und Anmut zu schenken.16 Und anders, als manche gedacht hätten, steht nicht die Erscheinung des großen Menschen im Mittelpunkt, sondern ist alles und noch das Unscheinbare einbezogen, wenn es zur Freude

    15 Vgl. Karl Kerényis Überlegungen zum Wesen des Festes von 1938. In: Ders.: Antike Religion. Stuttgart 1995, S. 33–51. Hier werden zwar der Zusammenhang von Wirklichkeit und Darstellung und die daraus hervorgehende Atmosphäre plausibel, nicht so sehr aber die Notwendigkeit der Verjüngung und Wiederkehr. 16 Vgl. dazu Hubert Dreyfus, Sean Dorrance Kelly: Alles, was leuchtet. Wie große Literatur den Sinn des Lebens erklärt. Berlin 2014. Die entscheidende Erfahrung wird von Homer her begriffen: Dieser „schildert immer wieder Situationen, die der Kontrolle einer Person entzogen sind und ihr deshalb Staunen und Dankbarkeit abnötigen. […] Das griechische Wort für ‚Anmut‘ ist charis, die Wurzel unseres Wortes charismatisch. Ein charismatischer Mensch ist einer, dem wohlwollende Götter die Gabe oder das Talent der Anmut verliehen haben. Der Charismatiker bringt einen Raum zum Leuchten […]. [Die] moderne Auffassung, dass wir voll und ganz selbst für unsere Existenz verantwortlich seien, steht im radikalen Widerspruch zur homerischen Vorstellung, dass wir immer dann nach bestem Vermögen handeln, wenn wir uns Himmel und Erde öffnen und zulassen, von außerhalb unseres Selbst gelenkt zu werden.“ (S. 117–120).

    596 

     Bruno Pieger

    beiträgt. Mit den Gebeten hat der Dichter den weitesten Abstand zu Idolatrie und Fetischisierung und zum Positivwerden der göttlichen Erscheinung hergestellt.17

    Burg Falkenstein Burg Falkenstein (SW IX, 42–44) ist Ernst Morwitz, einem mit George innig Verbundenen, gewidmet. Schon dies legt nahe, dass die ausgesprochene oder auch nur angedeutete Geschichtsvision einem Gang zu zwein, einem intimen Gespräch erwächst und anders gar nicht entstünde: „Zur bewaldeten kuppe / stieg ich an neben dir“18. Über die geografischen und historischen Hintergründe gibt der Bewidmete am besten selbst Auskunft: Das Gedicht […] beschreibt einen Gang, den der Dichter mit ihm von Königstein nach Falkenstein im Sommer 1922 unternahm. Das im Gedicht geschilderte Gespräch hat bei diesem Gang durch die Wälder tatsächlich stattgefunden. […] Die bewaldete Kuppe, zu der der Dichter von seinem damaligen Aufenthaltsort in Königstein auf dem Fussweg im Walde mit seinem Freund stieg, ist die etwa fünfhundert Meter über dem Meeresspiegel gelegene Ruine der mittelalterlichen Burg Falkenstein. Sie kam um 1300 an die Herrn von Bolangen, die ihr den Namen Falkenstein nach ihrer Stammburg am Donnersberg gaben. Die Ruine bestand um 1920 und besteht noch heute aus einem kantigen Eckturm aus rauhem Gemäuer, auf dem ein schmalerer Rundturm sich erhebt und an dem, aus einem Mauerspalt heraus, ein Baum wächst […]. (EM I, 436  f.)

    Zu ergänzen ist, dass „von der Burg Falkenstein aus […] der Blick über bewaldete Hügelkuppen zu den Orten Bad Homburg, Kronberg, Frankfurt sowie Königstein und Schloßruine“ geht19 und damit auch zu jener „massigen veste“, auf die der Dichter von oben aus deutet (zweite Strophe) und die „nach der Gründungssage […] der Frankenkönig Chlodwig Ende des 5. Jahrhunderts“ erbauen ließ. An dieser Stelle war ihm „eine Jungfrau mit dem Kreuz erschienen […] und der Prophezeiung, er werde im Zeichen des christlichen Kreuzes siegen“20. Historisch-geografisch deutet sich also eine Vision des heiligen Reiches an, die von den Römern an die Deutschen weitergereicht wurde, doch im Gang des Gedichts eine eigentümliche Fassung erhält.

    17 Es waren im George-Kreis vor allem Hellingrath und Fahrner, die sich durchaus im Sinne von Hegel und Hölderlin die Kritik aller positiv gewordenen Religion zu eigen machten. Vgl. Norbert von Hellingrath: Pindar-übertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe. Jena 1911, in der es über Hölderlins Weltauffassung heißt, dass sie „positiv gläubige hätten atheistisch nennen müssen“ (S. 42) und Rudolf Fahrner: Hegels Begegnung mit Hölderlin (1924). In: Ders.: Dichtung und Deutung. Gesammelte Werke I. Hg. v. Stefano Bianca u. Bruno Pieger. Köln, Weimar u. Wien 2008, S. 299–320. 18 Vgl. auch die Situation zu zweien in dem Gedicht Vor-abend war es unsrer bergesfeier (SW VIII, 74), dort heißt es: „Wir stiegen von dem strom aus gipfel-an“. 19 Ute Oelmann in SW IX, 149. 20 Ebd.

    

    Das Neue Reich · Zweite Textgruppe 

     597

    In der ersten Strophe öffnet sich die Weite der „stufig“ gebauten Landschaft zwischen „kuppe“ und „fernem geleucht / unseres ewigen Stromes“, in die die Bauwerke von Menschenhand einbehalten sind und jene zugleich auszeichnen. Denn „hügel und ort“ gehören hier zusammen und verweisen wechselseitig aufeinander. Dieser bis zur Vertauschung reichende Bezug kennzeichnet die symbolistische Welterfahrung und Poetologie. Im Verhältnis von „eckturm“ und „rundturm“, das im Sinne der zwischen Erde und Himmel vermittelnden Acht aufzufassen ist, wird schon die Landschaft durchmessen, so wie der „lebendige baum“ auf das geschichtliche Fundament „verwitterter fuge“ angewiesen bleibt. Dies ist ausdrücklich gegen die Deutung von Ernst Morwitz zu betonen, der die Differenz in den Auffassungen zwischen dem Dichter und ihm damit begründet, wie der eine und der andere jeweils zur Natur steht (EM I, 438). In der zweiten Strophe vertraut der Dichter hinabdeutend seinem Freund das Bild einer – Natur wie geschichtliche Bauwerke umfassenden – unschuldigen Vorzeit an, die in ihrer ‚Verträumtheit‘ und Friedfertigkeit an die fünfte Strophe von Hölderlins Hymne Germanien denken lässt, in der der unbedarfte „süße Schlummer“ Voraussetzung ist für alle geschichtliche Erneuerung (MA I, 406). Die dritte Strophe bringt den Einwand des ‚nachdenklichen‘ Freundes, der noch als Kommentator von Georges Werk ähnlich argumentiert. Für das Verständnis ist es unerlässlich, „solch ein mächtigstes ding“ als Attribut zu „Zauber“ zu lesen, nicht als direkten Verweis auf die in der zweiten Strophe genannte „massige veste“. Der Freund lehnt es ab, die verträumte Stimmung, die der Dichter im Bild der zweiten Strophe gegeben hat, als etwas von Natur aus Hervorgebrachtes anzuerkennen. Es sei nur ein subjektives Gefühl ähnlich dem der „altväter“ und der heutigen Lage nicht angemessen. Doch lässt sich der Dichter vom Einwand des Freundes nicht beirren, sondern weist dessen ganze Denkweise mit der Bemerkung zurück: „Eh eine saite zerriss / war schon die neue gespannt.“21 Damit sind sowohl die vom Freund für seine Deutung vorgebrachte Ausschließlichkeit der Subjekt-Objekt-Beziehung wie der Irreversibilität des historischen Ablaufs als unzureichend entlarvt; denn dieses Zerreißen und Neuspannen vermag nicht allein durch der Menschen Hände zu geschehen, sondern bleibt auf das Walten der Natur angewiesen, der Physis im altgriechischen Sinn. Das Ahnen des Dichters legitimiert sich von daher. Die Physis durchragt und vertauscht Natur und Geschichte, vereint die verschiedenen Landschaften zu einer Sphäre. Sie reicht vom Nordmeer zu den Mittelgebirgen und großen Industriestädten über die Alpen („felsengebirg“) bis zu „der zedern gewölb“ italienischer Gärten und Hügel angefangen von Meran über die oberitalienischen Seen, Florenz und die Toskana nach Rom und weiter an den „golf“ von Neapel, der pars pro toto für Süditalien steht.22 Ein Anknüpfen an

    21 Vgl. hierzu einschlägige Gedichte im Stern des Bundes, SW VIII, etwa S. 21, 33 u. 37. 22 Es ist wenig sinnvoll, hier an die Zedernwälder Libanons zu denken, nur weil eine Zedernart von dorther stammt, und würde eine seltsame Geografie auf den Plan rufen. Allerdings ist der Orient insgeheim und verwandelt mit anwesend.

    598 

     Bruno Pieger

    das alte Reichsgebiet ist unverkennbar. Die Vision zielt auf das stupende Eingedenken dessen, wofür die „kaiser“ und „kämpfer“ einmal gestanden haben und was im „gepräng“ und „gedröhn“ anwesend war. Ihr Zurückfluten gegen jeden historischen Sinn verdankt sich den Weltkräften, die in der „mär“ erinnert und ahnend vergegenwärtigt werden. Erst dies verhilft zu wahrer Wiederkehr in ganz anderen Formen – den anklingenden, in der Luft liegenden, noch nicht gewussten Gestalten.

    Geheimes Deutschland Das Gedicht (SW  IX, 46–49) ist in drei Teile gegliedert.23 Die Unterteilung wird durch drei jeweils inhaltlich entschieden abgewandelte, metrisch aber identische und je zwei Verse umfassende Refrains markiert, von denen einer an den Anfang des Gedichts gesetzt ist, ein zweiter zwischen die sechste und siebente und ein dritter nach der vierzehnten Strophe. Das Gedicht umfasst insgesamt 16 Strophen und drei Refrains. Das heißt auch, dass die Strophen im Verhältnis sechs zu acht zu zwei gegeneinander stehen und die Refrains als Fugen und Scharniere zwischen den Strophen aufzufassen sind. Von daher ist es sinnvoll, sich zunächst mit diesen zu beschäftigen, da zu vermuten ist, dass sich die Strophen nur angemessen aufnehmen lassen, wenn man sie aus der Gesamtfügung heraus zu begreifen lernt.24 Der erste Refrain lautet: „Reiss mich an deinen rand / Abgrund – doch wirre mich nicht.“ Zweierlei fällt auf. Das Gedicht setzt anders als in den Gedichten des Sterns des Bundes und noch in den drei vorausgehenden Gedichten der zu behandelnden Vierergruppe im Neuen Reich nicht mit der Nennung einer mit ‚Du‘ evozierten menschlichen oder göttlichen Gestalt ein und geht auch nicht dazu über. Anders als es vor Zeiten einmal möglich war, beginnt es auch nicht mit dem Anruf der Muse oder der Gottheit,

    23 Das Gedicht ist in jüngerer Zeit zweimal umfassend interpretiert worden: Manfred Riedel: Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg. Köln, Weimar, Wien 2006 hat es im zentralen Kapitel V, ‚Zeitenkehr im globalisierten Raum? Kunde vom geheimen Deutschland‘, ebd. S. 123–164 im Widerschein der alteuropäischen Überlieferung gelesen, angefangen mit der Tragödie und dem Mysterienkult der Griechen über Goethe, Hölderlin und insbesondere Nietzsche bis hin zu George. – Christophe Fricker hat 2010 eine mehr philologische Interpretation vorgelegt, beinahe von Strophe zu Strophe, ja Vers zu Vers fortschreitend, dabei viele Wortbedeutungen erläuternd, den Zusammenhang mit Personen des George-Kreises beleuchtend und das Gedicht als ein ‚Hermeneuein‘ auffassend, das selbst wiederum deutender Hermeneutik bedarf, vgl. Christophe Fricker: Stefan Georges Gedicht ‚Geheimes Deutschland‘: Ein politisches Programm? In: DES 131–163. Mein Kommentar ist beiden Auslegungen verpflichtet, ohne jeden direkten Bezug nachweisen oder diskutieren zu können, und konzentriert sich mehr als diese auf den Aufriss des Gedichts. 24 Der Vorschlag, die gerne als ‚Anrufe‘ oder ‚Apostrophen‘ bezeichneten Refrains als volle Strophen aufzufassen, verdeckt ihre Aufgabe, als Fugen und Scharniere den Bauplan des Gedichts zu garantieren.

    

    Das Neue Reich · Zweite Textgruppe 

     599

    sondern wendet sich an den „Abgrund“, der nun das Gegenüber des Dichters bzw. Sprechers bildet und dabei die Stelle des vormaligen ‚Du‘ einnimmt und in einer so unmittelbaren Weise, dass seinem „rand“ das Possessivpronomen „dein“ als Attribut zugesprochen wird. Von Anfang an vollzieht das Gedicht also eine geschichtliche Verortung sowohl innerhalb von Georges Werk als auch innerhalb der abendländischen Überlieferung insgesamt. Sie wird noch durch den suggestiven Charakter des vom ersten Refrain gegebenen Bildes verstärkt: Ausgesprochen wird mit dem Imperativ der ersten zwei Verse kein Befehl, der gegenüber dem Wirken des Abgrunds sinnlos, auch keine Bitte, die zu erfüllen dem Abgrund wesensfremd wäre. Es handelt sich vielmehr um die Sogkraft, die er ausübt und der vom Dichter nachgegeben wird, weil er ihr gegenüber nichts Anderes vermag, außer sich ihm zu überlassen und doch so entgegenzustemmen, dass er an seinem Rand zum Stehen kommt und doch nicht ‚verwirrt‘ wird. Die Lage des Dichters in seiner Zeit ist damit genau bezeichnet. Es ist Hölderlin zufolge die Lage des Dichters überhaupt, der sich dem Aorgischen, also den ungestalt auf ihn eindringenden Weltkräften aussetzen muss, um das Organische, Gestalthafte zu gewinnen und beizeiten zu verlieren (MA I, 868–878). George hat diese Grundfigur auf seine Weise eingelöst. Der zweite Refrain heißt hingegen: „Fittich des sonnentraums  / Streiche nun nah am grund!“ Trotz oder besser angesichts des Abgrunds oder sogar dank seiner tritt eine beflügelnde Vision einer neuen Welt hervor und mit ihr verwandelt sich der Abgrund in den „grund“, der mit dem „sonnentraum“ gegründet und immer mehr gegründet wird, je näher er ihm bleibt. Es ist die Nähe zu einem Grund, der aus dem Abgrund hervorgeht. Darin besteht, so lässt sich schon jetzt sagen, die Gründung des Geheimen Deutschland, die aller Machtpolitik, auch der der Geistes- und Metapolitiker, von vornherein entzogen ist. Nach der Anrufung des Abgrunds, der Annäherung an den aus ihm aufsteigenden Grund, führt der dritte Refrain auf die den Grund voll entfaltende Höhe, den Gipfel: „Heb mich auf deine höh / Gipfel – doch stürze mich nicht!“ Er wird auf eine Weise apostrophiert, die das genaue Gegenstück zu der am Gedichtanfang stehenden Evokation des Abgrunds bildet. So, wie der Abgrund nicht verwirren durfte, darf die erreichte Höhe den Dichter bzw. Sprecher nicht stürzen. Es handelt sich wiederum nicht um einen Befehl oder eine Bitte, sondern um ein zu imperativischer Rede zwingendes Zulassen höchster Erhebung, die sich geschickhaft vollzieht und zu der ein Wissen gehört, dass solches Erreichen und solcher Zuspruch absturzgefährdet bleiben. Damit ist durch den dreifachen Refrain zwischen Abgrund, Grund und Gipfel ein ganzer Zeitraum eröffnet, der einst in Hölderlins Feiertagshymne in umgekehrter Richtung „hoch vom Aether bis zum Abgrund nieder“ heraufbeschworen und gestiftet wurde (MA I, 262). So gilt es nun die Verknüpfung herzustellen zwischen den drei Refrains und den Strophen der drei Abschnitte und dabei der Frage nachzugehen, welche Weltstruktur und Weltdynamik sich daraus für den gedichteten Zeitraum ergeben. Die Strophen eins bis drei setzen dreifach mit einem „Wo“ ein, das sich auf den ganzen Erdkreis bezieht und beim dritten Mal in ein „Wo nicht mehr“ übergeht, das

    600 

     Bruno Pieger

    zur Mitte der Strophe wiederholt wird. Der Doppelpunkt am Ende jeder Strophe baut eine Folge von Blitzlichtern auf, die symptomatisch und exemplarisch für den eingetretenen Weltzustand stehen. Mit Gier, Grelle, Scham- und Maßlosigkeit sowie Erfindungswahn werden die menschlichen Verhaltungen gekennzeichnet und entsprechend zeigt und erweist sich die Welt als vermessen, vergiftet, verhässlicht, verschmutzt. „Alle poren der welt“ sind durch die Vorgabe sich ausbreitender Machenschaften versiegelt und am Atmen gehindert, und in einer gigantischen Architektur, die doch für viele nur eine normierte Parzelle zum Leben lässt, manifestiert sich die unselige Signatur der Epoche. Die Misere spitzt sich noch insofern zu, als laut der dritten Strophe Natur, Wildnis und Mythos als Garanten einer aus dem Unverfügbaren herkommenden Welterneuerung und Geschichtsgründung nicht mehr zum Menschen sprechen.25 In dieser Situation schlägt das Gedicht Geheimes Deutschland vor, den Abgrund wieder in sein Recht einzusetzen. So steuern die ersten drei Strophen, vorbereitet durch den Anruf des Abgrunds, auf eine doppelte Notlage zu: Die Maßnahmen gegen den Abgrund haben ihr Gegenteil erreicht und die Erde vor die absehbare Zerstörung der Lebensgrundlagen gebracht. Zugleich aber fehlt jedes Wissen, wie man sich zum Abgrund, der sich nicht abschaffen lässt, anders verhalten könnte. In dieser zwiefachen Notlage, also „den äussersten nöten“, geschieht in der vierten Strophe etwas, das auf den ersten Blick und dem gewohnten Verständnis nach allzu fantastisch erscheint oder so, als ob es nur ein Bild für etwas ganz Anderes sein könnte. Die äusserste Not zeichnet sich über alles Missliche und Ungenügende hinaus dadurch aus, dass es sich mit ihr wenden kann. Georges Wendewort lautet: ‚Da‘. Damit ist in seiner Dichtung, in der es an entscheidenden Stellen wiederkehrt, etwas Ereignishaftes ausgesprochen, das nicht willkürlich hergestellt oder rational erklärt werden kann, sondern sich als Überschuss aus einer Dimension zuspricht, die dem Menschen und insbesondere dem vom Dichter kritisierten Machbarkeitswahn entzogen und doch nicht ohne den Menschen ist. Das Unglaubhafte, das sich nun ereignet, erwächst dem Zusammenspiel der „Untern“ und der „Himmlischen“, also der erdhaften und der dem Äther einwohnenden Weltkräfte. Es bedarf dazu der sinnenden Sorge der chthonischen Mächte und der wohlgesinnten, Hilfe gewährenden Zuwendung der Himmlischen. Die Himmelskräfte sind die Handelnden, doch war das Sinnen der Erdmächte nicht umsonst. Nur unter dieser Voraussetzung vermögen die Himmlischen „ihr lezt geheimnis“ hervorzu-„holen“, wobei sich „ihr“ auch auf die Chthonischen bezieht, sie zumindest einschließt, wenn die Himmlischen nicht überhaupt „ihr“ oder zumindest auch „ihr“, also der Chthonischen Geheimnis hervorholen. Worin das Geheimnis liegt,

    25 Vgl. Silvio Vietta: „Etwas rast um den Erdball  …“. Martin Heidegger: Ambivalente Existenz und Globalisierungskritik. Paderborn 2015, bes. S. 135–188. Ferner ders.: Rationalität. Eine Weltgeschichte. München u. Paderborn 2012.

    

    Das Neue Reich · Zweite Textgruppe 

     601

    muss sich, ohne dass es sich auflösen lässt, noch erweisen. Jedenfalls „wandten“ „die Himmlischen“ „in den äussersten nöten“ und vorbereitet durch „die Untern“ „Stoffes gesetze und schufen / Neuen raum in den raum …“ Hier spätestens scheint uns der gesunde Menschenverstand zu verlassen. Und doch sind in diese drei Verse Grundlagen der abendländischen Metaphysik eingearbeitet, die George, ohne sie zu destruieren, neu anordnet und dadurch verwandelt. In der Entgegnung von chthonischen und himmlischen Daseinsmächten erscheint der Raum aufgespannt als so weit wie nur möglich. Gegen die Sicherheit der Raumbeherrschung, die in den drei Strophen zuvor als Raumverwüstung erkannt wurde, handelt es sich jetzt um einen Raum, der von den höchsten und tiefsten Weltinstanzen eingeräumt ist und in dessen Spielraum die menschlichen Akteure schon einbehalten und zur Mitwirkung aufgefordert sind. Das ‚Wenden‘ und ‚Schaffen‘, das die Daseinsmächte vollbringen, ist keine willkürliche Schöpfung, sondern ein Zubereiten der sich aus der Welt darbietenden gestaltfähigen Elemente, von dem ursprünglich selbst der dreidimensionale Raumbehälter profitierte. Während sich dieser aber zu einer Anschauungsform verselbstständigte und verabsolutierte, erweist sich der als „ihr lezt geheimnis“ zubereitete Raum von nun an immer als neuer Raum, da er seine Realisierung in lebendigen Gesten freigibt und sich durch sie erst konstituiert. Dass sich der Zusammenhang zwischen einräumendem Raum und dem Ort seiner Realisierung immer von Neuem ereignet, dabei verlagert und im Hier und Jetzt eingeholt, d.  h. gelebt werden muss, ist die eigentliche Weltschöpfung. Dann ist mit der vierten Strophe von Geheimes Deutschland aber auch der Raum eröffnet für das, was sich in den folgenden Strophen an verschiedenen Orten, Menschen und Dingen realisiert und das ‚Geheime Deutschland‘ als Orte schaffenden Raum unentwegt entstehen lässt.26 Die Strophenfolge ergibt sich aus dem Durchmessen dieses Raums. Noch vor dem zweiten Refrain liegt in der fünften und sechsten Strophe die Begegnung des Dichters mit dem „Mittagschreck“, der sich als eine Art Pan zu erkennen gibt. So wie der Dichter „tief-vergrämt“, also in tiefer Not auf einer Felsplatte am Mittelmeer liegt, wie es ähnlich schon „der Vorfahr“ getan hatte (Anspielung auf Goethe wie auf Nietzsche), muss ihn zunächst ein Vertreter der ‚untern‘ Mächte, die mächtigste Erscheinung der Wildnis, der „mit dem tierfuss“, anstoßen und – als seiner Daseinsmacht zustehende Gegenwendung zum Vergrämt-sein – einen gewaltigen Schreck einjagen. Der Auftrag, den die Panfigur in der sechsten Strophe erteilt, soll ihm die Augen für unverbrauchte Potentiale öffnen, für die eine Rückkehr „in die heilige heimat“ lohnt. Von ihnen wird analog zu erdhaften, der Wildnis zugehörigen Ressourcen gesprochen, doch markiert das einen Vergleich einleitende „Wie“ im Schlussvers der sechsten Strophe auch einen Unterschied, der darin liegt, dass nach der eingetretenen Weltverhässlichung und

    26 Ähnlich Christophe Fricker: Georges Gedicht ‚Geheimes Deutschland‘ (wie Anm. 23), S. 139: „Die Götter setzen nicht einen Raum an die Stelle eines anderen, sondern erschaffen einen Raum als einen immer wieder neuen.“

    602 

     Bruno Pieger

    -verwüstung das, was einmal Wildnis war, so nicht mehr da ist. Die siebte Strophe, also die erste nach dem zweiten Refrain, die den zweiten Abschnitt eröffnet, dichtet eine Begebenheit, die einer exemplarischen Gestalt – wir nennen ihn in Anlehnung an Bruno Latour den Akteur bzw. Handlungsträger –27 widerfahren und nun im Gegenschwung nicht auf die Erd-, sondern die Himmelskräfte bezogen ist. Die Widerfahrnis besteht darin, dass der davon betroffene Akteur […] am klippengestad Aus klaffendem himmel im morgenschein Ein nu lang die Olympischen sah[.]

    Die Korrespondenz zwischen klüftigem „klippengestad“ und „klaffendem himmel“ spannt den sich mit ihnen ausbildenden neuen Raum auf, weist in eine für jede Ebene und zugleich wechselseitig gegebene Durchlässigkeit und damit in die Verbundenheit von Erde und Himmel. Der Blick des Akteurs durchmisst aber nicht die Vertikale, sondern wird geradezu nach oben gerissen, wo er einen Blick auf die Götter des Olymps erhaschen kann. „Ein nu lang“ lautet die Zeitangabe, das Erschaute erweist sich als eine Momentaufnahme, ein augenblickliches Überwältigtsein, ein Nu, das anders als im Gedicht Vor-abend war es unsrer bergesfeier (SW VIII, 74) aus dem Stern des Bundes keineswegs das ganze Land erleuchtet. Vielmehr folgt auf diesen Einblick die radikale Scheidung zwischen Göttlichem und Menschlichem und dies in einem an Hölderlin gemahnenden Ausmaß, demzufolge „das gränzenlose Eineswerden durch gränzenloses Scheiden sich reinigt“28. Der Akteur kann von „grausen“ ‚geschlagen‘ – als von „Apollo geschlagen“ hatte sich Hölderlin bezeichnet –29 nicht mehr seinen Platz unter den Freunden finden und geht mit seinem Freitod in den Fluten ganz ins Tellurische ein. Wichtig ist, dass sich diese radikale Scheidung innerhalb des neuen Raumes vollzieht, der nicht auf bloße Dauer und Konsistenz angelegt ist, sondern auch Brüche und Entgegensetzungen umfasst und dadurch dynamisch bleibt. Dass sich Mensch und Gottheit wieder voneinander abkehren, heißt auch, dass der neue Raum mit der ersten Episode des zweiten Abschnitts noch nicht so weit austariert ist, um dem „grund“ stiftenden „sonnentraum“ völlig zu entsprechen. Warum aber „schlug“ den Akteur „ein solches grausen“? Das Grausen, das den Akteur ergreift, muss daran liegen, dass er einen Moment lang zwar das Höchste sah, was ihm als Mensch zu sehen aber nicht erlaubt war. Der griechische Topos, ‚dass ein Mensch, der einen Gott erblickt, sterben muss‘,30 kommt hier ins Spiel und verfügt im Sinne

    27 Vgl. zuletzt die kritische Fortentwicklung der Akteur-Netzwerk-Theorie in Bruno Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Berlin 2014, und – auch im Hinblick auf Dichtung wichtig – ders.: Jubilieren. Über religiöse Rede. Berlin 2011. 28 So Hölderlin in den Anmerkungen zum Oedipus, MA II, 315. 29 Hölderlin an Casimir Ulrich Böhlendorff, Brief vom November 1802, MA II, 921. 30 So die Formulierung von Reinhard Wünsche in: Die Unsterblichen Götter Griechenlands. Ausstellungskatalog. Hg. v. Florian S. Knauß. München u. Lindenberg im Allgäu 2012, S. 381.

    

    Das Neue Reich · Zweite Textgruppe 

     603

    von Hölderlins Einsicht in die sich wie von selbst vollziehende Scheidung über das Schicksal des Genannten. Sein Sprung in die Fluten, bei dem nicht nur an denjenigen Sapphos vom leukadischen Fels, sondern ebenso an den von Empedokles in den Ätna zu denken ist, dient nicht allein der Wiedervereinigung mit dem mütterlichen Grund bzw. einer Initiation durch Hingabe an den göttlichen Ursprung. Vielmehr erfolgt das geschickhaft auferlegte Selbstopfer zugunsten des neuen Raums, den der Akteur als erster, der ihn erkunden durfte, von seiner wissenschaftlichen Deutung wie von seiner Götterschau her notgedrungen zu extrem und exzentrisch aufnehmen musste. Nun darf auch erwähnt sein, dass George in dieser Strophe das Schicksal des jungen Archäologen Hans von Prott neu gestaltet hat, der sich überwältigt von Einsichten in das Wesen griechischer Gottheiten 1903 in seinem Athener Arbeitszimmer erschoss.31 Seine Forschungen führten ihn wiederholt in die Gegend von Sparta, wo sich zwischen dem Parnon und dem Taygetos eine Gegend erstreckt, die zwischen Weite und Geschlossenheit, zwischen dem Ragenden ihrer zerklüfteten Berge und dem Hingebreiteten ihrer fruchtbaren Ebene selbst wie die Anzeige eines neuen Raums erscheint.32 Während die siebte Strophe den Raum mit dem tödlichen Blick auf die Himmlischen mehr von oben her aufbaute, setzt die achte Strophe von unten her an. Die vorwiegend horizontal ausgerichtete Stadt betreibt ihre eigene Nichtigkeit und übersieht, dass ein den Erdmächten verpflichteter Dämon den vom Pflaster versiegelten und von einer Vielzahl hässlicher Bauten verstellten Boden schon zum „wanken“ gebracht hat. Auch hier waltet ein Extrem. Der Dämon, die Erdkräfte, vermögen von sich aus den Boden zwar zu lockern und empfänglich zu machen, aber sie können nicht das gültige Bild finden und gestalten. Dafür bräuchte es die Entgegnung von Seiten der Obern, das Zusammenspiel von Abgrund und Sonnentraum. Beim hier genannten Dämon darf man als Akteur an Alfred Schuler denken, auf den George in seinem Werk wiederholt anspielt und dem er zutraut, bei aller Wirrheit mit erdhaften Kräften im Bunde zu stehen. Dabei tritt er stellvertretend für die Münchner Kosmik auf, die sich als Medium einer kosmischen Flut verstand, deren Erdströme sie aber nicht zu verkörpern wusste, obwohl sie die Erscheinung eines göttlichen Knaben herbeisehnte. Die Einverleibung der erdhaften und himmlischen Kräfte gelingt erst der als „ER“ hervorgehobenen Gestalt der neunten Strophe, die so auftritt, dass sie am Ende „der Gott“ genannt werden darf. Wie wird sie als Akteur eingeführt? Seinem Erscheinen bleibt das hier zweimal verwendete „Da“ vorbehalten, mit dem in Georges Dichtung die Epiphanie angezeigt wird. Das „Da“, das zu Beginn der siebten Strophe den zweiten

    31 Die historischen Bezüge finden sich bei Claus Victor Bock u. Conrad M. Stibbe: Stefan George und die Göttervision des Archäologen Hans von Prott. In: CP 29 (1980), H. 145, S. 5–34, und bei Marita Keilson-Lauritz: Hans von Prott und das ‚geheime‘ Deutschland. In: CP 30 (1981), H. 148–149, S. 18–34. 32 Claus Victor Bock u. Conrad M. Stibbe: Göttervision des Archäologen Hans von Prott (wie Anm. 31), S. 23; vgl. auch Conrad M. Stibbe: Das andere Sparta. Mainz 1996, S. 17.

    604 

     Bruno Pieger

    Abschnitt einleitete, bezog sich nur auf ein Hörensagen, doch jetzt gilt es der erinnernden Vergegenwärtigung dessen, der leibhaftig „da stand“ und durch den selbst in „winters“ Kälte der Raum um ihn zu leuchten begann. Diese Lesart ist gegenüber einer rein empirischen, die sich auf ein Faschingsfest im Februar 1904 bezieht, zu bevorzugen. Auf Hölderlins ‚Saal‘-Metapher, ein konstitutives Element seiner Spätdichtung (MA I, 310, 361, 374), sei ausdrücklich verwiesen. Auch das ‚Da-Stehen‘ ist stark zu machen, da mit ihm am aufrechten Leib die Vertikale des neuen Raums gesetzt ist. Was der Akteur in sich verkörpert und welchen Weltkräften er sich dabei einverleibt hat, geben der zweite und der dritte Vers aufs Zarteste zu verstehen. Das Schimmern der Schulter als Transparentwerden der Haut, die ähnlich der Lichtdurchlässigkeit einer Marmorskulptur Licht aufnimmt und darüber erstrahlt,33 wird „vom leibrock verhüllt“, bei dem an einen aus Linnen gefertigten und an antike Kleidung erinnernden Überwurf zu denken ist. Das einverleibte Licht weiß sich in den irdischen Stoff geborgen und scheint durch ihn hindurch um so mehr zu leuchten. Das „feuer der wange“, also wiederum ein Hautphänomen, bedeutet nicht so sehr innere Erregung, vielmehr stellt sich diese erst durch ein Angestrahlt-Werden ein, das den Akteur von außen ergreift und das zugleich durch den Schatten und die Auszeichnung gemildert ist, die der einem Gewächs der Erde verdankte Lorbeerkranz spendet. Das gegenwendige Dastehen in der Einverleibung von Erde und Himmel bewahrt („umhegt“) „vor den blicken der blöden“, also einer Öffentlichkeit, die nichts von diesem neuen Raum zu erkennen vermag. Er konstituiert sich in den folgenden drei Versen weiter durch ein entsprechendes Bewegungsverhalten des Akteurs, der in die Horizontale ausschreitet und dabei vom „frühlingswehn“ umfangen wird. Das Begehen der Bahnen und das Wehen der Frühlingsluft bilden in ihrer zarten Entgegnung eine Atmosphäre aus, die in der Synästhesie der Wahrnehmung den Raum auch horizontal öffnet. Es zeugt von einer hohen Kunstfertigkeit Georges und seinem Einblick in entsprechende Phänomene, dass er den neuen Raum an unscheinbaren Gesten und Gebärden, Wahrnehmungen und Empfindungen abzulesen versteht. Dass sich darin die Begegnung mit Maximilian Kronberger im München der Jahre 1903 und 1904 spiegelt, darf an dieser Stelle vermerkt werden. Opfer im engeren oder weiteren Sinn des Wortes erbringen die Gestalten, denen die Strophen gelten, die auf die neunte, den Gott vergegenwärtigende folgen. Die zehnte weiß von einem Akteur, der als der viel und tief Wissende vorgestellt wird, dem als „fänger unfangbar“ das Wissen aber nicht zu einer festgefahrenen Welt­ anschauung gerinnt. Er weiß um die Grenze allen Wissens und ist von daher auch der Bekenner und zunächst dem Dichter wie der Gotteserscheinung „die apostelgestalt“. „Der horcher der wisser“ nimmt sich ganz zurück, gesteht sein Nicht-fassen-Können ein und lässt in der opfernden Geste des Verstummens den neuen Raum im „Da“ des Gottes umso mehr hervortreten. Es sind in diese Strophe Daseinszüge Karl Wolfskehls

    33 Das Phänomen spricht durch sich selbst, nicht erst als Anspielung auf Horaz: Carmina I, 2.

    

    Das Neue Reich · Zweite Textgruppe 

     605

    eingegangen, der zu den ersten von Georges gleichaltrigen Freunden gehörte und dem Dichter auf eigene Weise bis ans Lebensende im neuseeländischen Exil die Treue hielt. Auf das sogenannte Kugelzimmer in Wolfskehls Münchner Wohnung, das er seinem Meister und nahen Freunden für Zusammenkünfte zur Verfügung stellte, wird in dieser Strophe („unterm milchigen glast / Der kugel“) ausdrücklich angespielt. Nach der den Ersten Weltkrieg als mythisches Geschehen aufrufenden elften Strophe tritt in der zwölften ein Akteur auf, der „heiterste ruh“ ausstrahlt und damit nur verbirgt, dass er sich „im halt des gefährten […] verzehrt“ hat. „Sein ganzes dasein“ erscheint dem Dichter wie „ein opfer“. Als Vorbild für den Akteur dieser Strophe diente Ernst Glöckner, der sich in der Sorge um seinen Freund Ernst Bertram verzehrte. Die dreizehnte Strophe handelt ebenfalls vom Mit-Sein im neuen Raum, hier von der Beziehung zwischen dem Meister und einem von ihm geliebten, ja blutmäßig, aber nicht nur verwandtschaftlich mit ihm verbundenen Jünger, der jedoch fortgeht. Dieser war selbst ein Dichter, doch gelang es ihm nur, „dem besten sang“, also dem des Meisters, nachzusingen.34 Darin war er zwar der Beste, doch bleibt ein epigo­ naler Rest, der ihn von aller ursprunghaften, Welt entbergenden Wortfindung abhält. Um das ‚kostbare gut‘ der Dichtkunst wissend, ist er nicht bereit, sich mit der imitatio zufriedenzugeben. Mit dem ‚lässigen‘ Zerbrechen seines Instruments und dem Zurücktreten unter die Menschen verweist er stärker auf das ‚kostbare Gut‘, als es ein Weiterdichten vermocht hätte. Entsprechend bleibt auch die Verbindung zum Dichter im Wegtreten inniger erhalten als in der falschen Nähe der Nachahmung – auch dieses ungewohnte Verhältnis zwischen Nähe und Ferne zeichnet den neuen Raum aus. Der Akteur lässt an Saladin Schmitt denken, der sich um 1905 dem Dichter beinahe unterwürfig näherte und ihm Gedichte schickte, die George z.  T. lange liegen ließ, bevor er sie an mancher Stelle gebessert in die späteren Folgen der Blätter für die Kunst aufnahm. Zwischen ihm und Schmitt kam es zu einigen Begegnungen. Schmitt wandte sich um 1910 dem Theater zu und wurde später Präsident der deutschen Shakespeare-Gesellschaft. Das Zerbrechen der Laute spielt auch auf Shakespeares Drama Sturm an, in dem Prospero am Ende seinen Zauberstab zugunsten höherer Mächte zerbricht. Schmitt, dessen Gedichte ein inniger Ton auszeichnet, hatte Den Entschwundenen selbst zwei Gedichte gewidmet, darunter Die so gegangen sind was ward aus ihnen?35 In der letzten Strophe des zweiten Abschnitts fragt der Dichter einen weiteren Akteur, der als „das hundertäugig allkunde Gerücht“ und als „ungern Erstaunter“ ein-

    34 Vgl. zu dieser einleuchtenden Deutung Christophe Fricker: Georges Gedicht ‚Geheimes Deutschland‘ (wie Anm. 23), S. 157  f. 35 BfdK X, S. 152 u. BfdK XI/XII, S. 227. Beide Gedichte zusammengeführt in: Saladin Schmitt: Die so gegangen sind. Seine Gedichte und sein Verhältnis zu Stefan George. Hg. u. erzählt v. Robert Boehringer mit G. P. Landmann im Auftrag der Stefan George Stiftung. Düsseldorf u. München 1964, S. 52  f.

    606 

     Bruno Pieger

    geführt wird, ob ihm so etwas schon begegnet wäre, und erhält als Antwort: „›Alles – doch solches noch niemals‹.“ Er, dem nichts in Geschichte und Gegenwart unbekannt ist und der sich noch in der Gerüchteküche auskennt, weiß nicht um das, was sich hier ereignet hat. Die Empfänglichkeit für ein ,Übermaß an Historie‘ verbaut dem Akteur dieser Strophe ein Wissen um das, wofür die Gestalten der vorausgehenden Strophen stehen. Für sie ist die tiefere Bedeutung von ‚Gerücht‘ heranzuziehen, das sich über das aus dem Lateinischen stammende Fremdwort ‚Fama‘ erschließt. Es geht auf das Griechische zurück und meint ursprünglich „die Offenbarung, Kundgebung des bisher Unbekannten, Verborgenen, namentl. des Zukünftigen“36. In diesem Sinn weisen die Episoden des zweiten Abschnitts, für die Presse, Geschichtsschreibung und der gesunde Menschenverstand weitgehend taub sind, in einen neuen Raum zwischen Erde und Himmel, der sich erst im Da-Stehen, Sich-Verhalten und Zurücknehmen der ihm zugehörenden Protagonisten ausbildet und auf künftige Erneuerung angewiesen bleibt. Ob mit dem Akteur dieser Strophe an Berthold Vallentin gedacht ist, muss offenbleiben. Er war Richter, Historiker, Dichter und Lebemann, also in mehrfacher Weise mit Geschichte und Geschichten vertraut. Wie ist aber die Weltkriegsstrophe zwischen die anderen Strophen geraten? Man darf Christophe Fricker zustimmen, dass die entsprechende Strophe zwar die im Gedicht dargestellten Abläufe historisch grundiert, aber aufgrund der „Unverbundenheit“ mit ihnen vor allem die von George ausgegebene „Parole Nichtbeteiligung“ unterstreicht.37 Dies lässt sich nun dahingehend präzisieren, dass der neue Raum von den Zerstörungen des Krieges nicht vernichtet und in den von ihm eingeräumten unscheinbaren Gesten der Teilhabe, ob davor oder danach, wieder von Neuem gegründet wird. Dass George in diesem Sinn Begebenheiten aus der Zeit davor für die Zeit danach heranziehen konnte, stützt im Übrigen die These, dass Geheimes Deutschland in der Hauptsache 1915/1916 entstanden sein muss. Aber man wird dem Machtvollen der Weltkriegsstrophe damit noch nicht gerecht. Sie gibt ein gewaltiges mythisches Bild für das Gemetzel der Schlachten, die Zerstörungen, die Untergänge. Die „fosforwolken“ stehen für die Brand- und Nebelwirkung von weißem Phosphor, der im Ersten Weltkrieg erstmals waffentechnisch genutzt wurde.38 „Rauchende erden“ erinnert an die versehrte und gebrandschatzte Erde, „Volltoniges brausen“ liegt sehr nahe an der Realität der Bombenexplosionen, Granateinschläge und Maschinengewehrsalven. „Der friedfertigen ordnung bezirk“ ist also die vermeintlich geregelte Ordnung friedlichen, gutbürgerlichen Zusammenlebens, die sich in eine Gefahrenzone unvorstellbaren Ausmaßes verwandelt. Erst durch ihre beiden letzten Verse, die „die silberhufigen rosse“ durch die Staubwolken der Ruinenlandschaften „stürmen“ sehen, verwandelt

    36 Franz Passow: Handwörterbuch der griechischen Sprache. Zweiter Bd., zweite Abteilung. 5. Aufl. Leipzig 1857. Unveränd. Reprograf. Nachdr. Darmstadt 1983, S. 2236. 37 Christophe Fricker: Georges Gedicht ‚Geheimes Deutschland‘ (wie Anm. 23), S. 155. 38 Vgl. den einschlägigen Wikipedia-Artikel [Stand: 24. 5. 2016]

    

    Das Neue Reich · Zweite Textgruppe 

     607

    sich der in seiner ganzen Zerstörungskraft wahrgenommene Krieg in ein mythisches Geschehen. Für dieses Bild muss nicht zu viel germanische Mythologie beigezogen werden. Schon in der Antike standen die Rosse für die doppelte Symbolik, einerseits die Kämpfer zur Schlacht und zurück zum Lager und die Gefallenen ins Totenreich zu bringen und andererseits eine enge Verbindung mit den Lebensquellen von Licht und Wasser einzugehen.39 So bleibt das Kriegsgeschehen auf mythischer Ebene doppeldeutig: Es kann die bloße Vernichtung des Überlebten bedeuten, sofern die Worte aus dem Gedicht Der Krieg gelten: „Erkrankte welten fiebern sich zu ende / In dem getob.“ (SW IX, 24) Es kann sich aber auch durch die Zerstörung hindurch etwas Reinigendes und Lebenserneuerndes ankündigen. Dies führt nun zur Hauptsache, was die strukturelle Verankerung der Weltkriegsstrophe im Gesamt des Gedichts angeht. Eine Ambivalenz zwischen endgültiger Vernichtung und dem produktiven Zauber der Zerstückung hatte bereits im Stern des Bundes das zweite Zehnt des Ersten Buches durchzogen. Die in sich schon doppeldeutige Weltkriegsstrophe muss nun im Gegenlicht des dritten und letzten Abschnitts von Geheimes Deutschland gelesen werden, der selbst von einem Untergehen spricht. Erst die Differenz gegenüber den „vielen untergängen ohne würde“ – so Der Krieg (SW IX, 24) mit der vagen Aussicht, dass aus dem „schutt […] ein leben sich entzünde“ – so der Stern des Bundes (SW VIII, 35) –, und dem Untergehen zugunsten des neuen Raums, lässt diesen und damit den Ort des ‚Geheimen Deutschland‘ ganz hervortreten. Nachdem im zweiten Abschnitt die Stationen durchlaufen sind, der Raum gegründet und der Gipfel erreicht ist, meldet sich im dritten Refrain ein Bedenken. Er ruft den „Gipfel“ an und gibt ihm die Erhebung auf seine „höh“ zu, sieht aber auch die Gefahr, davon gestürzt zu werden. Darauf folgt der kurze, nur zwei Strophen umfassende Abgesang des dritten Abschnitts. Die erreichte Höhe steht also in der Gefahr, für etwas Endgültiges, Gesichertes und Zufriedenstellendes gehalten zu werden. Sie stünde dann aber nicht mehr im Horizont dessen, was „die Untern“ und „die Himm­ lischen“ als ihr „lezt geheimnis“ hervorgeholt hatten. Der weiteste Spielraum zwischen Erde und Himmel muss als das Äußerste, das ‚eschaton‘, den Akteuren des ‚Geheimen Deutschland‘ vorausbleiben. Von daher halten sie ihre Höhe nur, wenn sie das Erreichte zurückzulassen fähig sind und in diesem Sinne untergehen. Jede der um die Gotteserscheinung gruppierten Begebenheiten des mittleren Abschnitts hatte ein Opfer verlangt. Der dritte Abschnitt wendet sich gegen die Gefahr der Verkehrung in einen endgültigen Besitz und eine geronnene Weltanschauung. Bezeichnenderweise richtet sich der Dichter nun direkt an die ihm Nahestehenden, die zu Trägern des ‚Geheimen Deutschland‘ erkoren sind, und spricht sie als „brüder“ an. Das heißt: Was nun gesagt werden muss, lässt nicht nur sie, sondern auch den Dichter zweifeln und erschauern. Jedoch gibt er das zwischen Abgrund und angewachsenem Grund wohl erwogene

    39 Vgl. etwa Wörterbuch der Symbolik. Hg. v. Manfred Lurker. 3. Aufl. Stuttgart 1985, S. 525  f.

    608 

     Bruno Pieger

    „mahnwort“: Das, was die Seinen am meisten „emporhebt“ und für sie den größten „wert“ darstellt, ist für sich genommen nur „faules laub […] im herbstwind / Endesund todesbereich“. Aber das in Frage stehende Untergehen ist kein bloßes Verenden, keine endgültige Nichtigkeit, sofern es sich für das aus dem Äußersten Entgegenkommende freigibt. Dafür stehen nur der Doppelpunkt am Ende der fünfzehnten und der wortlose Übergang zur sechzehnten Strophe. So wie im Herbst das Laub fault und den Humus für neues Wachstum liefert, verwandelt sich in ihr – nach der Berührung mit dem Letzten, in dem Ende und Anfang nicht zu unterscheiden sind – das Untergehen in ein ‚undeutbares‘ Aufgehen, das auf lange „im schützenden schlaf“ und in „weihlicher erde […] ruht“, also dem Bewusstsein so sehr entzogen ist, dass es nicht erspürt und gefühlt und erst recht nicht gewusst und erwirkt werden kann. Diese Latenz- und Inkubationszeit, die einen Moment oder Jahrhunderte lang dauern kann, ist maßgebliche Voraussetzung für das „Wunder“ der Lebenserneuerung, das „Geschick wird des kommenden tages“.

    Ray Ockenden

    Interpretationen von Der Gehenkte, Der Mensch und der Drud, Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann und Der Brand des Tempels (SW IX, 51–69) Die dritte Textgruppe des Neuen Reichs bringt vier Stücke, bei denen schon am Layout erkennbar ist, dass sie sich dramatischer Form nähern. Sie werden gelegentlich zusammenfassend ‚Gespräche‘ genannt,1 obwohl nur die ersten drei in dialogischer Form verfasst sind. Das vierte Stück bezeichnet Klussmann, der die ganze Gruppe als „szenische Gedichte“ behandelt, als „ein lyrisches Drama“2. Was an den Stücken auffällt, ist ihre Vielfalt, vor allem was Thema und Behandlung angeht, und insofern passen sie gut in eine Gedichtsammlung, die man als genauso variantenreich bezeichnen könnte. „Kein anderes Werk [Georges] ist inhaltlich und formal so heterogen wie Das Neue Reich“, stellt Ernst Osterkamp fest.3 Alle vier Gedichte erinnern an die Mehrstimmigkeit George’scher Gedichte, an die vielen Rollengedichte in seinem Werk, und an das Dialogische, das ein Grundzug seiner Dichtung ist4  – was wiederum an Georges schwankendes und zwiespältiges Verhältnis zum Drama mahnt. Es ist zu bedauern, dass im Handbuch Stefan George und sein Kreis dieses Kapitel seines Schaffens nur gestreift wird, wohingegen sein Verhältnis zur Musik als auch zu den bildenden Künsten gründlich untersucht wird.5 Wie wichtig das Drama für George in seinen literarischen Anfängen war, lässt sich daraus ersehen, dass er schon in der Schulzeit (neben den Gedichten, von denen wir einige Proben haben) Dramen schuf. Aus seiner Jugend stammen die uns überlieferten Dramenfragmente Phraortes und Graf Bothwell und ein verschollenes Römerdrama.6 Über

    1 So BG 529 u. EM I, 446. 2 Paul Gerhard Klussmann: Spruch und Gespräch in szenischen Gedichten des Spätwerks von Stefan George. In: WuW 102–113, hier 111. 3 GHb I, 204. Dass dies jedoch keineswegs positiv verstanden sein will, zeigen Urteile an gleicher Stelle, z.  B. wenn von der „inneren Zerklüftung“ des Buches die Rede ist. 4 Dazu Jürgen Wertheimer: Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen. München 1978. 5 Das hängt vielleicht damit zusammen, dass der Schlussband der George-Gesamtausaugabe, der Georges dramatische Werke enthält und laut Ankündigung „Szenen aus Manuel und anderes meist in dramatischer Form“ enthalten sollte (SW XVIII, 117), in GHb I nicht betrachtet wird. 6 Stefan George: Phraortes, Graf Bothwell. Zwei dramatische Fragmente aus der Schulzeit. Hg. v. Georg Peter Landmann. Düsseldorf u. München 1975. Für das Römerdrama vgl. EM I, 455 u. SW IX, 156; Oelmann vermutet hier, es habe Eudoxia geheißen. Dieses scheint aber, nach Landmanns Einführung, ein Drama von Georges Freund Carl Rouge gewesen zu sein.

    610 

     Ray Ockenden

    beinahe acht Jahre erstreckt sich die Arbeit an dem Drama Manuel7; etwa gleichzeitig mit dessen letzter Stufe entsteht die dramatische „Sage“ Die Herrin betet, einige Jahre später das Weihespiel Die Aufnahme in den Orden.8 Zum Thema ‚George und das Drama‘ findet man, neben der Diskussion der einzelnen Werke bei Morwitz,9 einige Hinweise bei Klussmann10 und in Landmanns Einführung zu den Dramenfragmenten.11 Grundlegendes bietet der Überblick, den Oelmann im Anhang zum Schlussband der Werkausgabe gibt (SW  XVIII,  117–120), und der Vortrag von Gerhard Hay von 1968.12 Ausgiebig sind Theorie und Praxis des Dramas im George-Kreis jetzt in der Dissertation von Franziska Merklin behandelt, die den in den Blättern veröffentlichten dramentheoretischen Texten besondere Aufmerksamkeit schenkt.13 Von den szenischen Gedichten wird bei Merklin nur Der Brand des Tempels besprochen, obwohl zwei weitere in einem vollständigen „Verzeichnis der Dramen und dramentheoretischen Texte der ‚Blätter für die Kunst‘“ aufgeführt sind.14 Trotz der großen Unterschiede zwischen den vier Stücken weisen sie gewisse Ähnlichkeiten auf; in allen herrscht eine gewisse Zeitlosigkeit. Drei Gedichten gemeinsam ist der Blankvers; das Gespräch des Herrn mit dem Römischen Hauptmann, in dem der Herr eine Christusfigur verkörpert und der Hauptmann – obwohl in römischen Diensten – einen griechischen Namen führt, zeigt dagegen die Form des (griechischen) Trimeters, verwendet also (mit zwei Ausnahmen) jambische Hexameter. Im Stil scheinen sie Merkmale der früheren Dichtung zu kombinieren: einerseits die Mannigfaltigkeit des Siebenten Rings, andererseits die Lakonik des Sterns des Bundes, die typisch für den späten George ist. Nach Karlauf wird in diesen Gedichten „der Mensch mit geheimen Mächten der Natur konfrontiert“, was sehr wohl auf Der Mensch und der Drud passt, aber kaum auf die anderen Gedichte (vgl. TK 582). Für Edith Landmann werden hier „unversöhnbare Gegenmächte verdeutlicht“15. Ähnlich urteilt Morwitz: „Die vier Gespräche behandeln die heutigem Tun entgegenwirkenden Kräfte, die Gegen-Kräfte.“ (EM I, 457) Ob diese Kräfte bereits wirken, ist zweifelhaft; auch ist nicht anzunehmen, dass alle erwähnten Kräfte positiv aufzufassen sind, wie Morwitz zu glauben scheint. In den drei ersten Gedichten, den echten Dialogen, wird ein Mensch mit etwas konfrontiert, was er nicht 7 Vgl. die Anmerkungen in SW XVIII, 129 u. 132–133. 8 Zur Datierung SW XVIII, 134 u. 136. 9 EM I, 457  f., u. II, 105–118. 10 Paul Gerhard Klussmann: Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und des Dichters in der Moderne. Bonn 1961, S. 75–80. 11 Georg Peter Landmann (Hg.): Stefan George: Phraortes, Graf Bothwell (wie Anm. 6), S. 5–10. 12 Gerhard Hay: „Theatermache durch das Schaubedürfnis der Massen“. Georges Auffassung vom Thea­ter. In: SGK 231–241. Vgl. auch die sich anschließende wichtige Diskussion, ebd. S. 241–47. 13 Franziska Merklin: Stefan Georges moderne Klassik. Die „Blätter für die Kunst“ und die Erneuerung des Dramas. Würzburg 2014. 14 Ebd., S. 211. 15 Edith Landmann: Stefan George. Das Neue Reich. In: Logos 20 (1931) H. 1, S. 88–104, hier S. 95.

    

    Das Neue Reich · Dritte Textgruppe 

     611

    leicht versteht; das müssen wir vom Frager in dem Gehenkten annehmen, obwohl wir fast nichts von ihm wissen. Wovon diese fremden Stimmen sprechen, ist unterschiedlich, aber ein Bildkomplex ist allen gemeinsam, nämlich das Bild vom ‚Rad‘, ‚Ring‘ oder ‚Reigen‘. Dem entspricht im Brand des Tempels der flüchtige Blick am Schluss auf einen zyklischen Prozess. Dieses Bild hat nicht direkt mit dem Kreisgedanken zu tun, ist ihm aber verwandt. In ihm verkörpert sich, was in dem prophetischen Wort (ob des Sehers oder des Gottes bleibt offen) steht: „Aus einer ewe pfeilgeradem willen / Führ ich zum reigen reiss ich in den ring.“ (SW VIII, 25) Nicht gegen die Moderne schlechthin steht George, sondern gegen die „gepriesene herrschaft des fortschritts“ (BfdK IX, S. 4). Der Ring deutet – trotz der notwendigen Hierarchie von Mitte und Peripherie – auf eine Ganzheit, die alle Gegensätze in sich vereint und dem einseitigen Denken der modernen Zeit widerstrebt; er deutet auf ein Zusammenwirken und verheißt Bleibendes „durch steigend und stürzende zeit“ (SW VIII, 18).

    Der Gehenkte Der erste Dialog, der genau in der Mitte des Neuen Reichs steht (SW  IX, 52),16 ist kaum als solcher zu erkennen, da der ‚Frager‘ nur einen Satz spricht und die Rede des Gehenkten kaum als Antwort darauf zu verstehen ist. Die Angabe von Morwitz, „am Anfang […] sind, nach Aussage des Dichters, etwa fünf Verse im Druck fortgelassen worden“, kann das zum Teil erklären, aber die Rede des Toten bleibt trotzdem eine monologische Aussage. Dieses Stück ist oft als „eines der letzten Gedichte Georges“ bezeichnet worden,17 da es erst im Winter 1927/1928 handschriftlich auftaucht.18 In Anbetracht der Morwitz’schen Notiz wäre zu erwägen, ob der Dichter sich nicht schon länger mit dem Stoff beschäftigt hatte, sozusagen als work in progress, und erst im letzten Augenblick beschloss, das Gedicht in dieser beschnittenen Form zu veröffentlichen. Wer dieser Frager ist, bleibt also dunkel.19 Die Rede des Gehenkten ist in drei fast gleich lange Teile gegliedert, jeweils mit dem Wort „Als“ beginnend und jeweils eine andere Szene anbietend: Klussmann spricht hier von einer „Bühne der Phantasie“, die der Sprecher vor uns eröffnet.20 Die erste Szene spielt auf dem Weg zum Galgen. Was der Sprecher jetzt sieht, sind 16 Wolfgang Frommel: Templer und Rosenkreuz. Ein Traktat zur Christologie Stefan Georges. Amsterdam 1991, S. 235. 17 CD 366. Schon für Wolters galt es als „ein neues Gespräch“: BG 529. 18 EO 27. Osterkamp erklärt die Angabe von Morwitz für „wichtig“, geht jedoch nicht weiter auf sie ein: Ebd., S. 279. 19 Jedenfalls wird man ihn kaum als Gott identifizieren wollen, wie einmal postuliert wurde: Hilde Gottschalk: Wesen und Form der Gespräche aus dem Kreis der „Blätter für die Kunst“. Limburg a.d. Lahn 1932, S. 19 u. S. 31. 20 Paul Gerhard Klussmann: Spruch und Gespräch (wie Anm. 2), S. 107.

    612 

     Ray Ockenden

    nicht, wie oft angenommen wurde, die versammelten Mitglieder des Bürgertums. Die ganze Stadt ist zusammengekommen, und das Verhalten der Anwesenden als Steinwerfer und neugierige Gaffer macht deutlich, dass sie zum Volk gehören: Die lebhafte Beschreibung erinnert stark an die Gemälde Bruegels. Zuerst erkennt der Verbrecher die eigenen Frevel (die nicht spezifiziert werden und daher hier belanglos sind) in jedem der Zuschauer, „nur schmäler oder eingezäumt durch furcht“. Die Gedanken des Kriminellen umfassen die allgemeine Feststellung, dass jeder den Stoff zu einem Frevel in sich birgt, nur jener aber stark genug war, dieses Potential auch in die Tat umzusetzen. Aber diese Erkenntnis macht den Sprecher nicht zu einem Verächter seiner Mitmenschen, wie viele Interpreten meinen. Im Gegenteil: Es sind die Zuschauer, die, wie emphatisch gesagt wird, ihn verwünschen und verachten. Die zweite Szene bringt uns zum Hinrichtungsort außerhalb der Stadt, wo die Honoratioren, die ihn Verurteilenden, versammelt sind; zugegen sind vielleicht auch die Frauen und Mädchen, die er erwähnt. Es ist wiederum wichtig festzustellen, dass der Sprecher nicht die Tugend angreifen oder verleugnen möchte. Er hat gegen die Tugend gesündigt, die diese feineren Herrn und Frauen vielleicht (das lässt er offen) verkörpern. Aber er weiß: Ein solcher Begriff ist Sache der schwankenden Mode, ist kein Absolutes, denn „was gestern als Frevel galt, werde morgen als große Tat gefeiert“21. Die Hüter der sozialen Ordnung bedürfen des armen Sünders; nur durch sein (wiederum nicht präzisiertes) Verbrechen kann die Tugend gedeihen. Man definiert das Gute letztlich als Gegenpol des Schlechten; indem die anderen nur einseitig denken, nimmt der Sprecher ein Ganzes wahr. Im dritten Teil, im Moment, in dem er aufgehängt wird, richten sich die Gedanken des Verurteilten in die ferne Zukunft. Er wird in dem Denken der Gemeinschaft fortwirken, er wird gefeiert werden im Lied (dass Kriminelle in den Volksliedern und Balladen vieler Kulturen besungen werden, ist wohlbekannt) und schließlich wird er „als Gott“ wirken. Dass er so „wirkt“, etwa als neuer religionsstiftender Impuls, heißt nicht unbedingt, dass er zum Gott wird. Aber jedenfalls könnte man Osterkamps Frage „Muss es denn unbedingt wieder ein Gott sein?“ (EO 34) so beantworten: Hier wird an den einen Verbrechertod sterbenden Christus erinnert. Dass ein Ausgestoßener gesellschaftserhaltend wirken kann, beweist die Idee des Sündenbocks (SW IX, 153). Für Osterkamp hat George eine ‚Ästhetik der Plötzlichkeit‘ aufgestellt und mit dieser Plötzlichkeit sei der neue Gott identisch; in gleicher Weise sei Georges neues Reich auf einmal da (EO 33 u. 38). Diese Idee einer „Abkopplung aller Gestalt von der Geschichte“ (EO 39) scheint sich nicht mit dem Wort „einst“ zu vertragen und besonders nicht mit den Versen: „in euren samen / Wirk ich als held auf den man lieder singt / Als gott“ (SW IX, 52). Es ist von einem langsamen Prozess die Rede, von „wirken“. Das Wort „samen“ erinnert an die Verheißung Gottes an Abraham („durch deinen Samen sollen alle

    21 Klaus Landfried: Stefan George – Politik des Unpolitischen. Heidelberg 1975, S. 46.

    

    Das Neue Reich · Dritte Textgruppe 

     613

    Völker auf Erden gesegnet werden“) und mit sehr ähnlichen Worten an Jakob,22 die sich auf zahllose Generationen erstreckt; nicht weniger lang wird die Dauer der verhießenen Feindschaft zwischen dem Samen der Schlange und dem des Weibes sein.23 In diesen Kontexten deutet das Wort ‚Samen‘ auf die Bedeutung ‚Sperma‘; aber in seiner Bedeutung als ‚Samenkorn‘ steht es für einen in Georges späteren Gedichten wichtigen Begriff.24 Frommel erinnert an geschichtliche Beispiele der „Verwandlung vom Verachteten zum Gepriesenen, ja vom Gemarterten zum Heiland“ und zitiert Goethe: „Sünde und Verbrechen“ seien als „Fördernisse des Heiligen zu verehren und liebzugewinnen“25. In ähnlichem Sinne argumentiert Landfried.26 Tatsächlich ist zu vermerken, dass George in seinen Gedichten gelegentlich den Verbrecher darstellt und mit ihm zu sympathisieren scheint. Frühere Gedichte wie die nebeneinanderstehenden Die Verrufung und Der Täter handeln von schlimmen Taten (SW  V,  44  f.). Im dritten Jahrhundertspruch im Siebenten Ring wird denen, die hungrig auf eine große Tat sind, gesagt: „Vielleicht wer jahrlang unter euren mördern sass / In euren zellen schlief: steht auf und tut die tat.“ (SW VI/VII, 182) Ähnlich wird im Neuen Reich prophezeit, […] dass vielleicht Ein ›Hass und Abscheu menschlichen geschlechtes‹ Zum weitren male die erlösung bringt.27

    George hat sich selbst als ‚Anarchisten‘ bezeichnet, und in einem ähnlichen Zusammenhang Nietzsche genannt.28 In ihrer Dissertation weist Hilde Gottschalk auf ein Nietzsche-Gedicht hin, das der Situation und den Gedanken des Gehenkten sehr nahesteht.29 Dieses Gedicht vom Anfang 1882 kennt man heute in der titellosen Fassung von 1884. Damals aber kursierte es unter dem Titel Unter Feinden, hatte aber auch andere: Gegen (oder: An) die Kritik, Zigeuner!, Yori(c)k als Zigeuner. Die erste der ursprünglichen zwei Strophen beginnt:

    22 I Mose 22, 18 u. 28, 14. 23 I Mose 3, 15. 24 Siehe dazu Ray C. Ockenden: Mensch und Natur in der Dichtung Stefan Georges. In: DES 353–396, hier 393. 25 BG 529, Wolfgang Frommel: Templer und Rosenkreuz (wie Anm. 16), S. 235. Dieser Spruch steht kurz vor dem Schluss des ersten Kapitels im zweiten Buch der Wanderjahre. 26 Klaus Landfried: Stefan George (wie Anm. 21), S. 47. 27 SW IX, 26. George zitiert eine Wendung, die Tacitus gegen die Judenchristen münzte, SW IX, 141. 28 Klaus Landfried: Stefan George (wie Anm. 21), S. 48. Auf die Beziehung zu Nietzsche weisen auch Max Kommerell: Essays, Notizen, Poetische Fragmente. Aus dem Nachlass hg. v. Inge Jens. Olten u. Freiburg i. Br. 1969, S. 227, u. David, CD 366, hin. 29 Hilde Gottschalk: Wesen und Form der Gespräche (wie Anm. 19), S. 20–21; vgl. EM I, 447.

    614 

     Ray Ockenden

    Dort der Galgen, hier die Stricke und des Henkers rother Bart. Volk herum und gift’ge Blicke.

    Beide Strophen haben als Refrain: „Unnütz, unnütz, mich zu hängen!  / Sterben? Sterben kann ich nicht!“ Einiges verbindet dieses Gedicht mit dem Georges, abgesehen von der Situation am Galgen. Das Volk mit giftigen Blicken ist da, obwohl es nicht näher beschrieben wird; das Lachen des Gehenkten ist der Reaktion des Zigeuners ähnlich, der seinen Kehrreim „euch lachend in’s Gesicht“ schleudert, und dass dieser „nach hundert Todesgängen“ weiterleben wird als „Athem, Dunst und Licht“, ist in gewisser Weise analog zum Weiterleben des Gehenkten.30 Eine immer wiederkehrende und schon gestreifte Frage, nämlich nach der Distanz oder der Nähe zwischen Sprecher und Dichter, tut sich hier auf: Landfried räumt „eine unbewusste Identifikation“ des Dichters in diesem Fall ein.31 Sowohl mit einer nega­ tiven Interpretation des Gedichts als auch mit der Überzeugung, dieser Verbrecher sei nur eine leichte Maskierung für den Dichter selber, operiert Osterkamp. Es steht für ihn fest, dass der Gehenkte „als Imago des Dichters sich geradezu aufdrängt“ (EO 34). Obwohl er später behauptet, Das Neue Reich bestehe „in großer Mehrzahl aus Rollengedichten“, sind sie für ihn allerdings keine echten Rollengedichte. Vielmehr sieht er nur „Rollenspiele“ und demzufolge fasst er die Botschaft des Gehenkten so zusammen, dass „der Dichter in dem Gedicht Der Gehenkte sich ein letztes Mal in die Position des Verbrechers und sozialen Außenseiters begibt“32. Am Schluss seines Aufsatzes konstatiert Osterkamp, dass George „den starren Balken jedenfalls nicht mehr zum Rad“ werde umbiegen können (EO 55). Dieses letzte Bild, das sich Osterkamp hier im Eigeninteresse leiht, wurde fast immer so verstanden: Der starre Balken des Galgens deutet auf das christliche Kreuz, das Rad auf das Sonnenrad, die Swastika, ein Zeichen das George schon 1900 verwendet hat.33 Die Umwertung nimmt also eine religiöse Dimension an, vor allem, wenn man die Angaben bei Morwitz bedenkt, dass „Kreuz“ ins Gotische mit „galga“ übersetzt wurde und dass die Swastika als Zeichen für den Antichrist gebraucht wurde (EM I, 447). Dass George für die gewünschte Swastika nur „das matte Bild des Rades“ (EO 37) setzte, übersieht die Bedeutung dieses anderen Zeichens. Denn das einfache

    30 Das Nietzsche-Gedicht hier zitiert aus: Friedrich Nietzsche: Gesammelte Werke. Bd. 20: Dichtungen 1859–1888. München 1927, S. 155 u. S. 267. 31 Klaus Landfried: Stefan George (wie Anm. 21), S. 47 (Kursiv im Original). Dagegen plädiert Hildebrandt, KH I, 438–439. 32 Stefan George: Gedichte. Mit e. Nachwort v. Ernst Osterkamp. Frankfurt/M. u. Leipzig 2005 (it 3078), in Nachwort, S. 225–258, hier S. 238  f. 33 Vgl. die Anmerkung Oelmanns, SW IX, 153.

    

    Das Neue Reich · Dritte Textgruppe 

     615

    Rad bedeutet nicht nur ein „Werkzeug der Bewegung“34, sondern die Ganzheit, das Zyklische – im Gegensatz zu dem Pfeil des Fortschritts. Zu dieser Ganzheit gehören auch Gegensätze, die in ihr zusammenkommen, Der Gehenkte „enthält weder eine Rechtfertigung oder gar Verherrlichung des Bösen“35, sondern liefert eine Erkenntnis, dass die Tugend und der Frevel auf geheimnisvolle Weise zueinander gehören. Wenn George im Gespräch bemerkte, „dass bei Goethe im Gegensatz zu Dante weder Begriff noch Gestalt eines Verbrechers“ vorkomme, so meinte er, es fehle in dessen Weltbild etwas an Ganzheit (EL 154).

    Der Mensch und der Drud Im zweiten Gespräch (SW IX, 54–56) kommt die Vision der Zukunft in der Form einer Warnung, dass die Bemühungen eines fortschrittsbesessenen und technisierten Zeitalters und die Nichtachtung der Ordnung der Natur zu einer Katastrophe für die Menschheit führen könnten. Die Stimme von außen, die diese Warnung liefert, ist der Drud. Dieses mythische Wesen ist eine Schöpfung Georges. Die Drude, ein weiblicher Alb, ist eine Art von Hexe; sehr selten, so teilt Grimms Deutsches Wörterbuch mit, kann man die männliche Form ‚der Drud, der Druder‘ finden. George hat den Namen gewählt, um das ganz Fremde dieses Geschöpfs zu signalisieren. Was wir von seinem Aussehen erfahren, erinnert an die Panfiguren oder die Faunsgestalten, wie sie Böcklin malte.36 Mit seinen zwei Imperativformen verhält sich der Mensch, ein Jäger, schon von Anfang an aggressiv gegen den Drud; gleichzeitig wird er leicht ironisiert. Sein gebieterisches „Bleib still“ ist bedeutungslos, denn der in einer ruhenden Pose angetroffene Drud will sich nicht bewegen. Sein triumphierendes „Der weg ist dir verlegt“ ist eine Umkehrung der wirklichen Position, denn der Drud versperrt dem Menschen den Weg; und nicht nur er: Die Natur selber, die er vertritt, tut das. Das enge Bachbett, dem der Jäger hinaufgefolgt ist, „sperrt ein wasserfall“. Die eigentliche Situation wird später betont, wenn der Drud den Menschen fortschickt: „Nun eil zurück!“ Der Befehl des Jägers, „verbirg auch nichts!“, ist wiederum widersinnig, wie der nächste Vers klarstellt: „Aus klarer welle schaut ein ziegenfuss“. Die Bespiegelung in der Welle lässt ihn alles deutlich sehen.

    34 Klaus Landfried: Stefan George (wie Anm. 21), S. 47. 35 Ebd. 36 Ute Oelmann weist auf den Centauren in Hofmannsthals Idylle und nennt als Bezugstext Nietzsches Geburt der Tragödie mit dem Satyr als „fingiertes Naturwesen“ (SW IX, 153  f.). Andere Interpreten erwähnen hier Silenus und seine Begegnung mit König Midas, an die Nietzsche im gleichen Werk erinnert. Silenus war ursprünglich ein Mischwesen wie der Drud.

    616 

     Ray Ockenden

    Die erste Rede des Drud, ein einzelner Satz mit nur einsilbigen Wörtern, hat daher die Form einer conclusio; nur das Schmähen des Menschen regt ihn zu weiterer Rede an. Der Mensch ist in seiner ersten Rede rhetorisch selbstbewusst, wie die Alliteration zeigt, mit der er den Drud und andere geheimnisvolle Wesen in einen Topf wirft. Er schmäht den Drud wegen seiner Hässlichkeit und seiner Nutzlosigkeit. Auf den ersten Vorwurf geht der Drud nicht ein; aber der zweite, dass er „nutzlos“ sei, will beantwortet werden. Er gehört zu den bleibenden Naturkräften, die von der Lebensweise der Menschen gefährdet sind.37 In seiner langen Antwort auf diese Warnung prahlt der Mensch mit den Errungenschaften einer naturfernen Zivilisation und entlarvt sich dabei als Fortschrittsapostel. Die Menschen glauben über die vier Elemente Kontrolle zu haben; die ehemaligen Herrscher – „hyder“ (Wasser), „riese“ (Erde), „drache“ (Feuer) und „greif“ (Luft) – sind durch eine Gewalttat („erlegt“) vertrieben worden. Die Natur ist zum Ausbeuten da: Schätze wurden gehoben, das Rind (als Arbeitstier oder Nahrungsmittel) wird gezähmt und wenn es Wald noch gibt, so als Forstrevier für die zu jagenden Tiere („hirsch und reh“). Die Wildnis, aus der neues Leben sprießen könnte, ist vernichtet worden, weil sie für den Menschen „unfruchtbar“ ist. In der Bildsprache des Jägers „wogt das ährenfeld“, als ob man damit neues Wasser erschaffen hätte; jedoch ist das Gegenteil der Fall: Sümpfe wurden trockengelegt und auf die Gefahr der Wassernot hat der Drud bereits hingewiesen. Der Sprecher wird wiederum ironisiert, wenn er mit einem unbewussten Oxymoron meint: „städte blühn“. Gerade die hohen Gebäude der neuen Welt, die er mit einer militärischen Wendung preist, hat George schon im Stern des Bundes verurteilt: „Ihr baut verbrechende an maass und grenze“ (SW VIII, 31). Der vorwärtstreibende Geist des Fortschrittsgläubigen wird wiederum in der Sprache des Jägers charakterisiert: „Das licht die ordnung folgen unsrer spur.“ In der ersten Hälfte des Gedichts spricht der Mensch mehr als der Drud; in der zweiten Hälfte ist es umgekehrt. Der Drud übernimmt die rhetorische Haltung des Menschen. Wir finden Assonanz zusammen mit Alliteration in der Zeile: „Wenn dein getreide reift dein vieh gedeiht“ und weitere Alliterationen in anderen Versen: „Zur rechten weile ist dein walten gut“ und „Und staub und strahl und sterben und entstehn“. In seiner Replik spricht der Drud von den geheimnisvollen Naturkräften, die alles am Leben erhalten. Die Menschen haben den Kontakt mit der Natur verloren, weil sie dem leeren Spekulieren zugeneigt sind. Was George im Spätwerk beständig kritisiert, ist einerseits der krasse Materialismus seiner Zeit, andererseits das leere Grübeln der Intellektuellen, das sich von der wirklichen Welt, vor allem von der Natur abwendet.

    37 Merkwürdig ist die Interpretation dieses Gedichts von Claude David, der es so versteht, es sei Aufgabe des Menschen, sich die „niederen Dämonen“ dienstbar zu machen und „diesen ungestalten Mächten des Lebens eine menschliche Gestalt zu geben“. David kommt schließlich auf das Wort ­„Paganismus“. CD 363  f.

    

    Das Neue Reich · Dritte Textgruppe 

     617

    Diese Replik, die längste Rede des Drud, enthält einen dunklen Hinweis auf den „ring“. In diesem wiederkehrenden Bild treffen wir auf ein grundlegendes Prinzip in der späten Lyrik Georges. Das Bild wird hier erklärt: Es geht um Ganzheit, um das Zusammenbringen scheinbar konträrer Größen, die sich ergänzen und sich gegenseitig erfüllen. Diese wichtige Totalität, die den Menschen mit „tier und scholle“ verbindet, ist jetzt gefährdet.38 Die Liste der Gegensätze, die der Drud in Form eines Polysyndeton anführt, wird durch eine Variation im Rhythmus des Gedichts markiert, denn sie beginnt mit einem Trochäus statt des erwarteten Jambus: „Ekel und lust getrieb und einerlei / Und staub und strahl und sterben und entstehn“. Solche Kontraste, die von dem Alltäglichen bis zu den höchsten Wahrheiten reichen, versteht der Mensch nicht mehr. Nachdem er betont hat, dass die Menschen nur durch menschliche Mittler Kontakt mit den Göttern haben können,39 sagt der Drud verallgemeinernd vom Menschsein: „Wess wahr geschöpf du bist erfährst du nie.“40 Kurz vor dem Schluss des Gesprächs wird die Uneinigkeit der Sprechenden durch Stichomythie angezeigt, die eine neue Anklage seitens des Jägers bringt: Das Wirken des Drud sei nur „zuchtlos spiel“, als ob er ihn nur als (bekanntlich lüsternen) Faun oder Zentauren identifizieren würde. Darauf antwortet der Drud mit dem Zugeständnis, das Tier in seiner Natürlichkeit kenne nicht die Scham – ein Begriff, der ja unter Menschen mit Zeit und Mode wechselt; dafür kenne der Mensch die zeitlose Eigenschaft der Dankesbereitschaft nicht. Der Jäger hat nichts gelernt, und nachher wird er wohl nur, wie der Drud spöttisch vorausahnt („du hast den Drud gesehn“), mit dieser merkwürdigen Begegnung prahlen. Seine Überheblichkeit ist sich gleich geblieben und am Schluss – mit einer angedeuteten Todesdrohung – kehrt seine Aggressivität wieder.41 Es ist festzuhalten, dass der Drud nicht nur negativ über das Menschengeschlecht urteilt. Er erkennt, dass der menschliche Geist vieles kann, er räumt sogar ein: „Zur rechten weile ist dein walten gut“. Aber für ihn ist die Menschheit auf falschem Kurs. Die letzte Rede wiederholt seine Warnung, diesmal mit starken rhetorischen Effekten. Sein sentenzhafter erster Satz ist, wie sein erster im ganzen Dialog, einsilbig. Wenn er dann seinen stillen Dienst am Menschengeschlecht beschreibt, stärkt er

    38 Wie dieser Vers zu der abwegigen Annahme führen kann, die „Einbeziehung des Tieres“ sei „im Maximinkult verkündet“, ist nicht leicht ersichtlich. Vgl. Wilhelm Emrich: Poetische Wirklichkeit. Studien zur Klassik und Moderne. Wiesbaden 1979, S. 131. 39 Ob der Drud sich selbst für einen solchen Mittler hält (so EM I, 450), geht aus dem Gedicht nicht deutlich hervor. Wir wissen, dass er und seinesgleichen nicht von den Göttern reden. 40 Dass dieser Gedanke ein Echo in dem Lied Horch was die dumpfe Erde spricht findet (SW IX, 103), wird von mehreren Interpreten vermerkt. 41 Der Grund, warum er den Drud nicht tötet (seine Gestalt wäre der menschlichen zu nahe), lässt Lehmann überlegen, ob wir es hier nicht mit einem Selbstgespräch zwischen dem Jäger und seiner Bespiegelung im Wasser zu tun hätten; dafür scheinen die Meinungen wirklich zu weit auseinanderzugehen. Vgl. Peter Lutz Lehmann: Meditation um Stefan George. Sieben Essays. Düsseldorf 1965, S. 122.

    618 

     Ray Ockenden

    seine Rede mit Anaphern und betont die Kluft zwischen „unsre“ und „euer“. Man hört Alliteration: „Wo unser huf nicht hintritt wächst kein halm“, und die zwei letzten Verse bringen, ganz unerwartet, einen Reim, auch das ein Zeichen der erwünschten Totalität. Der Zauber, wie der Drud verkündet, ist eins mit der Natur und vermag alle Gegensätze auf fruchtbare Weise zu verbinden.42 Dieser Dialog ist wohl das zugänglichste von allen vier halbdramatischen Stücken, und schon längst wurde seine Bedeutung für eine moderne, ökologisch bewusste Welt hervorgehoben. Wolff beschreibt dieses Gedicht als „Dialog um die hybride Fortschrittsgläubigkeit des Menschen“43. Der Drud ist ein Bewahrer, ein aktiv Hütender, ein Nährender und ein Mittler: nicht zwischen Mensch und Gott, sondern zwischen dem Menschen und der Natur.44 Sein letztes Geheimnis ist eben der Quell, ohne den die Menschheit an Wassernot sterben würde. Auch im übertragenen Sinne würde sie ohne diesen Lebensquell dem Aussterben entgegengehen. In den Merksprüchen der IX. Folge der Blätter, in denen „Fortschritt“ mit „Raubbau“ identifiziert wird, steht die Warnung: „Späteren geschlechtern wird es staunen erwecken wie man in diesem zeitalter […] glaubte wirtschaften zu können mit vernachlässigung der ersten lebensgesetze.“ (BfdK IX, S. 4  f.)

    Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann Der Hauptmann ist eine zusammengesetzte Figur. In seinen ersten Reden klingen verschiedene Äußerungen aus den Evangelien an.45 Wenn er meint, er habe das Gesetz immer eingehalten, spricht er genau wie der reiche Jüngling46 und die Frage „Bringst du ein andres heil?“ erinnert an die Frage, die Johannes der Täufer an Christus stellen ließ: „Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines anderen warten?“47 Die Antwort Christi auf diese Frage, „Die Blinden sehen und die Lahmen gehen“48, wird in dem Gedicht (SW IX, 58  f.) vom Herrn gesprochen, zusammen mit einem Hinweis auf das Wunder bei der Hochzeit zu Kana.

    42 Dazu Ray C. Ockenden: Mensch und Natur (wie Anm. 24), S. 393. 43 Robert Wolff: Mensch und Drud – Erfüllung einer Prophetie. Stefan George und die Natur. Bingen o.  J. als Sonderdruck aus: Stefan George – Lehrzeit und Meisterschaft. Heidelberg 1968. Da dieser Aufsatz den gleichen Ausgangspunkt wie meiner (wie Anm. 24) hat, bedauere ich besonders, dass er mir erst nach dessen Abschluss zugänglich wurde. 44 Vgl. Ray Ockenden: Kingdom of the Spirit. The Secret Germany in Stefan George’s later poems. In: A Poet’s Reich. Politics and Culture in the George Circle. Hg. v. Melissa S. Lane u. Martin A. Ruehl. New York 2011, S. 91–116, hier S. 110. 45 Wie Oelmann SW IX, 154, bemerkt. 46 Matth. 19, 20, Mark. 10, 20, Luk. 18, 21. 47 Matth. 11, 3. 48 Matth. 11, 5.

    

    Das Neue Reich · Dritte Textgruppe 

     619

    Welche Bedeutung hat die Bezeichnung „Hauptmann“? In der Lutherbibel heißt so der römische Offizier in Kapernaum, dessen Vertrauen in die Autorität Christi diesen erstaunte. Aber eher denken wir an den bevollmächtigten Soldaten bei der Kreuzigung, der von allen drei Synoptikern erwähnt49 und dessen Identifizierung des Gestorbenen als Sohn Gottes entweder als Glaubensbekenntnis oder (heute häufiger) als sarkastischer Kommentar verstanden wird. Für Osthoff, der anhand eines Cranach-Bildes den Namen „Philippos“ auf interessante Weise erklärt, findet die Begegnung in diesem Gedicht vor der Kreuzigung statt.50 Zeit und Ort dieses Gesprächs, wie Morwitz sagt, werden nicht näher angegeben (EM I, 450). Wenn aber, wie Frommel überzeugend dargestellt hat, die Worte des Herrn („Ich schlang ihn [den Reigen] nach dem liebesmahl“) an die apokryphe Acta Johannis erinnern, so ist dieses Fest der Liebe eindeutig mit dem Abendmahl am Tag vor dem Sterben Christi gleichzusetzen.51 In diesem Fall würden wir dieses Gespräch nach der Kreuzigung situieren müssen; wir hätten es also auch hier mit einem Gespräch zwischen einem Toten und einem Lebenden zu tun. Oder vielleicht mit einem Auferstandenen. Auf jeden Fall wiederum eine Stimme von außen. Der Herr im ersten Teil des Gesprächs ist erkennbar als der Christus, den wir aus den Evangelien kennen; sein Schlusswort, an das in allen vier Evangelien zu findende Abschiedswort an den Lahmen erinnernd, macht ihn ebenfalls zu einer bekannten Figur. In seiner längsten Rede aber erfahren wir Neues, wenn er vom Reigen und vom „Christ im tanz“ spricht. Wenn es am Schluss des Kriegsgedichts heißt: „Der an dem Baum des Heiles hing warf ab / Die blässe blasser seelen“ (SW IX, 26), so kann man darin auch einen Hinweis auf Odin sehen, in erster Linie jedoch bezieht sich das Bild wohl auf Christus;52 die „blassen Seelen“ erinnern an den „bleichen Mann“ vom Vorspiel zum Teppich des Lebens, zu der eine handschriftliche Variante „bleicher schwarm“ bietet (SW V, 16 u. 106). Als Kontrast zu dieser ‚Bleiche‘ hören wir die neue Heilsbotschaft: „Der welt erlösung kommt nur aus entflammtem blut“; weil ihm solches fehlt, wird der Hauptmann vom Herrn abweisend verabschiedet. Diese neue Forderung deutet allerdings klar auf Nietzsche, wie Frommels Sammlung von Nietzsche-Zitaten zeigt: Da fällt das Wort von der „Herzensfülle“ und vom tanzenden Gott.53 Was der Hauptmann zu suchen scheint, eine sichere, wissenschaftlich fundierte Religion, ist das, was nach Nietzsche im kirchlichen Sinn als das Christliche verstanden wird: „lauter Formeln, Riten, Dogmen, statt einer Praxis des

    49 Paul Gerhard Klussmann: Spruch und Gespräch (wie Anm. 2), S. 109, und Oelmann SW  IX,  154 wären entsprechend unterschiedlich zu vervollständigen. 50 Wolfgang Osthoff: Das Maß und das Tragische. Gedanken zum „Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann“. In: WuW 125–141, hier 140. 51 Wolfgang Frommel: Templer und Rosenkreuz (wie Anm. 16), S. 265. Vgl. Oelmann SW IX, 155. 52 SW IX, 26. Vgl. Oelmann SW IX, 141 u. EM I, 424  f. 53 Wolfgang Frommel: Templer und Rosenkreuz (wie Anm. 16), S. 291 u. 274.

    620 

     Ray Ockenden

    Lebens“54. Der Herr bringt tatsächlich „ein anderes heil“: So wird auf eine zukünftige Erneuerung des Christentums hingewiesen, mag sie auch noch äonenweit liegen. Für Osthoff, der dieses Gedicht „sub specie der Tragödie“ lesen möchte,55 ist der Römer eine tragische Figur. Es ist bemerkenswert, wie verschieden die Urteile über ihn ausfallen. Er kann als ernsthafter Wahrheitssucher gesehen werden, der sozusagen nur über die letzte Hürde stolpert; für andere ist er bereits von Anfang an eine verlorene Seele. Der Hauptmann meint es zweifelsohne gut: Sein Wissensdurst mag löblich sein, die weit erprobten Leistungen in der Praxis verschiedener Religionen klingen imponierend.56 Aber auf ihn würde wohl die Warnung zutreffen, die im Gedicht Der Schlüssel steht: „Nimm sieben jahr · lies · hör in allen schulen / Unklüger kehrst du heim als heut du gehst.“ (SW IX, 86) Er will im Grunde den Herrn testen, er fragt, ob dieser seinen Ruf verdiene, er scheint ihn zu kritisieren, weil er armen Leuten predigt. Selbst nach der geheimen Eröffnung des Herrn hat er nur eine weitere, nicht diesbezügliche Frage. Er macht keine innere Wandlung durch; er erwartet, dass etwas von außen an ihn herankommt. Aber für diesen Herrn geht es nicht um Wissen und nicht um Ritualakte. Es geht um den inneren Menschen. Die Wendung „Doch schweigen herrscht wo deutung weit“ ist so verstanden worden, dass alle Deutung ausgeschlossen sei, was zu „ideelle[r] Substanzlosigkeit“ führe (GHb  I,  215). Schon Wolfgang Braungart hatte den Vers so verstanden, die Deutung würde die Erfahrung des Göttlichen verhindern (WB 161). Dass „deuten“ schwierig ist, wird eingeräumt, nicht aber, dass es ausgeschlossen sei. „Schweigen herrscht“ ist kein Befehl,57 sondern erklärt, warum der Hauptmann nichts vom tanzenden Christus gehört hat – und gleichzeitig, warum die kanonischen Evangelien nur allgemein von einem „Lobgesang“ sprechen.58 Osthoff bemerkt, dass die zwei Imperative des Herrn, seine ersten und letzten Worte, rhythmisch gleich sind: „Philippos frag!“ / „Steh auf und geh“59; diese rhythmische Wiederholung dient zur Abrundung des Gedichts. Er bemerkt auch, dass zwei Zeilen in dem Gedicht einen Versfuß zu viel haben.60 In der vorletzten ist das „hinzukommende“ Wort deutlich „dünne“: „weil deine dünne lymphe Gottes kraft nicht mehr erträgt“ – damit wird die Kraftlosigkeit des Bittenden unterstrichen. Im anderen längeren Vers betont der Hauptmann mit dem Extra-Wort „nackt“, wie weit er im Trachten nach Einung mit der Gottheit ging: „An Nilus quellen übte ich der nackten büsser brauch“. Dass dieses Gedicht in jambischen Trimetern geschrieben

    54 Ebd., S. 291. 55 Wolfgang Osthoff: Das Maß und das Tragische (wie Anm. 50), S. 128. 56 Hilfreiche Erklärungen zu seinen Forschungsreisen gibt Morwitz, EM I, 452. 57 Es wird als „Gebot“ verstanden von Wolfgang Frommel: Templer und Rosenkreuz (wie Anm. 16), S. 257. 58 Matth. 26, 30, Mark. 14, 26. 59 Wolfgang Osthoff: Das Maß und das Tragische (wie Anm. 50), S. 134. 60 Ebd., S. 128.

    

    Das Neue Reich · Dritte Textgruppe 

     621

    ist, erinnert Osthoff an die griechische Tragödie.61 Er vermerkt, dass in dem Gedicht einige dem klassischen Trimeter fremde halbe oder ganze Reime vorkommen, was er für Zufall hält, abgesehen von dem Reim „wehn/stehn“, der einen hymnischen Ton in die Verse bringe und den „Christ im tanz“ zu präludieren scheine.62 Aber solche Halbreime wie „unbelehrt/leut“ und Assonanzen wie „klug/blut“ „eint/weihn“ sind charakteristisch für Georges späte Lyrik. Die „Umwertung“, um die es in diesem Gedicht geht, ist eine einfache: Das Christentum wird nicht negiert, sondern erweitert, um andere und ältere Religionsvorstellungen in ihm zu integrieren. In der Nachfolge Nietzsches soll Christus dionysisch werden.

    Der Brand des Tempels Dieses vierte Stück (SW IX, 62–69) hat man als „lyrisches Drama“ gesehen und mit anderen Dramen der europäischen Moderne verglichen.63 Auf jeden Fall ist klar, dass es sich von den anderen Dialogstücken abhebt. In seiner Form erinnert das Stück an griechisches Theater, mit kommentierendem Chor, aber ohne Hauptdarsteller.64 Die sechs Priester, die auftreten, haben, wie wir sehen werden, individualisierte Stimmen; zusammen bilden sie einen eher erzählenden als dramatischen Chor. Die Hauptfiguren treten nicht auf, aber es ist bezeichnend, dass sie durch ihre wiedergegebenen Reden im Munde der Priester gegenwärtig werden: der Heunenführer Jli selbst65 und auch die zwei Frauen, die gewissermaßen seine Gegenspieler sind, seine Mutter und die Fürstin Pamfilia. Nimmt man die Sekundärliteratur zu diesem Stück in die Hand, so kann man staunen, wie wenig dort auf die eigentliche Botschaft des Barbarenführers, noch weniger auf die genaue Komposition und die sorgfältig herausgearbeitete Charakterisierung des Stücks gehört wird. Es wird fast ausschließlich auf den Jli geschaut, und dieser wird dann, mit leichten Schattierungen, als ein zweiter Algabal betrachtet. Anders als George selber, der im Gedicht Vogelschau und später im Dialoggedicht Algabal und der Lyder66 den römischen Kaiser und sein ‚paradies artificiel‘ verabschiedete, wird diese Figur aus der Frühzeit des Dichters immer wieder als dessen

    61 Ebd., S. 126. 62 Ebd., S. 135. 63 Paul Gerhard Klussmann: Spruch und Gespräch (wie Anm. 2), S. 111. 64 Siehe die Bemerkungen Hildebrandts: KH I, 437  f. 65 An wen wir bei dieser Figur denken sollen, scheint nicht wesentlich zu sein. Dass sie sich „Geissel Gottes“ nennt, lässt an Attila denken. Morwitz findet im Gedicht eine Parallele zum Vandalenherrscher Geiserich: EM I, 456, vgl. auch SW IX, 156. 66 SW II, 85 u. SW VI/VII, 44  f.

    622 

     Ray Ockenden

    bleibender Traumwunsch, nicht als sein Mittel zur Untersuchung und letztlich zur Verwerfung der Ausweglosigkeit einer rein ästhetischen Welt verstanden.67 Für Wertheimer, der findet, dass Jli in seiner „durchaus artifiziellen Brutalität“ an Algabal erinnert, liegt der Unterschied zwischen den beiden Herrschern einfach in dem vielschichtigen Textsystem vom Brand des Tempels.68 Jedoch sind andere Unterschiede zwischen ihnen evident. Algabal ist jung und zart und verdankt seine Position dynastischer Politik, nicht der Eroberung. Er bleibt unter der Kontrolle seiner Großmutter, die den historischen Kaiser schließlich umbringen ließ. Jli ist stark und verbannt die greise Mutter. Vor allem aber will Algabal nur passiv „frei in den bedingten bahnen wandeln“ (SW II, 68); er ist weit davon entfernt, das Schicksal eines ganzen Landes steuern zu können. Auch wird Jli (wie oft Algabal) nur als leicht durchschaubare Maskierung für seinen Schöpfer betrachtet. Diese Annahme findet sich am ausgeprägtesten in Karlaufs George-Biografie, in der es heißt, dass „das Bild des absoluten Gewaltherrschers Züge eines späten Selbstporträts trägt.“ Diese Identifikation erlaubt Karlauf dann, Worte Jlis zu zitieren, als seien sie von George gesprochen (TK  495  f.). Gegenüber Morwitz bekannte George, beim Lesen dieses Stücks habe ihn „immer von neuem ein Grausen“ überfallen (EM I, 455). Dieses Grausen so zu interpretieren, als würde sich George mit dem Heunenführer identifizieren, tut nicht nur dem Bericht von Morwitz, sondern auch dem Verständnis eines unvoreingenommenen Lesers Gewalt an.69 Dass George die Namen anderer Figuren in diesem Gedicht von einem frühen, selbstverfassten und seitdem verschollenen Drama nahm (ebd.), ist auch kein Beweis dafür, dass er sich in der Rolle Jlis sah. Aber man muss zugeben, dass sowohl Boehringer als auch Morwitz hier Erlebnis und Dichtung zusammenfließen lassen; nach Morwitz soll die Mutter Jlis der Mutter Georges nachgezeichnet sein.70 Und wenn Gundolf von den inneren Kräften in dem Heunenführer redet „deren George selbst sich mächtig weiß“, dann ist auch hier eine Gleichsetzung Jli–George nicht weit (FG3 280). Indirekter, wenn auch rhetorisch emphatischer, verfährt Osterkamp in seinem Handbuch-Beitrag. Für ihn frönt George im Brand des Tempels „Gewaltphantasien“; für ihn ist Jli „ein junger Gewaltherrscher von stupender Inhumanität“, dessen „Neugestaltung der Geschichte als ein umfassendes Abbruchunternehmen“ zu betrachten wäre. Somit ist der Barbar ein Gleichgesinnter seines Schöpfers, der nach Osterkamp mit „totalisierendem Vernichtungsblick auf die Moderne“ schaut (GHb I, 215). Anders urteilte damals Klaus Mann, der im Todesjahr Georges gegen eine Identifizierung

    67 Gegen die Parallelen, die David hier zieht (CD 92 u. 368), argumentiert überzeugend Klaus Landfried: Stefan George (wie Anm. 21), S. 71–86. 68 Jürgen Wertheimer: Dialogisches Sprechen (wie Anm. 4), S. 159. Dieses Urteil mag überraschen, da Wertheimer später das „Ende des Ästhetizismus“ bei George nach der Algabal-Zeit bescheinigen wird. Ebd., S. 183. 69 TK 496. Ihm folgt Franziska Merklin: Stefan Georges moderne Klassik (wie Anm. 13), S. 183  f. 70 EM I, 455  f.; RB I, 19 u. 272.

    

    Das Neue Reich · Dritte Textgruppe 

     623

    des Dichters mit dem Nazi-Regime sprach: „Das Heldentum, das er wollte, war nicht barbarisch.“71 Differenzierter ist auch Klussmann, der meint: „Man mag in diesem lyrischen Drama eine Rechtfertigung des großen Menschen sehen, der im Sinne Nietzsches die Grenzen der Moral in der Wende eines Kulturbruchs sprengt.“72 Die ersten Hörer dieses Werks standen ganz im Schatten der Kriegskatastrophe, was man noch deutlich in der dritten Ausgabe von Gundolfs George-Buch spürt: In dem Gedicht erscheinen „die Zusammenbrüche des großen Krieges“, alles geschehe „in der Stunde des Untergangs“, alles habe der Dichter „von dem Zusammenbruch her“ gerichtet und gesichtet.73 Im Grunde hatte das Gedicht sehr wenig mit dem Weltkrieg zu tun und schon sein Ursprung, wenn Georges Bemerkung zu Thormaehlen im Juli 1917 das im Entstehen begriffene Werk meint (ZT 277), wofür vieles spricht, lag weit vor der deutschen Katastrophe. Als knappe Zusammenfassung der Handlung in diesem Gedicht schreibt Morwitz: „Es hat den Wandel einer Kultur zum Gegenstand.“ (EM I, 453) Die Situation in dem Staat, schon einige Zeit nach dem Tod des ehemaligen Fürsten und der Niederlage seines Heeres, ist, so entnehmen wir den Reden der Priester, wie folgt: Der siegreiche Heunenführer, so meinen viele, solle einem verkrachten Staat ‚weiterwursteln‘ helfen; er aber will einen neuen Anfang machen. Dass eine Erneuerung längst nötig war, scheint der damalige König vor zwölf Jahren eingesehen zu haben; aber die Versuche dieses Geistesgestörten waren jämmerlich unnütz. Misswuchs hatte das Land schon heimgesucht; der Boden (auch das ist symbolisch) blieb dürr. Selbst die Tatsache, dass der letzte Fürst nach verlorener Schlacht nicht als Held starb, sondern ‚im Fliehen sank‘, deutet auf den Verfall des Landes. Zu den Missständen im Lande gehören einerseits die ‚giftigen Eiferer‘ – auch sie Feinde des Tempels –, die das Gesetz und den Staat verachten, ohne vor den Richter gebracht zu werden; andererseits das verantwortungslose Gebären unehelicher Kinder. Das Volk scheint zufrieden zu sein, indem es „Der obern missgeschick“ (SW IX, 63) genießt; der Adel ist ‚mürb‘; den Handelsherrn geht es nur um die Steuersenkung. Selbst die von den Priestern (und von vielen Interpreten)74 so bewunderte Pamfilia trägt Zeichen dieses Verfalls. Dass ihr eingegeben wird, was sie zum Barbarenfürst zu sagen hat, lässt sie als Werkzeug der Priester erscheinen. Diese, nachdem sie sich von den Göttern verlassen fühlten, betrachteten sie als Heiligtum. Es ist klar, dass die Hoffnung, sie würde mit Jli in ein Verhältnis treten, mehr als nur Gerücht ist. Ob sie sich als Preis für die Schonung des Tempels „anbietet“, wie Klussmann glaubt,75 ist nicht so deutlich. Jedenfalls ist es

    71 Klaus Mann: Das Schweigen Stefan Georges (1933), wieder in ders.: Zahnärzte und Künstler. Reinbek b. Hamburg 1993, S. 56 (kursiv im Original). 72 Paul Gerhard Klussmann: Spruch und Gespräch (wie Anm. 2), S. 113. 73 FG3 280  f. Ihm folgt Karlauf: TK 496 u. 583. 74 Vor allen Hildebrandt: KH I, 435  ff. u. Franziska Merklin: Stefan Georges moderne Klassik (wie Anm. 13), S. 192–194. 75 Paul Gerhard Klussmann: Stefan George (wie Anm. 10), S. 80.

    624 

     Ray Ockenden

    der letzte Traum einer dekadenten Ordnung, gemeinsame Sache mit dem Eroberer zu machen und dadurch ihre alten Schätze vor dem Verderben schützen zu können. Die Priester und die Religion, die sie vertreten, sind nicht imstande, die „fäulnis“ (SW IX, 64) des Landes zu heilen; sie dienen nicht mehr dem Volk, mit dem sie allen Kontakt verloren haben. Sie wissen selber, dass die Götter, „die Schrecklichen Unfasslichen“ (SW IX, 68), sie verlassen haben; selbst die Rituale, die Opfer und Bräuche, gehören jetzt der Vergangenheit an. Dafür ist ihnen die Fürstin Pamfilia zum „Hort“, zu einer Art Palladium geworden. Im Grunde geht es ihnen nur um den Tempel und seine Schätze. Jli weiß, dass ihre Götter, der Tempel, die Schätze und ihre Hüter, die „Verfallne“ (SW IX, 67) sind, alle nutzlos geworden sind: Das ist Jlis grundsätzlicher Einwand gegen sie. Er dagegen „bleibt mässig“ (SW IX, 64) und ist als ein Betender bekannt.76 Dass im neuen Zeitalter der Tempel keine positive Wirkung im Lande auszuüben vermag, hätten die Priester selber einsehen und Besserungen einführen sollen, wie Jli der Pamfilia erklärt. Da sie aber selbst nicht wissen, „was euch nüzt“ (SW IX, 67), muss er selber einschreiten; die Kulturhüter sollten ihm dafür danken, dass er sie „vom wust befreit“ (SW IX, 64). Ein Vers aus dem Stern des Bundes passt hier direkt: „Die art wie ihr bewahrt ist ganz verfall.“ (SW VIII, 35) Die Charakterisierung der Priester dient auch zur Kritik am alten System. Sie haben keineswegs gleichmäßige Stimmen. Der Vierte und der Fünfte haben hauptsächlich nur Botenfunktion, aber der Fünfte, der von der unmittelbar bevorstehenden Gefahr des Tempelbrandes berichtet, mahnt noch: „Rettet euch“ (SW IX, 69). Die anderen Priester sind anscheinend zu einem anderen Schluss gekommen, wenn sie gerade davor als Chor sprechen: Der Freitod Pamfilias hat ihnen das Beispiel gegeben, denn zusammen mit dem Tempel sind sie, wie die Fürstin, gleichermaßen ungewürdigte Besitztümer: Sie werden sich also nicht retten. Der Oberpriester, „Der Älteste“, ist Autoritätsfigur, er hält sich abseits, beklagt sich und liefert düstere Prophetie; er ist es, der von den Schätzen des Tempels spricht. Aber sonst ist er keine führende, eher eine kraftlose Figur. Der Erste Priester ist ein kluger und politisch informierter Mann: Er weiß Bescheid über Jlis Mutter und den Abfall des Freundes Clelio; mehr als zwei Fünftel der Verse werden von ihm gesprochen. Am wenigsten spricht der Dritte Priester, jedoch ist er am deutlichsten charakterisiert. Seine kurzen und spärlichen Reden (er spricht nur im ersten Drittel des Stücks) und dann besonders sein unverhüllter Enthusiasmus und seine Bewunderung für den Heunenführer (schon seine erste Rede beginnt mit „doch“, da er ein erstes positives

    76 Dass er vor einem rohen Stein beten soll, steht klar im Gegensatz zu den Reichtümern des Tempels. Wer sein Gott ist, wird nicht gesagt; jedenfalls ist nicht gesagt, dass er den Stein anbetet. Vgl. Dirk von Petersdorff: Als der Kampf gegen die Moderne verloren war, sang Stefan George ein Lied. Zu seinem letzten Gedichtband „Das Neue Reich“. In: JbDSG 43 (1999), S. 325–352, hier S. 340. Schließlich nennt sich Jli „Geissel Gottes“.

    

    Das Neue Reich · Dritte Textgruppe 

     625

    Wort über Jli einlegen will), weisen ihn als den Jüngsten der Gruppe aus.77 Insofern ist bezeichnend, dass er als Mensch der Zukunft nur positiv von Jli spricht, ihn menschlich würdigt und die Bedeutung des Abfalls seines nächsten Freundes versteht; andererseits ist es ein negatives Zeichen, dass der Vertreter der neuen Generation so selten zu Worte kommt. Der Zweite Priester ist eine Schlüsselfigur. Anfangs jammert er über das Verlorene, und aus seiner ersten Nennung des Heunenführers (die Versalien „ER“ deuten hier auf besonderen Nachdruck) hört man den verdrossenen Ton heraus. Er stimmt immer mit dem Ton des Ersten Priesters überein, sodass, wenn das Gespräch über Jli eine eher positive Wendung nimmt, er seufzen kann: „Ist ER ein Mensch!“ (SW IX, 66. Die Versalien haben diesmal eine positive Färbung). Ein leicht Beeinflussbarer also, ein Schwankender. Diese mangelnde Festigkeit, zusammen mit der Begeisterung des dritten Priesters, soll andeuten, wie uneinig mit sich, wie unentschlossen – bis zum Moment der Entscheidung – diese Tempelgemeinschaft ist. Soll das alles wieder heißen, dass man das Kommen Jlis begrüssen sollte, dass George es begrüßt hätte? Der Satz von Petersdorffs, „Entscheidend ist nun die Frage nach der Position des Autors“78, meint wohl, George müsse eindeutig für oder gegen den Barbaren optieren. Ich halte das für eine falsche Fragestellung. Wir wissen, dies war eine Vision, vor der ihm selber graute, wie er Morwitz erzählte. Einige Wochen, nachdem das Gedicht durch seine Heidelberger Lesung bekannt geworden war (ZT  296  f.), sagte George in einem Gespräch mit Edith Landmann, das sich mit der Zukunft Europas befasste: „Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder es gibt eine friedliche Durchdringung vom Geistigen her, eine Erneuerung von innen heraus, oder es muss alles erst zugrunde gehen, bevor ein Neues entsteht.“ (EL  70) Georges späte Gedichte kommen immer wieder auf diese erste Zukunftsmöglichkeit zurück. Im Brand des Tempels stellt sich der Dichter der zweiten in erschreckendem Ausmaß, in dem die „friedliche Durchdringung“ – meist im Bild des Samens vermittelt – in diesem Fall wegen des „trockne[n] erdreich[s]“ (SW IX, 62) nicht mehr zu erhoffen ist. Schon im Stern des Bundes hatte er gewarnt „Wägt die gefahr für kostbar bild und blatt / […] beim grossen brand“ (SW VIII, 35). Dass George diese Alternative herbeigewünscht habe, ist ein Trugschluss; ebensowenig wird Yeats in seinem Gedicht The Second Coming von 1919 jene unheimliche, ahnungsvoll dargestellte Wendung gewollt haben.79

    77 Das spricht gegen die Annahme, es seien nur „alte“ oder „ältere“ Priester im Tempel: CD 368 und Dirk von Petersdorff: Als der Kampf (wie Anm. 76), S. 340. 78 Ebd. 79 Diese anregende Parallele hat Volker Dürr angestellt in: Stefan George und Gottfried Benn im europäischen Kontext. Politische Aspekte der ästhetizistischen Tradition. In: Das Stefan George Seminar 1978 in Bingen am Rhein. Eine Dokumentation. Hg. v. Peter Lutz Lehmann u. Robert Wolff. Heidelberg 1979, S. 57.

    626 

     Ray Ockenden

    Jedenfalls ist für George die Geschichte nicht „des schöpfers hand entwischt“, wie Petersdorff (der in dieser Wendung aus dem Kriegsgedicht den Schöpfer als Gott zu verstehen scheint) postuliert.80 Auch stimmt es nicht, wie Karlauf meint, dass im Brand des Tempels nicht mehr von der Zukunft die Rede ist (TK 496). Worauf die letzten Verse des Gedichts mit ihrer Erwähnung von einem halben „tausend-jahr“ (SW IX, 69) hindeuten, ist eben ein anderes Geschichtsbild. Nicht gegen die Moderne schlechthin ist George,81 sondern er will eine teleologische Geschichtsauffassung in Frage stellen; schon im Stern des Bundes setzte er sich ab von dem „pfeilgeraden willen“ (SW VIII, 25) seiner Zeit. Eher von einer zyklischen Auffassung der Bewegung der Geschichte, wie sie Vico propagiert hat, ist hier die Rede. Was diese Barbaren wegfegen, ist eine Kultur, die kraftlos geworden ist. Mit der Zeit werden sich in diesem von Jli gegründeten Staat Stabilität, ein Rechtswesen und dann schließlich eine neue Kultur etablieren. Ungefähr auf halbem Wege durch eine solche tausendjährige Ära (am Ende derer die nächste Welle der Barbaren Einkehr halten wird) wird wieder ein Tempel errichtet werden.82 Schon jetzt, da die alten Steine vor dem die Stadt umgebenden Wall entfernt werden, scheint ein erstes, rein kriegerisches Stadium zu Ende zu gehen: Das Pflanzen von Gras ist ein Friedenszeichen.83 Mit der Zeit, wie der Status der Pamfilia in der alten Ordnung beweist, werden die Frauen, wie in der Zeit „der zelte und der züge“ (SW IX, 66) wieder eine Stimme haben. Hier ist anzumerken, dass sich die folgenden Worte, die stets als antifeministisch verstandene Wendung84 „im palast / Ist sie der herrschaft untergang“ auf weibliche Einflussnahme, nicht auf die Frau schlechthin beziehen.85 Interessant in diesem Kontext ist der Hinweis darauf, dass George die eigene Zeit als „Zeit der Zelte“ betrachtete.86 Zur Form dieses szenischen Gedichts ist wenig zu sagen: Sein Titel ist allerdings insofern ungewöhnlich, als er auf ein Ereignis deutet, das erst ganz am Schluss eintrifft. Der für das klassische Drama typische Blankvers weicht nur an einer Stelle einem Sechsheber mit deutlicher Zäsur (Vers  46, wenn es um die Benennung Jlis geht). Nach der Mehrstimmigkeit und den gebrochenen Zeilen des ersten Viertels des Stücks geht es in längere, grundsätzlich erzählende Rede über. Was die Sprache selber

    80 Dirk von Petersdorff: Als der Kampf (wie Anm. 76), S. 332. Die Stelle (SW IX, 24) beklagt, dass die Technik jetzt über ihre menschlichen Schöpfer dominiert. 81 Nach Dirk von Petersdorff (in: Als der Kampf [wie Anm. 76], S. 342) wurde er „vom erkenntnistheoretischen Sündenfall der Moderne eingeholt.“ 82 Hier wird wohl auf den zyklischen Lebensrhythmus des Phönix angespielt, wie Morwitz meint (EM I, 457); er verweist auf Herodot, Wertheimer aber aufschlussreicher auf die Erwähnung des Phönix bei Dante (Dialogisches Sprechen [wie Anm. 4], S. 186), denn gerade Georges Übersetzung dieser Stelle (SW X/XI, 40) erschien gleichzeitig in den Blättern mit dem Brand des Tempels. 83 Für Karlauf dagegen zeigt sich damit Jlis Entschluss, „die alte Kultur auf die Stufe der Jäger und Sammler“ zurückzustoßen (vgl. TK 494). 84 Paul Gerhard Klussmann: Spruch und Gespräch (wie Anm. 2), S. 112. 85 Für Karlauf handelt es sich direkt um die Mutter Jlis (vgl. TK 494). 86 Robert Boehringer: Ewiger Augenblick. Düsseldorf u. München 1965, S. 54.

    

    Das Neue Reich · Dritte Textgruppe 

     627

    betrifft, wird sie von Wolters wie folgt beschrieben: „der härteste eisigste Ton in der ganzen Dichtung Georges“ (BG 447). Das bezieht sich vielleicht auf die Sprache des Heunenfürsten, dessen Wort schon von dem jungen Priester als „Schmucklos und rauh“ gekennzeichnet wird (SW IX, 64). Die Einsilbigkeit, überhaupt ein Merkmal der späten Dichtung Georges, trägt sicher dazu bei, denn mehr als zwei Drittel der von Jli berichteten Wörter haben nur eine Silbe (nicht ganz die Hälfte dagegen bei der Mutter und bei Pamfilia). Man merkt, wie Pamfilia in ihrer Antwort auf Jli seine Welt streift, indem sie mit einem stark einsilbigen Vers beginnt: „O Herr wie stritte ich mit euch um recht!“ (SW IX, 67) und wie dann bei der Antwort des fast durch ihre Erscheinung Erweichten nur die Hälfte seiner Worte einsilbig ist.

    Simon Reiser

    Sprüche an die Lebenden / Sprüche an die Toten Wie Das Neue Reich, dessen Mitte sie bilden, scheinen die unter den Überschriften Sprüche an die Lebenden und Sprüche an die Toten zusammengefassten Gedichte auf den ersten Blick eine willkürliche Zusammenstellung heterogener Texte aus einer relativ großen Zeitspanne zu sein. So umfassen sie Gedichte aus der Zeit um 1910 bis zur Drucklegung des Bandes im Jahr 1928. Die Adressaten  – alle männlichen Geschlechts – sind alte Dichterfreunde aus den frühen Jahren der Blätter für die Kunst wie der Niederländer Albert Verwey. Daneben richten sie sich vor allem an die jungen Akteure der erst nach 1920 dem Kreis eingegliederten „dritten Generation“1. Zuletzt finden sich noch wenige poetische Dedikationen an George nicht persönlich bekannte Personen außerhalb seiner Gruppe wie den Dichter Hanns Meinke. Hinzu kommen etliche Gedichte ohne gekennzeichnete Adressaten oder mit allgemeinen Überschriften wie Belehrung und Zweifel der Jünger. Die poetischen Texte variieren formal stark. Neben den bei George häufig verwendeten gereimten Vierzeilern mit jambischen Fünfhebern findet sich eine Vielzahl von Strophenformen. Die meisten Gedichte bleiben unter zwölf Versen Länge und erhalten so den Charakter von Epigrammen oder, im Fall der Sprüche an die Toten, kurzer Epitaphe. Während die meisten Sprüche in der gängigen Form von Widmungsgedichten die vertraute Du-Anrede wählen, bilden Texte mit dialogischer Struktur die zweitgrößte Gruppe. Zu dieser gehört das durch seine Länge und Stellung am Kapitelende exponierte Gedicht Victor * Adalbert2. Betrachtet man die Rezeption des Neuen Reichs und wie es interpretatorisch erschlossen ist, zeigt sich eine deutliche Konzentration auf dessen ersten und letzten Teil (GHb I, 207). Die Sprüche werden in Besprechungen des Neuen Reichs zumeist übergangen oder als allenfalls biografisch und soziologisch relevante Zeugnisse von Georges Beziehungen zu seinem Kreis herangezogen.3 Die Adressaten und Hintergründe ihrer Entstehung sind bereits durch den Kommentar zu Georges Sämtlichen Werken hinreichend dokumentiert.4 Darüber hinaus sind die Sprüche in interpreta-

    1 So bezeichnet man die ab etwa 1910 durch die Vermittlung älterer, bereits im Kreis etablierter Personen wie Ernst Morwitz oder Friedrich Wolters zur Gruppe hinzukommenden jungen Männer. Vgl. Hans Norbert Fügen: Der George-Kreis in der „dritten Generation“. In: Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik. Hg. v. Wolfgang Rothe. Stuttgart 1974, S. 334–358, hier S. 344. 2 Siehe hierzu die folgende Modellinterpretation. 3 Eine der wenigen Ausnahmen bilden die kurzen Einzelinterpretationen ausgewählter Widmungsgedichte aus dem Neuen Reich in Werner Kraft: Stefan George. München 1980, S. 258–263 u. S. 295–297. 4 SW IX, 156–172. Zum Kontext einzelner Widmungsgedichte vgl. die Biografien in GHb III.

    

    Das Neue Reich · Sprüche 

     629

    torische Zusammenhänge von Georges dichterischem Werk bisher nur bruchstückhaft einbezogen worden.5 Dies mag mit dem möglichen Vorurteil zusammenhängen, die als reine Gelegenheitsdichtung missverstandenen poetischen Dedikationen ständen ästhetisch hinter Georges späten Liedern zurück, während sie aufgrund ihres persönlichen Zuschnitts inhaltlich weniger aussagekräftig seien als die Langgedichte zu Beginn des Neuen Reichs. Mit diesem Kommentar zu den Sprüchen soll deshalb weniger der biografische Hintergrund der einzelnen Gedichte, ihrer Adressaten und der soziologischen wie historischen Kontexte erneut aufgerollt werden. Das Ziel ist vielmehr zu zeigen, dass die Komposition der Gedichte keinesfalls willkürlich vorgenommen wurde, sondern sie in ihrer Gesamtaussage mittels dominierender Motivstrukturen ein ästhetisches Konzept verfolgt und damit zentrale Aussagen des Neuen Reichs illustriert und prägt. Auf diese Weise unterscheiden sich die Sprüche aus Georges letztem Gedichtband von früheren Widmungsgedichten an lebende und tote Weggefährten, wie sie seit dem Jahr der Seele (1897) in beinahe allen großen Gedichtbänden Georges zu finden sind.6 Die poetische Praxis der Dedikationsgedichte hat die Kohäsion und Selbsthistorisierung der Gruppe entscheidend befördert und man war sich ihrer konstitutiven Funktion in den Kreisen um George bewusst.7 Dass George insbesondere in den Sprüchen an die Lebenden auf Texte zugreift, die größtenteils aus privaten Korrespondenzen mit den Adressaten stammen, zeigt, wie das Individuelle und Persönliche zugunsten eines ästhetischen Programms öffentlich gemacht werden.8 Er stilisiert in den Gedichten die angesprochenen Akteure des Kreises zu Repräsentanten abstrakter Ideen und exemplarischen Trägern sozialer Rollen. Die Widmungen erfüllen in der „Herstellung und Festigung von intersubjektiven Beziehungen“ (DP 130) vordergründig eine allgemeine pädagogische Funktion. Zugleich konstruiert George, der als Sprecher der Widmungen hervortritt und sie arrangiert, ein Bild seiner Person. Die Darstellung der Kreismitglieder wird so auch zu einer Selbstaussage des Dichters. Bevor auf den Aufbau und die einzelnen Teile des Kapitels eingegangen wird, folgt eine Betrachtung zum Titel der Sprüche. George nimmt die Bezeichnung aus 5 Ausnahmen bilden jüngere Studien wie Dirk von Petersdorff: Als der Kampf gegen die Moderne verloren war, sang Stefan George ein Lied. Zu seinem letzten Gedichtband ‚Das neue Reich‘. In: JbDSG 43 (1999), S. 325–352, ders. in DP und EO. 6 Eine Ausnahme bildet Der Stern des Bundes (1914), in dem keine äußerlich gekennzeichneten persönlichen Widmungsgedichte enthalten sind. 7 „Wir sahen wie von Beginn an in den Blättern Loblied und Spruch auf die lebenden, Klage und Trauergesang auf die verstorbenen Freunde eine wesentliche Form der dichterischen Äußerung waren.“ BG 446. 8 Daher will Dirk von Petersdorff die Texte nicht bloß als biografische Zeugnisse der gruppen­internen Binnenkommunikation verstanden wissen, sind sie doch „deutlich ästhetisch geformt und erreichen mit ihrer Veröffentlichung den Status einer exemplarischen Kommunikation“. Dirk von Petersdorff: Als der Kampf … (wie Anm. 5), S. 336.

    630 

     Simon Reiser

    seinen Widmungsgedichten im Jahr der Seele auf, die Sprüche für die Geladenen in T .. überschrieben sind (SW IV, S. 53–56). Die Überschrift impliziert eine formale Orientierung an prägnanten Sentenzen, die bewusst zwischen allgemeinen, sprichwörtlichen Lebensweisheiten und persönlichen Urteilssprüchen variieren. Der Begriff Sprüche kontrastiert, indem er natürliche Alltagssprache evoziert, die monumental und statisch anmutende Überschrift der Tafeln im Siebenten Ring.9 Neben der Referenz auf das eigene Werk stellt die Überschrift intertextuelle Bezüge zu mythischen und religiösen Texten her.10 So weist etwa das biblische Buch der Sprüche Salomos neben seiner literarischen Formenvielfalt mit seinen allgemeinen Lebensweisheiten, Gleichnissen und Rätselsprüchen wie Georges Kapitel im Neuen Reich eine starke pädagogische Intention auf. Die Sprüche gruppieren sich in zwei Unterkapitel, wobei Georges Unterteilung in Sprüche an die Lebenden und Sprüche an die Toten eine zunächst naheliegende Selektion in zwei inkommensurable, streng gegensätzliche Existenzbereiche vornimmt. Während die erste Gruppe die Gegenwart des Kreises präsentiert, soll die zweite die Verstorbenen vergangener Zeit erinnern und ehren. Letztere war nicht zuletzt der großen Zahl an gefallenen Mitgliedern des Kreises im Ersten Weltkrieg geschuldet. Doch wie im Folgenden zu zeigen ist, wird die plausibel scheinende Trennung der beiden Reiche schon auf den zweiten Blick durchlässig und die Grenzen zwischen Lebenden und Toten verschwimmen inhaltlich, motivisch und hinsichtlich der Adressaten. Es wird sich erweisen, dass Georges Neues Reich gerade in Hinblick auf seine Zukunft paradoxerweise zu einem guten Teil ein Totenreich ist und manche Tote wieder lebendig werden.

    Sprüche an die Lebenden Die 43 Sprüche an die Lebenden lassen sich in drei Teile gliedern.11 Acht Gedichten ohne Titel zu Anfang folgen 27 vorwiegend durch Initialen gekennzeichnete poetische Dedikationen und wiederum acht Gedichte mit allgemeinen Überschriften.

    9 SW IV, 163–187, vgl. EM I, 458. 10 „Im Spruch verdichten sich Lebenserfahrung, Zeiterfahrung, Geschichtsgedächtnis und Mythoserinnerung zu Aussagen der dichterischen Zeitorientierung, der Willensbekundung, der neuen Identitätsstiftung oder der Verkündigung. Spruchhafte Rede und Spruch greifen dabei durchaus auf eine mythische und religiöse Tradition zurück.“ Paul Gerhard Klussmann: Spruch und Gespräch in szenischen Gedichten des Spätwerks von Stefan George. In: WuW 102–113, hier S. 103. Klussmann konzentriert sich auf dialogische Gedichte des Spätwerks, geht dabei allerdings nicht explizit auf die Sprüche des Neuen Reichs ein. 11 Friedrich Wolters differierende Zählung führt insgesamt „dreimal dreizehn“ Sprüche an, wobei er mehrteilige Widmungen zusammenfasst. Hinter der inhaltlich nicht nachvollziehbaren Gliederung steht vielmehr der Versuch, Georges Neuem Reich einen strengen, nach bedeutsamen Zahlen geordne-

    

    Das Neue Reich · Sprüche 

     631

    Die ersten acht Gedichte ohne Titel erschienen bereits 1919 in der letzten Ausgabe der Blätter für die Kunst unter der Überschrift Sprüche (BfdK XI/XII, S. 21  ff.). Sie sind an Woldemar von Uxkull, seinen Bruder Bernhard und Adalbert Cohrs gerichtet. Allerdings waren die beiden Letztgenannten bereits zehn Jahre tot, als Das Neue Reich erschien. Doch der biografische Kontext dieser Gedichte verschwindet hinter ihrer allgemeinen inhaltlichen Formulierung, was ihnen eine höhere Verbindlichkeit verschafft; als Adressaten sollen alle Akteure der Gruppe um George gelten. Bereits im ersten Vers des Auftaktgedichts, das seinen Empfänger Woldemar von Uxkull durch das Akrostichon ‚Woldi‘ verrät, führt George in die zentrale Thematik der Sprüche ein: „Wartend am kreuzweg stehst du in schweben“ (SW IX, 72). Den Mythos des Herkules am Scheideweg evozierend, beschreibt das Gedicht den Moment der Unentschiedenheit und des zögernden Innehaltens vor einer bedeutsamen Wahl. Das Partizip „wartend“ unterstreicht die Unabgeschlossenheit dieses Prozesses, der nicht bloß ein vorübergehender Augenblick ist, sondern eine wichtige Lebensphase („loos-jahr“). Der Sprecher fordert den Adressaten auf, sich zu entscheiden. Wie in allen Widmungsgedichten verwendet er die direkte, persönlich vertraute Anrede in der zweiten Person Singular. Die inszenierte Wahl entspricht einer Initiation in die Welt der Erwachsenen, in der es gilt, sich „als mann“ zu beweisen: Georges Verse inszenieren ein Übergangsritual der Adoleszenz. Worin die im Gedicht vorgestellte Entscheidung besteht, bleibt indes unklar. Dies legt nahe, dass es George weniger um eine inhaltliche Positionierung der angeredeten jungen Freunde geht als um die Darstellung des vorausgehenden, unabgeschlossenen Zustands und damit um die poetische Ausgestaltung von Zweifel und Unbestimmtheit. Dieses Thema zieht sich durch den gesamten Zyklus. Schon das zweite Gedicht beschreibt ebenfalls einen schwankenden Status: „Da das zittern noch waltet / Da ein dunkles noch droht“ (SW IX, 72). Auch im dritten Gedicht, das in der Bildsprache der Taufe eine Initiationshandlung und gleichzeitig ein Übergangsritual entwirft, bleibt am Ende, wenn der Getaufte „schauernd“ sein altes Leben hinter sich gelassen hat, die wesentliche Frage noch zu stellen: „was in wahrheit du giltst“ (SW IX, 72). Die unbestimmte Phase der Bewährung im Neuen hat also gerade erst begonnen. Dies verdeutlichen auch die beiden folgenden Widmungsgedichte, die wie die anderen ersten acht Sprüche an die Lebenden zu Selbsterkenntnis und -verwirklichung aufrufen, die jedoch offenbar noch unabgeschlossen sind: „Doch nicht voll kannst du sie schätzen / Eh du weisst […]“ und „Was dir die erfüllung deucht / […] Ist ein strahlender beginn“ (SW  IX,  73). Das sechste Gedicht des ersten Abschnitts bildet die Erfahrung unbestimmter Entscheidungen formal ab, indem es als Frage endet, während das siebte und achte wieder die ratlose Suche thematisieren: „Wenn es dein geist von selbst nicht

    ten architektonischen Aufbau nachzuweisen, wie er in den vorausgehenden Gedichtbänden angelegt ist, vgl. BG 526.

    632 

     Simon Reiser

    finde. […] Bleibt mein zweifel ein erkühnen“ und „Rätsel flimmern alt und neu / Heut von dir noch nicht gewusst“ (SW IX, 74). Allen acht Anfangsgedichten ist gemeinsam, dass die ihren Adressaten in Aussicht gestellte Befreiung noch nicht eingelöst ist. Sie liegt in einer unbestimmten Zukunft, während die Gegenwart ungewiss und stellenweise sogar bedrohlich bleibt. Dies zeigt sich durch das Wortfeld der Verben „zittern“, „flimmern“, „schweben“ und „schauern“, die einen unsicheren, festen Halt entbehrenden Zustand beschreiben. Den zweiten Teil der Sprüche an die Lebenden bilden die 27  Gedichte, die als Titel die Initialen der Adressaten führen.12 Einige Personen sind mit mehreren Widmungen bedacht, die nummeriert sind. Zu der Sektion der ersten acht Gedichte ohne Titel wird der Übergang durch den gleichen Adressaten, Adalbert Cohrs, hergestellt. Ernst Morwitz verweist auf Georges subtile hierarchische Differenzierungen, wenn der Dichter als Zeichen besonderer persönlicher Verbundenheit die Initialen des Vornamens verwendet, um etwas distanzierender die von Vor- und Nachnamen anzuführen (EM I, 462). Im Fall Albert Verweys schreibt er den Nachnamen aus, um im Kontrast zu früheren Widmungen die gegenseitige Entfremdung zu verdeutlichen und zu zeigen, dass er ihre Kommunikation als öffentlich und von allgemeinem Interesse betrachtet.13 Das Motiv des Übergangs wird metaphorisch durch „schwelle“, „tor“, „weg“, „grenze“ und „furt“ weitergeführt. Dazu passend werden die bereits aufgeführten Verben, die einen unvollendeten Vorgang beschreiben, durch „hoffen“, „suchen“, „sinnen“ und „harren“ ergänzt. Die Metapher des zu öffnenden Tors, das George auch in einigen Sprüchen an die Toten wieder aufnimmt, ist bereits im Stern des Bundes als Sinnbild für die Aufnahme in die exklusive Gruppe um den Dichter eingeführt worden. Dort heißt es: „Hier schliesst das tor: schickt unbereite fort. / Tödlich kann lehre sein dem der nicht fasset“ (SW VIII, 100). Solche misslungenen Initiationen schildern die für Woldemar von Uxkull-Gyllenband bestimmten und an das erste Gedicht des Zyklus inhaltlich anknüpfenden Gedichte W: I–III und das an Percy Gothein gerichtete P:. In W: I heißt es die Bildsprache von Tor und Schwelle aufnehmend, dass, wer sich nicht „Durch des vertrauens arm / […] / Über die einzige schwelle“ (SW IX, 77) tragen lässt, später als „unwissend kind der zeit“ die verschlossene „türe“ nur mühsam sprengen kann. Die getroffene Entscheidung ist, wie in W: II beschrieben, endgültig: „Du hast gewählt und meinst du hast noch wahl“ (SW IX, 77). P: nimmt die Metaphorik des Innen und Außen im Bild des Hauses auf, um das gescheiterte Übergangsritual zu veranschaulichen: 12 Die beiden Gedichte, in deren Titel nach dem Buchstaben statt dem Doppelpunkt drei Punkte stehen, verweisen indes auf Orte, SW IX, 80 u. 163. 13 Zu den in Teilen öffentlich ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten und Missverständnissen Georges mit dem holländischen Dichterfreund vgl. Verweys eigene Darstellung in AV sowie Rudolf Pannwitz: Albert Verwey und Stefan George. Zu Verwey’s hundertstem Geburtstag. Heidelberg u. Darmstadt 1965 u. JA 155–213.

    Das Neue Reich · Sprüche 

    

     633

    Das höchste was von gott dem menschen eignet Kam vor dein haus · hat sich für dich ereignet Du sahest nicht: du bleibst dein leben blind Du merktest nicht: du bleibst dein leben kind. (SW IX, 78)

    Die radikale Reduktion auf ein Entweder-Oder ist umso befremdlicher, als George das in den Gedichten niemals benennt, was es im einmaligen Augenblick (kairos) zu entscheiden oder ergreifen gilt. In L: II heißt es deshalb: „Dies geheimnis ist das schwerste: / Augenblick als höchster Gott“ (SW IX, 79). Aber die Sprüche an die Lebenden bieten auch Beispiele gelungener persönlicher Entwicklung. Etwa wenn George den aus der zweiten Generation des Kreises stammenden und ihn intern wie extern loyal verteidigenden Friedrich Wolters als Bollwerk dem sonst im Kapitel vorherrschenden Schwanken und Zittern gegenüberstellt: „Gefeite beben nicht beim jähsten rucke“ (SW IX, 79). Die dichterischen Talente des Kreises wie Bernhard von Uxkull und Johann Anton erhalten von George ebenfalls eine privilegierte Rolle. Letzterer hat in der Darstellung des an ihn gerichteten J: seine kritische Initiationsphase überwunden, die rückblickend im Imperfekt der ersten beiden Verse der Dedikation erinnert wird. Während dort der Sprecher helfen konnte („trankst bei mir mut“, SW IX, 79), wendet sich das Verhältnis in den beiden folgenden Versen. Im Präsens bekennt der Dichter: „nehme kraft mir auf aus deinem grund“ (SW IX, 79). Aus der sonst bei George poetisch gestalteten und im Kreis gelebten, hierarchischen Lehrer-Schüler-Beziehung ist hier eine gleichberechtigte Freundschaft erwachsen. In B:  I–III, das an Bernhard von Uxkull adressiert ist, begegnet der Sprecher dem „Geliebten“ ebenfalls auf Augenhöhe, wenn beide „in gleichem tritte“ (SW IX, 76) eine Übergangssituation zu meistern haben.14 B:  I endet mit der Bitte: „Bleib mit mir wach bis drin der ruf erschallt“ (SW IX, 76). George wendet den belehrenden und oft tadelnden Duktus ähnlicher Widmungsgedichte in eine demütige Bitte, die jedoch erhebliches Stilisierungspotential enthält, erinnert sie doch an die biblische Ölbergszene, kurz bevor Jesus verhaftet wird. B: II reflektiert poetologisch über den exklusiven Weltzugang der Dichter, um in B: III aus dem gemeinsamen Erlebnis des „innere[n] raum[s]“ im Kontrast zu der in den anderen Sprüchen geschilderten Unsicherheit und dem fehlenden Halt endlich „Gewissheit“ zu erlangen (SW IX, 76). Als Antwort auf die in den Widmungen oftmals gestellte Frage, auf welchem Fundament ein gelungenes Übergangsritual stattfinden kann, verweist George auf die privilegierte Erkenntnisfähigkeit des Dichters. Der dritte Teil der Sprüche an die Lebenden besteht aus acht Gedichten mit einer allgemeinen Überschrift, die nur teilweise einen direkten Personenbezug aufwei-

    14 Ob durch die Tor-Metaphorik auf den Tod als letzten Übergang verwiesen wird, bleibt unklar. Vgl. Werner Kraft: Stefan George (wie Anm. 3), S. 260.

    634 

     Simon Reiser

    sen.15 Durch die Anordnung von Der Tänzer, das als einziges der Gruppe nicht dialogisch ist, vor die Gedichte B. v. ST. I–II wird eine Verschränkung zwischen zweiter und dritter Abteilung der Sprüche an die Lebenden geschaffen, was deren Komposition als geschlossener Gesamtzyklus hervorheben soll. Die Motive der Unsicherheit aus den vorhergehenden Teilen tauchen vereinzelt auf, wenn es heißt: ein „weg führt irr“ (SW IX, 86) oder die „alte bahn führt nicht zum ziel“ (SW IX, 86) und „zitter[n]“ und „geflimmer“ (SW IX, 84) beschrieben werden. Aber zum Abschluss der Sprüche an die Lebenden kontrastiert George die zuvor dargestellte und nur von vagen Andeutungen unterbrochene Ratlosigkeit durch konkrete Stellungnahmen und Belehrung. Die Werte des Kreises wie hierarchisches Führertum („Einer gibt den takt an und den gang“, SW  IX, 84) und praktischer Weltbezug, der in Einheit von Körper und Geist durch pädagogischen Eros wahres Wissen schaffe, werden abgehandelt. George stellt sie vereinseitigenden Anschauungen von Mystik, Theorie und Empirie entgegen. Das letzte Gedicht der Sprüche an die Lebenden mit dem Titel Zweifel der Jünger, das eines der letzten Gedichte Georges ist, entstand wohl unter dem Eindruck von Friedrich Gundolfs Loslösung von George, die der Dichter als „verrat“ (SW IX, 88) empfunden hatte, und gestaltet das Leitmotiv der modernen Unsicherheit und des Unglaubens. Wenn er in scharfer Abgrenzung die Treuen von den Untreuen scheidet („Diesen bringe ich den frieden / Jenen bringe ich das schwert“, SW IX, 88), stilisiert er gleichzeitig durch eine dichte Collage biblischer Zitate die dargestellte soziale Ordnung im Bild der Gemeinschaft um Jesus. Gleichwohl wird der Zweifel, der im unabgeschlossenen Präsens geschildert ist, nicht negiert oder argumentativ entkräftet, sondern die Auseinandersetzung mit ihm zur ungelösten Aufgabe der Gruppe erhoben.

    Sprüche an die Toten Dass George in die Widmungsgedichte auch tote Personen aufnahm, war nicht neu.16 Ab dem Ersten Weltkrieg änderte sich jedoch der Stellenwert der Verstorbenen in der Memorialkultur des Kreises.17 Man könnte dies allein auf die gestiegene Zahl der verstorbenen Mitglieder der Gruppe während der Zeit ihres Bestehens zurückführen, verkennt jedoch dann die Bedeutung, die den Toten im Hinblick auf eine nötige Rekonstitution der Gruppe nach 1918 als idealisierten Vorbildern und Garanten einer

    15 So ist Der Tänzer offenbar an den mit Percy Gothein befreundeten Schüler Harry Zimmermann und Der Weisheitslehrer an Georg Simmel gerichtet. Vgl. EM I, 465 u. 468. Die mittleren sechs Gedichte von Der Himmel bis Belehrung erschienen erstmals 1914 in BfdK X, S. 153  f. 16 Vgl. etwa Erinnrung an Brüssel: Perls für den 1898 verstorbenen Autor der Blätter für die Kunst, Richard Perls, SW VI/VII, S. 166. 17 Simon Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George. Formen und Funktionen eines ästhetischen Rituals. Würzburg 2015.

    

    Das Neue Reich · Sprüche 

     635

    den Tod überwindenden Kontinuität verliehen wird. Dieser Abschnitt soll diese poetischen Stilisierungsstrategien Georges nachzeichnen, um schließlich die übergreifende ästhetische Konzeption des Neuen Reichs als Einheit von Lebenden und Toten aufzuzeigen. Das sich allgemein auf die Toten des Ersten Weltkriegs beziehende Gedicht An die Toten (SW IX, 90) leitet die übrigen sieben personalisierten Epitaphe ein.18 Die durch eine Zäsur in der Mitte geteilten, vierhebigen Verse ohne Endreim wechseln an den beiden Strophenenden mit einem eingerückten zweihebigen Schlussvers. George lehnt sich an Formen der germanischen Langzeile im eddischen Versmaß an.19 Die zahlreichen Stabreime belegen diese formale Analogie („fessel des fröners“, Sein selber […] sende“, „heben sich hände“). Inhaltlich bezieht sich George entsprechend auf die nordische Sagenwelt und die Legende vom Wilden Heer der wiederkehrenden Toten.20 George verknüpft den Mythos allerdings mit einer Heilserwartung, wenn am Ende „mit wahrhaften zeichen / die königsstandarte“ erscheint.21 Doch so wenig wie diese Vision inhaltlich ausgefüllt ist, so unbestimmt bleibt deren zukünftiges Eintreten, das George in den Strophenanfängen durch eine syntaktische Wenn-Dann-Struktur als uneingelöste Möglichkeit darstellt: „Wenn einst“ und „Wenn je“. Der durch die kriegerische Lexik und die Ausrufezeichen an den Satzenden bekräftigte kämpferische Appell, den Friedrich Wolters noch später in dem vermeintlich „tyrtäischen Aufruf“22 ausmachte, wird durch die inhärente Ambivalenz im hypothetischen Konditional des Gedichts wieder zurückgenommen. George versucht, den heroisierten Opfern des Krieges eine pauschale teleologische Sinnstiftung zu geben und übt gleichzeitig deutliche Zeitkritik. Die Gesellschaft habe „aus feigem erschlaffen“ ihre „kür und sende“ vergessen. Die im Titel adressierten „Toten“ sind neben den wirklichen Gefallenen im übertragenen Sinne das ganze

    18 Neben dem Erstdruck in BfdK XI/XII, S. 14 nahm es George in seine 1921 erschienenen Drei Ge­sänge auf, wo es erstmals den Titel An die Toten trägt. Die wiederholte Publikation zeigt, dass George mit dem Gedicht eine Botschaft verknüpfte, die sich an eine breitere Öffentlichkeit richtete. 19 Eine differierende Analyse sieht in der amphibrachischen Versform, die durch die Wort- und Phrasenenden hervorgehoben wird, die formale Entsprechung der Wiederkunft der Toten durch den seltenen antiken Versfuß, vgl. AS 258. 20 Eine mit Heilserwartungen verbundene Rückkehr der Toten findet sich bereits in früheren Dichtungen aus Georges Umfeld. Bei Alfred Schuler heißt es: „Wir kommen wieder. Wir sind nicht tot. / Schwimmende Glieder im Urlichtrot. // Wir sind die Verkünder im lebenden Blut. / Wir hüllen die Sünder in Purpurwut.“ Alfred Schuler: Fragmente und Vorträge aus dem Nachlass. Hg. v. Ludwig Klages. Leipzig 1940, S. 145  f. Vgl. Georg Dörr: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule. Würzburg 2007, S. 349. 21 Die „königsstandarte“ weist Georges Zukunftsvision vor dem Hintergrund der entstehenden Weimarer Republik als antidemokratische Utopie konservativer Prägung aus. Rainer Kolk bezeichnet das Gedicht zu Recht als „Hymne der Konservativen Revolution“ (RK 272). 22 BG 530 u. ähnlich 446.

    636 

     Simon Reiser

    Volk. Die bereits hier intendierte Auflösung der Grenzen zwischen Lebenden, die wie Tote sind, und Toten, die wieder lebendig werden, greift das Kapitelende auf. Bis auf das erste und das letzte Gedicht sind die Epitaphe in den Sprüchen an die Toten formal unauffällig und rhetorisch schmucklos gehalten. Sie sollen weniger durch ihre Form als durch den transportierten Inhalt wirken. In epigrammatischer Kürze stellen die poetischen Dedikationen besondere Wesenszüge oder konkrete Augenblicke aus dem Leben der Verstorbenen dar. Der Kriegstod selber wird bis auf eine Ausnahme23 idealisiert oder ganz ausgeblendet. Im Gegensatz dazu werden die Toten wahlweise als Gelehrte, wie im Fall des Platon-Forschers Heinrich Friedemann und des Hölderlin-Philologen Norbert von Hellingrath, oder als ritterliche Helden („mit welcher Haltung ihr den markt durchrittet“, SW  IX, 92) geschildert. George mischt diese schematischen Rollenzuschreibungen mit deutlicher Zeitkritik. Durch die poetische Konstruktion positiver Erinnerungsbilder wollte der Dichter die grausame Realität ästhetisch depotenzieren. Gegenüber Edith Landmann soll der Dichter die Überzeugung geäußert haben, über Tod und Schrecken tröste allein die Erinnerung an Nicht-Grausames (vgl. EL 89). Der Tod der Soldaten wird als „bestimmung“ (SW IX, 91) verstanden. In Heinrich F. und Norbert heroisiert George eine Schicksalsergebenheit, die „angebotne schonung stolz verschmäht“ (SW IX, 92). Als entscheidende Motivation des Kriegseinsatzes führt er nicht den patriotischen Kampf für das Kaiserreich an, sondern konstatiert diese in der Kenntnis von einem „hauch […] geheimer welt“ (SW IX, 92). Diese Formulierung verweist auf die im George-Kreis ab 1910 gebräuchliche Chiffre für die gemeinsame Weltanschauung vom ‚Geheimen Deutschland‘24. George stilisiert die Gefallenen als Kämpfer für die von ihm vertretene Utopie einer geistigen Wende, deren Realisierung er sich zwar zu dieser Zeit nicht mehr vom Krieg erhoffte,25 auf die jedoch in stoischer Haltung und ohne Rücksicht auf das eigene Leben hingearbeitet werden müsse.26 Das Leitmotiv des Übergangs und der Entscheidung aus den Sprüchen an die Lebenden aufnehmend, schildert George in den Epitaphen jedoch auch exemplarisches Scheitern. Besonders am Fall des am Krieg nicht unmittelbar beteiligten Dichters Walter Wenghöfer wird das deutlich, dem George Walter W. widmete und dessen Tod in der letzten Folge der Blätter für die Kunst 1919 zahlreiche weitere Akteure des George-Kreises zu Epicedien inspirierte.27 Der wenig heroische Selbstmord des

    23 Die realistischste Darstellung des Todes in einer Massenschlacht findet sich in Norbert, wenn es heißt, er sei „in feuer erd und luft zerspellt“ (SW IX, 92). 24 Zur Begriffsgeschichte ‚Geheimes Deutschland‘ vgl. u.  a. TK 409 u. Peter Hoffmann: Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Die Biographie. München 2009, S. 71  f. 25 Zu Georges Einstellung zum Ersten Weltkrieg vgl. Jürgen Egyptien: Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg. In: WuW 197–212 u. TK 491–511. 26 Werner Kraft urteilt deshalb über Norbert: „Es ist ein großes Gedicht. Aber der Halt, den es ausdrückt, ist unmenschlich.“ Werner Kraft: Stefan George (wie Anm. 3), S. 77. 27 Vgl. BfdK XI/XII, S. 65  f., 175, 196 u. 238  ff.

    Das Neue Reich · Sprüche 

    

     637

    depressiven Wenghöfer kurz vor Kriegsende machte es für die Gruppe um George nötig, seinen Tod zu erklären, um dessen destruktives Potential für ihre innere soziale Ordnung zu minimieren. In Walter W. (SW IX, 91) nimmt der Sprecher die Perspektive des auf sein Leben zurückblickenden Toten ein, statt ihn wie in den anderen Epitaphen direkt anzusprechen. Die vielen Interrogativsätze unterstreichen die resignative und ratlose Haltung des Gedichts.28 Die Frage „wo ist ein halt noch heut wo eine stütze?“ artikuliert eine deutliche Zeitkritik, die in Metaphern der Instabilität („pfosten faulen“) und des Verfalls („im morschen bau“) gefasst wird, und gleichzeitig das Bedürfnis nach festen Normen und Orientierungen. Dass es solche gibt, wird in der letzten Strophe lediglich angedeutet. Doch „nicht wort und wissen“ helfen zu dem möglicherweise rettenden „hort“, den der Sprecher nicht erreichen kann und deshalb resigniert, um sich am Ende verzweifelnd das Leben zu nehmen. Die dominante Metapher der Sprüche, die Schwelle, wird wieder eingeführt, um den unbestimmten Übergangszustand zu bezeichnen. George deutet Wenghöfers Selbstmord als Reaktion auf die moderne Gesellschaft, die dem Einzelnen in ihrer Relativität keine verbindlichen Leitlinien geben kann. Einen möglichen Ausweg aus diesem Dilemma bildet das Versprechen eines ordnenden Gegenkonzepts zum gesellschaftlichen Verfall, doch es bleibt offen, worin dieser „hort“ besteht und wie er zu erreichen ist. Damit fügt sich das Widmungsgedicht in die im Neuen Reich dargestellte Unsicherheit und Unbestimmtheit hinsichtlich einer Antwort auf die Problemstellungen der Moderne ein, die als selbstkritische Reflexion auf Georges Selbstinszenierung als prophetischer Künder in den vorhergehenden Gedichtbänden zu sehen ist (vgl. DP 135  f.). Das moderne Subjekt wird auf sich selbst zurückverwiesen und Wenghöfers Scheitern kontrastiert exemplarisch die heroischen Kämpfer aus dem Kollektiv des Kreises. Dass falsche oder vergebliche Entscheidungen endgültige Konsequenzen haben und sogar den Tod bedeuten können, zeigt das an Wolfgang Heyer gerichtete Gedicht Wolfgang (SW IX, 92). Erneut gilt es für den Angesprochenen, ein „rätsel“ zu lösen, doch als der geeignete Augenblick (kairos) verstrichen ist, muss dieser um den „entgangnen schatz“ trauern. Die Ratlosigkeit überträgt sich auf den Sprecher: Was soll ich deinem stummen blick erwidern? Ich gäbe gern dir mehr zum abschied mit .. Scheuch diese trauer unter deinen lidern Sonst · reiter · ziehst du aus zum lezten ritt. (SW IX, 92)

    28 Dirk von Petersdorff interpretiert, George habe seine eigene Resignation in der Rolle Wenghöfers artikuliert. Es ist jedoch fraglich, ob sich George als Scheiternder sah, zumal er nicht wie Wenghöfer abseits der Gruppe stand. Vielmehr will er Wenghöfer als mahnendes Beispiel eines am Zeitgeschehen verzweifelnden Menschen stilisieren, der nicht die vermeintlich rettende geistige Sphäre des Kreises und seiner Gemeinschaft erreicht, vgl. Dirk von Petersdorff: Als der Kampf … (wie Anm. 5), S. 343.

    638 

     Simon Reiser

    Der Leser denkt dank seines Erkenntnisvorsprungs die Vergeblichkeit der Warnungen mit. Die Kommunikation ist bereits gestört, wovon der „stumme blick“ und die unbeantwortete Frage zeugen. Wie in allen Sprüchen an die Toten wird im Gedicht keinerlei Trauer bekundet. Indem George den übergeordneten, schicksalhaften Zusammenhang der Kriegstoten beschwört, verlieren die individuellen Todesfälle merklich an Profil, und die Nachrufe vermitteln „mehr Feierlichkeit als echte innere Bewegung“ (CD 351). Dies gilt besonders für die beiden Balduin Waldhausen gewidmeten poetischen Nachrufe, wobei der zweite von Friedrich Wolters stammt. Die Aufnahme der Widmungsgedichte unter die Sprüche an die Toten ist bemerkenswert, da Waldhausen zum Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung 1919 in den Blättern für die Kunst noch lebte, wenngleich er im Krieg schwere Hirnverletzungen erlitt, denen er ein Jahr später erlag. Dass er bereits zu den Toten gerechnet wird, zeigt, wie uneindeutig die Grenzziehung zwischen Lebenden und Toten im Neuen Reich ist. George stilisiert Waldhausen als heroischen Reiter. Doch die Erinnerung an die Vergangenheit verblasst und ist als „fernes bild“ in den Bereich der „sage“ (SW IX, 92) entrückt. Der Dichter illustriert damit sein Verfahren poetischer Memorialdichtung, das kollektive Erinnerungsbilder aus stilisierter persönlicher Erfahrung konstruiert. Michael Winkler hebt den prospektiven Charakter des Gedichts hervor, das „Historisches jeglicher Art abstreift und dafür eine mythisch-sagenhafte Vision als testamentarischen Aufruf an die kommende Zeit“29 bildet. Die Zeitstruktur des Gedichts verdeutlicht diese Transformation. Sind die ersten drei Verse im Imperfekt geschrieben, so wechselt der Sprecher im letzten Vers ins Präsens. Durch die deutlichen politischen Aussagen hebt sich Friedrich Wolters’ Balduin (SW IX, 93) von den anderen Epitaphen ab. Im Gedicht wechselt sich ein kollektiv als ‚Wir‘ auftretender Gefallenenchor mit einem Sprecher-Ich ab, das in den letzten drei Versen jeder Strophe das Geschehen kommentiert. Es handelt sich demnach nicht um ein dialogisches Gedicht, sondern um einen Wechselgesang, in dem der Sprecher als vermittelndes Medium zwischen Toten und Lebenden fungiert. Die Toten beklagen ihr vergebliches Opfer für das Vaterland, das von den Überlebenden verraten worden sei. Zahlreiche Anspielungen betreffen die politische Situation 1918 wie die Ausrufung der Republik und die Abdankung Kaiser Wilhelms II. Die Anrede „meutrer“ meint offensichtlich die Kieler Matrosenrevolte und bestärkt die Verfechter der Dolchstoßlegende, nach der Deutschland den Krieg vor allem wegen des mangelnden Rückhalts und der Revolten in den eigenen Reihen verloren habe.30 Statt das Verhältnis zwischen Lebenden und Toten zu normalisieren, formt das daher als Anti-Epicedium konzipierte Gedicht es in ein Schuldverhältnis um: Die Toten

    29 Michael Winkler: Der Jugendbegriff im George-Kreis. In: „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend. Hg. v. Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz u. Frank Trommler. Frankfurt/M.  1985, S. 479–499, hier S. 490. 30 Vgl. den Kommentar zu Balduin in SW IX, 171.

    

    Das Neue Reich · Sprüche 

     639

    können nicht vergessen, obwohl sie es wollen, und die Lebenden sollen nicht erinnern, obwohl sie es tun. Die Botschaft des Gedichts ist, dass die erlösende Sinnstiftung des Krieges für Lebende und Tote noch geleistet werden muss. Bis dahin bleiben die Toten präsent und ihre „klage furchtbar auf den stirnen stehen“. Diese Präsenz der Toten ist ein leitendes Kompositionsprinzip der Sprüche. Friedrich Wolters schreibt bereits 1929, Georges Widmungsgedichte „weben […] um die Lebenden und Toten ein unzerreißbares Band“ (BG 446). Die vermeintlich binäre Trennung beider Welten wird schon auf biografisch-chronologischer Ebene aufgehoben, wenn im Fall Bernhard von Uxkulls und Adalbert Cohrs’ Tote unter die Sprüche an die Lebenden aufgenommen sind und der noch lebende Balduin Waldhausen unter die Toten eingereiht ist. Doch das Motiv durchzieht ebenfalls die inhaltliche und formale Gestaltung der Epitaphe, etwa wenn George in An die Toten die Wiederkehr der Gefallenen prophezeit oder die Toten direkt anspricht. Auf diese Weise wird eine Anwesenheit der Abwesenden ästhetisch gestaltet. Ernst Osterkamp hat zuerst auf die das Neue Reich prägende Gedankenfigur der Aufwertung der Toten gegenüber den Lebenden hingewiesen.31 Er sieht darin eine resignative Haltung Georges ausgedrückt, wonach die Idee einer durch die Kunst zu stiftenden geistigen und gesellschaftlichen Reform nach dem Ersten Weltkrieg einer poetischen Sepulkral- und Memorialkultur weicht: „Lebenserneuerung aus dem Geiste der Nekrophilie: […] Stefan Georges Neues Reich war zum Totenreich geworden.“ (EO 53) Die Konzeption der Idee, „dass nochmals wachstum bricht aus totenwelten“ (SW IX, 81), reicht indes bis in die frühen Jahre des George-Kreises, dessen soziale Transformationen seit seinem Bestehen eng mit poetisch inszeniertem Totengedenken verbunden sind, wovon am prominentesten der Kult um Maximin zeugt.32 Wenn George nach 1918 im Gedicht die Grenze zwischen Totenreich und lebendiger Gegenwart verschwimmen lässt, so verbindet er damit eine politische und ästhetische Botschaft. Im Ritual der Memorialdichtung konstruiert er eine zeitlose Gegenwelt zur Gesellschaft und verlagert trotz aller Zeitkritik die Vision einer geistigen Erneuerung in eine unbestimmte Zukunft. Gleichzeitig erhebt er das Medium der Dichtung zum Mittler zwischen Lebenden und Toten. Ihm kommt in der säkularisierten Moderne die

    31 In seiner exemplarischen Interpretation von Georges Der Gehenkte konstatiert er „eine fundamentale Umkehrung von Leben und Tod im wahrsten Wortverstand […], derzufolge der Lebende der wahrhaft Tote, der Tote aber der wahrhaft Lebendige ist“ (EO 29); vgl. auch GHb I, 216. 32 Auf die Wurzeln der Sepulkralkultur im Umkreis der Münchner Kosmiker-Runde verweist Wolfgang Frommel: „Der Glaube des Altertums, dass die verklärende Aura um jugendliches Leben nur durch die Befruchtung aus dem Totenreich, nur durch den Dienst am Gedächtnis der Toten erhalten werde, war für Schuler eine Grunderfahrung […]. Hier gibt es wichtige Berührungspunkte mit George.“ Wolfgang Frommel: Alfred Schuler. In: CP 34 (1985) H. 168–169, S. 5–23, hier S. 20. Zum Totengedächtnis im George-Kreis als identitätsstiftendem sozialem Kohäsionsmodell vgl. Simon Reiser: Totengedächtnis (wie Anm. 17).

    640 

     Simon Reiser

    Aufgabe zu, eine Anwesenheit der Abwesenheit herzustellen und eine Kontinuität der Erinnerung zu stiften.33 Die Sprüche an die Toten zeigen den Tod als Erfüllung eines vorbestimmten persönlichen Schicksals angesichts einer defizitär empfundenen Gegenwart, in der es jenseits aller nationalistischen oder militärischen Ziele den Glauben an ein höheres Leben zu bewahren gilt.34 Dass diese rettende Utopie nur innerhalb des Kreises zu finden ist, deutet George mehrfach an. Zweifel an den Werten der Gruppe führen dagegen zum Verlust der individuellen Integrität, zu Verzweiflung und Tod, wie die Fälle Adalbert Cohrs und Walter Wenghöfer zeigen. Dies ist nach dem Ersten Weltkrieg Georges Botschaft an die den Kreis neu konstituierende Generation.35 Statt zu trauern, sollen die zukunftsweisenden Kohäsionskräfte der Gruppe aktiviert werden. Zugleich sind die Epitaphe jedoch nicht bloß Teil einer privaten Nekrologie des Kreises, wie sie es noch im Fall Maximins waren, sondern sollen Georges gesellschaftliche Außenwirkung als prophetischer Sinnstifter der Nation etablieren.36 Dies zeigt sich an den vagen politischen Visionen in An die Toten oder durch die Aufnahme von Friedrich Wolters’ agitatorischem Gedicht Balduin. Paradoxerweise reihen gerade die ästhetischen Distinktionsbemühungen Georges und seine Zeitkritik die Sprüche an die Toten in den Diskurs der Gefallenenliteratur konservativer Kreise der Weimarer Republik ein, von denen sich sein Kreis bis dahin gerade abzugrenzen suchte.37 Wie George verstand man dort den Krieg als alternativloses Schicksalsgeschehen und ästhetisierte den Tod in den Massenschlachten als heroisches, idealistisches Opfer. Der Soldat kontrastierte als Held den verunglimpften Durchschnittsbürger und der Kampf wurde als individueller Reifungsprozess verstanden.38

    33 Osterkamp sieht die klassische Auffassung der „Kunst als Todtenbeschwörerin“ schon bei Nietzsche präfiguriert und formuliert, vgl. EO 53. 34 Dieser Gedanke findet sich bereits in Georges Der Krieg, wo es heißt: „Sie ziehn um keinen namen – nein um sich“ (SW IX, 23), vgl. RK 273. 35 „Ideologisch wurde in Bestätigung umstilisiert, was die Tragfähigkeit der Ideologie des Kreises hätte in Zweifel ziehen können. […] Der bis in die physische Selbstvernichtung vorgetriebene Zweifel wird umgedeutet in die real gewordene Heilsgewißheit. Freudiger Glaube und Sieg sind identisch, wer trauert, den holt der Tod.“ Hans Norbert Fügen: Der George-Kreis in der „dritten Generation“ (wie Anm. 1), S. 345. 36 So deutet Friedrich Wolters die Sprüche an die Toten gemäß seinen nationalistischen Vorstellungen als „Sinnbilder des ganzen vaterländischen Geschehens“, BG 446. 37 Wichtige Motive und Stilisierungstendenzen der Nachkriegsliteratur in der Weimarer Republik stellt Georg L. Mosse vor, der allerdings die poetischen Nachrufe des George-Kreises nicht berücksichtigt. Vgl. Georg L. Mosse: Soldatenfriedhöfe und nationale Wiedergeburt. Der Gefallenenkult in Deutschland. In: Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Hg. v. Klaus Vondung. Göttingen 1980, S. 241–261. 38 „Der Krieg war an die Stelle des Duells als Feld männlich-heroischer Subjektkonstitution getreten.“ Birgit Dahlke: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900. Köln, Weimar u. Wien 2006, S. 201.

    

    Das Neue Reich · Sprüche 

     641

    Fazit Der Sprüche-Zyklus im Neuen Reich folgt zwei leitenden Motivkomplexen, welche die Gesamtaussage des Gedichtbandes mitprägen und im Kontext von Georges Auseinandersetzung mit der Moderne zu verstehen sind.39 Dies sind die Unsicherheit und der Zweifel des Subjekts im Augenblick einer bedeutenden Entscheidung sowie die Auflösung der strikten Trennung der Bereiche von Lebenden und Toten. Statt wie in früheren Werken selbstbewusst formulierte Lösungen und stabile Wertfundamente zu propagieren, inszeniert George unabgeschlossene Übergangsund Entscheidungsprozesse in einer Ästhetik des Unbestimmten.40 Bildlich veranschaulicht er diese, indem er die bereits in früheren Gedichtbänden verwendete Metaphorik von Tür und Schwelle aufnimmt. Dass eine Befreiung aus der Unsicherheit des modernen Subjekts in einzelnen, vorübergehenden Bewährungssituationen möglich ist, zu denen George auch den Krieg zählt, zeigen positive Initiationen wie etwa bei den jugendlichen Dichtern der Gruppe, deren Gemeinschaft eine vage in Aussicht gestellte Sicherheit bildet. Diese Gemeinschaft wird als Reich der Lebenden und Toten gestaltet, was durch biografische, inhaltliche und formale Verknüpfung beider Bereiche geschieht. Damit weisen die Sprüche auf ein Geschichtsbild des späten George, das der gewöhnlichen diachronen Auffassung von Ereignissen eine Vergangenheit und Zukunft einschließende Gleichzeitigkeit entgegensetzt. Die Gegenwart ist demnach ein permanenter Übergangsprozess, in dem sich der Einzelne bewähren muss. In den Sprüchen verbindet sich die gängige ästhetische Form des Widmungsgedichts mit dem konstituierenden Vollzug gemeinschaftlicher Handlungsanweisungen und sozialer Rollen, etwa in den zahlreichen Initiations- und Übergangssituationen. Durch diese doppelte Bestimmung erweisen sich die Sprüche als modellhaft inszenierte Rituale.41 Als solche lassen sie sich zugleich in ihrem kommunikativen Gehalt und in ihrer poetischen Evidenz verstehen. Poetische Rituale sind die Sprüche in zwiefachem Sinn. Sie gestalten erstens die Struktur der Wirklichkeit mit ästhetischen Mitteln als unabgeschlossenen Prozess des Übergangs und permanente liminale

    39 Vgl. EO 50  f. u. Dirk von Petersdorff: Als der Kampf … (wie Anm. 5). Ähnlich auch Bernhard Böschenstein: Stefan Georges Spätwerk als Antwort auf eine untergehende Welt. In: WuW 1–16. 40 Böschenstein diagnostiziert die „Gleichzeitigkeit drängender Vergegenwärtigung und abwehrender Verschließung“ im Neuen Reich, lässt dabei allerdings die Sprüche als dessen Mittelteil vollkommen aus. Vgl. ebd., S. 15. 41 Allgemein zum Ritualbegriff und seiner Anwendbarkeit auf literarische Werke vgl. Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen 1996, v.  a. S. 25 u. S. 119. Braungart zeigt in seiner darauf aufbauenden Studie Ästhetischer Katholizismus: Stefan Georges Rituale der Literatur, wie Merkmale des poetischen Rituals das Werk Georges bestimmen, das formal wie funktional der katholischen Liturgie verpflichtet sei. Der doppelte Ritualbezug der Sprüche als soziales Ritual und durch die in ihnen inszenierten Rituale wird dagegen nicht behandelt. Vgl. WB.

    642 

     Simon Reiser

    Phase des Außeralltäglichen. Paradoxerweise funktionieren sie zweitens gleichzeitig als Initiationsriten, die mittels geformter, inszenierter, performativer und symbolischer Kommunikation auf eine soziale Ordnung der Gruppe verweisen und diese gleichzeitig konstruieren.42

    Interpretation von VICTOR * ADALBERT (SW IX, 94–96) VICTOR * ADALBERT V: Was über unsrer sonnenseligkeit Im schönen bergland als ein schatten lag Den froh wir scheuchten – sag nun deine trauer! A: Da alles volk noch eitle hoffnung nährt Seh ich in solches wirrsal solches graun Schon drohend nah – dass ichs nicht teilen mag. V: Nur mehr gefahr soll uns nur mehr erweisen. A: Gefahren hab ich lang genug getrozt Genug im mord gestampft – seit ich genas Und zur besinnung kam bin ich gewiss Dass dies ein wahnwitz der mit wahnwitz schliesst Und dass ich bei dem nächsten eisenhagel Als erster sinke – lieber scheid ich frei. V: Doch das ist flucht und flucht ist feig. A: Für den Der mit dem leben geizt · das tu ich nicht .. V: Du greifst den Göttern vor – sprichst nicht mehr fromm. A: Sie selber gaben mir das andre auge. V: Gemahnt ich dich wen all du weinend lässest Und triffst – wie tief – durch ein unfassbar tun: So schweigte mich dein wuchtigeres wort. Doch woher nimmst du · träger du der weihe Dies recht des raubs? A: Weil ich die weihe trage Grad darum will ich mein gesetz erfüllen Darf ich nichts tun was mich zum mindren macht · Mir ziemt ein sturz nicht mehr durch blinden zustoss Sowenig wie ein dasein langsam welkend Im kommenden unsäglichen zerfall.

    42 Vgl. ebd., S. 101.

    Das Neue Reich · Sprüche 

    

     643

    Wenn wir noch bleiben werden wir verwesen .. Wenn jezt wir frank und stolz die erde lassen Wird uns der lichte wandel nicht benommen Werden wir blühen wie die ewigen sterne .. V: Teurer · begreifst du mich jezt ein? So hör: Wie sehr dein stärkrer odem mich durchregt Ich kann mit deinem blick nicht sehn .. dein zwang Ist nicht mein zwang · an deiner seite wacht ich Und schlief den schönsten frühling ohne sorge. Nur manchmal schien seit unsrer lezten einung Dass etwas dünnres uns umweht als luft Dass etwas leichtres in uns pulst als blut. A: Ich will nicht bitten und ich darf nicht binden Folgst du nicht meinem – nein – dem andren ruf So weiss ich sicher deine lippen blassen Eh noch die gräser gilben. Sieh ich zittre! In wirklichkeit vermag ichs nicht zu schaun .. V: So bangt dir nach den wunderbaren stunden Voll reichtum und voll glanz. A: Nun ist die wende! V: Dort liegt der Hexenberg in falbem schein ’s ist zeit der grausen tänze .. Eh du · Wilder · Nochmals so redest warte bis zum neumond! A: Du kind machst scherz am grab · der dunkelgeist Der in mir waltet kennt nicht solchen spuk. Was unersättigt in mir tobt – du rätst es .. V: Wirst du auch gehen ohne mich? A: Ich muss. V: Ob die gemeinsam langen strahlen-morgen Ob diese heissen abende im tal Die heitre ruhe während welten bersten Zuviel an glück nicht war für erdensöhne Ob dies nicht sühne heischt – ich weiss es nicht .. Ob eine andre not als die wir kennen Die düstre tat befiehlt – ich weiss es nicht. Ich spüre keinen götterwink für mich. Doch glaub ich alles dir was für Dich gilt .. Und bleibe treu dem schwur der uns verbunden Im jünglingsjahr den immer wir besiegelt .. Ich bin untrennbar mit dir · seis auch schuld · Und wenn nach deinem schicksal du beschlossen Durchs dunkle tor zu gehn: so nimm mich mit! (SW IX, 94–96)

    Dem Dialoggedicht Victor * Adalbert kommt als Schlussgedicht der Sprüche an die Toten wie des Mittelteils des Neuen Reichs eine herausgehobene Position zu, die es mit seiner Länge noch bekräftigt. Gleichzeitig schließt es durch den Personenbezug den Bogen zum Beginn der Sprüche an die Lebenden, die hauptsächlich an Bernhard

    644 

     Simon Reiser

    von Uxkull und Adalbert Cohrs gerichtet sind. Das intendiert einen zyklischen Aufbau der Sprüche und verdeutlicht, wie stark die Bereiche des Lebens und des Todes konzeptionell aufeinander bezogen sind. In der exemplarischen Interpretation soll gezeigt werden, dass im Gedicht persönliche Bewährung und unabgeschlossene Entscheidungssituationen als beherrschende Themen des Sprüche-Zyklus ausgestaltet werden. Gleichzeitig lässt sich an Victor * Adalbert belegen, auf welche Weise George faktische Ereignisse innerhalb seines Kreises mittels poetischer Erinnerungskonstruktion fiktionalisiert und welchen Einfluss das auf Zeugnisse der späteren Selbsthistorisierung des Kreises hat.1 Bernhard Victor Graf von Uxkull-Gyllenband und Adalbert Cohrs, sein Freund seit Schulzeiten, gehörten zu der sogenannten ‚Enkelgeneration‘ des George-Kreises, da sie von einem bereits etablierten Akteur der Gruppe, ihrem Mentor Ernst Morwitz, an diese herangeführt wurden. Bernhard von Uxkull, im Kreis „Victor“ genannt, weckte bald Georges Interesse durch seine ambitionierten dichterischen Versuche. 2 Im Sprüche-Zyklus nehmen beide Freunde eine bedeutende Rolle ein, da zahlreiche Widmungsgedichte in beiden Teilen an sie gerichtet sind. So wird allein durch ihre Personen die Trennung zwischen Lebenden und Toten aufgehoben, wenn sie schon durch die Komposition der Gedichte als Vermittler beider Sphären dargestellt werden. Die Freunde meldeten sich freiwillig wie viele aus ihrer Generation, auch im George-Kreis, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Cohrs’ Kriegsbegeisterung verflüchtigte sich jedoch schon nach kurzer Zeit. Überlegungen, dem Kampfgeschehen zu entgehen, bestimmen seinen Briefwechsel mit George, zu dem unter anderen die in die Sprüche an die Lebenden aufgenommenen Widmungsgedichte A : I–III gehören (SW  IX,  75) George verwies Cohrs darin nachdrücklich auf die von ihm erwartete Pflichterfüllung im Krieg, die er als persönliche und schicksalhafte Bewährung begriff. So heißt es in A : III: „Du darfst nicht murren · ward dir nun beschlossen / Des wahren lebens ander teil: gefahr“ (SW IX,75). Doch nicht einmal drei Wochen nach dem letzten Treffen mit George im Harz setzten sich Cohrs und Uxkull offenbar nach gemeinsamer Absprache von ihren Truppen ab und versuchten in die Niederlande zu desertieren. Aber die Aktion misslang, sie wurden kurz vor der Grenze verhaftet. Für diesen Fall hatten sie offenbar vereinbart, Selbstmord zu begehen, weshalb sie sich in getrennten Zimmern am 28. Juli 1918 in Kaldenkirchen erschossen.

    1 Vgl. meine Interpretation in Simon Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George. Formen und Funktionen eines ästhetischen Rituals. Würzburg 2015, S. 201–208. 2 1919 erschienen Uxkulls Gedichte posthum in BfdK XI/XII, S. 267–272. Insbesondere sein Gedichtzyklus Sternwandel, nach dem man ihn „Sternwandeldichter“ taufte, wurde im George-Kreis gerühmt. Vgl. Percy Gothein: Begegnungen mit dem Dichter. Aus einem Erinnerungsbuch. Amsterdam 1953, S. 55– 59. Uxkulls gesammelte Gedichte erschienen über 40 Jahre nach seinem Tod. Bernhard Victor Graf von Uxkull-Gyllenband: Gedichte. Hg. v. Ernst Morwitz. Düsseldorf u. München 1964.

    

    Das Neue Reich · Sprüche 

     645

    George traf die Nachricht kurz vor Kriegsende schwer, da ihm die beiden Freunde von den Kriegsteilnehmern seines Kreises am nächsten standen. So wird überliefert, er habe gesagt, dass ihm „beide beine abgeschossen“ worden seien.3 Von den Toten existieren keine Abschiedsbriefe oder sonstige Erklärungen. George meinte, jene wollten, dass „wir die Deutung ihres rätselhaften Tuns selber fänden“4. Die Umstände des Todes, die George und dem Kreis sicherlich bekannt waren, Desertion und Selbstmord, passten indes nicht zu dem Selbstverständnis der Gruppe, deren Wertvorstellungen sich im Appell an die ‚Haltung‘ des Einzelnen als Repräsentant ewig gültiger Normen ausdrückten. Daher begann man bereits in der letzten Folge der Blätter für die Kunst (1919), den Tod der Freunde in Gedichten heroisch zu stilisieren und so mittels Dichtung eine Legende zu schaffen, die für die Identitätsbildung des Kreises in den 20er Jahren zum Maßstab werden sollte.5 Von den übrigen Widmungsgedichten setzt sich Victor * Adalbert durch die Länge und seine konsequente dialogische Struktur ab, die das Gedicht dem szenischen Drama annähert. Dieser Eindruck wird durch dramatisierende Effekte wie temposteigernde Antilaben und durch Gedankenstriche unterbrochene Einfügungen verstärkt. In reimlosen Versen mit alternierenden Fünfhebern greift George auf den seit Shakespeare vor allem im deutschen Drama, aber auch in seinen eigenen hymnischen Geschichtsdeutungen zu Beginn des Neuen Reichs verwendeten Blankvers zurück. Die Sprecher sind als „V“ (= Victor) und „A“ (= Adalbert) namentlich gekennzeichnet. Die formalen Mittel zielen darauf ab, das Dargestellte möglichst objektiv und authentisch erscheinen zu lassen, eine Strategie, um die hochgradige Stilisierungsabsicht des Gedichts zu verschleiern.6 Die Wahl der Form und der einhergehende Verzicht auf einen kommentierenden Sprecher sollen das Geschehen unmittelbar vor Augen führen. Gleichzeitig schafft George einen Erinnerungstext, der, dem Leitmotiv der Sprüche folgend, die Toten nicht als entrückte Personen der Vergangenheit darstellt, sondern sie als lebendige Akteure anwesend machen soll. Auf diese Weise wird ihr Denken und Handeln zu einem Appell, der nicht bloß Historie ist, sondern für Gegenwart und Zukunft relevant wird. Das Gedicht schildert einen Dialog der Freunde nach ihrem Heimataufenthalt im „schönen bergland“ des Harzes, wo George beide zum letzten Mal vor ihrem Tod traf.

    3 EL 66, vgl. die weniger drastische Fassung ebd. S. 186  f. 4 Percy Gothein: Begegnungen mit dem Dichter (wie Anm. 2), S. 55. 5 Weitere Widmungsgedichte auf Bernhard von Uxkull und Adalbert Cohrs stammen von Ernst Morwitz und Woldemar von Uxkull-Gyllenband, vgl. BfdK XI/XII, S. 211  ff., 217 u. 273–277. Noch den später zum Kreis stoßenden Brüdern Stauffenberg, die Vettern von Bernhard von Uxkull waren, galt Bernhard von Uxkulls heroische Tat als Vorbild. Vgl. Peter Hoffmann: Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Die Biographie. München 2009, S. 48. 6 Victor (!) A. Schmitz spricht dem Gedicht dennoch aufgrund seiner Form die Absicht zu, die Ereignisse vor dem Tod der Freunde möglichst objektiv darstellen zu wollen. Victor A. Schmitz: Bilder und Motive in der Dichtung Stefan Georges. Düsseldorf u. München 1971, S. 76.

    646 

     Simon Reiser

    Durch diese biografische Referenz soll Georges Rolle als Vermittler des Geschehens beglaubigt werden. Gleichzeitig kontrastiert die Lichtmetaphorik der „sonnenseligkeit“ während der gemeinsamen Tage in der Runde um den Dichter die am Ende des Gedichts durch das „dunkle tor“ des Todes illustrierte Tragödie. Auf die Frage Victors nach dem Befinden des Freundes schildert Adalbert seine Hoffnungslosigkeit und deutet an, dass er desertieren will, um dem „wirrsal“ und „graun“ an der Front zu entgehen. Das Gedicht verortet sich demnach wie viele der Sprüche in einer für den Einzelnen bedeutungsvollen Übergangs- und Entscheidungssituation, in deren Offenheit es sich zu bewähren gilt. Im Unterschied zu den statischen Beschreibungen der vorangehenden Widmungsgedichte, in denen der bedeutende Beschluss des Adressaten entweder noch nicht oder bereits endgültig vollzogen ist, gibt die Dialogform die Möglichkeit, seinen Prozess nachzuvollziehen. Victor versucht seinen Freund erfolglos mit verschiedenen Argumenten von den Plänen abzubringen. So appelliert er an seinen Mut und die Verantwortung gegenüber anderen. Doch Adalbert glaubt nicht an die Möglichkeit individuellen Heldentums im „wahnwitz“ der kollektivierten Massenschlachten und stellt dem seine freie Selbstbestimmung entgegen.7 Gleichzeitig betont er den Mut, der zu seiner Entscheidung gehört, und erwähnt erstmals die Möglichkeit des Selbstmords („lieber scheid ich frei“). Der Vorwurf, dass er damit an den Göttern frevele, entkräftet er, da diese ihm neben seinem Leben auch das „andre auge“ verliehen hätten, das ihm ermöglicht, den Wahn des Krieges zu durchschauen. Als „träger der weihe“ ist er seinem eigenen „gesetz“ mehr verpflichtet als den Hinterbliebenen. In dieser Haltung zeigt sich das Eliteverständnis der Gruppe um George („nichts tun was mich zum mindren macht“), deren Normen und Werte hier im Zentrum des Gedichts mit der Erwägung von Fahnenflucht und Selbstmord konfrontiert werden. Wenn Adalbert es vorzieht, lieber „frank und stolz“ in den Tod zu gehen, als den „unsäglichen Zerfall“ weiter aushalten zu müssen, so artikuliert sich wie schon in dem Spruch für den Selbstmörder Walter W. (SW IX, 91) eine deutliche Gesellschaftskritik, die George für eine indirekte Schuldzuweisung an der Tragödie Uxkulls und Cohrs’ nutzt. Wenn Adalbert an dieser Stelle im Dialog erneut den Suizid erwägt, bezieht er diesmal den Freund mit ein, indem er vom ‚Ich‘ zum ‚Wir‘ übergeht. Er imaginiert ein Nachleben beider gemäß antiker Vorstellungen in einer Apotheose an den Himmel versetzt, wo sie „blühen wie die ewigen sterne“. Das Sternmotiv war bereits in der poetischen Sepulkralkultur um den von George poetisch vergöttlichten Maximin dominierend und bestimmt ebenso die Epicedien, die in der Kreisdichtung für Uxkull

    7 Dirk von Petersdorff sieht in dieser Haltung, die zu Georges Auffassungen konträr verläuft, ein Beispiel für den sich auch im George-Kreis manifestierenden „Subjektivismus der Moderne“. Dirk von Petersdorff: Als der Kampf gegen die Moderne verloren war, sang Stefan George ein Lied. Zu seinem letzten Gedichtband ‚Das neue Reich‘. In: JbDSG 43 (1999), S. 325–352, hier S. 344.

    

    Das Neue Reich · Sprüche 

     647

    und Cohrs entstanden.8 Der Verweis auf die Dioskuren, das mythische Freundespaar Castor und Pollux, die nach ihrem Tod als Sterne an den Himmel versetzt wurden und mit denen man die Freunde posthum verglich, deutet sich hier ebenfalls an.9 Das Sternmotiv nimmt außerdem intertextuell auf Bernhard von Uxkulls später als Sternwandel-Zyklus bezeichnete Gedichtsammlung Bezug. Der Stern erscheint dort als Symbol und Wegweiser für das Schicksal eines Lebens: „Ein stern befreit uns oder stösst zum fall / und von geburt zu tod ist nur EIN weg.“10 Victor teilt indes Adalberts fatalistische Sicht nicht: „dein zwang / Ist nicht mein zwang“. Er hat seinem Freund jedoch nichts entgegenzusetzen, den der „stärkre odem“ und das „wuchtigere wort“ durchdringen. Dies ist umso bezeichnender, da sich in Victors bestimmender Diktion und seinem höheren Redeanteil Georges eigenes Ethos artikuliert. Außerdem bekennt Adalbert selbstkritisch: „In Wirklichkeit vermag ichs nicht zu schaun“. Hier zeigt sich bereits, dass es im dargestellten Dialog nicht um einen dialektischen Austausch von Vernunftargumenten geht, sondern neben der Darstellung einer modernen Rat- und Orientierungslosigkeit um die heroische Stilisierung Victors, der die Freundschaftsideale des Kreises verkörpert. Denn als Victor ihn an die gemeinsamen „stunden / Voll reichtum und voll glanz“ erinnert, verliert Adalbert die letzte Furcht vor seinem geplanten Schritt: „Nun ist die wende!“. Er führt seinen Lebensüberdruss, indem er nicht mehr rational argumentiert, auf einen dämonischen „dunkelgeist“ in ihm zurück und beschließt, notfalls ohne den Freund sterben zu wollen. Dieser bittet Adalbert, an den er sich durch einen „schwur“ gebunden sieht, am Ende des Dialogs, ihn allein aus Freundschaftstreue in den Selbstmord begleiten zu dürfen. Dieses heroische Motiv ist wiederum Uxkulls eigener Dichtung entlehnt. Die Verse, die George unter dem Titel Beschluss dem Sternwandel-Zyklus anfügte und die in Bernhard von Uxkulls posthumer Gedichtausgabe als Preisgedicht  II firmieren, lauten: „Beweinst nicht völkertod und gibst kein haar / Für thron und schwert und stirbst für den geliebten.“11 Der Gedanke des Selbstopfers für einen geliebten Freund in Uxkulls poetischem Werk fungiert als beglaubigender Prätext für die posthume Stilisierung des jungen Dichters, die den Selbstmord als freie Tat aus Liebe legitimieren soll.12 8 In diesem Kontext erscheint auch der Stern im Titel des Gedichts symbolisch. In der Erstausgabe des Gedichts waren die Namen der Protagonisten noch durch einen Hochpunkt getrennt, vgl. BfdK XI/ XII, S. 18. 9 Noch deutlicher führt Ernst Morwitz das Dioskurenmotiv in die poetische Erinnerung an die beiden Freunde ein. In seinem Dialoggedicht Die beiden Toten, das Georges Victor * Adalbert formal wie inhaltlich nachempfunden ist, schreibt er, sie seien „Unsterblich wie das bruderzwiegestirn“, BfdK XI/ XII, S. 219. 10 Ebd., S. 270. 11 Ebd., S. 271. 12 Die Strategie, Authentizität mit Hilfe intertextueller Referenzen zu erzeugen, findet sich bereits in den Gedichten auf Maximin, die Selbststilisierungen aus Maximilian Kronbergers eigenen Gedichten aufnehmen.

    648 

     Simon Reiser

    Victor spekuliert am Ende des Dialogs, ob die Freunde in ihrer Jugend das „Zuviel an glück“ erlebt haben, um nun als Ausgleich einen frühen Tod erleiden zu müssen. Dieses bei den vielen früh verstorbenen Mitgliedern des Kreises oftmals angewandte Erklärungsmodell, dessen Wurzeln in antikem Schicksalsglauben liegen, übernimmt Friedrich Wolters 1929 in seine Geschichte des Kreises: „Unbegreiflich bliebe ihre so frühe Vollkommenheit, wenn nicht die Natur wie zum Ausgleich mit dem nah bevorstehenden Ende alles in die wenigen Jahre der Entfaltung des Dichters zusammengedrängt hätte.“ (BG 448  f.) Gleichzeitig greift George seine eigene Argumentation aus dem an Adalbert gerichteten Widmungsgedicht A : III auf, wo es zur Begründung seines im Krieg erfahrenen Unglücks heißt: „Du hast des lebens götterteil genossen“ (SW IX, 75). So stellt George für seine eingeweihten Leser eine Kontinuität seines Erklärungsmodells her und beglaubigt die eigene Position durch Victors fingierte Sätze. Der Verweis auf eine ausgleichende Schicksalsmacht blendet den Selbstmord und seine George belastenden Umstände aus, indem er das Geschehen als unausweichliches Naturgesetz nicht weiter hinterfragbar macht. Gleichzeitig verklärt der Dichter in den Worten Victors das ‚Schöne Leben‘ innerhalb seines Kreises, das dem Freundespaar eine „frühe Vollkommenheit“ ermöglicht habe. George liefert in diesem – verglichen mit den übrigen Sprüchen – weniger komprimierten Text nur auf den ersten Blick eine Erklärung für das Geschehen.13 Vielmehr erscheinen Adalberts Argumente letztendlich alle als Versuche, einen psychischen inneren Zwang zu rechtfertigen, wodurch die gesellschaftskritische Komponente des Gedichts wieder zurückgenommen wird. Victors halbherzige Entgegnungen wie sein vages Insistieren auf die Werte der Gruppe um George können dagegen trotzdem keinen dialektischen Prozess mehr entfalten.14 Das den eingeweihten Lesern aus dem Umfeld Georges bekannte Schicksal der Freunde erscheint vielmehr von Beginn an unausweichlich. Die inszenierte Entscheidungssituation wird vor diesem Hintergrund in eine vorbestimmte Schicksalserfüllung umgedeutet. Selbst der Entschluss zum gemeinsamen Selbstmord wird durch die Einschränkung „seis auch schuld“ am Ende fragwürdig und die unbedingte Freundschaftstreue über alle anderen vertretenen Werte erhoben. George will weniger das Geschehen plausibel nacherzählen, als die toten Mitglieder seines Kreises zu heroischen Symbolfiguren einer nachfolgenden Kreis-Generation stilisieren. Mit dieser Intention schreibt er die Tradition poetischer Memorialkultur in der Gruppe fort, die als ästhetisches Ritual eng mit deren soziologischen Transformationsprozessen wie im Fall Maximins verbunden ist. Jenes „mythische Weiterleben in der Dichtung“ (KH I, 453) nach dem Bild des unzertrennlichen Freundespaars der

    13 Claude David bezeichnet das Gedicht deshalb als schwächeren Text Georges, vgl. CD 351. 14 Dirk von Petersdorff sieht darin „die Hilflosigkeit des ästhetischen Fundamentalismus […], dass zuletzt der Selbstmord als Konsequenz erscheint“ (DP 136).

    

    Das Neue Reich · Sprüche 

     649

    Dioskuren wird für die soziale Struktur der Gruppe nach 1918 um Johann Anton, Max Kommerell oder die Brüder Stauffenberg zum Leitbild. Die Dyade bildet sich als idealisiertes Zentrum einer sowohl gegenüber der Gesellschaft wie argumentativ erschließbaren Normen abgeschlossenen Liebes- und Freundesgemeinschaft.15 Jene „heitre ruhe während welten bersten“ bietet eine ungewollt groteske Formel dafür.16 Die im Gedicht vorgenommene mythische Heroisierung der Freundschaft blendet die faktische Realität des Krieges und die versuchte Desertion völlig aus. Damit bleibt Georges kritisch zu beurteilende Rolle unhinterfragt, die Adalbert Cohrs’ inneren Konflikt zuspitzte, indem sie ihm eine unehrenhafte Gefangennahme als Fahnenflüchtiger unmöglich machte und die soziale Rolle in seiner Primärgruppe mit der Bewährung im Krieg verband. Wie Georges Stilisierungen noch bis in die spätere Erinnerungsliteratur des Kreises und in andere Künste wirken, in denen man sie als faktische Schilderung des Ereignisses behandelt, zeigen drei Beispiele. Der dem George-Kreis in der Nachkriegszeit zwischenzeitlich nahestehende Maler Erich Heckel schuf 1922 einen Zyklus großformatiger Wandmalereien im Erfurter Angermuseum. Ein Bereich der nachträglich Lebensstufen benannten Komposition, die noch andere Personen des Kreises darstellt, trägt den Titel Die jungen Toten17. Die von den anderen Bildern durch die dunklere Farbgebung abgegrenzte Nische zeigt zwei nackte Jungen, deren Physiognomie deutliche Ähnlichkeit mit Bernhard von Uxkull und Adalbert Cohrs aufweist.18 Sie halten sich an der Hand und blicken einander ernst an, während sie sich dem Eingang einer dunklen Berghöhle zuwenden. Indem Heckel die Metaphorik des „dunkle[n] tor[s]“ und des Todes als Bewegung vom Hellen ins Dunkle aufgreift, illustriert er Georges Victor * Adalbert. Der Maler situiert die Szene in einer Bergwelt ohne jegliche Anzeichen des Krieges und stilisiert die Toten durch ihre Körpersprache als unzertrenn­ liches Freundespaar, wobei seine Darstellung eine stärkere homoerotische Konnotation hat. Die inszenierte heroische Freundschaft sowie die Darstellung des Suizids als gemeinsamer und freier Entschluss zeigen Heckels Bild als genaue transmediale Adaption der sepulkralen poetischen Mythenbildung Georges. Friedrich Wolters’ in Zusammenarbeit mit George entstandene Geschichte der Blätter für die Kunst betont ebenfalls die schicksalhafte Unabhängigkeit des Ereignisses vom Zeitgeschehen: „Zwei Jünglinge finden den Untergang – und einen heroischen Untergang! – zwar während des Krieges aber nicht durch den Krieg“ (BG 447).

    15 Hans Norbert Fügen sieht in der Zweierbeziehung unter Gleichaltrigen ein „Strukturelement für die dritte Generation“ des George-Kreises. Vgl. Hans Norbert Fügen: Der George-Kreis in der „dritten Generation“. In: Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik. Hg. v. Wolfgang Rothe. Stuttgart 1974, S. 334–358, hier S. 345. 16 Vgl. Dirk von Petersdorff: Als der Kampf … (wie Anm. 7), S. 344. 17 Eine Abbildung findet sich in Mechthild Lucke und Andreas Hüneke: Erich Heckel. Lebensstufen. Die Wandbilder im Angermuseum zu Erfurt. Amsterdam 1992, S. 99. 18 Vgl. die Gegenüberstellungen von Bildausschnitten und Fotografien ebd. S. 98 u. S. 100.

    650 

     Simon Reiser

    Das Geschehen erhält eine zeitlose und exemplarische Bedeutung, um als idealisierte Heldentat für zukünftige Generationen des Kreises vorbildlich zu sein. Der Krieg, dessen Schrecken die wirklichen Auslöser der Tragödie waren, wird zur historischen Kulisse depotenziert. Ernst Morwitz’ Vorwort zu Bernhard von Uxkulls 1964 herausgegebenen Gedichten liest sich als genaue Paraphrase der Erklärungsversuche und Rollenzuschreibungen aus Victor * Adalbert: Ende juli fuhren die beiden · ohne auch nur einem der ihnen nahestehenden von ihren plänen kenntnis zu geben · von Berlin aus nach Kaldenkirchen und sezten · nicht lange vor waffenstillstand · durch gleichzeitige revolverschüsse ihrem leben am 28. juli 1918 ein ende · Adalbert Cohrs · weil er an der Zukunft Deutschlands und am eigenen schicksal verzweifelte – Bernhard Uxkull um dem freund treue bis in den tod zu bewahren.19

    Die Rezeption von Victor * Adalbert zeigt, wie sehr die poetisch konstruierte und bewusst fingierte Erinnerung an den tragischen Tod der Freunde die Memorialkultur des George-Kreises noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägt. Georges Ziel, durch Heroisierung einen privaten Mythos der Gruppe zu bilden, wurde erfüllt. Dessen Intention war, ein Erinnerungsbild zu schaffen, das das überzeitliche Freundschafts- und Treueethos des Kreises transportierte, um dessen Kohäsionskräfte zu stärken. Hier zeigt sich stellvertretend die doppelte Funktion der Sprüche, die Rituale ästhetisch gestalten und selber Ritual sind. Im inszenierten Übergangsritual stiftet das Dialoggedicht durch Mittlerfiguren die Identität von Lebenden und Toten und etabliert gleichzeitig das Gedicht als Medium kollektiver Erinnerungspraxis zur modellhaften Gestaltung einer sozialen Ordnung der Gruppe.

    19 Bernhard Victor Graf von Uxkull-Gyllenband: Gedichte (wie Anm. 2), S. 8.

    Ray Ockenden

    Das Lied

    Mit dem Abschnitt Das Lied hat George sein letztes Gedichtbuch und damit seine dichterische Laufbahn abrunden wollen. Das scheint er vorausgeplant zu haben, denn so bildet sich eine Parallele zum lyrischen Schluss der IX. und X. Folgen der Blätter für die Kunst, in denen zwei dieser Lieder erstmals erschienen, und noch nachdrücklicher zum Schluss der letzten Folge, in der das gleiche Gedicht wie am Ende des Neuen Reichs steht. Die zwölf Lieder, denen die zweizeilige Aufschrift „Was ich noch sinne und was ich noch füge / was ich noch liebe trägt die gleichen züge“ (SW IX, 98) vorangeht, stammen aus verschiedenen Jahren: Das älteste reicht zumindest achtzehn Jahre vor das Erscheinen des Neuen Reichs zurück.1 Um die bare Chronologie war es George bei der Zusammenstellung seiner Gedichtbände niemals zu tun, man siehe etwa die Gestaltung des Siebenten Rings. Nach den imposanteren Klangfarben und der beträchtlichen Länge vieler Gedichte im Neuen Reich schlagen diese Lieder einen ganz anderen Ton an. Statt nach der Fanfare zu greifen, zieht sich hier der Dichter beschaulich, wie er erklärt, in eine Welt der Kindheit und des Märchens zurück. Dabei will er uns aber versichern, dass er sich gleichbleibt; es nennt die kurze Aufschrift drei grundlegende Konstanten des dichterischen Werks, die wir hier wiederfinden sollen: Was der Dichter noch sinnt (also den Inhalt) und was er noch fügt (also die Form), wird von dem dritten, wichtigsten Aspekt überschattet: „Was ich noch liebe“ (SW IX, 98). Wie Braungart bemerkt, ist Liebe „Georges zentraler Begriff dafür, wie das Soziale sein soll“2. Wie soll man die Überschrift Das Lied verstehen? In seinem früheren Werk hat sich George mit der Überschrift ‚Lieder‘ begnügt. Mag man diese andere als überheblichen Anspruch werten, als wolle der Dichter demonstrieren, was ein ‚Lied‘ eigentlich sei?3 Weil sie gleichlautend mit dem Titel des zweiten Gedichts ist, das vor den anderen elf verfasst wurde, lässt sich die Überschrift eher von dorther verstehen. Wie in jener Ballade singt in diesen Liedern ein außerhalb der Gemeinschaft Stehender, der nur von einer jüngeren Generation rezipiert wird. Es ist allerdings bestritten worden, dass diese Gedichte wirklich ‚Lieder‘ seien. Für Wolfgang Braungart steht fest, dass Georges Lieder überhaupt „nur sehr bedingt als Lieder im engeren Sinne“ zu charakterisieren wären. In vielen vermisst er „strophische

    1 Keineswegs alle sind jedoch „schon Jahrzehnte“ vor 1928 entstanden, wie behauptet wurde, vgl. Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie. Göttingen 2014, S. 187. 2 Wolfgang Braungart: „Was ich noch sinne und was ich noch füge / Was ich noch liebe trägt die gleichen züge“. Stefan Georges performative Poetik. In: TuK 3–18, hier 12. 3 Darauf, dass George mehrfach gattungsbezeichnende Titel für seine Texte gewählt hat, verweist Ute Oelmann in ihrem Nachwort zu DD III, S. 202.

    652 

     Ray Ockenden

    Gliederung, Vierhebigkeit, alternierendes Metrum, Kreuzreim“4, und das spätere Werk Georges sei, wie er findet, „rhetorisch, nicht subjektiv-innig, radikal alyrisch, wenn man Subjektivität zum zentralen Merkmal von Lyrik macht“5. Eine andere kritische Stimme konzediert diesen Gedichten eine Nähe zum Volkslied, qualifiziert ihren Sprechgestus aber als „hochartistischen Volkston“; dieser Ton habe nur die Funktion einer „ästhetischen Plausibilisierung“ des Anspruchs des Dichters, „tatsächlich im Namen und aus dem Herzen seines Volkes“ zu sprechen (GHb I, 216). Frühere Kommentatoren haben großzügiger geurteilt. So (schon nach dem Bruch mit George) Kommerell, der das Merkmal des deutschen Lieds in der „Wendung des Gefühls zur Einfalt“ erkennt,6 und der Georges Lieder als solche behandelt.7 David lässt nur das zweite Gedicht als echtes Volkslied gelten; aber er erinnert gleichzeitig daran, dass George unter dem Begriff ‚Lieder‘ Gedichte der verschiedensten Stile zusammengetragen hat (CD 345). In der Tat verrät Georges ursprünglicher Plan, die sentenzhaften und meist unmusikalischen Gedichte vom Stern des Bundes unter dem Titel „Lieder an die heilige Schar“ erscheinen zu lassen (EM I, 339), wie weit er diesen Begriff auch immer gefasst hat. Nicht nur die frühe Moderne, wie Braungart mit dem Hinweis auf Verlaine und Baudelaire dartut,8 sondern eine ganze Tradition, die den Goethe des Divans mit den von George und Wolfskehl anerkannten Dichtern wie Mörike und C. F. Meyer verbindet, will uns von der Vielförmigkeit der Liedform überzeugen. Und gerade diese Vielfalt, wie wir sehen werden, bieten Georges zwölf Lieder, nicht nur in ihrem Formenreichtum,9 sondern auch in den verschiedenen neuen Welten, die sie zeigen, und in den verschiedenen Stimmen, die wir hören. Neben diesem Neuen wird gleichzeitig ein Gefühl des Abschließens, vielmehr des Abrundens, vermittelt, das in den mehrmals auftretenden chiastischen Formen Ausdruck findet. Die Zahl Zwölf hat von alters her eine besondere Bedeutung, nicht nur eine jüdische und eine christliche, und sie scheint besonders signifikant gewesen zu sein „für den Zahlensymboliker George“10. Sein großes Gedicht Der Krieg (SW IX, 21–26) mit seinen zwölf zwölfzeiligen Strophen, auf die der Dichter selbst besonders hinwies (G/G 305), dient als Beispiel. Ein anderes Kennzeichen dieser Lieder ist ihre Direktheit, die sich mit einer Verhaltenheit im Stil paart. Diese Direktheit mahnt manchmal an das, was Georges junger Freund Norbert von Hellingrath gerade in dieser Zeit als

    4 Wolfgang Braungart: „Schluß-Lied“. Georges Ballade „Das Lied“. In: WuW 87–101, hier 90  f. 5 Ebd., S. 95. 6 Max Kommerell: Das Volkslied und das deutsche Lied. In: Dame Dichterin und andere Essays. Hg. u. mit e. Nachwort von Arthur Henkel. München 1967, S. 7–64, hier S. 59. 7 Ebd., S. 59–64. 8 Wolfgang Braungart: „Schluß-Lied“ (wie Anm. 4), S. 90  f. 9 Gerade solcher Reichtum wird im George-Handbuch als Grund genannt, die Nähe dieser Gedichte zum Volkslied anzuzweifeln, GHb I, 209. 10 Ute Oelmann: Nachwort (wie Anm. 3), S. 207.

    

    Das Neue Reich · Das Lied 

     653

    „harte Fügung“ definiert hat.11 Hier hören wir nicht die Hammerschläge oder Kraftworte etwa der Zeitgedichte oder der Tafeln im Siebenten Ring, sondern eine bewusste Lakonik, die vor allem in dem starken Überwiegen der einsilbigen Wörter hervortritt.12 Die reine Statistik ist schon an sich auffallend: Von den dreizehn Stücken (das einleitende Reimpaar mitgerechnet) weisen sechs über drei Viertel einsilbige Worte auf, drei weitere erreichen beinahe diese Zahl.13 Jedoch wirkt diese Lakonik nicht, wie im Stern des Bundes, apodiktisch oder sentenzhaft, sondern erinnert eher an die zarte Zurückhaltung mancher Gedichte in den Büchern Maximin und Lieder im Siebenten Ring.14 Es könnte sogar scheinen, als hätte sich der Dichter an ein Diktum aus der frühen Zeit der Blätter erinnert, in dem „rein ellenmäßig die Kürze“ gefordert wurde (BfdK II, 2, S. 34). Um diese Einsilbigkeit zu erlangen, werden oft alte oder gekürzte Formen und seltene Vokabeln gebraucht. Nur das zehnte Gedicht (Das Licht) und, in seinen Mittelstrophen, das letzte (Du schlank und rein wie eine flamme) sind mit ihren langen Zeilen und verhältnismäßig wenigen Einsilblern im Duktus abweichend. In der Sprache sind die Lieder deutlich und syntaktisch einfach (was nicht bedeutet, dass sie auf Anhieb verständlich wären). Und wie Braungart vermerkt: „Diese leiseren, gar nicht gravitätischen Gedichte [sind] keineswegs weniger formbewusst“, sie sind „ebenso bis ins kleinste Detail hinein durchgearbeitet“ wie das frühere Werk.15 Die oben erwähnte Formenvielfalt dieser Gedichte lässt sich schon an dem ersten, Welch ein kühn-leichter schritt (SW IX, 99), erkennen. Dreizeiligen Strophen begegnet man selten in Georges Dichtung – allerdings gibt es drei solche Gedichte in diesem Abschnitt. Aber dieses ungereimte Gedicht ist metrisch schon eigenartig: In der ersten und dritten Strophe bilden sich die Verse aus Trochäus + Choriambus, dann Daktylos + Choriambus, dann Amphibrachus + Daktylos + Trochäus (bzw. Amphibrachus + Adoneus), ein durchaus ungewöhnliches Muster. Aber selbst dieses wird in der zweiten Strophe variiert, in der der erste (Daktylos + Kretikos) und der dritte Vers (dreimal Amphibrachus) anders gebaut werden. Dadurch wird der Sinn der Strophen schön untermalt, denn die zagende, leicht tanzende Bewegung der ersten, die in der dritten rückblickend-melancholisch widergespiegelt wird, steht in vollem ­Kontrast zu dem bestimmten, fast martialischen Schritt der zweiten Strophe. So zeichnen sich im Gedicht drei Lebensalter ab: Kindheit, Lebenshöhe und Alter. Aber in jeder

    11 Vgl. dazu Hans-Georg Gadamer: Hölderlin und George. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9. Ästhetik und Politik II. Tübingen 1993, S. 229–244, hier S. 230; auch AS 158  f. 12 Schon Goethe hat die Beziehung zwischen Volksliedern und Lakonismen festgestellt, vgl. die Betrachtungen im Sinne der Wanderer im Zweiten Buch von Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: Goethes Werke. Bd. VIII. Hamburg 1960, S. 295. 13 Zu dieser Erscheinung wird eine sehr beeindruckende vergleichende Statistik von Paul Gerhard Klussmann geliefert: Stefan George. Das Wort. In: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen. Hg. v. Benno von Wiese. Düsseldorf 1956, S. 284–291, hier S. 285. 14 Vgl. z.  B. SW VI/VII, 90–92 u. 136–141. 15 Wolfgang Braungart: „Was ich noch sinne …“ (wie Anm. 2), S. 5.

    654 

     Ray Ockenden

    Strophe wird von einem neuen Beginnen gesprochen; die Vergangenheit wird in der Gegenwart wieder lebendig. Obgleich dieses Gedicht die Heterogenität dieser Lieder illustriert, ist es in anderer Weise untypisch, denn die Einsilbigkeit tritt in ihm nicht besonders hervor. Es bereitet aber durch seinen musikalischen Rhythmus und seine gelegentlichen Alliterationen formal auf die folgenden vor. Was die Rezeption dieser Gedichte angeht, so könnte man den Eindruck gewinnen, die Älteren im Kreis um George hätten ihre liebe Not gerade mit diesen kleinen Gedichten, mit diesem schlichten und leisen Abschiednehmen des Dichters. Obwohl Gundolf in ihnen „die leichtesten, holdesten Töne vielleicht in Georges gesamtem Schaffen“ findet (FG3  273), hat er wenig zu ihnen zu sagen. Für Edith Landmann führt uns dieser letzte Abschnitt des Neuen Reichs „in die entrückteste Sphäre“, denn „der Dichter ist nun selbst wie eine kosmische Macht“16. Recht unbeholfen scheint Wolters vor diesem Abschluss zu stehen: Sein hagiographischer Stil, der sich wohl etwas Grandioses, etwa Staatsbildnerisches herbeigesehnt hätte, laboriert an diesen unscheinbaren Gedichten (BG  531–532). Über die meisten Lieder geht Hildebrandt ziemlich flüchtig hinweg; schon seine rückblickende Einleitung: „Nun scheint das Werk vollendet“ scheint zu besagen, dass das, was noch kommt, eher nebensächlich sei (KH  453 u.  455). Morwitz liefert biografische Fußnoten zu den drei letzten Liedern, sonst aber beschränkt er sich weitgehend auf eine Wiedergabe des Inhalts der Gedichte; für deren Form scheint er sich wenig zu interessieren. Die jüngere Literatur stimmt meistens mit der Feststellung Johannes Kleins überein: „Ein trauriger Ton der Entsagung liegt über den meisten Liedern.“17 Dieses Motiv ist vor allem von Bernhard Böschenstein und Wolfgang Braungart herausgearbeitet worden. Zu diesen Gedichten meint Braungart: „Georges Weg […] ist ein Weg ins poetische Schweigen“ (WB 306) und für Böschenstein scheint es ebenfalls oft, als ob George „sich in seinen letzten Gedichten in ein Schweigen zurückziehe“18. Auch für Karlauf gehört Entsagung wesentlich zu diesen Gedichten: „Als gemeinsamer Grundzug der Lieder schließlich erscheint die Geste des Verzichts.“ Hohes Lob zollt der Biograf diesen Liedern dennoch, in ihnen sieht er „Höhepunkte nicht nur des letzten Bandes, sondern des Georgeschen Schaffens insgesamt“. Sein Fazit: „Der Seher kehrt zu seinen Anfängen zurück und wird wieder Dichter“ (TK 583 u. 584), klingt jedenfalls freundlicher als Osterkamps Diagnose, George habe hier jeden Prophetenton abgelegt „weil es nichts mehr zu prophezeien gibt“19.

    16 Edith Landmann: Stefan George. Das Neue Reich. In: Logos XX (1931),  1, S. 88–104, hier S. 98 u. S. 100. 17 Johannes Klein: Geschichte der deutschen Lyrik von Luther bis zum Ausgang des zweiten Weltkrieges. Wiesbaden 1957, S. 730. 18 Bernhard Böschenstein: Die Sprache der Entsagung in Stefan Georges Dichtung. In: Ders.: Studien zur Dichtung des Absoluten. Zürich u. Freiburg i. Br. 1968, S. 150–157, hier S. 157. 19 Stefan George: Gedichte. Mit e. Nachwort v. Ernst Osterkamp. Frankfurt/M. u. Leipzig 2005, S. 257.

    

    Das Neue Reich · Das Lied 

     655

    Anders wieder Petersdorff, der im späten George eher einen Besiegten erkennt und ihn nicht etwa als erbitterten Kämpfer, vielmehr als einen einsichtig Resignierten darstellt, der, wie wiederholt betont wird, die Irreversibilität der Moderne einsehen musste.20 Dass Verzicht und Trauer in diesen Liedern anzutreffen sind, steht außer Zweifel. Aber gegen die Ansicht Heideggers, dass die düstere Mahnung der Erdenstimme an den Menschen: „Worin du hängst · das weisst du nicht“ als „Generalbaß durch alle Lieder“ töne,21 würde ich eher deren positive und hoffnungsvolle Zeichen betonen wollen. Gegenüber der dreiteiligen Gliederung dieses Abschnitts, die Morwitz vorschlägt (EM I, 476), würde ich für eine andere, ebenfalls dreiteilige, plädieren und drei Gruppen von jeweils vier (nicht im Text zusammenstehenden) Liedern sehen. Das erste Gedicht (nach der zweizeiligen Aufschrift) und die letzten drei sind liedhaft im (Braungart’schen) Sinne eines unvermittelten Ausdrucks der Gefühle. Dazwischen stehen vier Gedichte, die in verschiedener Weise berichtend-erzählend sind: Das zweite Gedicht, das man ohne weiteres als Ballade bezeichnen kann, dann drei andere, das vierte, achte und neunte, die eher spruchhaft besinnend sind und alle mit Los und Schicksal zu tun haben. Das dritte, fünfte, sechste und siebte sind allesamt Rollengedichte, im Falle der Törichten Pilgerin mit gemischten Rollen, da wir zwei Stimmen hören. Im Hinblick auf den bereits erwähnten Grundzug der ‚Entsagung‘ ist zu bemerken, dass diese nur in den spruchartigen Gedichten und in den Rollengedichten zu finden ist; trotz des traurigen Anlasses zum Schlussgedicht Du schlank und rein wie eine flamme fehlt sie gerade den liedhaften Gedichten. Von den vier ‚berichtenden‘ Liedern haben zwei besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen: die Ballade Das Lied und Das Wort. Die Ballade (SW IX, 100–101) gebraucht als Form die Chevy-Chase-Strophe, wie Braungart in seiner Interpretation bemerkt.22 Indem er das Gedicht innerhalb der europäischen Literatur kontextualisiert, nennt er Hofmannsthals Gedicht Weltgeheimnis als Bezugstext. Schon Edith Landmann und Kommerell hatten auf dieses mögliche Echo hingewiesen, da Hofmannsthals nicht näher identifizierter „Mann“ das Weltgeheimnis begreift und darauf ‚irr redet und ein Lied singt‘.23 Braungart, für den der Brunnen dem Knecht zum neuen Verständnis hilft, erinnert an die Bedeutung dieses Motivs für die Dichter der Romantik als „Ort der Poesie und der Liebe“24. In Georges Gedicht aber ist der Brunnen zuerst einmal Sammelpunkt für die Dörfler, und seine weitere Bedeutung liegt in einem anderen Aspekt des Motivs. Das unbewegte, spiegelnde Wasser eines

    20 Dirk von Petersdorff: Als der Kampf gegen die Moderne verloren war, sang Stefan George ein Lied. Zu seinem letzten Gedichtband „Das Neue Reich“. In: JbDSG 43 (1999), S. 325–352. 21 SW IX,103. Dazu Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959, S. 184. 22 Wolfgang Braungart: „Schluß-Lied“ (wie Anm. 4), S. 94. 23 Vgl. Edith Landmann: Das Neue Reich (wie Anm. 16), S. 98; Max Kommerell: Das Volkslied (wie Anm. 6), S. 60. 24 Wolfgang Braungart: „Schluß-Lied“ (wie Anm. 4), S. 99.

    656 

     Ray Ockenden

    Brunnens dient zur Erkenntnis, wie z.  B. in Goethes Epos Herrmann und Dorothea für die Hauptcharaktere, deren innige Liebe am Brunnenrand beginnt. Georges Knecht25 geht zum Brunnen, um sich seiner Identität zu vergewissern: Aber gerade diese Identität wird von den anderen nicht bestätigt. Sein Liedersingen beginnt nicht dort, sondern erst nachdem er aus der Gemeinschaft ausgestoßen wird. In seiner Beschreibung der fremden Leute im Wunderwald erwähnt der Knecht ihre märchenhaften Gesichtszüge, dann ihre fremden Bezeichnungen für Naturerscheinungen (sein Wort „so heissen sie dort“ wird gelegentlich als Namensgebung missverstanden). Die Bedeutung der Sprache in diesem Erlebnis wird durch die Reaktion der Dorfbewohner unterstrichen, denn ihr Wort „in dieser früh / Ist er nicht weines voll“ spielt nicht etwa auf Dionysos und Christus an,26 sondern ist direktes Zitat aus der Apostelgeschichte und erinnert dadurch an das pfingstliche Spracherlebnis der ersten Christen.27 Aber keine Gemeinde bildet sich um diesen Jüngling, die fremde Sprache führt eher zu seiner Vereinzelung. Er webt seine magischen Erfahrungen einer anderen Welt in ein Lied zusammen, das er weitergeben kann; es sind aber nur die jungen Menschen, die ihm zuhören und von ihm lernen. Speziell auf dieses Lied bezieht sich der Titel des Gedichts; es soll also kein Modell bilden, sondern es legt dar, wie ein Lied zustande kommen kann. Neben dem Gedicht Das Wort, das separat kommentiert werden soll, wurde auch Horch was die dumpfe erde spricht (SW IX, 103) Gegenstand philosophischer Analysen von Heidegger und ausgiebig von Gadamer.28 Die meisten Leser dieses Gedichts betonen das Ungewisse und das Resignative in ihm.29 Etwas optimistischer ist die Interpretation Frommels, der eine Äußerung Georges im Gespräch mit Edith Landmann heranzieht: Das Gedichtete „kann eine Weile schlummern, eingesenkt bleiben in der Erde, aber es geht nicht verloren“30. Wie zwei andere der letzten Lieder hat das Gedicht dreizeilige Strophen. Wenn auch anders gestaltet, erinnern diese Strophen mit umarmendem Reim dunkel an Dantes Terzinen, was durch den verwaisten (aber noch reimenden) Schlussvers gestützt wird.

    25 Nach Morwitz deutet diese Bezeichnung „auf jugendliches Alter und bisheriges Unerlebtsein“, EM I, 476. 26 So die Vermutung Ute Oelmanns in SW IX, 173. 27 Apg. 2, 13 u. 15. 28 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Hölderlin und George (wie Anm. 11), S. 227  f.,  243  f., sowie im selben Band Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft, S. 258–270, hier S. 266. 29 Vgl. z.  B. Joachim Storck: Trauerarbeit bei Stefan George. In: Das Stefan-George-Seminar 1978 in Bingen am Rhein. Eine Dokumentation. Hg. v. Peter Lutz Lehmann, Robert Wolff u. der Gesellschaft zur Förderung der Stefan-George-Gedenkstätte im Stefan-George-Gymnasium Bingen e. V. Heidelberg 1979, S. 80–95, hier S. 93. 30 F. W. L’Ormeau (d.i. Wolfgang Frommel): Horch was die dumpfe erde spricht. In: CP 8 (1958) H. 35, S. 100–105, hier S. 104. Sein Zitat jetzt bei EL 37.

    

    Das Neue Reich · Das Lied 

     657

    Die deutlichen Unterschiede in Ton und Gestalt zwischen den Strophen lassen überlegen, ob die wiederholten Anreden nicht jeweils ein anderes ‚Du‘ betreffen. Diese Ansicht wird zum Teil durch die ungewöhnliche Bemerkung Georges zu diesem Gedicht bestärkt, nämlich „dass die zwei Teile […] Verschiedenes aussprächen“ (EL 117).31 Die Botschaft der Erde beginnt mit einem leichten Sarkasmus. Ist der Mensch tatsächlich so frei wie Vogel oder Fisch? Es wird auf die heitere, einen idealen Zustand des Menschseins beschreibende Wendung ‚Frei wie ein Vogel und munter wie ein Fisch‘ angespielt. Der Angeredete scheint ein sorgloser Durchschnittsmensch zu sein, der gerade das Ungewisse der menschlichen Existenz ignoriert. Das weist auf die Schöpfungsgeschichte zurück, denn am fünften Tag wurden nach 1. Mose 1, 20 sowohl Fische als auch Vögel erschaffen, erst am folgenden Tag die grossen Landtiere und schließlich der Mensch. Ihm wird zwar nach 1. Mose 1, 26 die Herrschaft über die Tierwelt zuerkannt, aber die anderen Lebewesen sind heimisch in dem ihnen zugeordneten und stets mitbenannten Element; nur der Mensch ist nicht so einig mit der Natur. In der zweiten Strophe ist, auf ganz allgemeine Weise, von der Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft die Rede. Wenn wir verschiedene Adressaten annehmen, wird hier eine leichte Wiederholung vermieden, denn zwischen denen, die sich ‚zu uns‘ gesellten, und denen, die sich ‚unsere Fähigkeiten‘ („pfund“) zunutze machten, wird differenziert. Ob diese verschiedene Zugehörigkeit in der Zukunft überhaupt wahrgenommen wird, bleibt, so das Gedicht, ungewiss. Erst in der dritten Strophe wird die Stimme der Erde (die wir also durch das ganze Gedicht als Sprechinstanz erkennen)32 bestimmter und gezielter, und erst hier wäre ein Hinweis auf den Dichter selbst anzunehmen. Anders als in dem Gedicht Das Wort, in dem sich das besondere Kleinod nicht in Worten fassen ließ, wird die Möglichkeit erwogen, ein Späterer könnte einer gleichen Vision wie der Angesprochene teilhaftig werden. Die Zukunft ist ungewiss; dennoch schließt das Gedicht mit einem positiven Ton: Das schöne und neue Gesicht (das Gesehene) wurde einmal empfangen. Dazu passt der Vorschlag Bertram Schefolds, man könnte hinter dem letzten Vers einen Doppelpunkt setzen und das folgende Gedicht (Seelied) als Beispiel für ein solches „gesicht“ lesen.33 Auch das vierte der ‚berichtend-erzählenden‘ Gedichte, Die Becher (SW IX, 108), scheint von der Unberechenbarkeit des menschlichen Schicksals zu handeln. Es kontrastiert zwei Gefäße miteinander, das eine aus Gold mit Wein zum Trinken, das andere aus Holz mit Steinwürfeln zum Spielen. Was dieses Gedicht mit dem zuletzt besprochenen verbindet, ist die ungewöhnliche dreizeilige Strophe, hier mit dreihe31 Anders Gadamer, der meint: „Wer hier angeredet wird ist, ist der Dichter, jeder Dichter, der dichterische Mensch, jeder Mensch.“ Der Dichter Stefan George. In: Ders.: Ästhetik und Politik II (wie Anm. 4), S. 211–228, hier S. 227. 32 Anders der Vorschlag Petersdorffs, der mit Beginn der zweiten Strophe eine neue sprechende Stimme erkennt. Dirk von Petersdorff: Als der Kampf (wie Anm. 20), S. 350. 33 Bertram Schefold: „Seelied“. In: CP 50 (2001), H. 250, S. 105–117, hier S. 113.

    658 

     Ray Ockenden

    bigen Versen und fortschreitenden Reimen. Das Versmaß ist recht einzigartig: Jeder Vers besteht aus einem Choriambus, dem jeweils ein Daktylos (4, 5, 7, 9, 11) oder ein Trochäus (2, 3, 6, 8, 10) voraufgeht. Ausnahmen bilden der erste und der letzte Vers: den ersten ist man geneigt, als Daktylos mit Kretikos zu lesen, der letzte fällt völlig aus dem etablierten rhythmischen Muster, denn er besteht aus vier Trochäen. Somit kommt das Gedicht zu einem schwerfälligen, ernsthaften Schluss. Nur ein Interpret scheint in dem Gedicht die chiastische Form erkannt zu haben, die die erste mit der letzten Strophe verbindet und die zwei mittleren zusammenbringt.34 Danach lässt „Dieser“, der Letztgenannte, nämlich der Würfelbecher, wissen, „was zu uns steht“, und in der letzten Strophe enthüllt der Erstgenannte, der Weinbecher, „den beschluss / Den niemand vorsieht und dreht“. Der nach Spielerschicksal klingende Schluss: „Wieviel Mein loos wieviel Dein loos“ hat zweifellos zu der konträren Lesung des Gedichts geführt;35 aber gerade das Feierliche des Weinbechers deutet auf die Möglichkeit eines menschlichen Verhältnisses, dessen Verlauf noch nicht klar abzusehen ist. Die Würfel des Schicksals sind dagegen leblos, auch wenn ihre Botschaft unabänderlich ist; man nimmt sie einfach an, so wie man den hölzernen Becher bloß vom Tisch hebt.36 Den vier Rollengedichten liegen erfundene Erzählsituationen zugrunde, obwohl diese bei dem Lezten der Getreuen und der Törichten Pilgerin nur skizziert werden. Einprägsamer sind Schifferlied und Seelied, und Letzteres ist mehrmals besprochen worden. Es wäre zur Einführung zu betonen, dass ein Rollengedicht, das Sich-Versetzen des Dichters in andere Sprechsituationen, in andere Leben, eine bewusste Entfernung vom Ich-Sagen bedeutet. Dadurch, dass so viele heutige George-Forscher, wie schon die Literaturwissenschaftler älterer Observanz, der Überzeugung zu sein scheinen, jedes Gedicht würde das Leben des Dichters treu widerspiegeln, werden die Gedichte gewissermaßen homogenisiert; so wird das Innovative dieses Spätwerks oft übersehen. Der These Edith Landmanns über Das Neue Reich, „Nun spricht wohl der Dichter […] nur sich selber aus“37, wäre die Meinung Schäfers vorzuziehen, dass es sich verbiete, die von George erfundenen wechselnden personae „umstandslos als Maskierungen Georges zu metaphorisieren“38. Die Untersuchung fremder Menschen und Situationen ist als eine Art Dialog mit der Außenwelt und nicht als die gewollte Verkleidung einer engen Ich-Zentriertheit zu verstehen; dass George Menschen, die

    34 So berichtet Kurt Hildebrandt, KH I, 460. 35 Vgl. z.  B. die Argumente Hildebrandts, ebd. 36 Schwer zu verstehen ist der Exkurs Claude Davids zu diesem Gedicht, des Inhalts, dass die Becher nicht als Symbole zu verstehen sind, da „die Dinge nur den Sinn [haben], den der Dichter ihnen vorübergehend beizulegen beliebt“, CD 349. 37 Edith Landmann: Das Neue Reich (wie Anm. 16), S. 89. Ähnlich, als nur ein Beispiel unter vielen, Claude David: „Die Gedichte Georges erzählen immer von ihm selbst“, CD 157. 38 AS 206. Er fügt allerdings hinzu, dass diese personae „auf ein souveränes Autorsubjekt hin durchsichtig bleiben“.

    

    Das Neue Reich · Das Lied 

     659

    ganz außerhalb seines eigenen Lebenskreises standen, darzustellen vermochte, wird ihm selten zugestanden, wie wiederholte Rekurse auf die Algabal-Gestalt als nur leicht getarnte Figur des Dichters beweisen. Es ist bemerkenswert, dass das Wort ‚Ich‘, das nur am Anfang und am Schluss des Lied-Abschnitts gebraucht wird (Das Wort bildet hier eine Ausnahme), sehr häufig in den Rollengedichten Anwendung findet. Im Seelied (SW  IX,  104) wird das allabendliche Warten der einsamen Frau am Strande auf die Erscheinung, die einzig ihrem trostlosen Leben einen Sinn gibt, knapp und ohne Umschweife dargestellt; es sind glaubhaft die Worte einer einfachen Frau. Rhythmisch bleiben die Strophen des zu drei Vierteln einsilbigen Gedichts jambisch einheitlich, mit nur einer Ausnahme („salzigen“).39 Der schwere männliche Reim unterbindet jede Erleichterung. Die Struktur des Gedichts ist deutlich kreisförmig, was die Ausweglosigkeit der Situation der sprechenden Frau verdeutlicht. Die chiasti­sche Formung ist so: Die erste und die letzte Strophe behandeln das Warten am Strande; die Strophen zwei und fünf sprechen von der häuslichen Situation der Frau, die rein materiell nichts zu wünschen übrig lässt. Aber nur die inneren Strophen drei und vier bringen auf sinnvolle Weise das Herzstück ihres Erlebens: die Erscheinung des blonden Kindes. Entgegen der Annahme vieler Interpreten ist auf dessen alltägliche Erscheinung, wie die sich spiegelnden „ob“ und „wenn“ der ersten und letzten Strophe besagen, kein Verlass; nicht einmal diese Gewissheit kann das Leben der Einsamen aufheitern. Selbst das Wort „Gast“, das sie dem Kinde schenkt, entbehrt nicht der Ironie, denn zu ihr in das im nächsten Vers erwähnte Haus wird sie es nicht einladen können. Schon früh neigten die Interpreten dazu, hinter dem Fischerweib die Züge Georges zu erblicken, wenn auch das blonde Kind nur als Fantasieprodukt verstanden wurde. Kommerell sieht „ganz das Antlitz des alten George, das hier von der knöchernen Hand der alten Frau gestützt wird“40. Andere sind der Überzeugung, hier spreche „ein alter Mann“, der „seltsam“ ist und der in seinem „letzten haus“ wohnt.41 Dass die Sprecherin alt ist, wird nicht gesagt, obwohl der Vers „die blume welkt im salzigen feim“ schon auf einen Alterungsprozess deutet. Jedenfalls hat George selber angenommen, es handle sich um eine Frau (EL 117). Selbst Kaiser in seiner sensiblen kurzen Interpretation, die in dem Gedicht den Ausdruck einer universell nachvollziehbaren Schmerzlichkeit findet, stellt schließlich fest, die so genau beschriebene Figur der Frau wäre als „Rollengestalt für die Melancholie eines im Entstehungsjahr 1919 bereits resignativen Propheten“ zu erkennen.42 Behutsamer meint Schefold in

    39 Dazu, und sonst zur Form des Gedichts, vgl. Bertram Schefold: „Seelied“ (wie Anm. 33), S. 108–110. Die Form wird auch präzise erklärt im ersten Absatz von: Gerhard Kaiser: Das stumme Liebeswort. In: Frankfurter Anthologie 27 (2004), S. 95–97, hier S. 95. 40 Max Kommerell: Das Volkslied (wie Anm. 6), S. 63. 41 Dirk von Petersdorff: Als der Kampf (wie Anm. 20), S. 325 u. 349. 42 Kaiser: Das stumme Liebeswort (wie Anm. 39), S. 96  f.

    660 

     Ray Ockenden

    seiner längeren Auslegung, es sei mit dieser redenden Frau „auf einer tieferen Ebene der Dichter gemeint“43. Spekulationen über das Geschlecht des blonden Kindes, die man auch öfter findet, scheinen ebenfalls an der Essenz des Gedichts vorbeizuzielen. Dass „Mit gliedern blank“ heißen soll, das Kind sei nackt (EM I, 479; KH I, 458), ist weniger wichtig, als dass sein Körper und sein klares Auge glänzen: So beleuchtet es hell nicht nur das Leben der Frau, sondern allgemein die Dämmerung am Strande nach dem Sonnenuntergang, bis es – wie vorher die eintauchende Sonne – verschwinden muss. Die Vision wird dann vom Symbol des täglichen Arbeitslebens der Frau verdeckt, dem „grossen kahn“. Das Wort „bahn“, das Sonne und Kind verbindet, deutet auf dessen schicksalsbedingten Lebenslauf.44 Dass dieser mit dem Lebenslauf der Frau nie zur Übereinstimmung gelangen kann, wird auch durch die mangelnde Kommunikation ausgedrückt. Das fehlende Wort (auch das ein Leitmotiv der letzten Lieder) lässt diese Lebensbahnen immer getrennt bleiben. Schifferlied (SW IX, 102) ist ein gutes Beispiel für die hohe Kunst, die George dieser unscheinbaren Form widmet. Dieses Rollengedicht ist sozusagen ein einseitiges Dialoggedicht: Yvos Abschiedsworte werden zu Jolanda gesprochen, nur nicht in ihrer Gegenwart. Geboten wird ein kleines, tragisches Stück zweier Lebensgeschichten mit deutlich skizziertem Hintergrund. Der Dichter vertraute dem Freund Morwitz an, die Namen im Untertitel hätten keine besondere Bedeutung und wären aus rein klanglichen Gründen gewählt, nämlich um „den akustischen Eindruck vom Auf und Ab der Meereswogen von Anfang an zu erzeugen“ (EM I, 477). Dieses Auf und Ab ist zu hören, wenn man die zwei Namen, in der Form eines Adoneus, nacheinander spricht. Die deutlich markierten Zäsuren in der Mitte eines jeden Verses sollen nach Morwitz ebenfalls jene Bewegung des Wassers evozieren45 (EM I, 477). Die gespaltenen Verse haben eine weitere Bedeutung: Durch sie wird rein optisch die Entfernung zwischen den beiden Figuren untermalt. Ihn, den Schiffer, ruft die lockende See, ruft das Schiff, das jetzt sein Freund sein soll, und die Arbeit in der Fremde: Das alles ist das Los, dem er unterworfen ist und das schließlich (wohl mit seinem Tod) erfüllt sein soll. Sie dagegen, die umsonst Harrende, kann nur in den Übungen der Religion Trost finden. Der Schlussvers, in dem „dein“ und „mein“ auf verschiedenen Seiten der Zäsur stehen, besiegelt die Trennung, die schicksalsbedingt zu sein scheint: Yvo und Jolanda sind im Grunde Bewohner zweier verschiedener Welten. Dass das Meer die Macht hat, Menschen auseinanderzuhalten, hat George bereits in einem früheren Gedicht angedeutet.46 Hier wird die Trennung schon klargestellt, wenn Yvo alles aufzeichnet, was nur 43 Schefold: „Seelied“ (wie Anm. 33), S. 108. 44 Zu diesem Wort bei George vgl. Ray Ockenden: Stefan George. Grundworte seiner Dichtung. In: CP 18 (1968), H. 81, S. 5–29, hier S. 7. 45 Solche halbierte Tetrameter hat George früher im Gedicht Rhein des Siebenten Rings gebraucht, dort mit Trochäen, hier mit Jamben, SW VI/VII, 148. 46 Dort bedenkt er die „kluft der jahre träume meere“: An Ugolino, SW VI/VII, 171.

    

    Das Neue Reich · Das Lied 

     661

    ihm gehört: „mein blut“, „mein schiff mein freund“, „mein los“; von Jolanda hören wir nur, was ihr nicht gehört: „nie werd ich dein“. Ihr werden zunächst nur Tränen, darauf das sanfte Klagen bleiben. Inhaltlich scheint das Gedicht eine novellistische Liebes- und Mordgeschichte zu bieten, wie man sie oft in einfachen Volksliedern trifft. Man kann annehmen, Yvo habe einen Rivalen um Jolandas Liebe erwürgt; obwohl dieses Verbrechen nicht sobald ans Licht kommen werde, habe ihn diese Tat selber erkennen lassen, ein glückliches Leben mit Jolanda sei jetzt ausgeschlossen. Stattdessen werde er sofort nach einem fernen Lande einschiffen. „Mein blut ward kühl“ bezieht sich also nicht nur auf den entschwundenen Hass auf den Ermordeten, sondern gleichzeitig auf seine Liebes­gefühle gegenüber Jolanda.47 Diese Geschichte wird mit virtuoser Knappheit erzählt. Die Einsilbigkeit, dieses Merkmal der letzten Lieder Georges, ist hier besonders evident. Nur 13 von den 112 Wörtern im Gedicht sind mehrsilbig; ein Gefühl der Abrundung wird dann im vorletzten Vers gegeben, in dem ein dreisilbiges Wort in jeder Vershälfte steht. Es fällt auf, dass alle Strophen von genau gleicher Länge sind: Jede hat 28 Wörter. Trotz dieser Knappheit, der regelmäßigen Jamben und der scheinbaren Sprödigkeit des Stils weist dieses ungereimte Gedicht mehrere musikalische Effekte auf. An Zeilenenden und vor der Zäsur finden sich Halbreime (hin/ihn, wird/bord, freund/strand) und Assonanzen (fern/werk, rein/heil). Wenn auch in verschiedenen Strophen, gibt es ebenfalls Halbreime vor der Zäsur in einem ersten Vers (umsonst/weinst) oder vor der Zäsur und am Versende in einem dritten (kühl/viel). Assonanz in der gleichen Vershälfte finden wir in der dritten Strophe (weiss/weinst). Die Wörter „mehr“ an einem Versende und „meer“ vor der Zäsur in einer späteren Strophe, aber ebenfalls in einem vierten Vers, geben ein deutliches Echo, wie auch am Schluss die Wörter „felsgestad“ und „heil“ halbreimend auf „spät“ und „kühl“ zurückverweisen. Was, abgesehen von seiner Form, dieses Gedicht mit anderen dieser Lieder verbindet, ist einerseits das Bild eines Vereinzelten, hier eines durch eigene Schuld und eigene Entscheidung aus der Gemeinschaft Ausgeschlossenen, andererseits das Thema eines Neubeginns, wenn auch in unbestimmtem Rahmen. Dass den jungen Mann das Meer „Wild lockt“ deutet auf starke Gefühle: Hat er einen mutmaßlichen Rivalen um die Liebe Jolandas aus dem Wege geräumt, tritt hier ein natürlicher Nebenbuhler um die Liebe Yvos auf. Wenn der Untertitel (eine Seltenheit bei George) rhythmisch eine Zäsur suggeriert, die wiederum die Scheidung (Abschied Yvos // von

    47 Nach Kurt Hildebrandt (KH I, 454) soll George dieses Gedicht eine ‚kleine Ballade‘ genannt und sie als wegweisend für jüngere Dichter geschrieben haben. Die Behauptung, George sei durch eine Wolters’sche Erzählung dazu angeregt, ist jedoch schwer nachzuvollziehen und wird nirgends von Wolters erwähnt. Ebenfalls wenig überzeugend ist die Vermutung, diese „echte Ballade“ sei „wohl eine romanhafte Verkleidung wirklicher Ereignisse“ (CD 346).

    662 

     Ray Ockenden

    Jolanda) besiegelt, weist der Titel auf mehr als nur Karriere: Schiffer ist Yvo aus Überzeugung, seinem inneren Wesen nach. Der Lezte der Getreuen (SW IX, 106) wird von einem erneut Vereinzelten gesprochen. Das ungereimte Gedicht hat in jeder der drei Strophen etwas wie einen Kehrreim in dem kürzeren, nur dreihebigen letzten Vers, da das Wort „könig“ wiederholt wird und die weibliche Endung sich von den anderen Versen unterscheidet. Dass sich die Abwesenheit des Königs und die leere Gegenwart des Sprechers ein trauriges Gleichgewicht halten, wird in den gepaarten Wendungen des Gedichts widergespiegelt: so „freud’ und fest“, „sommer […] winter“, „ziel und sinn“. Auch Die Törichte Pilgerin (SW IX, 105) ist ungereimt, mit ungewöhnlichen fünfzeiligen Strophen; die trochäischen Tetrameter enden fast alle männlich, nur am Schluss der ersten und der dritten Strophe verleiht der weibliche Schluss eine gewisse leichte Beweglichkeit, in dem einen Fall durch einen Doppelpunkt betont, im anderen, um die fortgeführte Sprache der Pilgerin zu markieren. Wie schon erwähnt, hören wir in diesem Gedicht zwei Stimmen: In den ersten zwei Strophen ist das sprechende Ich ein offenbar männliches Wesen, einst Helfer der ersten Frau, nunmehr Gegenstand der verhaltenen Werbung einer zweiten, der „maid“, die dann die letzten zwei Strophen spricht. Der Titel, mit seinem deutlichen Echo der Goethe’schen Novelle Die pilgernde Törin in den Wanderjahren, erregt sofort Aufmerksamkeit.48 Georges Pilgerin ist wie Goethes Törin eine Wandernde, die öfter an dem Sprecher vorbeikommt; töricht ist sie wohl im selben Sinne wie Goethes in fortwährender Liebe verharrendes Mädchen, denn sie scheint stets die eine Hoffnung zu hegen, der Sprecher würde sie bemerken. Dass zu diesem Zwecke die Maid Müdigkeit vortäuscht, lässt durchblicken, dass ihr ‚Fall‘ eher moralisch ist. Wiederum mag man sich über die Entschlossenheit der Ausleger wundern, mit der sie das Gedicht direkt in Verbindung mit dem Leben des Dichters bringen wollen. Thormaehlen findet die Bittende eine „sinnbildhafte Umsetzung“ (LT 155) der Frau Gundolfs, Elli Salomon, David argwöhnt, die Fabel sei „eine Anspielung auf einen Jünger“ Georges (CD 346). Werner Kraft nimmt an, dass „wir wenigstens indirekt den Erzähler als identisch mit dem Dichter ansetzen dürfen“; folglich ist es George selber, der am Schluss schweigend dasteht, was ihm die Kritik Krafts einträgt.49 Überraschend an dem Gedicht ist die breite Beschreibung des landschaftlichen Hintergrunds in den ersten Versen. Dass der Ort der Begegnung in der ersten und in den folgenden Strophen derselbe ist, unterstreicht den Kontrast zwischen den zwei Frauen, der arbeitenden Schwangeren und der leichtfertigen Werbenden. Das damalige Heben der Heulast war eine Tat der Nächstenliebe; das Heben der zweiten Frau

    48 Ernst Morwitz hat natürlich recht, wenn er (sich auf einen Bescheid Georges stützend) berichtet, dieses Gedicht habe mit dem zehnstrophigen Lied, das Goethe in seine Novelle Die pilgernde Törin einlegt, nichts zu tun, vgl. EM I, 479. Dennoch liegt ein verhaltenes Echo der Novelle vor. 49 Werner Kraft: Augenblicke der Dichtung. München 1964, S. 154.

    

    Das Neue Reich · Das Lied 

     663

    soll (jedenfalls in ihren Augen) irgendwie verpflichtend für die Zukunft bleiben. Der Schauplatz ist im ersten Fall mit dem praktischen Leben verbunden: Die schwangere Frau bringt Heu vom Feld herunter und geht zum Strom, wo es verladen werden soll. Der Weg der zweiten Frau ist eher ein symbolischer Abstieg. Die vier ‚liedhaften‘ Lieder sind in ihrer Form und Sprechweise so unterschiedlich wie die Sammlung Das Lied überhaupt. Das erste (SW IX, 99), schon oben diskutierte, stellt das Unterbetonte und Zurückhaltende der ganzen Abteilung auf, denn es besteht aus lauter Fragen (vgl. CF 249 u. 334). Im zehnten Gedicht, Das Licht (SW IX, 109), dominiert die Wir-Form, die sonst nur in Die Becher zu finden ist. Rhythmisch und sprachlich fällt dieses Gedicht in vieler Hinsicht aus der Reihe, was schon eine direkte Anrede des Dichters, den pluralis majestatis gebrauchend, weniger wahrscheinlich macht. Dennoch bleibt offen, ob wir eine einzelne Stimme oder einen Anbeterchor hören. Wir wissen aus den teils erfundenen Gesprächen, die Robert Boehringer im Ewigen Augenblick zusammengetragen hat, dass unter Georges Freunden die Meinungen über dieses Gedicht geteilt waren. Für sie war das Licht entweder George selber oder einfach die Sonne, oder es hätte eine dritte, nicht präzisierte Bedeutung:50 vielleicht die, welche Morwitz ihm gibt, indem er diese Ansprache an das Licht als Liebeserklärung Georges auffasst (EM I, 482). Schultz stützt seine Ansicht, die Sonne sei hier gemeint, durch den Hinweis auf eine Parallelstelle, den dritten Tag-Gesang im Teppich des Lebens.51 Weitere Horizonte wurden von anderen Interpreten erschlossen; für Werner Kraft, der bemerkt, dass die Wendung „süsses licht“ in früheren Gedichten erscheint, kann das Licht die Sonne sein, oder aber Maximin.52 Zu diesem Gedicht meint Petersdorff: „der Weltgeist ist nicht zu monopolisieren“; er findet in ihm „die Nicht-Steuerbarkeit des Geschichtsverlaufs thematisiert“53. Das Schlussgedicht, Du schlank und rein wie eine flamme (SW  IX, 111), ist verschieden bewertet worden. Verkündete einst Adorno, er würde dieses Gedicht (anscheinend wegen seiner stammbuchartigen Banalität) nicht in seine ‚freilich undenkbare‘ Auswahl der Werke Stefan Georges aufnehmen,54 fand Klaus Mann, Das Neue Reich ende „mit einem der süßesten Liebeslieder unserer Sprache“55. Der Hinweis Bernhard Böschensteins auf Francis Vielé-Griffins Gedicht Vous si claire als Anregung könnte den Eindruck erwecken, George habe ein Plagiat begangen. Jedoch hat Böschenstein demonstriert, wie meisterhaft das Gedicht Georges im Vergleich zu

    50 Robert Boehringer: Ewiger Augenblick. Düsseldorf u. München 1965, S. 34  f. Zur Datierung, siehe Ute Oelmann, SW IX, 174. 51 SW  V,  81. Dazu HSS  142. Zum Thema ‚Licht‘ bei George siehe HSS  141–145 und Ray Ockenden: Grundworte (wie Anm. 44), S. 18–23. 52 Werner Kraft: Augenblicke (wie Anm. 49), S. 158–162. 53 Dirk von Petersdorff: Als der Kampf (wie Anm. 20), S. 326 u. 351. 54 Theodor W. Adorno: George. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11: Noten zur Literatur. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1974, S. 523–535, hier S. 523 u. 526  f. 55 Klaus Mann: Das Schweigen Stefan Georges. In: Ders.: Zahnärzte und Künstler. Reinbek 1993, S. 56.

    664 

     Ray Ockenden

    dem gestelzten Dialog Vielé-Griffins sei. Hinter Georges brieflich mitgeteilten Gründen für seine Abgeneigheit, das französische Gedicht, das er wohl kannte und zu loben scheint, zu übersetzen, mögen wir andere Zweifel an dessen Wert vermuten.56 Man vergleiche das Colloque sentimental von Verlaine, ein dialogisches Meisterstück, das Georges höchste Übersetzungskunst hervorruft.57 Dass dieses Gedicht entstand, kurz nachdem George die Nachricht vom Tode Bernhard von Uxkulls erhalten hatte, wird von Morwitz berichtet (EM I, 483); so ist es ein Ehrenmal für den dichterisch äußerst begabten Freund, der achtzehnjährig in den Tod ging. Davon, dass es eine weitere Bedeutung hat, zeugt der Platz, den George ihm zweimal in der Veröffentlichung gönnt: als Schlussgedicht nicht nur der letzten Blätter-Folge, sondern auch des eigenen dichterischen Werks. Was dieses Gedicht mit anderen Liedern und überhaupt mit dem Spätwerk Georges verbindet, ist die Tatsache, dass seine sämtlichen Bilder der Natur entlehnt sind. Der Sprecher wendet sich an die vier Elemente, um ein Bild von dem geliebten Menschen zu formen: Die Flamme (Feuer), der Morgen (Luft), das Reis (Erde), der Quell (Wasser) werden gleichermaßen bemüht, um die Vollkommenheit des Angesprochenen darzustellen. Alles zielt hier auf Ausgewogenheit – so ist auch der Angesprochene, der dem Dichter Licht in seine Finsternis bringt und der ihm zugleich bei Hitze ein kühlender Wind, bei Kälte ein heißer Hauch ist. Besonders dient die Form dazu, das Abschließende und Abrundende dieses Lieds zu betonen. Die vierte Strophe ist Echo, nicht, wie oft behauptet wird, Wiederholung der ersten.58 Die Umkehrung vom ersten und zweiten Zeilenpaar verleiht dem Ganzen chiastische Gestalt, die auch in den zwei inneren Strophen gebildet wird. Die drei ersten Zeilen in der zweiten Strophe beginnen nämlich mit Zeitwörtern im Präsens, die das Begleitende und Unterstützende des angeredeten Gefährten verzeichnen; die drei letzten Zeilen der dritten Strophe geben die antwortenden Handlungen des Sprechers an. Dazwischen stehen der letzte Vers der zweiten Strophe und der erste der dritten Strophe, die parallel zueinander mit ‚Du‘ anfangen und dadurch den Auftakt aller Verse in der ersten und vierten Strophe wiederholen. Das aber mit dem Unterschied, dass der letzte Vers der zweiten Strophe das ‚Du‘ als absolut, als unabhängige Größe setzt und damit auf die ganze Strophe zurückschaut, der erste Vers der dritten Strophe dagegen dieses ‚Du‘ ins Verhältnis zum sprechenden Ich setzt und damit die Gedanken der ganzen Strophe einleitet. In der chiastischen Form vollzieht sich eine bewusste Kreisbewegung. Trotz dieser bedeutungsvollen und strengen Architektonik bleibt Du schlank und rein wie eine flamme musikalisch liedhaft und rhythmisch schmiegsam und 56 Bernhard Böschenstein: Wirkungen des französischen Symbolismus auf die deutsche Lyrik der Jahrhundertwende. In: Euphorion 58 (1964), S. 375–395. Dass George allerdings dem französischen Dichter manche Anregung verdankte, weist Böschenstein in seinem Aufsatz nach. 57 Siehe Gefühlsames Zwiegespräch in SW XVI, 16. 58 Zum Beispiel Dirk von Petersdorff: Als der Kampf (wie Anm. 20), S. 326; dass Wiederholung vorliegt, wird von Schäfer mit dem Hinweis auf Adorno bestritten, vgl. AS 85.

    

    Das Neue Reich · Das Lied 

     665

    bewegt sich (ohne jegliche Interpunktion) ruhig auf den Schluss hin; das Wort „schlicht“, das den Angeredeten charakterisieren soll, beschreibt auch das Gedicht. Trotz aller biografischen Lokalisierungsmöglichkeiten bleibt es ein beschwingtes, zeitloses Liebeslied, das über seinen etwaigen Ursprungsrahmen weit hinauswächst. Als Bilanz seiner dichterischen Leistung deutet es auf bleibende Grundzüge des George’schen Werks: auf das Liedhafte und Musikalische, das auch seinen deklamatorischen Stücken zugrunde liegt, auf die minuziöse Formung des individuellen Gedichts, und inhaltlich auf eine seiner steten Positionen als Dichter, nämlich als ein Liebender und ein Lobender. So gesehen weist das Gedicht zurück auf die Aufschrift der letzten Abteilung des Neuen Reichs: „Was ich noch sinne und was ich noch füge / Was ich noch liebe trägt die gleichen züge“ (SW IX, 98).59 Dass dieses Abrundende, wie die chiastischen Formen im Gedicht, bewusst gestaltet wurde, zeigt die Tatsache, dass das Wort ‚Ich‘, das sonst, wie oben erwähnt, nur in den Rollengedichten und in Das Wort gebraucht wird, genau dreimal in der Aufschrift und dreimal in diesem Gedicht erscheint. Als rein chronologische Vollendung des George’schen Werks steht das vorletzte Lied, In stillste ruh (SW IX, 110), wahrscheinlich sein letztverfasstes Gedicht. Es ist als würdiger Abschluss anerkannt worden, indem Klaus Landfried seine politische Studie zu Georges Dichtung mit diesem Gedicht, fast kommentarlos, ausklingen lässt,60 und Karlauf, der in seiner Biografie recht haushälterisch mit Zitaten aus dem dichterischen Werk umgeht, es, wohl lobend, als Ganzes zitiert (TK 584). Wolters, in der wohl frühsten Deutung dieses Gedichts, sieht in ihm den Dichter verschiedentlich bedroht – von einer „Gefahr“, von dem „Stoß des Leides und Ansturm der Welt“, von dem „Beben und Brausen der Welt“ (BG 535). Diese Ansicht scheint ein Echo zu finden bei Petersdorff, der hier den Dichter „hilflos und ratlos vor der ‚Wimmelwelt‘ der Moderne“ stehen sieht.61 Zumeist aber wird dieses Gedicht als Liebeslied, vielmehr als Darstellung eines spät, aber erschütternd eintretenden Liebesgefühls gelesen.62 Das Gedicht ist rhythmisch korrekt, obwohl die Hebungen nie stark betont werden, das Ganze hat etwas Gleitendes. Wir finden nur die eine Ausnahme, die zusätzliche Silbe zwischen dem ersten und dem zweiten Jambus des zweiten Verses in dem Wort „besonnenen“. Sinngemäß deutet dieses Wort auf ein ruhiges, vernünftiges Altersgebaren: Dass es um die Situation eines Älteren geht, wird durch die Wendungen „spät“ und „lang/verlassen“ verdeutlicht. Aber die rhythmische Störung des sonst gemächlichen Metrums hat andere Bedeutung: Sie zeigt an, dass bereits jetzt, im ruhigen Moment, der Reflektierende schon bedroht ist. Noch deutlicher tönt diese 59 Die Datierung dieser Aufschrift ist unsicher, vgl. Ute Oelmanns Kommentar in SW IX, 172. 60 Klaus Landfried: Stefan George – Politik des Unpolitischen. Heidelberg 1975, S. 249. 61 Dirk von Petersdorff: Als der Kampf (wie Anm. 20), S. 351. Das lässt ihn an anderer Stelle den Stoizismus Georges bewundern: Ders.: „In stillste Ruh“. In: CP 50 (2001), H. 250, S. 134–138, hier S. 138. 62 Morwitz, der auch dieses Gedicht als rein persönliches Erlebnis des Dichters auffasst, identifiziert den jungen Menschen, der die Gefühle hervorgerufen hat, vgl. EM I, 482.

    666 

     Ray Ockenden

    Warnung, wenn man „besonnen“ anders versteht (als ‚besonnt‘) und das Wort ‚Blick‘ in der alten, noch bei Goethe zu findenden Bedeutung von ‚Blitz‘ auffasst; die gemütliche Wärme eines Sommertags kann also zum abendlichen Gewitter führen. Selbst wenn man ‚Blick‘ im alltäglichen Sinne liest, ist das Wort mehrdeutig: Handelt es sich um ein stummes Zeichen von einem anderen Menschen oder um etwas Gesehenes? Eine andere Bedeutung drängt sich auf, wenn man auf das vorausgehende Gedicht zurücksieht (Das Licht); dann wäre an ein Aufleuchten, an einen Strahl zu denken. Die fünfzeilige Strophe, obwohl in dieser Abteilung nicht alleinstehend, ist dennoch ungewöhnlich, und die metrische Form, wo drei Dimeter von zwei Trimetern gefolgt werden, ist noch merkwürdiger. Wären diese Dimeter von einem einzigen Trimeter gefolgt, würde sich die aufgestaute Erwartung der ersten Verse in dem Schlussvers entladen; hier aber dient der vierte Vers dazu, die Spannung noch höher zu treiben, was in den beiden ersten Strophen durch die Wortwahl am Ende des vierten Verses („schrecks“, „sturm“) verdeutlicht wird. Im letzten Vers aber, obwohl er die Botschaft von unerwarteter Ruhestörung klar wiederholt, dient die alliterative Form dazu, ein harmonisches Ende herbeizuführen („sichre Seele stört“, „bis zum boden beugt“) und somit die Akzeptanz des Unverhofften anzudeuten. Die sorgfältige Lautmalerei in diesem Lied fällt besonders auf; z.  B. wie das zweite Wort „stillste“ die Anfangskonsonanten der wichtigen Worte des Gedichts: „stört“, „stamm“, „sturm“, „stößt“ zusammenbringt mit dem Fließlaut, der in der dritten Strophe vorherrschen wird. Heidegger hat auf die einzige Interpunktion in diesem Gedicht gezeigt; für ihn deutet der Doppelpunkt am Schluss der zweiten Strophe darauf, dass die dritte Strophe aus dieser zweiten erwächst. Der Schreck der ersten Strophe beugt in der zweiten den Dichter wie einen vom Sturm heimgesuchten Stamm, damit er offen werde für die Stimme des Meers in der dritten, die mit ihrem Wort in das Gehör des Dichters dringt. Das Meer bedeutet also „das rein geschenkte Walten des Wortes“63. Ich würde den Doppelpunkt eher als Trennungszeichen verstehen. Trotz der scheinbaren Parallelisierung der beiden Strophen, wie sie durch den gemeinsamen Auftakt „So wie“ geboten wird, werden sie ganz anders geformt. Der Baum ist ein Bild der sicheren Seele, der späte Sturm gibt den Schreck des jähen Blicks wieder; in der letzten Strophe aber steht das Meer zuerst da als das Drohende, die Muschel, das zu füllende, passive Gefäß, steht nur im letzten Vers. Es ergibt sich also wieder eine chiastische (überdies alliterierende) Struktur: Stamm–Sturm–Meer–Muschel; auf diese Weise werden die drohenden Elemente des Gedichts innerhalb der permanenten und bleibenden – wenn auch bedrohten – eingeschlossen und so gewissermaßen gebändigt. Das radikal Neue, hier in der äußersten Form der Meeresflut, erscheint neben dem Kreisförmigen, dem Abgerundeten. Auffallend in diesem Gedicht ist die große Distanz zwischen der unpersönlich referierenden Stimme eines Kommentators und dem überwältigenden Erlebnis, von

    63 Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache (wie Anm. 21), S. 231.

    

    Das Neue Reich · Das Lied 

     667

    dem er spricht. Sie steht parallel zu der ebenfalls bedeutenden Distanz zwischen dem menschlichen Erlebnis, das referiert wird, und den Dimensionen der Naturkräfte, die als Parallele eingesetzt werden. Dennoch werden gleichzeitig diese anscheinend fernen Naturkräfte der menschlichen Welt nähergebracht. Von dem Doppelsinn des „blicks“ war bereits die Rede; bei dem Bild „bis zum boden beugt“ stellt man sich eher einen menschlichen Körper als einen Baum vor; das Verlassensein eignet den Menschen mehr als der leblosen, leeren Muschel der dritten Strophe. Das Körperliche wird durch das sexuelle Motiv gestärkt, das den beiden Bildern gemeinsam ist – das Phallische des reglos ragenden Baumes, das Vaginale des zu erfüllenden Innenraums der spiralförmigen Muschel: So wird ein universelles, nicht geschlechtsspezifisches Ausgesetztsein heraufbeschworen.64 Hinzukommt, dass das Wort „prall“ in der letzten Strophe in einem anderen Gedicht Georges vorkommt, wo es eindeutig den Geschlechtsverkehr konnotiert (SW VIII, 33). Das Meer bedeutet also das Elementarische und es ist typisch für den späten George, dass er sich ihm stellen will. Das Meer war immer, wenn auch kein besonders wichtiger, Teil der Bilderwelt des Dichters, er feierte dessen Musik als „das geräusch der ungeheuren see“ (SW IV, 79), dann im Siebenten Ring wird sein elementares „tosen“ explizit der leidenschaftlichen Liebe verglichen (SW  VI/VII,142).65 Aber gerade im Neuen Reich spielt es eine bedeutende Rolle. Schon der erste Vers des ganzen Bandes schliesst mit diesem Wort, das als Abschluss des ersten Gedichts wiederholt wird, und das Meer ist in An die Kinder des Meeres ständig gegenwärtig (SW IX, 8, 10, 15–20). In Das Lied bildet es den Hintergrund zum Seelied, im Schifferlied ist es der Rivale Jolandas um die Liebe Yvos. Aber erst jetzt wird es in seiner elementaren Kraft direkt dargestellt. Die Muschel, die durch ihr Verhältnis zum Meer mit diesem Thema der Leidenschaft verbunden ist, hat jedoch eine andere Bedeutung: die Beziehung zur Musik und zur Dichtung. Schon 1896 veröffentlichte George in den Blättern seine ‚Nachbildung‘ der Widmung von Swinburne, in deren erster Strophe folgende Parallele steht: „Das meer giebt die muscheln der düne, / […] doch ich gebe kühne ⁄ Gesänge als erstlinge her.“ (BfdK III, 4, S. 123) Die Verbindung zur Musik rührt von dem Volksglauben her, man könne den Gesang des Meeres in jeder leeren Muschel hören. Zu Recht weist Morwitz in seinem Kommentar darauf, dass Georges letztes Lied durch diese Erwähnung der Muschel ein Echo des vierten Teils von An die Kinder des Meeres darstellt: Ein Nachklang sozusagen jenes Nachklangs, der, wie wir wissen, von Morwitz selber verfasst war (SW  IX, 20, dazu EM  I, 414). Der Nachklang endet mit dem Bild eines

    64 Zu dem Bild des Stamms und zum Weiblichen der Muschel vgl. Dirk von Petersdorff: „In stillste Ruh“ (wie Anm. 61), S. 135  f. 65 Zu diesen Gedichten und zum Bild des Meeres überhaupt, vgl. Ray Ockenden: Voyaging with a Concordance: The Sea in Stefan George’s Poetry. In: Publications of the English Goethe Society 79 (2010), 1, S. 50–62, hier S. 55 u. 57.

    668 

     Ray Ockenden

    Knaben, der der Musik einer meergeraubten Muschel lauscht, und weist dadurch zurück auf die Worte: „der Meergott bläst das lied“ (SW IX, 20). Ein solcher Triton vermag nach dem Mythos die Wellen des Meeres, also hier der Leidenschaft, entweder aufzurühren oder zu besänftigen. In diesem Kontext aber erschafft er ein Lied. Und man könnte den Schluss von In stillste ruh mit dem rückgekehrten, die Muschel wieder einmal füllenden Meer als Bild von einem neuen kreativen Hauch verstehen, der den Dichter nach langem Schweigen wieder inspiriert. Es fragt sich also, wie unwillkommen die plötzliche Heimsuchung ist, von der das Gedicht berichtet. Ist das Neue in der Tat so schrecklich? Die Seele wird gestört, aber nicht gebrochen, der Baum wird gebeugt, aber nicht ausgerissen, er kann durch diese Kraftprobe seine Stärke neu erkennen. Und die leere Muschel, die lang verlassene und wohl auch lang unbewohnte, wird durch das Anfluten des Meeres wieder zum Teil der aktiven Natur: Insofern muss ihr dieser Flutprall willkommen sein. Dass gerade dieses letzte Bild den Dichter besonders beschäftigte, lässt sich einer Stelle in Boehringers Ewigem Augenblick entnehmen.66 Und das neue Erlebnis wird schließlich mit schöner Musik begrüßt: die vielen Fließlaute, die noch einmal an das Anfangswort „stillste“ erinnern. Die Reflexion, die kluge Formung des Gedichts, das Liebeserlebnis: Noch einmal kommen hier die drei Elemente der Aufschrift zusammen. In der Einleitung zu Georges und Wolfskehls Auswahl aus Goethes Gedichten im zweiten Band der Deutschen Dichtung heisst es: „Wir wählten aus was uns die tiefsten lebensgluten in der schönsten bändigung zu enthalten schien.“ (DD II, 6) Solche gebändigten Lebensgluten bietet uns Georges Das Lied dar.

    Interpretation von Das Wort (SW IX, 107). Das Wort Wunder von ferne oder traum Bracht ich an meines landes saum Und harrte bis die graue norn Den namen fand in ihrem born – Drauf konnt ichs greifen dicht und stark Nun blüht und glänzt es durch die mark …

    66 Robert Boehringer: Ewiger Augenblick (wie Anm. 50), S. 60.

    Das Neue Reich · Das Lied 

    

     669

    Einst langt ich an nach guter fahrt Mit einem kleinod reich und zart Sie suchte lang und gab mir kund: ›So schläft hier nichts auf tiefem grund‹ Worauf es meiner hand entrann Und nie mein land den schatz gewann … So lernt ich traurig den verzicht: Kein ding sei wo das wort gebricht. (SW IX, 107)

    Das Anderssein des dichterischen Wortes wird in einem der Lieder des Neuen Reichs besonders erwogen, Das Wort. Dieses ist mit Abstand das bekannteste und am meisten diskutierte Gedicht in dieser Reihe. Das hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen, dass es bei Heidegger und in der Folge bei Gadamer Resonanz fand. Gerade ihre Beschäftigung mit dem Gedicht hatte zur Folge, dass es oft als philosophisches Statement behandelt und dass sein Titel (wie im Falle des Gedichts Das Lied) absolut verstanden wurde. Das Gedicht lief auch dann Gefahr, wie etwa Hölderlins Andenken, nur wegen seines Schlussverses berühmt zu werden: „Kein ding sei wo das wort gebricht.“ Denn in seinem ersten Aufsatz zu dem Gedicht beschränkte sich Heideggers Interesse weitgehend auf diesen Satz.1 In diesen drei Vorträgen wollte er „keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit“ erheben, eine captatio benevolentiae, die wohl meinte, er sei nicht als Literaturwissenschaftler vorgegangen.2 In seinem späteren Vortrag, der unter dem Titel Das Wort erschien, hat er, obwohl er den berühmten Schluss noch siebenmal zitiert, auf das Gedicht als Ganzes geschaut und andere Gedichte aus dem Lied-Zyklus erwähnt.3 Dennoch zielt sein Interesse deutlich darauf, anhand des Schlussverses die nahe Verwandtschaft von Dichten und Denken zu demonstrieren. So wurden die Weichen gestellt für mehr oder weniger philosophische Interpreta­ tionen dieses Gedichts, die wir bei Gadamer4 und in der Untersuchung von Herrmann finden5 und die kurz bei Böning im Rahmen einer Celan-Diskussion aufleuchten.6 Wie Armin Schäfer mit Hinweis auf Friedrich Kittler dartut (AS  197), wurde Heideggers

    1 Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959, S. 157–216. 2 Ebd., S. 162. 3 Ebd., S. 217–238. 4 Hans-Georg Gadamer: Hölderlin und George. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9: Ästhetik und Politik II. Tübingen 1993, S. 243  f. 5 Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Die zarte, aber helle Differenz. Heidegger und Stefan George. Frankfurt/M. 1999, bes. S. 67–97. 6 Thomas Böning: Alterität und Identität in literarischen Texten von Rousseau und Goethe bis Celan und Handke. Freiburg i. Br. 2001, S. 172–178.

    670 

     Ray Ockenden

    Deutung dann ins Medientheoretische gewendet.7 Unter den eher philologischen Interpretationen ist die Studie von Gerhard Kaiser zu nennen,8 auch der aufschlussreiche Aufsatz Klussmanns, der Georges Verhältnis zum Wort untersucht.9 Kaiser, der eine für ihn typische fein hinhörende Lesart liefert, scheint es letztlich darum zu gehen, die „Selbststilisierung des Dichters zur Kultfigur“ bei George zu entlarven.10 Das Gedicht wird als „Gewaltstreich“ identifiziert.11 Besonders wertvoll ist der Aufsatz von Nina Herres, der viele Interpretationsversuche zu dem Gedicht referiert und der besonderen Wert auf den genauen Wortlaut des Gedichts legt; dem mythischen Hintergrund der Norne geht Herres ebenfalls sorgfältig nach.12 Indirekt wirft sie in ihrem Aufsatz die Frage auf, wie der Titel des Gedichts zu verstehen sei. Für die meisten Interpreten (und konsequent für die zwei berühmten Philosophen) bezieht er sich nicht auf ein beliebiges Wort, sondern auf ‚Wörtlichkeit‘ schlechthin. Die Vielfältigkeit der Formen im Abschnitt Das Lied ist hier wieder zu erkennen: Dieses Gedicht ist das Einzige, in dem jede Strophe nur zwei reimende Verse hat. Es hat die Länge eines Sonetts, wird aber ganz anders gestaltet. Drei Strophen berichten von dem (wohl mehrmaligen) Erfolg des Sprechers, drei von dem einmaligen Misserfolg; beide Triaden werden mit drei Punkten betont abgeschlossen. Die letzte Strophe bringt den sentenzhaften Schluss. Gelegentlich verfällt die erste Strophe der Kritik, weil in beiden Versen der erste Fuß kein Jambus, sondern ein Trochäus ist.13 Eine die Aufmerksamkeit bannende trochäische Substitution in die ersten Verse eines sonst jambischen Gedichts zu setzen, ist jedoch ein bekannter rhetorischer Griff in der Dichtung, dessen sich z.  B. Shakespeare am Anfang zahlreicher Sonette bedient. Er wird in dem Gedicht Horch was die dumpfe erde spricht (SW IX, 103) wiederkehren. In einigen späteren Versen des Gedichts weicht der erste Jambus wieder einem Trochäus, oder, wie in der letzten Strophe, die ersten Silben werden beide in der Art eines Spondeus

    7 Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800–1900. 2. erw. u. korr. Aufl. München 1987, S. 269–283. 8 Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart. Ein Grundriss in Interpretationen. Erster Teil. Frankfurt/M. 1991, S. 242–249. 9 Paul Gerhard Klussmann: Stefan George. Das Wort. In: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen. Hg. v. Benno von Wiese. Düsseldorf 1956, S. 284–291. 10 Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik (wie Anm. 8), S. 245. Nach Ansicht Gadamers fehlt den späteren Gedichten vom Neuen Reich gerade eine solche Selbststilisierung, vgl. Hans-Georg Gadamer: Der Dichter Stefan George. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9: Ästhetik und Politik II. Tübingen 1993, S. 211–228, hier S. 227. 11 Gerhard Kaiser: Geschichte (wie Anm. 8), S. 244 u. 247. 12 Nina Herres unter Mitwirkung v. Christoph Meneghetti u. Dominique Wagner: Namhafte Bilder, wörtliche Verben. Zu Stefan Georges ‚Das Wort‘. In: GJB 6 (2006/2007), S. 100–121. 13 Gerhard Kaiser: Geschichte (wie Anm. 8), S. 242  f., scheint hier Unordnung zu spüren, Paul Gerhard Klussmann: Das Wort (wie Anm. 9) redet von einer „rhythmischen Rechtwinkligkeit“; Thomas Böning: Alterität (wie Anm. 6), S. 173, scheint es auch als Fehler verbuchen zu wollen.

    

    Das Neue Reich · Das Lied 

     671

    betont und von einem Trochäus gefolgt. Das alles verleiht dem Gedicht trotz seines ernsthaften Themas eine gewisse Leichtigkeit. Bereits der erste Vers stellt dem Leser ein Rätsel. Wenn es heisst „Wunder von ferne oder traum“, ist dann die Rede von zwei Sorten von Wundern, oder werden „Wunder von ferne“ und „traum“ einander gegenübergestellt? Herres wirft diese Frage auf, scheint sich dann schließlich, wie Kaiser in seiner Interpretation, für die zweite Alternative entschieden zu haben.14 Ich halte die erste für die bessere Lesart. ‚Ferne‘ ist hier keine räumliche, sondern eine zeitliche Distanz, eine Vergangenheit, im Gegensatz zu ‚Traum‘, der wie fast immer bei George eine zukunftsgerichtete Hoffnung bedeutet.15 Dass man „Wunder“ als Mehrzahl auffassen könnte, wird von Herres mit dem Hinweis auf das verkürzte „es“ in „ichs“ bestritten;16 aber gerade der Unterschied zwischen „ferne“ und „traum“, so zeitlich verstanden, wie auch das spätere Kontrast­ wort „einst“, scheinen auf wiederholte Erfolge in der Vergangenheit und daher auf einen typisierenden Singular zu deuten.17 Das Verständnis des Wortes ‚Ferne‘ im geografischen Sinne kann dazu führen, nicht nur den Ausdruck „nach guter fahrt“, sondern vor allem „meines landes saum“ wörtlich zu verstehen.18 Wenn in der ersten und in der sechsten Strophe der Dichter emphatisch von dem eigenen Land spricht (die einzige und bedeutende Wiederholung im Gedicht), so meint er das „Land seiner dichterischen Befähigung“, kurz „das dichterische Land“19. Die Norne (eine Figur, die nur hier im Werke Georges erscheint) ist insofern eine ungewöhnliche Erscheinung, als wir sonst nur drei schwesterliche Nornen als Schicksalsgöttinnen kennen. George hat diese Einzelfigur, mitsamt ihrer direkten Verbindung zur Dichtung, frei erfunden. Zwar erinnert ihre graue Farbe an manche bildhafte Darstellung der Schwestern und lässt außerdem an die ‚Sibylle‘ des Bamberger Doms denken, eine Plastik, die George gut kannte, und die Ernst Bertram in einem gleichnamigen Gedicht mit einer „urgrauen Norne“ verglichen hat.20 Hier deutet ‚grau‘ eher auf Potenzialität, das Wort erinnert an die Verbindung „graue luft“ mit „schwanger“, und allgemein an Georges Gebrauch von „Morgengrauen“ und „dämmergrau“ (SW VI/ VII, 72, SW III, 46, SW IV, 59, SW VI/VII, 131). Ähnlich weist das Wort „schläft“ in der

    14 Nina Herres: Namhafte Bilder (wie Anm. 12), S. 115 u. 118; Gerhard Kaiser: Geschichte (wie Anm. 8) S. 242–243. 15 CVB 634–637 offenbart, inwiefern dieses ein Lieblingswort Georges ist. Recht selten bezieht es sich auf ein wiederbelebtes Vergangenes. 16 Nina Herres: Namhafte Bilder (wie Anm. 12), S. 114. 17 Der Gedanke aber, dass die Pluralform durch den trochäischen Auftakt angezeigt werden könnte, wie Petersdorff behauptet, wird mit Recht von Herres abgelehnt. Vgl. ebd., Fußnote 43. 18 Zu diesem Missverständnis bei anderen Interpreten vgl. Herres, ebd., S. 116, Fußnote 50 u. S. 112, Fußnote 57. Kurt Hildebrandts Identifikation der Norn als Darstellung des Volksgeists scheint auch auf diesem Missverständnis des „landes“ zu beruhen, vgl. KH I, 459. 19 So Nina Herres: Namhafte Bilder (wie Anm. 12), S. 116 u. 120. Vgl. auch S. 106, Fußnote 21. 20 EM I, 480; Bertrams Gedicht Sibylle (BfdK X, S. 146) gilt für Bernhard Böschenstein als „starker Einfluss“ auf Das Wort, vgl. GHb III, 1279.

    672 

     Ray Ockenden

    fünften Strophe auf die Möglichkeit schöpferischer Erweckung. Da der Sprecher im Gedicht der Befugnis der Norn unterworfen scheint, wundert es, dass diese durch die Analyse Heideggers „depotenziert“ erscheint21 oder gar durch eine andere Interpretation als vom „Herrschaftswille[n] des Lyrischen Ich […] zwingbar“ beschrieben werden kann.22 Wie die Nornen hat der Urdarbrunnen der Legende keine genaue Verbindung mit der Dichtung. Um den ‚Born‘ in diesem Gedicht zu verstehen, müssen wir auf andere Brunnenbilder in Georges Dichtung blicken. Der Brunnen, der auch ein Spiegel der Selbsterkenntnis sein kann,23 dient oft als Prüfstein, ob ein vom Dichter lang gehegtes Ideal in Erfüllung gehe. So werden „nach jeder meiner fahrten […]  / All meine träume wünsche und gedanken  / Auf dass sie endlich sich darin erkennten“ zum spiegelnden Brunnen geführt (SW VI/VII, 75).24 Des Dichters ‚Fahrten‘ und die dort beschriebene, einmalige Enttäuschung sind dann dem Erlebnis im Wort-Gedicht ähnlich, aber in Der Spiegel geht es wohl um die Suche nach einem idealen Gefährten, den der Dichter später in Maximin gefunden zu haben scheint. In anderen Gedichten wird im Brunnen eine verlorene, aber vielleicht wieder zu erlangende Zeit, eine erhoffte Zukunft oder ein ideales Land erblickt, „das dämmergraue / Das ihr früh im brunnen sahet“ (SW II, 17, SW III, 45 u. SW VI/VII, 131). Von besonderem Interesse ist Georges Blick auf den jungen Goethe, der „sich zum brunnen bückt“ (SW VI/VII, 10); das steht wohl in Verbindung mit dem gerade davor erwähnten „reichen traum“: Der Dichter ist einer, der ein Ideal verwirklichen will. Dass zwischen Namen und Wort genau unterschieden werden sollte, wie Herres behauptet, leuchtet nicht unbedingt ein. Dass aber das Kleinod ganz anders ist als die Wunder des Anfangs, wird klargestellt.25 Juwelen, wie etwa die Spange der Pilgerfahrten, können ein Bild der Dichtung geben, aber das Ding selber entgeht dem dichterischen Prozess und verschwindet.26 Das Ding hat Wert, als Schatz, als Reichtum, aber solches ist nicht Sache der Dichtung. Dagegen können Wunder natürlich werden

    21 So Nina Herres: Namhafte Bilder (wie Anm. 12), S. 107, Fußnote 23, die Folgerungen Thomas Bönings: Alterität (wie Anm. 6), S. 177, referierend. 22 Ralf Simon: Das Wasser, das Wort. Lyrische Rede und deklamatorischer Anspruch beim späten Stefan George. In: WuW 48–68, hier S. 64 u. 58. Das Bild vom ‚zwingen‘ wird auf S. 67 wiederholt. Vgl. dazu ebd., S. 63, Fußnote 16. 23 Wie oben bei dem Lied-Gedicht erwähnt wurde, vgl. z.  B. auch SW III, 15. 24 Auf das Verhältnis zwischen diesen beiden Gedichten hat schon Hans-Georg Gadamer hinge­ wiesen: Wer bin Ich und wer bist Du? In: Ders.: Ästhetik und Politik II (wie Anm 4), S. 383–451, hier S. 397. 25 Zum Bild des Kleinods vgl. Thomas Böning: Alterität (wie Anm. 6), S. 177  f., und die klare Analyse von William Waters: Stefan George’s Poetics. In: JR 25–49, hier 46  f. 26 Daran, dass (contra Heidegger) nicht nur das Land, sondern auch der Dichter des Kleinods verlustig geht, erinnert Dirk von Petersdorff: Als der Kampf gegen die Moderne verloren war, sang Stefan George ein Lied. Zu seinem letzten Gedichtband „Das Neue Reich“. In: JbDSG 43 (1999), S. 325–352, hier S. 348.

    

    Das Neue Reich · Das Lied 

     673

    und Natürliches erwirken, ‚glänzen‘ und ‚blühen‘: Für den späten George sind solche Naturbilder von besonderer Bedeutung. Zu dem Wort „sei“ und der oft aufgeworfenen Frage, ob es als Konjunktiv oder als Imperativ aufzufassen sei, ist zu vermerken, dass die Imperativform nicht so gut zum „verzicht“, noch weniger zu dem „traurig“ im vorletzten Vers passt. Heideggers Auslegung der Konjunktivform: „Das ‚sei‘ reicht uns das ‚ist‘ reiner, weil verschleiert dar“, ist nicht überzeugend.27 Abgesehen von den klanglichen Gründen für diese Form, hören wir durch sie die Autorität der Norn, der Worthüterin. Es ist verständlich, dass man im Fahrwasser Heideggers Das Wort als philosophische Aussage begriffen hat. Als Gedicht aber gehört es mit den anderen in Das Lied zusammen: Da lesen wir, das Wort wird nur von Kindern verstanden, es wird vom Fischerweib nicht ausgesprochen, Yvos Abschiedswort wird Jolanda nie erreichen. Wie das Menschenleben überhaupt ist auch das Wort fragil. Was das besondere ‚Kleinod‘ in diesem Gedicht bedeutet, wird nicht geklärt; jedenfalls geht es um die nicht auszuführende Wiedergabe einer besonderen Vorstellung, für die keine geeignete Sprache zu finden war. Wenn der Titel sich auf das einmal fehlende Wort bezieht, auf ein Versagen, wissen wir, dass solche Zweifel an dem Wort nicht nur hier im Werke Georges Ausdruck finden, wie Wolfgang Frommel gezeigt hat.28 Im ersten der Gebete, im Hinblick auf das Maximin-Erlebnis, muss der Dichter befürchten, dass: „Mein lied dem wahren gang mehr nicht entspreche / Als einem ding sein schatten auf der welle.“29 Georges Erkenntnis, dass „Wirklichkeit […] nur in der Sprache existiert“, lässt Durzak ihn in eine Tradition einbeziehen, die einen grossen Bogen von Poe bis Celan schlägt.30 Trotz des Dichters Trauer über dieses Versagen, über die Erkenntnis, dass nicht alle Träume sich kommunizieren lassen, wäre es falsch, dieses Gedicht nur im negativen Zeichen zu verstehen. Der Dichter lernt nicht nur von dem Erlebnis, er kann dieses Scheitern, wie Herres betont, im Gedicht selber produktiv machen,31 sodass, in der bündigen Formulierung, die Kaiser einer Schülerin verdankt, gilt: „Der Verzicht ist ein Gedicht.“32

    27 Martin Heidegger: Unterwegs (wie Anm. 1), S. 233. 28 F. W. L’Ormeau (d.i. Wolfgang Frommel): Horch was die dumpfe erde spricht. In: CP 8 (1958), H. 35, S. 100–105, hier S. 104  f. Auf S. 105 spricht er davon, wie das „Abbild“ gegenüber dem „Urbild“ defizitär erscheinen kann. 29 SW IX, 38; die Verbindung zwischen diesem Gedicht und der Aufschrift von Das Lied wird von Ute Oelmann erklärt, SW IX, 146. 30 Manfred Durzak: Zwischen Symbolismus und Expressionismus: Stefan George. Stuttgart u.  a. 1974, S. 65. 31 Nina Herres: Namhafte Bilder (wie Anm. 12), S. 107. 32 Kaiser: Geschichte (wie Anm. 8), S. 244.

    Francesco Rossi

    Dante-Übertragungen Stefan Georges eingehende Beschäftigung mit dem Mittelalter und seiner Literatur während der Schul- und Studienzeit ist die Grundlage für sein Verständnis der Dichtung von Dante Alighieri. Bezeichnend für seine frühe Rezeption des Werks und der Gestalt des Florentiners, vermutlich angeregt durch die Lektüre der Gedichte und der Übersetzung der Vita Nuova von Dante Gabriel Rossetti,1 ist ein präraffaelitischer Geschmack. Doch gerade die Auseinandersetzung mit der Divina Commedia, die er um die Jahrhundertwende zu übersetzen beginnt, führt den Dichter zu einer umfassenden Revision seines Bildes des Mittelalters.2 Nicht als Ausdruck dieser Epoche sei ihm Dante wichtig, sondern vielmehr als „Heraufführer der Renaissance“3. Nicht die durch die christliche Glaubenslehre stark geprägten Szenarien der Hölle und des Himmels seien „bei Dante das Entscheidende, sondern das, was in ihnen vorgeht“, und zwar, unter anderem, dass „Dante den Repräsentanten der Antike, Vergil, als seinen Führer an den Anfang seiner Dichtung stellt“ (EL 42). Kaum ein anderes Kunstwerk der Poesie stellt also für George eine so mächtige Entfaltung dichterischer Individualität dar wie die Göttliche Komödie, denn sie nimmt nicht nur die Kunstauffassung des Humanismus vorweg, sondern auch dessen menschenzentriertes Weltbild. Gleichwohl bilde die „Bindung, die bei Dante ist“, gleichzeitig auch „etwas grundsätzlich Antimodernes“ (EL 41). Gemeint ist hiermit freilich die in der Moderne nachher nie wieder erlangte dichterische Synthese zwischen Ethik, Politik, Dichtung und Religion, die Dante aus George’scher Sicht zum Gesamtmenschen macht und auf der Georges Übertragung der Göttlichen Komödie konsequent aufbaut.4 Allerdings verkörpert Dante das typisch George’sche Ideal des antimodernen Dichters vor allem aus einem anderen Grund: nämlich als „Bauherr der Form“5. So

    1 Vgl. Anna Maria Arrighetti in: GHb I, 218–238, hier S. 218  f. George hat das Italienische vorwiegend aus der Lektüre kanonischer Werke als Autodidakt gelernt. 2 Vgl. Ute Oelmann: Das Mittelalter in der Dichtung Georges. Ein Versuch. In: Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft. Hg. v. Barbara Schlieben, Olaf Schneider u. Kerstin Schulmeyer. Göttingen 2004, S. 133–145, hier S. 144. 3 So George im Gespräch mit Edith Landmann, EL 17. Vgl. dazu Peter Philipp Riedl: Epochenbilder, Künstlertypologien. Beiträge zu Traditionsentwürfen in Literatur und Wissenschaft 1860 bis 1930. Frankfurt/M. 2005, S. 123  f. 4 Zu Dantes Vorbild-Charakter für George vgl. Eva Hölter: „Der Dichter der Hölle und des Exils.“ Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption. Würzburg 2002, S. 135  f. 5 Paul Gerhard Klussmann: Dante und Stefan George. Über die Wirkung der Divina Commedia in Georges Dichtung. In: SGK 138–150, hier 142. Vgl. auch Lorenzo Bianchi: Dante und Stefan George. Einführung in ein Problem. Bologna 1936, sowie Maurizio Pirro: Per una lettura ‚begriffsgeschichtlich‘ della categoria di ‚Gestalt‘. Le traduzioni di Stefan George della „Divina Commedia“. In: Studia theodisca 19 (2012), S. 93–111.

    676 

     Francesco Rossi

    steht der italienische Dichter in der Lobrede auf Mallarmé in einer Reihe mit Pindar und Goethe, deren „klangvolle dunkelheiten“ eine Sprache herbeiführen, „dere[r] die unheilige menge sich nie bedienen würde“ (SW XVII, 46–48). Im XVIII. Gedicht des Vorspiels zum Teppich des Lebens wird der „Florentiner“ unter den „höchste[n] meister[n]“ erwähnt und neben die attischen Tragiker, Shakespeare und Petrarca gestellt (SW  V, 27). Dass George zuweilen auf Dante’sches Formelgut als Unterbau für die eigenen Verse zurückgreift, kommt also nicht von ungefähr.6 Er schöpft gerne aus der Fülle der spruchhaften Wendungen der Commedia7, wobei sein Dante-Verständnis von seinen eigenen poetischen Idiosynkrasien stark geprägt wird. Dantes individueller Gestus wird hauptsächlich mit dichterischer Souveränität oder Selbstvergewisserung verbunden, wie sich in Dante und das Zeitgedicht im Siebenten Ring wohl am deutlichsten zeigt (SW VI/VII, 8). Vor dieser Folie leuchtet ein, warum George lediglich eine Teilübertragung der Commedia geliefert hat, genauso wie sich seine eigenwillige Vorgehensweise bei der Auswahl und dichterischen Aufarbeitung einzelner ihm bedeutsamer Textstellen erklärt. Eine solche Herangehensweise an den Dante’schen Text, so unsystematisch und sogar philologisch fragwürdig sie auch gewesen sein mag, setzt dennoch eine bestimmte Schwerpunktsetzung (unter Bevorzugung spezieller Themenkreise) voraus, die nach der Lektüre ein einheitliches Gesamtbild hinterlässt. Die ersten Stellen werden zwischen Januar und Mai 1901 übersetzt und erscheinen 1901 unter dem Titel Aus einer Dante-Übertragung in den Blättern für die Kunst.8 Weitere Übertragungen werden in den folgenden Jahren sowohl in den Blättern als auch 1909 in limitierter Ausgabe veröffentlicht.9 Mit einer 33  Stellen umfassenden Buchausgabe endet 1912 die erste Phase von Georges Auseinandersetzung mit der Dante’schen Komödie. Nach einer Pause von etwa fünf Jahren nimmt der Dichter 1917 während des Kriegs seine Arbeit wieder auf und setzt sie bis 1922 fort. So erscheint 1921 zum 600. Todesjahr Dantes eine zweite, um zehn Stellen, eine weitere Vorrede und ein Namensverzeichnis erweiterte Ausgabe, unmittelbar gefolgt von einer dritten, unveränderten Auflage im selben Jahr. Schließlich kommt 1925 die 50 Stellen starke

    6 Der Vers „qui si parrà la tua nobilitate“ (If  II, 9) erscheint als Motto für den Rat für Schaffende (SW XVII, 68) und ein Zitat aus dem Gespräch mit Cacciaguida (Pd XVII, 124–133) ist dem Gedicht Der Krieg vorangestellt (SW IX, 22). 7 So stammt beispielsweise die Wendung „Ich bin freund und führer dir und ferge“ aus If II, 140 („Tu duca tu segnore e tu maestro“). Vgl. Paul Gerhard Klussmann: Dante und Stefan George (wie Anm. 5), S. 144. 8 Die Entstehungsgeschichte, die Überlieferung sowie eine vollständige Chronologie der DanteÜbertragungen findet sich im von Georg Peter Landmann besorgten Anhang zu SW X/XI, 144  ff. Vgl. ergänzend GHb I, S. 221  f. 9 Gemeint ist hiermit die sogenannte Faksimile-Ausgabe „in genauer Nachbildung der Urschrift“, die George unter Freunden und Bekannten bereits vor der ersten Buchausgabe zirkulieren lässt.

    Dante-Übertragungen 

     677

    vierte Ausgabe der Dante-Übertragungen heraus, die mit dem X/XI. Band der GesamtAusgabe der Werke (Oktober 1932) identisch ist. Ist die erste Arbeitsphase durch ein deutliches Übergewicht von Stellen aus dem Fegefeuer gekennzeichnet, so lässt sich in Bezug auf die zweite Arbeitsphase feststellen, dass auf einmal zahlreiche Passagen aus der Hölle in den Fokus der Aufmerksamkeit des Übersetzers treten, was wohl als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg zu erklären ist. Die erste Arbeitsphase ist also dem Ästhetizismus und seiner Tendenz zur symbolisch aufgeladenen Visualität verpflichtet. Unter den allerersten, vor dem Mai 1901 zu datierenden Übersetzungsproben findet man beispielsweise die Szene der Epiphanie Beatrices im irdischen Paradies (Wiedersehen mit der Seligen, Pg XXX, 22–48), unmittelbar gefolgt von einem beträchtlichen Teil der Beschreibung der sogenannten Himmelsrose (Pd XXX, 38–130 u. Pd XXXI, 1–30), nämlich jener strahlenden Zone des Empyreums, in der Dantes Darstellungskunst einen Höhepunkt erreicht. Erst nach Ausbruch des Krieges bekommt die Zeitkritik mehr Raum. Ein mahnender Ton wird vorherrschend, so etwa im Gespräch mit dem Ahnen Cacciaguida über Dantes Exil (Pd XVII, 13–142, 1917 übertragen) oder im Wehruf über Italien (Pg VI, 76–102, übertragen zwischen 1918 und 1919). Passagen „von besonderer dichterischer wucht“10 rücken in den Vordergrund, wie beispielsweise bei der Inschrift des Höllentors (If III, 1–24, übertragen vor 1921). Dennoch bleibt die zweite cantica mit 24 übertragenen Stellen und 1.431 Versen nach wie vor diejenige, die in Georges Auswahl insgesamt gesehen am meisten vertreten ist, gefolgt von der Hölle, die mit 14 Stellen und 1.010 Versen, und schließlich vom Himmel, der mit insgesamt 12 Stellen und 874 Versen vertreten ist. In Georges Übertragung erscheint jede Stelle aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst. Fokussiert wird auf einzelne Momente von besonderer Intensität oder stilistischer Wirksamkeit sowie auf individuelle Gestalten oder Geschichten.11 Die Übergänge zwischen der einen und der anderen Szene werden in aller Regel getilgt, allzu lehrhaft klingende Passagen weggelassen und Dantes Erklärungen über die Struktur des Jenseits auf ein Minimum reduziert.12 Dieses Verfahren führt notwendigerweise zum Bruch der diegetischen Kontinuität des Originals. Durch die 10 Zitiert aus der Vorrede zur zweiten Auflage, SW X/XI, 5. 11 Vgl. zu diesem Punkt Jeffrey Dean Todd: Stefan George’s Dante Translations. Past Perspectives and Future Itineraries. Univ. Diss. Cincinnati 1997, S. 140  f. 12 Beispiele für die Auslassung der spekulativen Dimension der Komödie liefert Gerd Michels: Die Dante-Übertragungen Stefan Georges. Studien zur Übersetzungstechnik Stefan Georges. München 1967, S. 66  ff. Diese Studie ist nach wie vor relevant, obwohl ihre insgesamt durchaus kritische Perspektive in Bezug auf Georges ästhetizistische Poetik der Übersetzung angesichts der neueren Forschung wohl nicht mehr zu rechtfertigen ist. Eine erste grundsätzliche Revision bietet Jeffrey Dean Todd: Stefan George’s Dante Translations (wie Anm. 11). Ablehnend gegenüber Michels’ Betrachtungsweise zeigt sich außerdem Konrad Huber: Philologische Bemerkungen zur Dante-Übertragung Stefan Georges. In: Recht, Geist und Kunst, liber amicorum für Rüdiger Volhard. Hg. v. Klaus Reichert u.  a. Baden-Baden 1996, S. 293–317.

    678 

     Francesco Rossi

    Hervorhebung von Einzelfällen und Momenten verlieren die Geschehnisse nämlich ihre narrative Dimension. Darüber hinaus trägt jede übertragene Stelle einen Titel, sodass die ursprüngliche Gliederung in Gesänge zugunsten einer rein additiven und episodischen Struktur aufgegeben ist.13 Die bisherigen Studien sprechen hinsichtlich dieser Vorgehensweise von einer systematischen Herausnahme „kostbarer Einzelheiten“14, die eine Reduzierung der Komödie auf eine Sammlung lyrischer Stellen zum Resultat hat. Die Idee der Dante’schen Dichtung, die diesem Verfahren zugrunde liegt, zeigt sich in der folgenden Passage, aus der sich die Stimme des Dichters in fiktiver Weise erhebt, besonders deutlich: Ich nahm aus meinem herd ein scheit und blies – So ward die hölle · doch des vollen feuers Bedurft ich zur bestrahlung höchster liebe Und zur verkündigung von sonn und stern. (SW VI/VII, 9)

    Wichtig ist an dieser Stelle nicht nur, dass George den Höhepunkt der Komödie in den Himmel und nicht, wie zu jener Zeit noch üblich, in die Hölle setzt,15 sondern vor allem auch, dass in ihr bereits jene Reduktion des gesamten Zeichensystems der Komödie auf wenige essenzielle Sinnbilder stattfindet, die Georges Herangehensweise zum Dante’schen Text in toto charakterisiert. Es handelt sich dabei um „feuer[]“, „bestrahlung höchster liebe“, „verkündigung“. Insbesondere die Überbelichtung solcher Elemente – und zugleich die gezielte Ausblendung anderer Faktoren – führt den Übersetzer auf den Weg der Lyrisierung des Dante’schen Originals. In der Tat läuft Georges Version der Komödie letztendlich auf eine drastische Eingrenzung des Ausgangstexts hinaus, was sowohl auf struktureller als auch auf inhaltlicher Ebene festzustellen ist. Besonders auffällig ist die Ausklammerung der philosophischen und theologischen Elemente aus den übertragenen Partien. Es fällt insbesondere auf, dass der katholisch-mittelalterliche Figurenapparat in Georges Übertragung größtenteils fehlt: Abgesehen von den Engeln, den Furien (If IX, 36–42) und wenigen anderen Ausnahmen finden die in der Unter- und Oberwelt obwaltenden Geschöpfe selten Eingang in sein Jenseitskonzept. Nicht nur Luzifer und die gesamte Schar der Teufel verschwinden aus Georges Stellenauswahl, sondern auch die der klassischen Mythologie entliehenen Gestalten des Charon, des Kerberos, des Minos, der Harpyien und der Kentauren. Und wenn der Übersetzer etwa auf den

    13 Für gewöhnlich überträgt George nicht einen Gesang in seiner Ganzheit, sondern beginnt mit der Wiedergabe einzelner Begebenheiten, die gleichsam als Angelpunkt für die Durchdringung einer ganzen Episode fungieren. Gelingt ihm der Durchbruch, so kann er auch größere Einheiten übertragen. Die Auswahl beginnt also in aller Regel mit kürzeren Ausschnitten, die dann progressiv erweitert und ergänzt werden können. 14 Gerd Michels: Die Dante-Übertragungen Stefan Georges (wie Anm. 12) S. 44. 15 Vgl. GHb I, S. 225  f.

    Dante-Übertragungen 

     679

    Riesen Geryon in einem Titel hindeutet, dann lässt er jedoch die Beschreibung des Körpers des fantastischen Untiers (If XVII, 1–24) unter den Tisch fallen. Sein Interesse richtet sich eher auf die berühmtesten Gestalten der Dante’schen Welt, nämlich Franziska von Rimini (If V, 70–142), Odysseus (If XXVI, 76–142), den Grafen Ugolino della Gherardesca (If XXXIII, 13–75) oder Bonconte da Montefeltro und Pia de’ Tolomei (Pg V, 88–136). Beatrice und Vergil bleiben nach wie vor die wichtigsten Bezugspersonen in der Figurenkonstellation der Komödie. Besondere Bedeutung kommt den Zusammentreffen mit Dichtern aus Dantes Gegenwart oder Vergangenheit zu, zu denken ist dabei etwa an die Episode Gruppe der Dichter (If IV, 67–102) oder an die Begegnungen mit Brunetto Latini (If XV, 22–87), Casella (Pg II, 55–117), Bonagiunta von Lucca (Pg XXIV, 34–63) oder den ‚Sängern‘ Guido Guinizzelli und Arnaut Daniel (Pg XXVI, 97–148). Dantes Unterredungen mit anderen Dichtern nehmen also einen gewichtigen Raum in der George’schen Übertragung ein,16 genauso wie jene Stellen, die durch die Reflexion des Dichters über sein eigenes Schaffen oder sein persönliches Schicksal gekennzeichnet sind. Besondere Aufmerksamkeit verdienen jene Stellen der Komödie, in denen sich rituelle Handlungen abspielen. Der Übersetzer verweilt gerne bei den Darstellungen von Übergangsriten (Bekränzung mit dem Schilf, Pg  I, 94–136; Die Taufe im Lethe, Pg XXXI, 97–145), Grenzüberschreitungen (Der Friedensengel, Pg XVII, 40–69), symbolischen Krönungen (Abschied Vergils, Pg  XXVII, 94–142; Krönung der Jungfrau, Pd  XXIII, 88–111) und allgemein bei Passagen, die einen opulenten allegorischen Apparat aufweisen, wie etwa bei der Erscheinung der sieben Leuchter (in Pd XXIX). Zu diesen Momenten gehören freilich auch jene Episoden, in denen sich die Protagonisten in rhetorisch aufgeladenen Gesprächen und stilisierten Gesten der Höflichkeit miteinander unterhalten, wie dies etwa bei der Entsendung des Vergil (If II, 58–60) der Fall ist. Durch die Lösung der Einzelszenen aus dem Ganzen geht allerdings ihr religiöser Charakter verloren, sodass sich die symbolische Bedeutung des Rituals auf die reine Äußerlichkeit der Gebärde zu reduzieren scheint.17 Aufgrund dieser gesteigerten Anschaulichkeit tritt bei George die rein emotionale Komponente an manchen Stellen eher gedämpft zutage. Doch bedeutet das nicht, dass alles Menschliche in seiner Übertragung zugunsten einer solchen „distanzierten Feierlichkeit“ unbedingt wegfallen muss.18 Vielmehr stellt sich zuweilen eine Milderung – um nicht zu sagen:

    16 Es handelt sich hierbei um Passagen der „poetologischen Meta- und Selbstreflexion“, GHb I, S. 224  f. 17 Vgl. v.  a. Gerd Michels: Die Dante-Übertragungen Stefan Georges (wie Anm. 12), S. 49. Vgl. außerdem Anna Maria Arrighetti: Vorbote des Neuen oder eigenwillige Konstruktion? Stefan Georges Dante-Bild im Spiegel seiner Übertragungen. In: Dante Alighieri und sein Werk in Literatur, Musik und Kunst bis zur Postmoderne. Hg. v. Klaus Ley. Tübingen 2010, S. 123–140, hier S. 126: „Georges Interpretation von Dantes Werk wird hauptsächlich von der Anerkennung eindrucksvoller Gebärden gelenkt“. 18 Gerd Michels: Die Dante-Übertragungen Stefan Georges (wie Anm. 12), S. 180. Michels spricht sogar von einer „Ausschaltung der persönlichen Gefühlsbeteiligung“ (ebd., S. 187), was aber nicht unbedingt zutrifft, siehe die folgende Modellinterpretation.

    680 

     Francesco Rossi

    Beschönigung – der wuchtigen Dante’schen Ausdrucksweise ein und manchmal eine Amplifikation bzw. Erweiterung derselben. Die George’sche Übersetzung erweckt also den Eindruck, aus einem Ringen mit der sprachlichen Form der Vorlage hervorzugehen. Von Bedeutung sind für ihn prinzipiell jene Stellen, die eine besonders edle Diktion oder Musikalität aufweisen. Daher übersetzt er mit Vorliebe Textpassagen, in denen dichterisches Virtuosentum vorhanden ist, darunter die Lobpreisungen mit ihren an die alte religiöse Hymnik erinnernden Stilzügen, wie etwa das Gebet des heiligen Bernhard (Pd XXXIII, 1–39). Mit der Preziosität der Allegorik des irdischen Paradieses (Pg XXX) setzt er sich schon in der Anfangsphase seiner Arbeit auseinander. Außerdem übersetzt er langatmig aufgebaute Vergleiche, mit denen Dante den narrativen Duktus der Komödie verziert, wie beispielsweise das durchaus realistische Bild des Erwachens des Landmanns (If XXIV, 1–18) oder die Parallele zwischen dem Aufschwung der Lerche und den Bewegungen des himmlischen Adlers (Pd XX, 73–99). An solchen Stellen folgt die Übertragung der komplexen rhetorischen Architektonik des Originals teilweise bis in die Wortfolge hinein. Folgendes Beispiel (Pd XX, 98  f.) zeigt, wie einwandfrei George einen Chiasmus mit Polyptoton wiedergibt: ma vince lei perché vuol esser vinta, e, vinta, vince con sua beninanza.19

    Es siegt indem es wünscht besiegt zu werden – Besiegt siegt es im gnadenüberschwange. (SW X/XI, 125)

    Derartige Passagen, nach denen, wie in diesem Fall, nicht selten die Übertragung effektvoll unterbrochen wird, sind ein Beweis dafür, dass der Übersetzer seine Bemühungen auf eine möglichst getreue Nachbildung der klanglichen, metrischen und rhetorischen Gestalt des Originals richtet. Betrifft Georges Annäherung an Dantes Verskunst in erster Linie die sprachpoetische Dimension, so soll es eben das „Dichterische“ sein, das er durch seine Übersetzungsarbeit „fruchtbar zu machen glaubt“, wie er in der Vorrede zur ersten Auflage der Dante-Übertragungen schreibt.20 Und dieses Dichterische besteht aus „ton, bewegung, gestalt“, durch die die Dante’sche Versifikation ihr eigentümliches Gepräge erhält. Besonders mit dem Wort „Gestalt“ wird auf den Gebilde-Charakter der Komödie hingewiesen, deren Perfektion als Kunstwerk Georges Übertragung bewahren soll. In dieser programmatischen Äußerung geht die sprachästhetische Komponente dem Inhalt voran. Zeichnet sich für George echte Kunstfertigkeit im Dichten, die über den „Wert einer Dichtung“ entscheidet, doch eben durch „jenes tief erregende in maass und klang“ aus, das nur den „Ursprünglichen“ eigen ist (SW XVII, 69). Dementsprechend stellt die Wiedergabe der inneren

    19 Dante Alighieri: La Commedia secondo l’antica vulgata. A cura di Giorgio Petrocchi. Bd. 3. Purgatorio. Verona 1967, S. 337. 20 SW X/XI, 5. Zu Georges Übersetzungskonzeption vgl. vor allem Friedmar Apel: Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens. Heidelberg 1982, S. 192  f.

    Dante-Übertragungen 

     681

    Musikalität und der poetischen Substanz des Dante’schen Texts das zentrale Anliegen der George’schen Übertragungen dar. Aus ebendiesem Grund geht Georges Version der Göttlichen Komödie weit über eine einfache Übersetzung ‚nach dem Wort‘ hinaus, selbst wenn sie sich keinesfalls als lose oder frei versteht.21 Dem Urteil Erich Bergers, sie sei „nahezu wortgetreu“22, ist also prinzipiell nicht zuzustimmen. Denn selbst wenn sich der Dichter um eine genaue Wiedergabe der Dante’schen Verszeile bis in ihre Wortfolge – was ihm übrigens nicht selten gelingt – bemüht, so sind dennoch jene Stellen zahlreich, die Abweichungen vom Ausgangstext aufweisen.23 An manchen Stellen, in denen sich die oben angesprochene Tendenz zur Amplifikation des Originals besonders deutlich zeigt, scheint George mit Dante geradezu wetteifern zu wollen,24 wie etwa im folgenden Passus (Pg XXX, 52–54): né quantunque perdeo l’antica matre, valse a le guance nette di rugiada che, lagrimando, non tornasser atre. (Dante. Bd 3, S. 519)

    Nicht der vom ersten paar verscherzten plane Genuss – nichts half den tau-gespülten wangen Dass trübes wasser wieder furchen bahne. (SW X/XI, 93)

    Auf den ersten Blick bietet das Bild der Wasserfurchen auf den Wangen des Dichters ein besonders gelungenes Beispiel einer Ergänzung des Ausgangstexts, die mit einer Erhöhung des Stils (die ebenfalls in der Wortzusammensetzung „tau-gespült“ vorhanden ist) einhergeht. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Stilüberbietung jedoch als Kompensation des Terzinenanfangs, wirkt die Wahl des Ausdrucks „verscherzt“ doch etwas abschwächend im Vergleich zum Original. Dieses Beispiel zeigt, dass es dem Dichter-Übersetzer eigentlich darum geht, einen möglichst einheitlichen Stil durchzuhalten und sich dabei möglichst wenig von dem des Originals zu entfernen.25 Als Musterfall literarischer Übersetzung können Georges Dante-Übertragungen also als ein System von Verlusten und Kompensationen aufgefasst werden. Im Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext besteht nämlich eine Vielzahl von stets neu auszuhandelnden Möglichkeiten, die dem Übersetzer zur Verfügung stehen.26 Um die authentische Sprache des Originals wieder anklingen zu lassen, kompensiert der

    21 Vgl. zu dieser Problematik v.  a. Jeffrey Dean Todd: Stefan George’s Dante Translations (wie Anm. 11), S. 150  f. 22 Erich Berger: Eine Vermutung, Stefan Georges Übertragungen aus der „Göttlichen Komödie“ betreffend. In: Monatshefte 48 (1956), 7, S. 345–359, hier S. 349. 23 Vgl. Gerd Michels: Die Dante-Übertragungen Stefan Georges (wie Anm. 12), S. 123  ff. 24 Zu dieser Art ‚aemulatio Dantis‘ vgl. Italo Michele Battafarano: Dell’arte di tradur poesia. Dante, Petrarca, Ariosto, Garzoni, Campanella, Marino, Belli. Analisi delle traduzioni tedesche dall’età barocca fino a Stefan George. Bern u.  a. 2006, S. 181  ff. 25 Durch seine Übersetzungstechnik will George nämlich „den Ton, die Instrumentierung des Textes“ aufrechterhalten. Gerd Michels: Die Dante-Übertragungen Stefan Georges (wie Anm. 12), S. 139. 26 Vgl. Umberto Eco: Quasi Dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen. München u. Wien 2006.

    682 

     Francesco Rossi

    Dichter Vers für Vers die Verluste durch Ergänzungen. Was er an einem bestimmten Punkt unterschlägt, nimmt er in der Regel an anderer Stelle wieder auf.27 Bleibt er aus irgendeinem Grund einen Bestandteil schuldig, so findet er meist den passenden Ausgleich an anderer Stelle oder auf anderer Ebene. So werden beispielsweise syntaktische Änderungen häufig vorgenommen, um die metrische Grundstruktur beizubehalten. Und idealiter lässt sich auf diese Weise das ‚Dichterische‘ der Komödie bewahren. Zur Wiedergabe der poetischen Substanz des Dante’schen Werks gehört aber zunächst die strikte Einhaltung von dessen Reim- und Strophenstruktur, nämlich der Terzine. Für George, ebenso wie für Dante, bildet die Terzine eine fundamentale klangliche Einheit, in der Rhythmus, Bild und Begriff unauflöslich verbunden sind. Aber während die Reimverkettung bei Dante Kontinuität sowohl auf akustischer als auch auf diegetischer Ebene schafft, wird gerade diese Kontinuität bei George ständig unterbrochen, indem er den Akzent doch eher auf die epigrammatische Geschlossenheit der Einzelstrophe setzt.28 Gleichwohl behält er das Reimschema der terza rima durchgehend bei und sichert sich dabei, was den Klang anbelangt, durch die beinahe ausschließliche Verwendung weiblicher Reime eine außerordentliche Treue gegenüber dem Original. Das Festhalten an der vorwiegend paroxytonalen Betonung des italienischen Elfsilbers zwingt allerdings den Übersetzer zu unkonventionellen Lösungen im Versschluss wie ungewöhnlichen Pluralbildungen, weiblichen Abstrakta, Archaismen und nicht zuletzt den sogenannten „falschen Konjunktiven“29. Statt des Hendekasyllabus benutzt George in seiner Übertragung den jambischen Fünfheber. Er ersetzt somit einen syllabischen durch einen aus fünf Versfüßen bestehenden Vers. Doch gerade in Bezug auf die Akzentsetzung ist der italienische Elfsilber eine sehr flexible Versart – und das Besondere an Dantes Verskunst besteht im Grunde darin, diese Freiheit in der Gestaltung des Rhythmus Vers für Vers auszunutzen. Hingegen wirkt die Einteilung in Füße skandierter und etwas starrer. Aus ebendiesem Grund ist die Schwierigkeit, die einer klanglich getreuen Wiedergabe der Göttlichen Komödie in deutschen Pentametern entgegensteht, besonders groß: Wird eine möglichst weitgehende Entsprechung auf der rhythmisch-musikalischen Ebene gesucht, so ist ein allzu uniform, allzu ebenmäßig wirkender Takt auf jeden Fall zu vermeiden. Der George’sche Vers erfüllt aber diese Vorgabe mustergültig und gibt den Dante’schen in überraschend ungezwungener Weise wieder, denn in ihm gelingt

    27 So Gerd Michels: Die Dante-Übertragungen Stefan Georges (wie Anm. 12), S. 139. Einzelne Beispiele bei Jeffrey Dean Todd: Stefan George’s Dante Translations (wie Anm. 11), S 159  ff. (SW XVII, 40–42) und Konrad Huber: Philologische Bemerkungen (wie Anm. 12), S. 310 (Pg I, 118). 28 George setzt die Terzinen durch eine Leerzeile voneinander ab und verwendet viel seltener als Dante das Strophenenjambement. 29 Vgl. dazu Gerd Michels: Die Dante-Übertragungen Stefan Georges (wie Anm. 12), S. 153, aber auch Konrad Huber: Philologische Bemerkungen (wie Anm. 12), S. 313. Während Michels behauptet, dass die falschen Konjunktive hauptsächlich aus Reimnot entstehen, versichert Huber, sie würden in Georges eigener Dichtung mit ähnlicher Frequenz vorkommen.

    Dante-Übertragungen 

     683

    gemeinhin die Nachbildung der fließenden Aneinanderreihung der daktylischen und anapästischen Elemente des Elfsilbers.30 Durch den Einschub von Unregelmäßigkeiten, die den Gang der Gedichtzeilen fließender und musikalischer machen, vermeidet George die allzu taktmäßige Abfolge von Hebungen und Senkungen. Seine Verse erhalten somit jenen eigentümlichen Schwung, der zur Nachbildung des Dante’schen Hendekasyllabus unerlässlich ist. Auf diese Weise erhält der George’sche Vers seine eigentümliche italianità31. Allerdings ist der Übersetzer eben deswegen häufig gezwungen, Lizenzen und Abweichungen von der normalen deutschen Satzkonstruktion in Kauf zu nehmen, und so zeichnen sich die Dante-Übertragungen durch einen hart gefügten Stil aus,32 der teilweise recht komplexe Wendungen nicht scheut. Eine solche Verknappung des Ausdrucks lässt sich aber weniger als ein „artistisches Verhältnis zur Sprache“33 mit „Verstöße[n] gegen die deutsche Grammatik“34 beschreiben, denn als solche kennzeichnet sie bereits die Schreibweise der George’schen Lyrik. Vielmehr lässt sie sich als ein wesentlicher Aspekt von Georges Antimodernismus betrachten, der, wie oben bereits angedeutet, in erster Linie die sprachpoetische Dimension betrifft. Die „Bindung“, nach der George sucht, liegt also in erster Linie in Dantes Behandlung und Verhältnis zur Sprache. Ist diese Sprache „etwas grundsätzlich Antimodernes“, so muss die Übertragung dazu dienen, deren ursprüngliche Expressivität zu vermitteln. Vor diesem Hintergrund leuchtet die häufige Verwendung von Hyperbata, Archaismen, anakoluthischen Konstruktionen und Wortverkürzungen ein. Und dies erklärt unter anderem auch, warum George den Text der Göttlichen Komödie unter besonderer Rücksichtnahme auf den Ausgangstext übersetzt, ihn also in der Zielsprache verfremdet, und dies im Gegensatz etwa zu Karl Vossler, der ein ‚zieltextorientierter‘ Übersetzer ist, weil er alles Fremde in den Sprachkontext der eigenen Sprache einbürgert.35 Rudolf Borchardt, der selbst Autor eines nicht unähnlichen Übersetzungsversuchs der Komödie ist, äußert sich diesbezüglich zustimmend:

    30 Vgl. Konrad Huber: Philologische Bemerkungen (wie Anm. 12), S. 306  f., der sich zur Unterstützung seiner Bemerkungen auf die Studie von Hubert Arbogast (HA) beruft. Aufgrund dessen scheint Michels’ Betrachtungsweise einer in „feierlicher Gemessenheit […] ruhig durchfließende[n] Vers­ zeile“ bei George revidierungsbedürftig. Gerd Michels: Die Dante-Übertragungen Stefan Georges (wie Anm. 12), S. 81  f. Wenn Georges Fünfheber eintöniger als ein Dante’scher Elfsilber wirkt, so erklärt sich dies eher aus den allgemeineren Unterschieden in der Sprach- und Versstruktur. 31 Konrad Huber: Philologische Bemerkungen (wie Anm. 12), S. 314. 32 Von einem „brachylogischen Stil“ spricht Gerd Michels: Die Dante-Übertragungen Stefan Georges (wie Anm. 12), S. 121. 33 Ebd., S. 215. 34 Rolf Kloepfer: Das „notwendige, welthaltige Wort“ – Dantes Purgatorio I. In: Ders.: Die Theorie der literarischen Übersetzung. München 1967, S. 97–112, hier S. 106. 35 Einen Vergleich zwischen den unterschiedlichen Übersetzungsarten von George und Vossler leistet Rolf Kloepfer, vgl. ebd. Nicht umsonst kamen aus dem George-Kreis – und nächster Umgebung – die schärfsten Urteile gegen eine ‚Zieltext-orientierte‘ Übersetzungspraxis. Vgl. zum Thema Katja Lubitz:

    684 

     Francesco Rossi

    Georges Dante-Übertragung sei „künstlerische Arbeit von allererstem Range, von spezifischer Eigenschwere“, denn mit George spreche Dante endlich „durch das Medium eines Dichters“36. So sehr ist Georges Dante-Werk durch seinen Kunstcharakter geprägt, so sehr aber unterscheidet sich dessen „spezifische Eigenschwere“ von jener der anderen Übersetzungen.37 Aus leicht nachvollziehbaren Gründen kann man sie mit den philologisch treuen Blankvers-Übersetzungen von Karl Witte (1861) und Karl Vossler (1910) nicht vergleichen: Diese sind prosaisch und gemeinverständlich, sie hingegen, wie oben bereits angesprochen, „dichterisch“ im Sinne Georges. Ebensowenig kann man die literarisch anspruchsvolleren Übersetzungen von August Wilhelm Schlegel (1795), Philaletes (1828) oder August Kopisch (1842) zum Vergleich heranziehen, denn durch den Verlust der Dante’schen Terzine ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zur George’schen Version. Diese lässt sich aber auch mit den Verdeutschungen von Otto Gildemeister (1888), Alfred Bassermann (1891) und Richard Zoozmann (1907) kaum vergleichen, die die Form der Terzinen zwar behalten, aber in einer ziemlich konventionellen Dichtersprache geschrieben sind.38 Selbst Rudolf Borchardts Dantes Comedia Deutsch (1930) ist zum Vergleich eher ungeeignet, und zwar deshalb, weil in diesem speziellen Fall die sprachpoetische Konzeption grundsätzlich anders als die George’sche ist: Dieser dichtet nicht, wie Borchardt, in einem bewusst archaisierenden Idiom mit historischem Hintergrund, sondern in einer poetischen Sprache, die sich als absolut und, als solche, überhistorisch versteht.39 Denn Dantes Sprache bleibt für George bis zuletzt „[e]ine[] sprache … der wir noch viel schuldig werden müssen ehe unser wesen eine gestalt gewinnen kann“ (SW X/XI, 154).

    Übersetzen als Schöpferischer Prozess. In: Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800. Hg. v. Josephine Kitzbichler, Katja Lubitz u. Nina Mindt. Berlin 2009, S. 209–235. 36 Rudolf Borchardt: Dante und deutscher Dante. In: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa II. Unter Mitarbeit v. Ernst Zinn hg. v. Marie Luise Borchardt. Stuttgart 1959, S. 354–388, hier S. 369. 37 Einen Ausblick gibt Stephan Oswald: Dante Deutsch – breve profilo delle versioni tedesche della Divina Commedia. In: La ricezione di Dante Alighieri. Impulsi e tensioni. Hg. v. Rita Unfer Lukoschik u. Michael Dallapiazza. München 2011, S. 87–108. Vgl. außerdem Richard Zoozmann, Julius Rodenberg: Zur deutschen Dante-Bibliographie. In: Deutsches Dante-Jahrbuch VIII (1924), S. 175–275, darin bes. „Inf. V, 97–142 im Urtext und in den deutschen Übersetzungen“, S. 185  f. 38 Diese Autoren beachten die weibliche Endung des italienischen Elfsilbers nicht wie George, der die Wichtigkeit dieses Elements nie in Zweifel zog: „Wenn ich mirs so leicht hätte machen wollen, wie es im Holländischen mit den mehrsilbigen Endungen möglich ist, hätte ich auch das Ganze übersetzen können“, soll er beim Blättern der Übersetzung der Komödie ins Niederländische von Albert Verwey gesagt haben. Zit. aus SW X/XI, 144 (Anhang). 39 Vgl. Lucia Mancini: Borchardt und George. Übersetzer von Dantes „Divina Commedia“. In: Rudolf Borchardt 1877–1945. Referate des Pisaners Colloquiums. Hg. v. Horst Albert Glaeser in Verbindung mit Enrico De Angelis. Frankfurt/M. u.  a. 1987, S. 321–346; Kurt Flasch: Borchardts Dante. In: Das wilde Fleisch der Zeit. Rudolf Borchardts Kulturgeschichtsschreibung. Hg. v. Kai Kauffmann. Stuttgart 2004, S. 146–168.

    Dante-Übertragungen 

     685

    Interpretation der Übertragung vom Abschied Vergils (SW X/XI, 80–81) Abschied Vergils Die stunde glaub ich war es wo gen morgen Den berg zuerst der Venus strahlen krönen Die immer brennend scheint von liebessorgen.

    Ne l’ora, credo, che de l’orïente prima raggiò nel monte Citerea, che di foco d’amor par sempre ardente,

    Mir war ich stünd im traum vor einer schönen Und jungen frau die durch die fluren ginge Und blumen pflückte unter diesen tönen:

    giovane e bella in sogno mi parea donna vedere andar per una landa cogliendo fiori; e cantando dicea:

    Es wisse jeder wie mein name klinge · Dass ich die Lea bin und kreisend schlage Die schönen hände und mir kränze schlinge.

    ‚Sappia qualunque il mio nome dimanda ch’i’ mi son Lia, e vo movendo intorno le belle mani a farmi una ghirlanda.

    Ich schmücke mich eh ich den spiegel frage · Doch schwester Rahel mag nur in sich saugen Die eigne zier und sizt so alle tage.

    Per piacermi a lo specchio, qui m’addorno; ma mia suora Rachel mai non si smaga dal suo miraglio, e siede tutto giorno.

    Sie ist entzückt von ihren schönen augen · Ich bin es von dem schmucke meiner hände. Wie ihr die schau so will das werk mir taugen. –

    Ell’è d’i suoi belli occhi veder vaga com’io de l’addornarmi con le mani; lei lo vedere, e me l’ovrare appaga‘.

    Schon waren durch der frühen dämmrung brände So jene wanderer am meisten loben Die nächten nah dem heimischen gelände

    E già per li splendori antelucani,

    Die finsternisse ringsumher verstoben Und auch mein schlaf mit ihnen .. und beim steigen Sah ich die beiden meister schon erhoben.

    le tenebre fuggian da tutti lati, e ’l sonno mio con esse; ond’io leva’ mi,

    ›Die süsse frucht die zwischen allen zweigen Der mensch mit eifer zu erringen trachte: Heut wird sie alle deine sehnsucht schweigen.‹

    ‚Quel dolce pome che per tanti rami cercando va la cura de’ mortali, oggi porrà in pace le tue fami‘.

    Mit einem solchen grossen wort bedachte Vergil mich dass noch niemals irdische zunge Mir ein entzücken diesem ähnlich brachte.

    Virgilio inverso me queste cotali parole usò; e mai non furo strenne che fosser di piacere a queste iguali.

    Zur höhe zu gelangen trieb im sprunge Der wunsch den wunsch · so dass bei jeder biege Ich fühlte wie mein flügel wuchs zum schwunge.

    Tanto voler sopra voler mi venne de l’esser sù, ch’ad ogne passo poi

    che tanto a’ pellegrin surgon più grati, quanto, tornando, albergan men lontani,

    veggendo i gran maestri già levati.

    al volo mi sentia crescer le penne.

    686 

     Francesco Rossi

    Dann sah ich unter uns die ganze stiege Durcheilt und wie am obersten gemäuer Der blick des Meisters mir entgegenfliege.

    Come la scala tutta sotto noi fu corsa e fummo in su ’l grado superno, in me ficcò Virgilio li occhi suoi,

    Er sprach: Das zeitliche und ewige feuer Hast du geschaut o Sohn und in dem kreise Wohin du nun gehst bin ich selbst ein neuer.

    e disse: ‚Il temporal foco e l’etterno veduto hai, figlio; e se’ venuto in parte dov’io per me più oltre non discerno.

    Hier zog dich her der Dichter und der Weise. Zum führer nimm nun einzig dein verlangen · Denn du bist ausser schlucht und steilem gleise.

    Tratto t’ho qui con ingegno e con arte; lo tuo piacere omai prendi per duce; fuor se’ de l’erte vie, fuor se’ de l’arte.

    Die sonne sieh! sie strahlt auf deinen wangen. Das land gedeiht hier ohne vorbereiter · Sieh! blumen gras und bäume fruchtbehangen!

    Vedi lo sol che ’n fronte ti riluce; vedi l’erbette, i fiori e li arbuscelli che qui la terra sol da sé produce.

    Hier triffst du bald die schönen augen heiter Die weinend mich entsandten beim beginne. Ruh hier solange oder wandle weiter!

    Mentre che vegnan lieti li occhi belli che, lagrimando, a te venir mi fenno, seder ti puoi e puoi andar tra elli.

    Nicht wirst du wort und wink von mir mehr inne. Dein geist ist fest und heil und frei von frone. Nun wäre fehl zu folgen andrem sinne!

    Non aspettar mio dir più né mio cenno; libero, dritto e sano è tuo arbitrio, e fallo fora non fare a suo senno:

    Hier krön ich dich mit mitra und mit krone! (SW X/XI, 80  f.)

    per ch’io te sovra te corono e mitrio‘. (Pg XXVII, 94–142)1

    Die Entstehungsgeschichte der Übertragungen aus der Göttlichen Komödie zeigt deutlich, dass Georges Interesse von Anfang an auf das Fegefeuer fokussiert ist. Innerhalb dieser zweiten cantica nehmen die sieben letzten Gesänge eine Vorrangstellung ein.2 George überträgt nämlich die Gesänge 29 bis 31 vollständig und außerdem in reichem Maße aus dem 27., 28., 32. und 33. Gesang, was zusammengenommen rund 668 Verse ergibt, also etwa ein Fünftel der gesamten Übertragung aus der Divina Commedia ausmacht. Dass George besondere Aufmerksamkeit auf die Vorkommnisse im Vorhimmel und im irdischen Paradies richtet,3 ist kein Zufall, denn gerade an dieser Stelle sind effektvolle und allegorisch aufgeladene Visionen reichlich vorhanden. Hier 1 Dante Alighieri: La Commedia secondo l’antica vulgata. A cura di Giorgio Petrocchi. Bd. 3. Purgatorio. Verona 1967, S. 471–476. 2 Was übrigens schon Gemeingut der Forschung ist. Vgl. Paul Gerhard Klussmann: Dante und Stefan George. Über die Wirkung der Divina Commedia in Georges Dichtung. In: SGK 138–150, hier 143, der sich aber auf einen thematischen Vergleich beschränkt. Vgl. außerdem Anna Maria Arrighetti, GHb I, 218–238, hier 224. 3 Vgl. Konrad Huber: Philologische Bemerkungen zur Dante-Übertragung Stefan Georges. In: Recht, Geist und Kunst, liber amicorum für Rüdiger Volhard. Hg. v. Klaus Reichert. Baden-Baden u.  a. 1996, S. 293–317, hier S. 302.

    Dante-Übertragungen 

     687

    wandert der Protagonist Dante in einer opulenten Naturkulisse, stößt auf den Aufzug der sieben Leuchter – eine bunte Mischung aus klassischer und biblischer Symbolik – und begegnet schließlich Beatrice, die ihm vom Himmel her gesendet in voller Pracht erscheint. Ihre Rüge und das darauf folgende Bekenntnis Dantes gelten als Vorbedingung zur Himmelfahrt, zu der die Taufe im Lethe und die Läuterung im Eunoë als Vorbereitung dienen sollen. Eine mystisch gefärbte Bildlichkeit kennzeichnet also diesen Teil der Komödie, der in vielerlei Hinsicht sehr stark an die Thematiken der Vita Nuova erinnert und somit einen lyrischen Höhepunkt im Dante’schen Meisterwerk darstellt.4 Der 27. Gesang des Fegefeuers gehört insofern zu dieser Konstellation von Gesängen, als er deren Grundthemen und -motive vorwegnimmt. Der Gesang beginnt mit Dantes Überschreitung des Feuergürtels, durch die er die letzte innere Grenze überwindet, die ihn von den Freuden des irdischen Paradieses und also von der Begegnung mit Beatrice trennt. Obwohl selbiges Übergangsritual zweifelsohne von Bedeutung ist, lässt George diesen ersten Teil des Gesangs jedoch außer Acht und konzentriert sich lieber auf den letzten, in dem gleichsam der Vorgeschmack des Paradieses und der himmlischen Freuden noch deutlicher in den Vordergrund tritt. Seine Übertragung setzt daher eindrucksvoll mit einem erlesenen Detail ein, nämlich mit der kunstvollen Periphrase, die den Sonnenaufgang unter Hinweis auf die Göttin Venus und den ihr entsprechenden Planeten umschreibt. In diesem Moment wacht der inzwischen eingeschlafene Dante auf. Erst danach beginnt die Erzählung seines Traumes von Lea und Rahel, die traditionsgemäß jeweils als Allegorien der vita activa und der vita contemplativa und mithin, in diesem Zusammenhang, als Präfigurationen von Mathelda und Beatrice gelten können. In diesem Traum lassen sich typische Motive der Lyrik des stil nuovo erkennen: Lea erscheint als eine „schöne[] und junge[] frau“5, die auf einer Wiese Blumen pflückt und aus ihnen einen Kranz bindet, um sich zu schmücken. George findet hier also Motive, die in seiner eigenen Dichtung präsent und ihm von daher vertraut sind. Daraufhin kommt ein anderer stilnovistischer Topos – die „schönen augen“ – in diesem Abschnitt gleich zweimal vor, wobei auch er in Zusammenhang mit der bedeutsamen Augen-Metaphorik in Georges Lyrik gebracht werden kann. Es folgt ein realistischer Vergleich, in dem die einfache Freude von Heimkehrenden die Stimmung des Protagonisten beim Eintritt in den Garten Eden widerspiegeln soll. Dantes durchaus menschliche Gefühle der Begeisterung und der Erwartung kontrastieren allerdings mit dem feierlichen Ton der Abschiedsrede Vergils. In verdichteter Form rekapituliert hier der Meister und Freund Dantes den langen Weg durch die ersten zwei Jenseitsbereiche, den er als eine Reise des Verstandes und gleichzeitig der

    4 In vielerlei Hinsicht handelt es sich dabei um eine selbstständige, vom Rest der Commedia abgehobene Erzähleinheit, wie selbst die Dante-Forschung nachgewiesen hat. Vgl. Marco Santagata: L’io e il mondo. Un’interpretazione di Dante. Bologna 2011, S. 235  f. 5 „giovane e bella“ ist ein Hendiadyoin und eine typisch stilnovistische Wendung.

    688 

     Francesco Rossi

    Kunst betrachtet, und verkündet, für das Schicksal des Reisenden fortan nicht mehr zuständig zu sein. Er werde ihn auf seiner Weiterreise nicht mehr begleiten, denn Dante habe bereits jene geistige Freiheit und Gesundheit gewonnen, die zum letzten Aufstieg nötig sind. Eine solche Freiheit können freilich weder Vernunft noch Kunst gewähren, sondern allein sein „Verlangen“ nach der „Seligen“. Daraufhin lädt Vergil den Dichter in wenigen wohlgeformten Versen zum Verbleib im paradiesischen Garten ein, dessen Schönheiten er aufzählt, und zum Schluss gibt die Investitur Dantes mit den symbolischen Requisiten der „mitra und krone“ dem Gesang ein triumphales Ende. Mit dieser Gebärde vollzieht sich ein Akt der rituellen Verkleidung, durch den der Dichter gleichsam zum König verklärt und darüber hinaus zum Repräsentanten der ganzen Menschheit erhoben wird.6 Zugleich stellt sie aber auch insofern einen Moment der ‚Autorinszenierung‘ dar,7 als sich der Autor Dante mit diesem Ritual selbst als fiktive Person eine höhere Rolle sowohl in poeticis als auch in politicis zuschreibt. Ein weiterer, nicht minder relevanter Grund für Georges frühes Interesse an diesem Abschnitt, dessen Übersetzung bereits vor Mai  1903 als abgeschlossen gilt,8 ist jedoch darin zu suchen, dass Vergil sich gerade hier zu Dante als zu einem „Sohn“ wendet, bevor er ihn mit den Zeichen weltlicher und geistiger Herrschaft versieht. Es sei hier nur flüchtig daran erinnert, wie fundamental das Meister-SchülerVerhältnis für die Definition des pädagogischen Ideals des George-Kreises gewesen ist.9 So ordnet sich das Paar Dante–Vergil in eine kanonische Traditionslinie ein, die bis zum Paar Sokrates–Platon zurückreicht und die mystische Einheit George-Maximin präfiguriert. Auf geradezu exemplarische Weise stellt hier ein solches Verhältnis der „blick des Meisters“ dar, der in Georges Übertragung dem jüngeren Freund liebevoll „entgegenflieg[t]“ und in der Vorlage in noch eindringlicherer Weise in dessen Gesicht hinein versinkt. Ein anderes Beispiel der Verschönerung oder Milderung des Dante’schen Ausdrucks in diesem Ausschnitt bietet Vers 117: Hier ersetzt George den durchaus körperlich zu nehmenden Erkenntnishunger Dantes durch ein abstraktes Gefühl der Sehnsucht. Auf diese Weise geht jedoch etwas von der Wucht des Originals verloren. Allerdings werden solche semantischen Verluste nicht selten durch Bereicherung

    6 Unter Bezugnahme auf diese Passage stellt Kantorowicz die symbolische Krönung Dantes durch Vergil nicht umsonst an den Anfang einer menschenzentrierten Konzeption der Herrschaft. Somit erweist sich seine Interpretationslinie der George’schen in einem wesentlichen Punkt konform. Vgl. Ernst H. Kantorowicz: The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology. Princeton 1957, S. 451–495 („Man-centered Kingship: Dante“), bes. S. 494  f. 7 Zum Terminus vgl. Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Hg. v. Christine Künzel u. Jörg Schönert. Würzburg 2007. 8 Vgl. die von Georg Peter Landmann besorgte Chronologie der Übertragungen in SW X/XI, 158. 9 Einschlägig dazu noch immer Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933. Köln u.  a. 1997.

    Dante-Übertragungen 

     689

    oder Verzierung an anderer Stelle kompensiert, wie es am Anfang der Episode der Fall ist: Der Verlust auf semantischer Ebene  – „gen morgen“ ersetzt „oriente“ und „Venus“ das edlere Epitheton „Citerea“ – wird durch die amplifizierende Hinzufügung der „Krönung“ der Strahlen ‚wiedergutgemacht‘. Andere schöpferische Ergänzungen des Originals finden sich in Vers 96, in dem „fiamma d’amor“ – möglicherweise aus Reimgründen – zu „liebessorgen“ wird, in Vers 103, in dem das Verb „schlinge“ manierierter ist als das entsprechende „farmi“, und in Vers 133, weil „auf deinen wangen“ blumiger klingt als „in fronte“ (das einfach vorne, auf der Stirn bedeutet). Und um den Reim mit „wangen“ hervorzubringen, setzt George in Vers 135 das Adjektiv „fruchtbehangen“ hinzu, das im Original keine Entsprechung findet. Manchmal verkompliziert er sogar das Original. Für das einfache Verb „parea“ (erschien) verwendet der Dichter eine komplexere Konstruktion: „Mir war ich stünd […] vor.“ Selbst wenn seine Version aus dem Italienischen oft wortgetreu ist, übersetzt George nicht selten nach dem Sinn. In Vers 103 gibt er die entsprechende Dante’sche Strophenzeile ziemlich frei wieder, genauso wie die zwei nachfolgenden Verse teilweise vom Sinn der Vorlage abweichen. Überraschenderweise tauchen in diesem Fall die Klangelemente des Ausgangstexts jedoch, wenn auch sinnverschoben, wieder auf („mai non si smaga / dal suo miraglio“ wird zu „mag nur in sich saugen / Die eigne zier“). Wie bereits angesprochen, werden die Verse 116  f. zwar sinn-, aber keineswegs wortgetreu übersetzt. In Vers 116 ist sogar eine leichte Sinnverdrehung festzustellen, denn etwas sorgenvoll zu suchen („cercando va la cura“) bedeutet nicht unbedingt, etwas „mit eifer zu erringen trachte[n]“. Gleiches gilt für die Terzine vom Vers 130 bis 132, wo George die Vorlage ziemlich frei wiedergibt: George substantiviert zunächst die Artangaben („con ingegno e con arte“ vs. „der Dichter und der Weise“) und kreiert anschließend ein Wortpaar („schlucht und steilem gleise“), das als solches im Original nicht vorkommt – wodurch denn auch der gleichlautende Reim zu Vers 130 verlorengeht. So aufgelockert Georges Übersetzungstechnik auf inhaltlicher Ebene auch erscheint, so akkurat wirkt sie in Bezug auf die Metrik. Es ist nämlich erstaunlich, wie konsequent der Übersetzer die metrische Form des Ausgangstexts in seiner Übertragung beibehält. Der Fünfheber endet durchgehend weiblich, und zwar trochäisch mit einsilbiger Senkung. Der Terzinenreim ist im ganzen Abschnitt durchgehalten. Die originelle Verteilung der Hauptakzente im Hendecasyllabus wird im Fünfheber in aller Regel beibehalten.10 Sogar in den markantesten Fällen lässt sich, zumindest teilweise, Georges Treue gegenüber dem Original nachweisen: Vers 127 bietet insofern ein

    10 Von wenigen Ausnahmen abgesehen, darunter die Verse 110, 119 u. 120. Im Originaltext befinden sich sechs Beispiele von Elfsilbern di settima, und zwar mit Hauptakzent auf der vierten und siebten Silbe, nämlich Vers 99, 100, 125, 130, 131 u. 141. Es handelt sich um eine anapästische Grundvariante des Hendekasyllabus, die in der späteren Lyrik (schon bei Petrarca) relativ selten vorkommt, für Dante aber noch durchaus gebräuchlich ist. George lässt sie aber außer Acht.

    690 

     Francesco Rossi

    interessantes, für Georges Dichtung durchaus typisches Beispiel eines Widerspruchs zwischen Prosodie und Metrum, als mehrere Silben eine einzige Senkung besetzen. Bei näherer Betrachtung bietet allerdings bereits Dante an entsprechender Stelle im Original durch die Setzung der Hauptakzente auf die sechste und siebte Silbe den ähnlichen Effekt einer leichten rhythmischen Destabilisierung. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass die Nachbildung des Dante’schen Rhythmus bei George nicht selten im Detail erfolgt. Das vorstehende Textsegment enthält außerdem in seiner ursprünglichen Form elf Enjambements. Bis auf einen in Vers 98 behält George alle Zeilensprünge in seiner Übertragung bei, wobei die Verse 113  f., 122  f. und 125  f. etwas schwächere Formen von versübergreifenden Sätzen aufweisen. Angesichts dieses Befundes ist die Annahme der Tendenz Georges zur völligen Isolierung des Einzelverses dahingehend zu revidieren. Allenfalls lässt sich behaupten, dass die einzelnen Verszeilen in das größere syntaktische Gefüge der Terzine eingebaut sind und auf diese Weise dazu tendieren, selbstständige metrische Einheiten zu bilden.11 Dies gilt aber, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, ebenfalls für die Vorlage. An mehreren Stellen wird ein anderes charakteristisches Merkmal des Übersetzungsstils Georges deutlich erkennbar, nämlich eine bestimmte Neigung zur Parataxe. Die Anfangsterzine besteht im Dante’schen Originaltext aus einer vom Hauptsatz der nächsten Terzine abhängigen Temporalangabe und zwei Relativsätzen. George macht daraus einen Hauptsatz und setzt einen Punkt nach Vers 96. Somit ersetzt er einen längeren Satz durch zwei voneinander abgetrennte Einheiten. Eine Parataktisierung von ursprünglich hypotaktischen Satzstrukturen ist außerdem in Vers 99 festzustellen: Hier verwandelt der Übersetzer die Gerundien in zwei koordinierte Nebensätze, wodurch die Konjunktion „und“ zur Anapher wird, was wiederum typisch für Georges Tendenz zu Reihenbildungen ist.12 Syntaktische Koordination anstelle von Subordination entsteht gleichfalls in Vers 102, und zwar dadurch, dass der Finalsatz „a farmi una ghirlanda“ zu „und mir kränze schlinge“ umgebaut wird. Als weitere Beispiele für Georges parataktischen Übertragungsstil lassen sich die Verse 133 bis 136 anführen, in denen die Relativsätze und Temporalbezüge in schlichte Hauptsätze umgewandelt werden.13 Wie bereits im Hauptkommentar angesprochen, lässt sich gleichwohl sagen: Was George an einer Stelle unterschlägt, nimmt er an anderer Stelle – oder auf anderer Ebene – wieder auf, genauso wie er durch stete schöpferische Kompromisse den richtigen Ausgleich zu finden sucht. So wird etwa in den Versen 109 bis 114 der Dante’sche Satz im Wesentlichen beibehalten, denn der Übersetzer beachtet die syntaktische 11 Vgl. Gerd Michels: Die Dante-Übertragungen Stefan Georges. Studien zur Übersetzungstechnik Stefan Georges. München 1967, S. 76  f., u. außerdem AS 184. 12 Michels betrachtet dies als Folge vom „reihenden Prinzip“, das Georges Lyrik ohnehin eigen ist. Gerd Michels: Die Dante-Übertragungen Stefan Georges (wie Anm. 11), S. 107. 13 Als Beispiel einer parataktischen Transponierung der Vorlage werden diese Verse schon von Michels erwähnt, vgl. ebd., S. 94.

    Dante-Übertragungen 

     691

    Klammerstruktur der Vorlage. Dies geschieht allerdings um den Preis einer leicht anakoluthischen Konstruktion („So jene wanderer am meisten loben“), die es im Original in dieser Form eigentlich nicht gibt. Die gesuchte Härte im Satzgefüge scheint hier aber Dantes Ausgesuchtheit in der klanglichen Gestaltung des Verses („che tanto ai pellegrin surgon più grati“) kompensieren zu wollen. In gleicher Weise deckt sich die klanglich-syntaktische Architektonik der Verse 121 bis 123 in der Übertragung weitgehend mit derjenigen der Vorlage. Dort reiht George zwar die einzelnen Komponenten anders als im Original, da er das Polyptoton („voler sopra voler“) nachstellt. Doch behält er dadurch nicht nur den konsekutiven Bezug und die rhetorisch wirkungsvolle Wiederholung bei („der wunsch den wunsch“), sondern er potenziert gleichzeitig die alliterative Struktur des Satzes („voler sopra voler mi venne / […] al volo […]“; „Der wunsch den wunsch […]  / Ich fühlte wie mein flügel wuchs zum schwunge“). Etwas Ähnliches lässt sich in Bezug auf den Versblock 130 bis 142 feststellen: Hier wird die Anapher des Imperativs „vedi/sieh!“ (Verse 133 und 134) durch jene des Adverbs „hier“ (Verse 130, 136 und 142) ersetzt, was die deiktische Komponente von Vergils Rede insgesamt verstärkt. Hiermit zeigt sich schließlich in aller Deutlichkeit, worauf der Übersetzer hinaus will, nämlich die Wiedergabe der rein musikalischen Dimension des Dante’schen Verses, dessen lautliche Melodie etwa in den Versen 136 bis 138 der deutschen Übertragung beibehalten ist, nur eben anderweitig versetzt: Aus „lieti li occhi belli / […] seder ti puoi e puoi andar tra elli“ wird „entsandten beim beginne. / Ruh hier solange oder wandle weiter!“ Die klangliche Zusammenfügung der Verse wird also im Wesentlichen bewahrt, teilweise sogar mit Bravour übertroffen. So verwandelt sich die Kette von Alliterationen in Vers 141 („e fallo fora non fare a suo senno“) in eine längere Reihe von Stabreimen, die der ganzen Episode einen wirkungsvollen Abschluss geben: Nicht wirst du wort und wink von mir mehr inne. Dein geist ist fest und heil und frei von frone. Nun wäre fehl zu folgen andrem sinne! Hier krön ich dich mit mitra und mit krone!

    Antje Hartje

    Shakespeare-Übertragungen Voraussetzungen der Sonett-Übersetzungen Wohl auf Anregung seines Verlegers Bondi hin1 übersetzte Stefan George im Zeitraum von Februar 1907 bis Ende 19082 die 154 Sonette Shakespeares, die 1609 unter dem Titel Shakespeares Sonnets veröffentlicht worden waren, sowie drei weitere Sonette aus der 1599 erschienenen Sonettsammlung The Passionate Pilgrim, die in Teilen Shakespeare zugeschrieben wird. Bereits im Februar 1909 erschienen 15 der Sonette3 in der Blätter für die Kunst-Auslese der Jahre 1904–1909, und im Herbst desselben Jahres wurden alle 154 Sonette in einer Erstausgabe veröffentlicht (GHb I, 241). Friedrich Gundolf arbeitete zeitgleich ebenfalls an Shakespeare, jedoch wurden seine Sonett-Übersetzungen nicht veröffentlicht (GHb I, 239). Shakespeare gehörte zu den im George-Kreis verehrten Geistesgrößen und wurde von George in einem Gedicht als „Der Nebel-inseln finstrer fürst der geister“ (Vorspiel  XVIII in Der Teppich des Lebens) umschrieben. Ihren zweiten großen Niederschlag neben Gundolfs Dramen-Übersetzung und Georges Sonett-‚Umdichtung‘ fand die Shakespeare-Verehrung in Gundolfs Habilitationsschrift Shakespeare und der deutsche Geist von 1911 und in seinem zweibändigen Shakespeare, sein Wesen und Werk von 1928. Die Shakespeare-Begeisterung ist zwar kein ausschließlich kreisspezifisches Phänomen, wie Raymond C. Ockenden zu bedenken gibt: „George and his circle reflect very clearly the immense enthusiasm for Shakespeare that we can find in early 20th century Germany.“4 Gundolfs Ausführungen machen aber deutlich, dass Shakespeare für den Kreis ganz besonders geeignet war, und zwar aus dem folgenden Grund: Like him [George], Gundolf sees Shakespeare as the apotheosis of the creative artist, and presents him in Nietzschean terms as a hero, a suffering hero; he is the dedicated and single-minded craftsman, as well as being the spokesperson of the intellectual and spiritual values of his nation.

    1 Siehe Ute Oelmann: Shakespeares Sonette. In: GHb  I, 238–254, hier  240; Ralph Farrell: Stefan ­Georges Beziehungen zur englischen Dichtung. Berlin 1937, S. 20; Olga Marx: Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung. Amsterdam 1967 (CP 77), S. 15. 2 Oelmann gibt als Ende der Arbeiten Dezember 1908 an (GHb I, 241), während Ockenden für den Oktober desselben Jahres plädiert (Ray Ockenden: Shakespeare and Stefan George’s Circle. In: Angermion 5 [2012], S. 3–28, hier S. 16). 3 Es handelt sich um die Sonette XVIII, XXIX, XXX, XXXI, XXXII, XXXIII, XXXIV, LII, LIII, LXXIII, LXXIV, LXXV, LXXVI, XCVII, XCVIII. 4 Ray Ockenden: Shakespeare and Stefan George’s Circle (wie Anm. 2), S. 4.

    Shakespeare-Übertragungen 

     693

    It is to such a position in his contemporary Germany that George undoubtedly also aspired; and Gundolf’s book contains many hints at the role that he sees George as playing in his own time.5

    Georges Übersetzungsintentionen Seiner Übersetzung der Sonette Shakespeares stellte George eine Einleitung voran, die in gewohnt bestimmter Manier vorgab, wie die Sonette aufzufassen seien. Besonders kritisiert wurde von George das „völlige[] verhören des seelen-tones“, das er denjenigen anlastete, die sich mit der Frage abmühten, „was spiel und was gefühl sei · wer der blonde jüngling und wer die schwarze dame der lezten abteilung“. Daraus durfte der geneigte Leser schließen, dass George in den folgenden Übersetzungen versuchen würde, den seiner Ansicht nach missachteten ‚Seelenton‘ wieder hörbar zu machen. Des Weiteren deckte George das auf, was er als „gehalt“ der Sonette erkannt zu haben glaubte und was er transportieren wollte: die anbetung vor der schönheit und den glühenden verewigungsdrang. Unsrer tage haben sich menschen und dichter unverhohlen ausgesprochen: im mittelpunkte der sonnettenfolge steht in allen lagen und stufen die leidenschaftliche hingabe des dichters an seinen freund. Dies hat man hinzunehmen auch wo man nicht versteht und es ist gleich töricht mit tadeln wie mit rettungen zu beflecken was einer der grössten Irdischen für gut befand. (SW XII, 5)

    Das Stichwort hier ist die von George so genannte „weltschaffende[] kraft der übergeschlechtlichen Liebe“ (SW XII, 5). Dies sind die beiden Säulen, auf denen George seine Übersetzung aufzubauen gedachte, und anhand von ihnen sollte sie gemessen werden.

    Translationstheorie und Forschungsstand Funktionsorientierte Ansätze der modernen Translationswissenschaft wie die Skopostheorie von Reiß und Vermeer sind der Meinung, „Adäquatheit bei der Übersetzung eines Ausgangstexts (bzw. -elements) bezeichne die Relation zwischen Ziel- und Ausgangstext bei konsequenter Beachtung eines Zwecks (Skopos), den man mit dem Translationsprozeß verfolgt.“6 Als zusätzlich maßgeblich gilt, dass „the skopos of (translational) acting determines the strategy for reaching the intended goal“7.

    5 Ebd., S. 11  f. 6 Zitiert nach Heidemarie Salevsky: Translationswissenschaft. Ein Kompendium. Frankfurt/M. u.  a. 2002, S. 217. 7 Hans Vermeer: A skopos theory of translation. Heidelberg 1996, S. 15.

    694 

     Antje Hartje

    Georges selbstgewählter Zweck seiner Übersetzungen war, den Sonetten wieder eine Stimme zu verleihen und die Idee der ‚übergeschlechtlichen Liebe‘ als Kern der Sonette herauszustellen. Da er diesen Zweck so demonstrativ verfolgte, ist es legitim, die Adäquatheit seiner Übersetzungen von ihm ausgehend einzuschätzen. Dabei müssen die verschiedenen Strategien differenziert werden, die George zur Erfüllung seiner Ideale anwendete; außerdem ihre konkrete Umsetzung in den Texten. Die Sekundärliteratur zu Georges Übersetzungen der Shakespeare’schen Sonette neigt im Allgemeinen nicht dazu, sich einen translationswissenschaftlichen Ansatz zunutze zu machen. Olga Marx’ Schrift ist ein Beispiel für eine Arbeit, die sich in einer Fülle von Belegstellen verliert, die aufzeigen sollen, wo George vom Ausgangstext abweicht und ob diese Varianzen als gut oder weniger gelungen zu bewerten seien. Sie nimmt Bezug auf die mit Abstand größte Anzahl von Sonetten; insgesamt bringt sie detaillierte Vergleiche aus 71 verschiedenen Sonetten an, was hilfreich sein kann. Jedoch betrachtet sie nicht eine einzige Übersetzung als Ganzes. Ihr einziger, allerdings nicht wirklich brauchbarer translationswissenschaftlicher Ansatz besteht darin, dass sie der Regel von Charles Sears Baldwin zustimmt, der von Übersetzungen sagt, „sie müssten das enthalten, was der Verfasser des Originals selbst geschrieben haben würde, wenn er sich in der Sprache des Übersetzers ausgedrückt hätte“8. Rainer Lengeler operiert mit dem Begriff der Werkintention, um Aussagen über die Adäquatheit der George’schen Sonett-Übersetzungen treffen zu können. Er fordert, „das Verhältnis von Original und Übersetzung über die Bestimmung der unterschiedlichen Werkintentionen zu ermitteln“9. Er unterstellt George aufgrund seines Bemühens um eine Beibehaltung der englischen männlichen Reime „eine sehr bewußte Intention“10. Im Gegensatz etwa zu Marx, die einzelne Stellen aus unterschiedlichen Sonetten bis ins Kleinste miteinander vergleicht, fordert Lengeler eine Zusammenschau […], die nicht einzelne Wörter oder Teile, sondern größere Zusammenhänge, das Sonett als Ganzes, eventuell auch weitere Sonette, nicht isolierte Werkebenen, sondern ihr Zusammenwirken, unter Umständen auch Ersatzvornahmen auf anderen Werkebenen berücksichtigt.11

    Allerdings beschränkt sich auch Lengeler auf die Behandlung eines ganzen Sonetts (Nr. 5). Es wäre natürlich ein lohnendes und herausforderndes Unterfangen, Georges Sonett-Übersetzungen im Hinblick auf die Frage zu untersuchen, ob und mit welchen Mitteln sie in ihrer Gesamtheit der Shakespeare’schen Sonettfolge gerecht werden, dabei aber den notwendigen Abgleich einzelner Versstellen (und zwar nicht nur für

    8 Olga Marx: Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung (wie Anm. 1), S. 28. 9 Rainer Lengeler: Shakespeares Sonette in deutscher Übersetzung: Stefan George und Paul Celan. Opladen 1989, S. 10. 10 Ebd., S. 13. 11 Ebd., S. 16.

    Shakespeare-Übertragungen 

     695

    einige ausgesuchte Gedichte) nicht zu vergessen. Der Umfang der dabei entstehenden Arbeit wäre sicher beträchtlich, ganz zu schweigen vom Aufwand, der dafür zu erbringen wäre. Ein Plus der Arbeit von Ralph Farrell ist, dass er sich mit Ludwig W. Kahn auseinandersetzt. An dessen Arbeit zu den Übertragungen der Sonette ins Deutsche schätzt er, dass er „in allen Übersetzungen den Einfluß des jeweiligen Zeit- oder Personalstils finden“12 wolle. Farrell gesteht damit, dass er sich Kahn anschließt, den Übersetzern zu, sich nicht sklavisch an den Ausgangstext halten zu müssen, sondern ihren Zieltext individuell gestalten zu dürfen, nicht zuletzt, um dem Sprachwandel Rechnung zu tragen. Allerdings warnt er davor, Übersetzern die Wiedergabe des abstrakten ‚Sinns‘ eines Originaltexts bei sonstiger Freiheit der formalen Ausgestaltung zu gestatten, denn daraus resultiere „Stillosigkeit, nicht Stil“13. George wahrt seiner Ansicht nach die Form bei gleichzeitiger Ausprägung eines eigenen Stils, wodurch seine Übersetzungsweise für Farrell als mustergültig gelten kann. Farrells Ausdrucksweise ist recht drastisch; so redet er wiederholt von Gewalt und Vergewaltigung, die in einem gewissen Maß der Sprache angetan werden müssen;14 auch Shakespeare habe der eng­lischen Sprache Gewalt angetan. Ute Oelmann urteilt über Farrells Ausführungen zu den Sonett-Übertragungen, sie gehörten „bis heute zum Besten, was in knapper Form zu den Shakespeare-Übertragungen [Georges] geschrieben wurde“ (GHb I, 252). Auch sie verweist auf die von Farrell als Notwendigkeit erachtete Einhaltung der Form als „maßgebliche These“ (ebd.). Oelmann ist insofern in ihrem Urteil beizupflichten, als Farrell translationstheoretischen Überlegungen eine zentrale Stellung einräumt. Bei Ulrich K. Goldsmith hebt Oelmann das Vertrautsein mit Georges Werk sowie die perfekte Beherrschung sowohl des Deutschen als auch des Englischen positiv hervor (GHb I, 253). Abgesehen davon, dass dem sicherlich zuzustimmen ist, ist Gold­ smith’ Ansatz doch kritisch zu betrachten, denn er propagiert die „Originaltreue“ als „an indispensable criterion for the success in the art of translation“, woraus er ableitet, Georges Übersetzungsleistung sei derjenigen Paul Celans vorzuziehen.15 Goldsmith’ Motivation ist es, nach ‚patterns‘ und ‚structures‘ in Shakespeares Sonett  2 zu suchen und darzulegen, wie genau George diese übernimmt. Als Leitspruch, zu dessen Verteidigung er gewissermaßen angetreten ist, dient ihm bei diesem Unternehmen jene Aussage der Blätter für die Kunst von 1894 zur Dichtung allgemein:

    12 Ralph Farrell: Stefan Georges Beziehungen zur englischen Dichtung (wie Anm. 1), S. 203. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 202, 204, 210 u. 217. 15 Ulrich K. Goldsmith: Studies in Comparison. Hg. v. Hazel E. Barnes, William M. Calder III u. Hugo ­Schmidt. New York u.  a. 1989 (Utah Studies in Literature and Linguistics 28), S. 42.

    696 

     Antje Hartje

    Den wert der dichtung entscheidet nicht der sinn […]. Der wert einer dichtung ist auch nicht bestimmt durch einen einzelnen wenn auch noch so glücklichen fund in zeile strofe oder grösserem abschnitt. die zusammenstellung das verhältnis der einzelnen teile zu einander die notwendige folge des einen aus dem andern kennzeichnet erst die hohe dichtung. (BfdK II, 4, S. 122)

    Rudolf Stamm bezieht sich auf die Sonette 66 und 116 und vergleicht mehrere deutsche Übersetzungen, darunter auch eine von George (Sonett 66). Er hält nichts von der Originaltreue, sondern sagt, das Ziel müsse sein, „die Eigenart der einzelnen deutschen Texte zu erfassen, vielmehr als aufgrund einer Gewinn- und Verlustrechnung ihre Originalnähe oder -ferne abzuschätzen“16. Er beobachtet Ausdrücke eines „neuen Stilwillen“ sowie der „George und seinem Kreis besonders teure[n] Wertvorstellungen“17, was auch Oelmann in ähnlicher Weise anführt. Jekatherina Lebedewa als ausgewiesene Translationswissenschaftlerin gesteht der Person des Übersetzers einen großen Spielraum zu; so sei es etwa gestattet, den eigenen Stil und die eigene Zeit oder den eigenen Lebenskontext mit einzubringen; jedoch zieht sie eine Grenze zu Übersetzungen, die versuchen, Unklarheiten des Ausgangstextes eindeutig zu machen. Den Drang, unklare Stellen auszubügeln, nimmt sie als eine typisch deutsche Eigenschaft wahr. Dagegen spricht sie sich für den Bau einer „Brücke zwischen den Zeiten“18 aus, also für die behutsame Vermittlungsarbeit des Übersetzers zwischen der Entstehungszeit des Ausgangstextes und seiner eigenen. Ganz im Sinne der modernen Translationswissenschaft überlässt sie dem Übersetzer die eigenmächtige Entscheidung darüber, Details zugunsten der besseren Würdigung anderer Elemente wegzulassen und mahnt an, in einem solchen Fall solle nicht von „Verlusten“, sondern von „Übersetzerentscheidungen“19 gesprochen werden. Da Ute Oelmann für das Handbuch schreibt, spannt sie den Bogen weit und behandelt umfassend und übersichtlich Georges Arbeit an den Shakespeare-Sonetten von den Anfängen (Anregung Bondis, parallele Arbeit Gundolfs an den Dramen) bis zur Stellung der fertigen Übertragungen im Gesamtwerk. Sie bietet außerdem einen Überblick über die Forschungsliteratur zum Thema. Sie kann mit interessanten Details aufwarten; z.  B. scheint sie sich als Einzige gefragt zu haben, wie es überhaupt um die Englischkenntnisse Georges bestellt gewesen sein könnte, und hat zur Klärung dieser Frage Georges Englischnote aus der Binger Realschulzeit ausfindig gemacht.

    16 Rudolf Stamm: „A Cup of Alteration.“ Shakespeare’s Sonett 66 – Deutsch von Stefan George, Karl Kraus und Heinz Helbling. Sonett 116 – Deutsch von Heinz Helbling, Ilse Krämer und Paul Celan – Französisch von Pierre Jean Jouve. In: Meaning and beyond. Ernst Leisi zum 70. Geburtstag. Hg. v. Udo Fries u. Martin Heusser. Tübingen 1989, S. 21–41, hier S. 22. 17 Ebd., S. 25. 18 Jekatherina Lebedewa: Historischer Kontext und Lyrikübersetzung am Beispiel deutscher und russischer Übertragungen von Shakespeares Sonett 66. In: „Vom Altern der Texte“. Bausteine für eine Geschichte des interkulturellen Wissenstransfers. Hg. v. Hartwig Kalverkämper u. Larisa Schippel. Berlin 2012 (Arbeiten zur Theorie und Praxis des Übersetzens und Dolmetschens 45), S. 103–124, hier S. 109  f. 19 Ebd., S. 114.

    Shakespeare-Übertragungen 

     697

    Ihr Augenmerk liegt, ähnlich dem Lengelers, auf der Intentionalität der Übersetzertätigkeit, und sie führt hierzu Aussagen Georges bzw. Äußerungen aus seinem Umfeld, so von Gundolf, an.

    Affinitäten Shakespeare – George Abgesehen davon, dass sich die Übersetzungstätigkeit für George zum damaligen Zeitpunkt anbot und Shakespeare als einer der geistigen Ahnen Georges betrachtet wurde, gibt es eine Reihe von Affinitäten, die Shakespeare im Allgemeinen und seine Sonette im Besonderen zu einer geeigneten Übersetzungsvorlage für George werden ließen. Die Übersetzung von Sonett  18 streift die Bandbreite dieser Affinitäten. Wie bereits erwähnt, stellt George in der Einleitung zu den Sonett-Übertragungen die für ihn unverrückbare Behauptung auf, „im mittelpunkte der sonettenfolge steht in allen lagen und stufen die leidenschaftliche hingabe des dichters an seinen freund“ (SW XII, 5). Aufgrund dessen wird das von Shakespeare in Sonett 18 geschlechtsneutral formulierte ‚Du‘ in einen dezidiert männlichen Charakter umgedeutet: „Dich der du lieblicher und milder bist“, „Wird dies und du der darin lebt bestehn“. Das Sonett spricht von der Vergänglichkeit menschlichen Lebens und menschlicher Schönheit, gegen die als probates Mittel die Verewigung des Individuums im Gedicht zu empfehlen sei. Schoenfeldt merkt hierzu an: „Sonnet 18 […] has proven to be one of the most popular of Shakespeare’s poems, largely because its emphasis on impermanence is as genial as the opening comparison, and becomes a provocation for aspiration rather than despair.“20 Der Leser wird zum Instrument der Verewigungsstrategie: „As we read the lines, we reaffirm their promise of eternal life via aesthetic representation.“21 Die überwiegend männlichen Kadenzen werden von George nicht übernommen. Er entscheidet sich für ein alternierendes System von männlichen und weiblichen Kadenzen. Shakespeare zeigt eine Vorliebe für Anaphern (and–and, nor–nor, so long–so long), die George nur in der Abfolge des-des-des erscheinen lässt. Das final couplet ist aufgrund der Anapher bei Shakespeare wirkungsvoller. George baut am Anfang dieses Sonetts ein Enjambement ein, das nicht sonderlich gelungen ist. Einen Stolperstein beim Lesen bilden die Knospen, denn sie werden in einer komplizierten Genitivkonstruktion dargestellt, und darüber hinaus fehlt das erwartete Reflexivpronomen ‚sich‘: „Des maien teure knospen drehn im schlage / Des sturms […]“. Hoffmann sieht in sprachlichen Auffälligkeiten wie „Anominationen, Wiederholungen, Mehrdeutigkeiten und […] virtuos gedrechselten und verschlüssel20 Michael Schoenfeldt: The Sonnets. In: The Cambridge Companion to Shakespeare’s Poetry. Hg. v. Patrick Cheney. Cambridge 2007, S. 136. 21 Ebd., S. 137.

    698 

     Antje Hartje

    ten Sätzen“22 die Hauptcharakteristika von Shakespeares Dichtung, und das Beispiel der Knospen fällt unter diese Kategorie, sodass hier eine Parallele zwischen Shakespeare und George gesehen werden kann. Interessant ist die Art und Weise der Wiedergabe der Verse 11 und 12. Besonders 12 ist ein wichtiger Vers, es geht ja um die Haltbarmachung der Persönlichkeit des ‚Du‘ im Gedicht. Georges Verse sind hier jedoch eigentlich monumentaler als Shakespeares eigene. Zuzustimmen ist hier dem Aufsatz von Braungart, Oestersandfort, Walter und Andres, in dem es heißt: „Das angesprochene Du bei Shakespeare ‚wächst‘ in und mit der Zeit […]; bei George dagegen ‚ragt‘ er in die Zeit: Er muss nicht erst wachsen, er ist schon da und erscheint groß, unveränderlich, bedeutsam.“23 Leider sorgt die Syntax des letzten Verses bei George nicht für das starke apodiktische Moment, das es bei Shakespeare bekommt. Während Shakespeare eine Parataxe wählt, entscheidet sich George für eine hypotaktische Anordnung. Jedoch stärkt George die Position des ‚Du‘, da es bei ihm bereits im Moment des Sagens im Vers lebt. Vers 14 ist also eine Verlängerung der Tatsache in die Zukunft hinein, dass das ‚Du‘ schon jetzt durch den Vers verewigt ist. Bei Shakespeare dagegen kommt Vers 14 einer Sprachhandlung gleich, weil in dem Moment des vollziehenden Sagens dem ‚Du‘ ewiges Leben verliehen wird. Damit bekommt der letzte Vers bei Shakespeare den Charakter eines durch den Leser immer wieder aufs Neue zu vollziehenden Sakraments. Verewigung des vergänglichen Lebens im Gedicht, das Durchdeklinieren der Beziehung zwischen einem männlichen Ich und einem männlichen ‚Du‘ sowie die Umfunktionierung des Lesers vom bloß passiven Rezipienten zum Akteur in der Handlung, die im Text inkorporiert ist: das sind die Themenbereiche, in denen sich starke Berührungspunkte zwischen Shakespeare und George ergeben.

    Verewigung im Gedicht Die Haltbarmachung ansonsten vergänglichen Lebens mittels eines Textes ist ein Thema, das George auch in seinen eigenen Gedichten beschäftigt. Im ersten und vierten Unterreich-Gedicht aus dem Algabal wird die lebendige Natur noch in eine Kunstwelt überführt und damit verewigt, jedoch gleichzeitig auch der Starre und dem Tod überantwortet. Diese Wendung ins Leblose ist in den Sonetten Shakespeares nicht zu entdecken.

    22 Friedrich Hoffmann: Stefan Georges Übertragung der Shakespeare-Sonette. In: Shakespeare-Jahrbuch 92 (1956), S. 146–156, hier S. 153. 23 Wolfgang Braungart, Christian Oestersandfort, Franziska Walter u. Jan Andres: Platonisierende Eroskonzeption im George-Kreis. In: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Renate Stauf, Annette Simonis u. Jörg Paulus. Berlin u. New York 2008, S. 223–270, hier S. 247.

    Shakespeare-Übertragungen 

     699

    In die Richtung einer lebendigen Verewigung geht jedoch dann etwa Die einen lehren: irdisch da – dort ewig aus dem Stern des Bundes. Hier wird das Kunstwerk als Mittel der Verewigung des Schönen ausgemacht und das lyrische Ich als treibende Kraft hinter all dem, mithin also als Künstler. In den 51  Widmungsgedichten des Bandes Das Neue Reich verewigt George eine Reihe von Personen und spielt gleichzeitig ein Spiel mit dem Leser, denn Widmungsgedichte geben vor, eine Botschaft zu enthalten, die nur vom angegebenen Adressaten vollständig wahrgenommen werden kann, versprechen also eine private Verständigungsebene. Anderen Rezipienten, die keine oder zumindest keine allumfassende Kenntnis von bestimmten Charaktereigenschaften des Adressaten oder Begebenheiten in dessen Leben haben, müssen sich mit dem begnügen, was sie sich erschließen können und sind ansonsten gezwungen, mit der Unklarheit zurechtzukommen. Dies entspricht der später noch zu erörternden Eigenschaft der Sonette, sich an mehrere Leserschichten zu wenden, die jeweils unterschiedliche Arten von Informationen aus dem Text erhalten können. Anders als für Shakespeare ist für George die Reproduktion ‚in the flesh‘ gänzlich uninteressant. Ihm kommt es ausschließlich auf eine Art der geistigen Fortpflanzung an, die durch die Formung neuer Generationen von jungen Männern im Geiste der Dichtung vonstatten gehen soll.24 Shakespeares Sonette spiegeln eine zweigeteilte Ansicht wider. Die in der Shakespeare-Forschung häufig lapidar so genannten ‚procreation sonnets‘ 1 bis 17 raten dem wohlgestalten, jungen, männlichen ‚Du‘ dazu, sich ein Mädchen zur Frau zu nehmen und sie umgehend zu schwängern, um den Fortbestand der eigenen Schönheit in der Nachkommenschaft zu sichern. Dabei greift Shakespeare zu unverblümten Anspielungen auf Geschlechtsverkehr und Masturbation wie in den Gedichten 3 und 4; hier heißt es: „For where is she so fair whose uneared womb / Disdains the tillage of thy husbandry?“ (3:5–6) sowie „For having traffic with thyself alone, / Thou of thyself thy sweet self dost deceive.“ (4:9–10). George bleibt in seiner Übersetzung im Bild der Landwirtschaft: „Wo ist die schöne deren bracher schoss / Vor deines anbaus furchenzug erschrickt?“ Zwei Stellen bedürfen hier noch einer Anmerkung: „uneared“ ist laut Stephen Booth doppeldeutig, denn es kann ‚noch nicht ertragreich oder fruchtbar‘ heißen, aber auch ‚noch nicht bestellt oder bearbeitet‘.25 „Brach“ wird diesen beiden Aspekten gerecht. Bei „husbandry“ ist dies nicht mehr der Fall. Während Shakespeare geschickt mit dem Wort spielt, das sofort an den Ehegatten denken lässt, aber das Wirtschaften allgemein und die Landwirtschaft im Besonderen meint, geht die erste dieser Assoziationen in Georges „anbaus“ so gut wie verloren. Georges „Und selbst dich um dein süsses selbst betrügst“ gibt die mehrfachen alliterativen Repetitionen in Shakespeares Vers auf gelungene Art und Weise wieder.

    24 Siehe die Anfangssequenz von Friedrich Wolters’ Herrschaft und Dienst: „Wie über den familien des blutes und der blutvermischung die familien des geistes und der geistvermischung stehen […].“ (BfdK VIII, S. 133) 25 Shakespeare’s Sonnets. Hg. v. Stephen Booth. New Haven u. London 2000, S. 139.

    700 

     Antje Hartje

    Bereits innerhalb der Reproduktionsreihe scheint jedoch schon die Art der Verewigung auf, die sich im weiteren Verlauf durchsetzen wird, und zwar der Erhalt im Gedichttext. So heißt es im finalen Vers von Sonett 15: „I engraft you new.“ (15:14) Stephen Greenblatt sagt hierzu: the reproductive power in question here is the power of poetry. […] The dream of the child as mirror image, projected into the future, has been shouldered aside by ‚this‘ [Bezug auf Vers 14 in Sonett 18] – this love poem, this exquisite mirror made of language, this far more secure way of preserving perfect beauty intact and carrying it forward to succeeding generations.26

    Während sich Sonett 16 noch skeptisch gegenüber der erhaltenden Macht der Dichtung gibt („my barren rhyme“), wächst ab dann die Zuversicht, dass durch den geschriebenen Text die körperliche Fortpflanzung zumindest zusätzlich abgesichert werden kann, wenn er sie nicht gleich ganz ersetzt: „But were some child of yours alive that time / You should live twice in it and in my rhyme.“ (17:13–14), „So long as men can breathe or eyes can see, / So long lives this, and this gives life to thee.“ (18:13–14), „Yet do thy worst, old time; despite thy wrong, / My love shall in my verse ever live young.“ (19:13–14) Dass solche Formulierungen bevorzugt in den final couplets auftauchen, zeigt die Bedeutung, die der Botschaft zugemessen wird. In Sonett 19, dem das letzte der genannten final couplets entnommen ist, bittet das lyrische Ich die alles vertilgende Zeit zunächst noch darum, die geliebte Person vor den Zeichen des Alterns zu bewahren, triumphiert aber am Ende, denn es ist sich sicher, dass die geliebte Person im Gedicht weiter wird leben können. Hier münzt George den Ausgangstext wieder geschickt für seine Idee von zwischenmännlicher Liebe um. Bei Shakespeare heißt es geschlechtsneutral „O carve not with thy hours my love’s fair brow“ (19:9), woraus George „O schneid nicht in des Liebsten schöne braun“ macht. Nicht ganz zu Unrecht jedoch, wird im Ausgangstext doch hinterher die flehentliche Bitte „Him in thy course untainted do allow“ an die Zeit gerichtet. Diese soll also die Schönheit des Geliebten unversehrt lassen. Sonett  19 ist übrigens eines der Gedichte, dem Ludwig Kahn vorwirft, „dicht, gedrängt und schwer“27 zu sein. Damit liegt er nicht ganz falsch, denn wo Shakespeare die für eine imperativische Äußerung charakteristische Reihenfolge Verb  –

    26 Stephen Greenblatt: Will in the World. How Shakespeare became Shakespeare. London 2004, S. 237  f. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass Greenblatt hier zugunsten seines Arguments Schwierigkeiten mit dem Verb „engraft“ einebnet; Booth sagt in seinem Kommentar mit Bezug auf die Etymologie des Verbs und die Varianten in der Schreibweise: „As a reader comes upon it in the 1609 sequence, this line gives no hint as to which of the speaker’s activities is described by engraft; he can be said to have been doing two things – writing verse and urging the young man to marry. He has previously called no attention to the power of his verse or to himself as writer; he has offered no alternatives to procreation as a way to immortality.“ Shakespeare’s Sonnets (wie Anm. 25), S. 158. 27 Ludwig Kahn: Shakespeares Sonette in Deutschland. Versuch einer literarischen Typologie. Bern u. Leipzig 1935, S. 99.

    Shakespeare-Übertragungen 

     701

    Objekt einhält („And make the earth“, „Pluck the keen teeth“, „And burn the longlived phoenix“, „Make glad and sorry seasons“, „But I forbid thee one most heinous crime“), stellt George das Objekt jeweils an den Versanfang („Den spitzen zahn […] hau“, „Langlebigen phönix brenn“, „Frohe und trübe zeiten lass zurück“, „Nur Ein ganz furchtbar unding lass beiseit“), was das Objekt stark betont und den Lesefluss verlangsamt (SW XII, 25).

    Die ‚übergeschlechtliche Liebe‘ Wie bereits erwähnt, stellte für George die ‚kraft der übergeschlechtlichen Liebe‘ die Hauptidee hinter den Sonetten dar, die laut Ockenden von George als „transcendent emotion come to life“28 vor dem Hintergrund der „verstofflichte[n] und verhirnlichte[n] zeitalter“ (SW XII, 5) definiert wurde, die er so sehr verachtete. Selbstverständlich waren Shakespeares Sonette bestens als Vorlage geeignet, präsentieren sie doch ein „homoerotic desire“, sublimiert in eine „transcendent aesthetic force“29. Schoenfeldt schreibt: „The vagaries of male friendship in all of its forms, from the affably respectful to the erotically ardent, absorb the energies of heterosexual idealization and impassioned intimacy that inhabit most traditional sonnet sequences.“30 Greenblatt gibt zu bedenken, dass der Umgang mit Homosexualität im Elisabethanischen Zeitalter nicht so restriktiv war, wie manch einer heutzutage denken mag: „Elizabethans acknowledged the existence of same-sex desire; indeed, it was in a certain sense easier for them to justify than heterosexual desire. That men were inherently superior to women was widely preached; why then wouldn’t men naturally be drawn to love other men?“31 Da Greenblatt als ein Hauptverfechter des New Historicism gelten kann, sind seine Ausführungen zu Shakespeares Sonetten davon geprägt, möglichst viel von ihrem tatsächlichen lebensweltlichen Kontext  – oder was dafür gehalten werden kann – darzustellen. Dabei wird der Blick auf die unterschiedlichen Abtönungen der höfischen Liebeslyrik, auf die Shakespeares Sonette zurückgehen, etwas verstellt. Wie gleich noch auszuführen sein wird, verhält es sich mit der Sprechersituation in diesen Gedichten etwas diffiziler, als Greenblatt stellenweise weismachen möchte. Gundolf jedoch, der die Shakespeare-Theorie für den Kreis lieferte, war sehr interessiert an denjenigen Stellen in den Sonetten, an denen er ein Hindurchscheinen der Persönlichkeit Shakespeares vermutete. Die Werke Shakespeares waren generell

    28 Ray Ockenden: Shakespeare and Stefan George’s Circle (wie Anm. 2), S. 16. 29 Danielle Clarke: Love, beauty, and sexuality. In: The Cambridge Companion to Shakespeare’s Poetry. Hg. v. Patrick Cheney. Cambridge 2007, S. 181–201, hier S. 197. 30 Michael Schoenfeldt: The Sonnets (wie Anm. 20), S. 128. 31 Stephen Greenblatt: Will in the World (wie Anm. 26), S. 253.

    702 

     Antje Hartje

    für ihn „das unwillkürliche Erscheinen seines Lebens in vielleicht zufällig ergriffenen Stoffen“32. Vor diesem Hintergrund wertete Gundolf die Sonette als „den Niederschlag des einen, zentralen Erlebnisses Shakespeares“33, nämlich der Liebe zu jungen Männern. Darum erschienen die Sonette so geeignet als Übersetzungsvorlage, weil auch bei George ein solches zentrales Erlebnis im Vordergrund stand: die Entdeckung des Jungen Maximilian Kronberger alias Maximin, seine Anbindung an den Kreis und seine Verehrung als gottgleiche Gestalt nach seinem frühen Tod.34 Sonett 116 muss ein wichtiges Gedicht für George gewesen sein, denn es schlägt die Brücke zwischen dem „erotic dance“35 zwischen zwei Männern und der für George so wichtigen nicht-körperlichen Verbindung mit Erziehungsauftrag, also einer im alten und neuen Sinn platonischen Beziehung. Greenblatt bezeichnet die ersten beiden Verse als Shakespeares „most ­celebrated words about love“36. Sie lauten: „Let me not to the marriage of true minds / Admit impediments. […]“ George übersetzt „marriage“ mit der kreistypischen Vokabel „bund“, wobei er seine bevorzugte Leserschaft in und um seinen Dichterkreis im Sinn hat.37 Dieses Detail zeigt, wie George den Ausgangstext auf eine von ihm festgelegte Idee hin umfunktioniert. Die Thematisierung der Vereinigung gleichgesinnter Geister liegt ganz auf Georges Linie. Die Verse erinnern an das Gedicht Nietzsche aus dem Siebenten Ring, in dem die Losung ausgegeben wird: „Sich bannen in den kreis den liebe schliesst ..“ (SW VI/VII, 13). Braungart, Oestersandfort, Walter und Andres bringen diese in Verbindung mit dem sozialen Gefüge des Kreises, das geprägt ist durch „das Ästhetische, das Religiöse und das Erotische, das sich auch als ein ausgeprägtes pädagogisches und gewiss auch homosexuelles Interesse darstellte“38. In diesem Sinn stellen beide, der Ausgangstext wie auch der Zieltext, die Verbindung zwischen Gleichgesinnten in den Vordergrund, schaffen aber darüber hinaus eine zweite Verständigungsebene zwischen Text und Leser, die sich auf die Homosexualität bezieht. Diese Ebene wird bereits mit den soeben zitierten ersten Versen eröffnet und in den folgenden Zeilen fortgesetzt: „Love is not love / Which alters when it alteration finds, / Or bends with the remover to remove.“ Bei George heißt es: „Liebe ist nicht mehr liebe / Die eine ändrung säh als ändrungs-grund / Und mit dem schieben-

    32 Zitiert nach Eudo C. Mason: Gundolf und Shakespeare. In: Shakespeare-Jahrbuch 98 (1962), S. 110– 177, hier S. 122. Masons hauptsächliche Kritik richtet sich gegen dieses Unterfangen Gundolfs, Shakespeares Biografie aus seinen Werken destillieren zu wollen. 33 Ebd., S. 125. 34 Franziska Walters Aufsatz (Franziska Walter: Um Maximin. In: GJb 11 (2016/2017), S. 35–57) führt diesen Punkt aus. 35 Stephen Greenblatt: Will in the World (wie Anm. 26), S. 250. 36 Ebd., S. 255. 37 Zu weiteren Vokabeln dieser Art siehe GHb I, 247, und Rudolf Stamm: „A Cup of Alteration“ (wie Anm. 16), S. 25. 38 Wolfgang Braungart u.  a.: Platonisierende Eroskonzeption im George-Kreis (wie Anm. 23), S. 224.

    Shakespeare-Übertragungen 

     703

    den willfährig schiebe.“ Gemeint ist, dass die echte Liebe sich nicht um Konventionen und die vermeintlich ursprüngliche Liebeskonstellation Mann–Frau schert, sondern Abänderungen dieser Schemata verkraftet. So wichtig diese Zeilen innerhalb des Textes sind, so seltsam mutet ihre Übersetzung an. „Schiebe“ scheint „remove“ einzuengen. ‚Schieben‘ ist nicht unter den Bedeutungen des Verbs „remove“ zu finden; es erweckt stattdessen die Vorstellung, dass etwas ganz konkret von einem Platz zum anderen geschoben wird, geht also der abstrakten Idee von Unverrückbarkeit verlustig. „Turm“ für „mark“ hingegen ist sicherlich Georges Vorliebe für das Turmsymbol geschuldet, das in einer nicht geringen Anzahl seiner Gedichte bevorzugt für etwas Heiliges, nicht für jedermann Zugängliches steht. „Unberennbar“ ist ein Neologismus und nicht so aussagekräftig wie „never shaken“, denn George meint damit, der Turm könne nicht eingenommen werden, die Bedrängnis kommt also hier in Form von Menschen, die den Turm angreifen. Das passt wiederum zur Verwendung des Turmsymbols in seinen anderen Gedichten. Der Originaltext scheint von Standfestigkeit im Angesicht eines Erdbebens zu sprechen, und dies ist sicherlich das stärkere Bild. Shakespeares Gedicht endet mit den Worten: „If this be error and upon me proved, / I never writ, nor no man ever loved.“ Aus einem unerfindlichen Grund sieht George ausgerechnet an dieser Stelle – wo er es doch mit Fug und Recht dürfte – davon ab, „man“ mit ‚Mann‘ zu übersetzen; stattdessen lautet sein Satz „Hat nie ein mensch geliebt“. Eventuell war ihm die Beschränkung auf nur ein Geschlecht dann doch etwas zu heikel.

    Leserbezug Shakespeares Umgang mit dem impliziten Leser seiner Sonette dürfte George ebenfalls zum englischen Autor hingezogen haben, allerdings nur innerhalb des von ihm selbst gesteckten engen Rahmens. Wie die Widmungsgedichte des Neuen Reichs bereits gezeigt haben, faszinierte George die Idee, bestimmte Adressaten durch einen Gedichttext an gemeinsam Erlebtes oder bestimmte Begebenheiten zu erinnern, ohne dass ein Außenstehender davon allzu viel begreifen konnte. Diese Form der Einstufung der Leserschaft nach unterschiedlichen Graden der Informiertheit und der Einsicht in bestimmte Zusammenhänge ist nicht nur dem Shakespeare’schen Sonett inhärent, sondern ein Charakteristikum dieser Gedichtform generell. Zu Shakespeares Lebzeiten (ca. 1564–1616) konnte das Sonett bei weitem nicht mehr als der letzte Schrei in der englischen Dichtung gelten. Seine Blütezeit erlebte es am Hof von Henry  VIII. (1491–1547), wo die Dichterfreunde Sir Thomas Wyatt (1503–1542) und Henry Howard, der Earl of Surrey (1516/1517–1547), unter Bezugnahme auf die petrarkistische Tradition das Sonett einführten und zur sogenannten engli-

    704 

     Antje Hartje

    schen Sonettform weiter entwickelten. Diese besteht aus drei Quartetten und einem abschließenden Reimpaar, dem final couplet. Das Sonett kann in dieser Zeit im Kontext der höfischen Liebeslyrik verortet werden. John Stevens unterscheidet in seiner umfassenden Studie Music & Poetry in the Early Tudor Court drei Arten höfischer Liebeslyrik: erstens eine Dichtung, in der das liebende lyrische Ich über seine tatsächliche Liebe schreibt, also mehr oder weniger ungeachtet der Form seine wahren Gefühle zum Ausdruck bringt, als zweites Texte, in denen sich der tatsächlich Liebende als Dichter stilisiert und damit einen künstlerischen Beitrag zum höfischen Kulturleben leistet, und drittens Gedichte, in denen ein Dichter sich als Liebender ausgibt, um am Hof zu gefallen.39 Wie Stevens darlegt, sind besonders zwischen der zweiten und der dritten Kategorie die Grenzen fließend.40 Mit Bezug auf Shakespeare bemüht sich Stevens um einen Ausgleich zwischen einer betont biografischen Lesart à la Gundolf und einer rein textimmanenten: Is not this emphasis on ‚life‘, on biographical truth, simply the old nineteenth-century critical fallacy rearing its buried head? The biographers have in this way made nonsense of Elizabethan sonnets, particularly Shakespeare’s. This is admitted. Nevertheless, when by way of reaction we are encouraged to read everything as ‚poetry‘, we are in danger of missing some significant points which the older, biographical approach was likely to reveal.41

    Aus dem Spannungsfeld zwischen biografischem Gehalt und konventionalisierter Form erwächst das Problem der unterschiedlichen Leserkreise, die die Liebeslyrik konsumierten. Wie Hühn darlegt, waren etwa Wyatts Gedichte erst einige Zeit als Abschriften am Hof und in dessen Dunstkreis in Umlauf, bevor sie nach seinem Tod in Anthologien der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wurden.42 Auf diese Weise vergrößerte sich die Leserschaft stetig, und wenn überhaupt, wusste nur ein intimer Kreis um den Dichter, von welchen Liebesdingen in den Texten die Rede war. Dies war Teil des Spiels: „The challenge of the game was to sound as intimate, self-revealing, and emotionally vulnerable as possible, without actually disclosing anything compromising to anyone outside the innermost circle.“43 Einen solchen ‚innermost circle‘ gab es auch bei George, und wohl auch deswegen lagen ihm die Shakespeare’schen Sonette so sehr. Ein Grundzug der Dichtung Georges besteht darin, nicht allen Lesern, die sich seine Texte zur Lektüre erwählten, auch alle im Text enthaltenen Wahrnehmungsebenen zu erschließen. Viele der Gedichte schotten sich gewissermaßen gegen die unwissende breite Masse ab, um ihren vollen Gehalt lediglich ein paar wenigen Aus-

    39 John Stevens: Music & Poetry in the Early Tudor Court. Cambridge u.  a. 1979, S. 206. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 205. 42 Peter Hühn: Geschichte der englischen Lyrik I. Tübingen u. Basel 1995, S. 29. 43 Stephen Greenblatt: Will in the World (wie Anm. 26), S. 234.

    Shakespeare-Übertragungen 

     705

    erwählten preiszugeben, falls überhaupt. Die Beispiele hierfür sind zahlreich;44 es sei an dieser Stelle auf das Gedicht Der Teppich aus dem Teppich des Lebens verwiesen, das genau diese Undurchdringlichkeit der Gedichttextur mittels seiner eigenen Struktur darstellt und zum Schluss die Leser narrt, wenn es ihnen „die lösung […] über die ihr sannet“ (SW V, 36) verspricht, sie dann aber nicht preisgibt – jedenfalls nicht so, dass sie von jedermann durchschaut werden kann. Georges Lyrik impliziert verschiedene Leserschichten, die nach ihrem Vermögen abgestuft sind, Einsicht in den verborgenen Gehalt seiner Dichtung zu erhalten; für diejenigen, die nicht mit seiner Auffassung vom richtigen Leben und Dichten vertraut sind, bleibt nur die kunstvoll geformte Text­oberfläche45 zum ästhetischen Genuss.

    Klingt der ‚Seelenton‘ weiter? George war offensichtlich davon angetan, dass Shakespeare mittels des Sonetts auf eine ähnliche Technik zurückgriff wie er selbst, um mehrere Sinnschichten innerhalb eines einzigen Texts zu transportieren. Jedoch steht zu vermuten, dass seine Auffassung, welcher Natur der verborgene Gehalt sein sollte, teilweise erheblich von derjenigen Shakespeares abwich. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Sonette 135 und 136, in denen Shakespeare, ohne an der schönen Textoberfläche zu kratzen, sexuelle Situationen einfängt. Der ‚Seelenton‘ dieser Gedichte, wenn man ihn so nennen kann, ist ziemlich derb, und in diesem Fall folgt die Übersetzung nicht der Maxime, den Ton so wiederzugeben, wie er im Original klingt. In diesem Fall ist George besonders zieltextorientiert. Die beiden Sonette eint vor allem eines: ein doppelbödiges Spiel mit dem Leser, wobei die englische Vorliebe für (mitunter sehr deftige) Wortspiele (engl. ‚puns‘) voll zum Tragen kommt. Dabei kommen sie vordergründig ganz harmlos daher. Sie scheinen zunächst mit Shakespeares Vornamen, Will(iam), zu spielen („thou hast thy will“ [135.1] und „I was thy will“ [136.2]). Ist der Leser dieser Anspielung auf die Schliche gekommen, könnte das Mitdenken des Autors jedes Mal dann, wenn ‚will‘ auftaucht, munter weitergehen. Dem einen oder anderen mag noch einfallen, dass mit ‚will‘ ja durchaus auch der Wille gemeint sein könnte, was sich etwa in Sonett 135 in den ersten vier Versen ganz plausibel macht. Jedoch scheint dieser Ersatz ab dem Folge­vers merkwürdig zu werden. Ein William Shakespeare oder ein Wille, der „large and spacious“ ist, der in einen anderen hineinpasst? Jetzt ist der Moment gekommen, da beim Leser entweder der Groschen fällt – oder auch nicht. Fällt er, so kann

    44 Vgl. ausführlich hierzu Antje Hartje: Von der Wahrnehmungserschwerung zur Wahrnehmungsverhinderung – Hermetisierungsstrategien bei Stefan George und William Butler Yeats. Heidelberg 2012. 45 Moritz Baßler prägt hierfür den Begriff der „Oberflächen-Ästhetik“ (in: Moritz Baßler, Christoph Brecht u. Dirk Niefanger: Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996, S. 176).

    706 

     Antje Hartje

    diese Schlussfolgerung gezogen werden: „Will can designate the poet, his penis, his lust, his beloved, his beloved’s lust, and his beloved’s genitalia.“46 Die etwas seltsam anmutenden beiden Einleitungsverse, in denen von einer Art dreifaltigem ‚will‘ die Rede ist, erscheinen wie die Aufschlüsselung der einzelnen Bedeutungsschichten. Abhängig von der sprachlichen Versiertheit des Lesers und seinem persönlichen Vorstellungs- und Erfahrungshorizont erschließen sich die etwas derberen Bedeutungsschichten dem einen, während ein anderer vielleicht beim Lesen auf der Oberfläche des Textes dahingleitet, ohne die Abgründe zu ahnen, über die er sich bewegt. Diese „proliferation of meaning in puns“47 in einer Übersetzung aufrechtzuerhalten, ist ein heikles Unterfangen. Marx sagt hierzu: „Die Übersetzung dieser Sonnette [sic!] bietet so grosse Schwierigkeiten, dass sie […] von verschiedenen Übersetzern überhaupt ausgelassen worden sind. Es ist interessant, Georges Umdichtung dieser Sonette unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten.“48 Aus völlig unverständlichen Gründen schwenkt Marx direkt nach diesem Satz auf einen anderen Aspekt um, ausgerechnet an der Stelle, an der es wirklich interessant hätte werden können. Dies soll nun nachgeholt werden. Denn eines steht fest: Den anzüglichen Ton der Gedichte einzufangen, glückt George nur bedingt. In Sonett 135 sind die beiden Eingangsverse passabel, jedoch ist in den beiden darauf folgenden Zeilen nichts zu spüren von dem Drängenden, Fordernden, fast Aufdringlichen der entsprechenden Verse bei Shakespeare. „Bei deinem süssen willen auch zu sein“ scheint nicht die Vermehrung oder Intensivierung des ‚will‘ auszudrücken, wie es „To thy sweet will making addition thus“ tut. Wenn man bedenkt, an welche Art von Aktivität der Leser denken kann oder soll, wenn er das Sonett liest, ist Georges „ruhn“ für „hide“ ein wenig zu ruhig, sodass ein kontemplatives Moment entsteht, das sich schwerlich mit den hier präsentierten Anzüglichkeiten verträgt. Maßgeblich ist in dieser divergierenden Ausrichtung von Ausgangstext und Übersetzung das verräterische Wort „large“, das im Englischen eher dafür verwendet wird, eine beträchtliche räumliche Ausdehnung zu beschreiben, in diesem Fall die Größe des weiblichen Geschlechtsteils. Ginge es um den Willen, dürfte man eher eine Attributierung wie ‚strong will‘ erwarten. George aber übersetzt ‚large‘ mit ‚gross‘. Dieses Wort aber hält kein Hintertürchen offen, durch das der Leser in den eigentlichen Bedeutungsraum gelangen kann. In Sonett 136 tritt ebenfalls ein solcher Fall auf, wo Georges Text, da es „ich sei dein Wille“ heißt, den Vers eindeutig auf den Willen festlegt, wo Shakespeares Original einer solchen Festlegung entgegenwirkt. Woraus die bei George vorhandene Tendenz zu größerer Vereindeutigung, wo Mehrdeutigkeit das Original beherrscht, resultiert, ist nicht mit Sicherheit zu sagen.

    46 Michael Schoenfeldt: The Sonnets (wie Anm. 20), S. 130. 47 Ebd. 48 Olga Marx: Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung (wie Anm. 1), S. 27.

    Shakespeare-Übertragungen 

     707

    Klar ist nur, dass die von ihm vorgenommene Verknappung der Dimensionen zu keinem sonderlich zufriedenstellenden Ergebnis führt, was noch einmal deutlich wird, wenn Lebedewa die Kriterien für eine gelungene Übersetzungsleistung anführt: Verständnis für Deutung, Andeutung und Vieldeutigkeit, für die historischen Kontexte von Original und Übersetzung, für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten historischer Epochen, sind Grundbedingungen, um den ‚Geist des Originals‘, der stets auch vom ‚Zeitgeist‘ geprägt ist, als Übersetzer innerhalb anderer historischer Kontexte zu vermitteln.49

    Es ist denkbar, dass die Mehrschichtigkeit, die sich nur an einem einzigen Wort aufhängt, mit den Mitteln der deutschen Sprache nicht in dem Maße wiederzugeben war oder ist. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass George absichtlich abmilderte und von der prononcierten Körperlichkeit ablenken wollte. Diesen Verdacht hegt Oelmann: „die deutliche sexuelle Symbolik und Metaphorik Shakespeares erscheint in den Übertragungen gedämpft“ (GHb  I, 247). George war aber sexuell aufgeladener Sprache nicht grundsätzlich abgeneigt, was etwa das Gedicht Einverleibung aus dem Siebenten Ring zeigt. Ludwig Lehnen wehrt sich dagegen, George der Prüderie zu bezichtigen: „Übrigens ist die angebliche Prüderie Georges, die man auch an den Übersetzungen bemerkt haben will, eher Vorurteil. Gundolf meinte, erst seine Zeit sei (dank George) nicht nur für Shakespeares ‚Pathos‘ und ‚Heroik‘, sondern auch für seine ‚Erotik‘ reif geworden“50. Durch die Übertragung der Sonette 135 und 136 jedenfalls ist diese Reifung gewiss nicht gefördert worden. Es soll George nicht ein mangelndes Sprachgefühl unterstellt werden, das ein Erkennen der verschiedenen Ebenen vielleicht verhinderte,51 obwohl auch dies theo­ retisch denkbar ist und nie kategorisch ausgeschlossen werden sollte, wenn man mit einer Übersetzungsleistung ehrlich umgehen möchte. Merkwürdig erscheint jedenfalls die Tatsache, dass ein Dichter, der sonst das doppelbödige Spiel mit dem Leser schätzte, diese Gelegenheit weitgehend ausließ, und zwar ausgerechnet bei Gedichttexten, die mehr als manche andere der Sonette auf Ambivalenz abzielen. Daher kann am ehesten davon ausgegangen werden, dass George bei der Übersetzungsarbeit in diesem Fall einen anderen Zweck verfolgte, der anscheinend beinhaltete, die vorherrschende sexuelle Komponente stark einzuschränken.

    49 Jekatherina Lebedewa: Historischer Kontext und Lyrikübersetzung (wie Anm. 18), S. 121. 50 Ludwig Lehnen: George und Celan als Übersetzer Shakespeares. In: Celan-Jahrbuch 9 (2003–2005), S. 273–300, hier S. 283  f. 51 Was Georges Englischkenntnisse anbelangt, so weiß Ute Oelmann zu berichten, dass seine Englischzensur in der Binger Realschule ein ‚gut-genügend‘ gewesen sei. George konnte insgesamt drei Englandaufenthalte vorweisen. Oelmann gibt jedoch zu bedenken: „Wie gut StGs Kenntnisse der englischen Sprache waren, lässt sich nur vermuten.“ Vgl. GHb I, 240.

    708 

     Antje Hartje

    Friedrich Hoffmann geht mit einigen Übersetzungen Georges hart ins Gericht. So konstatiert er, „die Schönheit von Sonett XXVII wurde durch George ganz zerstört“52. Dieses harsche Urteil ist nicht gerechtfertigt. Zwar ist im Couplet von einer „schuld“ die Rede, die dem Gedicht eine Wendung ins Moralische gibt, die Ratlosigkeit aufkommen lässt, weil nichts vorher im deutschen Text auf ein schuldhaftes Verhalten hinweist und der englische Ausgangstext erst recht keinen solchen Kontext andeutet. Doch sonst ergibt Georges Text eine mehr oder minder in sich stimmige Übertragung. Anders verhält es sich mit Sonett 128, von dem Hoffmann schreibt, dessen Übersetzung sei „George nicht besonders geglückt“53. Selbst für den Fall, dass man kein Anhänger der modernen Translationswissenschaft ist – die ja das Primat des Ausgangstexts vor dem Zieltext in Frage stellt54 –, erscheint dieser Eindruck im Hinblick auf bestimmte Einzelheiten gerechtfertigt. Nicht nur ist von dem ursprünglichen Ton in Georges Übersetzung nicht viel übrig geblieben, sie ist auch in sich nicht homogen, d.  h. sie weist Brüche auf, die den Gesamteindruck stören. In den ersten drei Versen dominieren weiche Nasale wie in „klang“, „klänge“ und „regung“, und Wörter, die Zartheit vermitteln wie „tönt“, „süssen“ und „sanft“. In krassem Gegensatz dazu steht der Folgevers: „Der drähte einhall der mein ohr umdröhnt“. Man könnte nun argumentieren, dass „umdröhnt“ ganz und gar keine semantisch einwandfreie Übertragung von „confounds“ ist; ‚confound‘ bedeutet ‚verblüffen‘ und ‚verwirren‘, sagt also nichts über die unmittelbare klangliche Quali­ tät, sondern vielmehr etwas über die Wirkung der dargebotenen Musik aus.55 Aber selbst wenn diese Tatsache außer Acht gelassen wird, ist die Wortwahl im deutschen Text nicht gelungen, zerstört sie doch das liebreizende Bild, das zu evozieren die erste Strophe sonst bemüht ist. Dröhnen ruft ausschließlich negative Assoziationen an unangenehmen Lärm wach. Das hypallagische56 „Der drähte einhall“ für „The wiry concord“ ist ebenfalls dem Eindruck des Wohlklangs nicht zuträglich. „Drähte“ erinnert eher an elektrische Leitungen als an ein Musikinstrument, das schöne Töne hervorzubringen vermag. Es ist verwunderlich, weshalb George nicht einfach statt der „Drähte“ ‚Saiten‘ verwendete; ein Wort, das aufgrund des gleichlautenden Diphtongs

    52 Friedrich Hoffmann: Stefan Georges Übertragung der Shakespeare-Sonette (wie Anm. 22), S. 155. 53 Ebd., S. 152. 54 Vgl. Xue Siliang: Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzung klassischer chinesischer Lyrik ins Deutsche. Ein Beitrag zur Übersetzungswissenschaft und zur Übersetzungskritik. Heidelberg 1991 (TextconText Beiheft 4), S. 11. 55 Vgl. Ralph Farrell: Stefan Georges Beziehungen zur englischen Dichtung (wie Anm. 1), S. 205. Er sagt, „das häufig wiederkehrende Verbum ‚confound‘ findet bei George keine genügende kraftstrotzende Entsprechung.“ 56 Goldsmith hegt mit Blick auf Sonett II Zweifel daran, ob George Hypallagen bewusst einsetzte bzw. ihrer Umkehrung zuführte oder nicht. Vgl. Ulrich K. Goldsmith: Studies in Comparison (wie Anm. 15), S. 39.

    Shakespeare-Übertragungen 

     709

    in ‚einhall‘ keine ganz schlechte Wahl gewesen wäre. Eine ähnliche Stelle zeigt sich, wenn George den Plural „thy fingers“ mit einem Singular übersetzt. Hoffmann bemängelt dies: „Hier wirkt der Singular statt des englischen Plurals besonders störend, ja geradezu grotesk.“57 Was das Musikinstrument anbelangt, spricht Stephen Booth hier von einem sogenannten ‚virginal‘, einem Tafelklavier also. Obwohl das Musikinstrument bei Shakespeare nur spärlich beschrieben wird, hat George offenbar eine Quelle vorgelegen, die ihm Aufschluss über den Charakter des Instruments gab. So übersetzt er nämlich „those jacks that nimble leap / To kiss the tender inward of thy hand“ mit „diese tasten die mit eil / Das zarte innre küssen deiner hand“. Auch weitere Verse der Übertragung Georges stellen ein Hindernis beim Lesen dar, dessen Überwindung bzw. Auflösung ohne den Ausgangstext schwierig ist. „Gestreift“ könnte auf den ersten Blick als ‚mit Streifen versehen‘ verwechselt werden, und „formung und befund“ sind schwammige Begriffe. Besonders ‚befund‘ lässt den heutigen Leser eher an eine ärztliche Diagnose denken. Die beiden Verse werden auch von Kahn kritisiert, der findet, „die rhetorischen, klangvollen, lebenstrotzenden Worte Shakespeares werden zu herausgearbeiteten Ziselierungen und zu saftarmen überzüchteten Wortblumen“58. Bei Shakespeare stellt sich dieses Problem nicht: „state / And situation“ lassen keinen Zweifel daran zu, dass das lyrische Ich gern die Stelle der Tasten einnähme, die Kontakt zu den Händen der geliebten Person haben. „State“ und „situation“ werden als etwas Wünschenswertes dargestellt, was bei George nicht anklingt: „nähm er in kauf“ ist im Sinne eines halbherzigen Sich-Fügens in einen Zustand zu verstehen, nicht als eine freudige Einwilligung. Diese Behinderung in der dritten Strophe ist insofern erstaunlich, als Shakespeares Zeit der heutigen Rezeptionssituation ein gutes Stück ferner liegt als diejenige Georges. Der bemängelten Strophe kann jedoch abschließend noch etwas Positives abgewonnen werden. George gelingt es nämlich, die unreine Konsonanz („dead wood“) und die Alliteration („living lips“) wiederzugeben durch eine Assonanz („Tot holz“) und die unreine Konsonanz in „lebendigen mund“. Auch im couplet kann George mit einem klanglich stimmigen – wenn auch nicht so allumfassenden wie bei Shakespeare – Rahmen aufwarten, wenn er den Bogen schlägt von „Gib ihm den finger“ zu „mund zum kuss“. Zum Schluss soll doch ein Gedicht angesprochen werden, bei dessen Übersetzung es George gelingt, den ‚Seelenton‘ einzufangen. Es ist – und dies ist sicherlich keine Überraschung – das bekannte und vielbesprochene 66. Sonett (SW XII, 72), eines der

    57 Friedrich Hoffmann: Stefan Georges Übertragung der Shakespeare-Sonette (wie Anm. 22), S. 152. Er behauptet, in diesem Punkt Farrells Kritik zu bestätigen; in dessen Kapitel über Georges Übersetzungen von Shakespeares Sonetten findet sich aber nichts dergleichen, und leider macht Hoffmann keinerlei Angaben zum genauen Fundort. 58 Ludwig Kahn: Shakespeares Sonette in Deutschland (wie Anm. 27), S. 91.

    710 

     Antje Hartje

    kompaktesten und aussagekräftigsten bei Shakespeare. Lebedewa fasst den Kern des Textes zusammen, der George mit Sicherheit zu diesem hinzog: „Das Sonett 66 verbindet in kongenialer Weise zwei ewig aktuelle, niemals alternde Themen – den miserablen Zustand der Gesellschaft und die individuelle Liebe, die den Menschen trotz des beklagten Zustandes der Welt auf dieser hält.“59 Die verachtete moderne Welt, in und mit der George und seine Mitstreiter leben mussten, einerseits und der ‚kreis den liebe schliesst‘ als Schutzwall gegen die Anfechtungen der Welt andererseits stellen die beiden Extreme dar, innerhalb derer sich auch das Sonett 66 bewegt. Eine besondere Schwierigkeit stellt die Kompaktheit des Sonetts dar. Jeder Vers ist eine Einheit für sich, dennoch bilden alle Verse zusammen einen einzigen langen Satz, der erst vor dem final couplet zu Ende geht. Die Struktur eines jeden Verses (mit Ausnahme des ersten und in geringfügigem Maß des zweiten) folgt dem Schema anaphorische Einleitung  – Subjekt  – adverbiale Bestimmung  – passivisches Attribut. Diese Reihenfolge ahmt George nach und schafft es zusätzlich, das Kreuzreimschema ohne eine einzige Abweichung zu übernehmen.60 In dem Wort „verschworn“ für „forsworn“ zeigt sich besonders, wie er die klangliche Ähnlichkeit der beiden Wörter nutzt, um einen eleganten Reim zu erhalten, obwohl er dabei die Bedeutung des Verbs ‚forswear‘, nämlich ‚etwas abschwören‘, ummünzt. „Unheilvoll verschworn“ zählt für Stamm zu denjenigen Ausdrücken, die „dem neuen Stilwillen“61 geschuldet sind. Die Metonymien werden beibehalten und zur Verdeutlichung großgeschrieben. Damit zollt George ihrer besonderen Stellung Tribut, wie Stephen Booth betont: „qualities […] act as indefinite collective nouns meaning ‚those who are faithful‘, etc.“62. Stamm bezeichnet „Dies alles müd“, „missverwandt“, „missnannt“, „roh geschwächt“ und „abgeflächt“ als „die unidiomatischen und die ausgesprochen gekünstelten Wendungen“63. Selbstverständlich entstammen diese Beispiele nicht dem alltäglichen Sprachgebrauch. Vor dem Hintergrund der bereits im Ausgangstext

    59 Jekatherina Lebedewa: Historischer Kontext und Lyrik-Übersetzung (wie Anm. 18), S. 104. 60 George versucht, das vorgegebene Reimschema in seinen Übersetzungen einzuhalten, wo es nur geht. Dies ist umso bemerkenswerter aufgrund der Tatsache, dass die englische Sprache im Vergleich zum Deutschen mit einer viel größeren Anzahl männlicher Reime arbeitet. Zu diesem Sachverhalt siehe Rainer Lengeler: Shakespeares Sonette in deutscher Übersetzung (wie Anm. 9), S. 13, GHb I, 246  f.; Friedrich Hoffmann: Stefan Georges Übertragung der Shakespeare-Sonette (wie Anm. 22), S. 149, und Ludwig Kahn: Shakespeares Sonette in Deutschland (wie Anm. 27), S. 90. Dass Walter Wenghöfer bei seiner Shakespeare-Übersetzung mit demselben Reimproblem zu kämpfen hatte und davon Gundolf berichtete, zeigt Jürgen Egyptien: Die Apotheose der heroischen Schöpferkraft. Shakespeare im GeorgeKreis. In: Wissenschaftler im George-Kreis. Hg. v. Bernhard Böschenstein u.  a. Berlin u.  a. 2005, S. 159– 185, hier S. 165. 61 Rudolf Stamm: „A Cup of Alteration“ (wie Anm. 16), S. 25. Des Weiteren zählt er dazu „bettelmann“ und „in Herrlichkeit gefasst“. 62 Shakespeare’s Sonnets (wie Anm. 25), S. 248. 63 Rudolf Stamm: „A Cup of Alteration“ (wie Anm. 16), S. 25.

    Shakespeare-Übertragungen 

     711

    vorhandenen dichten Struktur erscheinen sie sogar als beachtliche Leistung. Kritik könnte man eher daran üben, dass „Kunst schwer-zungig“ nicht die Radikalität von „art made tongue-tied“ wiedergibt, denn mit schwerer Zunge kann man noch sprechen, ‚tongue-tied‘ bedeutet aber ‚sprachlos‘. Die Kunst ist bei Shakespeare also völlig verstummt. Folglich wird die wichtige „truth“ weggelassen; die Frage ist hier, ob „Einfachheit“ genügt, um den Wahrheitsgedanken wiederzugeben. Vers  6 präsentiert bei Shakespeare „strumpeted“, das so viel wie ‚zur Dirne gemacht‘ bedeutet; bei George ist die „jungfräuliche Tugend“ nur „roh geschwächt“. Die sexuelle Komponente geht dadurch verloren. Gelungen wiederum und vielleicht sogar eindeutiger als das Entsprechende bei Shakespeare ist die Wendung „sklave Gut in dienst beim herren Schlecht“, vor allem wegen der wohlgesetzten Großschreibung, die George in diesem Gedicht entgegen seiner sonstigen Gewohnheit gezielt einsetzt, um auf das Ungleichgewicht zwischen Tugenden und gegnerischen Kräften hinzuweisen, z.  B. in „Verdienst als bettelmann geborn“, „Nichts in herrlichkeit gefasst“, „Kraft durch lahme lenkung abgeflächt“, „Kunst schwer-zungig vor der obrigkeit“, „Geist vorm doktor Narrheit ohne recht“. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass George sich bei diesem Gedicht die Festlegung auf ein Geschlecht verkneift und Shakespeare („I leave my love alone“) folgt, wenn er schreibt: „Liess ich nicht · sterbend · meine lieb allein.“

    Ludwig Lehnen

    Baudelaire-Übertragungen Das Gewicht, das Stefan George dem Übersetzen beimaß, ist allgemein bekannt. Neben den Dante- und Shakespeare-Übertragungen kommt den Übersetzungen aus dem Französischen aufgrund von Georges Frankreich-Aufenthalten und deren entscheidendem Einfluss auf die Herausarbeitung seiner eigenen Poetik besondere Bedeutung zu. Im Vordergrund stehen neben den in den Zeitgenössischen Dichtern 1904 und 1905 vereinigten Übertragungen von Gedichten Verlaines, Mallarmés, Rimbauds, Régniers und Verhaerens die im Zeitraum von 1891–1901/1904 entstandenen „Umdichtungen“ der Fleurs du Mal Baudelaires. Hubert Arbogast und Margot Melenk haben gründliche und nach wie vor wertvolle Stilanalysen zu ihnen vorgelegt.1 Auch hier soll ihrer Wichtigkeit halber vor allem von den Baudelaire-Übersetzungen gehandelt werden. Den stilistischen Ergebnissen der genannten Studien sind kaum neue Erkenntnisse hinzuzufügen, jedoch verlangen sie danach, neu in ihren literaturgeschichtlichen Kontext eingeschrieben zu werden.

    Kritik der Rezeptionslage In der Kritik wurde einerseits immer wieder die stilistische Eigenheit der Übersetzung, die Tatsache, dass George Baudelaire in seinen eigenen Stil übersetzt, hervorgehoben sowie andererseits ein besonderes Interesse auf die Auswahlkriterien des deutschen Dichters gelenkt, der 117 von 151 Gedichten der Fleurs übersetzt hat. George selbst gibt in seiner Vorrede zwei Gründe für seine Auswahl an: zunächst, was selten beachtet wird, dass auch er „seine möglichkeiten erschöpft sah“, vor allem aber, dass Baudelaires Wert für Gegenwart und Zukunft nicht in den „abschreckenden und widrigen bilder[n] die den Meister eine zeit lang verlockten“ läge, sondern in dem „eifer mit dem er der dichtung neue gebiete eroberte“ und in der „glühende[n] geistigkeit mit der er auch die sprödesten stoffe durchdrang“. Daher macht er als eigentlichen Antrieb zum Übersetzen nicht die Absicht geltend, so vollständig wie möglich „einen fremdländischen verfasser einzuführen“, sondern die „ursprüngliche […] reine […] freude am formen“ (SW XIII/XIV, 5). Diejenigen, die Baudelaire als nachahmenswertes Vorbild ansähen, werden darüber hinaus in den Blättern für die Kunst daran erinnert, dass ohne ihn zwar ein „verständnis der neuesten französischen literatur undenkbar“ sei, man jedoch nicht vergessen dürfe, dass „dieser dichter zur zeit des zweiten Kaiserreiches gelebt“ habe (BfdK II, 1, S. 25). Man habe sich seit Beginn in den Blättern vor

    1 Vgl. HA u. Margot Melenk: Die Baudelaire-Übersetzungen Stefan Georges. München 1974.

    Baudelaire-Übertragungen 

     713

    einem „sinnlose[n] blosse[n] herübernehmen“ gehütet und nur das gebracht, „was durch die art der übertragung eigenster besitz geworden für unsere sprache unser schrifttum und unser werk im einzelnen natürlich und zuträglich war“ (BfdK III, 5, S. 131). Es scheint so, als könne man Georges Warnung aus der Lobrede auf Hölderlin auch auf Baudelaire anwenden: „Nicht dass sein schmerzhaftes und zerrissenes dasein ein vorbild werde für neue sitte .. denn es gilt höheres.“ (SW XVII, 60) Mit diesen Vorbehalten dem französischen Dichter gegenüber rechtfertigt George sowohl die Übertragung Baudelaires in den eigenen Stil als auch die Ausscheidung der Aspekte, die er den Zeitumständen geschuldet fühlte. Diesen rechnet er vor allem das Provokatorische zu. Gleichzeitig dienen diese Hinweise aber auch einer performativen Rezeptionssteuerung. Es verhält sich nämlich durchaus nicht so, dass die von George betonte Geistigkeit Baudelaires im Gegensatz zum Makabren und Provokanten dem „ganzen jüngeren geschlecht“ Verehrung eingetragen hätte, dies gilt nur für die symbolistische Rezeption in Frankreich (vor allem den Kreis um Mallarmé, dem George selbst angehörte) und die daran anknüpfende eigene in Deutschland, aber nicht für Baudelaires Wirken auf Décadence und Expressionismus. Es ist auch nicht ganz richtig zu behaupten, die „abschreckenden und widrigen“ Bilder hätten Baudelaire nur „eine zeit lang“ verlockt und sie wie eine überwundene Phase seines Schaffens hinzustellen, da sie in Wirklichkeit zu sehr mit dessen Gesamtkonzeption verbunden sind. Diese Charakterisierung trifft ebenfalls eher auf Georges eigene ‚Dekadenz‘-Phase zu, in welcher der begrenzt ‚dekadente‘ Baudelaire-Einfluss mit Algabal überwunden wird und die er in den Vorreden nachträglich zu relativieren scheint. George war in der Tat nur „eine zeit lang“ und mehr dem Anschein nach von den Dekadenz-Motiven verlockt, zwar nicht von „widrigen“ Bildern, doch von der Spleen et Idéal-Thematik und dem ‚ästhetizistischen‘ Amoralismus. Darüber hinaus gehören gerade Baudelaires „abschreckend[e] und widrig[e] bilder“ zu jenen „sprödesten stoffen“, die der französische Dichter für die neue Dichtung eroberte und mit seiner „glühenden geistigkeit“ durchdrang. Insgesamt geht aber aus den Vorreden, der stilistischen Eigenheit der Übertragung und der weltanschaulich begründeten Auswahl der Gedichte die grundsätzliche Fremdheit des deutschen Dichters Baudelaire gegenüber hervor. Auch lässt diese Fremdheit die Aussagen Hubert Arbogasts oder Georg Peter Landmanns, denen zufolge George „von der Welt Baudelaires mächtig angezogen“ (HA  61) wurde und dieser „mehr als Mallarmé“ „Georges Lehrmeister“ gewesen sei (SW XIII/XIV, 164), in Zweifel ziehen.2 Es scheint notwendig, die Frage nach der divergierenden Weltan-

    2 Cornelia Ortlieb meint ebenfalls, wohl von den Orientierungen Thomas Karlaufs inspiriert, die innere Distanz Georges Baudelaire gegenüber in Frage stellen zu müssen und stützt ihre Vermutung dadurch, dass die Übersetzung des Titels A une Passante mit Einer Vorübergehenden mit dem GeorgeHofmannsthal-Verhältnis in Zusammenhang stünde (da Hofmannsthal George „Einen der vorübergeht“ nannte, für Ortlieb eine „wechselseitige Adressierung im Zeichen erotischen Erkennens“) und sogar der „urduft“ in Weihe auf Baudelaires exotische parfums zurückgehe. Dies scheint jedoch die wahren Zusammenhänge zu verkennen, da einerseits Hofmannsthal der Urheber der Formulierung

    714 

     Ludwig Lehnen

    schauung einerseits und den stilistischen Differenzen andererseits anders als bisher zu kontextualisieren. In der Übersetzungskritik herrscht ein Rezeptionsschema vor, das oft vorschnell von bekannten oder vermuteten Differenzen der Weltanschauung ein Erklärungsmodell für stilistische Merkmale der Übersetzung ableitet. Vor allem in der deutschen Kritik dominiert eine spezifische Vorstellung von der ‚Modernität‘ Baudelaires, der oft die vermeintlich parnassische Klassizität Georges entgegengestellt wird. Georges Übersetzungen werden demzufolge gewöhnlich als „Glättungen“, wenn nicht gar wertend als „Rückschritt“ dargestellt.3 Mit der Modernität Baudelaires verbindet die Kritik nicht nur die prosaischen und „widrigen“ Bilder, sondern auch das Motiv des Rebellen und der sozialkritisch motivierten Provokation. Dass die Faszination für das Motiv des ‚Bösen‘, auf der die provokatorische Wirkung zu einem großen Teil beruht, von Baudelaires christlichem Hintergrund herrührt, wird dabei meist übersehen oder bagatellisiert. Richtungweisend dafür haben zweifelsohne Walter Benjamins Studien über den „Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“ gewirkt. „Der Satanismus von Baudelaire“, behauptet dort der marxistische Essayist, „darf nicht allzu schwer genommen werden. Wenn er von einiger Bedeutung ist, so als die einzige Attitüde, in der Baudelaire eine nonkonformistische Position auf die Dauer zu halten vermag.“4 Hier wird in klassischem soziologischen Reduktionismus Baudelaires unbestreitbare Religiosität (deren zum Teil rhetorischer Ausdruck sein vermeintlicher „Satanismus“ ist), auf die er sich selbst wiederholt in seinen Verteidigungsschriften berief, zu einem bloßen Epiphänomen seines sozialen Außenseitertums degradiert. Diese Interpretationsvorgaben scheinen direkte Auswirkungen auf die meisten vorliegenden Exegesen von Georges Übersetzungen gehabt zu haben. So kommt es bei mehreren Kritikern zu dem auffälligen, allerdings mit der Kenntnis beider Werke kaum zu vereinbarenden Paradox, dass sie Baudelaire für einen unchristlicheren Dichter als George halten. Hubert Arbogast sieht z.  B. ganz von übersetzungsspezifischen Schwierigkeiten ab, wenn er vermutet, dass George aus Pietätsgründen den Plural „Christs“ in Les Phares mit „märtyrer“ übersetzt, ohne zu bedenken, dass sich dieser Plural im Deutschen nicht leicht unmissverständlich widergeben lässt (vgl. HA 61). Auf derselben Rezeptionslage scheint auch Thomas Kecks unhaltbare Ansicht zu beruhen, Baudelaires Verse der Schlussstrophe des gleichen Gedichts: „Car c’est vraiment, Seigneur, le meilleur témoignage  / Que nous puissions donner de notre

    im Briefwechsel ist und George diese Wendung von sich weist, und andererseits der „urduft“ in Weihe wenig mit den exotisch-sinnlichen Parfums Baudelaire’scher Art zu tun hat. Vgl. GHb I, 260 u. 262. 3 So Manfred Gsteiger: Literatur des Übergangs. Bern u. München 1963. „Georges Blumen des Bösen sind weitgehend eine parnassische oder klassizistische Interpretation der Fleurs du Mal“ (S. 86) und eine „rückwärts gewandte Interpretation“ (S. 88). 4 Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Frankfurt/M. 1969, S. 21.

    Baudelaire-Übertragungen 

     715

    dignité“5 seien eine „provokative[] Formulierung“, der Georges „herrlichkeiten“ in der Übertragung „eine versöhnlichere Komponente“ beigeben.6 Die Formulierung Baudelaires enthält aber nichts Provokatives, genauso wenig kann man verallgemeinernd von seiner „aggressive[n] Energie“ sprechen, wenn es darum geht, Georges Übersetzung von Invitation au voyage zu beurteilen, das keine Spur einer solchen aufweist. Doch sei Keck zufolge Georges Übersetzung der berühmten Verse: „Là, tout n’est qu’ordre et beauté / Luxe, calme et volupté“ mit „Dort wo alles friedlich lacht – / Lust und heiterkeit und pracht“ durch Georges „heitere[s] Grundgefühl“ zu erklären, das sich hier ausdrücke und allgemein Baudelaires rebellische, aggressive und provokatorische Energie „glätte“. In völliger Verkennung von Baudelaires tief christlicher und Georges tief unchristlicher Weltanschauung, womit sich zum großen Teil die Wesensfremdheit beider Dichter erklären lässt, schreibt Keck verallgemeinernd, in den Übersetzungen scheine „[v]or allem der Bruch mit der christlichen Weltanschauung […] geglättet“7. Hier fehlt jede genetisch-schöpferische Perspektive, die die Realität des „Reimzwanges“ auch für große Dichter nicht ganz so pauschal als „billige[s] Argument“ von sich gewiesen hätte, wie es Keck tut,8 denn sowohl Georges „herrlichkeiten“ in Die Leuchttürme (SW XIII/XIV, 17  f.) als auch sein „lacht“ in Einladung zur Reise (SW XIII/XIV, 65  f.) erklären sich auch dadurch und sind darüber hinaus dem Sinn der konkreten Gedichte nicht untreu. Diese weltanschaulich und nicht philologisch motivierte Gewichtung behauptet sich auch in Kecks ausführlicher Interpretation von Georges Übersetzung von Don Juan aux enfers: Don Juan werde hier zu einem psychologischen Selbstporträt des Übersetzers und spiegele dessen „eigene Situation am Rand der literarischen Öffentlichkeit Deutschlands, seine überlegene, nicht kämpferische, aber sich mit dem Privileg der Exklusivität rüstende Oppositionshaltung“, seine eigene Unerschütterlichkeit, absolute „impassibilité“ als junger Künstler. Georges Don Juan „ruhe in sich“, in seiner „Befindlichkeitsdarstellung existiert kein Bruch“, Baudelaires Held aber erkämpfe das Gleichgewicht „durch innere Anspannung“. George tilge in seiner Übersetzung nicht nur die Gebrochenheit Baudelaires, sondern auch das „aufbegehrend[e] Gegen-Urteil des Unbußfertigen“. Der parnassisch gelassen allem überhobene Dichter auf der einen, der krampfhaft-kämpferische Sozial-Rebell auf der anderen Seite – eine philologische Analyse der Übersetzung macht dieses Schema jedoch zunichte. Wie Margot Melenk allgemein gesehen hat, sind Georges Übersetzungen bewegter als die Originale, und das trifft auch für Don Juan in der Hölle zu. Begnügen wir uns mit ein paar Hinweisen zur Schlussstrophe: 5 SW XIII/XIV, 18. „Dies ist es o Gott! was bei all deinen herrlichkeiten / An unsre würde uns den glauben erwirbt“. Baudelaire wird zitiert nach der Ausgabe: Les Fleurs du Mal. Paris 1985, hier S. 41. 6 Thomas Keck: Der deutsche „Baudelaire“. Bd. I: Studien zur übersetzerischen Rezeption der „Fleurs du Mal“. Heidelberg 1991, S. 168. 7 Ebd., S. 169. 8 Ebd., S. 111.

    716 

     Ludwig Lehnen

    Tout droit dans son armure, un grand homme de pierre Se tenait à la barre et coupait le flot noir; Mais le calme héros, courbé sur sa rapière, Regardait le sillage et ne daignait rien voir. (Baudelaire, S. 47) Ein mann aus stein in voller rüstung lenkte Das steuer und durchschnitt die schwarze flut – Der stille held jedoch aufs schwert sich senkte · Er hat dies alles nicht zu sehn geruht. (SW XIII/XIV, 27)

    Die Übersetzung des Verses „Mais le calme héros, courbé sur sa rapière“ durch „Der stille held jedoch aufs schwert sich senkte“ macht aus der unbeweglichen Haltung eine, zudem noch als resignativ misszuverstehende, Bewegung und beeinträchtigt dadurch erheblich die im Original starke Wirkung der trotzigen impassibilité des Helden. Dies gilt erst recht für den Schlussvers: „Regardait le sillage et ne daignait rien voir.“ Das eindrückliche Bild des starr auf das Kielwasser („sillage“) blickenden Helden wird von George getilgt („Er hat dies alles nicht zu sehen geruht“). Der Verzicht auf das Bild im letzten Vers kann sich nicht anders als sprachtechnisch durch metrischen Zwang erklären, auf keinen Fall durch grobe psychologisierend-weltanschauliche Projektionen.9

    Unterschiede im Weltbild Geistesgeschichtlich immerhin interessant ist die Tatsache, dass die in der Kritik übliche Gegenüberstellung von Baudelaires ‚Modernität‘ und deren relative Ablehnung und Korrektur durch seinen deutschen Übersetzer genealogisch mit Baudelaires Christentum und Georges größerer Indifferenz diesem gegenüber zusammenhängt. Baudelaires vielbesprochene ‚Modernität‘ ist ein hervorragendes Beispiel für die

    9 Vgl. Thomas Keck: Der deutsche Baudelaire (wie Anm. 6), S. 114. Auch das Verb daigner mit der Negation (also quasi synonym von dédaigner, das gerade die aristokratisch verachtende impassibilité ausdrückt, die Keck einzig George zuschreiben will) enthält in sich keinerlei „aufbegehrendes GegenUrteil des Unbußfertigen“ (Hervorhebung im Original), das George durch „geruhen“ tilge. Im Gedankenstrich nach dem zweiten Vers sieht Keck eine „syntaktische Abkoppelung“, die Unabhängigkeit und Trennung des Helden von der Umwelt ausdrücke. Dies als „Umdeutung“ Georges zu interpretieren (im Sinne von: der Baudelaire’sche Held kämpft in und gegen die Gesellschaft und verspürt den inneren Bruch, der George’sche ist parnassisch von ihr abgehoben), wird aber durch die schlichte Tatsache relativiert, dass George keine Semikola benutzt. In Sachen Rebellentum hätte derjenige, der von sich sagt „Mit dolch und fackel in des feindes haus“ (SW VI/VII, 6) zu dringen, auch schon zur Zeit des Algabal eigentlich keine Lektionen zu erhalten.

    Baudelaire-Übertragungen 

     717

    christlichen Wurzeln der Moderne. Deren ‚kritische‘ und leidend unerfüllte Haltung leitet sich aus dem Dualismus der christlichen Weltanschauung ab. Die George wenig ansprechenden Motive des Bösen, des Blasphems, des Teufels, des Lebensekels, der Beschwörung des Nichts oder des ‚Neuen‘, vor allem aber die antiplatonische Trennung des Schönen vom Guten, die sich nicht, wie es Benjamin wollte, auf den antibourgeoisen, sozialkritischen Effekt reduzieren lassen, sind ohne Baudelaires christliche Prägung undenkbar. Die meisten dieser Motive, seien sie sozialkritisch oder christlich-blasphemisch, hält George aber für mit der Dekadenz schon überwundene, dem Zweiten Kaiserreich angehörige Problemstellungen. Da der deutsche Dichter nur die „glühende geistigkeit“ Baudelaires für zukunftsweisend hält, ist, wie er zum Schluss der Vorrede postuliert, „dem sinn nach SEGEN das einleitungsgedicht der BLUMEN DES BÖSEN und nicht das fälschlich VORREDE genannte“ (SW XIII/XIV, 5). In Au Lecteur dominieren in der Tat „Satan Trismégiste“, „Diable“, „débauché[s]“, „catin[s]“ und der „Ennui“ die Szene, wogegen Bénédiction von dem George werten Thema der Erwähltheit des Dichters handelt. In Georges Segen (SW XIII/XIV, 9–11) kann man daher auch leichte Abweichungen vom Original feststellen, die wahrscheinlich über Zwänge in Reim- und Metrumfragen hinausgehen. So wird eine zentrale Aussage verschoben, wenn der Schmerz nicht mehr als der einzige Adel des Menschen hingestellt wird, sondern der „echte“ Schmerz geadelt wird. In der Tat übersetzt George den Vers aus Strophe 17: „Je sais que la douleur est la noblesse unique“ mit: „Ich weiss: vom adel ist der Schmerz der echte“. Eine vergleichbare Distanz zur christlichen Erhöhung des Leidens könnte man demzufolge auch in der Übersetzung von „souffrances“ in Strophe 15 durch „drangsal“ sehen, obwohl hier zu beachten ist, dass „Leiden“ eine unschöne Alliteration hervorgerufen hätte („der uns zum *leiden leitet“).10 Die Strophe lautet bei Baudelaire: Je sais que la douleur est la noblesse unique Où ne mordront jamais la terre et les enfers, Et qu’il faut pour tresser ma couronne mystique Imposer tous les temps et tous les univers. (Baudelaire, S. 35)

    George übersetzt sie wie folgt:

    10 Übrigens kann man in diesen christlichen Anklängen Baudelaires, über die ephemere schockierende Wirkung hinaus, durchaus seine Anschlussfähigkeit mit dem Bürgertum sehen, dem Georges Weltanschauung im Ganzen unvereinbarer sein mag, schmückt doch schließlich gerade dieser isoliert etwas trivial wirkende Vers das Baudelaire-Denkmal im Jardin du Luxembourg.

    718 

     Ludwig Lehnen

    Ich weiss: vom adel ist der Schmerz der echte Den erde nie und hölle niederwarf Und dass wenn ich mein göttlich stirnband flechte Ich aller weltenkreise zins bedarf. (SW XIII/XIV 11)

    In Baudelaires „Imposer tous les temps et tous les univers“ klingt neben dem Sinn von „besteuern“ auch s’imposer im Sinne von „imposer son autorité“, also mehr die Vorstellung des Sich-Behauptens und des Zwanges mit. Georges „aller weltenkreise zins“, dessen der Dichter „bedarf“, legt dagegen den Akzent stärker auf die erwarteten Gaben der Welt als auf den Akt des Besteuerns (bzw. Unterwerfens). Dadurch deutet George die Aussage in einen positiveren Weltbezug um. Die Welt muss nicht mehr nur beherrscht werden, sondern der Dichter bedarf all ihrer irdischen Schätze, um sein „göttlich[es] stirnband“ zu flechten. In diesen leichten, womöglich durch die Reimsuche hervorgerufenen Abweichungen drückt sich somit die Gegensätzlichkeit zwischen Baudelaires und Georges religiösen Vorstellungen aus: Das Göttliche (nicht ‚Mystische‘) beruht auf einem erhöhten Irdischen, das der Dichter wie in Ein Angelico (SW II, 27) oder in Komm in den totgesagten park und schau (SW IV, 12) in sein Werk ‚verflicht‘, oder zumindest bedarf es des Irdischen, um zu sein. Diese Tendenz mag sich in den Schlussstrophen abermals bestätigt finden: Das „Ungenügen“ („ne pourraient pas suffire“) der „schätze lang verschütteter Palmyren“ wird durch Georges Wendung „dürft ich nicht küren“ abgeschwächt; und jenes gött­ liche Stirnband des Dichters (ein George vertrautes Bild) […] wird nur geprägt aus reinem lichte Das ich vom heilgen Strahlenherd erlas Dem aller glanz der menschlichen gesichte Nichts ist als armes trübes spiegelglas. – (SW XIII/XIV, 11)

    Bei Baudelaire lauten die Verse: Car il ne sera fait que de pure lumière, Puisée au foyer saint des rayons primitifs, Et dont les yeux mortels, dans leur splendeur entière, Ne sont que des miroirs obscurcis et plaintifs! (Baudelaire, S. 36)

    Natürlich gibt George die Prinzipien übersetzerischer Treue nicht preis, und die Divergenzen lassen sich höchstens in der Summierung und als Nuance erfassen. So schafft hier die Dativ-Konstruktion mehr semantische Undeutlichkeit als bei Baudelaire: Bei dem französischen Dichter heißt es unzweideutig, dass die Augen der Sterblichen nur ein verdunkelter und „jammernder“ Spiegel des göttlichen Urlichts seien, bei George kann das „dem“ auch als „für ihn“ gelesen werden, also als perspektivische Relativierung. Eine zusätzliche Abschwächung von Baudelaires latenter Kreaturverachtung

    Baudelaire-Übertragungen 

     719

    ließe sich darin erkennen, dass in Georges „gesichte“ das Gesicht im Sinne des Gesehenen gelesen werden kann. Gesichte als „Vision“ verstanden erlaubte die Nuance, dass alle „Vorstellungen“ (eher als die wirklich gesehene Welt) der Menschen nicht an das Göttliche heranreichen. Baudelaires eindeutige Aussagen mit theologisch-tradi­ tio­nellem Hintergrund werden vieldeutiger, re-poetisiert.

    Die Baudelaire-Übersetzung im Kontext Die Klarstellungen und Einschränkungen, mit denen George in den Vorreden seine ungern eingestandene „Einführung“ Baudelaires umgibt, geben wichtige Hinweise auf den allgemeinen Interpretationsrahmen, in den man seine Übersetzungen stellen muss. George bekennt sich eindeutig in ihnen zur jungen, symbolistischen Generation (auch wenn er dieses „Schlagwort“ mied), zu den Schülern Mallarmés und Verlaines, sowohl in stilistischer als auch in weltanschaulicher Hinsicht. Dies gilt vor allem für Mallarmé. Die von Arbogast und Melenk herausgearbeiteten Stilmerkmale seiner Übersetzungen, die nach Arbogast die Schule seines eigenen Stils waren, lassen sich, wie diese Autoren zu Recht festgestellt haben, nicht auf Baudelaires Stil zurückführen, sondern, was von ihnen nicht gesehen wurde, auf die Prägung durch Mallarmé. Diesen Aspekt hat, ohne ihn zu entwickeln, Thomas Keck hingegen völlig richtig erkannt. Über die „von Mallarmés Wort-Poetik inspirierte Baudelaire-Übersetzung“ Georges schreibt er: „Es ist auffällig, daß zahlreiche Beobachtungen der Sekundärliteratur zu Georges Baudelaire-Übersetzungen den Gedanken an eine direkte Beeinflussung durch die Poetik des reinen Symbolismus’ Mallarmés nahelegen.“11 In der Tat kann man Arbogast vorwerfen, sich zu sehr auf einen rein deutschen Kontext beschränkt zu haben, wenn er für die eindeutig nicht von Baudelaire herrührende Genealogie von Georges Stil vor allem die Überwindung des Epigonenstils einerseits und, in sicht­ licher Verlegenheit, den Stil Klopstocks andererseits geltend macht. Ganz abgesehen davon, dass man nicht für alles eine ‚Quelle‘ suchen sollte, ist es bestimmt weit hergeholt, als Vorbild für Georges Weihe in den Hymnen Klopstocks Die Stunden der Weihe zu bemühen (vgl. HA 99  f.). Es genügt, sich die Wichtigkeit von Georges Frankreich-Erfahrung, die noch in zahlreichen Gedichten des Spätwerks reflektiert wird,12 und innerhalb dieser die Bedeutung der Baudelaire-Übersetzung als billet d’entrée im Mallarmé-Kreis zu vergegenwärtigen.13 Auch im Mallarmé-Kreis wurde Baudelaire

    11 Thomas Keck: Der deutsche Baudelaire (wie Anm. 6), S. 102. 12 So z.  B. die Erinnerung an die Krise, auf die die Mallarmé/Frankreich-Erfahrung in der Bewusstseinswende die Lösung fand: „Kehr um im bild kehr um im klang!“ (SW VIII, 22) oder noch das Heimkehr-Motiv in Geheimes Deutschland. 13 Vgl. Albert Mockel: Quelques souvenirs sur Stefan George. In: Revue d’Allemagne, nov.-déc. 1928, S. 385–396, hier S. 389.

    720 

     Ludwig Lehnen

    nicht nur verehrt, sondern auch als überwunden angesehen. In einem Brief aus dem Jahre 1867 berichtet Mallarmé von seiner „Trennung von Baudelaire“14, und im Jahre 1886 schreibt er, es sei Zeit, sich von allem zu trennen, was der Dekadenz ähnle.15 Man könnte es in Anbetracht von Im Unterreich aus Algabal verwunderlich finden, in den Blumen des Bösen vergeblich nach Rêve parisien zu suchen. Verzichtet man darauf, die Hypothese, dass George „seine möglichkeiten erschöpft sah“ (Vorrede) geltend zu machen,16 wäre Margot Melenks Hinweis in Betracht zu ziehen, demzufolge Baudelaire „an der Differenz von Realität (dem Ich) und imaginierter Welt […] ebenso [wie] an der Differenz von Realität und metaphorisch verwendeter Bildebene“ festhalte, im Gegensatz zu George, dem solche scharfe Polarität und Zerrissenheit des Menschen und damit auch die „metaphorische und allegorisierende Ausdrucksweise“ fremd seien.17 Denn genau diese Polarität zwischen schönem Traum und schnöder Wirklichkeit drückt sich geradezu programmatisch in der Kontrastierung der Teile I und II von Rêve parisien und dem Erwachen des Dichters in II aus. Wie stark Algabal noch an diese Polarität gebunden ist, verdeutlicht Ich will mir jener stunden lauf erzählen, wo der Tyrann das prosaische Erwachen gnädig zu verhindern weiß (SW II, 82). Doch kündigt sich hier, in dieser vielleicht noch baudelairisch anmutenden anti-moralischen Provokation, der zukünftige Schritt über Baudelaire hinaus an. Die polare Spannung zwischen Traumgenuss und Leiden an der Wirklichkeit wird George aufzuheben streben; George soll, wie es Wolters formuliert, zu den Dichtern gehören, für die „das Leben ein Traum ist, der sich selbst bejaht“ (BG 540). In dieser entscheidenden Umdeutung des Verhältnisses von „Traum“ und Realität liegt das Mallarmé und George von Baudelaire Trennende. Mallarmé wird es darum gehen, in der Schönheit zu leben.18 Das Leiden an der Wirklichkeit ist kein typisch symbolistisches Motiv mehr, weniger weil sich die Symbolisten aus Hyperidealismus ganz in ihrer Traumwelt oder im Baudelaire’schen paradis artificiel eingerichtet hätten, wie es die EskapismusThese will, sondern eher, zumindest in ihren höchsten Bewusstwerdungen, weil die

    14 Vgl. Brief vom 14. 5. 1867 an Henri Cazalis, über den Einfluss Leconte de Lisles auf Léon Dierx: „S’en séparera-t-il comme moi de Baudelaire?“ In: Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes. Édition de Bertrand Marchal. Bd. I. Paris 1998, S. 716. 15 Vgl. Stéphane Mallarmé: Correspondance. Bd.  III. 1886–1889. Édition de Lloyd James Austin et Henri Mondor. Paris 1969, S. 62: „Mais quel titre abominable que La Décadence et comme il serait temps de renoncer à tout ce qui y ressemble“ (Brief vom 26. 9. 1886). 16 Ähnliches könnte man für Mallarmés von George (von den Eingangsversen in der Lobrede abgesehen) nicht übersetzter Prose pour des Esseintes vermuten, auf deren zentrale Bedeutung für George zum ersten Mal Werner Vordtriede hingewiesen hat. Vgl. Werner Vordtriede: The Conception of the Poet in the Works of Stéphane Mallarmé and Stefan George. Evanston 1944. 17 Margot Melenk: Die Baudelaire-Übersetzungen (wie Anm. 1), S. 96. 18 So schrieb in noch idealistischem Ton der junge Mallarmé in Symphonie littéraire: „Qu’on s’en souvienne, je ne jouis pas, mais je vis dans la beauté.“ In: Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes. Édition de Bertrand Marchal. Bd. II. Paris 2003, S. 282.

    Baudelaire-Übertragungen 

     721

    ‚Traumfähigkeit‘ als ein geistiges Grundprinzip in ihrer ganzen mythopoetischen, anthropologischen und auch politischen Dimension erkannt wurde.19 Um also die Baudelaire-Übersetzungen richtig zu kontextualisieren, muss man sich die präzise literarische und biografische Situation des jungen Dichters vergegenwärtigen. George stößt 1889 zum Mallarmé-Kreis, erst zwei Jahre zuvor hatte der ‚Meister‘ seine seltenen, langerwarteten und begehrten Poésies veröffentlicht, deren programmatisches und kryptisches Eingangsgedicht Salut betitelt ist (was in einer etwas eindringlicheren Interpretation nicht nur ‚Gruß‘ oder ‚Prosit‘, sondern Heil bedeutet). Und im Jahre  1889 selbst findet eine große ideologische Auseinandersetzung zwischen dem Meister und seinem ‚szientistischen‘ Dissidenten René Ghil statt über die Frage, ob man auf Eden-Vorstellungen definitiv verzichten könne oder nicht, wenn sie, wie bei Mallarmé, nicht mehr christlich determiniert, sondern im Zusammenhang mit einer radikalen, nachchristlichen religiösen Erneuerung zu verstehen seien. Solche Affinitäten erklären, warum George Baudelaire tendenziell nach Mallarmé’schen Prinzipien der Sprachfügung übersetzt und sich wenig empfänglich für seine ‚Modernität‘ christlicher Provenienz zeigt. Die Auswahl Georges wiederholt Mallarmés selektives Anknüpfen an Baudelaire; seiner Ablehnung der christlichen, dichotomen Weltanschauung korrespondiert im Mallarmé-Kreis das Bewusstsein, der Genesis einer neuen, dichterischen Religion beizuwohnen. Dieser Kontext kann Arbogast nur entgehen, wenn er von Mallarmé nichts anderes als den in der Sekundärliteratur verbreiteten „idealistischen“ Willen, „die Welt zu überwinden“ zur Kenntnis nimmt, der aber mit dem historischen Mallarmé-Kreis wenig zu tun hat (HA 96). Wo sonst hätte andererseits George den Mut zu so kühnen syntaktischen Disjunktionen wie z.  B. in Vorleben (SW XIII/XIV, 24) hernehmen können, wenn nicht vom Mallarmé’schen Vorbild, wie sonst auf die in ihrer Bedeutung keineswegs zu unterschätzende Idee kommen können, die erste Fassung der Blumen des Bösen ohne jedes Satzzeichen darzubieten, wie es vorher einzig Mallarmé praktiziert hat, wobei es sich nicht um ‚ästhetizistische‘ Extravaganz, sondern um ein konsubstanzielles Element der ‚harten Fügung‘ handelt. Es genügt aber, um die Prägung der Baudelaire-Übersetzungen Georges durch die Prinzipien der Mallarmé’schen Poetik nachzuweisen, die Ergebnisse der Stilanalysen von Arbogast und Melenk zusammenzufassen.

    Georges Übersetzungsstil Es klingt in der Tat wie eine Charakterisierung des Mallarmé’schen Stils, wenn Arbogast schreibt, George scheine das Ziel zu verfolgen, „jeden Satz bis zum äußersten 19 Zu dieser epistemologischen und metapolitischen Dimension der symbolistischen Poetologie vgl. Ludwig Lehnen: Mallarmé et Stefan George. Politiques de la poésies à l’épqoue du symbolisme. Paris 2010.

    722 

     Ludwig Lehnen

    mit sinnlicher Anschauung zu beladen, nirgendwo eine blinde, ausgesparte, nichtssagende Stelle zu dulden“ (HA 63). Der Stil, im Gegensatz zu dem Baudelaires, wird „verquirlt“ und brachylogisch.“ (HA 64  f.) Auffällige Stilmerkmale sind Asyndeton, Hyperbaton und die „verzögerte Formulierung des Hauptsatzes“ (HA 71  ff.). Weniger Klopstock als Mallarmé dürfte Pate gestanden haben für das Prinzip der harten Fügung, „die dem einzelnen Wort im syntaktischen, rhythmischen, metrischen Kontext ein eigenes Gewicht verleiht, es heraushebt und vereinzelt“ (HA 105). Denn das Prinzip der Isolierung des Wortes durch sein Herausreißen aus dem Alltagskontext, in dem es primär Mitteilungsfunktion hat  – Mallarmé unterschied zwischen „kommerziellem“ und „wesentlichem“ Wortgebrauch –, und sein Herausheben, durch Vers und Rhythmus, „in eine leuchtende sfäre“, wird in den Blättern für die Kunst (II, 2, S. 47) von Carl August Klein ausdrücklich als Gemeinsamkeit mit den französischen Symbolisten formuliert. Auch die Verbindung der harten Fügung mit dem Reimgedicht „im Versuch, die Sinnlichkeit mit der Weihe zu versöhnen“, ist nicht so neu (vgl. HA 105 u. 123), da sie bei Mallarmé vorgebildet ist. Die „Silben [werden] durch den immer wiederholten Anlaut gegeneinander verhärtet und isoliert“ (HA 111) und „die Wörter durch die Auffälligkeit ihres Klanges so sehr mit Bedeutung beladen […], daß sie in den übergeordneten Zusammenhängen des Satzes und des Verses ihr eigenes Recht bewahr[en]“20. Entgegen dem Klischee geht es in Mallarmés Lyrik nicht um „Weltüberwindung,“ sondern, wie es Arbogast als Stilmerkmal Georges festmacht, darum, „die Freude am Körperlich-Greifbaren,21 den stürmischen Drang, die Welt einströmen zu

    20 HA 113. All diese Stilmerkmale müssen mit Kleins Aufsatz verglichen werden, dessen Kernsätze hier noch einmal in Erinnerung gerufen seien. Echos von Crise de vers: „Wenn der Deutsche sich zu den verfassern des jungen Belgien, Frankreich und England hingezogen fühlt, so hat es seinen grund darin dass es ihm wie Ihnen aufgegangen ist worin das wesen der modernen Dichtung liegt: das wort aus seinem gemeinen alltäglichen kreis zu reissen und in eine leuchtende sfäre zu erheben. jeder versucht das nach dem bau und den gesetzen seiner sprache.“; „durch genau erwogene wahl und anhäufung von konsonanten und vokalen bekommen wir einen eindruck ohne zuthat des sinnes. jubel und trauer glätte und härte nacht und licht fühlen wir ohne dass wir die begriffe dastehn haben. ganze verse dünken uns aus einer anderen sprache und versetzen uns in seltsame unruhe. alles läuft auf eins hinaus: den grossen zusammenklang wobei wir durch die worte erregt werden wie durch rauschmittel.“ Carl August Klein: Über Stefan George. Eine neue Kunst. In: BfdK I, 2, S. 47  f. Vgl. Ludwig Lehnen: Politik der Dichtung: George und Mallarmé. Vorschläge für eine Neubewertung ihres Verhältnisses. In: GJb 4 (2002/2003), S. 3–35, hier S. 13–19. Auch für die berüchtigte „absente de tous bouquets“ aus Crise de vers ist wesentlich, dass sie sich im Sprachmedium gereinigt „erhebt“, nicht als „Nichts“, sondern „suave“. 21 In einem Brief an René Ghil vom 13. 3. 1887 rät Mallarmé diesem, sich „quelque chose de simplement tangible“ zuzuwenden, der Vers müsse wie ein Gewicht in der Hand liegen: „[faire] poids dans la main“ (Stéphane Mallarmé: Correspondance III [wie Anm. 15], S. 95); aber auch Gedichte wie Victorieusement fui le suicide beau […], oder selbst Mes bouquins refermés […] feiern die Sinnlichkeit in der Vorstellungskraft. Mallarmé geht es um die „Idée tangible“, Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes II (wie Anm. 18), S. 253; „deutlich greifbare bilder“ hebt auch die Lobrede Georges auf Mallarmé hervor, SW XVII, 47. Das Motiv der „plénitude“ gehört zu den wenig beachteten in Crise de vers.

    Baudelaire-Übertragungen 

     723

    lassen,“ durch den „rasche[n] Zugriff des Dichters, den sinnlichsten Teil der Aussage, die adverbiale Bestimmung, und auch das Objekt, an die Spitze des Satzes“ zu rücken (HA 53). Margot Melenk betont ihrerseits die größere Hermetik der Übersetzung: George lade „den Text auf, so daß man ihn entschlüsseln muß. Die Verständlichkeit ist für ihn nicht mehr das primäre textbildende Mittel.“22 Durch diese Technik werde die Leistung des Lesers mehr gefordert.23 Impression und Ahnung gehen „aus dem Hin und Her des Textes“24 hervor und wirken der unmittelbaren Verständlichkeit des Originals entgegen.25 Dies sind aber sämtlich Kennzeichen des symbolistischen, modernen Stils, im Vergleich zum relativen Klassizismus Baudelaires, weshalb die Arbeiten, die Georges Klassizismus und Parnassismus der Baudelaire’schen Modernität gegenüberstellen und George als „rückschrittlicher“ einstufen, fehlgehen.26 Die Bildfragmentierung macht „das Geschehen zu einem für sich absoluten, undeutbaren, rasch ablaufenden Vollzug, dessen faszinierende Folge von Einzelbildern erst durch eine Interpretationsleistung des Lesers auf das Gesamtthema der gespannten Gegensätze  […] bezogen werden kann“27. Der Text der Übersetzung biete eine „nervöse, unruhige Oberfläche“28. Dass George im Gegensatz zu Baudelaire der Syntax keine primäre Funktion zugesteht, sondern mehr den Vers als Grundmaß auffasst,29 lässt sich einerseits aus der programmatischen Entrhetorisierung30 Baudelaires verstehen, andererseits aus der Wort- und Verspoetik Mallarmés, den Vers als „mot total“31 zu behandeln. Rein mallarméisch heißt es: George lasse „die Mehrdeutigkeit der Bezüge Zentrum der Aussage sein“32. Und es heißt, den Sinn des Mallarmé’schen Satzbaus zu beschreiben, wenn die Syntax „nicht eingesetzt [wird], um gespannte Bögen zu erzeu-

    22 Margot Melenk: Die Baudelaire-Übersetzungen (wie Anm. 1), S. 13. 23 Ebd., S. 14. Wie bekannt, ist es ein Mallarmé’scher Grundsatz, dass der Leser den Text mitzuschaffen habe. „[…] les Parnassiens, eux, prennent la chose entièrement et la montrent: par là ils manquent de mystère; ils retirent aux esprits cette joie délicieuse de croire qu’ils créent.“ In: Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes II (wie Anm. 18), S. 700. 24 Vgl. Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes  I (wie Anm. 18), S. 233: „Les mots, d’eux–mêmes, s’exaltent à mainte facette reconnue la plus rare ou valant pour l’esprit, centre de suspens vibratoire; qui les perçoit indépendamment de la suite ordinaire, projetés, en parois de grotte; tant que dure leur mobilité ou principe, étant ce qui ne se dit pas du discours: prompts tous, avant extinction, à une réciprocité de feux distante ou présentée de biais comme contingence.“ 25 Margot Melenk: Die Baudelaire-Übersetzungen (wie Anm. 1), S. 15  f. 26 Vgl. ebd., S. 38. 27 Ebd., S. 27, Hervorhebung d.V. 28 Ebd., S. 33. Vgl. Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes II (wie Anm. 18), S. 229: „Si, tout de même, n’inquiétait je ne sais quel miroitement, en dessous, peu séparable de la surface concédée à la rétine“. 29 Margot Melenk: Die Baudelaire-Übersetzungen (wie Anm. 1), S. 54  f. 30 Zur Entrhetorisierung gehört auch die Entallegorisierung, so schreibt George „trübsinn“, „hoffnung“, „angst“ ohne Majuskel. Vgl. ebd., S. 86. 31 Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes II (wie Anm. 18), S. 213. 32 Margot Melenk: Die Baudelaire-Übersetzungen (wie Anm. 1), S. 63.

    724 

     Ludwig Lehnen

    gen, sondern um die Bezüge undeutlicher zu machen und so die einzelnen Elemente noch mehr auf sich zu stellen und voneinander zu isolieren.“33 Der grundlegende Aufsatz von Carl August Klein beweist einerseits, dass diese Gemeinsamkeiten in der Poetik durchaus anerkannt wurden. Das ‚Wesen‘ der neuen Dichtung wird in der Poetik der Wortisolierung, der harten Fügung, der Suggestionspoetik und der Ablehnung der Rhetorik, die George mit Mallarmé und Verlaine in Abgrenzung von Baudelaire teilte, erkannt.34 Die Baudelaire-Übersetzung ist also in der Tat, wie es Arbogast festgestellt hat, Georges Schule für die Herausbildung des eigenen Stils gewesen: Dieser entsteht aber durch die Anwendung mallarméistischsymbolistischer Prinzipien auf Baudelaire, der dadurch durchaus modernisiert wurde. Dass Mallarmé selbst spärlicher von George übersetzt wurde, schmälert daher keineswegs dessen Bedeutung für den deutschen Dichter. Nicht nur soll sich George zur Übertragung der Fleurs du Mal entschlossen haben, „als er von Mallarmés Übertragung von Dichtungen Edgar Poes gehört habe“ (RB I, 34), sondern gerade in der in Zusammenarbeit mit Melchior Lechter entstandenen Publikationsgestaltung der Herodias folgte er Mallarmés Vorbild, der gemeinsam mit Manet kostbare Broschüren des L’Après-midi d’un faune oder der Poe-Übersetzungen verfertigte. Neben der außergewöhnlichen Prunkausgabe der Herodias ist schon die Rarität der Übersetzungen ein Zeichen der Verehrung. Die Hermetik Mallarmés, deren Radikalität, wie es der Aufsatz von Klein andeutet und sein Werk belegt, George eher kritisch gegenüberstand, eignete sich außerdem schlecht zur Übung und Herausbildung des eigenen Stils, umso mehr als George für Deutschland die Stufe des Parnass für das Dringlichste hielt.35 Damit wendete sich George gegen Hermetismus (Mallarmé) und Auflösung der Formen (Verlaine und Verslibristen); gleichzeitig übernahm er von Mallarmé die dem Parnass fremden Prinzipien der Wort- und Suggestionspoetik. Georges ‚Parnass‘ ist also mit dem französischen nicht gleichzusetzen. Georges Herausbildung des eigenen Tons in der Baudelaire-Übersetzung ist demnach nicht nur durch die immer wieder geltend gemachte Entscheidung zu erklären, den dominierenden Alexandriner des Originals mit dem gedrängteren und unsymmetrischeren fünfhebigen Jambus wiederzugeben,36 sondern diese Option

    33 Ebd., S. 100. 34 Carl August Klein: Über Stefan George (wie Anm. 20), S. 46  f.: „das grundverschiedene seines verfahrens von dem der Franzosen (insonderheit Baudelaires) bekundet sich am ehsten durch das fehlen aller reflexion aller rhetorik. im gegensatz zu den Jüngsten die die formen auflösen sind die seinen streng regelmässig, und er lässt nie die verständlichkeit und die zusammenfassende beschränkung vermissen.“ 35 Vgl. das Zeugnis von Albert Mockel: Quelques souvenirs (wie Anm. 13), S. 392  f.: „Vous avez raison de combattre le Parnasse: il stérilisait votre poésie. Mais nous, nous devons instaurer en Allemagne certaines de ses méthodes, momentanément au moins. C’est un commencement nécessaire.“ 36 Die Gedichte, die George daktylisch, mit freier Senkung oder sechshebig übersetzt, scheinen in der Tat Baudelaires Ton näher, vgl. Das Haar, Anheimfall, Abendeinklang.

    Verlaine-Übertragungen 

     725

    schreibt sich schon in seinen mallarméisch-symbolistischen, auf Verknappung, Aufladung und Entrhetorisierung angelegten Stilwillen ein. Diese „Andersartigkeit des Tones“ ist also nur in Bezug auf Baudelaire bedeutsam und kündigt daher noch keinesfalls die „große Entfremdung“ an, „die ihn von der französischen Dichtung zunehmend trennen wird“37. Während man hingegen weniger Affinität mit Rimbaud und Verhaeren vermuten und den auffällig stark vertretenen Régnier-Übersetzungen wohl keine übertriebene Bedeutung zumessen darf, sondern sie eher dem Register des Exerzitiums zuordnen muss, verweist die Verehrung, die George Verlaine entgegenbrachte, auf eine andere wichtige Eigenschaft in seinem Schaffen, auf den Sinn für die feinen liedhaften Töne und Nuancen. Daher sollen im Folgenden einige Übersetzungen aus Verlaines Fêtes galantes kommentiert werden.

    Interpretation von vier Übertragungen aus Verlaines Galanten Festen Die Bedeutung Verlaines für George ist belegt durch biografische Zeugnisse (Albert Saint-Paul berichtet von persönlichen Begegnungen),1 das Gedicht Franken und die Lobrede auf Verlaine. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Spuren einer Verlaine’schen Sensibilität im Werk Georges, man denke vor allem an das Jahr der Seele, die Lieder, vom Früh- bis ins Spätwerk, insbesondere in Zyklen wie den Sängen eines fahrenden Spielmanns, oder in thematischer Hinsicht an vereinzelte Gedichte wie Die Maske. Mit Verlaine teilt George die Gabe, mit anscheinender Leichtigkeit feinste seelische, innige Zwischentöne zu suggerieren. Von ihr zeugt noch Georges Charakterzeichnung des französischen Dichters in der Lobrede, die in wenigen Sätzen die Watteau-Welt der Galanten Feste skizziert. „Über dieses leichte lockere Frankreich aber haucht er eine nie empfundene luft peinigender innerlichkeit und leichenhafter schwermut.“ (SW  XVII, 49) Wie Baudelaire hat Verlaine George zufolge „ein ganzes dichtergeschlecht“ ergriffen, jedoch gerade durch den Schritt über Baudelaire hinaus, der in dem Verzicht auf jede Rhetorik gründet: „die einfache flöte genüge um den men-

    37 Bernhard Böschenstein: Übersetzung als Selbstfindung. George, Rilke, Celan zwischen Nachgesang und Gegengesang. In: Ders.: Von Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan. München 2006, S. 293–313, hier S. 296. 1 Albert Saint-Paul: Stefan George et le symbolisme français. In: Revue d’Allemagne, nov.-déc. 1928, S. 397–405, hier S. 401.

    726 

     Ludwig Lehnen

    schen das tiefste zu verraten. Eine farbe zaubert gestalten hervor indes drei spärliche striche die landschaft bilden und ein schüchterner klang das erlebnis gibt.“ (Ebd.) Hier umschreibt George schon seine eigene Meisterschaft der feinen Töne und seine Überzeugung, „dass morgen / Leicht alle schönheit kraft und grösse steigt / Aus eines knaben stillem flötenlied“ (SW VI/VII, 7). Es verwundert also kaum, dass die VerlaineÜbersetzungen zu den gelungensten Übertragungen Georges gehören. Doch werden wie in der Baudelaire-Übersetzung die Akzente etwas verschoben. Clair de Lune Votre âme est un paysage choisi Que vont charmant masques et bergamasques Jouant du luth et dansant et quasi Tristes sous leurs déguisements fantasques. Tout en chantant sur le mode mineur L’amour vainqueur et la vie opportune, Ils n’ont pas l’air de croire à leur bonheur Et leur chanson se mêle au clair de lune, Au calme clair de lune triste et beau, Qui fait rêver les oiseaux dans les arbres Et sangloter d’extase les jets d’eau, Les grands jets d’eau sveltes parmi les marbres.2 Mondenschein Dein herz ist ein erlesenes gefild Bezaubert von dem takt der bergamasken Von lautenspielen und von tanz – ein bild Fast traurig trotz der ausgelassnen masken. Wenn sie in sanften tönen auch besingen Der liebe siege und das leichte sein: Will ihnen rechte freude nicht gelingen Und ihr gesang verschmilzt im mondenschein – Im stillen mondenscheine schön und fahl Vor dem die vögel träumen in den hecken Und in verzückung schluchzt der wasserstrahl Der grosse schlanke strahl im marmorbecken. (SW XVI, 11)

    2 Paul Verlaine: Fêtes galantes, Romances sans paroles, précédé de Poèmes saturniens. Paris 1973, S. 97. Alle Texte von Verlaine werden hier nach dieser Ausgabe zitiert.

    Verlaine-Übertragungen 

     727

    Verlaines Gedicht besteht aus Dekasyllabi in drei vierzeiligen Strophen mit Kreuzreim (mit einer reichen Assonanz beau/d’eau). Die Zäsur fällt nach der vierten Silbe, wodurch sie in Vers eins eine stilistisch wirkungsvolle Spannung erzeugt zwischen dem Artikel und dem Nomen: un/paysage. Sie bewirkt eine Dehnung des Verses, die ihm eine alle Nuancen ausleuchtende Artikuliertheit und gewisse Preziosität verleiht, die noch durch die Diärese von pay-y-sag-e (viersilbig) verstärkt wird und so den Gesamtton des Gedichts anschlägt. Ähnliche Wirkung erzielen die Zäsuren in Vers vier zwischen dem Possessivartikel und dem Nomen: leurs/déguisements, zwischen dem Nomen und seiner Präpositionalergänzung: clair/de lune, zwischen dem Verb und seiner Präpositionalergänzung: sangloter/d’extase oder zwischen Nomen und Adjektiv in Vers zwölf: jets d’eau/sveltes. Das jeweils in das zweite Hemistichion hineinragende Element wird dadurch betont und die Diktion in die Länge gezogen. Fünf der zwölf Zäsuren sind also syntaktisch unregelmäßig. Die Zäsur im ersten Vers schafft eine Art Verzögerungs- und Hervorhebungseffekt, eine zeigende Gebärde auf die Landschaft der Seele. Diese fein kalkulierten Wirkungen setzen natürlich die Kenntnis des klassischen Versschemas, das sie umspielen, voraus und sind auf dieser Stufe des Werks von Verlaine nicht mit Lässigkeit zu verwechseln. George übersetzt silbengleich durch den fünfhebigen alternierenden Jambus, respektiert ebenfalls die Reimalternanz und schafft es sogar, die Wirkung der syntaktischen Unregelmäßigkeit um die Zäsur wiederzugeben, so in ein er/lesenes, dem/takt, trotz der/ausgelassnen, sanften/tönen, rechte/freude, schlanke/strahl. Die Stilmittel, die Verlaines literarhistorische Wirkung ausmachen, werden also von George übernommen, sowohl in seiner Übersetzung als auch in seinem eigenen Werk, wo sie zur Abschwächung der Zäsur und zur gleichmäßigen Betonung aller Silben beitragen. Sehr glücklich wird der erste Vers auch lautlich übersetzt. Dem a/i-Kontrast Verlaines, in dem die dunklen a-Vokale von den hellen i-Vokalen, in die sich der Vers klärt und hochschwingt (pay-ysage, choisi), abgelöst werden, entspricht bei George eine analoge aufschwingende Bewegung von e in i: herz/erlesenes – ist/gefild. Besonders wirksam und bedeutungsvoll ist Verlaines Reimwort „quasi“ im dritten Vers, das sich auf das schon erwähnte „choisi“ reimt. Als sogleich (wegen seines lateinischen Ursprungs) halb gelehrtes, aber mehr noch umgangsprachliches Fremdwort, hervorgehoben als Reimwort in der Position des contre-rejets (Enjambement: quasi/ Tristes), drückt es in sich schon einen wichtigen Aspekt von Verlaines Poetik aus. Es handelt sich nicht um die Preziosität des exotischen Fremdworts, wie sie die Parnassiens, Décadents und manche Symbolisten kultivierten, sondern um den etwas ironisch-maliziösen Reiz des – obwohl lateinisches Lehnwort – Umgangssprach­lichen. Zugleich drückt das Wort „quasi“ semantisch die für Verlaine typische Welt der Zwischentöne und der Nuance aus. Dass George die sowohl metrische als auch semantische Wichtigkeit dieses Wortes nicht entgangen ist, bezeugt seine Übersetzung. Natürlich meidet er ein unschönes und im Deutschen zu triviales „quasi“. Auch wenn er das „fast“ nicht in die Stellung des contre-rejets hat bringen können, wird doch das lautlich nahestehende „–  ein

    728 

     Ludwig Lehnen

    bild“ vergleichbar stark am Versende hervorgehoben, wie es der Gedankenstrich zusätzlich verdeutlicht. Opfer kennt natürlich auch diese sehr gelungene Übersetzung, so wenn „sur le mode mineur“ nur im Sinne von „moll“ mit „in sanften tönen“ übersetzt wird, ohne die weiteren Bedeutungskonnotationen des schlichten und unprätentiösen (mineur in diesem Sinne) Wortes bewahren zu können. Die Einheitlichkeit der ‚Handlung‘ bzw. des Bildes wird darüber hinaus etwas abgeschwächt durch die Nebenordnung in Vers  elf, wogegen bei Verlaine die Verse  zehn und elf als gleichgeordnete Relativsätze von „clair de lune“ abhängen. Das Schluchzen des Wasserstrahls wird so vereinzelt und nicht mehr als vom Mondschein ausgelöst gesehen. Dadurch gewinnt der Wasserstrahl gegen Ende des Gedichts eine zu große Eigenständigkeit und mindert die traumhafte Verwobenheit der Verlaine’schen Verse. Es handelt sich um ein hier der Übersetzung abträgliches, von Margot Melenk als Tendenz zur Vereinzelung der Bildelemente festgestelltes Stilmerkmal der George’schen Übersetzungen,3 das sich aus der Abneigung gegen semantisch leere Funktionswörter der syntaktischen Artikulierung (Präpositionen, Pronomen) erklären kann. L’Allee Fardée et peinte comme au temps des bergeries, Frêle parmi les nœuds énormes de rubans, Elle passe, sous les ramures assombries, Dans l’allée où verdit la mousse des vieux bancs, Avec mille façons et mille afféteries Qu’on garde d’ordinaire aux perruches chéries. Sa longue robe à queue est bleue, et l’éventail Qu’elle froisse en ses doigts fluets aux larges bagues S’égaie en des sujets érotiques, si vagues Qu’elle sourit, tout en rêvant, à maint détail.  – Blonde en somme. Le nez mignon avec la bouche Incarnadine, grasse et divine d’orgueil Inconscient. – D’ailleurs, plus fine que la mouche Qui ravive l’éclat un peu niais de l’œil. (Verlaine, S. 100) Der Laubgang Geschmückt gemalt wie zu den schäferzeiten In grossen bandes-schleifen zierlich geht Sie durch den laubgang wo sich schatten breiten Und wo das moos auf alten bänken steht: Mit tausend lärvchen tausend zierereien

    3 Vgl. Margot Melenk: Die Baudelaire-Übersetzungen Stefan Georges. München 1974.

    Verlaine-Übertragungen 

     729

    Als ob im spiel mit lieblingspapageien. Ihr langes schleppenkleid ist blau · ihr fächer Im schmalen finger mit den breiten ringen Erzählt von so verworrnen liebes-dingen Die sie zuweilen – ganz im traume – lächern. Blond also! Ihre nase ein zierlich eckchen Ihr mund voll fleischrot kindlich stolz ist ganz Entzückend – schöner als das schönheits-fleckchen · Es hebt des auges etwas faden glanz. (SW XVI, 12)

    Die in Clair de lune analysierte, für Verlaine charakteristische Handhabung der Zäsur und des Enjambements gilt auch für dieses Gedicht. Beschränken wir uns daher auf die auffälligsten lexikalisch-semantischen Abweichungen: Fardée et peinte: Geschmückt gemalt, frêle: zierlich, d’ordinaire: nicht übersetzt, Qu’elle froisse: nicht übersetzt, S’égaie en des sujets érotiques, si vagues / Qu’elle en sourit, tout en rêvant, à maint détail: Erzählt von so verworrnen liebes-dingen / Die sie zuweilen – ganz im traume – lächern, la bouche / Incarnadine, grasse et divine d’orgueil / Inconscient: Ihr mund voll fleischrot kindlich stolz ist ganz / Entzückend, D’ailleurs: nicht übersetzt, Plus fine: schöner, la mouche: das schönheits-fleckchen (anstatt Schönheitspflaster); niais: faden. Durch Auslassungen und ‚freundlichere‘ Übersetzungen geht Verlaines untergründige Boshaftigkeit verloren; die heimliche Laszivität der weiblichen Gestalten wird fast ganz ausgeblendet (das zweideutige „maint détail“ wird ausgelassen) sowie die Dummheit der Person im „etwas faden“ Glanz des Auges (für „l’éclat un peu niais de l’œil“) weniger deutlich ausgedrückt als in „niais“ (schlicht, albern, dumm). Die lässigen „blonde en somme“ (mehr oder weniger blonde, sozusagen blond) und „D’ailleurs“ werden durch das „also“ kaum bzw. gar nicht übersetzt. Das „grasse“ wird in „voll fleischrot“ gemildert, das sarkastische Oxymoron „grasse et divine“ entfällt. Der Zusammenhang von Verlaines ironischer und durchaus ungalanter NuancenSophistik wird durch Georges Nebenordnung des Schlussverses beeinträchtigt: Der „fleischige“ Mund ist bei Verlaine immerhin noch „feiner“ als das Schönheitspflaster, welches aber wiederum den stumpfen Glanz der Augen doch zu heben vermag! Man findet in Georges Werk in der Tat keine verächtliche Beschreibung des anderen als Person, besonders nicht der weiblichen. Les Ingénus Les hauts talons luttaient avec les longues jupes, En sorte que, selon le terrain et le vent, Parfois luisaient des bas de jambes, trop souvent Interceptés ! – et nous aimions ce jeu de dupes.

    730 

     Ludwig Lehnen

    Parfois aussi le dard d’un insecte jaloux Inquiétait le col des belles sous les branches, Et c’étaient des éclairs soudains de nuques blanches, Et ce régal comblait nos jeunes yeux de fous. Le soir tombait, un soir équivoque d’automne : Les belles, se pendant rêveuses à nos bras, Dirent alors des mots si spécieux, tout bas, Que notre âme depuis ce temps tremble et s’étonne. (Verlaine, S. 103)

    Die Kindlichen Die hohen fersen kämpften und die langen kleider · Und je nachdem es boden oder wind gefiel Erglänzten manchmal beine – aufgefangen leider Zu häufig – und wir liebten dieses torenspiel. Und störte eines neidischen insektes stich Den hals der schönen manchmal unter einem busche · So spähten wir ob glanz auf weissen gliedern husche Und unser närrisches vergnügen mehrte sich. Verfänglich war ein spätjahr-abend angebrochen. Die schönen hingen träumerisch an unserm arm Und sagten worte so verdächtig ohne harm Dass unsre herzen seit der zeit verwundert pochen. (SW XVI, 13)

    Die „hohen fersen“ für hohe Absätze und „aufgefangen[en]“ Beine sind nicht unmittelbar verständlich und belegen, dass unmittelbare Verständlichkeit nicht Georges hauptsächliches Anliegen war. Keineswegs blendet George aus vermeintlicher Prüderie das Spiel der erotischen Reize, das dem Gedicht zentral ist und es zu übersetzen den Ausschlag gegeben haben wird, aus, doch wird auch hier die leichte Perfidie oder Lüsternheit der weiblichen Gestalten abgemildert, wenn er im vorletzten Vers „spécieux“, das die Idee der Falschheit beinhaltet, mit „verdächtig ohne harm“ übersetzt. Zwar gibt „verdächtig“ durchaus den Sinn von Falschheit wieder, aber für den wohl durch den Reim bedingten Zusatz „ohne harm“, d.  h. ‚harmlos‘, gibt es im Original kein Äquivalent. Es ersetzt „tout bas“, das nicht nur „ganz leise“ sprechen bedeutet, sondern auch die Konnotation des ‚Niedrigen‘ beinhaltet. Die Übersetzung verwandelt „spécieux“ dadurch fast in sein Gegenteil, als seien die Schönen selbst die „Kindlichen“. Die klare Gegenüberstellung der perfiden Frauen und der kindlichen jungen Männer verwischt sich zusätzlich dadurch, dass „tremble“ (zittert) durch „pochen“ übersetzt wird, also das Beängstigende und Verunsichernde (die Gefährdung der Unschuld) dem Verb genommen wird und eher als unschuldige Liebes­

    Verlaine-Übertragungen 

     731

    erregung (pochendes Herz) verstanden werden könnte. Der „spätjahr-abend“ ist zwar „verfänglich“, aber in Georges Übersetzung genauso wenig ‚zweideutig/zwielichtig‘ („équivoque“) wie die Schönen. Dies sind natürlich nur geringfügige Nuancen, die man entweder als Konsequenz des Reimzwanges oder als einen persönlichen Vorzug Georges für das Kindliche bzw. seine Abneigung, negative Charaktere in Gedichten zu zeichnen, interpretieren kann. L’Amour par terre Le vent de l’autre nuit a jeté bas l’Amour Qui, dans le coin le plus mystérieux du parc, Souriait en bandant malignement son arc, Et dont l’aspect nous fit tant songer tout un jour ! Le vent de l’autre nuit l’a jeté bas ! Le marbre Au souffle du matin tournoie, épars. C’est triste De voir le piédestal, où le nom de l’artiste Se lit péniblement parmi l’ombre d’un arbre, Oh ! c’est triste de voir debout le piédestal Tout seul ! Et des pensers mélancoliques vont Et viennent dans mon rêve où le chagrin profond Évoque un avenir solitaire et fatal. Oh ! c’est triste ! – Et toi-même, est-ce pas ! es touchée D’un si dolent tableau, bien que ton œil frivole S’amuse au papillon de pourpre et d’or qui vole Au-dessus des débris dont l’allée est jonchée. (Verlaine, S. 120) Amor auf der Erde Der nachtwind warf den liebesgott herab Der in des parks geheimstem winkel stand Und boshaft spielte mit des bogens band Und der uns einst so viel zu denken gab – Der nachtwind jagte ihn herab · es streichen Die morgenwinde drüber hin · o trauer! Den sockel anzusehn wo der erbauer Geschrieben steht in halbverwischten zeichen. O trauer! wie der sockel nun verwaist Für sich! Ein düsterer gedanke kam Und ging in meinem sinn wo tiefer gram In eine zukunft schlimm und einsam weist.

    732 

     Ludwig Lehnen

    O trauer! dich sogar schien zu bekümmern Das trübe bild wenn du auch keck und heiter Dem gold- und purpurfalter folgst der weiter Sich tummelt über den zerstreuten trümmern. (SW XVI, 15)

    Bewundernswert ist die Meisterschaft in der Wiedergabe des Reimschemas (einzig „band“ im dritten Vers klingt etwas nach Behelf), der syntaktischen Verteilung, die Einhaltung des Metrums sowie die Einheitlichkeit des Tones. Die oben festgestellte Abschwächung, wenn nicht Ausblendung, des ‚frivolen‘ Charakters des weiblichen Gegenübers bei Verlaine lässt sich ebenfalls hier, bei der Übersetzung des Wortes „frivole“ selbst durch „keck und heiter“, bestätigen. Der Dichter sieht im Anblick des in Scherben liegenden Amor, der einst Gegenstand des Zwiegespräches der Liebenden war, eine Voraussage seiner schicksalsmäßig einsamen Zukunft. Das ‚frivole Auge‘ der Partnerin erfreut sich jedoch an der Buntheit des vorbeifliegenden Schmetterlings, obwohl daran erinnert werden muss, dass die kontextabhängige Konnotation von ‚anstößig, zweideutig‘ im französischen Wort ‚frivole‘ (leichtfertig, oberflächlich) weniger im Vordergrund steht als im deutschen ‚frivol‘. Natürlich kann man denken, dass die Frivolität der Person ausreichend durch das Bild des Falters (Motiv der femme volage) und traditionell genug4 ausgedrückt wird und der Verzicht auf die Explizierung durch das Wort „frivole“ der Aussage keinen Abbruch tut. Im Gegenteil gewinnt das Gedicht durch die Tilgung des überflüssig expliziten Wortes und durch die Reduzierung auf das Bild an Bedeutungsreichtum und Feinheit, durchaus im Sinne Verlaines. Auch kann es sich bei „keck und heiter“ um Folgen des Reims handeln. Dennoch kann man, wie in Der Laubgang und Die Kindlichen, Georges Tendenz, die Frauenperson eindeutig weniger negativ darzustellen, bemerken. Man denke in diesem Zusammenhang an das Gedicht Ich trat vor dich mit einem segensspruche aus dem Jahr der Seele. Das weibliche Gegenüber ist blind für „Die höchste meiner gaben: den demanten“, es fehlt ihr an menschlicher Tiefe, daher fasst sie verständnislos, „kalt und unentschlossen“ nach dem Edelstein (SW IV, 28). Die zarte Schilderung der Dissonanz, das Bewusstsein tragischer Einsamkeit, wird George auch in Verlaines Gedichten geschätzt haben.5 Weibliche Perfidie oder Laszivität sind aber George fremde Motive, die er in seinen Übersetzungen mildert oder in seiner Auswahl, die an Heines Ironie erinnernde Stücke unberücksichtigt lässt, ausscheidet.

    4 Vgl. Alfred de Vigny: Poèmes antiques et modernes. Paris 1837, S. 143: „L’amour d’une femme est semblable à l’enfant / Qui, las de ses jouets, les brise triomphant, / Foule d’un pied volage une rose immobile, / Et suit l’insecte ailé qui fuit sa main.“ 5 Robert Boehringer bestätigt den biografischen Zusammenhang zwischen den Verlaine-Übersetzungen und Georges Verhältnis zu Ida Coblenz und ebenfalls die genetische Verwandtschaft mit den Sängen eines fahrenden Spielmanns. Vgl. RB I, 60  f.

    Antje Hartje

    Übertragungen aus dem Englischen Einleitung Georges Übersetzungen von Dichtern aus dem fremdsprachigen europäischen Ausland umfassen Texte von dreizehn Dichtern aus sechs verschiedenen Sprachen (Englisch, Niederländisch, Französisch, Italienisch, Polnisch, Dänisch). Sie sind in der zweibändigen Sammlung Zeitgenössische Dichter festgehalten, die zunächst 1905 erschien, drei Auflagen erfuhr und schließlich 1929 Teil der Gesamt-Ausgabe wurde.1 Auffallend ist, dass George die Übersetzungen der englischen Dichter im ersten Band versammelte und diesen mit ihnen eröffnete, ihnen also eine prominente Position zuteilwerden ließ. Darüber hinaus erschienen Übertragungen von Rossetti, Swinburne und Dowson in den Blättern für die Kunst.2 Bei der Betrachtung der Übersetzungen Georges aus dem Englischen sind zwei Fragen von Belang. Zum einen: Was wissen wir über die Entscheidungen Georges, die zu der Textauswahl führten, die der Nachwelt nun vorliegt? Also: Weshalb wählte George gerade Rossetti, Swinburne und Dowson für seine Übertragungen aus dem Englischen aus? Und zum anderen: Wie ist die Translationsarbeit Georges zu bewerten? Dies umfasst wiederum Aussagen Georges zum Übersetzen und allgemein die Frage danach, was eine Übersetzung leisten soll und ob es einen Dichter braucht, um Gedichte zu übersetzen. Außerdem, und dies ist vielleicht als der letztendlich wichtigste Teil anzusehen, steht die Frage im Raum, ob Georges Übersetzungen gute Übersetzungen sind und woran man eine Antwort auf diese Frage, sofern überhaupt möglich, festmachen kann.

    1 Zu den wichtigsten Details der Entstehung und Überlieferung der Zeitgenössischen Dichter siehe den Beitrag von Jutta Schloon im George-Handbuch (GHb I, 269–290). Abgesehen von den in den Zeitgenössischen Dichtern erschienenen Übersetzungen beinhaltet Georges frühe Fibel zwei Übersetzungen von Felicia Hemans The Child’s First Grief und Percy Bysshe Shelleys Indian Serenade. Beide Übersetzungen behalten den gefühlsselig-romantischen Ton des jeweiligen Originals bei. 2 Swinburne: Eine Ballade vom Traumland in BfdK I, 3, unterschrieben mit G. E., vgl. GHb I, S. 277: Die Übersetzung stammt nicht von George, sondern von Wolfskehls Kommilitonen Georg Edward. Bei Rossetti handelt es sich um Der Liebe Erlösung, Die Spitze des Hugels [sic], Öder Frühling, Weidenwald in BfdK II, 4. Von Swinburne stammt Widmung in BfdK III, 4; dies ist die einzige Übersetzung Swinburnes durch George, vgl. GHb I, S. 277. Von Dowson sind An einen in Bedlam und Seraphita in BfdK IV, 4, zu nennen.

    734 

     Antje Hartje

    Textauswahl Georges Es ist augenfällig, dass George Gedichte von Dichtern auswählte, die Strömungen entstammten, die seiner eigenen Art zu dichten in wesentlichen Punkten nahestanden. Im neu erschienenen Handbuch zu George und seinem Kreis wird Hugo von Hofmannsthal angeführt, der von Georges erstem Eindruck über ihn selbst im Jahr 18913 berichtete, daß ich unter den wenigen in Europa sei (und hier in Österreich der einzige), mit denen er Verbindung zu suchen habe: es handle sich um die Vereinigung derer, welche ahnten, was das Dichterische sei. Wir kamen dann einige Male zusammen: die Namen Verlaine, Baudelaire, Swinburne, Rossetti, Shelley wurden dabei in einer gewissen Weise genannt – man fühlte sich als Verbundene; auch der Name d’Annunzio kam schon vor und natürlich Mallarmé.4

    Ute Oelmann konstatiert, die Wahl Rossettis und Swinburnes sei nicht verwunderlich gewesen, denn um sie hätten sich auch andere deutsche Übersetzer bemüht; Dowson hingegen sei selbst in England nicht sonderlich bekannt gewesen.5 Wenn von Georges Übertragungen aus dem Englischen die Rede ist, so taucht immer wieder der Begriff der Affinität auf, so etwa bei Alexander von Bernus, dem letzten privaten Besitzer von Stift Neuburg in Heidelberg-Ziegelhausen, bei dem Stefan George zeitweise zu Gast war. Er schreibt in seinem Aufsatz Über deutsche Umdichtung englischer Lyrik des 19. Jahrhunderts von 1953: „Umdichten ist etwas sehr Subjektives, und jeder Übersetzer wird die Dichter wählen, zu welchen er Affinität empfindet.“6 Der Dichter Emery George fordert, ein guter Übersetzer solle dem Grundsatz folgen: „I will choose a poet with whom I experience affinity to begin with.“7 Bereits in einer Arbeit zu George aus dem Jahr 1928 liest man: „Und nur weil George, als Moderner, mit diesen Modernen etwas gemeinsam hat, nur deshalb überträgt er.“8 Schließlich beschreiben Paul und McClain die Affinitäten zwischen George und Swinburne; z.  B. was ihre Haltung zum Grundsatz der Kunst für die Kunst,9 ihre gemeinsame Bewun-

    3 Hofmannsthal schreibt – wohl fälschlicherweise – 1892. 4 Brief Hofmannsthals an Walther Brecht vom 20. 2. 1929; in: G/H 235. 5 Ute Oelmann: Anklänge. Stefan George und Ernest Dowson. In: Goethezeit – Zeit für Goethe. Auf den Spuren deutscher Lyriküberlieferung in die Moderne. Hg. v. Konrad Feilchenfeldt u.  a. Tübingen 2003, S. 313–322, hier S. 316. 6 Alexander von Bernus: Über deutsche Umdichtung englischer Lyrik des 19. Jahrhunderts. In: In memoriam Alexander von Bernus. Ausgewählte Prosa aus seinem Werk. Hg. v. Otto Heuschele. Heidelberg 1966, S. 133. 7 Emery George: Translating poetry: Notes on a solitary craft. In: The Kenyon Review 4 (1982), H. 2, S. 33–54, hier S. 50. 8 Felix Wittmer: Stefan George als Übersetzer. Beitrag zur Kunde des modernen Sprachstils. In: The Germanic Review 3 (1928), S. 361–380, hier S. 363. 9 Zu George, Rossetti und Swinburne und ‚Kunst für die Kunst‘ siehe auch Ralph Farrell: Stefan Georges Beziehungen zur englischen Dichtung. Berlin 1937, S. 26.

    

    Übertragungen aus dem Englischen 

     735

    derung für Baudelaire, ihren Willen zur Form und ihre ähnliche Einstellung gegenüber ihrer Leserschaft anbelangt.10 Besonders der letzte Punkt ist aufschlussreich. Es wird hier von Paul und McClain eine Aussage von William Michael Rossetti, dem Literaturkritiker und Bruder des Dichters angeführt, in der er sich über Swinburnes Ansichten zu seinen Lesern äußert, die wiederum sehr an George erinnern: His writings exercise a great fascination over qualified readers, and excite a very real enthusiasm in them: but these readers are not of that wide, popular, indiscriminate class who come to a poet to be moved by the subject-matter, the affectingly told story, the sympathetic interpreting words which, in giving voice to the poet’s own emotion or perception, find utterance also for those of the universal and inarticulate heart. Mr. Swinburne’s readers are of another and more restricted order.11

    Später scheint Georges Interesse an Swinburne  – den er im Übrigen anscheinend nie von Angesicht zu Angesicht kennenlernte –12 nachgelassen zu haben, wie Farrell darlegt. Er bezieht sich dabei auf ein persönliches Gespräch mit Melchior Lechter, in dem dieser berichtete, George habe Swinburnes Stil mit dem abschlägigen Urteil „viele Bilder aber kein Bild“13 beschieden. Als zweiten Gewährsmann zieht Farrell Karl Wolfskehl heran. Dieser habe in einem Brief an Farrell geschrieben: Aus meinen Erinnerungen weiß ich noch, wie sehr und uneingeschränkt Rossetti bewundert wurde, während Swinburne bei hoher Schätzung seines adeligen Dichter-Daseins, seines strömenden Reichtums, und bei allem Respekt vor seiner unnachsichtigen Arbeitsstrenge doch einer bereits verflossenen Epoche europäischer Poesie zugerechnet wurde.14

    Leider datiert Farrell diese beiden Quellen nicht und legt auch sonst keine Nachweise vor. Ihre Echtheit wird jedoch durch einen Brief Georges an Lechter vom 12. Januar 1919 untermauert, in dem es heißt: Das gedicht von Sw. war mir allerdings bekannt · es ist eins der berühmtesten und die von Ihnen abgeschriebenen strofen riefen mir das ganze wieder ins gedächtnis. Dass ich aber heute noch zu einer umformung solcher verse tauge glaub ich kaum. es ist ein wahrer sturzbach von klängen und bildern – ohne als ganzes bildhaft zu sein .. wie mir deucht eher die stufe eines idealen Hofmannsthal (wenns den gäbe!) als die meine ..15

    10 Karen Paul u. William H. McClain: Stefan George’s Swinburne Translations. In: Modern Language Notes 86 (1971), S. 706–714, hier S. 707  ff. 11 William Michael Rossetti: Swinburne’s Poems and Ballads. A Criticism. London 1866, S. 35. 12 Vgl. Ralph Farrell: Stefan Georges Beziehungen zur englischen Dichtung (wie Anm. 9), S. 26. 13 Ebd., S. 27. 14 Ebd., S. 26. 15 Zitiert nach Jutta Schloon: Zeitgenössische Dichter (wie Anm. 1), S. 277.

    736 

     Antje Hartje

    Dagegen habe laut Farrell Rossetti „Georges Interesse ununterbrochen beherrscht.“16 Ernest Dowson ist nicht als Präraffaelit anzusehen, gehörte jedoch einem losen Dichterbund, genannt ‚Rhymers’ Club‘, um William Butler Yeats an. Dieser tat sich Anfang der 1890er Jahre mit zwei symbolistisch geprägten Anthologien hervor und ließ es sich ansonsten bei Lesungen und gemeinsamen Essen im Londoner Pub ‚Cheshire Cheese‘ gut gehen. Anfang 1898 hegte George noch Zweifel an der Bedeutsamkeit Dowsons, was ihn zu der folgenden Aussage in einem Brief an Verwey nötigte: „Hier könnte ich gleich anschliessen was ich oft an dem von ihnen so gerühmten und von mir gewiss auch verehrten E. Dowson vermisse, unübertrefflich im kleinen aber ohne Den Grossen Zug […].“17 Nachdem George Dowson persönlich in London kennengelernt hatte, schrieb er am 16. August 1898 an Verwey: „aber ganz wichtig ist nur eines: mein mehrmaliges zusammentreffen mit E D darin war ich glücklich. als schreiben nur das wenige: sehr seltsam, hochgradig fühlsam, an unnatürlich gedrehte gesichter Aubr. Beardsleys erinnernd und – etwas leben-los!“18 In den Blättern für die Kunst ist George dann 1899 voll des Lobes über Dowson, dessen Übertragungen er ankündigt als „Auszüge aus den ‚VERSES‘ des hervorragendsten unter den jüngeren englischen dichtern, des freundes und kunstgenossen von Aubrey Beardsley“ (BfdK IV, 4, S. 127). Friedrich Wolters nannte Dowson „vielleicht den letzten Dichter des adligen Englands“ (BG 114). Swinburne ist im Dunstkreis der Präraffaeliten anzusiedeln, also einem Zusammenschluss von Künstlern, die in ihrem Text- und Kunstverständnis sowie in ihrer künstlerisch-sozialen Struktur der Auffassung Georges vom richtigen Dichten und von einer Dichtergemeinschaft sehr ähnlich waren, während Rossetti eindeutig dieser Gruppierung zuzuordnen ist. Der Anfang der sogenannten Pre-Raphaelite Brotherhood lag im Jahr 1848 (ihrem Gründungsjahr), gegen Ende des 19. Jahrhunderts löste sich die Vereinigung auf. Sie hatte einen maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung des Symbolismus. Eine direkte Verbindung zum späteren George-Kreis besteht durch William Morris und Melchior Lechter. Wie Martin Roos berichtet, lernten sich George und Morris zwar nie persönlich kennen, George sei aber insofern von Morris’ Ideen beeinflusst gewesen, als Melchior Lechter, sein über einen langen Zeitraum geschätzter Buchillustrator, mit dem ‚Arts and Crafts Movement‘ sympathisierte (vgl. TK  215). Als Dichter scheint Morris von George nicht sonderlich geschätzt worden zu sein, „da George nichts wesentlich Dichterisches an ihm fand.“19 Jedenfalls behauptet dies Ralph Farrell unter Bezug auf

    16 Ralph Farrell: Stefan Georges Beziehungen zur englischen Dichtung (wie Anm. 9), S. 29. 17 Karl Wolfskehl u. Albert Verwey: Wolfskehl und Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897– 1946. Hg. v. Mea Nijland-Verwey. Heidelberg 1968, S. 47  f. 18 Ebd., S. 55  f. 19 Ralph Farrell: Stefan Georges Beziehungen zur englischen Dichtung (wie Anm. 9), S. 23.

    

    Übertragungen aus dem Englischen 

     737

    eine mündliche Mitteilung von Ernst Morwitz. Morris’ sonstige künstlerische Prinzipien hat George wohl anerkannt. Annette Simonis weist auf „Georges Weiterentwicklung von Morris’ Ornamentästhetik“20 hin. Ornamentästhetik drückte sich bei den Präraffaeliten darin aus, dass Kunstwerke jeder Art, also Gemälde, literarische Texte und Gebrauchsgegenstände (die Gruppe setzte sich aus Malern, Dichtern und Designern zusammen) von flächigen ornamentalen Strukturen dominiert waren. Elizabeth Helsinger spricht vom zugrunde liegenden Prinzip einer „rhythmic or patterned repetition“21. Für die innerhalb der Bewegung entstehende Lyrik bedeutete dies „emphasis on material form, patterned texture, and rhythmic repetition in both the labor of composing and the experience of hearing or reading poetry“22. Stefan George, dem Dichter des Teppichs des Lebens und vieler anderer auf die Textur des Textes abzielender Gedichte und dem Verfechter eines rhythmisierten Gedichtvortrags, konnte diese Maxime nur recht sein. Der wesentliche Charakterzug der Präraffaeliten wird in den Blättern für die Kunst bezeichnet als „das gewollte hervortretenlassen gewisser wesentlicher eigentümlichkeiten für beschauer die das genaue sehen verlernt und für die man schon sehr stark auftragen muss um bemerkt zu werden“23. Darüber hinaus praktizierten die Präraffaeliten einiges andere, das George am Herzen lag, sei es die Aufmerksamkeit, die sie der Buchgestaltung schenkten, das laute Vorlesen von Lyrik24 und den Zusammenschluss von Künstlern zu einer Arbeits- und Lebensgemeinschaft. Helsinger sagt dazu: Pre-Raphaelite work was created and sustained by a particular kind of intimacy, a mixing of professional and personal friendships in both the production and the subjects and address of their work, that (though this could easily lead to painful conflicts and broken friendships) at its best provoked extraordinarily nurturing to the artists and attractive to their patrons and readers.25

    Nicht zuletzt widmeten sich die Präraffaeliten der Übersetzungstätigkeit. Rossetti und Swinburne waren beide selber Übersetzer. Translation war für die Künstler eine „modern strategy of renewal for poetry“26. Ezra Pound pries in seinem aus dem Jahr 1929 stammenden Aufsatz How to Read die erneuernde Wirkung der Übersetzungen von Rossetti, Swinburne, Morris und Edward FitzGerald auf die englische Sprache: „English literature lives on translation, it is fed by translation; every new exuberance,

    20 Annette Simonis: Politische Utopie und Ästhetik. Die deutsche William Morris-Rezeption. In: Beiträge zur Rezeption der britischen und irischen Literatur des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Hg. v. Norbert Bachleitner. Amsterdam 2000, S. 171–214, hier S. 175. 21 Elizabeth K. Helsinger: Poetry and the Pre-Raphaelite Arts. Dante Gabriel Rossetti and William Morris. New Haven u. London 2008, S. 4. 22 Ebd., S. 6. 23 BfdK III, 2, S. 34. 24 Vgl. Helsinger: Poetry and the Pre-Raphaelite Arts (wie Anm. 21), S. 9. 25 Ebd., S. 14. 26 Ebd., S. 18.

    738 

     Antje Hartje

    every new heave is stimulated by translation, every allegedly great age is an age of translations“27. Dieses Bild der Translation entspricht demjenigen Georges, der sich von seinen Übertragungen fremdsprachiger Dichtung ins Deutsche eine Erneuerung der deutschen Sprache und Lyrik versprach. Im Vorwort zu den Zeitgenössischen Dichtern heißt es: „In der vorliegenden Sammlung sind eine Anzahl Werke der wichtigsten Geister vereinigt denen man das Wiedererwachen der Dichtung in Europa verdankt“ (SW XV, 5). Schon 1937 glaubte Ralph Farrell in seiner extensiven Abhandlung über George und die englische Dichtung zu erkennen: „Es schwebte George als erreichbares Ideal eine europäische Bildungseinheit vor“28. Farrell berichtet von einem Gespräch mit Albert Verwey, in dem dieser mitteilte, dass nach Georges Meinung „die neue dichterische Bewegung in Europa von Rossetti und Swinburne ausgegangen sei“29. Diese Zuschreibung der Verdienste um eine erneuerte Lyrik ist ein geschickter Schachzug Georges, der dazu gedacht ist, letzten Endes auf ihn selber zu verweisen. Rainer Emig wertet die Wahl der in seinen Augen disparaten Dichter Rossetti (des „Präraffaeliten“), Swinburne (der „Einzelgestalt“) und Dowson (des „Rhymers’ Club-Autor[s]“30) bereits als Georges Strategie der „Homogenisierung“31 und „homogenisierenden Aneignung“32, da die Lyrik dieser Dichter „so zu Manifestationen einer Bewegung rekrutiert [wird], als deren Zentrum sich Deutschland und George implizit stilisieren“33. Nun erscheinen, vor allem nach den Ausführungen Helsingers, die drei Dichter nicht ganz so disparat, wie Emig den Anschein erweckt. Jedoch ist es wahr, dass bei den anglo-irischen Dichtern der Jahrhundertwende keine so stark ausgeprägte Neigung zur Bildung fest strukturierter Schulen oder Bewegungen besteht wie bei französischen oder deutschen Autoren der gleichen Zeit. Es scheint also, dass George als Maßstab für die Auswahl seiner Dichterkollegen für die Übertragungen nicht deren eigene Größe innerhalb des literarischen Feldes

    27 Ezra Pound: How to Read. In: Literary Essays of Ezra Pound. Hg. v. T. S. Eliot. London 1954, S. 15–40, hier S. 34  f. 28 Ralph Farrell: Stefan Georges Beziehungen zur englischen Dichtung (wie Anm. 9), S. 11. 29 Ebd., S. 30. George führt Rossetti in den BfdK mit der Bemerkung ein: „Wir sind erfreut in diesen seiten jezt nicht mehr den grossen englischen meister zu vermissen der sowol in malerei als in dichtung eine neue zeit begann.“ (BfdK II, 4, S. 123) 30 Rainer Emig: Übertragene Dekadenz. Überlegungen zur Rezeption britischer fin de siècle-Literatur bei Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. In: Beiträge zur Rezeption der britischen und irischen Literatur des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Hg. v. Norbert Bachleitner. Amsterdam 2000, S. 317–343, hier S. 323. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 324. 33 Ebd.

    

    Übertragungen aus dem Englischen 

     739

    nahm, sondern ihre Eignung dafür, sein eigenes dichterisches Genie durchscheinen zu lassen und Zeugen für seine Idee einer erneuerten Lyrik zu sein. Bereits 1892 ließ Hofmannsthal dieses Ansinnen der Dichtergruppe um George durchblicken: Ich werde übrigens nächstens versuchen, in Tagesblättern die uns verwandten Erscheinungen fremder Litteraturen (Verlaine, Swinburne, Oscar Wilde, die Praeraphaeliten etc.) zu besprechen, dabei kommt ja ganz naturgemäß eine persönliche Stellungnahme und Andeutung eines auch in Deutschland vorhandenen Programmes heraus.34

    Dementsprechend gilt es im übernächsten Schritt zu untersuchen, ob diese Strategie in Georges Übertragungen aufscheint. Zuerst jedoch muss zumindest umrissen werden, was eine Übersetzung leisten kann und welche Vorstellungen George davon hatte.

    Was heißt übersetzen und was kann eine ­Übersetzung leisten? Wie Xue Siliang darlegt, war innerhalb der Übersetzungswissenschaft in den 1970er Jahren ein Paradigmenwechsel zu verzeichnen, der sich in der Infragestellung des Primats des Ausgangstextes vor dem Zieltext ausdrückte.35 Siliang stellt der konventionellen Translationsauffassung die „zieltextorientierte[] Translationstheorie Vermeers“36 – auch Skopostheorie genannt – gegenüber. Diese erlaubt eine „Funktionsänderung des Zieltextes gegenüber dem Ausgangstext“37. Wir sind nur in der Lage, Georges Translationsarbeit zu bewerten, wenn wir ungefähr einschätzen können, welche Funktion er mit den Übertragungen zu erfüllen vorhatte. Im Vorwort zu den Blättern für die Kunst III, 5 (Oktober 1896) werden die bis dahin in dieser Publikation erschienenen übersetzten Dichter38 vorgestellt als „die hochverehrten helfer und ergänzer damals als unsere einheimischen erzeugnisse an zahl wol noch gering waren“39. Damit ist die Funktion, die die Übertragungen ausfüllen sollen, festgelegt. Die fremdsprachigen Texte wurden nicht um ihrer selbst 34 Brief Hofmannsthals an Klein vom 19. 12. 1892; in: G/H 53. 35 Vgl. Xue Siliang: Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzung klassischer chinesischer Lyrik ins Deutsche. Ein Beitrag zur Übersetzungswissenschaft und zur Übersetzungskritik. Heidelberg 1991 (TextconText Beiheft 4), S. 11. 36 Ebd., S. 21. 37 Ebd. 38 Bis zu diesem Band der BfdK waren Übersetzungen von Texten von Swinburne, Merrill, Rossetti und Ruskin dort veröffentlicht worden. Die Übertragungen aus Dowsons Gedichten folgten erst 1899. 39 BfdK III, 5, Einleitung, S. 131.

    740 

     Antje Hartje

    willen übertragen oder, wie es Rossetti formuliert, „to endow a fresh nation, as far as possible, with one more possession of beauty“40, sondern aus einem eigennützigen Grund. Denn die ‚einheimischen erzeugnisse‘ sind selbstverständlich die im neuen George-Ton geschriebenen Texte, deren Stil George mit Hilfe der Übertragungen als Leitmodell zu etablieren versuchte. Das bedeutete für ihn zunächst, solche Texte als Grundlage auszuwählen, die seinen Vorstellungen schon recht nahe kamen, und als zweiten Schritt, sie so umzufärben, dass zwar noch der englische Dichter durchscheinen konnte, aber der Text letztendlich als Beleg für die Durchsetzungskraft des neuen George-Tons gelten konnte. So sehr George auch von den Präraffaeliten beeinflusst gewesen sein mag, und so sehr er auch Rossetti geschätzt haben dürfte – dessen Satz „The task of the translator (and with all humility be it spoken) is one of some self-denial“41 taugte nicht zu seinem Credo. Nicht umsonst schreibt Gsteiger – speziell im Hinblick auf die französischen Symbolisten –, die fremdsprachigen Dichter seien für George „nicht um ihrer selbst willen, sondern nur im Hinblick auf das eigene Werk, in Funktion zur künstlerischen und menschlichen Selbstverwirklichung, von Belang“42 gewesen. In Übereinstimmung damit heißt es in den Blättern für die Kunst: „vor nichts aber hüteten wir uns mehr als vor einem sinnlosen blossen herübernehmen und brachten nur das was durch die art der übertraguug [sic!] eigenster besitz geworden für unsere sprache unser schrifttum und unser Werk im einzelnen natürlich und zuträglich war“43. Die Prägung auf das eigene Werk hin äußerte sich nicht zuletzt darin, dass George für den Druck der Zeitgenössischen Dichter ganz selbstverständlich die eigens entwickelte StG-Type verwenden ließ, womit er auch auf dieser Ebene den Übersetzungen „den eigenen Stilwillen“44 aufdrückte. Die Arbeiten zu Georges Übersetzungen bewerten dieses Vorgehen mal bewundernd, mal nüchtern-sachlich, aber auch ablehnend, auch abhängig davon, in welcher Zeit der Sekundärtext verfasst wurde. Wittmer z.  B. schreibt 1928, George „schmilzt Fremdes in der Glut seiner Persönlichkeit, reißt es in sich hinein“45. Dem ist zuzustimmen, aber in dem Sinn, dass George sich die fremde Dichtung sozusagen einverleibt. Dies will Wittmer jedoch hier nicht ausdrücken. Definitiv nicht zutreffend ist, was er kurz darauf folgen lässt: George „ringt […] mit dem Geist dieser Dichter, versucht ihrem Geist sich anzupassen, aus ihm heraus deutsche Sprache werden zu

    40 Dante Gabriel Rossetti: The Collected Works of Dante Gabriel Rossetti. Vol. II: Translations, ProseNotices on Fine Art. Hg. v. William M. Rossetti. London 1890, S. xiii. 41 Ebd., S. xiv. 42 Manfred Gsteiger: Französische Symbolisten in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende (1869–1914). Bern u. München 1971, S. 73. 43 BfdK III, 5, Einleitung, S. 131. 44 Fritz Paul: Bild – Dichtung – Übersetzung. J. P. Jacobsens „Michelangelo-Arabeske“ in den Übertragungen Georges und Rilkes. In: Skandinavistik 21 (1991), S. 81–99, hier S. 91. 45 Felix Wittmer: Stefan George als Übersetzer (wie Anm. 8), S. 362.

    

    Übertragungen aus dem Englischen 

     741

    lassen“46. Erstaunlicherweise gibt der Autor nur wenige Seiten später Folgendes zu und unterlegte es auch noch mit Beispielen: „Der fest umrissene George vermag nicht immer ganz seine Persönlichkeit in des Autors Form hineinzuschmelzen.“47 Ebenfalls eher wohlwollend nimmt sich die Arbeit von Olga Marx aus. Sie ist besonders nachsichtig, wenn es um drastische Eingriffe Georges in die Ausgangstexte geht, so etwa bei Swinburnes Fragoletta, von dem George die Strophen 5 und 12 ersatzlos streicht. Hierzu sagt Marx: „Wenn er […] einzelne Worte und aus Fragoletta sogar zwei ganze Strophen fortlässt, so erklärt sich dieses Verfahren dadurch, dass Wiederholungen zu stutzen sind“48. Zwar beruft sie sich hierbei auf eine Forderung Ruskins Swinburne gegenüber, Wiederholungen besser wegzulassen, doch insgesamt schreibt sie George die unangefochtene Position desjenigen zu, der das letztgültige Urteil über die  – man darf annehmen ebenso wie Georges Gedichte wohlkomponierten und durchdachten – Texte anderer Dichter fällen und sie nach Belieben abändern darf. Sie verkennt Georges wahre Absichten, wenn sie sagt: „Wenn George ganze Bilder ändert, so macht er sie für den Deutschen sichtbarer.“49 Es bleibt doch anzuzweifeln, ob George Änderungen als Dienst am Leser betrachtete oder er sich nicht eher den Ausgangstext so zurechtzimmerte, dass er sich leichter in seine homogenisierte Textsammlung einpassen ließ. Wie unterschiedlich Sichtweisen auf die translatorische Arbeit Georges sein können, zeigt die Bewertung seiner Swinburne-Übertragungen. Marx ist überzeugt: Seine Übertragungen geben den Ton, oder wie er es umfassender nennt, den neuen geist der Originale sogar dann wieder, wenn der Inhalt nicht wörtlich genau übermittelt wird. Das trifft besonders für Swinburne zu. Der Leser, der mit dem wiegenden Klingen der Verse dieses Dichters vertraut ist, wird Swinburnes Urheberschaft in der Übertragung ebenso unzweifelhaft wie im Original erkennen.50

    Weitaus kritischer urteilten Paul und McClain: „George’s Swinburne translations are also subjective. As though to indicate that they were not intended as faithful renderings, he himself calls some of them Nachbildungen.“51 Dies trifft den Kern des Problems, das Georges Übersetzungen darstellen. Es darf angenommen werden, dass George mit voller Absicht den Terminus ‚Nachbildungen‘52 benutzte. Das, was er im

    46 Ebd., S. 363. 47 Ebd., S. 371. 48 Olga Marx: Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung. Amsterdam 1967 (CP 77), S. 12. 49 Ebd., S. 11. 50 Ebd., S. 8  f. 51 Karen Paul u. William H. McClain: Stefan George’s Swinburne Translations (wie Anm. 10), S. 713. 52 Dieser Begriff erscheint in den BfdK III, 4 vom August 1896. Dort steht auf S. 123 „Nachbildung von A. Ch. Swinburne’s Widmung“. In den BfdK II, 4 vom Oktober 1894 heißt es dagegen noch auf dem Titelblatt „Übertragungen aus Dante Gabriel Rossetti“ und auf S. 123 „Übertragungen Dante Gabriel Rossetti“.

    742 

     Antje Hartje

    Sinn hatte und was letztendlich das Produkt seiner Bemühungen ergab, waren keine schlichten Übersetzungen, sondern in der Tat Nachbildungen. Da George aber andeutete, welche Funktion er seinen ‚Nachbildungen‘ zugedacht hatte, erscheint sein Unterfangen im Licht der zieltextorientierten Translationstheorie durchweg legitim.

    Interpretationen der Übertragungen von Dowsons Seraphita (SW XV, 44), Rossettis Der Liebe Erlösung (SW XV, 11) und Swinburnes Fragoletta (SW XV, 32–34) Dowson: Seraphita Come not before me now, O visionary face! Me tempest-tost, and borne along life’s passionate sea; Troublous and dark and stormy though my passage be; Not here and now may we commingle or embrace, Lest the loud anguish of the waters should efface The bright illumination of thy memory, Which dominates the night; rest, far away from me, In the serenity of thine abiding-place! But when the storm is highest, and the thunders blare, And sea and sky are riven, O moon of all my night! Stoop down but once in pity of my great despair, And let thine hand, though over late to help, alight But once upon my pale eyes and my drowning hair, Before the great waves conquer in the last vain fight.1 Seraphita Erscheine jezt nicht · traumverlorenes angesicht · Mir windverschlagen auf des lebens wilder see – Sei meine fahrt auch voll von finster sturm und weh: Hier – jezt – vereinen oder küssen wir uns nicht!

    1 Ernest Dowson: The poems of Ernest Dowson. With a memoir by Arthur Symons, four illustrations by Aubrey Beardsley and a portrait by William Rothenstein. London u.  a. 1913, S. 72.

    

    Übertragungen aus dem Englischen 

     743

    Sonst löscht die laute angst der wasser vor der zeit Das helle leuchten · deines angedenkens stern Der durch die nächte herrscht – bleib von mir fern In deines ruhe-ortes heiterkeit! Doch wenn der sturm am höchsten geht und kracht Zerrissen see und himmel · mond in meiner nacht! Dann neige einmal dem verzweifelten dich dar · Lass deine hand (wenn auch zu spät nun) hilfbereit Noch gleiten auf mein fahles aug und sinkend haar · Eh grosse woge siegt im lezten leeren streit! (SW XV, 44)

    Wie Dowsons To One in Bedlam ist auch sein Gedicht Seraphita ein Sonett in der italienischen Form. Das Reimschema bei Dowson ist abba abba cdc dcd. Anders als bei seiner Übersetzung mit dem Titel An einen in Bedlam passt George diesmal sein Reimschema an, es lautet abba cddc eef cfc. Der Ausgangstext besteht aus sechshebigen Jamben, die gelegentlich durch Anapäste unterbrochen werden. Im dritten Vers, wo diese Varianz den Inhalt – eine schwierige, wilde Seefahrt – gewinnbringend unterstreicht, findet man auch bei George einen Anapäst. Sogar die Zäsur in Vers sieben, wo zwei betonte Silben aufeinandertreffen („night“ – „rest“ und „herrscht“ – „bleib“), bleibt George nicht schuldig. Auch diese Übertragung ist gekennzeichnet von abschwächenden Übersetzungen: So streicht er den emotionalen Anruf „O“ und zähmt „passionate“ zu „wild“. „Tempest-tost“ kommt George in seiner Neigung zu Neologismen sehr entgegen; sein „windverschlagen“ ist aber nicht so eindrücklich, was auch daran liegt, dass die Plosive Dowsons in Georges Wort keine Entsprechung finden. Dowson erreicht im dritten Vers einen wesentlich intensiveren Eindruck als George, indem er die Attributreihung an den Anfang des Satzes stellt. George zähmt seinen Vers, indem er ihn mit dem Subjekt beginnen lässt, während er den Rhythmus beibehält. Dowson verstärkt den Effekt zusätzlich durch die Wahl der dunklen Vokale (troublous, dark, stormy), während Georges Vokale beliebig erscheinen (voll von finster sturm und weh). Der vierte Vers bei George gibt nicht den flüssigen Rhythmus in der entsprechenden Zeile bei Dowson wieder, da mit „Hier – jezt“ zwei betonte Silben aufeinander folgen. Die Verse fünf bis acht zeigen deutliche Eingriffe Georges. Zunächst hat „vor der zeit“ keine Entsprechung im Original. Dann spaltet George ‚illumination‘ in zwei Begriffe auf, nämlich in „leuchten“ und „stern“. Gut ist Georges Übersetzung von „loud anguish“ durch „laute angst“; diese Beibehaltung der synästhetischen Formulierung scheut die Wiedergabe der Drastik nicht. Darauf flicht er „heiterkeit“ ein, sodass der Vers eine Wendung nimmt, die das auf neutralere „serenity“ abzielende Original nicht vorsieht. „Abiding-place“ greift George wieder dankbar auf als „ruhe-

    744 

     Antje Hartje

    ort“, wobei gesagt werden muss, dass ‚abiding‘ ‚beständig‘ oder ‚anhaltend‘ bedeutet, also nicht zwingend etwas mit Ruhe zu tun haben muss. Man könnte George unterstellen, in seiner Übertragung harmonisierend auf den Text einwirken zu wollen. So meint es Emig vermutlich, wenn er sagt: In Dowsons tiefsten Pessimismus wird von George die Möglichkeit hineingelesen, doch noch Orientierung zu finden. Wieder wird potentielle Dekadenz, hier die einer Lyrik der absoluten Vergeblichkeit, aufgefangen und umgedichtet zu notwendigem Leiden auf dem möglichen Weg zu einer Existenz, die mehr als nur ‚leere[r] streit‘ ist, nämlich sinnerfüllt.2

    Diese Vermutung wird durch eine Textstelle bestätigt, die im Zusammenhang mit dem Titel des Gedichtes steht. Seraphita (George übernimmt diesen Titel) rührt von den Seraphim her, den menschengleichen Engeln der Bibel. In Jesaja 6, 6–7 wird beschrieben, wie der Prophet Jesaja durch eine glühende Kohle vom Altar, mit der ihn ein Seraph an den Lippen berührt, von seiner Sünde gereinigt wird. Bei George ist das Symbol des göttlichen Kusses in den meisten Phasen seiner Dichtung zu finden. Dabei kommt dem Kuss eine reinigende Funktion zu. So heißt es in einem Gedicht im Siebenten Ring: […] zitternd warmer schein Ist in den lüften und der stete Gesang des engels tönt .. sein mund Auf deinem brennt dich rein[.] (SW VI/VII, 94)

    Gebete I (SW VI/VII, 106) vereint sämtliche Aspekte, die das Bild des göttlichen Kusses beinhaltet: zunächst die Einswerdung mit dem Gott (allerdings in einem streng hierarchischen Gefälle) und die Erweckung zum Leben: Hob die hand nur dass sie flehte Und den mund um deine minne […]

    bzw. Der dies glühen in mir fachte Dass ich ihm mich nur bequeme: Mach mich frei aus starrem lehme!

    2 Rainer Emig: Übertragene Dekadenz. Überlegungen zur Rezeption britischer fin de siècle-Literatur bei Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. In: Beiträge zur Rezeption der britischen und irischen Literatur des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Hg. v. Norbert Bachleitner. Amsterdam 2000, S. 317–343, hier S. 331.

    

    Übertragungen aus dem Englischen 

     745

    dann aber auch das Verzehrende, Reinigende des Kusses: Dir gehör ich: nimm und fodre Dass ich fliesse dass ich lodre Ganz in deiner weissen flamme! (SW VI/VII, 106)

    Osterkamp charakterisiert diese Art von Küssen folgendermaßen: „der Kuß des Gottes spiritualisiert, heilt, heiligt, reinigt alles Leben“3. Dowsons lyrisches Ich wehrt die Berührung des Engels vorläufig4 ab mit den Worten „Not here and now may we commingle or embrace.“ George macht daraus „Hier – jezt – vereinen oder küssen wir uns nicht!“ Damit gleicht er die Begegnung mit dem Engel all den anderen Gelegenheiten an, bei denen der Engel mittels des Kusses seine zerstörerische, aber genau darum heilbringende Kraft entfalten kann. Dowsons Text kann mit „commingle“ und „embrace“ der Dimension, die der Titel zu enthüllen vermag, nicht so gerecht werden wie Georges Übertragung. Also kann Emigs Beobachtung einer Wendung hin zur Sinnerfüllung bestätigt werden. Rossetti: Love’s Redemption O Thou who at Love’s hour ecstatically Unto my lips dost evermore present The body and blood of Love in sacrament; Whom I have neared and felt thy breath to be The inmost incense of his sanctuary; Who without speech hast owned him, and, intent Upon his will, thy life with mine hast blent, And murmured o’er the cup, Remember me!— O what from thee the grace, for me the prize, And what to Love the glory,—when the whole Of the deep stair thou tread’st to the dim shoal And weary water of the place of sighs, And there dost work deliverance, as thine eyes Draw up my prisoned spirit to thy soul!5

    3 Ernst Osterkamp: Die Küsse des Dichters. Versuch über ein Motiv im ‚Siebenten Ring‘. WuW 69–86, hier 83. 4 In Vers 13 wird in beiden Texten doch noch nach der Zuwendung durch den Engel verlangt. Hieraus ergibt sich also kein Unterschied, was eine Wendung ins Positive anbelangt. 5 Poems by Dante Gabriel Rossetti. Copyright edition. With a memoir of the author by Franz Hüffer. Leipzig 1873 (Tauchnitz Edition 1380), S. 190.

    746 

     Antje Hartje

    Der Liebe Erlösung Du flössest meinem munde allzeit ein Der in der liebe stunde fromm entbrennt Der liebe fleisch und blut im sakrament · Ich fühle dir genaht: der odem dein Muss ihres domes tiefster weihrauch sein · Du hast sie stumm empfangen und dir nennt Sie ihren wunsch dass nichts von dir mich trennt Und überm kelche sprachst du: denke mein! O welches glück mir deine huld verleiht Und welchen ruhm der liebe! trittst du vor Den steilen weg zu dem verlassnen tor Zum seufzersee zum ort der traurigkeit Und bist erlöser dort und steigt befreit Mein geist aus banden wenn du winkst empor. (SW XV, 11)

    Bei Rossettis Gedicht handelt es sich um ein Sonett, allerdings nicht, wie man vermuten könnte, in der englischen Sonderform (drei Quartette und ein zweizeiliges sogenanntes heroic couplet), sondern in der italienischen Form, also mit einem Oktett plus einem Sextett (dies entspricht zwei Quartetten und zwei Terzetten). George behält in seiner Übersetzung diese Form grundsätzlich bei, nimmt aber eine optische Absetzung vor, sodass die beiden Quartette und die beiden Terzette sichtbar werden. Das Reimschema abba abba cdd ccd wird von George in der Übersetzung exakt eingehalten. Den fünfhebigen Jambus ahmt George nach, jedoch klingt der Rhythmus bei Rossetti etwas spielerischer dank gelegentlich eingestreuter Anapäste und Daktylen. Der Titel ‚Der Liebe Erlösung‘ entspricht genau dem Titel des Ausgangstexts. Abgesehen von diesen eher getreu beibehaltenen äußerlichen Details gesteht George sich jedoch zu, verändernd einzugreifen, wo er es als notwendig erachtet. Gleich zu Anfang streicht er den Ausruf des lyrischen Ich, „O thou“, und ignoriert das darauf folgende Relativpronomen. Marx’ Deutung, eine solche Maßnahme entspräche „dem deutschen Empfinden, das solche Ausrufe als rhetorische Floskel verwirft“6, hebt zu sehr auf die fragwürdige Idee von einem Stilempfinden ab, das einer bestimmten Nation eigen sei. Außerdem kann man die Übertragung von Swinburnes Gedicht Fragoletta ins Feld führen, die die Ausrufungen des lyrischen Ich zwar nicht in allen, aber zumindest in drei Fällen übernimmt. George war solchen ‚Floskeln‘ also nicht gänzlich abgeneigt. Sicherlich richtig ist Marx’ Beobachtung, George habe „dim shoal“ hin zu „dem verlassnen tor“ verändert, da er „das Bild des Tores als Zugang zu einer

    6 Olga Marx: Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung. Amsterdam 1967 (CP 77), S. 9  f.

    

    Übertragungen aus dem Englischen 

     747

    anderen Lebensstufe besonders schätzte“7, was sie an dem häufigen Erscheinen des Tores in der Dichtung Georges festmacht. Direkt nach dem gestrichenen Anruf verändert George den Kuss zwischen dem lyrischen Ich und dem angesprochenen ‚Du‘. Rossetti bleibt verhalten in der Wahl des Verbs; „present“ bedeutet hier so viel wie ‚darbieten‘, ‚schenken‘. Georges Verb „entbrennt“ ist um einiges mehr auf den Ausdruck leidenschaftlicher Liebe hin ausgelegt. Auch die adverbialen Bestimmungen sind weit voneinander entfernt, was die Intensität anbelangt, diesmal jedoch ist George der Zurückhaltendere. Er wählt „fromm“ für „ecstatically“8 und zeigt damit, dass er gewillt ist, die religiöse Komponente, die bei Rossetti in „The body and blood of Love in sacrament“ anklingt, um ein Vielfaches zu verstärken. Diese Strategie verfolgt er auch in Vers fünf. „Incense“ im Original entspricht exakt dem „weihrauch“, jedoch deutet er „sanctuary“ christlich um, indem er es mit „domes“ übersetzt. Die christliche Konnotation von ‚sanctuary‘ (‚Heiligtum‘, ‚Altarraum‘) ist nur eine von mehreren; es ist zuallererst ein geschützter Ort, an dem man Zuflucht finden kann. Auf diesen Aspekt geht Rainer Emig in besonderer Weise ein. Er schreibt über Georges Übersetzung: „während sie Sinnlichkeit und Exzeß zurücknimmt, interpretiert sie gleichzeitig die Botschaft des Originals verengend hin auf etablierte christliche Wertigkeiten“9. Einen Wechsel der Perspektive nimmt George im siebten Vers vor. Während es im Ausgangstext heißt: „thy life with mine hast blent“ (‚blend‘ heißt ‚vermischen‘, ‚verschmelzen‘), also aktives Zusammengehen beschrieben wird, legt die Übersetzung ihr Augenmerk nicht aufs Verbinden, sondern aufs Nicht-Getrenntwerden: „dass nichts von dir mich trennt“. In der Folge fehlt bei Rossetti das Verb, das George also hinzuerfindet („verleiht“). Seine Substantive „glück“ und „huld“ entsprechen dabei nicht 7 Ebd., S. 10. 8 Marx fällt ebenfalls auf, dass die Bestrebung Georges dahin geht, „sinnliche Ausbrüche zu mildern“ (ebd., S. 10.). Sie erklärt dies unbefriedigend knapp und ausweichend mit dem Fehlen einer „zeitbedingte[n] Ethik“ (ebd.) in einer von ihr festgelegten zweiten Schaffensperiode Georges. 9 Rainer Emig: Übertragene Dekadenz (wie Anm. 2), S. 326. Auch wenn Emig in dem angeführten Punkt zuzustimmen ist, so sind Art und Weise, wie er dahin gelangt und sein sonstiger Umgang mit Georges Übertragung eher befremdlich. Er unterstellt George die Anwendung einer Strategie, die sich dadurch äußere, dass George schon den Titel von Love’s Testament in Der Liebe Erlösung ändere. Es scheint ihm nicht bekannt zu sein, dass Rossettis Text in zwei Versionen veröffentlicht wurde, die sich nicht zuletzt im Titel unterscheiden. George lag die 1873 erschienene sogenannte Tauchnitz-Edition der Gedichte Rossettis vor. Dies wird von Ute Oelmann (SW XV, 116) und Jutta Schloon (GHb I, S. 276) bestätigt. In dieser Edition heißt das Gedicht Love’s Redemption und weicht auch sonst in einigen Teilen von der von Emig offenbar benutzten Vorlage ab. Wenn Emig also George vorwirft, sein Vers „der liebe fleisch und blut im sakrament“ entbehre eines Äquivalents bei Rossetti, so ist dies schlicht falsch, denn in der Tauchnitz-Edition heißt es „The body and blood of Love in sacrament“. Aufgrund dieser irrigen Annahme dann Georges Übertragung der Schizophrenie zu bezichtigen, spricht für sich. Ähnlich unrecht tut er George mit Bezug auf Vers 8, da er hier wiederum die Variante außer Acht lässt. Zudem fehlt im Abdruck des Rossetti-Textes auf S. 325 ein kompletter Vers, und zwar ausgerechnet „Clothed with his fire […]“, auf den er sich später bezieht.

    748 

     Antje Hartje

    hundertprozentig den englischen „grace“ und „prize“, während die beiden Texte bei „glory“ und „ruhm“ wieder zusammenfinden. Bemerkenswert ist Georges zwölfter Vers, in dem er dem überaus geheimnisvollen „weary water of the place of sighs“ mit „Zum seufzersee zum ort der traurigkeit“ im Tonfall mehr als gerecht wird, wobei er die Attributierung vertauscht. Bei Rossetti gehören Wasser und Müdigkeit bzw. Erschöpfung (‚weary‘ heißt nicht eigentlich ‚traurig‘, sondern ‚müde‘, ‚erschöpft‘) sowie Ort und Seufzer zusammen. George dagegen vereint Wasser und Seufzer sowie Ort und Traurigkeit. Gegen Ende nimmt er, wie so manches Mal, eine Änderung von Subjekt und Objekt vor, sodass aus „thine eyes / Draw up my prisoned spirit to thy soul“ die Verse „und steigt befreit / Mein geist aus banden wenn du winkst empor“ werden. Damit verleiht er dem Geist gewissermaßen eigene Entscheidungsmacht und stärkt seine Position, zumal die bei Rossetti aktiv handelnde Seele gar nicht mehr vorkommt. Übereinstimmung herrscht darin, dass in beiden Gedichten der religiöse Rahmen in „there dost work deliverance“ und „Und bist erlöser dort“ zum Schluss gewahrt bleibt und so der Gesamteindruck transportiert wird, dass die Liebe zwischen lyrischem Ich und geliebter Person als eine heilige, erlösende Kraft gelten kann. Somit kann in Bezug auf den bei beiden Dichtern zunächst zweideutig erscheinenden Titel einer der beiden Bedeutungen der Vorzug gegeben werden, und zwar ‚Erlösung durch Liebe‘ eher als ‚Die Liebe, der Erlösung zuteil wird‘. Swinburne: Fragoletta

    Fragoletta

    O Love! what shall be said of thee? The son of grief begot by joy? Being sightless, wilt thou see? Being sexless, wilt thou be Maiden or boy?

    Wie · Liebe · soll man dich verstehn? Der freude sohn gezeugt durchs leid! Willst du gesichtlos sehn? Willst du geschlechtlos gehn Als knab oder maid?

    I dreamed of strange lips yesterday And cheeks wherein the ambiguous blood Was like a rose’s—yea, A rose’s when it lay Within the bud.

    Von lippen seltsam träumt ich da · Von wangen wo zweideutig blut Gleich einer rose sah · Gleich einer rose – ja – Die knospend ruht.

    What fields have bred thee, or what groves Concealed thee, O mysterious flower, O double rose of Love’s, With leaves that lure the doves From bud to bower?

    Welch land erzog dich? welches moos Verbarg dich blume wundersam? O liebes-doppelros – Lockst tauben mit gekos Zu blum und stamm!

    I dare not kiss it, lest my lip Press harder than an indrawn breath, And all the sweet life slip Forth, and the sweet leaves drip, Bloodlike, in death.

    Ich mag nicht küssen dass mein mund Nicht härter als ein hauch dir droht · Dein süsses leben wund · Dein süsses laub zu grund Fällt blutig tot.

    

    Übertragungen aus dem Englischen 

     749

    O sole desire of my delight! O sole desire of my desire! Mine eyelids and eyesight Feed on thee day and night Like lips of fire.

    […]

    Lean back thy throat of carven pearl, Let thy mouth murmur like the dove’s; Say, Venus hath no girl, No front of female curl, Among her Loves.

    Zeig deinen hals wie glanz der firnen Und deiner lippen taubenpaar! Sag: Venus hat nicht dirnen Nicht frauenlockenstirnen In ihrer schar.

    Thy sweet low bosom, thy close hair, Thy strait soft flanks and slenderer feet, Thy virginal strange air, Are these not over fair For Love to greet?

    Süss flache brust · haupt dichtgehaart · Sanft grade hüfte · schlanker fuss · Jungfräulich fremde art – Sind sie nicht allzu zart Zum liebesgruss?

    How should he greet thee? what new name, Fit to move all men’s hearts, could move Thee, deaf to love or shame, Love’s sister, by the same Mother as Love?

    Wie grüsst man dich? welch neuer nam – Der alle rührte – rührt dich weib · Dich taub für liebe und scham · Die Liebes-schwester kam Aus gleichem leib?

    Ah sweet, the maiden’s mouth is cold, Her breast-blossoms are simply red, Her hair mere brown or gold, Fold over simple fold Binding her head.

    O lieb · des mädchens mund ist kalt Und einfach rot ihr busen spriesst · Ihr haar ist gold und smalt Das immer gleicherfalt Ihr haupt umschliesst.

    Thy mouth is made of fire and wine, Thy barren bosom takes my kiss And turns my soul to thine And turns thy lip to mine, And mine it is.

    Doch ist dein mund voll feuers und weins – Ich küsse deine brache brust … So lehnt mein herz an deins · So lehnt dein haupt an meins Zu meiner lust!

    Thou hast a serpent in thine hair, In all the curls that close and cling; And ah, thy breast-flower! Ah love, thy mouth too fair To kiss and sting!

    Die schlange sizt in deinem haar · In aller locken welle und strich Und deines busens blume gar! Dein mund zu hold fürwahr Für kuss und stich …

    Cleave to me, love me, kiss mine eyes, Satiate thy lips with loving me; Nay, for thou shalt not rise; Lie still as Love that dies For love of thee.

    […]

    750 

     Antje Hartje

    Mine arms are close about thine head, My lips are fervent on thy face, And where my kiss hath fed Thy flower-like blood leaps red To the kissed place. O bitterness of things too sweet! O broken singing of the dove! Love’s wings are over fleet, And like the panther’s feet The feet of Love.10

    Mein arm umhüllt dein antlitz gut · Mein mund brennt auf dir wie ein strahl · Und wo mein kuss geruht Springt blumengleich dein blut Zum kusses-mal. Gift das in solcher süsse schleicht! O sterbensmüder taubengruss! Ihr flügel ist zu leicht Und dem des panthers gleicht Der liebe fuss. (SW XV, 32–34)

    In dieser Übersetzung wird Georges Anspruch deutlich, in der Übertragung eines Ausgangstexts stark verändernd eingreifen zu dürfen, wo er es für nötig hält. Zunächst einmal jedoch ist festzuhalten, dass er das Reimschema beibehält (abaab, cdccd usw.) und auch Swinburnes Variationen, wie etwa in den Strophen zwölf bis vierzehn (vavva, rwrrw, npnnp), in den letzten beiden Strophen der Übersetzung nachzuahmen sucht. Die einzige Strophe, die bei Swinburne reimtechnisch aus dem Rahmen fällt, da sie eine Waise enthält (Strophe 11; mufmu), spiegelt die Übersetzung nicht wider, ebenso wenig wie die beiden eye-rhymes in den Strophen drei („groves“ – „doves“) und  acht („move“  – „Love“). Die fast ausschließlich männlichen Kadenzen behält George bei, was kein einfaches Unterfangen darstellt, da die Anzahl einsilbiger Wörter im Englischen wesentlich größer ist. Auf das Problem der einsilbigen Reimworte weisen Farrell und besonders von Bernus hin.11 Der Rhythmus ist bei Swinburne und George gleichermaßen überwiegend jambisch. Der wichtigste Eingriff Georges besteht darin, dass er den Ausgangstext um ganze zwei Strophen kürzt, was seiner Neigung zur Verdichtung entspricht. Die Strophen fünf und zwölf fehlen. Olga Marx rechtfertigt dieses Vorgehen, indem sie sagt: „Andere Auslassungen bedeuten Tilgung von allem, was als Wiederholung stören könnte, ein Verfahren, das in Swinburnes Fragoletta im Fortlassen von zwei ganzen Strophen gipfelt.“12 Sie spricht auch davon, „dass Wiederholungen zu stutzen sind“13, und beruft sich dabei auf eine entsprechende Empfehlung Ruskins an Swinburne.14 Befremdlich an dieser Aussage wirkt, dass sie anscheinend Kürzungen zum 10 Der Ausgangstext findet sich in: The poems of Algernon Charles Swinburne in six volumes. Vol. III: Poems and ballads, second and third series and Songs of the springtides. London 1912, S. 82–84. 11 Ralph Farrell: Stefan Georges Beziehungen zur englischen Dichtung. Berlin 1937, S. 184, und Alexander von Bernus: Über deutsche Umdichtung englischer Lyrik des 19. Jahrhunderts. In: In memoriam Alexander von Bernus. Ausgewählte Prosa aus seinem Werk. Hg. v. Otto Heuschele. Heidelberg 1966, S. 101, 108 u. 115. 12 Olga Marx: Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung (wie Anm. 6), S. 10. 13 Ebd., S. 12. 14 Ebd.

    

    Übertragungen aus dem Englischen 

     751

    Dogma für alle Arten von Übersetzungen erheben will und damit die Betrachtung des Einzelfalls ungerechtfertigterweise verlässt. Farrell ist bei der Beurteilung der Kürzung zurückhaltender; über die zwölfte Strophe sagt er, „über die Gründe, die George zur Auslassung […] veranlaßten, läßt sich nichts aussagen“15. Was die fünfte Strophe anbelangt, so vermutet er – und hierin erscheint er aufrichtiger als Marx –, dass sie „für den Übersetzer Klangschwierigkeiten aufkommen“16 ließ. Die zahlreichen Anrufungen des lyrischen Ich an die Liebe trägt die Übersetzung weitgehend mit, ebenso wie die häufig verwendete Frageform. Eine wichtige Ausnahme hiervon erfolgt gleich zu Beginn, wenn George Swinburnes vorsichtige Frage nach der Identität der Liebe nicht wie dieser in der Schwebe lässt, sondern beantwortet: „Der freude sohn gezeugt durchs leid!“ Hier legt sich die Übersetzung eindeutig fest, wie die Liebe zu verstehen sei, was zusätzlich dadurch verstärkt wird, dass George die Satzglieder über Kreuz vertauscht, sodass aus „The son of grief begot by joy?“ „Der freude sohn gezeugt durchs leid!“ wird. Ute Oelmann schreibt hierzu in den Anmerkungen, dass damit „statt weiblichem ‚Gebären‘ männliches ‚Zeugen‘ betont“ (SW XV, 136) werde. Dies ist insofern nicht ganz richtig, als das Verb ‚beget‘ den Zeugungsakt aus männlicher Sicht betont. Also behält George die männliche Perspektive bei, stellt aber die Liebe insgesamt positiver dar, da sie von der Freude geboren wird und nicht von der Trauer, was letztlich schwerer wiegen dürfte. Die erste Strophe weist eine weitere Abweichung auf, die zeigt, dass Georges Perspektive gelegentlich anders ist als die des Originals. Aus dem von der angerufenen Liebe aus gesehen nach außen, auf die Welt gerichteten „sightless“ wird hier „gesichtlos“, also eine Eigenschaft, die dem Außenstehenden an der Liebe auffallen muss. Außerdem wird hier das kleinere Auge generalisiert und auf das Gesicht ausgedehnt. Genau umgekehrt liegt der Fall in der dritten Strophe: wenn Swinburne von „groves“ spricht, also Wäldchen oder Hainen, wählt George das kleine, im Gegensatz dazu unbedeutend erscheinende „moos“. Technisch-formal ist George auf größtmögliche Annäherung aus, was allein an dem Versuch ersichtlich wird, etwa den Effekt einer Alliteration Swinburnes („bud – bower“) am Leben zu erhalten, indem er dafür auf eine Assonanz („blum und stamm“) zurückgreift. Die Verse 21 und 22 von Georges Übersetzung weichen semantisch jedoch stark vom Ausgangstext ab. Während Swinburne sich mit dem einfachen Bild „throat of carven pearl“ begnügt, erweitert George es zu dem Vergleich „hals wie glanz der firnen“. Auch Swinburnes Vergleich in der darauf folgenden Zeile („Let thy mouth murmur like the dove’s“) wird von George zu einer Metapher verdichtet: „Und deiner lippen taubenpaar!“

    15 Ralph Farrell: Stefan Georges Beziehungen zur englischen Dichtung (wie Anm. 11), S. 192. 16 Ebd.

    752 

     Antje Hartje

    Verdichtung ist auch im Spiel, wenn „front of female curl“ zu „frauenlockenstirnen“ wird. Verdichtung drückt sich bei George häufig in der Verwendung von Neologismen aus. Vers 39 weist einen weiteren Neologismus auf, „gleicherfalt“, das das im Grunde recht gut verständliche „Fold over simple fold“ bei Swinburne geheimnisvoller macht und dadurch in gewisser Weise aufwertet. Eine weitere eigenmächtige Änderung erlaubt sich George nämlich in der Umdeutung des „hair mere brown or gold“ zu „Ihr haar ist gold und smalt“. Hierzu sagt Ute Oelmann in der Anmerkung: „George verwendet den Namen eines intensiv blauen Pigments, das vor allem in der Ölmalerei des 16. Und 17. Jahrhunderts Verwendung fand.“ (Ebd.) Aus der realitätsgetreuen braunen Haarfarbe wird also blaue, es drängt sich der Verdacht auf, dass George aus Gründen der ästhetischen Verfeinerung die exotischere Farbgebung wählt, um der Profanität einer gewöhnlichen Haarfarbe zu entgehen. Insofern mag Marx Recht haben, wenn sie sagt: „Smalt, eine blaue von den Griechen zur Darstellung von dunklem Haar verwendete Farbe […], zaubert vors innere Auge eine gewisse Anmut.“17 Für Farrell dagegen ist ‚smalt‘ „eine unangenehme Erfindung“18. An reimtechnische Beweggründe zu denken, mag hier bei allem gebotenen Respekt für die Ausdrucksfertigkeit Georges ebenfalls erlaubt sein, auch wenn Marx einen solchen vergleichsweise profanen Grund abweist.19 Vers 42 weist bei George eine Vertauschung von Subjekt und Objekt im Gegensatz zum Original auf. Während es bei Swinburne heißt: „Thy barren bosom takes my kiss“, wird daraus „Ich küsse deine brache brust“. Zwar ungewöhnlich, aber gut gewählt von George ist im Übrigen ‚brach‘, das den vielfältigen Konnotationen des Attributs ‚barren‘ (unfruchtbar, steril, karg, öde, nutzlos, unergiebig) gerecht wird. Diese subtile Abwertung des Weiblichen könnte in Zusammenhang stehen mit Vers 23 (Vers 28 bei Swinburne), wo George mittels „dirnen“ den Aspekt der verderbten Frau ins Spiel bringt. Bei Swinburne sucht man einen solchen Unterton vergeblich. Diese Tatsache mag auf Georges schwieriges Frauenbild hinweisen. Ähnlich gelagert ist die zweifelhafte Einfügung von „weib“ in Strophe sieben: Hier findet sich bei Swinburne in der entsprechenden Strophe acht kein Anhaltspunkt dafür, dass die Anrede gerade auf eine solche Betonung des Weiblichen abzielen müsste. Einen freien Umgang mit dem Ausgangstext erlaubt George sich auch bei der zuvor begonnenen Vertauschung von Subjekt und Objekt von „soul“ zu „herz“ sowie „lip“ zu „Haupt“. Dadurch erhalten die beiden Verse eine Verschiebung von der Dichotomie Seele – Körper hin zu Seele – Geist.

    17 Olga Marx: Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung (wie Anm. 6), S. 11. 18 Ralph Farrell: Stefan Georges Beziehungen zur englischen Dichtung (wie Anm. 11), S. 198. 19 Olga Marx: Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung (wie Anm. 6), S. 11.

    Angela Beuerle

    Übertragungen aus den skandinavischen Sprachen Mit skandinavischer Literatur beschäftigte sich Stefan George in seiner Jugend und frühen Erwachsenenzeit, in den späteren Jahren seines Lebens ist kein Interesse mehr für Schriftsteller Nordeuropas dokumentiert. Übersetzungen finden sich zu Werken zweier skandinavischer Autoren: Henrik Ibsen und Jens Peter Jacobsen.

    Ibsen Wie viele seiner Zeitgenossen begeisterte sich auch George in den 1880er Jahren für die Dramen des Norwegers Henrik Ibsen, der, mit weiteren skandinavischen Autoren des ‚modernen Durchbruchs‘, ganz besonders im deutschsprachigen Raum Beachtung fand.1 Georges Ibsen-Begeisterung fiel in seine Zeit als Gymnasiast in Darmstadt, Karl Wolfskehl beschreibt die Stimmung und den Elan dieser ‚Bewegung‘ in seinem Aufsatz Ibsen-Jugend.2 Bemerkenswert ist, dass George sich nicht mit der deutschsprachigen Ibsen-Lektüre zufriedengab, sondern im Selbststudium Dänisch lernte,3 mehrere Dramen auf diese Weise im Original las, sie im Raab’schen Pen­sio­nat vorstellte und wohl auch zu anderer Gelegenheit aus dem Stegreif zitierte (vgl. TK 55). Es ist davon auszugehen, dass George damals einen Großteil der bis  1888 erschienenen Werke Ibsens kannte,4 schriftlich überliefert sind Übersetzungen aus

    1 Für einen Überblick besonders über die ersten Jahre der deutschsprachigen Ibsen-Rezeption vgl. etwa: Wolfgang Pasche: Skandinavische Dramatik in Deutschland. Björnstjerne Björnson, Henrik Ibsen, August Strindberg auf der deutschen Bühne 1867–1932. Basel u. Stuttgart 1979 (Beiträge zur nordischen Philologie 9), S. 25  ff. u. S. 185–206. 2 Karl Wolfskehl: Ibsen-Jugend. Schülererinnerungen. In: Gesammelte Werke. Hg. v. Margot Ruben u. Claus Victor Bock. Bd. 2: Übertragungen. Prosa. Hamburg 1960, S. 351–355. Vgl. auch H. Werner: Stefan George als Gymnasiast. In: Deutsches Philologenblatt 42 (1934), S. 368  ff. Werner gibt einen Besuch der im Darmstädter Theater aufgeführten Gespenstersonate Ibsens als Ausgangspunkt von Georges Beschäftigung mit Ibsen an. (Die Aufführungen fanden am 12. und 22. 10. 1886 statt, wiederholt am 14. 1. 1887; vgl. TK 647.) 3 Ibsen schrieb auf Dänisch oder aber auf Riksmål, das sich zur Zeit Ibsens hauptsächlich durch seine Schreibweisen und einige Norwegismen vom Dänischen unterschied. (Zur Geschichte und heutigen Situation der norwegischen Sprachen vgl. etwa Kurt Braunmüller: Die skandinavischen Sprachen im Überblick. Zweite Aufl. Tübingen u. Basel 1999, S. 138–214.) Das Lehrbuch, das George benutzte, hat sich erhalten: Den fuldkomne Dansker. Der perfekte Däne. Eine Anleitung in 14 Tagen Dänisch richtig lesen, schreiben und sprechen zu lernen, Berlin u. Leipzig [1886]; vgl. GHb II, 637, Anm. 1. 4 Vgl. Arvid Brodersen: Stefan George und der Norden. In: CP 22 (1973), H. 107–109, S. 129–165, hier

    754 

     Angela Beuerle

    vier Dramen: Catilina (1850), das Erstlingswerk des damals 22-jährigen Ibsen, Hærmændene på Helgeland (1858, Heermannen auf Helgeland bzw. Nordische Heerfahrt), Kjærlighedens Komedie (1862, Komödie der Liebe) und Brand (1866). Auszüge aus dem ersten und zweiten Akt von Catilina5 sowie Ørnulfs Klage6, einem 16-strophigen Gedicht aus dem vierten Teil von Hærmændene på Helgeland, sind im Schlussband der Gesamt-Ausgabe veröffentlicht, ein Lied aus Kjærlighedens Komedie erscheint als Chor aus Ibsens Komödie der Liebe7 in der Fibel, zusammen mit dem Chor der Unsichtbaren aus Ibsens Brand8, einer Passage aus dem fünften Akt von Brand. Darüber hinaus sind Übersetzungen großer Teile von Hærmændene på Helgeland und Catilina handschriftlich im Stefan-George-Archiv überliefert.9 Fragt man nach dem Zustandekommen dieser Auswahl der Ibsen-Übersetzungen, stößt man auf zwei sehr unterschiedliche Aspekte, die gemeinsam als Kriterien angenommen werden können: Alle diese Texte berühren inhaltlich Themen, die für George in dieser Zeit für sein eigenes Selbstverständnis im Verhältnis zu Gesellschaft und Kunst bzw. künstlerischer Berufung von großem Interesse und möglicherweise auch identifikatorischer Natur gewesen sind:10 Catilina, der angesichts einer verfestig­ ten und moralisch verkommenen Gesellschaft als Kopf einer Gruppe von Verschwörern zum Umsturz aufruft. Der Skalde Ørnulf, der sich in der Trauer über den Verlust seiner sieben Söhne auf die Macht der Dichtung besinnt, eine Figur im Übrigen, die im Kontext des Stücks den hohen gesellschaftlichen Rang verdeutlicht, der den Dichtern, den Skalden, in der altnordischen Gesellschaft zukam. Das leichtfüßig-draufgängerische Lied aus Kjærlighedens Komedie, das den Sänger mit dem Adler vergleicht, der, die Möwen zurücklassend, über das Meer des Lebens fliegt, ohne Vernunft alles riskierend, ist ein Gedicht, das George, so Brodersen, „in einem Brief an einen Schulfreund damals als die Devise seines Lebens bezeichnet hat“11. Schließlich die Tragik des aufrechten, fanatischen Gottessuchers Brand, der in seiner Konsequenz nicht nur seine Liebsten opfert, sondern am Ende selbst zugrunde geht. Sein letztliches Scheitern wird Brand von dem von George übersetzten Chor der Unsichtbaren vor Augen gehalten.

    S. 131, der sich im Weiteren ausführlich mit Georges Verhältnis zur nordeuropäischen Literatur beschäftigt. Umgekehrt, zur Rezeption Georges in Skandinavien, vgl. Steffen Steffensen: Stefan George und seine Wirkungen in Skandinavien. In: Nerthus. Nordisch-deutsche Beiträge 2 (1969), S. 52–78. 5 „Entstanden während der Schulzeit, wohl 1887/1888, fertiggestellt vor Mai 1888“ (SW XVIII, 143). 6 „Entstanden nach der Lektüre des Originals in London, Juli 1888“ (ebd., 144). 7 „Entstanden vor Mitte April 1888“ (SW I, 120). 8 „Entstanden vor Mai 1888“ (ebd., S. 119). 9 Die gesamte handschriftliche Überlieferung Georges zu Ibsen wird zur Zeit von Dr. Ute Oelmann, StGA, zur Veröffentlichung im Nachlassband vorbereitet. 10 Entsprechendes legt auch Wolfskehls Schilderung der jugendlichen Ibsen-Lektüre nahe (Karl Wolfskehl: Ibsen-Jugend, wie Anm. 2), Karlauf bezeichnet Ibsen in dieser Zeit als „Idol“ Georges (TK 54  ff.); vgl. schließlich auch Arvid Brodersen: Stefan George und der Norden (wie Anm. 4), S. 132. 11 Ebd., S. 139, ohne nähere Angabe.

    

    Übertragungen aus den skandinavischen Sprachen 

     755

    Sprachlich, und das ist der andere Aspekt, ist (fast) allen diesen sehr unterschiedlichen Ibsen-Texten, mit denen George sich übersetzerisch beschäftigt hat, gemein, dass sie in gebundener Form gehalten sind. Catilina ist im Blankvers geschrieben, Kjærlighedens Komedie und Brand sind beides Versdramen, in denen Ibsen sogar mit Endreim arbeitet. Allein Hærmændene på Helgeland ist in Prosa gehalten, wobei sich Ibsen stark am altnordischen Sagastil orientiert, was u.  a. eine knappe, konzise Sprache mit meist kurzen Sätzen, mit stark markiertem Satzbau und häufigen Alliterationen und Assonanzen bedeutet. Dazwischen gibt es immer wieder Passagen in Versen und Endreim – so auch die Klage Ørnulfs. Betrachtet man nun die Übersetzungen selbst, wird deutlich, dass die sprachlichformalen Aspekte, die Realisierung der Metrik und des Reims für George eine hohe, wenn nicht die höchste Priorität hatten. So ist der Blankvers in den übersetzten Auszügen aus Catilina mit wenigen Ausnahmen realisiert. Auch bei Ørnulfs Klage hat die Übertragung der Metrik eine hohe Priorität, während der Endreim des Gedichts im Deutschen nicht erscheint, ebenso wenig wie die von Ibsen in Anlehnung an die nordische Dichtung häufig verwandten Binnenreime („hendingar“), die sich höchstens unsystematisch, eher zufällig, durch ähnliche Lexik der dänischen und deutschen Sprache in der Übersetzung wiederfinden. Anders die Alliteration, eine Stilfigur, die gewissermaßen als ‚Marker‘ nordischer Dichtung gelten kann und die George vielleicht auch deshalb so häufig realisiert, wenn auch teilweise an anderen Stellen als im Original. Dabei fällt auf, dass es zwischen der metrischen Äquivalenz und der Realisierung der Alliteration und anderer Klangfiguren keine Hierarchie gibt und George, wo diese beiden gestalterischen Merkmale in Konkurrenz treten, von Fall zu Fall unterschiedlich entscheidet. Im Lied aus Kjærlighedens Komedie realisiert George sowohl die Anzahl der Hebungen je Zeile als auch den Endreim aabccb ausgangstextgetreu. Auffallend ist hier vor allen Dingen eine inhaltliche Abweichung, die nicht durch eine eventuell höherstehende formale Äquivalenzrelation begründbar ist: Von der deutlichen subjektiv-persönlichen Aussprache des Originals rückt George den Text teils durch imperativische Partizipialkonstruktion, den Verzicht auf Possessivpronomina oder Passivierung weiter ins Überpersönlich-Allgemeine: Aus „Jeg spiler min Vinge, hejser mit Sejl“12 (Ich spanne meine Flügel aus, hisse mein Segel) wird „Die flügel gespannt! die segel heraus“, aus „Kanhænde jeg sejler min Skude paa Grund“ (Vielleicht segle ich mein Schiff auf den Grund) wird „Vielleicht wird mein schiff vom strudel erfasst“. Die onomatopoetische Alliteration im Original zu Beginn, „Suser som Ørn over Livssjøens Spejl“ (Sause wie Adler über des Lebenssees Spiegel) bildet er hier, anders als in der deutlich altnordisch gefärbten Klage Ørnulfs, nicht nach: „Dem aar gleich des lebens meer ich durchsaus –“.

    12 Zitiert nach Kjærlighedens Komedie. Komedie i tre akter af Henr[ik] Ibsen. Christiania 1862.

    756 

     Angela Beuerle

    Bei dem Chor aus Brand realisiert George den Endreim (Kreuzreim) ausgangstextgetreu, wobei die erste und dritte Zeile der insgesamt drei Strophen – entsprechend „ham“ bei Ibsen –immer auf „Ihm“ bzw. „ihm“ endet. Dabei erfüllt George diese Äquivalenz mehr formal als inhaltlich: während sich „ham“ bei Ibsen jedes Mal auf Gott beziehen lässt, verweist das Pronomen in Georges deutscher Fassung teilweise auch auf andere Bezugswörter. Was die Metrik angeht, finden sich neben einem großen Teil übereinstimmender Verszeilen mitunter leichte Abweichungen. Übererfüllt erscheint in der Übersetzung die Stilfigur der Anapher: Das Wort „niemals“ („aldrig“), das bei Ibsen zu Beginn der ersten (dort wiederholt) und dritten Strophe erscheint, steht bei George außerdem zu Beginn der zweiten Strophe, womit in der Übersetzung anders als im Ausgangstext regelmäßig alle Strophen mit diesem Wort beginnen. Zusammenfassend lässt sich also konstatieren, dass schon in diesen frühen Übersetzungen die Übermittlung der sprachlichen Form eine hohe Priorität für George hatte. Außerdem handelt es sich insgesamt um Übersetzungen mit großer inhaltlicher Nähe zum Ausgangstext. Dass eine Verbindung dieser zwei Aspekte möglich war, liegt sicherlich auch an der nahen Verwandtschaft der beiden Sprachen, den vielen Gemeinsamkeiten in der Lexik und der Grammatik. Zugleich jedoch zeigt sich damit schon in diesen frühen Texten aus Georges Schulzeit sein außergewöhnliches Vermögen, nicht nur im sprachschöpferischen, sondern auch im ‚sprach-nachschöpferischen‘ Bereich. Dies lässt nicht nur auf eine große sprachliche Sensibilität, sondern auch auf einen klaren, unideologischen und sachlich geprägten Blick auf die Vorlagentexte schließen, ein Aspekt, der besonders im zeitlichen Abstand und im Vergleich verschiedener zeitgenössischer Übersetzungen deutlich wird. An dieser Stelle sei hierfür nur ein Beispiel aus Ørnulfs Klage angeführt, bei der sich, in der Gegenüberstellung mit der ersten deutschen Übersetzung von 1876,13 Georges Version um ein vielfaches wortgetreuer und, wohl auch dadurch, sprachlich moderner ausnimmt: Sind, som Sorgen stinger, Savner Brages Glæde; Sorgfuld Skald saa saare Kvides ved at kvæde.

    Sinn den schwermut stachelt Misset Bragas freuden Sorgenvoller sänger Leidet · singt er ein lied.

    Trübt den Sinn der Trauer, Fremd ist ihm die Freude; Traf den Sänger Sorge, Tönt sein Lied vom Leide.

    Skaldeguden skjænked Evne mig at sjunge; Klinge lad min Klage For mit Tab, det tunge!14 (Ibsen)

    Skaldegott schenkte Kraft mir zu singen Klingen lass meine klage Für meinen verlust meinen schweren. (George, SW XVIII, 98)

    Des Gesanges Segen Gab der Gott mir, Brage – Künde meinen Kummer, Klinge drum, o Klage! (Klingenfeld)

    13 Henrik Ibsen: Nordische Heerfahrt. Trauerspiel in vier Akten. Unter Mitwirkung v. Emma Klingenfeld veranstaltete Originalausgabe. München 1876. 14 Zitiert nach: Hærmændene paa Helgeland. Skuespiel i fire Akter af Henr[ik] Ibsen. Christiania 1858.

    

    Übertragungen aus den skandinavischen Sprachen 

     757

    Vor diesem Hintergrund treten Eigenständigkeiten dem Ausgangstext gegenüber besonders deutlich hervor. So gestaltet George auch bei diesen frühen Übersetzungen die Interpunktion grundsätzlich nach eigenen Vorgaben, Übereinstimmungen mit dem Original scheinen weniger systematischer denn zufälliger Natur zu sein. Im Vergleich mit dem Ausgangstext ist dabei meist eine weniger starke Expressivität festzustellen. Weitere inhaltliche Abweichungen im übersetzten Text lassen sich teils auf die Realisierung einer formalen Äquivalenz zurückführen, an anderen Stellen jedoch zeigen sie die eigenständige dichterische Gestaltung Georges, wie etwa an dem Lied aus Kjærlighedens Komedie zu sehen war. Auffällig sind weiterhin Stellen, an denen eine leichte inhaltliche Verschiebung in der Wortwahl den Text lexikalisch in Georges eigene Dichtung einordnet. Schreibt Ibsen in Catilina beispielsweise: „et dristigt mål han havde længst isigte“15, übersetzt George: „Ein kühnes werk hat er schon lang im sinn.“ Sowohl „kühn“ als auch „werk“ als auch „sinn“ gehören zum zentralen Vokabular von Georges dichterischer Sprache,16 wobei zumindest die Wahl „werk“ für „mål“ (wörtlich „Ziel“) und „im Sinn“ für „isigte“ (wörtlich „im Blick“) über eine rein wörtliche Übersetzung hinausgeht. Deutlich wird an diesem Beispiel – weitere ließen sich finden –, dass es George schon bei den Übertragungen der Ibsen-Passagen nicht um rein informative Übersetzungen ging, sondern um einen dichterisch-formenden Akt, ausgehend vom Ausgangstext, der die dabei entstehenden Textstücke zu Teilen seines eigenen Werks werden ließ.

    Jacobsen Mit dem Werk Jens Peter Jacobsens kommt George in Berührung, als er im Sommer 1890 für einige Wochen Kopenhagen besucht. Stanisław Rosżniecki, ein in Dänemark lebender Sprach- und Literaturwissenschaftler polnischer Herkunft, machte ihn dort mit zeitgenössischer skandinavischer Literatur bekannt.17 Jacobsen, 38-jährig an Tuberkulose gestorben, war zu dieser Zeit bereits fünf Jahre tot. Auch Jacobsens Werk erfuhr eine rege und folgemächtige Rezeption im deutschsprachigen Raum, wobei besonders seine Prosa, darunter die Romane Niels Lyhne (1880) und Fru Marie Grubbe. Interieurer fra de syttende århundrede (1876, Frau Marie

    15 Zitiert nach: Catilina. Drama i tre akter af Henrik Ibsen. Anden og gennemarbejdet udgave. København 1875. 16 Vgl. CVB 339  f., 713  f. u. 557  ff. 17 Briefe von Stanisław Rosżniecki an George sind aus den Jahren 1890 bis 1893 bekannt, Oelmann berichtet außerdem von einer im StGA befindlichen, als unzustellbar zurückgesandten Postkarte Stefan Georges an Rosżniecki aus dem Jahr 1895, die Georges Interesse an skandinavischer und slawischer Literatur dokumentiert (vgl. GHb II, 637 u. Anm. 4).

    758 

     Angela Beuerle

    Grubbe. Interieurs aus dem 17. Jahrhundert), große Verbreitung fand.18 Allerdings setzte die deutschsprachige Jacobsen-Rezeption erst ab 1890 mit der Übertragung seiner Prosa-Werke ins Deutsche ein. Anders als bei Ibsen, für den sich George in den 1880er Jahren mit vielen seiner deutschsprachigen Zeitgenossen begeisterte, gehörte George bei dem Werk Jacobsens zu den Pionieren, seine Übersetzungen führten erstmals den Lyriker Jacobsen in den deutschen Sprachraum ein. Insgesamt übertrug George fünf Gedichte Jacobsens, I Seraillets Have (1870), Arabesk til en Haandtegning af Michel Angelo (Kvindeprofil med sænkede Blikke i Ufficierne.) (1874), Irmelin Rose (1875), Marine (1875) und Lad Vaaren komme, mens den vil (ca. 1881). Ob George die Übersetzungen der Gedichte noch in Dänemark, kurz nach seiner Reise dorthin oder aber später vornahm, ist nicht bekannt. Im August 1893 jedenfalls erschienen im 5. Band der I. Folge der Blätter für die Kunst Arabeske zu einer Handzeichnung Michel Angelo’s, Irmelin Rose und See-Stück. Arabeske zu einer Handzeichnung Michelangelos (Frauenprofil mit gesenktem Kopf in den Uffizien)19 und See-Stück wurden zusammen mit Im Garten des Serail und Lass frühling kommen wann er will 190420 in den ersten Band von Zeitgenössische Dichter aufgenommen, während Irmelin Rose erst 1929 im Anhang der Gesamt-Ausgabe wieder erschien. Als „grössten modernen dänischen stylisten“21 führt George Jacobsen in den Blättern ein. Dem stilistisch avancierten, sprachformerischen Vermögen des Dänen gilt sein besonderes Interesse. Die Prioritäten in den Äquivalenzentscheidungen ähneln also denen, die schon bei Georges frühen Ibsen-Übersetzungen zu beobachten waren: Die sprachlich-formalen Elemente, also die ausgangstextnahe Realisierung der klanglich-melodischen Aspekte sowie der syntaktisch-stilistischen Struktur, stehen meist an erster Stelle, noch vor der inhaltlich-semantischen Äquivalenz. Weiterhin verfestigt sich hier die schon bei der Übertragung der Ibsen-Texte zu beobachtende Tendenz, die Übersetzungen u.  a. durch den Gebrauch spezifischer, für

    18 Vgl. dazu auch Bengt Algot Sørensen: J. P. Jacobsen und der Jugendstil. Zur Jacobsen-Rezeption in Deutschland und Österreich. In: Orbis Litterarum 33 (1978), S. 253–279, der der Jacobsen-Rezeption im deutschsprachigen Raum in den 1890er Jahren „den Charakter eines kulturgeschichtlichen Modephänomens“ (S. 253) zuspricht. Vgl. außerdem dens.: Tyskland. In: J. P. Jacobsens Spor i Ord, Billeder og Toner. Hg. v. F[rederik] J[ulius] Billeskov Jansen. København 1985, S. 111–158, sowie Daniel Linke: Ganz nordisch gestimmt … Jens Peter Jacobsens Einfluss auf das Frühwerk Thomas Manns. Marburg 2008, S. 17–47. 19 In SW XV nun mit dieser Schreibung des Titels, wobei die Schreibung des Untertitels zwischen der Überschrift im Text (S. 51) und der Nennung im Anhang (S. 141) variiert. 20 Der erste Band der Zeitgenössischen Dichter erschien im November 1904, auch wenn er, wie der im Januar 1905 erschienene zweite Band, das Erscheinungsjahr 1905 trägt. SW XV, 114. 21 „Diese wenig gekannten gedichte des grössten modernen dänischen stylisten stehen in der von E.  Brandes besorgten auswahl.“ (SW  XV, 103) Offensichtlich verwendete George die Ausgabe von ­Edvard Brandes (J. P. Jacobsen: Samlede Skrifter. 2 Bde. Zweite Aufl. Kjøbenhavn 1893, erste Aufl. 1888) als Grundlage seiner Übersetzung. Hier werden die Jacobsen-Gedichte nach der zweiten Aufl. (1893) zitiert.

    

    Übertragungen aus den skandinavischen Sprachen 

     759

    George bedeutsamer ‚Schlüsselwörter‘ und durch ihre inhaltliche Auswahl in sein eigenes dichterisches Werk zu integrieren. Zugleich wird in der Gegenüberstellung von Georges Ibsen- und Jacobsen-Übertragungen deutlich, wie sehr der Übersetzer George von den späten 1880er Jahren bis in die frühen 1890er Jahre an sprachlicher Sicherheit und Prägnanz gewann. George hatte sich im Zusammenhang mit seiner Ibsen-Lektüre im Selbststudium Dänisch beigebracht und davon profitierte er wohl einige Jahre später bei seinem Kopenhagen-Besuch, der Begegnung mit dänischer Literatur und seiner Beschäftigung mit Jacobsens Dichtung. Es spricht für seine Sprachbegabung und -intuition, dass es ihm möglich war, mit diesem sicherlich nicht sehr ausführlichen Studium der Sprache soweit in sie einzudringen, dass er in der Lage war, ernstzunehmende LyrikÜbersetzungen aus dem Dänischen vorzunehmen. Dennoch ist nicht davon auszugehen, dass er die Sprache perfekt beherrschte. Zugleich jedoch hatte er es beim Dänischen – wie schon bei den Ibsen-Übersetzungen zu sehen war – mit einer Sprache zu tun, die dem Deutschen in Lexik und Syntax so eng verwandt ist, dass sie eine Aneignung ihrer Inhalte auch mit vergleichsweise rudimentären Sprachkenntnissen und eine ausgangstextnahe Übersetzung wesentlich leichter möglich macht, als es beispielsweise bei Übersetzungen aus den romanischen oder slawischen Sprachen der Fall ist. Im Januar 1900 erstellte George eine kleine Sammelhandschrift, das ‚Trostbüchlein‘ für Melchior Lechter, in dem er u.  a. auch die kleine Ballade Irmelin Rose mit aufnahm, das Gedicht, das als einziges seiner Jacobsen-Übertragungen beinahe fünf Jahre später, im 1904/1905 erschienenen ersten Band der Zeitgenössischen Dichter keinen Platz fand. Es ist naheliegend wie Kohlschmidt davon auszugehen, dass dies an Faktur und Inhalt des Gedichts lag,22 unterscheidet sich das keck volkstonhafte Gedicht Irmelin Rose doch tatsächlich deutlich von den übrigen, eher impressionistisch-symbolistisch zu lesenden Texten Jacobsens, die George für seine Übersetzungen ausgewählt hat. Höchste Priorität hat für George bei der Übertragung von Irmelin Rose die rhythmische Äquivalenz, die er beinahe kongenial realisierte.23 So findet sich auch in der 22 Kohlschmidt stellt im Hinblick auf Georges Jacobsen-Auswahl fest: „Da ist zunächst zu bemerken, daß George offenbar das Balladeske überging“ (Werner Kohlschmidt: Georges Jacobsen-Übertragungen. In: Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Hermann Meyer zum 65. Geburtstag. Hg. v. Alexander von Bormann u.  a. Tübingen 1976, S. 576–591, hier S. 581). Dass dies, wie auch der Umgang mit Irmelin Rose zeigt, nicht grundsätzlich der Fall war, sondern einen Prozess in Georges eigener literarischer Entwicklung darstellt, der vermutlich bald nach 1900 eingesetzt hatte, wird auch dadurch deutlich, dass George noch 1898 seine Bereitschaft bekundete, die ebenfalls balladesken Gurresange (Gurre-Lieder) Jacobsens für den österreichischen Komponisten Clemens von Franckenstein zu übersetzen (vgl. GHb II, 638). 23 Selbst der ansonsten überkritische Schoolfield findet in Bezug auf Irmelin Rose „the translator’s skillful rendition […] admirable“ (vgl. George C. Schoolfield: Stefan George’s Translations of Jens Peter Jacobsen. In: Kentucky Foreign Language Quarterly 10 [1963], H. 1, S. 31–40, hier S. 32).

    760 

     Angela Beuerle

    deutschen Fassung der trochäische Vierheber wieder, der im Vierzeiler vor dem Refrain entsprechend dem Ausgangstext kreuzweise wechselnd auf betonte und unbetonte Silben endet. Metrische Abweichungen im Versfuß gibt es allein im Refrain der Strophen, wobei die Zahl der betonten Silben ausgangstextgetreu beibehalten wird. Dem untergeordnet erscheint hier der (kreuzweise) Endreim, den George nur an wenigen Stellen wiedergibt. Zugunsten des Metrums nimmt George vereinzelt Umstellungen vor,24 bleibt jedoch inhaltlich sehr nah am Ausgangstext. Abweichungen geschehen auch hier zugunsten von Metrum und Klang, wie die Übertragung von „slutte Pagt“ ([einen] Bund schließen) mit „hatte in Pacht“ („pacht“ als Reimwort zu „pracht“) oder „Vrænged ad den andens Maal“ (schnitt zu des anderen Sprache ein Gesicht) mit „Fand des andren rede schal“ („schal“ hier als Reimwort zu „stahl“) zeigen (SW XV, 105). Auch bei der Übersetzung von I Seraillets Have / Im Garten des Serail (SW XV, 55) haben die klanglich-rhythmischen Äquivalenzen Priorität, wobei hier die ausgangstextgetreue Realisierung des Endreims an erster Stelle steht. Was das Metrum anbelangt, finden sich die Hebungen bis auf eine Zeile übereinstimmend wieder, wenn auch der Versfuß teils abweicht. Zumindest an einer Stelle ist diese Abweichung bewusst vorgenommen: Zu Beginn der dritten Zeile lässt George das „Og“ („Und“) unübersetzt. Auf diese Weise schafft er in den ersten vier Zeilen ein regelmäßiges Versmaß (vierhebiger Trochäus und zweihebiger Jambus im Wechsel), während Jacobsen die Regelmäßigkeit und den schweren Zeilenbeginn durch das auftaktige „og“ wohl absichtlich umgehen wollte. Inhaltlich weicht George teilweise von Jacobsen ab, wobei nicht immer festzustellen ist, wo dies der Priorität der rhythmisch-klanglichen Äquivalenz geschuldet ist und wo er absichtlich andere Bilder schafft.25 Aus dem „tunge Sølv“ („schweren Silber“) der Quellen wird bei George etwa das ebenfalls auf eine betonte Silbe endende ,schwere Metall‘. In den Zeilen sieben und acht findet sich die – semantisch – größte übersetzerische Hürde des Gedichts, das Spiel mit dem Ausdruck „I Tyrketro“, wörtlich „im Türken-Glauben“, ein Ausdruck, der gerade zur Zeit Jacobsens auch in der Bedeutung von ‚Fatalismus‘, ‚selbstverständlicher Glaube, Gottvertrauen‘ verwendet wurde. George übersetzt „in Türken-vertraun“ – möglich ist, dass er die Doppeldeutigkeit erkannte und mit seiner eigenen Schöpfung die Überlagerung dieser beiden Bedeutungen andeuten wollte.26 Dabei fällt auf, dass er die

    24 Vgl. beispielsweise Jacobsen: „Og med alle Rim og Rytmer / Havde Navnet sluttet Pagt:“ (Z. 10  f., Und mit allen Reimen und Rhythmen / hatte der Name [einen] Bund geschlossen:), George: „Und ihr name hatte jeden / Rhythmus jeden reim in pacht.“ 25 Vgl. etwa schon die erste Zeile, bei der Schoolfield (George C. Schoolfield: Stefan George’s Translations [wie Anm. 23], S. 32  f.) von mangelnden Dänischkenntnissen Georges ausgeht, die ihn den suffigierten bestimmten Artikel bei „Rosen“ als Plural übersetzen lassen, wobei sich bei einer wörtlichen Übersetzung wiederum das Versmaß nicht beibehalten ließe: Jacobsen: „Rosen sænker sit Hoved, tungt“ (Z. 1; Die Rose senkt ihr Haupt, schwer), George: „Rosen senken ihr Haupt so schwer“. 26 Da diese Zeile im Original nicht reimt, ist die Wortwahl nicht durch diesen Parameter bestimmt.

    

    Übertragungen aus den skandinavischen Sprachen 

     761

    Aktivität des zugehörigen Verbs „pege“ (zeigen) schwächt, indem er mit „schauen“ übersetzt.27 Dass dies eine bewusste inhaltliche Entscheidung Georges ist, wird spätestens in den folgenden zwei Zeilen deutlich, in denen er wiederum die Bewegung des Bildes abschwächt: Bei Jacobsen „driver“ (treibt, bewegt sich) der Halbmond „jævnt afsted / Over det jævne Blaa“ (gleichmäßig fort / über das gleichmäßige Blau), bei George „spielt“ er „in das sanfte blau / so sanft hinein“. Auch hier erlangt er im Übrigen durch das „so“ am Zeilenbeginn eine größere rhythmische Regelmäßigkeit, indem nun, anders als bei Jacobsen, die Zeilen sechs bis elf ausnahmslos auftaktig beginnen. Trotz einer insgesamt sehr ausgangstextnahen Übertragung verändert George das Gedicht so durch ein regelmäßigeres Versmaß und eine Verschiebung der poetischen Bilder vom Impressionistisch-Fließenden hin zum Statischen. Die Ersetzung von „Silber“ durch „Metall“ gibt dem Bild eine andere, schwerere Farbe – die den Text zugleich mit Georges eigenem Werk verbindet.28 Auch in dem von George als See-Stück (SW XV, 56) übersetzten Jacobsen-Gedicht Marine steht die Äquivalenz von Reim und Rhythmus an erster Stelle, wobei hier die äquivalente Übertragung der Anzahl der betonten Silben je Zeile noch vor der des Endreims steht, der nicht vollständig entsprechend dem Ausgangstext realisiert wurde bzw. realisierbar war.29 Dass George dem Reimschema dennoch eine hohe Priorität einräumt, ist daran zu sehen, dass er etwa in den – bei Jacobsen gereimten – Zeilen vier bis sechs die Endwörter durch Assonanzen verbindet. Weiter oben übersetzt er inhaltlich ungenau „Øjnenes blinkende Tvillingefyr / Straaler og flyr.“ (Der Augen blinkendes Zwillingsfeuer / Strahlt und fliegt.) als „Der augen blinkendes zwillingslicht  / Strahlend bricht.“30 Auf diese Weise enden zumindest diese beide Zeilen gereimt und mit betonter Silbe, während die inhaltliche Abweichung die gleiche Tendenz zeigt, wie schon andernorts zu beobachten: Das poetische Bild wird statischer, in sich geschlossener, weniger expansiv. Die von Jacobsen reichlich ver-

    Durch Georges „vertraun“ endet die Zeile jedenfalls entsprechend dem Ausgangstext mit einer betonten Silbe – möglicherweise war auch das, zusammen mit der Assonanz mit „schauen“ in derselben Zeile, ausschlaggebend für seine Übersetzung von dän. „tro“ (Glaube) mit „Vertrauen“ (bzw. „vertraun“). 27 Jacobsen: „Minareterne pege mod Himlen op / I Tyrketro“ (Z. 7  f. Minarette zeigen zum Himmel hinauf / In Türkenglaube bzw. Gottvertrauen); George: „Minarets schauen in Türken-vertraun / Dem himmel zu.“ Die Umstellung nimmt er wohl vor, um einen Reim von „zu“ auf das zwei Zeilen vorangehende „Ruh“ zu erhalten. 28 Vgl. CVB 403, oder man denke an die poetischen Bilder der Algabal-Gedichte. 29 Das Reimschema dieses Gedichts mit aaabbbcccddeffg ist in einer Übersetzung aufgrund des dreimaligen Dreifachreims tatsächlich kaum zu realisieren. 30 Vgl. Z. 1–3 vollständig: „Frem under Haarets ravnsorte Sky’r / Øjnenes blinkende Tvillingefyr / Straaler og flyr.“ (Hervor aus des Haares rabenschwarzen Wolken / Der Augen blinkendes Zwillingsfeuer / Strahlt und fliegt.), bei George: „Hervor aus des haares rabenschwarzen wolken / Der augen blinkendes zwillingslicht / Strahlend bricht.“

    762 

     Angela Beuerle

    wendeten, das Bild vom bewegten Meer klangmalerisch illustrierenden Alliterationen finden sich auch bei George, wenn auch teilweise an anderen Stellen.31 Komplizierte, barock anmutende Bilder und Wortfügungen, die auch über ein alltagssprachliches Dänisch weit hinausgehen, kennzeichnen dieses Gedicht schon bei Jacobsen. George überträgt Jacobsens Wortfügungen beinahe identisch und gelangt auf diese Weise zu Konstruktionen, die im Deutschen stilistisch avanciert oder, anders gesprochen, beinahe unidiomatisch erscheinen. Dass die Übertragung in dieser Wörtlichkeit im Deutschen noch weiter von der Alltagssprache abweicht als im Dänischen, liegt dabei auch an der in den skandinavischen Sprachen gebräuchlichen Konstruktion eines vorangestellten Genitiv-Attributs (mit suffigiertem bestimmten Artikel), die im Deutschen möglich, aber stilistisch auffällig ist, die George hier aber jedes Mal entsprechend dem Ausgangstext überträgt.32 In den letzten sechs Zeilen beklagt Jacobsens Gedicht den nicht mehr zu hörenden Klang der Meerjungfrau. Die Passage ist geprägt durch ein auffälliges Enjambement, Endreim und Assonanzen, die George zumindest in den ersten drei dieser sechs Schlusszeilen so nicht wiedergibt. Sei es, dass Jacobsen hier eine indirekt komische Wirkung intendiert,33 sei es, dass er den sirenenhaften Gesang der Meerjungfrau stilistisch evozieren möchte, den spielerisch-poetischen Charakter dieser Zeilen gibt Georges Übersetzung trotz des genauen Nachvollzugs der Wortreihenfolge nicht wieder.34 Die Übersetzung des Gedichtes Lad Vaaren komme, mens den vil / Lass frühling kommen wann er will (SW XV, 57) stellt, was die Äquivalenz der poetischen Bilder und Inhalte angeht, eine von Zeile zu Zeile wechselnde Mischung aus einzelnen beinahe wörtlich übertragenen Passagen und eher freier Nachdichtung dar, weshalb der Text, insgesamt betrachtet, zumindest inhaltlich zu letzterem tendiert. Es steht zu vermuten, dass der Grund hierfür wiederum die hohe Priorität ist, die George der ausgangs-

    31 Vgl. beispielsweise Z. 4: Jacobsen: „Aandedrags-Luftninger lune og blide“ (Atemzugs-Lüftchen lau und mild), George: „Des atemzugs wehungen laue und leise“ (Hervorhebungen d.V.). 32 Vgl. etwa Z. 4–6: Jacobsen: „Aandedrags-Luftninger lune og blide / Henover Skuldrenes Klipper de hvide / Sagtelig glide.“ (Atemzugs-Lüftchen lau und mild / Hin über der Schultern Klippen, die weißen / sachte gleiten.), George: „Des atemzugs wehungen laue und leise / Über der klippen der schultern der weissen / Sachte gleiten“. 33 So Schoolfields Interpretation, vgl. George C. Schoolfield: Stefan George’s Translations (wie Anm. 23), S. 34. 34 Es scheint, dass der Grund hierfür zwei unterschiedliche, und hier möglicherweise nicht ganz treffende Äquivalenzentscheidungen sind: In den ersten drei der sechs Zeilen übersetzt George Wort für Wort, wodurch ein Großteil des durch Assonanzen und Reim geprägten Klangs verlorengeht, ja, für das dänische „daarende“ wählt er sogar „zauberisch“ statt des etymologisch verwandten „betörend“, möglicherweise, um die Zeile ausgangstextgetreu mit betonter Silbe beginnen zu lassen. In den folgenden drei Zeilen wiederum ändert er das poetische Bild zugunsten eines ähnlicheren Wortklangs und übersetzt „Hen til sig dragende“ (Z. 13; Hin zu sich ziehend) als „Hin zu sich tragendes“ Meer­ frauenlied, was eine gänzlich andere Dynamik evoziert.

    

    Übertragungen aus den skandinavischen Sprachen 

     763

    textgetreuen Realisierung der klanglich-formalen Aspekte einräumt. So gibt er das Reimschema abcbcddeefgghh des Gedichts genau wieder, das Metrum entspricht, zumindest was die betonten Silben pro Zeile betrifft, größtenteils dem Ausgangstext und die das Gedicht prägenden Alliterationen und Assonanzen bekommen, teilweise an entsprechender, teilweise an anderer Stelle, Raum in der Übersetzung. „Med tusind Fugles Fløjtespil“, (Mit tausender Vögeln Flötenspiel) wird bei George so beispielsweise zu „Lass […] / Das lied von tausend vögeln tönen“, wodurch sich ein Endreim mit „schönen“ ergibt. Die Aktion des Klingens wird zugleich jedoch abgemildert und entpersonalisiert – während bei Jacobsen die Vögel spielen, lässt George allgemein den Frühling tönen. Besonders eklatant für die Aussage des Gedichts ist die Veränderung, die George bei den letzten beiden Zeilen vornimmt, in denen das lyrische Ich das frühlingshafte Naturbild zu seinem eigenen Inneren, seinem Herzen in Beziehung setzt: „Det har sin egen, sære Vaar – / Naar?“ (Es hat seinen eigenen, sonderbaren35 Frühling, / Wann?). George hingegen schreibt: „Wird ihm sein frühling seltsam und weh / Je? – –“36 Die Änderung des Sinngehalts ist also beträchtlich, weder eine Bedeutung von „weh“ ist bei Jacobsen zu finden, noch ist der Schluss des Gedichts bei ihm, bei aller Offenheit des „Naar? – Wann?“, so melancholisch-depressiv. Ob es George tatsächlich um diese inhaltliche Verschiebung zu tun war, oder ob er in erster Linie den Reim realisieren wollte, dieses Stimmungsbild des Frühlings also vor allen Dingen hinsichtlich Klang und Reim ins Deutsche übertragen wollte, lässt sich letztendlich nicht entscheiden. Georges Übertragung von Jacobsens Arabesk til en Haandtegning af Michel Angelo (Kvindeprofil med sænkede Blikke i Ufficierne.) mit dem Titel Arabeske zu einer Handzeichnung Michelangelos (SW XV, 51–54) kommt ein besonderer Stellenwert zu, handelt es sich bei diesem 98 Zeilen umfassenden Gedicht doch um eines der, nicht nur in seiner Länge, herausragenden skandinavischen Gedichte seiner Zeit, in dem sich formaler und sinnbildlicher Aufbau und inhaltliche Aussage tatsächlich arabeskengleich verschlingen und den Text so zu einem sprachkünstlerischen Meilenstein der literarischen Moderne werden lassen.37 Außerdem findet sich davon im Deutschen,

    35 Dän. „sær“ kann sowohl „sonderbar, merkwürdig“ als auch „besonders“ bedeuten. 36 Bei George, der weiter oben im Gedicht zwei Zeilen zu einer zusammenzieht (bzw. eine überspringt), sind dies Z. 13 u. 14. 37 Vgl. etwa Bernhard Glienke: Jens Peter Jacobsens lyrische Dichtung. Ein Beitrag zur Geschichte der modernen Poesie. Neumünster 1975 (Skandinavistische Studien 4), S. 223–228, der in seiner ausführlichen Analyse des Gedichtes die Michelangelo-Arabeske „technisch, auch metaphorisch und thematisch“ als „Jacobsens wertvollstes Gedicht“ bezeichnet oder Jørn Vosmar: J. P. Jacobsens digtning. [København] 1984, S. 159–172, der hier von dem vielleicht berühmtesten Gedicht in der dänischen Literatur („måske det berømteste digt i dansk litteratur“, S. 166) spricht. Dass dies vor allen Dingen eine Auffassung der Jacobsen-Forschung der letzten Jahrzehnte ist, während Jacobsen als Lyriker von seinen Zeitgenossen, erst recht den dänischen, nur vereinzelt wahrgenommen und geschätzt wurde, zeigt Sørensen: „J. P. Jacobsen und der Jugendstil.“ (wie Anm. 18).

    764 

     Angela Beuerle

    neben anderen, eine Übersetzung Rilkes,38 was Georges Übertragung auch im Kontext eines Übersetzungsvergleichs zwischen zwei Dichter-Übersetzern lesbar macht.39 Es überrascht nicht, auch in dieser Übertragung Georges die hohe Priorität der klanglich-formalen Äquivalenz beobachten zu können. Da Jacobsens Gedicht ohne Endreim erscheint, bezieht sich dieses vor allen Dingen auf den Rhythmus, den Klang der Wörter, die syntaktischen Strukturen sowie Klangfiguren, Alliterationen und Assonanzen, die dieses Gedicht als formale Elemente prägen und auch auf der rein sprachlichen Ebene ein arabeskenartiges Gebilde entstehen lassen40 – welches die Übersetzung in weiten Teilen wiedergibt. Vielleicht weil der Parameter Endreim für eine klanglich-adäquate Übertragung nicht berücksichtigt werden muss, vielleicht aber auch, weil George sich mit den poetischen Bildern in diesem Gedicht in besonderem Maße identifizieren kann,41 ist diese Übertragung zusammen mit der von Irmelin Rose insgesamt die wörtlichste, ausgangstextgetreuste Jacobsen-Übersetzung Georges – sieht man von einer Textauslassung ab (s.  u.). Jacobsens Gedicht folgt keinem festen Metrum, die Strophenlänge variiert zwischen einer und 27  Zeilen, äußere Struktur, Rhythmus und sprachliche Bewegung korrespondieren vielmehr mit dem denotativen Inhalt, zeichnen die poetischen Bilder lautlich und gestisch nach. George folgt Jacobsen hierin, überträgt mit wenigen Ausnahmen die Zahl der betonten Silben je Zeile ausgangstextgetreu, meist auch unter Beachtung von betonten und unbetonten Zeilenanfängen und -enden. Vor allen Dingen aber folgt er gestisch den von Jacobsen vorgegebenen Bewegungen, manchmal deutlicher noch als dieser selbst, was sich etwa am Beginn der zweiten Strophe (Z. 15–21) verdeutlichen lässt:

    38 Die genaue Entstehungszeit von Rilkes Übersetzung ist nicht zu ermitteln, erschienen ist sie erstmals im Insel-Almanach 1914 und entstanden sicher nicht vor 1904, als Rilke erstmals den Plan äußerte, Gedichte von Jacobsen zu übersetzen (vgl. Fritz Paul: Bild – Dichtung – Übersetzung. J. P. Jacobsens „Michelangelo-Arabeske“ in den Übertragungen Georges und Rilkes. In: Skandinavistik 21, 1991, S. 81– 99). Dass Rilke Georges Übersetzung kannte, ist anzunehmen; inwieweit Rilke seine Übertragung jedoch in bewusster Auseinandersetzung und vielleicht auch Abgrenzung zu Georges geschrieben hat, muss offenbleiben. 39 Fritz Paul, ebd., betrachtet die Übersetzung in dieser Weise, auch George C. Schoolfield: Stefan George’s Translations (wie Anm. 23) geht sowohl auf Rilke als auch auf George ein. 40 Vgl. hierzu genauer die Analyse Glienkes (Bernhard Glienke: Jens Peter Jacobsens lyrische Dichtung [wie Anm. 37], S. 228). 41 Jacobsen beschreibt, inspiriert von seinem Italienaufenthalt und seinem Besuch der Uffizien, ein südliches Meeresbild mit Pinienlandschaft, darin eine von Michelangelo skizzierte RenaissanceFrau  – es liegt nahe anzunehmen, dass sich diese Bilderwelt mit Georges eigener Vorliebe für die romanisch-südliche Welt traf. Vgl. auch Fritz Paul: Bild – Dichtung – Übersetzung (wie Anm. 38), S. 85, der Jacobsens Gedicht als eine „Evokation von Böcklins Toteninsel (1880), Jahre bevor dieses Bild gemalt wurde“, beschreibt – auch hier eine Verbindung zu Georges Geisteswelt.

    

    Übertragungen aus den skandinavischen Sprachen 

    Jeg kender din Flugt du flyvende Bølge; Men den gyldne Dag vil segne, Vil, svøbt i Nattens dunkle Kappe, Lægge sig træt til Hvile, Og Duggen vil glimte i hans Aande, Blomsterne lukke sig om hans Leje Før du naa’r dit Maal. (Jacobsen)

     765

    Ich kenne deinen flug · du flüchtige woge. Doch der goldne tag wird sinken · Wird gehüllt in den dunklen mantel der nacht Müde zur ruhe sich legen · Tau wird in seinem atem glimmen · Blumen um seine glieder sich schliessen Eh du dein ziel erreichst. – (SW XV, 51)

    Die anfängliche Bewegtheit der Zeilen wird, entsprechend dem parallel geführten Bild des zu Ende gehenden Tages und der ihr Ziel erreichenden (Luft-)Woge, immer ruhiger, bis sie schließlich auf einer betonten Silbe endet.42 Diese von Jacobsen vorgegebene metrische Entwicklung unterstreicht George bzw. intensiviert sie, indem er, ohne inhaltliche Notwendigkeit, das „Og“ („Und“) weglässt, wodurch bei ihm ab Zeile 18 alle folgenden mit schwerer Silbe beginnen und das Schimmern des Taus, bildlich gesprochen, den Vorgang des Zur-Ruhe-Kommens nicht wesentlich unterbrechen kann. Mehr und durchgehender noch als in seinen übrigen Jacobsen-Übertragungen übersetzt George in diesem Gedicht wörtlich – wörtlich allerdings vor allen Dingen im Sinne des Wortklangs, nicht immer in dem des Wortinhalts. Dabei ist im Einzelfall nicht immer festzustellen, wo George sich absichtlich für eine abweichende Bedeutung entscheidet, um den möglichst ähnlichen klanglichen Effekt zu erreichen, wo er bewusst andere Inhalte und poetische Bilder wiedergibt und wo es sich um Fehllesungen handelt. Beispiele für klanglich eher als inhaltlich äquivalente Wortübertra-

    42 Durch Auftaktigkeit, viele unbetonte Silben und eine regelmäßige, sowohl parallel als auch spiegelsymmetrisch zu lesende Verteilung der Akzente erhält die erste Zeile einen leichtfüßig-fließenden Rhythmus, der das Bild der Wellenbewegung akustisch nachzeichnet. Der nächste Vers, inhaltlich eingeleitet durch ein adversatives „men“ („doch“), hat durch die auftaktlose, trochäisch alternierende Silbenverteilung einen völlig anderen Charakter, der in seinem getragenen Tonfall der Vorstellung des langsam dahinschwindenden Tages korrespondiert. Zusätzlich verstärkt durch das retardierende Moment der stockenden Zäsur nach „Vil“ („Wird“), zieht sich der Duktus des müden Schreitens über die nächsten Zeilen hin bis „Hvile“ („Ruhe“), wobei die Aneinanderreihung von einem Daktylus und zwei Trochäen in Z. 18 zudem einen herabsinkenden Gestus markiert. Die folgenden zwei Zeilen weisen wieder eine etwas stärkere Dynamik auf, die durch die alternierenden Betonungen gegen Ende der Zeilen und den auftaktlosen Beginn von Z. 20 jedoch insgesamt verhaltener wirkt als in der ersten Zeile des Abschnitts, was auch dem evozierten Bild entspricht, das keine „flyvende Bølge“ („fliegende Woge“), sondern die leichte Bewegung von schimmerndem Tau und Blumen beschreibt. Eine deut­ liche Korrespondenz zwischen Inhalt und sprachlichem Gestus zeigt sich auch in der folgenden Zeile. Das Erreichen des Ziels, das syntaktisch unterstrichen wird, indem der in Z. 16 begonnene Satz erst hier in einen nachzeitigen Temporalsatz mündet, drückt der Rhythmus der Zeile durch seine Statik aus. Die Alternation, der regelmäßige spiegelbildliche Aufbau und die Tatsache, dass die Zeile nicht nur betont beginnt, sondern als erste in diesem Abschnitt mit dem Wort „Maal“ („Ziel“) auch betont schließt, erzeugen einen klanglichen Gestus, der das (vorläufige) Ankommen an einem Zielpunkt akustisch mitvollzieht.

    766 

     Angela Beuerle

    gungen sind etwa: „vaade Bringe“ (nasse Brust) wird bei George zu „weisse brust“, „glimte“ (schimmern) erscheint als „glimmen“, „sorg“ (Trauer, Leid) als „Sorge“, „gnistred‘“ (sprühte) als „knisterte“ und „hviskende“ (flüsternde) als „zischende“, „flyvende Bølge“ (fliegende Woge) wird zur „flüchtigen woge“, „leje“ (Lager) wird zu „Glieder“ (dän. „lemmer“). Immer, selbst bei Fällen wie der Änderung von vaade/nass zu weiß und leje/Lager zu Glieder, bei denen die Vermutung naheliegt, dass es sich tatsächlich um Fehllesungen handelt, ist festzustellen, dass der Klang des gewählten deutschen Wortes dem des dänischen näher ist – und sei es durch übereinstimmende Anfangskonsonanten (vaade – weiße) oder aber helle Vokalfarbe (leje – Glieder) –, als es im Fall der semantisch korrekten Übersetzung gewesen wäre.43 Zugleich zeigt sich, betrachtet man die inhaltlichen Verschiebungen dieser „klang-wörtlichen“ Übersetzungen, häufig die Tendenz der abgemilderten Dynamik und Direktheit von Bewegungen („glimmen“ statt „schimmern“, „flüchtig“ statt „fliegend“, „knisterte“ statt „sprühte“) bzw. von Emotionen („Sorge“ statt „Trauer“), eine Beobachtung, die sich auch an anderen Stellen innerhalb der Übersetzung vereinzelt machen lässt.44 Die Übertragung nahe am Wortklang und der Wortreihenfolge des Ausgangstexts führt auch hier zu ungewöhnlichen Wendungen im Deutschen. Zum einen durch die, schon oben erwähnten, für das Skandinavische unauffälligen Nominalkonstruktionen mit vorangestelltem genitivus possessivus mit (suffigiertem) bestimmtem Artikel. In den meisten Fällen vollzieht George sie grammatisch entsprechend nach, wobei im Deutschen eine andere Stilebene erreicht wird.45 An anderen Stellen zieht er die beiden Substantive zu einem Wort zusammen, wie „weinrebenlaub“ („Vinrankens Løv“; „der Weinranken Laub“), oder schafft eine ungewöhnliche Bindestrich-Kombination, wie „ahnungen-angst“ („Anelsers Angst“; „[der] Ahnungen Angst“). Auch andere, schon bei Jacobsen ungewöhnliche Fügungen vollzieht George wörtlich nach: „Regnbu’taage“ bleibt „regenbogen-nebel“, „graadmilde Drømme“ „tränen-milde Träume“. Auch hier lassen sich verschiedene Motivationen für Georges Übersetzungsentscheidungen annehmen – der Versuch der ausgangstextnahen Realisierung des Klangs und der Bilder oder aber, wie Fritz Paul vermutet, die Sprache des Gedichts

    43 Vgl. auch Fritz Paul: Bild  – Dichtung  – Übersetzung (wie Anm. 38), der anlässlich des Übersetzungsvergleichs zwischen der George- und Rilke-Übertragung der Arabesk Fehllesungen als „integrativ-produktiv“ (S. 87) beschreibt und ihnen bescheinigt, eine „kulturschaffende Differenz“ zu erzeugen (S. 88). Fehlübersetzungen gerade im Kontext der Lyrik-Übersetzungen als sinnstiftend zu betrachten, ist sicherlich ein konstruktiver Ansatz, wobei die Unterschiede zum semantischen Gehalt des Ausgangstextes natürlich genau im Blick behalten werden müssen und sich dann bald die definitorische Frage stellt, wo die Grenze zwischen Übersetzung und Neudichtung zu ziehen ist. 44 Zum Beispiel Z. 48  f: „Glødende Nat! / Langsomt brænder du henover Jorden“; George: „Glühende nacht! / Langsam brennst du über der erde“ (aber wörtlich: „über die Erde hin“). 45 Vgl. etwa Z. 64–66: „Bægeres Klang, / Staalets hurtige, syngende Klang, / Blodets Dryppen og Blødendes Rallen“ (Jacobsen) – „Der becher klang ‧ / Des stahles hurtiger singender klang · / Des blutes tropfen · der blutenden röcheln“ (George).

    

    Übertragungen aus den skandinavischen Sprachen 

     767

    stilistisch zu heben, damit es „in den ‚hohen Ton‘ des George-Stils integriert wird.“46 Was für George dabei im Vordergrund stand, ist nicht zu entscheiden, wobei auch beide Motivationen zugleich wirksam werden konnten. Die Wiederholung von Silben, Wörtern oder auch Wortgruppen, die gerade in diesem Gedicht zu den zentralen Stilmitteln gehört, vollzieht George in wesentlichen Teilen nach.47 Durch die ausgangstextnahe Realisierung der Wortstellung erhält George zudem auch lautlich-inhaltliche Konfigurationen, die sich bei Jacobsen durch die besondere Stellung verschiedener Wörter eines Wortfeldes ergeben, wie etwa hier deutlich wird: Frem gjennem Mulmet blinker og skummer Sælsomme Bølger af sælsom Lyd48: Bægeres Klang, Staalets hurtige, syngende Klang, Blodets Dryppen og Blødendes Rallen Og tykmælt Vanvids Brølen blandet Med purpurrøde Attraas hæse Skrig … (Jacobsen)

    Hervor durch das dunkel blinken und schäumen Seltsame wogen von seltsamem laut: Der becher klang · Des stahles hurtiger49 singender klang · Des blutes tropfen · der blutenden röcheln Und voll ausgestossen des wahnsinns brüllen · Gemischt mit der purpurroten gierde heiserem schrei. (SW XV, 53)

    Nicht nur realisiert George hier – im Übrigen als einziger der zeitgenössischen Übersetzer – die Initialstellung von „Becher – Stahl – Blut“, sondern er ist erneut konsequenter als Jacobsen, indem er durch die Verschiebung von „blandet“ – „Gemischt“ in die folgende Zeile in die sich steigernde Reihe der Geräusche am Zeilenende das „brüllen“ an entsprechender Position miteinfügt. Bei aller Wörtlichkeit in der Übersetzung schafft George mit dieser Übertragung zugleich eine Version von Jacobsens Gedicht, die grundlegend von seiner Vorlage abweicht, und zwar indem er, markiert durch eine Zeile mit zwölf Gedankenstrichen, insgesamt sechzehn Zeilen des dänischen Originals nicht übersetzt. Durch die Auslassung dieser Zeilen übergeht George eine wesentliche inhaltliche Dimension von Jacobsens Gedicht. Denn dieser verbindet die Beschreibung einer stummen Frauenfigur mit deterministisch gefärbten Reflexionen der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens, das sich immer nur in Leid und Tod erfüllt, und sucht mit expressiv vorgetragenen existenziellen Fragen nach dem Sinn eines solchen Daseins. Bei George erscheinen 46 Fritz Paul: Bild – Dichtung – Übersetzung (wie Anm. 38), S. 88. 47 Auffällig sind eher die Stellen, an denen George hiervon abweicht: Vgl. etwa die bei Jacobsen zweimal vorkommende Phrase: „Tegner mørk sig mod den mørke Luft“ (Z. 75 u. 97), bei der George die Position von Reflexivpronomen und Adverb variiert: „Zeichnet sich schwarz ab in der schwarzen luft“ (Z. 75) und „Zeichnet schwarz sich ab in der schwarzen luft (Z. 97, bei George 81) – ein Grund für diese Abweichung ist mir nicht ersichtlich. 48 Hervorhebungen d.V. 49 Man beachte auch die Übernahme des Wortes „hurtig“, welches, zwar inhaltlich entsprechend, im Deutschen jedoch sehr viel weniger frequent ist als im Dänischen.

    768 

     Angela Beuerle

    diese Gedanken nicht. Die Arabesk bleibt eine in sich ruhende, impressionistischsymbolistische Schilderung des Meeres und der Nacht, deren innere Dramatik die Grenzen des Gedichts an keiner Stelle aufreißt oder überschreitet. Sicherlich handelt es sich bei dieser Auslassung um eine bewusste Entscheidung Georges, die verdeutlicht, dass er auch diese seine deutsche Übertragung als aktiven Teil seines Werkes betrachtete und sie daher entsprechend inhaltlich formte.50 Deutlicher vielleicht als alle übrigen Gedichte zeigt die Arabeske so die zwei Seiten George’scher Übertragungen aus dem Skandinavischen: Die Übersetzungen werden Teil seines eigenen Werks und ausgehend von ihren Inhalten erfolgt unter diesem Gesichtspunkt die Auswahl der Texte. Neben der grafischen Angleichung an Georges Werk (Kleinschreibung, Schrifttype) zeigt sich dabei eine Verwandtschaft des Wortschatzes, welche die übersetzten Texte mit den eigenen Dichtungen Georges verbindet. Außer dem gravierenden Einschnitt der Auslassung in der Arabesk finden sich auch an anderen Stellen leichte inhaltliche Veränderungen, die durch eine etwas andere Präposition oder eine andere Intensität der Wortbedeutung auf eine statischere, weniger expressive Kraft der poetischen Bilder zielt. Auch die in allen Gedichten nicht den Ausgangstexten folgende Zeichensetzung evoziert insgesamt eine verminderte Expressivität im Ausdruck. Zugleich, und das ist die andere Seite, stellen alle diese Übertragungen, was die klanglich-formale Gestalt und den Nachvollzug der poetischen Faktur der Ausgangstexte angeht, nahezu kongeniale Übersetzungen dar, die von keinem der zeitgenössischen Übersetzer erreicht werden. Wenn George hinsichtlich Metrum, Reim oder Klangfiguren abweicht, ohne dass es durch die Verschiedenheit der jeweiligen Sprachstrukturen nötig wird, zielt diese Abweichung immer auf eine größere Regelhaftigkeit, eine noch deutlichere sprachliche Geformtheit der lyrischen Sprache. Stärker geformt, deutlicher stilisiert erscheint insgesamt die dichterische Sprache in der deutschen Version im Vergleich zur dänischen, was sich jedoch auch aus dem möglichst ausgangstextnahen Nachvollzug der dort vorgegebenen Wendungen und Wortreihenfolgen ergibt. Dieser kleine Ausschnitt aus Georges frühem Schaffen, seine Übersetzungen skandinavischer Literatur, gibt so einen deutlichen Eindruck davon, was Sprache, gerade in ihrer klang-stofflichen Form für George bedeutete. Die Form, der Klang, die stilistische Gebundenheit sind es, beinahe mehr noch als der semantische Gehalt der poetischen Bilder, die George bei diesen Übersetzungen als essentiellen Gehalt der von ihm übertragenen Texte ansieht. Bemerkenswert ist, dass sich bei den größtenteils noch zu Schulzeiten entstandenen Übertragungen der Ibsen-Texte bereits die gleichen Ten50 In diesem Zusammenhang stellt sich nochmals die Frage, wie die inhaltliche Veränderung am Schluss des Gedichtes Lad Vaaren komme, mens den vil / Lass Frühling kommen, wenn er will einzuordnen ist, die von der inhaltlichen Ausrichtung eher in die entgegengesetzte Richtung der Auslassung in der Arabesk geht. Möglich, dass George hier tatsächlich in erster Linie das entsprechende Reimschema des Ausgangstextes realisieren wollte und diese Äquivalenz wichtiger fand als die Verschiebung im inhaltlichen Ausdruck.

    

    Übertragungen aus den skandinavischen Sprachen 

     769

    denzen und Merkmale in der translatorischen Herangehensweise feststellen lassen wie bei den Jacobsen-Gedichten. Auffällig ist im Blick aus der zeitlichen Entfernung und im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Übersetzungen der entsprechenden Texte, wie zeitlos, wie aktuell Georges Übertragungen sich auch heute noch lesen, was sicherlich seinem engen Nachvollzug der sprachlichen Form des Ausgangstexts geschuldet ist. Schließlich lässt sich fragen, ob und inwieweit gerade in dieser frühen Phase seines Schaffens nicht auch von einer Inspiration Georges durch die künstlerische Auseinandersetzung mit den Texten Ibsens und Jacobsens ausgegangen werden kann, umso mehr, als es sich um Texte in einer dem Deutschen so nah verwandten Sprache handelt, in der Parallelen in Lexik51 und Syntax noch ganz andere Möglichkeiten der Übertragung und übersetzerischen Annäherung boten als etwa bei den Gedichten Baudelaires, mit denen sich George zu dieser Zeit befasste. So betrachtet könnte man Georges Beschäftigung mit skandinavischer Literatur sowohl was seine Identität als Dichter, als Künstler in der Gesellschaft angeht, als auch, was die Ausbildung und Schärfung seiner sprachschöpferischen Identität betraf, als Inspirationsquelle und Prüffeld seiner persönlichen und dichterischen Auseinandersetzung ansehen.52 Dass auf diese Weise zugleich hervorragende Übersetzungen einiger Ibsen- und Jacobsen-Texte ins Deutsche entstanden, ist Ausdruck der fruchtbaren Natur schöpferischer Auseinandersetzungen eines Künstlers mit sich selbst und seiner künstlerischen Entwicklung.

    51 Nicht abwegig etwa, dass George das Wort „glimmen“, das er in der Arabesk als klang-wörtliche Übertragung aus dem Dänischen verwendet und das folgend in einer ganzen Reihe von Georges Gedichten erscheint (vgl. CVB 231), erst durch die Erfahrung mit Jacobsens Gedicht in seinen dichterischen Wortschatz integriert – um nur ein ganz kleines Beispiel zu nennen. 52 Zu Georges Suche nach einer (eigenen) dichterischen Sprache in dieser Zeit vgl. auch MD, insbes. 21  ff.

    Günter Baumann

    Übertragungen aus dem Niederländischen Georges Übersetzung niederländischer Gedichte nimmt eine Sonderstellung in seinem Werk ein. Zum einen hatte die Dichtung dieses Nachbarlandes – auch traditionell – für deutsche Autoren keineswegs den Stellenwert wie etwa die Literatur Frankreichs. Dorthin wandte sich George denn auch bewusst, um nach dem Vorbild bereits etablierter Lyriker die deutschsprachige Poesie voranzubringen: Baudelaire, Mallarmé oder Verlaine kamen – im Ausgang des 19. Jahrhunderts – aus einem kulturellen Geberland, von dem die deutschen Autoren etwas lernen konnten. Zum andern ist die niederländische Sprache dem Deutschen sprachhistorisch näher als jede andere (wenn auch nicht zu verwechseln mit dem Niederdeutschen, allerdings mit kuriosen Überschneidungen im ripuarischen Sprachraum), wobei man beim Übersetzen an die Grenzen der Verwandtschaft stößt, wie übrigens auch im Falle des Mittelhochdeutschen. Holland brachte zwar in den 1880er Jahren eine kulturelle Blütezeit nahezu aus dem Nichts hervor, die insbesondere Literatur, Kunst und Architektur ergriff, wovon jedoch der Rest der europäischen Kulturschaffenden aufgrund sprachlicher Barrieren (bei aller lexikologischen, aber nicht immer auch semantischen Nähe und grammatischen Äquivalenz auch für Deutsche) und einer sehr eigenen, für Außenstehende befremdlichen Gesellschaftsordnung (Versäulung), aber auch aus der eigenen nationalen Überheblichkeit heraus, nur wenig mitbekam.1 Es ist daher nicht hoch genug einzuschätzen, welche Bedeutung die Freundschaft zwischen Stefan George und Albert Verwey für die Vermittlung der jeweils anderen Literatur hatte – George profitierte, was die Rezeption seiner Lyrik in den Niederlanden anging, sicher mehr davon als Verwey, der jedoch im George-Kreis eine außerordentliche Wertschätzung erfuhr, die selbst über Unstimmigkeiten und phasenweise Zerwürfnisse zwischen beiden Dichtern hinweg Bestand hatte. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gab es kaum einen vergleichbaren literarischen Austausch in der deutsch-niederländischen Beziehung. Es ist ein bleibendes Verdienst des jungen Stefan George, dass er in all den Ländern, die er bereiste, vorbehaltlos nach gleichaltrigen Dichterkollegen suchte, deren Sprache er sich aneignete oder sich anverwandelte. Dabei wog die freundschaftliche Beziehung schwer genug, dass, von

    1 „Die Schwierigkeiten der Übertragung eines niederländischen Originaltextes ins Deutsche liegen in erster Linie in der oft mangelnden Übereinstimmung zwischen den Bedeutungsfeldern der an und für sich in ihren Wurzeln gleichlautenden Wörter. Des öfteren fehlt auch der adäquate Ausdruck für ein Bild oder für einen Begriff in der Schwestersprache ganz und gar […]. Auch weichen geläufige Wertbegriffe bei beiden Völkern hin und wieder so sehr voneinander ab, dass eine wörtliche Übertragung zu keinem Wortlaut führt, der für die Gegenseite verständlich wäre.“ Rudolf Eilhard Schierenberg: Einführung. In: Freundschaftsdichtung in den Niederlanden. Jacques Perk, Willem Kloos, Albert Verwey. Heidelberg 1996, S. 11–101, hier S. 85.

    

    Übertragungen aus dem Niederländischen 

     771

    den romanischen Ländern abgesehen, Empfehlungen mehr galten als das wirkliche Renommee der Poeten. George konzentrierte sich etwa in den Niederlanden nicht auf die wichtigsten Stimmen der Jahrhundertwende – Jacques Perk übersetzte er nicht, von Herman Gorter nur einen kleinen Ausschnitt aus dessen epochalem Langgedicht Mei und von Willem Kloos kaum eine Handvoll Gedichte  –, sondern auf den eher theoretischen Kopf der Tachtigers-Bewegung, Verwey. Dieser schrieb im Mai 1895 den folgenreichen Aufsatz in seiner Zweimonatszeitschrift gleichen Namens (Tweemaandelijksch Tijdschrift), der erstmals im benachbarten Land auf Stefan George aufmerksam machte und der George wiederum veranlasste, Kontakt aufzunehmen. Es mag schon bezeichnend sein, dass hier zunächst kein niederländisches Gedicht, sondern das Lob für die eigene Dichtung lockte, das George in Deutschland vermisste. Der Impuls ging also von Verwey aus, der sich sehr allgemein für Tauschabonnements mit einschlägigen Zeitschriften interessierte, wie er Ende August 1894 an Lodewijk van Deyssel schrieb, namentlich „Gids, Mercure, Rev. Blanche, Soc. Nouvelle, Athenäum, Blätter für die Kunst“2. Carl August Klein, Herausgeber der Blätter, sandte Verwey eine Ausgabe zu, worauf dieser seinen Bericht über „Twee dichters, I,  Stefan George, II,  Emile Verhaeren“ schrieb und über seinen Mitredakteur van Deyssel in die Mai-Ausgabe der besagten, im selben Jahr erst neugegründeten Zeitschrift brachte: „Ich hoffe, dass du aus dem beigefügten Entwurf schlau wirst. Wenn du meinst, dass es um die Bedeutung eines unbekannten Dichters der Mühe wert ist, einen Artikel zu schreiben, […] schicke sie [die Beiträge] an Groesbeek“3 – den Verleger der Zeitschrift. Nachdem die Besprechung kurz darauf von Roland de Marès im Mercure de France eine löbliche Erwähnung gefunden hatte, bedankte sich Klein im Juli 1895 bei Verwey, und George kündigte sich im September darauf zu einem Besuch in den Niederlanden an. Die wechselseitigen Begegnungen in Deutschland und in den Niederlanden, die sich bis 1919 anschlossen, sind auf die Tage genau dokumentiert, in all ihren persönlichen Höhen und Tiefen.4 Früh schon geht es auch um gegenseitige Übersetzungen. Anfang Dezember 1895, als George Verwey eine weitere Ausgabe der Blätter ankündigte und Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten in Aussicht stellte, schreibt er: Schon auf der reise nach Brüssel habe ich mit grossem genuss allerdings auch mit grosser schwierigkeit in Ihren gesammelten gedichten gelesen und zwei sonnette aus dem Kranz: ‚Von der freundschaft die Liebe heisst‘ ins deutsche übertragen. Ich denke mit grossem vergnügen an jenen eigentümlichen wolausgefüllten und so vertrauten nachmittag in Ihrer werten familie und an das künstlerische landhaus beim rauschenden meer. (V/G 13)

    2 De Briefwisseling tussen Lodewijk van Deyssel en Albert Verwey. Bd. 1. Hg. v. Harry G. M. Prick. ʼs Gravenhage 1981, S. 214. Übersetzung vom Verfasser. 3 Ebd., Bd. 2, S. 99. Übersetzung vom Verfasser. 4 Vgl. Stefan George und Holland. Katalog zur Ausstellung zum 50. Todestag. Amsterdam 1984 u. ZT.

    772 

     Günter Baumann

    Anders als das Französische, das ihm auf jeden Fall als kulturelle Leitsprache vertraut war, empfand George das Niederländische als Fremdsprache, auch wenn er das nicht wahrhaben wollte: Es schien ihm ein Bedürfnis zu sein, die Verwandtschaft der germanischen Sprachzweige herauszustreichen. Die Juni-Ausgabe5 der Blätter für die Kunst 1896 brachte bereits die holländischen Dichter in Übersetzung, die für George relevant waren: den l’Art pour l’Art-Dichter Willem Kloos, den er nur über Verwey, nicht persönlich kannte,6 dann Verwey selbst sowie Herman Gorter, der George eine wörtliche Übersetzung seines Mei zugesandt hatte. Es fand jedoch Max ­Koblinskys Version auszugsweise mit dem Fragment der George-Übertragung Einzug in die Blätter. Andere niederländische Dichter finden sich nicht mehr unter den Übersetzungen Georges, sodass man unterstellen darf, dass außer dem länger währenden Kontakt mit Verwey nie mehr eine solch innige Verbindung zur niederländischen Lyrik zustande kam wie im Jahr 1896. Von besonderer literarhistorischer Bedeutung war sicherlich Georges honorarlose Lesung in Den Haag am 28. März 1896, die van Deyssel organisiert hatte, der als schwermütiger, katholischer Lyriker ein zwiespältiges Verhältnis zu Georges Lyrik hatte. Vermittelt hatte die nur für Paris und Brüssel geplante Lesereise aber Verwey, wiewohl er sich klar darüber war, dass der deutsche Dichter „so viel weniger bekannt als Verlaine oder Mallarmé“ wäre.7 Die Veranstaltung fand im ‚Haagsche Kunstkring‘ statt, der 1891 u.  a. von dem Künstler Jan Toorop gegründet worden war, der 1901 das berühmte Doppelporträt der beiden Dichter schuf.8 Als Verwey bezüglich der Lesung die Terminfrage mit George klärte, kam übrigens auch jenes Langgedicht Mei von Herman Gorter ins Gespräch, von dem George später – in Zusammenarbeit mit Friedrich Gundolf – Teile übertragen sollte. Man ahnt, wie begrenzt die Rezeption anfangs war, alles bewegte sich sozusagen im Freundes- oder Bekanntenkreis. Immerhin ging für George hiervon ein starker Impuls aus, die niederländische Sprache aktiv zu erlernen. Van Deyssel gegenüber schreibt er, er wolle dessen Aufsatz Kunst is passie (Kunst ist Leidenschaft) übertragen, „wenn mir Ihre sprache geläufiger geworden“9,

    5 Die Ausgabe sollte im Mai in Druck gehen, erschien aber erst im August. Verwey bekam sie erst im November 1896 zu sehen. 6 1888 war es zum Bruch der Freundschaft zwischen Kloos und Verwey gekommen, nachdem dieser sich verlobt hatte. 7 Van Deyssel/Verwey (wie Anm. 2), S. 153  f. Übersetzung vom Verfasser. 8 Toorop war bei der Lesung 1896 anwesend und nahm unmittelbar danach Kontakt zu George auf: „Ich hätte so gern Ihr Porträt gemacht, so wie Sie an jenem Abend im Kunstkring ‚Ihre zartesten Verse so melodisch‘ vorlasen.“ (Zit. nach Frank Ligtvoet: Stefan George und Jan Toorop. In: Stefan George und Holland [wie Anm. 4], S. 96) Bereits nach diesem Schrei­ben entstanden Porträtskizzen; nach Verwey verlor sich die Druckplatte, sodass die Radierung erst in den 1920ern in Umlauf kam. Welch innovatives Programm der Haag’sche Kunstkreis hatte, wird beispielsweise daran ersichtlich, dass Toorop dort 1892 erstmals eine Überblicksausstellung mit Bildern Vincent van Goghs organisierte; 1923 fand hier die erste Dada-Veranstaltung in den Niederlanden statt. 9 Stefan George und Holland (wie Anm. 4), S. 94. Zur Übersetzung ist es nicht gekommen.

    

    Übertragungen aus dem Niederländischen 

     773

    an Toorop gerichtet schlägt er vor: „Wenn Sie wünschen können Sie mir ganz gut auf holländisch schreiben.“10 Dies lag sicher zu einem Teil auch an der Freude, im benachbarten Sprachraum so wohlwollend verstanden worden zu sein, wie es von Verwey und van Deyssel auch öffentlich artikuliert wurde. Im März 1896, noch vor der Lesung, schrieb Verwey in der Tweemaandelijksch Tijdschrift: Nun zur welt von Georges versen! Woche um woche durchlief ich sie wie in sachtem warmem Nebel. Monat auf monat war hier helligkeit, dort ein fluten mutmasslicher gestalten  – unbestimmt, doch voll süsser versprechen für das herz das ihre gegenwart erkannte. Froh und unfehlbar sind im dunststrudel gestalten aufgegangen, unzweifelhafte formungen einer dichterseele. […] Aus so weichem nebel zu so festen bildern zu kommen: das ist das merkmal derer die aus dem tiefsten zauber ihres inneren lebens ein All schaffen, bezaubernd wie die natur.11

    Im April folgt – nach der Lesung – van Deyssels Laudatio auf George in De Kroniek: nun gibt es eine junge Dichtung in Deutschland, und an erster Stelle steht Stefan George. Wer ihn gesehen und gehört hat, mag den Eindruck gewonnen haben von dem sanft-majestätischen Adel dieser Gestalt und von dem ruhigen, feinen Klang, mit dem er seine Verse sprach […]. Als er sich, bis dahin im Sitzen lesend, erhob, um die eigenen ‚Neuen Gedichte‘ auswendig vorzutragen, war das ein Moment von einer solch filigranen Prinzenhaftigkeit und edler geistiger Eleganz, – und seine leicht singende Sprechweise klang so wie ein fernes Glöckchen am stillen, reinen Wintermorgen in unser Bewusstsein, – dass dem beizuwohnen ein einzigartiges Erlebnis genannt werden darf.12

    George revanchierte sich mit euphorischen Einleitungen zu der oben erwähnten Blätter-Ausgabe mit den frühesten Übersetzungen aus dem Niederländischen innerhalb des George-Kreises sowie zur Verwey-Auswahl in der VI. Folge der Blätter für die Kunst, die neben Georges auch Gundolfs Übersetzungen enthielt: Es fehlte uns bis jetzt an dichtungen aus den werken der uns verwandten jungen niederländischen dichter […], die im Verein mit dem schriftsteller L. van Deyssel bereits einige jahre vor uns in ihrem land die bewegung zu gunsten der wiedererwachten und verinnerlichten kunst begannen. (BfdK III, 3, S. 86) An die verse niederländischer dichter aus dem dritten bande der dritten folge und dem fünften der vierten [mit Verweys Nacht in der Alhambra] schliessen wir diese auszüge aus dem gesamten werk von Albert Verwey der aus der ruhmvollen für uns vorbildlichen kunsterhebung der 80er jahre als der wesentliche dichter übrig geblieben. Diese umschreibungen ins hochdeutsche unterscheiden sich von jeder übersetzung aus fremden sprachen · da die annäherung an die urworte sogar in unklingender und unbeholfener form einem vollständigen umguss vorgezogen werden muss. Doch sprechen wir die hoffnung aus es werde die nächste und glorreichste schwester der deutschen dichtung bald so einheimisch dass sie unmittelbar zu verstehen uns allen als pflicht erscheint. (BfdK VI, S. 156)13

    10 Ebd., S. 97. 11 Abert Verwey – Ludwig van Deyssel: Aufsätze über Stefan George und die jüngste dichterische Bewegung. Mit Genehmigung der Verfasser übertragen von Friedrich Gundolf. Berlin 1905, S. 6  f. 12 V/G 20. Übersetzung vom Verfasser. 13 Zit. nach SW XV, 103  f.

    774 

     Günter Baumann

    Dieses Ziel hat Stefan George nicht erreicht. Allein im Briefwechsel mit Albert Verwey gelang ein bilingualer Austausch. Allerdings kam dem entgegen, dass der Holländer relativ sicher mit der deutschen Sprache umging. Van Deyssel oder Herman Gorter taten sich hier schwerer. Wie aktiv George selbst das Niederländische pflegte, ist schwer zu sagen. Die Anfrage nach einer wortgenauen Übersetzung von Gorters Mei14 lässt vermuten, dass George Unterstützung suchte; mit Verwey tauschte er sich nachweislich aus, wie aus den Memoiren des Niederländers ersichtlich wird: Das Merkwürdige war, dass sobald wir auf meinem Zimmer waren, die Bekanntschaft überging in gemeinsame Arbeit. Ich legte ihm niederländische Dichtungen vor, machte ihn auf einige Gedichte aufmerksam und übersetzte sie. Sofort notierte er dann, was die Grundlage für einige seiner späteren Übertragungen in Versen geworden ist.15

    Möglicherweise stammte auch die Abschrift der Sonette von Verweys früherem Freund Willem Kloos, die George übersetzte (Verzen, Amsterdam 1894, Sonette I, II, VI, XIII),16 von Verwey selbst. Im Mai 1896 fragte George ihn nach dem wohl unleserlichen Wortlaut einer Zeile dazu (V/G 22). Für dieselbe Blätter-Publikation hatte George auch vier Sonette aus Verweys Gedichtsammlung Van de Liefde, die Vriendschap heet (Von der Liebe, die Freundschaft heißt; aus Verzamelde Gedichten, Amsterdam 1889) übertragen. Dass sich George lange schwertat beim Verständnis der gehobenen lyrischen Sprache des Freundes, wird in einem Brief Verweys an seine Frau Ende Oktober 1897 deutlich, der in der Freundschaftsbekundung kulminiert, die wiederum im Gespräch über Gedichte gründet: Er [George] ermutigte mich, ihm aus meiner Sicht Aarde [Amsterdam 1896] zu entschlüsseln, wovon er danach bekannte, dass er kein Wort begriffen hätte, genauso wie alle Holländer. Ich ließ es ihm nahebringen von der einzigen Seite aus, für die er von Natur aus Zugang hat, der des persönlichen Gefühls. Ich habe ihn sehen lassen, wie ich das ganze Buch hindurch ringe, um mich zu einer neuen Wirklichkeit aus der alten zu erheben, wie das seine Ursache habe in meinen persönlichen Bindungen, Freundschaftsbeziehungen und anderen […]. Er war sehr verwundert, um wieviel mehr ihm ‚das dunkle Etwas‘, wie er es nannte, klarer wurde. Danach begriff er von selbst auch die gedankliche Wirkung, die in dem Buch zum Vorschein kommt. Wir sind nun wirklich miteinander sehr befreundet …17

    Danach scheint George immer enger mit Verweys neuen Gedichten vertraut zu werden. Allerdings übernehmen im neuen Jahrhundert auch immer öfter Friedrich Gundolf

    14 „Einliegend erhalten Sie die gewünschte wörtliche Übersetzung. Verzeihen sie die Fehler gegen die Deutsche Sprache, die gewiss darin sind. Ich habe sie so wörtlich wie möglich gehalten.“ (V/G 20  f.) 15 AV 12. Nach Verweys Aussage verstand George zu Beginn ihrer Bekanntschaft kein Niederländisch; vgl. ebd., S. 13. 16 George besaß nur eine spätere Ausgabe von 1923; SW XV, 142. 17 V/G 45. Übersetzung vom Verfasser.

    

    Übertragungen aus dem Niederländischen 

     775

    und Karl Wolfskehl die bilaterale Korrespondenz zwischen Verwey und dem GeorgeKreis – zumal Wolfskehl als Schwiegersohn des holländischen Dirigenten Willem de Haan den Kontakt ins Nachbarland pflegte. Ein Ausdruck der engsten Zusammenarbeit ist das Gedicht Verweys In Memoriam E.[ugen] S.[chauman]18 gestorven te Helsingfors 16. Juni 1904. George lehnte das Gedicht als Huldigung für einen Mörder ab, übersetzte es jedoch auf Wunsch Verweys, weil Schaumans Vater, Offizier der russischen Armee, kein Niederländisch, wohl aber Deutsch verstand. Das zwölfzeilige Gedicht in Blankversen folgt in der Übertragung recht genau der Vorlage. Verwey ließ das Original mit der Übertragung rund zehnmal drucken und versah das Blatt mit seinen Initialen. George übernahm den Text dagegen nicht in seine Werkausgabe, vielleicht weil das glorifizierende Widmungsgedicht in dieselbe Zeit fiel wie die Trauer um Maximin, dessen Verehrung und Vergottung wiederum bei Verwey auf Unverständnis traf. Die wachsende Entfremdung Georges von Verwey ist hier nicht Gegenstand der Betrachtung. In diese Phase gehören jedoch zwei Gedichte, in denen George selbst die niederländische Sprache benützt. Zum einen ist dies der parataktisch kurzzeilige Text von 1915 mit dem Eingangsvers „Du allein van Buiten“, der zudem ein Zitat aus dem Verwey-Gedicht Van volkstrots enthält (vgl. V/G 180). Der unreine Reim zu „deuten“  – es ist anzunehmen, dass George der Missklang klar war  –19 macht unmissverständlich deutlich, dass beide Sprachen doch weniger vereinbar waren als noch 1896 gedacht oder erhofft. Zum andern widmet George als selbsternannter Dichterprophet seinem niederländischen Dichterkollegen – der stets dem Boden verhaftet blieb – im März 1919 einen komplett niederländisch geschriebenen Zweizeiler, der Verwey signalisieren sollte, dass eine Verständigung zwischen ihnen nicht mehr möglich sei: „Ik zweeg en weet nu dat ik verder zweyg / Daar Gij niet meer Een woord van mij verstaat.“20 Unabhängig von der Innigkeit vor 1900 und den späteren Querelen hatten George und Verwey verschiedene Ansätze der Übersetzung, die an gemeinsamen Zielautoren wie Dante, Shakespeare oder Baudelaire signifikant zum Ausdruck kommen. Während George sich den anderssprachigen Dichtern soweit annähert, dass sie sich in seine poetische Welt einfügen, sucht Verwey den Ton der übersetzten Lyriker „umle-

    18 Der in Verweys Memoiren (AV) versehentlich verwendete falsche Vorname und die Fehlschreibung des Namens als Emil Schaumann wurden in der Rezeptionsgeschichte bis heute kolportiert, vgl. CP 33 (1984), H. 161–162, S. 77  f. Der Finnlandschwede Eugen Schauman (1875–1904) sympathisierte mit den finnischen Nationalisten, ermordete 1904 den russischen Generalgouverneur Nikolai Iwanowitsch, danach sich selbst – seine Tat wird als Terrorakt eingestuft. Das Gedicht ist als Faksimile erstmals publiziert im CP, ebd., S. 78. 19 Allerdings findet sich auch in den Ausspracheregeln zeitgenössischer Sachbücher die falsche Gleichstellung der Diphtonge ndl. „ui“ und nhd. „eu“, vgl. Albert Verwey: Rhythmus und Metrum. Übers. v. Antoinette Eggink. Halle 1934, S. 82. 20 V/G 187. „Ich schwieg und weiß nun dass ich weiter schweige / Da Du nicht mehr Ein Wort von mir verstehst.“ Übersetzung vom Verfasser.

    776 

     Günter Baumann

    send“ beizubehalten.21 So sehr allerdings Verwey begriff, dass seine Theorie etwa bei Baudelaire scheiterte – Shelley lag ihm ohnehin näher –, was ihm angesichts der Umdichtungen, d.  h. Umdeutungen Georges vor Augen geführt wurde, so sehr vermied George im Umgang mit der niederländischen Sprache den Eindruck einer allzuweit vom Original entfernten Anverwandlung. George strebte – wie kaum sonst in einer anderen Sprache – im Einklang mit seinen Kreismitgliedern eine Werktreue an, und ginge sie auf Kosten der Ästhetik. So schreibt Rudolf Pannwitz in der Einleitung zu seinen Übertragungen von Verwey-Gedichten 1933: Wünschenswert ist – das hat vor langem schon George gefordert – dass man diese nicht schwer erringbare holländische dichtung in der ursprache lese. – Das übersetzen aus einer germanischen sprache ist schwieriger als das aus einer fremden. Man wird wörter wortfolgen und reime nicht leicht preisgeben und eben so ungerne ton und woge – aber bald weichen die bedeutungen ab oder die silbenzahl oder der vokal. Mein bestreben war lieber die deutsche sprache etwas zu holländisch als die holländische zu deutsch zu machen und so wenig als möglich aufzuopfern oder gar abzuschleifen.22

    George übernahm Verweys Strophenform, ahmte das Reimschema weitestgehend nach, wobei er  – selten  – tatsächlich auch in Kauf nahm, die Regeln der eigenen Sprache zu verletzen, und folgte dem Rhythmus des Originals. Er wäre jedoch nicht der selbstbezogene, zuweilen egomane Dichter, wenn er der Vorlage nicht auch seinen Sprachwillen aufgenötigt hätte. Pannwitz sah Georges Übersetzung durchaus kritischer, als er es in der zitierten Einleitung zu erkennen gab. Es könne „nicht ausbleiben, dass der Guss nicht immer gleichmäßig ist und an die Stelle des Gewordenen Erzwungenes tritt, kontaktlose Elemente sich konstellieren, ein übermächtiger Wille die bei Verwey öfters lockere Gesetzlichkeit zum Banne oder Krampfe werden lässt.“23 Dem „übermächtigen Willen“ setzt Pannwitz die Natürlichkeit Verweys entgegen: „Verweys sprache  – ganz eins mit seiner seele  – ist erd- und volkssprache auf der höhe von kunstsprache / etwas das wir nicht kennen und das auch nichts zu tun hat mit mundarten. wir erinnern uns am ersten noch an unser mittelhochdeutsches.“24 George dagegen „verstößt, trotz seiner ererbten, ja bäuerlichen Naturverbundenheit, im Gedichte leicht gegen die Tatsachen und Strukturen der äußeren Natur und überhaupt der organischen Gefüge“25. Weniger pathetisch konstatiert D. Bietenhader in seiner sprachwissenschaftlichen Studie zu Georges Verwey-Übersetzungen die persönlichen Unterschiede beider Dichtersprachen:

    21 Vgl. den Aufsatz von Martin Hietbrink: In de schaduw van Stefan George. De Baudelaire-vertalingen van Verwey. In: Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 115 (1999), S. 218–235. 22 Albert Verwey: Ausgewählte Gedichte. Übers. v. Rudolf Pannwitz. München-Feldafing 1933, S. 10. 23 Rudolf Pannwitz: Albert Verwey und Stefan George. Zu Verweys hundertstem Geburtstag. Heidelberg 1965, S. 29. 24 Albert Verwey: Ausgewählte Gedichte (wie Anm. 22), S. 8. 25 Rudolf Pannwitz: Albert Verwey (wie Anm. 23), S. 29.

    

    Übertragungen aus dem Niederländischen 

     777

    So würde ich den Ton Verweys mit ‚warm‘, ‚bescheiden‘, ‚Natürliches bejahend‘, ‚gebildet, aber einfach‘ beschreiben. […] Es lag dem selbstbewussten George nicht, das Fremde ganz treu wiederzugeben. […] Die Übersetzung ist straffer, abstrakter, gehobener, preziöser und mythischer […] als das Original.26

    Bietenhader macht deutlich, wie sehr George insbesondere um die Reime kämpft, wobei es auf der Hand liegt, dass eine reimbetonte Übersetzung Umbauten im Satz bzw. im Vers erfordert. Wenn man dies berücksichtigt, respektiert George die Vorlage überraschend konsequent – was schon insofern nicht verwundert, weil er zumindest für seine frühen Übersetzungen auf Verweys Hilfe zurückgreifen musste. Doch auch hier – oder gerade wegen der relativen fremdsprachlichen Defizite seitens George – legt der deutsche Lyriker seinen erhabenen Ton über die Übertragungen. Im Folgenden wird der Befund Bietenhaders, der noch immer seine Gültigkeit hat, kurz referiert. Im Idealfall sind die deutschen und niederländischen Wörter lexikalisch derart verwandt, dass sie einfach angepasst werden („zorgen  / sorgen“; „koelt  / kühlt“, „omspoelt  / umspült“  – SW  XV,  87)  – in der Übersetzung aus dem Englischen wäre das kaum möglich, geschweige denn aus einer romanischen oder slawischen Sprache. Man muss kaum darauf hinweisen, dass George mit seiner durchgängigen Kleinschreibung auch optisch dem niederländischen Sprachbild näherkommt. Im dritten Gedicht aus Sterren (Sterne), woher die obigen Beispiele stammen, bleibt es freilich nicht so einfach. Da die flektierten Formen dann doch oft abweichen, greift George zu ungewöhnlichen Tricks, die ein gehobenes Sprachniveau hervor­ rufen: So reimt sich „stil / still“, nicht aber „will“ zum „willen“ im Fall des Akkusativ, weshalb George den Vers („Vervullen laat me o Heilge uw veilgen will“) in einer Passiv­konstruktion in imperativem Duktus umdeutet: „Erfüllt o Heilger! Sei dein sichrer will!“ – SW XV, 88). Ähnlich geht es bei den flektierten Verben, wo George die grammatischen Bezüge ändern muss, um den Reim zu erhalten („lijkt“, 2. Person Singular: ‚gij / du‘ / „gleicht“, 3. Person Singular: ‚dein Selbst‘ – SW XV, 83, „held / helden“, „gemeld“, Partizipialkonstruktion  / „zu melden“, Infinitivkonstruktion  – SW XV, 91). Des Weiteren tauchen unreine Reime auf („schoon / schön“ – SW XV, 71, „horen / hören“ – SW XV, 85, „lijven / leiber“ – SW XV, 84, „samen / zusammen“ – SW XV, 89). Wo die Grammatik nicht mehr ausreicht, übernimmt George auch gern selbstgeschaffene Niederlandismen, die beim Leser Irritationen auslösen dürften („om mij rond / um mich rund“ – SW XV, 88, „van donkre baren / dröhnen dunkler baren“ – SW XV, 84) oder verfremdend wirken („in hun eigen luister / durch eignen lüster“ – SW XV, 92: gegenüber ndl. „luister“, Glanz, ist „lüster“ mehrdeutig). Wo keine wurzelverwandten Wörter zur Verfügung stehen und keine quasiverwandte Wortschöpfung sich anbietet, gibt George auch einen der Ursprungsreime auf und sucht 26 D. Bietenhader: Die Verwey-Übertragungen von Stefan George. In: Niederlandistik in Entwicklung. Vorträge und Arbeiten an der Universität Zürich. Hg. v. Stefan Sonderegger u. Jelle Stegeman. Leiden und Antwerpen 1985, S. 127–191, hier S. 158  f.

    778 

     Günter Baumann

    neue Lösungen („leven / leben“, „overbleven / möcht ergeben“ – SW XV, 73, „wenen / weinen“, „borlen voor zich henen“ / murmeln in den steinen“ – SW XV, 77), oder er zieht Wörter aus dem Versinneren nach außen („toegeweijd / geweiht“, „vergaan / vergehe“, „zonder klacht, voldaan / ohne lautes wehe“ – SW XV, 70). Nach Bietenhader bestehen jedoch fast die Hälfte aller Reime aus wurzelverwandten Wörtern, an zweiter Stelle kommen die Reime mit nur einem wurzelverwandten und einem freien Begriff – das heißt, dass bei etwa zwei Dritteln aller Reime bewusst die Nähe zum Original gesucht wird. Das trifft auch auf den Rhythmus zu, nur musste George dem Umstand Rechnung tragen, dass das Deutsche um einige Silben länger läuft als das Niederländische. Der Übersetzer löst die Aufgabe dadurch, dass er in den Kasus eingreift, Genus-Änderungen vornimmt, Binde- und Füllwörter oder Hilfsverben weglässt und sogar Apostrophe einsetzt, um die Silbenzahl zu beschränken. Syntaktisch wie inhaltlich formt er Verse um und greift auch zu dichterischen Freiheiten, die letztlich im Vokabular auch innovative Formulierungen enthalten. So lässt er die „nanacht“ im Original als „nachnacht“ stehen (SW XV, 83), darüber hinaus finden sich „stervling / sterbling“ (SW XV, 80), „komst / kunft“ (SW XV, 91). Festzuhalten ist, dass George, um die Form der Reimkonstruktion und des Strophenbaus zu erhalten, en détail zu Eingriffen in die Sprache greift, die an der Authentizität des Originals rütteln. Kongenial sind Stefan Georges Übertragungen da, wo er Texttreue und eigene Persönlichkeit in einer Balance hält. Treffliches Beispiel ist das Gedicht Aan Johs. Addens en zijn Gezin (An Johannes Addens und seine Gattin), das an einen Konsul gerichtet war, den auch George persönlich kannte. George lobte das Widmungsgedicht zu Beginn des Jahres 1898: „Ich lese wieder die […] Dichterlijke Toespraken und finde das an Herrn Addens gerichtete von hohem wert. Es ist darin etwas von der Bewegung der ganz grossen Künstler, mit jenem ‚grossen anschauen des Lebens‘ das mit das merkmal von werken ersten ranges zu sein scheint.“ (V/G  47) Verwey seinerseits stufte die Übertragung hoch ein, als er sie im November 1901 zur Korrektur zu Gesicht bekam: „Es sind […] nur wenige [Ungenauigkeiten]: Ich frage mich, ob holländische Leser beim Erklären der Gedichte nicht mehr Fehler begehen würden. Die ganze Reihe der Übertragungen ist eine gute solide Arbeit, doch manche, wie das Addens-Gedicht, sind meisterhaft.“27 Dabei musste George durchaus in den Textbestand eingreifen, um Metrum und Reim zu erhalten. Gleich am Anfang verkürzt er das zweigliedrige, aus Nomen und Adjektiv bestehende „klokge bloemen“ zu „blumenglocken“ (hier und im Folgenden: SW XV, 74  f.), um die Verslänge zu halten und um das Reimwort neu zu gestalten: „roemen“ macht er kurzerhand zu „frohlocken“. ‚Glockge blumen‘ hätte sicher seinem Wortgespür widersprochen, wiewohl George weiter unten die „herfstge vrienden“ als „herbstge freunde“ übernimmt  – das einzige Mal, wo er das „i“ aus metri­schen Gründen synkopiert. Die Apostrophierung von „ik“ zu „’k“ wollte und konnte George so nicht übernehmen („En ʼk stil maar, snikkend mij een

    27 V/G 101. Übersetzung vom Verfasser.

    

    Übertragungen aus dem Niederländischen 

     779

    jeugd herbad, / Die ʼk o zo lief, zo noô verloren had“), sodass er an anderer Stelle des Verses verkürzen musste: „Still seufzend eine jugend herbeschwor / Die ich so liebte · so ungern verlor“. Das Dilemma löst George an anderer Stelle vergleichbar elegant, wo Verweys apostropher Stil („Nu ga ik heen, nu ben ʼk een man geleijk“) Verkürzungen erzwingt: „Jezt geh ich hin · bin jezt dem manne gleich“. Das „wingert“ für ‚Weinberg‘ im zweiten Vers ist ein Niederlandismus („wijngaard“), doch wird dem Sohn eines Weinbauern die Form (Wingert oder Wengert) wohlvertraut gewesen sein. Weiter unten verwendet George noch einen echten Niederlandismus: „kommer“ für „komer“ (zu „zomer  / sommer“). Wo Verwey einmal das Reimschema durchbrach (abba statt abab: „vol hoop – dagen – dragen – doop“), variiert George den Bruch im Schema (aabb), stellt aber die Reime selbst um, um die nicht wurzelverwandten Wörter zu meiden, wobei ihm ein Binnenreimwort bei Verwey („hoop – loop – doop“) zugutekam: „voll vertraun – zu erschaun – nach solchem laufe – taufe“. Auch gibt er anderswo die Reimwörter von Verwey ganz auf, wo sich keine adäquate Form finden lässt („voor  – behoor“; „zugekehrt  – wert“). Inhaltlich sucht George die direktere, zuweilen drängendere oder kräftigere Form: „In neuem land ein wanderer zu sein“ statt: „Een wandlaar in een nieuwe dreef zal zijn“ („dreef“ meint nur eine Straße oder Allee), und statt „niet zonder [‚nicht ohne‘] lustgen lof“ liest man bei George: „voll vergnügtem preis“. Dabei findet er auch seine ureigene Sprachform: aus „heer in vreemden hof“ wird bei ihm ein „herr im fremden kreis“. Wenn George das Versmaß an einer Stelle glättet (Verwey beginnt trochäisch bei: „Rozen zal bloeien zien aan vreemde staken“) und ohne Not das jambische Maß der anderen Verse auch hier erhält („Soll rosen blühen sehn an fremden hecken“), so zeigt er damit auch, dass er als Übersetzer auf Augenhöhe mit dem fremdsprachigen Dichter ist und nicht blind der Vorlage folgt. Verwey hat dies offenbar – schon aus Bewunderung für den Dichter George – als eigene Note geschätzt.

    Francesco Rossi

    D’Annunzio-Übertragungen Stefan Georges Übersetzungen aus dem Italienischen übten ohne Zweifel einen maßgeblichen Einfluss auf die deutsche Rezeption von Gabriele D’Annunzio aus, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie zu den frühesten im deutschsprachigen Raum gehören. Die eigentliche Erfolgsgeschichte des Italieners beim deutschen Publikum begann in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre mit der entscheidenden Einschaltung des Berliner Verlagshauses S.  Fischer,1 sodass vor Erscheinen der ersten Gedichte im März 1893 in den Blättern für die Kunst (BfdK I, 3) fast keine Übersetzungen nachzuweisen sind.2 Nichtsdestoweniger stellen Georges D’Annunzio-Übersetzungen einen Meilenstein in der deutschen Literaturgeschichte dar, weil durch sie die bildhafte Sprache des ‚Imaginifico‘ (des Bildgebers, wie der Dichter in Italien genannt wurde) in einem ausgewählten Kreis zu zirkulieren begann. Von diesen Übersetzungen beeinflusst,3 schrieb Hugo von Hofmannsthal seinen ersten berühmten Artikel über den italienischen Dichter für die Frankfurter Zeitung (9. August 1893), in dem er ihn zum paradigmatischen Vorbild für die Literatur der Gegenwart avancieren ließ.4 Zu den genauesten und produktivsten Lesern der Werke D’Annunzios in Deutschland zählt außerdem Karl Gustav Vollmoeller, der als Mitglied des George-Kreises D’Annunzio persönlich kennenlernte und von ihm etliche Werke in Prosa und Versen übersetzte.5

    1 Vgl. Adriana Vignazia: Die deutschen D’Annunzio-Übersetzungen. Entstehungsgeschichte und Übersetzungsprobleme. Frankfurt/M. u.  a. 1995, S. 13  ff. 2 Voraus gehen nur die Übersetzungen von elf Gedichten aus dem Intermezzo in Enrico Panzacchi, Lorenzo Stecchetti und Gabriele D’Annunzio: Neueste italienische Lyrik. Übers.  u. hg. v. Julius Litten. Dresden 1888. Zur deutschen Rezeption von D’Annunzio vgl. Hans Hinterhäuser: D’Annunzio und die deutsche Literatur. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen  116 (1964), Bd. 201, S. 241–261; Katharina Meyer Troxler: Recezione delle opere di D’Annunzio nei paesi tedeschi. In: D’Annunzio e la cultura germanica. Atti del VI Convegno internazionale di studi dannunziani. Pescara 3–5 maggio 1984. Hg. v. Centro Nazionale di Studi dannunziani. Pescara 1985, S. 267–275, sowie Elena Agazzi: I rapporti di D’Annunzio con la cultura tedesca. In: Itinerari dannunziani. Atti della giornata di studio organizzata dal Cenacolo Orobico di poesia. Bergamo 1999, S. 65–79. 3 Vgl. den Brief Hofmannsthals an George vom 1. 4. 1893 und Georges Antwortbrief vom3. 4. 1893. In: G/H 61  f. Zum Verhältnis Georges und Hofmannsthals zu D’Annunzio vgl. außerdem Manfred Durzak: Ästhetizismus und die Wende zum 20. Jahrhundert. Gabriele D’Annunzio, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. In: Das Europa-Projekt der Romantik und die Moderne. Ansätze zu einer deutsch-italienischen Mentalitätsgeschichte. Hg. v. Silvio Vietta u.  a. Tübingen 2005, S. 143–157. 4 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Gabriele D’Annunzio  (I). In: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa I. Hg. v. Herbert Steiner. Frankfurt/M. 1956, S. 147–158. 5 Vollmoeller übersetzte das Theaterstück Francesca Da Rimini, den Roman Vielleicht, vielleicht auch nicht (1910) und das Drehbuch Cabiria (1920). Vgl. Adriana Vignazia: Die deutschen D’Annunzio-Übersetzungen (wie Anm. 1), S. 336  f.

    D’Annunzio-Übertragungen 

     781

    Stefan Georges Verhältnis zu D’Annunzio entwickelte sich im Zeichen einer dichterischen Verwandtschaft, die von der gemeinsamen ästhetizistischen Poetik herrührte.6 Beide Dichter standen einige Jahre hindurch in brieflichem Kontakt und schickten einander ihre wichtigsten Werke als Beweis der gegenseitigen Hochachtung. In dieser Hinsicht sprechen die überlieferten Widmungsexemplare in den Privatbibliotheken beider Autoren für sich. Mit ganz herzlichen und den Adressaten zugleich erhebenden Worten schickt D’Annunzio 1893 aus Neapel ein Exemplar seiner Elegie Romane. „A Stefan George, all’artefice elettissimo, al caro fratello“, heißt es hier. George antwortet ehrerbietig 1899 mit einem Exemplar vom Jahr der Seele und den Worten „dem Dichter Gabriele D’Annunzio mit der steten grossen Bewunderung seines Stefan George [gewidmet]“. Wenige Jahre später schickt er dem verehrten ‚Dichterkollegen‘ die Anthologie Zeitgenössische Dichter (1905) mit folgender Widmung: „au poète de l’Italie son admirateur Stefan George.“7 So wird D’Annunzio in der kurzen redaktionellen Vorbemerkung zu den Übersetzungen in den Blättern I, 3 als einer „der hervorragendsten dichter des jungen Italien“ vorgestellt (SW XVI, 110), dessen repräsentativen Wert es für eine ganze Generation zu unterstreichen gelte. Von Anfang an steht Gabriele D’Annunzio im George’schen Kanon der Gegenwartsautoren also stellvertretend für die Gesamtheit der dichterischen Produktion Italiens. Als „Statthalter der neuen Poesie jenseits der Alpen im Lande Dantes und Petrarcas“8 kommt ihm George zufolge eine besondere Rolle zu. Als einen „fabelhafte[n] Schwindler“, dieser Eigenschaft aber in ganzheitlicher Weise entsprechend, habe George den Italiener privatim bezeichnet.9 Von D’Annunzio hat George lediglich fünf Gedichte aus dem Paradiesischen Gedicht (Poema paradisiaco, 1893) und darüber hinaus ein kurzes Prosastück über die plastische Kraft des Verses aus dem Roman Lust (Il  Piacere, 1889) übersetzt.10 Zunächst erschienen die Übertragungen dreier Gedichte in den Blättern I, 3 – nämlich

    6 Vgl. Mario Zanucchi in GHb III, 1329–1332. Vgl. außerdem Gabriella Rovagnati: D’Annunzio nella traduzione di George: dal fascino dell’ambiguo al ritmo deciso della misura. In: Sulla traduzione letteraria. Contributi alla storia della ricezione e traduzione in lingua tedesca di opere letterarie italiane. Hg. v. Maria Grazia Saibene. Milano 1989, S. 97–117. 7 Zitiert nach Adriana Vignazia: Die deutschen D’Annunzio-Übersetzungen (wie Anm. 1), S. 29. Vgl. auch Mario Zanucchi: D’Annunzio, Gabriele, GHb III, S. 1331. 8 So Manfred Durzak: Ästhetizismus (wie Anm. 3), S. 144. Neben D’Annunzios Gedichten und den Passagen aus Dantes Divina Commedia hat George zwei Sonette aus Petrarcas Canzoniere (GA I, 132) und Dantes Vita Nuova (SW XVIII, 64) und Rime (SW XVIII, 65) aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt. Besonders in seiner Frühdichtung sind die Bezüge zu diesen Autoren poetisch wie auch thematisch relevant. 9 So Ernst Glöckner: Begegnung mit Stefan George. Aus Briefen und Tagebüchern 1913–1934. Heidelberg 1972, S. 81. 10 Stefan George: Vers als Kunstmittel. In: BfdK 7, 1, S. 7. Laut Ernst Glöckner (Begegnung mit Stefan George [wie Anm. 9], S. 81) hat er während des Krieges die Absicht gehegt, die Kriegslieder des Italieners (Merope, 1911) zu übersetzen. Diese Übertragung kam aber nicht zustande.

    782 

     Francesco Rossi

    Trost, An die Lorbeern und Ein Traum. Dieselbe Reihe, allerdings um die Gedichte Der Betrug und Eine Erinnerung ergänzt, die möglicherweise bereits bis März 1893 übersetzt worden waren, ließ George 1905 im zweiten Band der Zeitgenössischen Dichter erneut drucken. Es lassen sich dort nur geringfügige Änderungen in der Zeichensetzung und Orthografie beobachten.11 Die ursprüngliche Reihenfolge der Gedichte, die in den Blättern für die Kunst keine Beachtung findet, wird erst ab den späteren vollständigeren Veröffentlichungen eingehalten. Der Grund für Georges Beschränkung bei der Auswahl hängt in diesem Fall hauptsächlich mit dem von ihm benutzten Quellentext zusammen. Als Übersetzungsvorlage dient ihm nämlich eine kleine Gruppe von Gedichten, die D’Annunzio im Januar 1891 unter dem Titel Nuove rime in der römischen Kulturzeitschrift Nuova Antologia veröffentlichte.12 Aus den insgesamt acht dort gedruckten Gedichten greift George nur fünf heraus.13 Zwei Jahre nach ihrem Erscheinen in dieser Zeitschrift (aber erst nach der Veröffentlichung der Blätter I, 3) finden ebenjene Gedichte Eingang in die dritte Abteilung von D’Annunzios Gedichtsammlung Paradiesisches Gedicht, welche die Überschrift Hortulus animae trägt. Durch das vom altgriechischen parádeisos (Garten, Park) abgeleitete Adjektiv paradisiaco spielt D’Annunzio bereits im Titel auf das Bild des Gartens als leitende Metapher des gesamten Zyklus an.14 Der Garten versinnbildlicht die Dichtkunst schlechthin als eingerahmten, von Menschenhand kunstvoll gestalteten Raum. Freilich stellt das Verhältnisspiel zwischen Landschaft und Kunstwerk eine Analogie zur Verfügung, die unter poetologischem Gesichtspunkt für Georges Frühdichtung geradezu von grundlegender Bedeutung ist. Es ist somit kein Zufall, wenn gerade die von ihm ausgewählten Gedichte einprägsame Gartenbilder enthalten: Komm mit ins freie! der verlassne garten Bewahrt für uns noch manchen seitenweg. Ich sage dir wie das geheimnis süss ist Das auf gewissen fernen dingen schwebt. Noch manche rose ist am rosenbusche. Noch manches kraut gibt schüchtern seinen duft. Obwohl verlassen wird die teure stätte Noch lächeln wenn du lächeln wirst. (SW XVI, 63)

    11 SW XVI, 160  ff. Diese kleine Gruppe von Übertragungen erschien schließlich 1929 in GA XVI, 65–71 u. 74  f. 12 Gabriele D’Annunzio: Nuove Rime. In: Nuova Antologia 115 (1891), Fasc. 2, S. 345–351. 13 George übersetzt nicht die Gedichte O Giovinezza!, Il Verbo und Un ricordo (II). 14 Vgl. dazu Thomas Amos: Die Anrufung des Lorbeers. Poetisch-poetologische Konzeptionen bei D’Annunzio und George. In: Italienisch 21 (2001), S. 74–81.

    D’Annunzio-Übertragungen 

     783

    Nicht zuletzt wegen ihrer Appellstruktur ähneln diese Strophen aus Trost dem Anfang des Gedichts Komm in den totgesagten park und schau sehr.15 Vergleicht man die berühmtesten Beschreibungen der Grünanlagen, Gärten oder Parks aus den Hymnen bis hin zum Jahr der Seele mit diesen Versen, so fallen sofort Ähnlichkeiten auf, etwa die Geste der Einladung zum Mitkommen, die herbstlich gestimmte Natur, die schwebende Perspektive, das synästhetische Wahrnehmungsmuster, der leise und liedhafte Grundton. D’Annunzios lyrisches Ich will ein Lied „Nach einem alten tone, doch mit etwas / Nachlässiger und schwanker zierlichkeit“ verfassen („sopra un antico metro ma con una / grazia che sia vaga e negletta alquanto“). Die Bescheidenheit des Dichters ist hier aber nur eine scheinbare, zeichnen sich seine Verse doch durch eine ausgesuchte Bildlichkeit, Rundung und Plastizität aus. Die Mattigkeit des sprechenden Ich birgt nämlich die Sehnsucht nach jener religiösen Intimität in sich, welche die vertrauten Gegenstände und Räumlichkeiten noch bieten. Und so spielt D’Annunzio mit den Topoi der ästhetizistischen ‚Nervenkunst‘. Die sprechende Stimme wird mit einem hohen Maß an Reizbarkeit und Rezeptivität ausgestattet – die Sinneseindrücke sammeln sich. Im Vordergrund stehen Klänge und Farben. Die Gefühle kommen eher gedämpft vor: Das starke Hervortreten jedes einzelnen Details im Garten bewirkt, dass alles andere – Krankheit, Schmerz, Tod, Trauer – fast nebensächlich wirkt. Der Standpunkt, den das lyrische Ich einnimmt, wirkt somit zugleich subjektiv und gefühlsfern, persönlich und trotzdem kühl. Inszeniert wird der Triumph der reinen, über jeglichen Gefühlswert erhabenen Form. Im Paradiesischen Gedicht entwickelt D’Annunzio also eine Schreibweise, die dem George’schen Ideal der ‚geistigen Kunst‘ sehr nahe kommt. George lässt die früheren Gedichte aus der Phase des stilistischen Eklektizismus außer Betracht, indem er sich auf die Produkte eines ihm kongenialeren Moments der Entwicklung von D’Annunzios Poetik konzentriert, der für seine eigene Dichtung von Belang ist. Daher gleicht sein D’Annunzio dem D’Annunzio eines Paul Heyse nicht im Geringsten.16 Eine gewöhnliche Verdeutschung interessiert ihn nicht, sein Ziel ist vielmehr die Wiedergabe des gewundenen Satzgebildes und der subtilen Empfindlichkeit des Originals, weswegen sich die D’Annunzio-Übersetzungen von den anderen Übertragungsarbeiten Georges unterscheiden. In diesem Fall geht es nämlich weniger um eine schöpferische, die

    15 Vgl. Manfred Durzak: Ästhetizismus (wie Anm. 3), S. 151. Das Jahr der Seele sollte ursprünglich den Titel „Annum [sic] animae“ tragen, vielleicht in Anlehnung an D’Annunzios Hortulus animae. Vgl. Thomas Amos: Die Anrufung des Lorbeers (wie Anm. 14), S. 78, sowie G/C 59. 16 Vgl. Italienische Dichter seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Übersetzungen und Studien von Paul Heyse. Bd. 5: Lyriker und Volksgesang. Stuttgart u. Berlin 1905, S. 127  f. Zu Heyses Übersetzungen vgl. Raffaella Bertazzoli: In margine ad una lirica dannunziana tradotta da Paul Heyse. In: D’Annunzio e la cultura germanica (wie Anm. 2), S. 253–264, bes. S. 259.

    784 

     Francesco Rossi

    äußere Form beachtende Umgestaltung des Ausgangstextes als um eine weitgehend wortgetreue Version desselben.17 Die Stellen, an denen sich der Dichter eine gewisse Freiheit gegenüber dem Original in der Wortauswahl erlaubt, sind in den D’Annunzio-Übertragungen nicht zahlreich. Im Gedicht Trost wird aus einem „april defunto“ ein „tote[r] mai“ (SW XVI, 64), es wird also die Angabe des Monats, in dem der Protagonist heimkehrt, geändert. Belangvoller ist jedoch in Vers 49 die Substitution des Cembalos durch einen Flügel, mit dem das lyrische Ich „einen alten walzer“ anklingen lassen soll, während im Original lediglich von irgendeiner unbestimmten alten Tanzweise („qualche vecchia aria di danza“) die Rede ist.18 Weist die deutsche Übersetzung anstelle eines barocken und altmodisch wirkenden ein modernes, zeitgemäßes Musikinstrument auf, so verliert die Beschreibung des anachronistisch konnotierten Innenraums des Familienhauses des Dichters ein wenig an Kohärenz. Doch insgesamt gesehen gestattet sich George in diesem Fall ungewöhnlich wenige Änderungen des Wortlauts der Vorlage, möglicherweise aus besonderem Respekt gegenüber D’Annunzio, wie oben erwähnt. Die Übersetzungen aus dessen Werk erwecken somit den Eindruck einer gewissenhaft durchgeführten Arbeit mit wenigen Lizenzen. Lexikalische Genauigkeit und Treue gegenüber der Vorlage werden aber durch den Verzicht auf den Reim erkauft, was für George ungewöhnlich ist. In der Tat wird die Reimstruktur der Ausgangstexte – nämlich die Verkettung der Terzine in Ai lauri und Un sogno, der umarmende Reim in Consolazione, der Kreuzreim in L’inganno bis hin zur komplexeren Madrigalform in Un ricordo – nicht beibehalten. Mit Ausnahme des zuletzt erwähnten Gedichts entspricht aber zumindest die Strophengliederung dem Original. Ungereimte jambische Fünfheber mit männlichen und weiblichen Endungen ersetzen die gereimten Endekasyllaben der Vorlage. Im Ausgangstext findet die poetologisch relevante „nachlässige[] und schwanke[] Zierlichkeit“ der Versifikation jedoch gerade in einem äußerst manierierten Spiel der Reime ihre Erfüllung. Dort verleiht D’Annunzio dem paronomastischen und dem identischen Reim eine strukturtragende Funktion.19 Trotz des Verzichts auf dieses Reimspiel gelingt es dem Übersetzer aber dennoch, durch die häufige Anwendung von Halbreimen und Assonanzen dem Leser eine Vorstellung der inneren Musikalität des Originals zu geben. Halbreime finden sich in Georges Übersetzung beispielsweise zwischen dem ersten und dem dritten Vers von An die Lorbeeren („schatten / abend“), dem zweiten und dem dritten Vers von Trost („müde / blühen“), dem zweiten und dem vierten Vers von Der Betrug („sitze / wisse“) und dem zweiten und dem vierten 17 Vgl. Gert Mattenklott: D’Annunzio e George. In: D’Annunzio e la cultura germanica (wie Anm. 2), S. 243–252. 18 Gabriele D’Annunzio: Nuove Rime (wie Anm. 12), S. 348  f. 19 Ein paronomastischer Reim findet sich beispielsweise in Consolazione („sognare / sonare“). Identische Reime finden sich in ebenda („pallore / pallore“) und in Un sogno, („bianco / bianco“) sowie („voce / voce“).

    D’Annunzio-Übertragungen 

     785

    Vers von Ein Traum („seite / leiche“). In den Versen 42 und 43 von Trost sowie 13 bis 15 und 23 bis 25 von Ein Traum formt George die identischen Reime nach, und zwar so, wie sie im Original stehen. In den meisten Fällen bildet er aber einfach assonantische Verbindungen, z.  B. zwischen den Versen  54 und 55 von Trost („verbreiten  / atem“). Schließlich enthalten Georges Verse mehrere konsonantische Übergänge zur Stärkung des rhythmisch-musikalischen Zusammenhangs des Verses. Die Enjambements finden sich meistens an der gleichen Stelle wie im Original, dessen fließender Gang auf diese Weise imitiert wird.20

    20 Eine der wenigen Ausnahmen stellt der Anfang des Gedichts An die Lorbeeren dar: Das Strophen­ enjambement zwischen den beiden ersten Terzinen entspricht nicht dem Original. Allerdings handelt es sich um eine nach dem Erstdruck überarbeitete Stelle (SW XVI, 159).

    Robert Rduch

    Übertragungen aus dem Polnischen Georges Übersetzungen der Gedichte von Wacław Rolicz-Lieder wären ohne die persönliche Bekanntschaft beider Dichter nie entstanden. Der Deutsche war vierundzwanzig und der Pole zwei Jahre älter, als sie, angezogen durch das Flair des französischen Symbolismus, im Kreis um Mallarmé aufeinandertrafen. Zu den ersten Kontakten kam es durch die Vermittlung des gemeinsamen Freundes Albert SaintPaul. Die ersten dokumentierten Zusammenkünfte fanden vom Ende Februar bis Mitte März 1892 in Paris statt. Damals wurde die Dichterfreundschaft geknüpft, die bis zum Tod Rolicz-Lieders währte. Obwohl George bereits im Dezember 1891 einige Gedichte Lieders in französischer Übersetzung des Autors bekam und um die Übertragung ins Deutsche gebeten wurde,1 startete ihre übersetzerische Zusammenarbeit erst  1894. Robert Boehringer berichtet über ein Ereignis, das George unmittelbar dazu anregte, Gedichte von Rolicz-Lieder ins Deutsche zu übertragen. Nach dem Treffen der beiden Dichter in Wien im Juni 1894 schlug Lieder dem deutschen Freund „ein Motiv für ein zweites Kallimachus-Gedicht2 vor: Beim Anhören eines Gedichtes in fremder Sprache von einem fremdsprachigen Freund. Dies Gedicht entstand nicht, wohl aber begann George jetzt, Lieders Gedichte zu übersetzen.“3 Insgesamt wurden Georges Übersetzungen von 32 Gedichten und einem Prosa­ fragment4 veröffentlicht. Die meisten erschienen zuerst in den Blättern für die Kunst in den Jahren 1894–1901 (30 Gedichte und das Prosafragment). Sie gingen 1905 mit geringfügigen Veränderungen in den zweiten Band der Anthologie Zeitgenössische Dichter ein (29  Gedichte)5 und wurden zur selben Zeit als Sonderdruck publiziert. In der Gesamt-Ausgabe der Werke von George kam ein neues Gedicht hinzu.6 Eine weitere unbekannte Übersetzung wurde 1962 im George-Gundolf-Briefwechsel abgedruckt.7 Die Gestaltung der Publikationen zeugt davon, dass beide Dichter der translatorischen Zusammenarbeit große Bedeutung beimaßen. Manche Gedichte Lieders

    1 Vgl. die Briefkarte von Rolicz-Lieder an Stefan George vom 20. 12. 1891. In: Wacław Rolicz-Lieder, Stefan George: Gedichte. Briefe. Stuttgart 1996, S. 81. 2 Das Gedicht An Kallimachus, das Rolicz-Lieder gewidmet war, erschien in BfdK II, 1 im Januar 1894. 3 RB I, 232. Vgl. auch den Brief von Rolicz-Lieder an George vom 2. 7. 1894. In: Wacław Rolicz-Lieder (wie Anm. 1), S. 83. 4 Es handelt sich um die Einleitung der Gesamt-Ausgabe der Gedichte von Rolicz-Lieder. Vgl. ebd., S. 51. 5 In dieser Auswahl fehlt das Gedicht Hier ist die bei nacht zirpende halle, das in BfdK V, S. 41 erschien. Die deutsche Version des Gedichtes Ballada o poczciwej dziewczynie trug in BfdK II, 3 den Titel Ballade von einer teuren magd. In den Zeitgenössischen Dichtern wurde dasselbe Gedicht nach den ersten Worten des Textes Meine geliebte … betitelt. 6 Vgl. GA XVI, 104. Es handelt sich um das Widmungsgedicht Ich möchte wissen ob auf dieser erde. 7 Vgl. G/G 139. Es handelt sich um das Widmungsgedicht Sieben griechische mittelmeerstädte.

    

    Übertragungen aus dem Polnischen 

     787

    erschienen auf Deutsch noch vor ihren polnischen Ausgaben. Zwei deutsche Übersetzungen wurden erstmals in Lieders polnischem Band Wiersze III 1895 publiziert. Auch die Voranstellung der Übersetzungen aus dem Polnischen in den Blättern für die Kunst8 sowie die quantitative Dominanz der Lyrik von Lieder in der Sammlung Zeit­ genössische Dichter verstärken noch den Eindruck, dass die Kooperation als Ausdruck einer innigen Freundschaft aufzufassen ist. 1968 und 1996 wurden zweisprachige Editionen der Übersetzungen herausgegeben, in denen die Gedichte mit sorgfältigen biblio­grafischen Angaben versehen wurden.9 Literaturkritik und -wissenschaft äußerten sich über die Übersetzungen selten und meistens nur oberflächlich. Der „Pole Rolicz“10 wurde zwar durch seine deutsche Präsenz als einer von „Georges Vettern“ nobilitiert, aber als Alfred Kerr in kurzem zeitlichen Abstand den Zeitgenössischen Dichtern zwei enthusiastische Artikel widmete, stand in den beiden Beiträgen nichts über Lieders Lyrik, ganz zu schweigen von Versuchen, die Qualität der translatorischen Leistung zu beurteilen. Den Kritiker interessierte in erster Linie die Frage: „Wer ist dieser Dolmetsch?“11 Damit wurde der Blick auf das Translat und das polnische Original durch die Person des Sprachmittlers verstellt, und wenn Kerr sich schon auf den Vergleich des Originals mit der Übersetzung einlässt, dann tut er das nur mit Gedichten der französischen und englischen Dichter, weil das Polnische für deutsche Literaten eine unüberwindbare Barriere darstellt. Die slawische Sprache fristete damals in Deutschland eine kümmerliche Existenz des Exotischen und Minderwertigen. Mangelnde Sprachkenntnisse sowie Unwissenheit in Bezug auf die polnische Kultur führten dazu, dass deutsche Forscher Georges Übersetzungen aus dem Polnischen lange Zeit nicht beachteten. In Polen hingegen leitete die Rezeption der Übersetzungen eine Wiederentdeckung der Lyrik von Rolicz-Lieder ein. 1935 veröffentlichte Jarosław Iwaszkiewicz, einer der bedeutendsten polnischen Lyriker des 20. Jahrhunderts, unter dem Pseudonym Kazimierz Bazar den Artikel Stefan George i Wacław Rolicz-Lieder. Nicht ohne dichterischen Neid schildert er die Freundschaft des unbekannten Lieder mit der anerkannten Größe der deutschen Dichtung und formuliert dabei ein pauschales Urteil: Gedichte von Rolicz-Lieder seien flach und unbeholfen, insbesondere im Bereich der Lexik. Dabei basiert seine Bewertung nur auf der Kenntnis der frühen Lyrik von Rolicz-Lieder. Auch Iwaszkiewiczs Einschätzung der übersetzerischen Leistung von George fußt auf einer dürftigen Materialbasis und entbehrt einer stichhaltigen Argumentation. Sein Fazit lautet: „Es reicht nur, dass man die Ori-

    8 Vgl. Georg Peter Landmann: Eine Chronik der Freundschaft zwischen Stefan George und Wacław Rolicz-Lieder. In: Wacław Rolicz-Lieder (wie Anm. 1), S. 142  f. 9 Vgl. Stefan George, Wacław Rolicz-Lieder: Gedichte und Übertragungen. Polnisch-deutsch, deutschpolnisch. Zusammengestellt v. Annette Landmann. Düsseldorf u. München 1968; Wacław Rolicz-Lieder (wie Anm. 1). 10 Alfred Kerr: Stefan Georges Vettern. In: Der Tag 25. 10. 1905. 11 Ebd.

    788 

     Robert Rduch

    ginale liest und diese mit den Übersetzungen vergleicht, um zu verstehen, was für einen guten Dienst George dem polnischen Dichter erwiesen hat.“12 Die vorschnellen Verallgemeinerungen von Iwaszkiewicz wurden von Zofia Ciechanowska13 und von Juliusz Wiktor Gomulicki14 kritisiert. Die beiden Forscher arbeiteten an einer Neuausgabe der Lyrik von Rolicz-Lieder und planten größere Studien über sein Werk. Ihre Pläne wurden vom Zweiten Weltkrieg durchkreuzt. Erst 1965 erschien der Aufsatz Stefan George i Wacław Rolicz-Lieder – ich translatorska wzajemność von Ciechanowska. Er bleibt bis heute der wichtigste Beitrag über Georges Übersetzungen aus dem Polnischen, auch wenn der komparatistische Ansatz der Autorin und ihre Schlussfolgerungen in vielen Punkten kaum genügen können. Ciechanowska lieferte die erste Analyse der von George übersetzten Gedichte. Ihre biblio­grafische Zusammenstellung mit Angaben zu Erstveröffentlichungen der Originale und der Übertragungen bildete eine Basis für weitere Forschungen, da die meisten Gedichtsammlungen von Rolicz-Lieder schwer zugänglich sind. 25 der 32 Gedichte wurden von Ciechanowska mit Kommentaren unterschiedlichen Umfangs versehen. Sie griff auf bisher unbekanntes biografisches Material zurück. Bereits 1937 knüpfte sie Kontakt mit Karl Wolfskehl, aber erst in dem Aufsatz zitierte sie aus seinem unveröffentlichten Typoskript. Bei der vergleichenden Analyse der polnischen und deutschen Texte verfolgte Ciechanowska das explizit formulierte Ziel, herauszufinden, ob Rolicz-Lieders Gedichte durch die übersetzerische Leistung Georges auf ein höheres künstlerisches Niveau gehoben wurden.15 Durch äußere Merkmale eines systematischen Ansatzes – sie teilt die 32 Übersetzungen in drei Gruppen mit angeblich drei unterschiedlichen translatorischen Strategien ein  – will sie die Wissenschaftlichkeit ihrer Analyse untermauern, aber sie vermag nicht, die Unterschiede in der Übersetzungstechnik16 überzeugend nachzuweisen. Zu stark orientiert sie sich an der von Iwaszkiewicz formulierten These, Georges Übersetzungen seien eindeutig besser als die Originale von Rolicz-Lieder. Ciechanowskas Analysen von lyrischen Strukturen in polnischen und deutschen Texten sind meist präzise, aber sie erlauben keine so dezidierten Feststellungen über Qualitätsunterschiede zwischen dem Original und dessen Verdeutschung. Mehrmals behauptet die polnische Germanistin, George kor-

    12 Kazimierz Bazar: Stefan George i Wacław Rolicz-Lieder. In: Skamander 9 (1935), S. 540–549, hier S. 544. 13 Vgl. Zofia Ciechanowska: Notatki do życia i twórczości Wacława Rolicza-Liedera. In: Pamiętnik Literacki 34 (1937), S. 110–114. 14 Vgl. Juliusz Wiktor Gomulicki: Wacław Rolicz-Lieder. Sylweta biograficzno-literacka. In: ­Ateneum 1(1938) 1, S. 59–90. 15 Vgl. Zofia Ciechanowska: Stefan George i Wacław Rolicz-Lieder – ich translatorska wzajemność. In: Roczniki Humanistyczne XIII (1965), S. 47–80, hier S. 51  f. 16 Vgl. ebd., S. 56: „Grupy te różnią się pod względem technik przekładu.“ [„Die Gruppen unterscheiden sich voneinander im Hinblick auf ihre Übersetzungstechnik.“]

    

    Übertragungen aus dem Polnischen 

     789

    rigiere und verbessere das Original.17 Auch wenn man damit einverstanden ist, dass die Übersetzung manchmal besser als das Original sein mag, kann von Korrekturen nur dann die Rede sein, wenn der Übersetzer die Ausgangssprache so gut beherrscht, dass er imstande ist, alle sprachlichen Nuancen zu rezipieren. Stefan George konnte jedoch polnische Gedichte nicht lesen. Unbegründet sind noch zwei andere wertende Urteile von Ciechanowska. Sie lobt George für die Auswahl der übersetzten Gedichte und vergisst dabei, dass der deutsche Dichter in dieser Hinsicht auf den polnischen Freund angewiesen war. Ciechanowska attestiert George das Verdienst, mit seinen Übersetzungen Rolicz-Lieder in die Welt­literatur eingeführt zu haben. Zugleich nimmt sie es dem polnischen Dichter übel, dass er nicht einmal vermochte, Georges Lyrik dem polnischen Publikum näherzubringen. Dabei übersieht Ciechanowska, dass die übersetzerische Zusammenarbeit der beiden Dichter eine völlig andere Zielsetzung hatte. Es ging nicht um die gegenseitige Popularisierung eigener Gedichte, sondern um die Stärkung eines elitären Dichterbundes. Einen zum Teil ähnlichen Standpunkt wie Ciechanowska vertritt Hildegard ­Schroeder, die erste deutsche Literaturwissenschaftlerin, die Georges Übersetzungen aus dem Polnischen analysierte. Sie untersucht nur einige Gedichte und behauptet, dass bei George „die Einheitlichkeit der Wortschicht und der Assoziationen“18 verbessert würde, aber ihre Aufwertung der Übersetzung gegenüber dem Original ist vorsichtiger als bei Ciechanowska. Über diese Verbesserungstendenz äußerte sich auch Karl Dedecius, angesehener Übersetzer polnischer Literatur ins Deutsche. Allerdings wird sie von ihm negativ beurteilt: „Mißtrauen gegen die Kompetenz des Originalautors, der Wunsch, ihn zu verbessern, kann selbst die besten Poeten auf Abwege führen (Beispiel George).“19 Maria Podraza-Kwiatkowska, die polnische Rolicz-Lieder-Forscherin, widmet Georges Übersetzungen wenig Aufmerksamkeit. Sie verweist zwar auf einige Unterschiede zwischen polnischen und deutschen Texten, aber sie beließ es dabei, die

    17 Vgl. ebd., S. 57, Ciechanowska glaubt Korrekturen im Bereich der Lexik gefunden zu haben (S. 58), sie behauptet, Georges Bildlichkeit sei logischer als die von Rolicz-Lieder, also habe George die Bildlichkeit korrigiert: „I w tym kierunku poszły korektury.“ [„Und in diese Richtung gingen die Korrekturen.“] (S. 62), sie meint, George lege einen großen Wert auf die Euphonie, also klängen mehrere Phrasen in Georges Übersetzung besser als im Original (S. 67) und verweist darauf, dass George künstliche Wortzusammenstellungen von Rolicz korrigiere (S. 69): „Jak widać i tu tępił tłumacz prozaizmy i niezręczności oryginału.“ [„Wie man sieht, bekämpfte der Übersetzer auch hier Prosaismen und Ungeschicklichkeiten des Originals.“] 18 Hildegard Schroeder: Eine literarische Freundschaft. Stefan George und Wacław Lieder. In: Festschrift für Margarete Woltner zum 70. Geburtstag. Hg. v. Peter Brang. Heidelberg 1967, S. 228–250, hier S. 245. 19 Karl Dedecius: Zwang und Freiheit. In: Ders.: Vom Übersetzen. Frankfurt/M. 1986, S. 151–159, hier S. 151.

    790 

     Robert Rduch

    übersetzerische Leistung des deutschen Dichters pauschal zu kommentieren: „George hat den Wortlaut und den Ton der Vorlage meistens recht genau getroffen.“20 Andere Aspekte der translatorischen Arbeit von George akzentuiert die deutsche Slawistin Anette Werberger. Sie betrachtet Georges Übersetzungen als eine identitätsstiftende Handlung, deren Ziel darin besteht, den priesterlichen Status des Dichtertums hervorzuheben: „In der Übersetzung Georges erfährt die Aussage Rolicz-Lieders teilweise noch eine Steigerung hinsichtlich ihrer Exklusivität.“21 Werberger führt als Erste eine detaillierte Untersuchung einer einzelnen Übersetzung von George durch – des Gedichtes Jaskółki (Die schwalben, SW XVI, 89  f.). Ihre Analyse basiert auf einer gründlichen Interpretation des Originals.22 Sie stützt sich auf Übersetzungskommentare in der Korrespondenz der beiden Dichter und verweist zu Recht auf die bisher zu oft übersehene Relevanz der Kooperation bei der Übertragung: „Die enge Zusammenarbeit beider ermöglicht diese Leistung, wobei vor allem George der Hilfe Lieders bedarf.“23 Diese scheinbar selbstverständliche Erkenntnis muss den Ausgangspunkt künftiger Analysen bilden, denn auch in der neuesten Forschung geistert die widersinnige Behauptung herum, George habe durch seine Übersetzung das Original verbessert.24 Dieses Missverständnis ist auf Friedrich Wolters’ biografischen Bericht zurückzuführen. Er informierte bereits 1930, dass George, von der Persönlichkeit RoliczLieders beeindruckt, „um seinetwillen die polnische Sprache“ (BG 88) lernte. Diese Information rief später mehrmals Spekulationen darüber hervor, „in welchem Grade George des Polnischen mächtig war“25. Georges Publikationen sowie biografische

    20 Maria Podraza-Kwiatkowska: Wacław Rolicz-Lieder und Stefan George. Literarische Freundschaft, literarische Verwandtschaft. In: Wacław Rolicz-Lieder (wie Anm. 1), S. 127–137, hier S. 128. 21 Anette Werberger: Stefan George und Wacław Rolicz-Lieder. Anmerkungen zu einer exemplarischen Freundschaft um 1900. In: Polonistyczne spotkania Tybinga. Studia o literaturze polskiej i polsko-niemieckich związkach literackich przełomu XIX i XX wieku. Hg. v. Danuta Knysz-Tomaszewska und Jadwiga Zacharska. Warszawa 2002, S. 73–80, hier S. 79. 22 Bei der Analyse des Originals unterlaufen ihr allerdings kleine Fehler. Aufgrund der falschen Annahme, das polnische Wort „skowronka“ sei ein Neologismus, wird das polnische Gedicht an manchen Stellen überinterpretiert. Das Wort „skowronka“ ist nur eine Deklinationsform von „skowronek“. Vgl. Anette Werberger: Inszenierung des Unheimlichen. Ein Gedicht Wacław Rolicz-Lieders in der Übersetzung Stefan Georges. In: CP 53 (2004), H. 261–262, S. 70–86, hier S. 79  f. 23 Ebd., S. 70. 24 Vgl. Grażyna Barbara Szewczyk: Wacław Rolicz-Lieder und Stefan George. Geschichte einer Freundschaft und der literarischen Zusammenarbeit. In: Deutschland, Italien und die slavische Kultur der Jahrhundertwende. Phänomene europäischer Identität und Alterität. Hg. v. Gerhard Ressel. Frankfurt/M. 2005, S. 409–416, hier vor allem S. 415  f. Die Autorin wiederholt mehrere Thesen und Beispiele von Ciechanowska und geht nicht auf den aktuellen Forschungsstand ein. 25 Maria Podraza-Kwiatkowska: Wacław Rolicz-Lieder und Stefan George (wie Anm. 20), S. 127; vgl. auch Hildegard Schroeder: Eine literarische Freundschaft (wie Anm. 18), S. 232, und Grażyna Barbara Szewczyk: Wacław Rolicz-Lieder und Stefan George (wie Anm. 24), S. 411.

    

    Übertragungen aus dem Polnischen 

     791

    Dokumente zeugen davon, dass seine Polnischkenntnisse gering waren.26 Er konnte sich kaum in die Fremdheit der polnischen Sprache vertiefen. Auch die lautliche Vertrautheit mit dem Polnischen, die durch Rolicz-Lieders Vortragen ermöglicht wurde, konnte nicht als sicheres Fundament übersetzerischer Arbeit bestehen. Georges translatorische Arbeit wurde also weder durch die Analyse des Originals noch durch Interferenzen aus den ihm bekannten Fremdsprachen beeinflusst. Deshalb erscheinen die Übertragungen aus dem Polnischen als die beste Exemplifizierung seiner translatorischen Strategie: Nicht das Fremde den Deutschen zeigen, sondern das Fremde einverleiben, aus dem Übersetzen Impulse für eigene Schöpfung gewinnen, durch eigene Ästhetik das Fremde domestizieren.27 Paradoxerweise kann also Wolters naivmystische Darstellung des Übersetzungsprozesses im allegorischen Sinne zutreffend sein, denn die Direktheit und Leichtigkeit beim Anfertigen deutscher Versionen polnischer Gedichte ergab sich daraus, dass George Gedichte nach Vorgaben von RoliczLieder schuf: „ihre dichterischen Geister schlugen so innig zusammen, daß polnische Gedichte aus Wacławs Munde sich in Georges Ohr und Mund sogleich zu deutschen formten. So entstanden durch die beiden gemeinsame Schöpfungen wie aus einer Seele“ (BG 88). In diesem Falle hängt also die Treue der Übersetzung von den Informationen des polnischen Dichters ab. Der Vergleich des Originals mit dem deutschen Text mag zwar zum erstaunlichen Ergebnis führen, dass sich die meisten Übersetzungen gar nicht so weit vom Original entfernten, aber das Resultat steht in keinem Zusammenhang mit Georges Polnischkenntnissen. Es handelt sich um „zweigezeugte Früchte gleichstarker männlicher Geister“ (ebd.). Die Bedeutung der translatorischen Zusammenarbeit wird auch in einem Bericht von Karl Wolfskehl bestätigt: Grade taucht mir auf, was mir St. G. über die Weise erzählt hat, in der sich die Umdichtung Liederscher Dichtungen vollzog. Er hatte das Polnische unter der Anleitung Lieders erlernt, liess sich die Gedichte wieder und wieder lesen um ihres Klanges und Gefälles ganz mächtig zu werden, besprach alle Einzelheiten, jedes ihm Auffällige im Gefüge wie im Rhythmus bis zum Wortsinn aufs Sorgfältigste mit dem Dichter selbst, mit dem dann auch die fertige Übertragung, Lieder konnte gut deutsch, sehr genau durchgenommen wurde.28

    26 Vgl. RB I, 232: „polnisch konnte George nur wenig“; auch einige polnische Wörter, die George in einem Brief an Rolicz-Lieder gebrauchte, sind kein Nachweis seiner Polnischkenntnisse, sondern nur eine freundliche Geste. Rolicz-Lieder bedankte sich dafür im Brief an George vom 19. 8. 1894. 27 Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Autor oder Übersetzer oder Autor als Übersetzer? Überlegungen zur editorischen Präsentation von ‚Übertragungen‘ am Beispiel Stefan George. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 14 (2000), S. 88–103, insbes. S. 98: „Wenn sich durch den Vergleich der drei großen Übersetzungen Georges nun aber erweist, daß der Georgesche Übersetzungsstil gänzlich unabhängig von Sprache oder Epochengebundenheit der Ausgangstexte gleich bleibt, deutet dies auf die Aufgabe hin, die den Georgschen Übersetzungen für das Selbstverständnis seines Autors zukommt: George selbst stellt sich durch sie in die Tradition der innovativen Hauptwerke der europäischen Literatur und integriert diese gleichzeitig in sein eigenes Werk, indem er sie in eine Georgesche Form gießt.“ 28 Zitiert nach Zofia Ciechanowska: Stefan George i Wacław Rolicz-Lieder (wie Anm. 15), S. 52. Ciecha-

    792 

     Robert Rduch

    Boehringer ergänzt das Wissen über die übersetzerische Zusammenarbeit der beiden Dichter um ein relevantes Detail. Als erster informiert er darüber, dass sich George auch schriftlicher Hilfsübersetzungen, die von Rolicz-Lieder angefertigt wurden, bediente.29 Die längst von Forschern vermutete Existenz30 der Hilfsübersetzungen wird in der Korrespondenz der Dichter bezeugt und erstmals 1996 von Mitarbeitern des Stefan George-Archivs bestätigt.31 Die erhaltenen Rohübersetzungen bilden keinen homogenen Textkorpus. Es handelt sich dabei nicht immer um wörtliche Übersetzungen, „traduction (mot à mot)“32, sondern um translatorische Arbeiten unterschiedlicher Art. Die erhaltenen Handschriften zeugen davon, dass nicht nur Französisch als Hilfssprache benutzt wurde.33 Unter den Manuskripten überwiegen Blätter, auf denen mit sorgfältiger Schrift nur Rohübersetzungen ins Deutsche aufgeschrieben wurden (neun Gedichte).34 Es finden sich darunter auch rhythmisch, lexikalisch und syntaktisch durchdachte Konstruktionen, angefertigt mit dem Sinn für die Andersartigkeit der deutschen Sprache, die nur geringer Eingriffe von George bedurften. Die zweitgrößte Gruppe (sechs Gedichte) bilden Manuskripte, die nur den französischen Text enthalten. Es existieren auch Blätter nur mit dem polnischen Originaltext. Darüber hinaus entstanden Hilfsübersetzungen mit verschiedenen Sprachkombinationen: polnische Texte mit nur deutschen Übersetzungen, polnische Texte mit nur französischen Übersetzungen, polnische Texte mit deutschen und französischen Übersetzungen. Es handelt sich dabei sowohl um Interlinearübersetzungen als auch um Übertragungen, die unter dem polnischen Text aufgeschrieben wurden. Manche Übersetzungen sind

    nowska erklärt, sie zitiere aus einem unveröffentlichten Typoskript der Erinnerungen von Wolfskehl, das er ihr im April 1937 in einem Brief aus Recco habe zukommen lassen. Denselben Text führt Georg Peter Landmann an. Er fügt allerdings hinzu, dass dieser Übersetzungsmodus nicht auf alle Übertragungen Georges aus dem Polnischen zutrifft. Vgl. Georg Peter Landmann: Eine Chronik (wie Anm. 8), S. 140. Als Quelle nennt Landmann einen Brief, den Wolfskehl 1937 aus Recco an Boehringer schrieb. 29 Vgl. RB I, 232: „Dafür pflegte Lieder, manchmal mit Seufzen, seine Gedichte wortwörtlich ins Französische umzuschreiben.“ 30 Vgl. Zofia Ciechanowska: Stefan George i Wacław Rolicz-Lieder (wie Anm. 15), S. 60. 31 Vgl. Wacław Rolicz-Lieder (wie Anm. 1), S. 111. Ute Oelmann kommentiert dort die Briefkarte von Rolicz-Lieder an George vom 20. 12. 1891: „Eine ganze Reihe dieser Interlinear- oder Rohübersetzungen sind in Georges Nachlaß zu finden, können aber den einzelnen Briefen nicht mehr eindeutig zugeordnet werden.“ 32 Brief von Rolicz-Lieder an George vom 20. 12. 1891. In: Wacław Rolicz-Lieder (wie Anm. 1), S. 81. 33 Vgl. Anette Werberger: Inszenierung des Unheimlichen (wie Anm. 22), S. 72. Werberger formuliert die These, dass die übersetzerische Zusammenarbeit der beiden Dichter auf der Vermittlung durch die französische Sprache basierte. 34 Der Autor bedankt sich bei Frau Dr. Ute Oelmann, der ehem. Leiterin des StGA, für die Hilfe bei der Recherche. Er analysierte 24 Blätter, die im StGA in Stuttgart ausgesucht wurden. Darunter befinden sich nur fünf Hilfsübersetzungen von Gedichten, die George nachdichtete. Erst eine ausführ­lichere Recherche im Archiv würde eine genauere Bestimmung der Zahl der erhaltenen Hilfsmaterialien ermöglichen.

    

    Übertragungen aus dem Polnischen 

     793

    mit kurzen Kommentaren auf Deutsch oder auf Französisch versehen. Einige Inter­ linearübersetzungen enthalten Pfeile, die auf syntaktische Unterschiede zwischen dem Original und dem Translat verweisen. Da die Handschriften nicht datiert sind35 und den einzelnen Briefen nicht zugeordnet werden können, ist es auch unmöglich festzustellen, wo, wann und unter welchen Umständen sie entstanden sind. Im Archiv gibt es mehrere Hilfsübersetzungen von Gedichten, die letztendlich von George nicht übersetzt worden sind. Die Archivbestände vergegenwärtigen also die Erkenntnis, dass ein direkter Vergleich des polnischen Originals mit Georges deutscher Version zu Trugschlüssen über die übersetzerische Leistung des deutschen Dichters führen kann. Das Gedicht Palma na pustyni (Palme in der wüste, SW  XVI, 77) ist für Ciechanowska ein Beispiel für Korrekturen des Übersetzers im lexikalischen Bereich. Sie behauptet, dass die Archaismen und Neologismen des Originals, die die stilistische Harmonie stören, durch Georges Eingriffe beseitigt wurden, sodass die deutsche Übersetzung von George stilistisch ausgeglichen wirkt. Im Original gibt es zwei Wörter, die als Archaismen eingestuft werden können („uźrzawszy“, „psować“), ein einziges Wort, das als Neologismus betrachtet werden kann („zdrowotność“), sowie drei Diminutiva („wietrzyk“, „całusek“, „drzewina“), die auch als stilistisch störend empfunden werden können.36 Alle genannten Wörter werden von Rolicz-Lieder in seiner Hilfsübersetzung durch unmarkierte ersetzt. Das Partizip „uźrzawszy“ wird durch die finite Verbform ersetzt: „ich sah“37. Das Verb „psować“ wurde als „zerstören“ übersetzt. Die Diminutiva fanden ihre Entsprechungen in Substantiven, die keine Verkleinerungsformen darstellen: „wietrzyk“ / „Luft“, „całuska“ / „Kusse“, „drzewiny“ / „des lieblichen Baumes“. Die Genitivform des Neologismus „zdrowotność“ wird als „deines kräftigen Lebens“ paraphrasiert. George übernimmt alle von Rolicz-Lieder benutzten deutschen Ausdrücke. Einige Zeilen (so neun, elf und zwölf) wurden von George unverändert aus der Hilfsübersetzung übernommen. Das Gedicht Czarodziejka wurde besonders scharf von Iwaszkiewicz kritisiert. Ihm erschien Georges Übersetzung Die zauberin (SW XVI, 91) viel besser.38 Ciechanowska bedachte die Übersetzung mit einem pauschalen Urteil: George eliminiere die Künstlichkeit und prosaische Elemente des Originals.39 Auch in diesem Falle bezeugt die erhaltene Hilfsübersetzung ins Deutsche, dass die meisten Unterschiede zwischen der polnischen Vorlage und der publizierten deutschen Version nicht George, sondern Rolicz-Lieder zugeschrieben werden müssen. In seiner deutschen Übersetzung beseitigt der polnische Dichter Archaismen und modifiziert den eigenen Wortschatz.

    35 Auf manchen Blättern steht nur das Datum der Entstehung des Originals. 36 Vgl. Wacław Rolicz-Lieder: Palma na pustyni. In: Ders.: Poezje wybrane. Kraków 2003, S. 152. 37 Das Blatt mit der Hilfsübersetzung entstammt dem Bestand George III 0307a im StGA in Stuttgart. 38 Vgl. Kazimierz Bazar: Stefan George i Wacław Rolicz-Lieder (wie Anm. 12), S. 544  f. 39 Vgl. Zofia Ciechanowska: Stefan George i Wacław Rolicz-Lieder (wie Anm. 15), S. 66  f.

    794 

     Robert Rduch

    George übernimmt häufig die Lexik von Rolicz-Lieder, verändert die Syntax, korrigiert offenkundige Fehler im Deutsch des Polen. Die siebte sowie gänzlich die achte und dreizehnte Zeile der Rohübersetzung kopiert er fast vollständig. Der Inhalt wird von ihm nur dann wesentlich modifiziert, wenn er Schwierigkeiten mit der Interpretation einer Stelle in der Rohübersetzung hat. Das betrifft ausschließlich die vierte Zeile. Sie lautet auf Polnisch: „A woń rozlewasz, jak wschodny trybularz“40. Es heißt wörtlich: „Und du verbreitest den Duft wie ein östliches Weihrauchfass“. Rolicz-Lieders Übersetzung lautet: „Und wonnen streust du wie ein morgenland“41. Die sonderbare, denn nur auf einer phonetischen Ähnlichkeit basierende Verbindung des polnischen Substantivs „woń“ (Duft) mit dem deutschen Substantiv „Wonne“ entstellt die Bedeutung des polnischen Satzes.42 George konnte vermutlich den Sinn des Satzes nicht fassen und rettete sich aus dem Missverständnis mit der Fortsetzung der Lichtmetaphorik der dritten Zeile: „Wohin du schreitest ist ein sonnen-land.“ George übernimmt aus der Rohübersetzung nur ein Element der Vergleichsphrase und modifiziert es. Aus „morgenland“ wird „sonnen-land“. Die im Original vorhandene Geruchsassoziation mit orientalischer Färbung wird also in zwei Etappen ausgelöscht. Rolicz-Lieder beseitigt den Duft und verstärkt die Anspielung auf das Orientalische („morgenland“). George verzichtet auf das Orientalische, weil er wahrscheinlich dessen Einbindung in die lyrische Situation vermisst. Im Endeffekt wird die sinnliche Wirkung der weiblichen Figur aus dem Original abgeschwächt. Auch in der Gestaltung der rhythmischen Struktur richtet sich George nach Rolicz-Lieders Rohübersetzung, in der auf Reime verzichtet, das strenge Elf-Silben-Maß aufgegeben wird und lediglich die Zahl der Hebungen konstant bleibt. Einen ähnlichen Umgang mit der Rhythmik des Originals pflegt George in den übrigen Übersetzungen aus dem Polnischen. Er verzichtet auf Reime oder reduziert sie, orientiert sich nicht an der Silbenzahl und dichtet meistens in einem Fünfheber nach.43 Eine ähnliche Verwendung der Rohübersetzung praktizierte George bei dem Gedicht Jesień żywota (Im herbst des lebens, SW XVI, 101). Auch hier orientiert er sich an der rhythmischen Ordnung der Hilfsübersetzung (Verzicht auf Reim, Fünfheber), modifiziert sehr vorsichtig lexikalische Vorschläge des Polen und übernimmt sogar 40 Wacław Rolicz-Lieder: Palma na pustyni (wie Anm. 36). 41 StGA Blaetter III 0307a. 42 Vgl. Hildegard Schroeder: Eine literarische Freundschaft (wie Anm. 18), S. 249. Schroeder verweist auf drei andere Gedichte, in deren Übertragung ins Deutsche die lautliche Gestalt der Wortfamilie „woń, wonny, wonność“ (Duft, duftend) mit dem klanglich ähnlichen, aber semantisch unterschiedlichen Substantiv „Wonne“ wiedergegeben wird. Die Rohübersetzung zeigt, dass diese Übersetzungsidee nicht George, sondern Rolicz-Lieder selbst zuzuschreiben ist. 43 Vgl. Zofia Ciechanowska: Stefan George i Wacław Rolicz-Lieder (wie Anm. 15), S. 56. Ciechanowska verweist auf die Regelmäßigkeit im Umgang mit dem Rhythmus. Diese Strategie wird fälschlicher­weise ausschließlich George zugeschrieben. Vgl. auch Anette Werberger: Inszenierung des Unheimlichen (wie Anm. 22), S. 72. Werberger weist mit Hilfe der Briefe von Rolicz-Lieder nach, dass der polnische Dichter selbst um die Lockerung der rhythmischen Form beim Übersetzen ins Deutsche bat.

    

    Übertragungen aus dem Polnischen 

     795

    die Hälfte der deutschen Version von Rolicz-Lieder fast wörtlich. Die Übertragung dieses Gedichtes veranschaulicht deutlich, dass man besonders im Falle der Verwendung von deutschen Hilfsübersetzungen von einer geteilten Autorschaft der Nachdichtungen sprechen muss. Bei der Hilfsübersetzung des Widmungsgedichts Chciałbym wiedzieć  … (Ich möchte wissen …, SW XVI, 96) stößt man noch auf einen anderen Aspekt der Arbeit mit Transkriptionen von Rolicz-Lieder. Auf einem Blatt befinden sich das polnische Original (schwarze Tinte), eine französische Interlinearübersetzung (rote Tinte) sowie eine Übersetzung ins Deutsche über und unter dem polnisch-französischen Textblock.44 Die polnischen und französischen Zeilen wurden deutlich und sorgfältig aufgeschrieben. Der deutsche Text (schwarze Tinte und Bleistift) ist in einer undeutlichen Schrift mit Streichungen fixiert. Dies erweckt den Eindruck, dass die deutsche Version hastig aufgeschrieben wurde und vielleicht ein Ergebnis der persönlichen Konsultation bei einem Treffen der beiden Dichter darstellt. Im Falle eines anderen Widmungsgedichts Siedem śródmorskich miast … (Sieben griechische mittelmeerstädte …, G/G 139) existieren sogar zwei Versionen des polnischen Originals, eine mit deutscher Interlinear­ übersetzung. Auch hier könnte die Qualität der Schrift auf die Spontaneität eines Arbeitstreffens hindeuten. Jedoch die endgültige Feststellung, unter welchen Umständen die einzelnen Rohübersetzungen entstanden, was in den Hilfsübersetzungen auf gemeinsame Konsultationen der beiden Dichter zurückzuführen ist, gestaltet sich aus Mangel an Informationen schwierig. Georges Übersetzungen aus dem Polnischen wurden bisher zu einseitig analysiert. Man ging von der falschen Annahme aus, die Autorschaft dieser Texte stehe einzig und allein dem deutschen Dichter zu. Ihm wurde Lob, seltener Tadel zuteil. So lobt Ciechanowska beispielsweise die Übertragung des Gedichtes Modlitwa na organy (Wach auf die du mich geleitet durch einsame jahre, SW XVI, 84), weil George durch die Beseitigung von Details, die das ländliche polnische Kolorit konstituieren (Frösche in einem Teich, Türmchen einer Dorfkirche), die deutsche Fassung ver­edele.45 Das Urteil von Dedecius über dieselben translatorischen Entscheidungen ist diametral entgegengesetzt. George „verwandelte das polnische rustikal-romantische Landschaftsbild in einen deutschen klassizistischen Festgesang. Drei falsch gewählte Wörter hatten vollauf genügt, um ein Gedicht in seiner Stimmung gänzlich zu verändern.“46 Solange man die Übersetzungsstütze zu diesem Gedicht nicht sieht  – eine solche musste Rolicz-Lieder für George vorbereitet haben – kann man nicht definitiv feststellen, ob die „drei falsch gewählte[n] Wörter“ tatsächlich auf das Konto von George gehen.

    44 Vgl. StGA George I, 1501, S. 1. 45 Vgl. Zofia Ciechanowska: Stefan George i Wacław Rolicz-Lieder (wie Anm. 15), S. 59. 46 Karl Dedecius: Zwang und Freiheit (wie Anm. 19), S. 154.

    796 

     Robert Rduch

    Im Falle der übersetzerischen Zusammenarbeit zwischen George und RoliczLieder ist eine komplexe Analyse des translatorischen Handelns47 notwendig, in der Auswahlkriterien der übersetzten Gedichte, biografische Dokumente, Hilfsübersetzungen und die publizierten Übertragungen berücksichtigt werden. Es handelt sich hier nämlich um ein modernes Tandem- und Relaisübersetzen,48 an dem zwei Dichter beteiligt waren. George und Rolicz-Lieder sind als Pioniere eines translatorischen Verfahrens zu betrachten, das sich in der Weltliteratur erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablierte.

    47 Vgl. Andreas F. Kelletat: Lyrikübersetzung. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hg. v. Dieter Lamping. Stuttgart u. Weimar 2011, S. 229–239, hier S. 236–237. 48 Vgl. ebd. Unter dem Relaisübersetzen versteht man ein Übersetzen, bei dem eine dritte Hilfssprache (Relaissprache) benutzt wird. Zum Tandemübersetzen vgl. auch Stanisław Barańczak: Amerykanizacja Wisławy albo: O tym, jak wraz z pewną młodą Kalifornijką tłumaczyłem „Głos w sprawie pornografii“. In: Ders.: Ocalone w tłumaczeniu. Szkice o warsztacie tłumacza poezji z dołączeniem małej antologii przekładów. Poznań 1992, S. 135–147, hier S. 137  f. Die Zusammenarbeit von Barańczak und Clare Cavanagh beim Übersetzen ins Englische ähnelt der Zusammenarbeit zwischen George und Rolicz-Lieder.

    Jürgen Egyptien

    Tage und Taten Im Oktober 1903 erschien im Verlag der Blätter für die Kunst, bei Otto von Holten in schwarz und rot gedruckt, die erste Buchausgabe der Tage und Thaten mit dem Untertitel Aufzeichnungen und Skizzen. Die Inhaltsangabe nennt als einzelne Teile Sonntage auf meinem Land, Tage und Thaten, Träume, Briefe des Kaisers Alexis an den Dichter Arkadios, Altertümliche Gesichte, Bilder und Lobreden. Die 1925 erschienene zweite, erweitere Ausgabe bei Bondi wurde von George um die drei selbstständigen Teile Der kindliche Kalender (nach Sonntage auf meinem Land), Vorrede zu Maximin und Betrachtungen (beide nach den Lobreden) vermehrt. Ebenso wurde den Briefen des Kaisers Alexis an den Dichter Arkadios ein siebter Brief im Erstdruck und den Lobreden diejenige auf Hölderlin beigefügt, die erstmals in Blättern für die Kunst XI/XII erschienen war. Der Abschnitt Bilder wurde nun durch den knapp vierzeiligen und noch ungedruckten Text Mutter Gottes des Cimabue eingeleitet und durch drei ähnlich kurze Texte Nach radierten Skizzen von Max Klinger, die bereits in den Blättern II, 3 publiziert worden waren, abgeschlossen. Der im Rahmen der Gesamt-Ausgabe im November 1933 erschienene Band der Tage und Taten wurde um Übertragungen von Prosatexten von Mallarmé, Louis Bertrand, John Ruskin und Wacław Rolicz-Lieder erweitert. Sie waren alle bereits zwischen 1892 und 1899 in den Blättern für die Kunst veröffentlicht worden, wobei die Mallarmé-Übertragungen in den Blättern  I,  2 in der endgültigen Fassung von Tage und Taten die frühesten veröffentlichten Texte waren. Der Entstehungszeitraum aller in der endgültigen Fassung von Tage und Taten enthaltenen Texte reicht vom Winter 1890/1891, worauf eine briefliche Äußerung Georges gegenüber C. A. Klein weist,1 bis – folgt man Morwitz – ins Jahr 1915, in dem spätestens die Lobrede auf Hölderlin und drei der Betrachtungen geschrieben wurden. Die vorgängige Publikation in den Blättern für die Kunst trifft schon für die meisten Texte der Ausgabe von 1903 zu. Der früheste Abdruck von Texten aus der Erstausgabe von Tage und Taten erfolgte im März 1893 im dritten Band der I. Folge. Dort finden sich unter dem Gesamttitel Tage und thaten die ersten drei Texte (Heim, Nach dem Wetter, Reden mit dem Wind) des späteren Titelzyklus, sodann unter der gemeinsamen Überschrift Night-Mare die ersten beiden (hier titellosen) Träume Die Barke und Zeit-Ende und schließlich der zweite Teil von Sonntage auf meinem Land. Als nächstes aus der Erstausgabe erschien im Mai 1893 im vierten Band der I. Folge der kurze Text Eine Pietà des Böcklin. Dann folgten im August 1893 im fünften Band der I. Folge die

    1 George schrieb am 9. 6. 1891 im Begleitbrief zur Übersendung von drei Texten aus dem späteren Titelzyklus: „die ›lagen‹ in loser rede sind wenn Sie wollen tagebuchblätter. ähnliches sahen Sie schon in Berlin“ (SW XVII, 108).

    798 

     Jürgen Egyptien

    ersten vier der (in der Buchfassung von 1903 auf sechs erweiterten) Briefe des Kaisers Alexis an den Dichter Arkadios sowie unter der Überschrift Dichterköpfe III die später sogenannte Lobrede auf Mallarmé. Der im Januar 1894 folgende erste Band der II. Folge enthielt den zweiteiligen Text Schmucktrachten des Dierick Bouts. Der dritte Band der II. Folge vom August 1894 bot wieder eine größere Textgruppe, die 1903 in Tage und Thaten einging. Es waren zum einen der dritte und vierte Teil der Sonntage auf meinem Land, wobei sich am vierten Teil die philologisch interessante Beobachtung machen lässt, dass die Reihenfolge der drei Abschnitte voneinander abweicht. Der zweite Abschnitt im Erstdruck von 1894 wurde 1903 zum dritten und umgekehrt.2 Die Umgruppierung der Abschnitte bewirkt eine deutliche Akzentverschiebung, indem nun die verhaltene Hoffnung, „in dieser friedfertigen gediegenen landschaft seine seele wiederzufinden“ (SW  XVII, 12), am Ende steht statt des melancholisch stimmenden Blicks auf den Ansatz einer ‚Schmerzensfalte‘ am Mund einer Kindertotenmaske. Weitere Texte im dritten Band der II.  Folge der Blätter für die Kunst, die 1903 in Tage und Taten eingingen, waren die späteren Träume (Tiholu, Der tote See), die hier ebenfalls unter der Überschrift Night-Mare stehen, aber im Unterschied zu den Träumen im dritten Band der I. Folge ihre separaten Titel bereits tragen. Dann folgten noch Frühlingsfieber aus dem späteren Titelzyklus und Ein Quentin Massys, der in der Buchausgabe 1903 die Textgruppe der Bilder eröffnet. Die im zweiten Band der III. Folge im März 1896 abgedruckte Lobrede auf Jean Paul und eine Erinnerung des Sophokles im fünften Band der III. Folge vom Oktober 1896 komplettieren die Vorabdrucke aus der Erstausgabe von 1903. Auffällig ist dabei, dass sämtliche in die Tage und Thaten aufgenommenen Texte in den Blättern für die Kunst ohne Autorenangabe standen. Meist waren sie sowohl im Inhaltsverzeichnis als auch am Ende des jeweiligen Texts nur durch einen Asterix gekennzeichnet. Dass die Publikationen in den Blättern für die Kunst allesamt anonymisiert waren, dürfte seinen Grund darin haben, dass für George keine Gleichrangigkeit von Dichtung und Prosa bestand. Der einzige Text der Erstausgabe von 1903, der bereits im Erstdruck unter Georges Namen erschienen war, ist die Lobrede Friedrich Wasmann. Sie war 1897 in Albert Verweys Tweemaandelijksch Tijdschrift in deutscher Sprache veröffentlicht worden. Außerdem gab die Aufnahme mehrerer Texte aus den späteren Tagen und Thaten in den Auswahlband der Blätter für die Kunst, der Mitte November 1898 bei Bondi erschien, Auskunft über Georges Verfasserschaft. Sie bilden dort den Abschluss des vierzig Seiten langen Teils mit Texten von Stefan George. Den Anfang macht die Lobrede auf Jean Paul, darauf folgen die ersten vier Briefe aus der Textgruppe Briefe des Kaisers Alexis an den Dichter Arkadios. Am Ende stehen aus der Textgruppe Tage

    2 Eine weitere Variante wird der Ausleseband der Blätter für die Kunst von 1898 bieten, in dem nur die beiden letzten Abschnitte in der Reihenfolge des Erstdrucks zu finden sind.

    

    Tage und Taten 

     799

    und Thaten ein Auszug aus dem vierten Teil der Sonntage auf meinem Land und Frühlingsfieber. Anonymität gilt auch für die in den späteren Ausgaben von Tage und Taten ergänzten Texte, die zuvor in den Blättern für die Kunst erschienen, wobei dies für die Vorrede zu Maximin insofern relativiert werden muss, als die Platzierung zwischen Übertragungen von Shakespeare-Sonetten und dem Gedicht Goethes lezte Nacht in Italien wenig Zweifel an Georges Autorschaft ließ. Die Sonntage auf meinem Land gliedern sich in vier Teile, wovon der erste, zweite und vierte wiederum dreigeteilt ist, während der dritte nur aus einem Satz besteht. Alle Texte schildern alltägliche Szenen aus Georges Heimat, lassen seinen Geburtsort Büdesheim, das benachbarte Bingen am Rhein, die Nahe und die sanften Hügel der mittelrheinischen Landschaft erkennen. Die drei Texte des ersten Teils beginnen alle mit ‚Wir‘ und meinen damit offenbar das Ich und eine Begleiterin, hinter der man Ida Coblenz vermuten darf. Das Paar streift in den späten Septembertagen durch die Gegend, die noch von kräftigen Farben geprägt ist. Der erste Abschnitt endet bei einem „strauch mit blauen sternförmigen blüten“, der zweite mit dem Sammeln von karminroten Pfingstnelken, der dritte führt entlang einer Pappelallee. Kontrastiv zu diesen Farben wirken die schwarze Gestalt, die dem Ich am Ende des ersten zuwinkt, und das Weiß der mit Kalk bestrichenen Wände am Anfang des zweiten Abschnitts. Es sind dies, wie auch die Pappeln, verhaltene Todeszeichen, die aber die entspannte Atmosphäre zwischen den beiden Spaziergängern und der ganzen Landschaft nicht wirklich beeinträchtigen können. So endet auch der dritte Abschnitt mit der Annäherung an einen Flecken, in dem ein Dorffest stattfindet. Der zweite Text führt das Ich allein durch seine Heimat. Die ersten beiden Abschnitte spielen Ende Oktober, der dritte spricht eingangs von der Schneeschmelze, legt also einen Vorfrühlingstag nahe. Freilich ist meteorologisch auch hier Ende Oktober möglich. Der erste Abschnitt zeigt das Ich bei einem abendlichen Gang über die lehmige Heerstraße und unter einem grauen bleiernen Himmel. Ein feuchtes Wehen und das mühsame Fortkommen intensivieren den Eindruck einer höchst ungemütlichen Atmosphäre. Das Unheimliche der Situation wird durch das gerippeartige Aussehen der Bäume und die „immer in nämlicher ferne“ bleibende „bleifarbene schranke“ der Blickfeldbegrenzung gesteigert. Die mit Parallelismen arbeitende Situationsbeschreibung „Kein wesen keine stimme kein licht“ wird am Ende des Abschnitts durch das schemenhafte Vorüberhuschen eines Hundes und eines Kindes mit einem Zinnkrug aufgehoben, ohne die Atmosphäre etwa heimeliger zu machen. Der Zinnkrug fügt sich ganz in das Vorwalten der grauen Farbe in diesem Abschnitt. Der zweite setzt diese Stimmung mit einem Besuch des Friedhofs fort, wobei die neue Grab­bepflanzung und der vom „bleiche[n] schein der lezten oktoberstunden“ getroffene rote und gelbliche Sandstein ein farblich etwas weniger düsteres Bild ergibt. Gleichwohl steht am Ende dieses Abschnitts der den Ich-Erzähler berührende Blick auf einen großen schwarzen Anker, der als „wahrzeichen zweifelhafter hoffnung“ empfunden wird. Der sich in diesem Symbol verkörpernde Jenseitsglaube

    800 

     Jürgen Egyptien

    wird mit deutlicher Skepsis betrachtet. Der dritte Abschnitt nimmt die Monochromie des ersten und die Polychromie des zweiten in sich auf, indem er mit dem Wechsel der Bewölkung aus besonnten goldenen und silbernen Flächen jäh wieder graubraune werden lässt. Im letzten Satz wird das Naturschauspiel mit dem seelischen „flackern und flammen der sonntäglichen leiden“ identifiziert und „mit einem merklichen wolgefühl“ genossen. Der dritte Text besteht aus folgendem Satz: „Vier sonntägliche strassen gibt es auf meinem land: die strasse von den blassen erinnerungen die strasse von der wiederaufgenommenen tat die strasse von den unabwendbaren verzweiflungen und die strasse vom möglichen glück.“ (SW XVII, 11) So verführerisch es scheint, diesen Text als allegorischen Schlüssel für die vier Teile der Sonntage auf meinem Land zu verstehen, so unausweichlich gelangt ein solcher Versuch zu dem Befund, dass sich die drei narrativen Teile des Textes einer eindeutigen Zuordnung entziehen. Zudem stellt sich das Problem, dass der dritte Text selber einen allegorischen Status haben müsste, da er ein Baustein des vierteiligen Gesamttextes ist. Cornelia Ortlieb hat daher die Hypothese erwogen, ob dieser dritte Text mit der „strasse von der wiederaufgenommenen tat“ sich selbst und sein allegorisierendes Schreibverfahren meinen könne, kam jedoch zu dem Resultat, dass dies zu keinem „in sich geschlossenen Konstrukt“3 führe. Ohne – außer der offenbaren Inkongruenz der ‚Straßennamen‘ und der drei narrativen Teile – dafür Indizien angeben zu können, scheint mir wahrscheinlicher, dass die vier Straßen auf autobiografische Bedeutungen verweisen. Der vierte Text der Sonntage auf meinem Land setzt im ersten Abschnitt wieder am Friedhof ein, wo die eigenen Ahnen liegen. Das Ich begegnet einer Greisin, deren Vertrautheit die Vorstellung einer vergangenen, aber anheimelnden Zeit hervorruft. Der zweite Abschnitt nimmt das Motiv des verjährten Interieur und seiner „unmodischen möbel“ auf und führt den Ich-Erzähler in einen frostigen Saal mit „altfränkischen vergoldungen“, verbrauchtem Plüsch und „bis zur unkenntlichkeit nachgedunkelten ölgemälden.“ (SW XVII, 12) In diesem antiquierten Interieur wird ihm die Totenmaske „eines schönen stillen klugen kindes“ gezeigt, die unter einem Glassturz auf „einem alten kaunitz“ stand. Cornelia Ortlieb ist leicht darin zuzustimmen, dass in diesem Abschnitt „der Tod das eigentliche Zentrum der Beschreibung“4 bildet, nachdem schon „in den vorhergehenden Abschnitten der Landschaftsschilderung jeweils mehr oder weniger auffällige Todeszeichen eingefügt“ waren. Bedenkt man, dass der im Alter von sechs Jahren verstorbene Knabe, an dessen Mund der Betrachter bereits „den ansatz zur falte die man später die schmerzensfalte nennt“ entdeckt, mit Vornamen Stephan heißt, gewinnt die Szenerie eine existentielle Dimension, die vielleicht nicht losgelöst von dem gerade im Frühwerk auffälligen Motiv des als Auserwählung

    3 Cornelia Ortlieb: Poetische Prosa. Beiträge zur modernen Poetik von Charles Baudelaire bis Georg Trakl. Stuttgart u. Weimar 2001, S. 259. 4 Ebd., S. 256.

    

    Tage und Taten 

     801

    verstandenen Kindstods gesehen werden kann. Als dritter Abschnitt und damit als Abschluss der ganzen Textgruppe der Sonntage auf meinem Land folgt eine Sequenz, die atmosphärisch einen scharfen Kontrast bildet. Die in ihr entworfene Szene badender Kinder legt als Jahreszeit den Sommer nahe, zu dem auch das einleitende Bild der „ruhe von wiesen wasser und blauer ferne“ passt. Der „feiertagsklang der umliegenden weiler“ schlägt den Bogen zurück zu dem „fest“ am Ende des ersten Textes. Insgesamt steht dieser letzte Abschnitt im Zeichen einer ländlichen Idylle. So besitzt die den Text abrundende Frage einen beinahe rhetorischen Unterton: „Wäre es möglich in dieser friedfertigen gediegenen landschaft seine seele wiederzufinden?“ Blicken wir zurück und fragen, ob sich strukturelle Merkmale in dieser Textgruppe benennen lassen, wobei die drei narrativen Teile im Mittelpunkt stehen. Immerhin lässt sich beobachten, dass jeweils im ersten Abschnitt der drei Teile eine Begegnung stattfindet, nämlich die mit der winkenden schwarzen Gestalt, die mit Hund und Kind und die mit der Greisin. Im jeweils zweiten Abschnitt findet sich die größte Dichte und Intensität der Todeszeichen, nämlich die (mit Gräbern verglichenen) kalkweißen Wände und der Nachen, dann der Friedhof mit seinen Grabmälern und schließlich die Präsentation der Totenmaske. Als stimmungsmäßiger Kontrapunkt münden die jeweils letzten Abschnitte in die Vorzeichen eines dörflichen Festes, dann in das ‚merkliche Wohlgefühl‘ der leidenden Seele und schließlich in einer idyllischen Landschaft. Die blaue Ferne der letzten Sequenz erinnert zudem an die Nähe der blauen Blüte, über die das Ich im ersten Abschnitt des ersten Textes sich beugt. Ein verbindendes Element in allen drei narrativen Teilen sind Begegnungen mit Kindern. Im ersten Teil sind es spielende Kinder, im zweiten das Kind mit dem Zinnkrug, im dritten die fischenden und badenden Kinder. Als ein wichtiger Unterschied lässt sich schließlich festhalten, dass sich das Ich im ersten Teil in weiblicher Begleitung befindet, im zweiten Teil allein unterwegs ist und im dritten stufenweise Aufnahme in die Gemeinschaft findet. Im ersten Abschnitt wird es von den Leuten auf der Gasse gegrüßt und „mit urväterlicher freude“ von der Greisin angesprochen, im zweiten quasi in die Familiengeschichte initiiert, und im dritten erscheint es als integraler Bestandteil der Landschaft selbst. Hinter die Sonntage auf meinem Land fügte George 1925 den Kindlichen Kalender ein, der hier erstmals gedruckt wurde. Er schreitet das Kirchenjahr von der Heiligen Nacht5 bis zu den Kunfttagen, wie George die Adventszeit zu nennen pflegte, vor der nahen Weihnacht ab. Der Text ist durchgehend in der ‚Wir‘-Perspektive verfasst, wobei die Erwähnung ‚unserer Mutter‘, die „uns die namen und die kräfte der blumen und

    5 Im Gegensatz zum Kommentar der SW (XVII, 106) ist zu betonen, dass mit „Erscheinung des Herrn“ nicht bereits auf das Fest Epiphanias am 6. Januar angespielt wird. Die Anbetung seitens der drei Weisen, die am 6. Januar erfolgt, wird vom Text eindeutig in die „ersten wochen nach Erscheinung des Herrn“ datiert, sodass mit ihr die Geburt Christi selbst gemeint sein muss.

    802 

     Jürgen Egyptien

    kräuter“ (SW XVII, 14) lehrte, ein Indiz dafür ist, dass hinter diesem ‚Wir‘ der Autor und seine Geschwister Anna Maria und Friedrich verborgen sind. Der Ablauf des Kirchenjahrs wird zum einen mit dem Kreislauf der Natur synchronisiert. Er beginnt mit dem „zugefrorenen strom“ und reicht „von der zunehmenden helligkeit“ zunächst bis zum Steigen der Säfte in den Bäumen. Der folgende Satz („Die schwalben und die störche kehrten wieder.“) ist der einzige des Textes, der ausschließlich dem Naturzyklus angehört. Er setzt sich fort über das Erblühen der „seltene[n] blume diptam“ Ende April, mit dem Beginn der „gesänge im wald und am flusse“ (SW XVII, 15) um Pfingsten und den „ersten reifenden trauben“, um mit „dem einbruch des nebels und der kälte“ nach Allerheiligen zu schließen. Zum anderen erfolgt eine Synchronisation mit den eigenen (kollektiven) Lebensgewohnheiten, die nach profanen und sakralen unterschieden sind. Die profanen Aktivitäten bestehen aus Schlittenfahren, der Teilnahme am Fasching, dem Anfertigen von Flöten und Pfeifen, den Ausflügen in die Wiesen und auf die Berge, den sommerlichen „abendmahlzeiten im tannenrund“, der Mutprobe, beim Johannisfeuer „unsre nackten arme in die freie züngelnde flamme zu schnellen“, und daraus, während der Erntezeit „kränze von kornblumen“ zu flechten. Die sakralen Tätigkeiten setzen sich aus der Teilnahme am Kerzensegen, dem Empfang des Aschenkreuzes, dem Küssen des Kreuzes am Karfreitag, der Begleitung der Erstkommunizierenden, dem Schmücken des Marienaltars im Mai, der Teilnahme an der Fronleichnamsprozession, dem Johannisfest, der Prozession zur Rochuskapelle und den Frühmetten in der Adventszeit zusammen. Schließlich werden aus beiden Bereichen noch Beobachtungen an anderen mitgeteilt. Hervorzuheben ist z.  B. die Veränderung, die der Betrachter an den Kommunionkindern der unteren sozialen Schicht bemerkt: „dies war der einzige tag wo auch die plumpen kinder des volkes schön wurden.“ (SW XVII, 14) Das Phänomen der Verwandlung durch die Teilnahme an einer sakralen Handlung kehrt in Georges Zeitgedicht Leo XIII wieder, wo es am Ende bei Erteilung des päpstlichen Oster­segens heißt: „So sinken wir als gläubige zu boden / Verschmolzen mit der tausendköpfigen menge / Die schön wird wenn das wunder sie ergreift.“ (SW VI/VII, 21) Weiterhin ist die Stelle hervorzuheben, in der das ‚Wir‘ von der unheimlichen Wirkung des WotanLiedes berichtet, das die Schnitter bei der Ernte sangen. An dieser Stelle springt der Text ein einziges Mal aus dem Kontinuum des rekapitulierten Kirchenjahres heraus und nimmt eine zeitlich distanzierte Perspektive ein: „Erst viel später fiel uns der grund ein: dass ein seit jahrtausenden entthronter Gott noch in erinnerung sein sollte während ein heutiger schon in vergessenheit geriet.“ (SW XVII, 15) Diese ­retrospektive Beobachtung gewinnt eine besondere Relevanz, weil sie George in seiner Überzeugung stärkt, religiöse Kräfte, die in einer weit zurückliegenden Zeit existiert haben und im günstigsten Falle nur noch ein verborgenes Dasein fristen, reaktivieren zu können. Der kindliche Kalender rückt mit dieser Beobachtung in die Nähe der Maximin-Vorrede, die ebenfalls in die zweite Auflage von Tage und Taten Aufnahme fand.

    

    Tage und Taten 

     803

    Der Titelzyklus Tage und Taten umfasst in der Gesamt-Ausgabe sieben Einzeltexte bzw. Textgruppen mit insgesamt zwanzig Sequenzen. Er beginnt mit dem dreiteiligen Heim. Es ähnelt in der Struktur der Abfolge der drei narrativen Teile der Sonntage auf meinem Land, insofern der erste Teil von einem ‚Wir‘ spricht, der zweite das Ich alleine und der dritte das Ich inmitten der Menge zeigt. Einerseits aufgrund dieser Strukturanalogie, andererseits wegen der Atmosphäre des Interieurs und der am Ende von der Gasse heraufklingenden „orgel“, die an den „leierkasten“ aus dem ersten Teil der Sonntage auf meinem Land erinnert, gehe ich im Gegensatz zu Morwitz davon aus, dass hier weniger an Berlin als an Bingen, vielleicht an das Haus von Ida Coblenz, zu denken ist.6 Den zweiten Teil von Heim, in dem das Ich seine Rückkehr in einen jetzt winterlichen Park schildert, in dem es sich im Sommer voll Gram und ‚rotem Schmerz‘ aufgehalten hat, liest Nina Herres in ihrer hier folgenden Modellinterpretation als „Emblem der Vanitas“. So sehr dieser Deutung wegen der zahlreichen Todes- und Vergängniszeichen zuzustimmen ist, ist doch ebenso festzuhalten, dass am Ende des Abschnitts die Milderung des Schmerzes hervorgehoben wird. Dies unterstützt der Farbkontrast zwischen dem blauen Himmel der Gegenwart und dem roten Schmerz der Vergangenheit. Der Abschnitt korrespondiert innerhalb dieses Zyklus’ mit dem dritten der Reden mit dem Wind, wo das Ich „ein langsames sterben“ in sich spürt, am Ende aber nach einem verschlafenen Tag in der Abenddämmerung erwacht und sich verwundert von „einem sanften und reinen schmerz“ (SW XVII, 20) emporgetragen fühlt. Herres betont zu Recht die innere Gegenläufigkeit dieses Abschnitts, in dem jeder Erklärungsversuch für die empfundene „spontane Elevation“ abgewiesen wird. Der dritte Abschnitt von Heim überführt den jahreszeitlichen Kontrast des zweiten in die Empfindung einer Ungleichzeitigkeit. In der staubigen Hitze der Stadt wird der Duft der Maiglöckchen als deplatziert wahrgenommen. Bei der Stadt könnte man an München denken, so wie der Park an den Nymphenburger Park denken lässt. Auf die heiße Frühsonne im letzten Abschnitt von Heim folgt die feuchte und kühle ‚Feiertagsfrühe‘ in Nach dem Wetter. Der erste Abschnitt von Reden mit dem Wind sticht aus dem ganzen Zyklus heraus, weil er weitgehend in Dialogform gehalten ist. George bedient sich hier der bei ihm eher seltenen Technik der Anthropomorphisierung eines Naturphänomens. Es scheint ein Frühlings- oder Frühsommertag zu sein, an dem das Ich vom Wind drei Fragen gestellt bekommt. Genau betrachtet beantwortet es davon keine, sondern weicht jeweils aus. Dabei beschreiben die ausweichenden Antworten eine Bewegung der sich steigernden Abkehr. Die erste Antwort führt mit dem Duft der gelben Blütentrauben gewissermaßen eine Alternative an, die das Ich statt des „frischen vollen atem[s] der freie“ (SW XVII, 19) zu loben sich vorstellen kann. Auf die zweite Frage nach dem Loben von Bach und Vögeln reagiert das Ich mit dem Satz „›ich horche gespannt ich glaube menschenstimmen zu hören.‹“ Es ist nicht zu entscheiden, ob das Ich damit meint, dass sich Bach und Vögel wie Men-

    6 Dieser Ansicht ist auch Ute Oelmann, SW XVII, 108 u. EM II, 16.

    804 

     Jürgen Egyptien

    schenstimmen anhören, oder ob es statt dieser Natur- Menschenlaute zu vernehmen glaubt. Zum Dritten will der Wind wissen, ob das Ich die weiß blühenden Hecken und die Gräser loben möchte. Die Antwort: „›auf diesen scheint es dass du weisse schatten gleiten lässest an jenen erschrecken mich die bienen‹“ markiert eine zunehmende Distanz und Fremdheit, die bis ins Erschrecken führt. Der Wind beschließt daraufhin den Dialog mit den Worten: „Geh nun! uns für uns allein begreifst du nicht mehr.“ Die barsche Entlassung wirkt nicht allein als Beendigung dieses Gesprächs, sondern als prinzipielle Aufkündigung jeder weiteren Kommunikation. Die Begründung liefert der Nachsatz, in dem der Wind bezeichnenderweise eine kollektive Sprechhaltung wählt. Er spricht dem Gegenüber kategorisch das Vermögen ab, ihr Wesen zu begreifen, wobei das „nicht mehr“ einen futurischen Unterton hat. Es ist, das wäre jedenfalls meine These, weniger ein verlorengegangenes Verstehen damit gemeint, sondern die resignative Einsicht ausgesprochen, dass dem menschlichen Gegenüber alle Voraussetzungen für dieses Verstehen fehlen. In gewisser Weise klingt hier also bereits eine Position an, wie sie viel später der Drud in dem Dialoggedicht Der Mensch und der Drud aus dem Neuen Reich formulieren wird. Nach der jahreszeitlichen Abfolge Frühling  – Sommer  – Herbst in den drei Abschnitten der Reden mit dem Wind steht der nächste, fünfteilige Text unter der Überschrift Frühlingsfieber. Die ersten beiden Abschnitte liefern Landschaftsbilder. Das erste steht noch im Zeichen der Winterreste, das zweite kündet bereits von warmen Tagen und dem neu aufwallenden Blut. Der dritte Abschnitt führt wieder auf den Friedhof, wo das Ich zwei Gräber besonders gerne besucht, darunter eines, „wo eine verschleierte frau seit einem halben jahrhundert die kalte wohnung eines kindes beschüzt.“ Das Motiv dieser Grabskulptur verwendet George in verlebendigter Weise in dem Gedicht Gräber II in der Fibel (SW I, 35). Der vierte Abschnitt schildert einen Besuch der Kirchenruine von St. Klemens nahe Bingen, wo das Ich Ohr und Auge „am gleichmässigen geräusch und am flimmernden spiegel“ des Stroms ermüdet. Mit der willentlichen Ermüdung greift George ein Motiv der Dekadenzdichtung auf. In ihr besaß die Müdigkeit sowohl eine geschichtsphilosophische als auch eine poetologische Dimension. An letztere knüpft George im abschließenden Abschnitt von Frühlingsfieber an, in dem er selbstreflexiv das eigene Schreibverfahren in den Tagen und Taten kommentiert. Der ganze Abschnitt lautet: In dieser paarung von müdigkeit und unruhe vereinige ich oft mit verdrehter freude die verschiedenartigsten ausschnitte zu einer landschaft und es scheint mir wenn plötzlich ein zitronengelber schmetterling durch die kahlen farbenlosen gefilde fliegt wie ein jäher entschluss mitten in unbestimmten wünschen und drängen. (SW XVII, 21)

    In aller wünschenswerten Deutlichkeit expliziert George hier das Gestaltungsprinzip einer voluntaristischen Kombinatorik, die gerade das Heterogene zusammen montiert. Nina Herres spricht in ihrer hier folgenden Interpretation von einer „Simultaneität des Gegensätzlichen“ und versteht diese zu Recht als Signum der ganzen Textgruppe der Tage und Taten. Ohne echte Narrativität, so Herres weiter, schlügen Situationen von

    

    Tage und Taten 

     805

    einer Jahreszeit und Stimmung in die andere um, wobei die Orte als bloße Kulissen für Metamorphosen dienten. Ich würde noch einen Akzent auf den Begriff des ‚Jähen‘ hinzufügen, der mir für Georges symbolistische Schaffensphase von konstitutiver Bedeutung zu sein scheint. Er trifft zudem eine seelische Stimmungslage, die im dichterischen Frühwerk nicht selten anzutreffen ist und aus deren latenter Leidenschaftlichkeit immer wieder jähe Akte wie eine Stichflamme aufzucken. Die beiden Abschnitte der folgenden Textgruppe Zwei Abende sind antithetisch aufeinander bezogen. Der erste setzt in Nebel, verharschtem Schnee und scharfem Wind ein und lässt das Ich einen von Licht erfüllten Saal aufsuchen. Das sich dort einstellende ‚unangenehme Bild‘ der Katze, die wimmert, weil sie den Vogel hinter der Scheibe nicht packen kann, korrespondiert der Situation des Ich, dessen ‚Begierden‘ ebenfalls ungestillt geblieben sind. Verläuft die Bewegung in diesem Text von außen nach innen, so kehrt sie sich im zweiten Abschnitt um. Er spielt an einem helleren Tag, und nun lockt das Licht das Ich von innen nach außen. Der quälenden Begierde korrespondiert hier der „kreis unsrer gedanken“, der „auf unsren natürlichsten freudenhimmel“ verweist, also eine ideelle Erfülltheit gewährt. Die fünf Abschnitte der Textgruppe Pfingsten durchlaufen einen Prozess, der von der freudigen Erwartung bis zum unerträglichen Abschied reicht. Einige Indizien innerhalb des Textes und seine Stellung vor dem Lezten Brief legen es nahe, ihn biografisch mit seiner Beziehung zu Ida Coblenz in Zusammenhang zu sehen. Eventuell könnte der Titel konkret Pfingsten 1892 meinen, da sich George und Ida Coblenz in der ersten Junihälfte wohl mehrfach getroffen haben.7 Im ersten Abschnitt über­ decken die „träume vom unsäglichen glück,“ die sich mit der erwarteten Ankunft des ‚Du‘ verbinden, noch die Mischung von „freudiger und schmerzlicher spannung.“ Im zweiten bricht jedoch bereits auf den gemeinsamen Wanderungen durch ihrer beider heimatliche Landschaft die Ambivalenz von „Qualen und verzückungen“ in voller Stärke durch. Wenn das Ich sich erstaunt fragt, „wie es möglich sei dass in dieser reichen gefälligen landschaft die verzweiflung reife“ (SW XVII, 22), denkt man zurück an den dritten Abschnitt der Sonntage auf meinem Land, wo von der „strasse von den unabwendbaren verzweiflungen“ die Rede war. Schon ab dem dritten Abschnitt von Pfingsten ist das Ich wieder allein. Der Abschnitt steht im Zeichen der Ödnis und einer bedrohlichen Verwandlung der Natur und endet mit den Worten: „blutstropfen aber wurden die mohnblumen am rain.“ Das Motiv der metaphorischen Verknüpfung von Blut und Mohn ist in Georges Werk mehrfach anzutreffen. Im Jahr der Seele begegnet man ihm im zweiten Gedicht des Zyklus Sieg des Sommers, wo von „dem blutigen mohne“ (SW IV, 37) gesprochen wird, vor allem eine Stelle aus dem Gedicht JuliSchwermut im Teppich des Lebens knüpft an die Prosa-Formulierung an: „Des mohnes blätter: breite tropfen blut.“ (SW V, 67) Bedenkt man, dass im nächsten Abschnitt über

    7 Ein Brief Georges vom 22. 6. 1892 aus Berlin spricht von einem vorgestrigen Treffen, vgl. StG/IC 32. Pfingsten fiel 1892 auf den 5./6. Juni.

    806 

     Jürgen Egyptien

    ein ungesagt gebliebenes Wort gesprochen wird, eröffnet sich ein literaturhistorischer Kontext. Der Mohn ist symbolisch aufs Engste mit der Vorstellung des Rauschs und des Vergessens verknüpft. Ein erst von Robert Boehringer publiziertes Prosafragment gewinnt in diesem Kontext Interesse, weil George darin auf Parzivals Frageversäumnis anspielt und schreibt, dieser habe „ein nur einmal verliehenes glück durch unterlassung oder fehlwunsch verscherzt“8. Das ist zum einen auf die unterlassene Mitleidsfrage zu beziehen, die Parzival angesichts der Wunde von König Amfortas und der blutenden Lanze zu stellen vergisst. Noch bedeutender ist die Nähe zu der bald darauf folgenden Blutstropfenszene zu Beginn des VI. Buches von Wolframs Parzival. Als Parzival drei Blutstropfen im Schnee erblickt, fällt er in eine Art Trance und vergisst seine Umwelt. Die Mohnblumen als Symbole des Vergessens nehmen bei George die Gestalt von Blutstropfen an und greifen damit die von den Blutstropfen im Parzival ausgeübte Wirkung des Vergessens auf. Die Parallelführung führt ins Zentrum der geistigen und existentiellen Konfliktlage Georges. Parzival fällt in Trance, weil er von den Blutstropfen auf dem weißen Untergrund an die Schönheit seiner Frau ­Condwiramurs erinnert wird. Die Konkurrenz zwischen seiner Bindung an die Minne und seiner Fixierung auf die Gralssuche bewirkt in dieser Situation den Effekt einer Art von Stupor und mentaler Blockade. Für das Ich im vierten Abschnitt von Pfingsten stellt sich die Lage vergleichbar dar. Es ist bereit, für den Dienst an der Schönheit, die hier unzweideutig als die Schönheit der Kunst zu verstehen ist, alles andere zum Opfer zu bringen. Das gilt somit auch für die Liebe und sogar für das Leben selbst. George bewegt sich damit in den Spuren eines absolutistischen Ästhetizismus, wie ihn Baudelaire beispielsweise in seinem Gedicht Hymne an die Schönheit in den Blumen des Bösen formuliert hat. Es ist natürlich höchst spekulativ, das Wort, von dem der erste Satz spricht („Ich werde dich und alle verlassen müssen sobald das wort gefallen ist das nur im angesicht des todes erträglich wird.“), identifizieren zu wollen, aber mit Blick auf die unbedingte Hingabe an die Schönheit könnte man auf die Idee kommen, es laute ‚Entsagung‘. Der abschließende Satz „Im wirbel der begeisterung werde ich scheiden aus dem strahlenden leben“ nimmt auf eigenwillige Weise das Pfingst-Motiv der Be-Geistung auf. Pfingsten endet mit einem Text, der wieder in die konkrete Topografie des ersten Abschnitts zurückkehrt. Er folgt dem Ich auf einen Hügel, von dem aus es die Ein- und Abfahrt des Zuges beobachten kann, der das ‚Du‘ fortträgt. Das Ich hat den persönlichen Abschied vermieden, auch um sich dem ahnungslosen Lächeln des ‚Du‘ nicht aussetzen zu müssen. Dieses Lächeln, das hier recht uncharmant als oberflächlich charakterisiert wird, bildet die Brücke zum Beginn des folgenden Textes Ein lezter Brief, der den Zyklus der Tage und Taten beschließt. Als fiktive Empfängerin dieses

    8 Stefan George: Werke. Ausgabe in zwei Bänden. 2. Aufl. München u. Düsseldorf 1968, Bd. 2. S. 610.

    

    Tage und Taten 

     807

    Briefes ist an Ida Coblenz zu denken.9 Auch in diesem Text geht es um ein ungesagt gebliebenes Wort. Hier ist es das Versäumnis der Adressatin, „das wort das du hättest finden müssen und das mich hätte retten können“ (SW XVII, 23), nicht ausgesprochen zu haben. Da dies unterblieb, reagiert das Ich mit radikaler Abwendung: „wenn du mir nahe kommst so muss ich dich hassen und wenn ferne bist du mir fremd.“ Der folgende Zyklus der Träume ist vielleicht die ungewöhnlichste Textgruppe in Georges Werk und sicher eine der faszinierendsten. Theodor W. Adorno hat sie in einem späten Rundfunkvortrag 1967 als „durchgeformte Traumprotokolle […] finstersten Wesens“10 bezeichnet, die der stilisierten, in sich ruhenden Gestalt Georges eigentlich inkommensurabel seien. Adorno rückt sie entschieden ins Zentrum der ästhetischen Avantgarde, wenn er sie als „Gesichte des Untergangs“ charakterisiert, „in denen mythische und moderne Momente in Konstellation treten wie manchmal bei Proust und dann im Surrealismus.“ Der diachrone Zusammenhang, den Adorno hier herstellt, lässt sich indes um die Achse der Tage und Taten drehen, insofern die Träume stilistisch an die von Louis Bertrand begründete Gattung des poeme en prose und dessen Fortsetzung bei Baudelaire und Mallarmé anschließen. Die letzte Abteilung der Tage und Taten enthält Übertragungen sowohl aus Bertrands Gaspard de la nuit als auch aus Mallarmés Pages. Die Nachbarschaft zeigt aber zugleich, um wie vieles Georges Träume in ihrer Sprache und Bildlichkeit radikaler sind. Sie wirken in hohem Maße artifiziell, d.  h. weniger als Wiedergabe tatsächlicher Trauminhalte denn als Produkte poetischer Einbildungskraft. Es sind apokalyptische Medaillons, sprachlich konzise und von schockierender visionärer Gewalt. Träume als Textsorte waren um 1900 nichts Ungewöhnliches. Seit der Romantik gehörte der Traum zu den medialen Gestaltungsmitteln der Literatur. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts gewann er an Aktualität, weil die Psychologie ihn als möglichen Schlüssel für die Seele des Menschen erkannte. Ihren ambitioniertesten Ausdruck fand diese Tendenz in Freuds Traumdeutung, die genau zur Jahrhundertwende erschien. Die Thematik wurde von Autoren verschiedener literarischer Richtungen aufgegriffen, wie die Träume von Carl Busse von 1895 oder die Träume von Friedrich Huch von 1904 zeigen. Der erste Traum Georges mit dem Titel Die Barke operiert mit dem klassischen Motiv der Schifffahrt übers Meer als Bewährungsprobe für das am Steuer stehende Ich. Entsprechend wird im Kampf mit den Elementen besonders der eigene Wille betont. Überwunden von Sturm, Frost und tobender See muss das Ich schließlich das Ruder fahren lassen. Der Traum endet mit dem Satz: „Und die barke sank und die

    9 Vgl. zum biografischen Kontext: Jürgen Egyptien: Letzte Worte des Meisters. Abschiede im GeorgeKreis. In: Letzte Briefe. Neue Perspektiven auf das Ende von Kommunikation. Hg. v. Arnd Beise und Jochen Strobel in Zusammenarbeit mit Ute Pott. St. Ingbert 2015, S. 181–197, bes. S. 182  ff. 10 Theodor W. Adorno: George. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt/M. 1974, S. 523–535, hier S. 534.

    808 

     Jürgen Egyptien

    wellen schlugen drüber und wir werden alle sterben.“ (SW XVII, 26) Bemerkenswert ist an diesem Ende zweierlei. Zum einen geht daraus hervor, dass am Schicksal des Ich dasjenige aller anderen hängt. Insofern das Schiff nicht allein die individuelle Lebensfahrt symbolisiert, sondern ein traditionelles Symbol für die Welt ist, bedeutet das Scheitern des Ich hier den Untergang der Welt. Zum anderen verwandelt der Tempuswechsel innerhalb des Satzes den Traum in eine bestürzende Prophetie. Die Plötzlichkeit der Wendung aus der Vergangenheit des individuellen Trauminhalts in die kollektive Zukunft macht aus der Feststellung einer banalen Tatsache die schockhafte Erkenntnis einer Endzeitlichkeit. Zeit-Ende lautet der Titel des zweiten Traums, in dem aus einer neutralen Erzählperspektive eine Weltuntergangsszenerie beschrieben wird. Auch hier vollzieht der Text einen Tempuswechsel und geht bei der Schilderung des Fluchtversuchs einiger weniger Menschen, die sich dem Schicksal nicht ergeben haben, ins Präsens über. An einem lichtlosen Morgen fahren sie starr und stumm mit dem Zug ins Gebirge, doch auch hier kassiert der letzte Satz jede Hoffnung auf ein Entrinnen aus der Katastrophe: „Der endliche stoss kommt vielleicht schon vor der ankunft im gebirg.“ Der dritte Traum trägt den eigenartigen Titel Tiholu. Der junge George liebte es, klang- und geheimnisvolle exotische Namen in seine Dichtung einzustreuen. Diesen Traum kann man nach dem Vorbild von Morwitz wohl am besten durch das Attribut ‚dantesk‘ charakterisieren, denn er spricht von einem „bezirke der unnachlässlichen strafen“, wo unbotmäßige Menschen und Engel am „orte ihrer qualen“ gegen „den ewigen richter“ revoltieren. Jeden dritten Tag erklingt von oben der schrille Ruf ‚Tiholu‘ und versetzt die Verdammten in Panik, sodass sie „in den glühenden finsternissen“ Zuflucht suchen. Der folgende Traum Der tote See setzt mit der Schilderung einer Einöde, über der sich „ein niedriger verfinsterter himmel dehnt“, ein. Ein Ich, das erst im letzten Satz hervortritt, durchquert die Ödnis bis an den Fuß eines Hügels, wo „ein verwitterter pfahl mit einem zeiger steht“ und zu einem toten See hinaufweist. Seine mutmaßlichen Eigenschaften („schwarz und zäh“) sowie der bereits wahrnehmbare „brenzliche geruch“ lassen darauf schließen, dass es sich um einen Asphaltsee handelt. Das Ich wird von widerstrebenden Empfindungen erfasst: „Meinen einen fuss zieht es hinauf · den andern aber hält ein schmerzliches grausen ab am pfahl vorüberzuschreiten.“ Das Ich ist zerrissen von dem Wunsch, den toten See zu sehen, und der Angst vor dieser Konfrontation. In der unaufgelösten Spannung zwischen Ahnung und dem Wunsch nach Gewissheit endet der Text. Er ließe sich erkenntnistheoretisch, religiös oder poetologisch ausdeuten, aber am nachdrücklichsten wirkt er in seiner reinen Bildlichkeit, die das Ich in eine ausweglose, krisenhafte Situation inmitten von Todesund Verfallszeichen platziert. Der letzte Traum Der redende Kopf unterscheidet sich von den übrigen, insofern er im Zimmer des Ich spielt und damit nicht von Beginn an eine traumhaft-verfremdete Atmosphäre erzeugt. Das Ich tritt hier wieder, wie in der Barke, als willensstarker Akteur in Erscheinung. Es hat seine Freunde geladen und will eine tönerne Maske dazu bringen, den Namen desjenigen zu nennen, auf den es zeigt. Zunächst bleibt

    

    Tage und Taten 

     809

    die Maske stumm. Auf den gewaltsamen Versuch, ihre Lippen zu spalten, reagiert sie mit einem Biss in den Finger des Ich.11 Das Experiment gelingt erst, als das Ich „mit äusserster anspannung“ seinen Befehl wiederholt. Dieses Gelingen entsetzt das Ich so sehr, dass es gewiss ist, dieses Zimmer nie mehr zu betreten. Da Der redende Kopf erstmals in der Buchausgabe von 1903 publiziert wurde, hat die Spekulation von Morwitz, George nehme hier kritisch zu den magischen Praktiken der Kosmik Stellung, einiges für sich. Jedenfalls ist die spontane Reaktion auf die verhängnisvolle Realisierung der magischen Gewalt ein Indiz dafür, dass eine derart veräußerlichte Form von Magie als kontraproduktiv erscheint. Innerhalb des Zyklus der Träume könnte man einen Bezug zu dem vorangehenden Traum darin erblicken, dass das Ich im Redenden Kopf sich gewissermaßen dafür entscheidet, der Wegweisung des Pfahls bis zum Ziel zu folgen. Anders gesagt: Was als spannungsvolle innere Zerrissenheit erscheint, ist zugleich eine wenn auch intrikate Form der Balance. Versteht man die Situation als eine Anspielung auf die in bivio-Situation des Herakles, kann die Pointe darin bestehen, sich nicht zu entscheiden, ob willentlich oder nicht. Es folgen nun die Briefe des Kaisers Alexis an den Dichter Arkadios. Der Titel ist genau genommen irreführend. Die unter diesem Titel zusammengestellten Briefe stammen von beiden Personen. Bei der ersten Publikation in den Blättern I, 5 waren es vier Briefe, in der Buchausgabe von 1903 waren es sechs, und jeweils die Hälfte stammte von Arkadios, der auch die Korrespondenz eröffnete. Erst die Ausgabe der Tage und Taten von 1925 ließ auf den sechsten, von Alexis verfassten, noch einen siebten, ebenfalls vom Kaiser, folgen, sodass er eine leichte Akzentuierung erfuhr. Die Briefe haben alle einen ähnlichen Umfang (10–16 Zeilen in SW XVII, 30–33) und gehen zwischen dem ländlichen Fantasie-Ort Malakoi Potamoi, wohin sich der Dichter auf Geheiß des Kaisers begeben hat, und dessen städtischem Palast hin und her. Der Name der Stadt bleibt ungenannt.12 Alexis erscheint in diesen Briefen als ein kunstsinniger Mensch, der sich im Palast, in der Welt der Politik zunehmend unwohl fühlt. Er hat Arkadios fortgeschickt, um ihn vor den Ränken des Palastes zu schützen, und lebt ganz dem Augenblick entgegen, zu ihm aufs Land zu kommen. Im Palast ist er durch Seleukos „selber oft dem grössten zwange unterworfen“ (SW  XVII, 30) und nimmt zu Arkadios’ Nänien seine Zuflucht, die ihm „eine unversiegliche quelle der lust“

    11 Ortlieb weist darauf hin, dass dieses Motiv durch die Bocca della Verità genannte antike Maske in der römischen Kirche Santa Maria in Cosmedin angeregt sein könnte, die dem Volksglauben nach den Lügner in die Hand beißt, wenn er die Hand in ihren geöffneten Mund führt, vgl. Cornelia Ortlieb: Poetische Prosa (wie Anm. 3), S. 248. 12 Die im Kommentar (SW XVII, 112) vertretene These, bei der Stadt handele es sich um Trapezunt, weil ein historischer Statthalter namens Alexis dort 1204 ein christliches Kaisertum begründete, scheint mir abwegig, da alle in den Briefen genannten historischen Personen ins 4./5. vorchristliche Jahrhundert deuten. Da die eigentliche Herrschergestalt in diesen Briefen nicht Kaiser Alexis, sondern Seleukos ist, gehe ich davon aus, dass das im 4. Jhd. v. Chr. beginnende Seleukidenreich das historische Kolorit liefert.

    810 

     Jürgen Egyptien

    sind. Arkadios produziert sich im ersten Brief als selbstbewusster Dichter, der ‚für die dinge eigne namen [erfand]‘ (SW IV, 51), wobei seine topographischen Bezeichnungen „wäldchen der morgenröte“ und „trauer-ort der nymphen“ ebenfalls als Nachhall des dritten Abschnitts der Sonntage auf meinem Land wirken. In seinem zweiten Brief verleiht Arkadios seiner Bewunderung für eine marmorne Dionysos-Plastik des Bildhauers Lysippos Ausdruck, deren göttliches Ebenmaß ihn die Überlegenheit dieser Kunst gegenüber der Dichtung spüren lässt. Der folgende Brief des Kaisers geht auf dieses Thema nicht ein, sondern unterrichtet Arkadios von der Ermordung des Eumenes, die gegen seinen Willen aus Staatsraison von Seleukos durchgesetzt wurde. Die Antwort des Arkadios geht nur in frostiger Formelhaftigkeit auf diese Tat ein und schildert stattdessen die Ehrerbietung, mit der ihn inzwischen die Landbevölkerung behandelt. Er beendet den Brief mit der Beteuerung, dass ihn das Licht der ewig heiteren Sonne mit sehnsüchtigem Schmerz an das noch größere Licht des Kaisers erinnere. Alle drei Briefe des Dichters Arkadios verwenden im letzten Satz die huldigende Formel ‚o  Alexis‘ und zeugen so von ihrer rhetorischen Durchformung. Nicht ohne Grund hat Morwitz diese Briefe in die Nähe von Stilübungen gerückt (vgl. EM II, 26  f.). Die letzten beiden Briefe des Alexis berichten von Vorgängen am Hof und seiner ungeduldig erwarteten Abreise nach Malakoi Potamoi. Wenn im siebten Brief davon die Rede ist, dass der Kaiser mit Hilarios „den lezten unserer ehemaligen freunde aus den augen verloren“ (SW XVII, 33) hat, vollendet sich damit der Prozess seiner Isolation im Palast. Mit anderen Worten: Die Briefe dokumentieren in ihrem Verlauf, wie Alexis sowohl politisch als auch privat in seinem eigenen Herrschaftsbereich vereinsamt und sich zunehmend fremd fühlt. Er erscheint damit als eine quasi ins Passive gewendete Variante des Algabal-Typus. Gleichzeitig macht sich damit auf eine freilich weniger dramatische Weise die Intransigenz von gesellschaftlicher und ästhetischer Sphäre geltend. Insofern fügen sich auch diese Briefe in Georges Frühwerk ein. Unter der Überschrift Altertümliche Gesichte folgen nun die beiden Texte Eine Erinnerung des Sophokles und Altchristliche Erscheinung. Der erste Text enthält die in Ich-Form vorgetragene Klage des Sophokles über den Verlust des jungen Flötenspielers Charilaos. Erst versucht Polidor mittels Schocktherapie Sophokles zu trösten, indem er ihn damit konfrontiert, dass nur seine Schmeichelreden ihm Charilaos geneigt gemacht hätten. Die Desillusionierung verfängt aber nicht, der Schmerz verlässt Sophokles nicht. Eine Erlösung von ihm bringt erst ein Besuch bei einem Wahrsager, der in einer Doppelstrategie einerseits Charilaos zu einem Leichtfuß herabstuft, andererseits aber dessen religiomorphe Huldigung seitens Sophokles legitimiert. Dem schmerzerfüllten rhetorischen Dreiklang des Sophokles zu Beginn des Textes, „Charilaos mein entzücken! Charilaos meine qual! Charilaos mein wahn!“ (SW XVII, 36), ­respondiert die Aufforderung des Wahrsagers: „Leide um Charilaos! weine um Charilaos! verzehre dich um Charilaos!“ Die Begründung erfolgt in Gestalt einer Erinnerung, die man rückblickend betrachtet beinahe schon als eine Präfiguration der Maximin-Verwandlung verstehen könnte. Der Text endet mit dem Satz: „Eines abends habe ich es erfahren als ich unter der säule eines verlassenen tempels sass und die

    

    Tage und Taten 

     811

    von plötzlichen himmlischen feuern erhellte bildsäule des gottes der frohen jugend bewunderte: was die ganze grösse der spartischen felder war und der ganze glanz der jonischen gestade.“ Nimmt man die Gebetshaltung des Sophokles, seine „geheiligten hände vor seinen knieen zu falten“ hinzu, gelangt das Bild in die Nähe des Schlusses der Maximin-Vorrede, wo das verehrende Kollektiv „in unsren weiheräumen seine säule aufstellen uns vor ihm niederwerfen und ihm huldigen“ (SW XVII, 66) will. Wie die Bildsäule des Gottes der frohen Jugend an die Stelle des lebenden Charilaos tritt und ihn zugleich erst in seiner Göttlichkeit kenntlich macht, so manifestiert sich erst in der Möglichkeit zur künstlerischen Transfiguration, in der Artifizierbarkeit des Menschen Maximilian Kronberger zum Gott Maximin die göttliche Substanz jenes „darsteller[s] einer allmächtigen jugend“ (SW XVII, 62). Die Erinnerung des Sophokles schafft so ein frühes Modell für den George’schen Kerngedanken von der Begegnung mit dem Göttlichen im Diesseits und dessen Überführung in eine haltbare ästhetische Form, deren Exzeptionalität durch ihre kultische Verehrung beglaubigt werden soll. Ein Beispiel für eine solche Verehrung enthält die folgende Altchristliche Erscheinung. In ihr wird die Konsekration des Knaben Elidius in einer Basilika geschildert. Der von Weihrauchschwaden durchzogene und von Gläubigen dicht gefüllte weite Kirchenraum mit den im weißen Ornat Litaneien murmelnden Priestern könnte einem symbolistischen Gemälde entstammen. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man den in ‚sündiger Schönheit‘ knienden nackten Knaben hinzunimmt, auf den sich, gefolgt von Kindern mit brennenden Kerzen, der Erzpriester mit vorgerecktem Finger zubewegt, an dem wie auf seiner Mitra ein grünglühender Edelstein funkelt. Die ganze Szenerie erinnert an die Figurenkonstellationen und die mystisch-prunkvollen Interieurs auf den Gemälden von Gustave Moreau. Natürlich lässt der schöne, nackte knieende Knabe auch an den Auftritt des Engels im ersten Vorspiel-Gedicht denken. Eine atmosphärische Verwandtschaft besteht ebenso zu dem Gedicht Herzensdame aus dem Teppich des Lebens (SW V, 42) oder zur Schlussstrophe von Leo XIII (SW VI/VII, 21). Der folgende Zyklus der Bilder enthält fünf Texte mit insgesamt acht Abschnitten. Er behandelt Kunstwerke aus dem Spätmittelalter von der florentinischen (Cimabue) und der niederländischen Schule (Bouts, Massys) sowie der beiden Zeitgenossen Georges, Arnold Böcklin und Max Klinger. Bis auf Klingers Radierungen handelt es sich um Gemälde mit sakralen Sujets. Bei Cimabue, Massys und Böcklin steht die Mutter Gottes im Zentrum des Bildes. Was die insgesamt vier Abschnitte über die spätmittelalterlichen Gemälde angeht, so sind Georges Texte Beispiele einer streng deskriptiven Ekphrasis, die sich ausschließlich auf die Farbgebung und die bildkompositorische Figurenkonstellation konzentriert. Weder über die Sujets noch über konzeptionelle Aspekte, geschweige denn über interpretatorische Fragen verliert George ein Wort. Die Überschrift zu den beiden Gemälden von Bouts, Schmucktrachten des Dierick Bouts, gibt den entscheidenden Fingerzeig. Es geht George einzig um eine präzise Beschreibung der Farbenpracht der gemalten Kleidungsstücke, der Accessoires und der Körperhaltungen. Der Blick auf die Kunstwerke ist also zugleich rein handwerklich

    812 

     Jürgen Egyptien

    und rein ästhetizistisch, in seinen beschreibenden Texten folgt er damit dezidiert Baudelaires Schriften zur Kunst, die die Suprematie der Farbe vor dem Thema betonen. Besonders das Schwelgen in der prunkvollen Farbgebung auf Bouts’ Das Opfer des Melchisedech bewegt sich in der Nähe des Unterreich-Zyklus aus dem Algabal, wo George in der Beschreibung der einzelnen Säle die ganze Farbpalette ausreizt. Die Ekphrasen über Böcklin und Klinger folgen dieser Linie, weisen aber Nuancen auf. So wandert in die drei kurzen Texte zu Klingers Radierungen Wanderers Ende, Siesta und Dolce far niente (um Georges Titel zu verwenden) ein die beschriebene Gestalt charakterisierender Aspekt ein. Der Wanderer wird ‚müde‘ genannt, die ruhende Frau hat ‚unbewusst‘ eine Blume gepflückt und die Müßige erweckt den Eindruck „vergnügungsloser erwartung“ (SW XVII, 43). Allein der Böcklin-Text geht über Aussagen über die Bildinhalte hinaus und berührt die rezeptionsästhetische Seite. Er beginnt mit den Worten: „Farbe hintergrund erwecken schon namenlose trauer ehe man noch das dunkel verhüllte haupt der Madonna gewahrt die sich über den sohn geworfen der ausgelitten.“ Das Zitat ist gleichzeitig ein schöner Beleg für die Priorität des rein Ästhetischen vor dem Sujet. In gut symbolistischer Manier leitet George die Wirkung des Kunstwerks aus den Stimmungswerten seiner ästhetischen Gestaltungsmittel und nicht aus dem klassischen Pietà-Sujet ab. Das Echo, das dieser im Mai 1893 in den Blättern  I,  4 erschienene Text bei Ida Coblenz auslöst, nimmt Georges Perspektive auf. 1895 schreibt die inzwischen in Berlin lebende nunmehrige Ida Auerbach, die in der dortigen Nationalgalerie Böcklins Gemälde betrachtet hatte: „die von Ihnen besungene Piéta ist mir […] eine geklärte Freude sonder gleichen. Über dem ganzen die Stimmung unsäglichster Trauer und doch diese Schönheit. Diese himm­ lische reine Schönheit. Diese Vereinigung ist höchste Kunst.“13 Zu den Idealen dieser Schönheit gehört ebenso die Domestizierung des Schmerzes, der andernfalls durch Verzerrung der Gesichtszüge die Vollendung der Form beeinträchtigen würde. Auf dieses von Lessing an der Laokoon-Gruppe entwickelte Argument rekurriert George am Ende von Eine Pietà des Böcklin, wenn er aus der Miene eines Putto eine Strenge liest „wie ein befehl Gottes der den übergrossen schmerz missbilligt.“ Die fünf Lobreden sind offenbar in der Chronologie ihrer Entstehung angeordnet. Sie beginnen mit den Texten über Mallarmé und Verlaine, die sich im Aufbau ähneln. Beide beginnen mit einem Abschnitt über Erscheinungsbild und charakteristische Gesten der Person, darauf folgt ein Gang durchs Werk. Mallarmé wird durch einen Blick auf die Wirkung des Meisters abgerundet. George hebt zu Beginn den „eifer eines gläubigen für seine sache“ (SW XVII, 46) an Mallarmé hervor, womit die Dichtung direkt einen religiomorphen Zug erhält. Wenn im zweiten Absatz die rhetorischen Fragen gestellt werden, ob Mallarmé mit seinem Werk „windungen seines irrgartens“ geschaffen habe und „sich in einem unersteiglichen spitzenturm“ verberge, werden mit Labyrinth und Elfenbeinturm zwei Vorstellungen wachgerufen, die seine Person

    13 Brief von Ida Auerbach an Stefan George aus Berlin, 17. 5. 1895 (StG/IC, 49).

    

    Tage und Taten 

     813

    und Dichtung der Verfügbarkeit entziehen. Entsprechend legt George nach der Zitation einiger Verse aus verschiedenen Texten (in denen mit ‚Fee‘ und ‚Kind‘ eigene Schlüsselworte stehen) den Akzent auf die Unzugänglichkeit von Mallarmés Sprache, die er in eine Traditionslinie stellt, zu der Beschwörungsformeln, Pindar, spätantike Kirchenväter, Nonnos und Dante gehören. George resümiert diesen Befund in dem generalisierenden Satz: „Jeden wahren künstler hat einmal die sehnsucht befallen in einer sprache sich auszudrücken deren die unheilige menge sich nie bedienen würde oder seine worte so zu stellen dass nur der eingeweihte ihre hehre bestimmung erkenne.“ Es ist leicht zu erkennen, dass George, der Erfinder mehrerer Kunstsprachen, hier auch über sich selbst spricht. Die Betonung des Hermetischen relativierend, weist George an Beispielen aus Pages, Herodias und L’Après Midi d’un Faune selbst darauf hin, dass Mallarmé in seinen Werken „auch deutlich greifbare bilder gegeben“ habe. Abschließend charakterisiert George Mallarmé als einen Alchemisten, „der die geheimen kräfte kennt und daraus den lebenerweckenden trank bereitet“ und dessen Meisterschaft „am wenigsten nachgeahmt werden“ könne. Seine Dichtung und Gestalt motiviere „genossen und jünger“ zu einem Streben nach höchster Vollendung, bewahre aber „immer noch ein geheimnis.“ George spricht Mallarmé am Ende direkt an und spielt mit der Formulierung, dass „du […] uns den glauben lässest an jenes schöne eden das allein ewig ist“, auf dessen Äußerung gegenüber René Ghil an, die er wohl etwa in dieser Zeit in dichtungstheoretischen Notizen festgehalten hat.14 So mündet der Text in eine ästhetizistische confessio, die Mallarmé zum Siegelbewahrer eines reinen Reiches der Kunst erklärt. In der Lobrede auf Verlaine liegt das Gewicht mehr auf dessen Bedeutung für eine neue sprachliche Evokation von Stimmungen und Seelenlagen. Unter dessen Werken hebt George die Romances sans paroles hervor, in denen „zum erstenmal frei von allem redenden beiwerk unsre seele von heute“ (SW XVII, 49) vernehmbar werde. Diesem Effekt dienen die ästhetischen Gestaltungsverfahren von Verlaines Dichtung. George betont ihre Einfachheit: „Eine farbe zaubert gestalten hervor indes drei spärliche striche die landschaft bilden und ein schüchterner klang das erlebnis gibt.“ Die ersten Bestimmungen erinnern an den Zyklus der Bilder, richten den Blick aber eher auf die rezeptionsästhetische Seite. Wenn George in der nächsten Lobrede auf Jean Paul hervorhebt, dass der Leser „erstaunt und beschämt […] vor einem so zarten empfinden einer so frauenhaften aufmerksamkeit einem solchen reichtum der gefühle“ (SW XVII, 53) stehe, und er Jean Paul zum „vater der ganzen heutigen eindruckskunst“ erklärt, wird ersichtlich, dass Verlaine für George gewissermaßen eine Brücke zwischen Symbolismus und Impressionismus bildet. Mit gleichem Recht kann man natürlich diese Perspektive auch umkehren und darauf hinweisen, dass George Jean Paul zu einem Ahnherrn symbolistischer Verfahren macht. Er lobt sein

    14 Vgl. die Quellenpublikation von Ute Oelmann: Notizen Stefan Georges zu Literatur und Kunst in GJb 1 (1996/1997), 155 und den Kommentar ebd. S. 166.

    814 

     Jürgen Egyptien

    „heiliges streben den zauber der träume und gesichte zu verbildlichen“ und schließt seine Lobrede mit der Behauptung, Jean Paul habe der deutschen Sprache „gewiss die glühendsten farben gegeben und die tiefsten klänge.“ Diese Deutung Jean Pauls dient nicht zuletzt Georges Absicht, den französischen Autoren einen gleichrangigen deutschen Dichter an die Seite zu stellen und damit der einseitigen Orientierung an einer fremden Sprache die Hinwendung zur eigenen als Alternative hinzuzugewinnen. Explizit empfiehlt George den jungen deutschen Dichtern, die er zu Beginn der Lobrede unmittelbar anspricht, Jean Paul als „den reinen quell der heimat.“ Der nun folgende Text über den Maler Friedrich Wasmann fällt spürbar aus dem Zyklus heraus. Er ist eine eher konventionelle Buchanzeige,15 die nur lose mit der ästhetischen Programmatik der vier Dichter-Lobreden verbunden ist. Diese Berührungen liegen darin, dass George die Porträtkunst von Wasmann in die Nähe derjenigen von Jean Paul rückt und die Konsequenz bewundert, mit der Wasmann „fern vom markte der ausstellungen“ (SW  XVII, 55) nur seiner eigenen Auffassung von Kunst lebte. An den Zeichnungen Wasmanns spricht George besonders der träumerische Zug in der Darstellung der männlichen Jugend und das ‚traurige Verzichten‘ in den Mädchenbildnissen an. Aus der die Zeichnungen begleitenden Autobiografie Wasmanns zitiert er zur Illustration von dessen literarischer Begabung mehrere Beispiele, die alle melancholisch, traurig und wehmütig stimmende Eindrücke schildern. Hier endete die Erstausgabe der Tage und Taten. Den Zyklus beschließt die Lobrede auf Hölderlin, die durch Norbert von Hellingraths Entdeckung von dessen Handschriften im Jahr 1909 und die folgenden editorischen Bemühungen, an denen George regen Anteil nahm, veranlasst sein dürfte. Hölderlin war bereits in dem von George und Wolfskehl 1902 herausgegebenen Band Das Jahrhundert Goethes prominent vertreten gewesen, aber jetzt gewann er eine exzeptionelle Bedeutung. Gleich der erste Satz der Lobrede spricht mit proklamatorischer Geste die leitende Perspektive aus, unter die Hölderlin von George gestellt wird. Hölderlin erscheint als „der grosse Seher für sein volk“ (SW XVII, 59), dessen Werk wie ein ‚sibyllinisches Buch‘ „eine unbekannte welt des geheimnisses und der verkündung“ offenbart. Er vereint so die heimatliche Qualität von Jean Paul mit der kunstpriesterlichen von Mallarmé, deren Pointe in der paradoxen Gleichzeitigkeit von Verkündung und Geheimnis liegt. George nimmt im weiteren Verlauf der Lobrede eine ideengeschichtliche Situierung von Hölderlin vor. Er sieht dessen Einzigartigkeit darin, dass Hölderlin zur Zeit der Weimarer Klassik einen Paradigmawechsel in der Antike-Rezeption vollzogen habe. Die Klassik hatte, so George, in ihrem notwendi15 Diese Konventionalität schlägt sich auch in der für George eher ungewöhnlichen Formulierung nieder, das angezeigte Buch über einen vergessenen deutschen Maler mache diesen „dem deutschen volk zugänglich.“ Dass dem nicht so war, belegt das Vorwort des Herausgebers Bernt Grönvold zu einer Neuausgabe von 1915, in dem es lapidar (und Georges Rezension ignorierend) heißt: „Das Buch fand keine Beachtung.“ Bernt Grönvold: Zur Einführung. In: Friedrich Wasmann. Ein deutsches Künstler­ leben von ihm selbst geschildert. Hg. v. dems. Leipzig 1915, S. V–XVIII, hier S. VII.

    

    Tage und Taten 

     815

    gen Kampf gegen das ‚triebhafte Gestürme‘ ein Bild der Antike im Zeichen Apollos errichtet, die Kultur also „zur hellenischen klarheit“ geführt. Hier nimmt Hölderlin nun eine wesentliche Erweiterung des Blicks vor: „Dionysos und Orpheus waren noch verschüttet und Er allein war der entdecker.“ Diese Entdeckung, so Georges Gedankengang weiter, erlaubte es Hölderlin, zu dem Quell der Sprache hinabzutauchen und von dort „das lebengebende wort“ mitzubringen. Die Formulierung erinnert an den Alchemisten Mallarmé, der „den lebenerweckenden trank bereitet.“ In der Schlusspassage dieses ausnahmsweise absatzlosen Textes arbeitet George mit dem rhetorischen Mittel eines antithetischen Parallelismus: „Nicht dass sein schmerzhaftes und zerrissenes dasein ein vorbild werde für neue sitte .. denn es gilt höheres. […] Nicht dass seine dunklen und gesprengten silbenmaasse ein muster werden für suchende vers-schüler .. denn es gilt höheres.“ Zu Hölderlins Wahnsinn und seiner freirhythmischen Sprache geht George (wie schon gegenüber dem vers libre) auf Distanz.16 Beides erweckt bei George die Vorstellung einer Formauflösung und eines Kontrollverlusts. Anschlussfähig ist Hölderlin für George dort, wo seine Aufbrechung der Sprache in die Zusammenballung zu gnomischen Verdichtungen umschlägt. Seine Funktion als „verjünger der sprache“ und „verjünger der seele“ macht Hölderlin in Georges Augen zum prophetischen Dichter. Die Lobrede endet selbst in diesem Duktus, wenn George behauptet, Hölderlin sei „mit seinen eindeutig unzerlegbaren wahrsagungen der eckstein der nächsten deutschen zukunft und der rufer des Neuen Gottes.“ Es ist nur schlüssig, wenn auf diese Worte die Vorrede zu Maximin folgt, in der George selbst in die Rolle des Rufers des Neuen Gottes schlüpft. Der Text, der zuerst im Gedenkbuch für Maximin Ende 1906 erschien, macht den Prozess der Transfiguration des Jugendlichen Maximilian Kronberger in den Gott der Jugend Maximin sichtbar. Nach einer kulturkritischen Charakterisierung der Gegenwart feiert der Text „die plötzliche ankunft eines einzigen menschen“ (SW XVII, 62), die die Verzweifelten mit neuer Hoffnung erfüllt. Bereits im nächsten Abschnitt wird er mit seinem Kunstnamen ‚Maximin‘ angesprochen und als „darsteller einer allmächtigen jugend“ bezeichnet, erhält also etwas Theaterhaftes oder Allegorisches. Der dritte Abschnitt unterstreicht seine wesensmäßige Alterität. Die ihn Fragenden erschreckte manchmal „eine unheimliche ferne seines blicks · als ob die antwort nicht hier sondern erst auf einem andern gestirn gegeben werden könne.“ Die gewählte Metaphorik bereitet Maximins Verwandlung in den ‚Stern des Bundes‘ spürbar vor. Die besondere Qualität seines Wesens wirkte ihrerseits verwandelnd auf die, die mit ihm umgingen. Der fünfte Absatz beginnt: „Das ganze getriebe unsrer gedanken und handlungen erfuhr eine verschiebung seitdem dieser wahrhaft Göttliche in unsre kreise getreten war.“ Damit ist die Identifizierung des angekommenen, sozusagen adventistischen Menschen mit einem göttlichen Wesen vollzogen. Diese Transfiguration erlaubt es im

    16 Die einschlägige Formel lautet: „Freie rhythmen heisst soviel als weisse schwärze.“ (SW XVII, 69).

    816 

     Jürgen Egyptien

    Weiteren, Maximin als Erlöser anzusprechen, der sich darin offenbart, dass er „seine eigne schönheit bis zum wunder vervollkommnet.“ Die Göttlich- oder Gottähnlichkeit wird im letzten Absatz durch Maximins Kontaktaufnahme, nachdem er „auf einen andren stern gehoben“ wurde, beglaubigt. Die Klagenden, die seinen frühen Tod bejammern, erreicht „seine lebendige stimme“ und belehrt sie „über den ehernen fug dass in oberstem adel die notwendigkeit der frühen auffahrt liege.“ Seine Auffahrt im Alter blühender Schönheit bewirkt, dass der Jammer bald kultischer Hingabe Platz macht. Die Vorrede schließt mit dem Satz: „Wir können nun gierig nach leidenschaftlichen verehrungen in unsren weiheräumen seine säule aufstellen uns vor ihm niederwerfen und ihm huldigen woran die menschliche scheu uns gehindert hatte als er noch unter uns war.“ Der folgende Zyklus der Betrachtungen versammelt fünf Texte mit insgesamt sieben Abschnitten. Es sind poetologische Reflexionen, die von der Frühzeit der Blätter für die Kunst bis – laut Morwitz – ins zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts reichen. Man findet in ihnen u.  a. Grundpositionen des Symbolismus, allgemeine produktionsästhetische Überlegungen oder eine Kritik der Dekadenzkunst.17 Hier endete die zweite, erweiterte Ausgabe der Tage und Taten von 1925. Den letzten Zyklus der Ausgabe letzter Hand bilden die eingangs aufgelisteten Übertragungen.

    17 Ich verzichte hier auf detailliertere Kommentare und verweise auf den Beitrag von Christophe Fricker über die Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst in diesem Band.

    Nina Herres

    Interpretationen von vier Prosatexten aus dem Zyklus Tage und Taten (SW XVII, 18–21) Stefan Georges Tage und Taten im gleichnamigen Band (SW XVII, 17–23) sind Schauplätze paradoxer Metamorphosen und Kulissen maskierter Aporien. Ihre lyrische Prosa vereint barocke Emblematik mit pointillistischer Ästhetik. Im Folgenden sollen vier Texte aus der Nähe betrachtet werden.1 Ich bin wieder da wohin ich im sommer meinen gram getragen. Aber an stelle des grases liegt weisser flaum aus dem schwarze stämme und schwarze äste ragen. Daneben auch kleine sträuche mit den grauen hüllen der vergängnis. Die gruppen der liebesgötter auf plumpen sockeln scheinen viel nackter als zur zeit wo sich hinter ihnen ein bunter fächer auftat .. damals war mein schmerz noch rot. Nun hat er sich milde getönt wie das blau eines himmels im vorfrühjahr. (SW XVII, 18)

    Obschon diese wenigen Sätze nicht eigentlich erzählen, ziehen sie eine eigentümliche narrative Spannung aus der Dichotomie ihrer Zeiten. Vor der Folie des vergangenen Sommers geschieht eine präsentisch-winterliche Rückkehr an denselben Ort, dessen Landschaft bereits zuvor kummervolle Kulisse war. In zyklischer Wiederkehr, ganz wie die Jahreszeiten selbst, betritt das Ich erneut denjenigen Raum, der erfüllt ist mit der Erinnerung an vergangene Traurigkeiten. Die winterliche Gegenwart hat die Kulisse jedoch gewandelt, die Landschaft ist jetzt düster und kalt. Neben die Farbattribute Weiß und Schwarz tritt ein Grau, das den kargen Schauplatz zum Emblem der Vanitas werden lässt: „Daneben auch kleine sträuche mit den grauen hüllen der vergängnis.“ Die Vergänglichkeit im staubgrauen Mantel des Buschwerks kommt als Verhüllung daher, als Überzug wie der zuvor erwähnte Schnee („weisser flaum“). Umso unverdeckter wirken die Skulpturen, die keinen farbenfrohen Rückhalt in Form von sommerlichen Blumen aufweisen. Es handelt sich um ohnehin unbekleidete Eroten, die nun im winterlichen Gewand der Vergänglichkeit ihre frierende Ausgeliefertheit zur Schau stellen.2 Damit gesellt sich ein Memento mori ins Ensemble der Vanitas. Vor dem staubgrauen Schleier der Sterblichkeit, neben den blattlosen Baumresten, ragen unverhüllte Eros-Figuren im Thanatos-Anstrich in die Landschaft. Ohne ein blütenreiches Pfauenrad der Farben im Hintergrund („hinter ihnen ein bunter fächer“) treten die jahreszeitlichen Veränderungen als Wechselspiel von Verhüllung und Entschleierung hervor: Das Grasgrün ist längst vom Schneeweiß überdeckt, Laub und

    1 Zur Forschungslage vgl. Lothar van Laak: Tage und Taten. In: GHb I, S. 290–300. Für einen knappen Deutungsansatz sei auf das entsprechende Kapitel verwiesen, S. 294–300. 2 Der Komparativ „viel nackter“ ist auf erhellende Weise unsinnig, da ein Zustand der Unbekleidetheit nicht gesteigert werden kann. In kahler Gesellschaft frostiger Vegetation vermittelt dieser Komparativ indessen jene Entblößung, welche die morbide Verhüllung der Szenerie kontrastiert.

    818 

     Nina Herres

    Holz einer leblosen Schwärze gewichen, das Gebüsch grau überzogen, keine vielfarbigen Blütenstauden schirmen die Blöße der Statuen. Wenn alle Unterschiede im Jahreslauf aufgezählt sind, erscheinen die letzten beiden Sätze des Textes wie eine Schlussfolgerung aus der kargen Kulisse, eine Konklusion für die Innenwelt des Ich. Auch dessen peinvolle Stimmung hat sich nämlich mit der Wiederkehr in die veränderte Landschaft getönt, das erinnerte Blutrot gegen ein freundliches Himmelblau getauscht. Auf dieselbe zyklisch-integrative Weise, wie der abwesende Sommer hinter der Verhüllung des gegenwärtigen Winters zugegen ist, spielt die neue Kolorierung der Trübnis auf den kommenden Frühling an. Das kurze Prosastück erfasst auf diese Weise einen in jeder Hinsicht prägnanten Moment. Gesättigt mit dem Gram des vergangenen Sommers, einschlürfend die Vergänglichkeit der Gegenwart, vorausahnend die Milde und den Trost der Wiederkehr von lebendigem Blau, aneinandergereiht mithilfe eines durchgehaltenen Kummermotivs. In der Schlussgnome lauert unterdessen eine unerwartete Wende: Der blutige Schmerz ist dem grünen Sommer zugewiesen, wohingegen eine Besserung der Befindlichkeit im kargen Winter erfolgt. Die Metamorphose der Seelenzustände verläuft damit antizyklisch zum Spiegelverfahren der Jahreszeiten. Die barocke Emblematik steht dem inneren Wandel entgegen, im morbiden, maroden Zustand winterlicher Lebensferne vollzieht sich die Hoffnung auf rekonvaleszente Schmerzlinderung. In der Semantik von Verhüllung und Entblößung bedeutet dies, dass sich hinter dem Ensemble von Vanitas und Memento mori, im Angesicht des abwesenden Lebens, eine vorsichtige Zuversicht verbirgt, welche erst durch die Wiederkehr an den Ort des erinnerten Kummers enthüllt wird. Steigern lässt sich die Denkfigur einer narrationsfernen Metamorphose, wenn das ‚Ich‘ einem ‚Man‘ weicht: Die heissen hände der sonne erschlafften die blätter nahmen ihnen den glanz und liessen dafür einen grauen überzug wie von staub. Wo erde und grün duften duften sie stärker und sommerlich  und auf die flieder kamen die robinien die zu einem schlafe laden aus dem man kein erwachen wünscht. (SW XVII, 19)

    Wieder nehmen wir einen Übergang wahr, wieder ist der Ausgangspunkt eine jahreszeitlich sich wandelnde Landschaft. Eine Personifikation der sommerlichen Hitze ist diesmal Ursache für „einen grauen überzug wie von staub.“ Wo zuvor glänzendes Grün herrschte, verhüllt nun abermals aschenes Grau die Szenerie.3 Die bekannte Verschränkung von Räumlichkeit und Zeitwahrnehmung bestimmt den folgenden Halbsatz, dessen Synästhesie in einer Anadiplose zu sich kommt: „Wo erde und grün duften duften sie stärker und sommerlich“. Durch die wiederholte Verbform entsteht eine

    3 Nach der Personifikation der „heissen hände der sonne“ wohnt dem Vergleich „überzug wie von staub“ eine unheimliche Intention inne. Die Verben ‚nehmen‘ und ‚lassen‘ verdeutlichen – nach der seltsam transitiven Verwendung von ‚erschlaffen‘ – zudem eine ersatzweise Verschiebung: Das Staubgrau ist ein Surrogat für den Grünglanz.

    

    Tage und Taten 

     819

    kleine Zäsur in der Mitte, die den Raum („Wo“) von seiner Zeitzuschreibung („sommerlich“) abhebt. Gleichzeitig bindet die geminatio den olfaktorischen Eindruck an die Farbenwelt des Sommers.4 Die zeitliche Abfolge der blühenden Sträucher blendet durch ihre Präposition „auf“ wiederum in eine räumliche Ordnung hinüber und vermeidet darin konsequent jede narrative Struktur. Dem Raum verhaftet, wechselnd nur in der Zeit, tauschen die Stauden ihr Gewand.5 Und inmitten staubgrauer Ermattung ringsherum entfalten die Blüten ihr betörendes Aroma. Zwischen dem ziemlich harmlosen Flieder und der Robinie besteht nun eine Steigerung, die nicht nur im Jahreslauf begründet ist. In der Blütezeit penetranten Geruch verströmend, stark an Bergamotte erinnernd, tragen Robinien nicht nur ganzjährig Dornen, sondern sind auch in allen Bestandteilen überaus giftig. Der „schlafe aus dem man kein erwachen wünscht“ vermittelt hierauf nicht nur das Verlangen nach schattigem Ausruhen, sondern eine ausgesprochene Todessehnsucht. Es kommt das stampfend jambische Metrum des letzten Nebensatzes hinzu, welches der gespenstischen Verallgemeinerung „man“ ihre dringliche Notwendigkeit verleiht. Aus diesem Schauplatz der Metamorphose gibt es kein Entkommen, seine Kulisse lässt keinen Raum für nachlassenden Schmerz des Individuums.6 Ein dritter Text schließt diesen Motivkomplex der Tage und Taten weiter auf und verdeutlicht deren Tendenz zur aporetischen Gleichzeitigkeit: Trotz des beständigen warmen lichtes das mitten im herbst an den frühling gemahnt merke ich ein langsames sterben in mir. So auch am heutigen lärmenden aber mir zerstreuungslosen tag. Müde von den vergangenen wachen schlief ich am mittag und kam erst nach der abenddämmerung zu mir. Welche unerklärliche änderung nun? auch ohne den falschen klang zu neuer glocken fühlte ich mich heiler · emporgetragen in einem sanften und reinen schmerz. (SW XVII, 19  f.)

    Es ist seltsam mit diesen Metamorphosen, sie kommen fast ohne narratives Nacheinander aus und sprechen doch von Wandel und Wechsel. Einen wichtigen Hinweis gibt gleich das erste Wort, „[t]rotz“. Wir betreten einen Raum des Konzessivs: Es ist so warm und hell, dass man für Frühjahr halten könnte, was dennoch Herbst ist. Trotzdem gibt es eine große Traurigkeit. Die Stunden waren laut und lebhaft, für das Ich dessen

    4 Die Nebensatzkonstruktionen beider bisher erwähnten Texte sind bemerkenswert. Ihre Ortsangaben finden jeweils in einer indirekten Frage statt („wieder da wohin ich“, „Wo erde und grün duften“), die Verschränkung von Raum und Zeit ist indes bei einem inkorrekten relativen „Wo“-Satzanschluss am eindrücklichsten: „Die gruppen der liebesgötter auf plumpen sockeln scheinen viel nackter als zur zeit wo sich hinter ihnen ein bunter fächer auftat ..“ (Hervorhebung d.V.). 5 Das Verb ‚kommen‘ nimmt – ebenso wie ‚laden‘ – dabei den personifizierenden Zug des Texts wieder auf. Die Tempora der Verben wechseln zwischen Präteritum und Präsens. Der mittlere Satz erscheint wie von einer überzeitlichen Gültigkeit, die erst im finalen Relativsatz wieder eingeholt wird. 6 Intrikaterweise war die Schmerzlinderung dem todesverfallenen Winterschauplatz zugewiesen, im duftigen Umfeld des Sommers steht hingegen die Einladung zum Todesschlummer am Ende.

    820 

     Nina Herres

    ungeachtet ohne jede Ablenkung vom eigenen Kummer. Gewacht wurde entgegen der Nachtzeit, geschlafen trotz der Tageshelle. Sämtliche Formulierungen sind gegenläufig, es herrscht ein beständiges ‚Trotzdem‘. In diese konzessive Beständigkeit, die eine Gleichzeitigkeit von Widerstrebendem ist, bricht nun eine plötzliche Erhabenheit. Dem „langsame[n] sterben“ steht damit im finalen Konzessiv eine rasche Katharsis entgegen. Diese widerfährt offenkundig ohne Zutun und ohne Erläuterung. „Welche unerklärliche änderung nun?“ Es ist bezeichnend, dass eine mögliche Ursache für die spontane Elevation sofort ausgeschlossen wird. Nicht das offenbar trügerische Abendläuten verursacht nämlich die Besserung, sie vollzieht sich wohlgemerkt „ohne“ (vielmehr trotz) Kirchenglocken. Und selbstverständlich nur insoweit, als dass dem „sanften und reinen schmerz“ weiter nachzuspüren ist. Die Befindlichkeit mag sich nämlich gebessert haben, der Anlass zur Klage darf jedoch nicht verschwinden. Es handelt sich um eine weitere Metamorphose, deren Wandel keinen Ausweg sucht, deren Wendungen keinerlei Abschluss in Aussicht stellen, weil ihre Verschiebungen und Verschattungen lediglich graduelle Änderungen bringen, die sämtliche Widerstrebnisse in einer paradoxen Gleichzeitigkeit bewahren. Es ist bezeichnend, dass aus solchen Verstrickungen eine geradezu dezisive Sehnsucht entspringt: In dieser paarung von müdigkeit und unruhe vereinige ich oft mit verdrehter freude die verschiedenartigsten ausschnitte zu einer landschaft und es scheint mir wenn plötzlich ein zitronengelber schmetterling durch die kahlen farbenlosen gefilde fliegt wie ein jäher entschluss mitten in unbestimmten wünschen und drängen. (SW XVII, 21)

    Nach allerhand wankelmütigem Widerstreben bricht eine plötzliche Entscheidung in die andauernde Simultaneität von Gegensätzlichem.7 Unverfügbar wie ein Zitronenfalter, der die fahlen Gestade der Lebensferne durchflattert, durchzuckt eine Bestimmung das Zögern und Zaudern. Eine flinke, blitzhafte Bestimmtheit, die zwischen Inspiration und Dezisionismus schwebt. Am Ende aller Bemühungen, die widerstreitenden Ländereien der Seele zu bannen – müde, unruhig und „mit verdrehter freude“ zugleich – ist es ein unverdienbarer Augenblick ohne eigenes Zutun, der ebenjenen Widersprüchlichkeiten ein lebendiges ‚Trotzdem‘ entgegensetzt. Obschon die Umgebung unwirtlich und winterlich ist, zeigt sich ein Schmetterling. Seine leuchtende Farbe taucht ungeplant in „die verschiedenartigsten ausschnitte […] einer landschaft“ ein, seine unvorhersehbare Bewegung durchkreuzt das Sichtfeld, sein Erscheinen fällt eine rasche Entscheidung. Denn allzu trost- und leblos sind die „kahlen farbenlosen gefilde“ nun gleich nicht mehr, ein kleiner Wandel ist eingetreten. Möglicherweise sind es allein solche flinken Momente farbigen Lebens, die als unhintergehbares ‚Dessen-allen-ungeachtet‘ noch die aporetischsten Metamorphosen mit einem Funken Zutrauen versorgen.

    7 Ausgerechnet das sehr späte Gedicht In stillste ruh aus dem Neuen Reich kommt hier in den Sinn.

    Bruno Pieger

    Kurzdramen und dramatische Fragmente Wer Stefan George liest oder sich mit seinem Werk beschäftigt, vermutet in ihm nicht den Dramatiker. Entsprechende Texte sind in frühen Folgen der Blätter für die Kunst erschienen und in den Schlussband der Gesamt-Ausgabe verwiesen (SW XVIII, 5–58). Weniges andere und durchweg Schülerarbeiten wurden später aus dem Nachlass herausgegeben.1 Und doch gab es fast zwei Jahrzehnte lang ein von George mit in­spiriertes Ringen um das Dramatische, das in die ‚Bühne der Blätter für die Kunst‘ münden und vor allem bei einschlägig begabten Mitstreitern des Dichters beispielhafte Kurzdramen oder Reflexionen über das Dramatische und zum Theater hervorbringen sollte.2 Warum dieses Projekt aufzugeben war, ist eine der Fragen, denen man sich stellen muss. Eine Antwort setzt die Einsichtnahme in zentrale Motive von Georges dramatischen Versuchen voraus und muss um Einblicke in ihre Transformierung im späteren lyrischen Werk ergänzt werden. Hindert aber nicht eine Scheu daran, Georges Dichtung als Lyrik zu bezeichnen? Die überpersönliche, plastische Tendenz, die rituellen, beinahe kultischen Elemente, die ausgesetzte, abgrundnahe Situierung, die in ihr zur Geltung kommen, überschreiten das Lyrische im engeren Sinn. Könnte es also am Ende sein, dass das Dramatische dem Lyrischen einverwandelt werden musste, um die im geschichtlichen Sinn gültige Dichtungsform zu generieren? Dafür sprechen nicht allein die dramatischen Dialoge und Gespräche, die Wechsel- und Gegenreden, wie sie explizit im Neuen Reich oder bereits im Vorspiel zum Teppich des Lebens und in den Gestalten des Siebenten Rings begegnen. Doch selbst die vermeintlich dialogische Struktur des Sterns des Bundes, die man eher als ‚Kunst des Übergangs‘ bezeichnen sollte, bietet keinen hinreichenden Beweis für eine erfolgreiche Transformation. Vielmehr ist es erforderlich, den tragischen Grund freizulegen, der Georges Dichtung eingeschrieben ist. Die Erste Stufe der Manuel-Fragmente, die nach des Dichters eigenem Bekunden auf das Jahr 1886 zurückgeht3 und von der nur ein elf Zeilen umfassender Monolog des greisen Timon mitgeteilt wird, gibt dies bereits zu erkennen. Die „gefilde“, die der „heilige[] strom[] bewässert“, liegen „im morgenlicht“ vor ihm. Er wendet sich zur Sonne, die er mit ‚Du‘ anredet und der alle „dinge[]“ der Erde ihr eigenes Erblühen verdanken. Das ‚Öffnende‘ in diesem Bezug ist das Entscheidende und lässt Gedichte wie Vor-abend war es unsrer bergesfeier und Von welchen wundern lacht die Morgen1 Stefan George: Phraortes. Graf Bothwell. Zwei dramatische Fragmente aus der Schulzeit. Hg. v. Georg Peter Landmann. Düsseldorf u. München 1975. 2 Ein „Verzeichnis der Dramen und dramentheoretischen Texte der ‚Blätter für die Kunst‘“ bei Franziska Merklin: Stefan Georges moderne Klassik. Die „Blätter für die Kunst“ und die Erneuerung des Dramas. Würzburg 2014, S. 209–211. 3 Vorbemerkung in: SW XVIII, 6.

    822 

     Bruno Pieger

    erde aus dem Stern des Bundes bereits erahnen. Doch tut sich auf jener frühen Stufe zwischen der „Natur“ mit ihrem „frieden“ und der Menschenwelt ein Abgrund auf. Timon klagt, dass die Natur zwar den „kleinen gram […] zu scheuchen“ vermag, aber den „grossen kummer“ nicht. Die „brust“ des Menschen „[f]ühlt“ ihn umso mehr, „[j]e zartre süssere lüfte sie umziehn“ (SW XVIII, 8). Die acht Bilder der Zweiten Stufe, die auf das Jahr 1888, das letzte Schuljahr Georges, zurückgehen und von denen nur das zweite, vierte und letzte Bild unter dem Namen Rochus Herz in den Blättern für die Kunst veröffentlicht wurden,4 verlagert das Abgründige auf die zwischenmenschliche Ebene. Auch dies ist ein Kennzeichen von Georges Dichtung, dass die mehr kosmische Konstellation wiederkehrt im Verhältnis von Mensch zu Mensch und sich beide Ebenen, denen verschiedene und doch aufeinander verweisende Zeitstrukturen eingeschrieben sind, ineinander spiegeln. Im Ersten Bild treffen Leila und Manuel, die sich lieben, am Brunnen nahe der Stadt Trapezunt und unweit der Hütte von Timon, dem Vater Leilas, aufeinander. Manuel bemerkt, dass Leila vor ihm erschrickt. Tatsächlich ist dieses Erste Bild ein einziges Beispiel, wie große Innigkeit von selbst Trennung hervorruft und ‚die Beiden‘ beinahe wie in Hofmannsthals gleichnamigen Gedicht zueinander stehen: so sehr bebend, dass der eine den anderen nicht finden kann.5 Im Munde Leilas heißt dies: „Ich liebe dich zu sehr .. / Auch wenn ich nie erfahre wer du bist.“ (SW XVIII, 11) Zunächst spricht sie eine Differenz aus zwischen dem Gefühl der Liebe, das sich in der Imagination einstellt, und der Gefühlsverwirrung beim realen Aufeinandertreffen. Dann ängstigt sie eine Rettungstat Manuels, bei der er sein Leben riskierte, das er doch für die innige Liebe zu ihr hätte bewahren müssen. Manuel gesteht ihr zu, dass die Liebe solche Gedanken reifen lässt und sich darüber in „selbstsucht“ verkehrt (SW XVIII, 12). Und er wartet mit einem Gegenmodell auf, das für George bezeichnend ist und aufhorchen lässt. Gegen Konvention und Verdienst stellt er das Vorrecht der Situation, die gleich einem natürlichen „drang“ wie von selbst verlangt, was zu tun ist. Das ist beinahe schon der kairós, der das spätere Werk Georges regiert,6 und verweist entschieden in eine Dimension, der gegenüber alles Gerede von Werten, Normen und jede Lebenslehre nur ein Nachklappern bedeuten. Das Recht eines natürlichen Drangs dürfen selbst Leilas ‚törichte‘ Gedanken in Anspruch nehmen. So lautet der von ihr eingeforderte Tadel, den Manuel ausspricht: „Du fehltest nur aus liebe.“ Das Zweite Bild transportiert die Erfahrung der Trennung in das Verhältnis zwischen den Generationen. Timon erkennt am Aussehen und Lächeln Leilas, dass in ihr eine Veränderung vor sich gegangen ist – „Sie hört allmählich auf ein kind zu sein / Da 4 BfdK I, 3, S. 72–78. Die Zählung und Bezeichnung der Bilder ist dort noch anders als im Schlussband, der den Wortlaut übernimmt, nur Szenerie und Bühnenbild zu Beginn des Ersten Bildes bringt. 5 Entstanden vielleicht 1896, im Gegensatz zu anderen Gedichten Hofmannsthals nicht in den BfdK veröffentlicht. 6 Vgl. dazu Edith Landmann: Stefan George und die Griechen. Idee einer neuen Ethik. Amsterdam 1971, S. 24–42.

    

    Kurzdramen und dramatische Fragmente 

     823

    kommen manche sonderbare wechsel“ –, was er ihr nicht zugestehen oder zumindest nicht wahrhaben will. Er wirft ihr Verrat an der väterlichen Liebe vor, sie fühlt sich davon gedemütigt und in ihrem Eigenen verkannt. Gegen besseres Wissen will er „ein so teures süsses kind“ keinem anderen überlassen (SW XVIII, 15). Was hier dramatisch aufbricht, kehrt im späteren Werk gewandelt wieder. Gedichte, die das Verhältnis zwischen den Generationen betreffen, geben den Jüngeren frei oder betonen ein wechselseitiges Verhältnis: Sieh mein kind ich gehe, Mein kind kam heim und Ergeben steh ich vor des rätsels macht sind dafür sprechende Beispiele. Der Erwachsene darf sein Kind nicht „versehren“ (SW III, 60), es ist sein „eigentum“ (SW VI/VII, 143) und doch „unendlich fern.“ Er darf dem Jungverliebten keinen Kuss mehr aufdrücken auf seinen „mund der einen mund zum kuss schon kor“. Als höchste Begegnungsform erlebt er, was dem Dichter am Knaben Maximin widerfuhr: „Wie er mein kind ich meines kindes kind ..“ (SW VIII, 14) – Was hat sich da gewandelt und wie ist der dramatische Konflikt ins Gedicht verwunden? Im Dritten Bild treffen Manuel und Menes aufeinander, die in einem Dialoggedicht im Siebenten Ring wiederkehren, wo entscheidende Verse aus dem Manuel-Fragment als Motto angeführt werden (SW VI/VII, 42  f.). Auf der frühen Stufe berichtet Menes, der sich als „bürger“ einführt, wie er stellvertretend für sein Volk als Rächer, Aufrührer, Opferer und Retter gegen die „schlimme herrschaft“ focht, bis Manuel, „der prinz von Trapezunt“, auftrat (SW XVIII, 16–18). Menes, der um seinen eigenen Rang weiß, bewundert Manuel, der ihm wie ein Nothelfer erscheint und den er erst vollkommen erkennt, als er schon „mit gezücktem schwert“ Manuel ermorden will: Ich merkte dass ein grösserer als ich Erstanden war im wechsel der geschicke. Gebrochnen herzens leistet ich verzicht Und als die menge zögernd rings mich ansah Da riet ich abzustehen von meiner tat Und auf dein wort zu baun. (SW XVIII, 18)7

    Der dramatische Konflikt liegt in der Notwendigkeit, trotz höchstem eigenen Anspruch, bewiesener Handlungsfähigkeit und wahrhafter Berufung gegenüber einem noch Größeren zurücktreten zu müssen. Auf der Stufe des dramatischen Fragments spürt Menes „eifersucht“ (SW XVIII, 16), es ereilt ihn ein Herzgebrechen, bevor er sich als „diener oder helfer […] anzubieten“ vermag (SW  XVIII, 18). Letztendlich rettet ihn Manuel, indem er ihn als einen Freund annimmt, dessen er bedarf, weil Menes schon kämpfend vorgelebt hat, was Manuel nach seinem vom Himmel auferlegten Amt erst

    7 In der Gesamt-Ausgabe steht im entsprechenden Band statt „abzustehen“ metrisch korrekt und rhythmisch plausibel „abzustehn“.

    824 

     Bruno Pieger

    beginnen muss. So deutet sich hier schon ein wechselseitiges, einander ergänzendes Verhältnis an, in das der dramatische Konflikt übergeht. Im Gedicht Manuel und Menes (SW VI/VII, 42  f.) wird sich dieses Verhältnis objektivieren. Menes weiß darum, dass sein Weg noch von zu viel Geplantem und Erzwungenem bestimmt war, während Manuel von Geburt aus Rang und Größe zukommen. Der Verzicht bedroht Menes zwar noch, doch auf den Höheren sehend wird er „stark und heil“. Es geht nicht um ein Herr-und-Knecht-Verhältnis, schon gar nicht um Unterwerfung, vielmehr um Übergang. Wie jedes schwindende Alter ins nächste eingeht, so Menes’ bisheriges Tun in das von Manuel. Im Gegenzug versichert Manuel, dass auch Menes ihm voraus sei „[d]urch diesen sichern sieg den du erfochten“. Er besteht in nichts anderem als im Verzicht, der sich dem kairós-haften Erscheinen des Höheren verdankt und „[d]ie nahe reife“ eigenen „führertumes“ dafür opfert. Auf diese Weise wird Menes Teil von Manuels Werk, das nur auf anderer Stufe Menes’ eigenes Tun und Trachten wiederholt. Beide „sind gleich geweiht“, geführt von der „einzige[n] stimme“. Doch hat sich ihr gegenüber ein umgekehrt reziprokes Verhältnis ergeben – „Ward dir ein lenker neu: ward mir ein wächter […] / […] Ich Herr · du Helfer“ –, das dem Dichter im Sinne eines wechselseitigen Übertreffens und Ergänzens trotz des dafür konstitutiven Gefälles ein mehr an Gleichheit zu versprechen schien als alle nivellierende Gleichheit bis hin zur Gleichmacherei. Im Ersten Buch des Sterns des Bundes gilt als höchste Auszeichnung für den um sein Dichter-sein ringenden Dichter: Dass dich was jeden brechen muss nicht bricht: Wenn sich dem starken nah dem werkes-ziel Der Höhere zeigt du dann nicht heillos fichtst Nein vollen glücks sein erster diener wirst. (SW VIII, 21).

    Damit ist vom dramatischen Konflikt aus die höchstmögliche Erfüllung der jeweiligen Existenzweise erreicht. Der Rest des Manuel-Fragments ist schnell erzählt. Im Vierten Bild verstößt Timon Leila, als sie ihm ihre Liebe zu Manuel gesteht, holt sie dann aber doch ins Haus zurück. Im Fünften Bild beratschlagen Manuel und Menes, was zu tun sei, nachdem die Häscher von Manuels Vater die für nicht gesellschaftsfähig erachtete Leila gefangengenommen und in ein Kloster gebracht haben. In der Wechselrede tut sich als dramatischer Konflikt der Gegensatz von Gewaltanwendung und Friedfertigkeit auf. Menes rät zur Gewalt, zieht sich damit auf seine frühere Position zurück und verlässt Manuel. Diesen ergreift eine tragische Ausgesetztheit. Er fühlt sich wie auf einem „felsenriff“, an das es „[v]on allen seiten“ anbrandet (SW XVIII, 28  f.). Später, im Stern des Bundes, wird sich der frisch erweckte Jünger nach dem Weggang des Meisters hingegen dankbar zeigen, genug erhalten zu haben, um „welten zu bewegen[,]“ wenngleich es sich nur um „[d]en fussbreit festen grund“ handelt, auf dem er steht (SW VIII, 104). Auf einen solchen bezieht sich schon Manuel. Sein fester Grund ist die Treue zu dem ihm aufgegebenen Weg der Friedfertigkeit, Liebe und Schicksalsfrömmigkeit:

    

    Kurzdramen und dramatische Fragmente 

     825

    Das schicksal muss den knoten glimpflich lösen Es muss ein wunder wirken .. Die liebe haucht mir neue stärke ein Im augenblick wo mich zerschmettern will Der druck des alls dem ich entgegenwirkte. (SW XVIII, 29)

    Der letzte Vers wird im Ersten Buch des Sterns des Bundes fast wortwörtlich zitiert. In die zweite Person Singular versetzt richtet ihn dort die göttliche Instanz an den Dichter und verweist ihn auf die Grundsituation, aus der seine nomothetische Sagekraft hervorgeht: Aus einem staubkorn stelltest du den staat Gingst wie geführt und wusstest dich erkoren ›Beim druck des alls dem du entgegenwirktest‹ Bestimmtest währung sprache und gesetz[.] (SW VIII, 23)

    Auf der Stufe des Manuel-Fragments hält der Protagonist freilich noch nicht stand. Der Selbsttötung Leilas, von der im Sechsten Bild gesprochen wird, folgt der Freitod Manuels, von dem wir im Siebenten Bild aus dem Munde von Menes erfahren. Dadurch geht der Auftrag der Welterneuerung in geläuterter Form und d.  h. im Geiste Manuels wieder an Menes über. Dieser formuliert ihn nun so: Mir schwebt ein riesengrosses kampfwerk vor Mit neuem geist will ich das volk durchsäuern Ich will erleuchten locken und bezaubern Und alle falschen schädlichen gewalten Zerfallen wie die staubgewordnen knochen Sobald sie frische luft berührt. (SW XVIII, 33)

    Demgegenüber erscheint der Schicksalsbegriff des Königs und seines Ministers im Lezten Bild makaber und menschenverachtend, sofern sich die Staatsmacht von Schuld freispricht, weil ‚es so Gottes Wille war‘. Die Staatsmacht hat sich hier vollständig formalisiert, während sich Leila, Manuel, Menes und selbst Timon als Akteure eines lebendigen Geschehens erwiesen, in dem der dramatische und d.  h. schicksalhafte Ablauf von einem zum anderen überging. Zu Recht wird daran erinnert, dass der Ausgang des Dramas Schillers Kabale und Liebe nachgebildet ist.8 Deutlich wird aber auch, dass bei George der Standesgegensatz, Fragen von Schuld und Vergebung, die Psychologisierung der Figuren und der politische Kontext mehr äußerlicher Vorwand bleiben. Ernst nehmen muss man hingegen Georges Hinweis in der späteren Vorbemer-

    8 Franziska Merklin: Georges moderne Klassik (wie Anm. 2), S. 145.

    826 

     Bruno Pieger

    kung zu Manuel, die früheste Fassung „behandelte […] einfachste urmenschliche verhältnisse“ (SW XVIII, 6). Dies darf auch für die folgenden Stufen gelten.9 Ob an ihnen freilich gezeigt werden soll, „den stark typisierten Einzelnen, den ‚großen Menschen‘, in historisch anmutender Umgebung an seinem Fatum zugrunde gehen“ zu lassen, „mit einer der antiken Tragödie vergleichbaren Wucht und Unausweichlichkeit“10 darf in dieser Ausschließlichkeit bezweifelt werden. Die Übernahme zentraler Motive in die spätere Dichtung und die damit einhergehende Verwandlung sprechen eine andere Sprache und knüpfen in anderer Weise an die griechische Tragödie an. Bevor dies gezeigt werden kann, muss der Blick auf die Dritte Stufe, die Um-schreibungen einiger Auftritte des Manuel gerichtet werden,11 die nach Angaben des Dichters „auf den ersten plan zurückgreifend […] aus den jahren 1894/95“ stammen. Es bestehen also acht, neun Jahre Abstand gegenüber der frühesten Fassung und immer noch sechs oder sieben gegenüber der zweiten, auszugsweise in den Blättern für die Kunst mitgeteilten. Dazwischen liegen Georges Aufenthalte in Paris mit den Begegnungen im Mallarmé-Kreis und den damit verbundenen Impulsen, die George von der französischen symbolistischen Dichtung erhielt. Von daher ist es naheliegend, dass die mit Bindestrich geschriebenen Um-schreibungen nichts mit Umschreibungen zu tun haben, sondern beispielhaft die Verwandlung der ursprünglichen Darstellung in eine neue Sprache und damit in eine neue Sichtweise vorführen.12 Tatsächlich folgen die Um-schreibungen dem vor Ende 1892 entstandenen Rat für Schaffende:13 kannst du nicht all dein leises sehnen in das lispeln der blumen legen oder in einen feinen mairegen? nicht all deine unbezähmbaren wünsche in eine stürmende nacht ein brandendes seerauschen ein gellendes heulen aus ungelichteten wäldern? das ringen nach unmöglichem auf schwindelverursachende berggipfel tragen die von den wolken immer noch weit genug sind? das vergebliche des seins und zeugens in jene ziellose graue nebelstrasse und die stolzen unvermeidlichen verzweiflungen in blut und purpur eines sonnenniederganges?

    Entsprechend wird in der ersten der Um-schreibungen, betitelt Das Feld vor Timons Haus, die zarte Verbindung zwischen Leila und Manuel nur durch einen gemeinsamen Gang über eine Wiese, auf der sie Blumen pflücken, wiedergegeben. Statt ‚liebst du mich‘ fragt einer den anderen, ob er die „glänzenden sterne“, „die wechselnden bilder der wolken“ oder die „schimmernden gewässer“ anzuschauen liebe oder sich gar dem „schauern in den nächtigen wäldern“ auszusetzen verstünde (SW XVIII, 38). Das Nähertreten Manuels ist allein im Spiel des Blumenpflückens eingefangen. Als der Vater nach Leila ruft, wird die ferne Nähe und innige Trennung der Liebenden wie folgt ausgesprochen:

    9 Ähnlich schon EM II, 90 u. 108. 10 Franziska Merklin: Georges moderne Klassik (wie Anm. 2), S. 147. 11 Erstveröffentlich in BfdK II, 2, S. 56  f., u. II, 5, S. 147–149. 12 Ähnlich schon EM II, 106 und Merklin: Georges moderne Klassik (wie Anm. 2), S. 137. 13 SW XVII, 68, zur Datierung 124. Erstveröffentlichung in: BfdK II, 3, S. 74.

    

    Kurzdramen und dramatische Fragmente 

     827

    MANUEL Und du wirst mir nicht verbieten wiederzukommen? LEILA Ich sagte dir schon dass die wiese uns beiden gehört. MANUEL Wenn du so sagst werd ich wol nicht wiederkommen. LEILA So sag ich es wäre mir schmerz wenn du nicht wiederkämest. (sie flüchtet mit ihren blumen) (SW XVIII, 39)

    Was hat sich hier geändert? Das andeutende Sagen, der Weg über die Naturerscheinungen, die Sprache der Gesten stellen eine größere Vertrautheit her als jedes direkte Aussprechen. Dabei erweist sich das Innige zugleich als das Schmerzliche und Trennende. In den früheren Fassungen war jeder Akteur mehr für sich und verlieh seinen Gefühlen und Auffassungen Ausdruck. So standen sie gegeneinander und ergänzten sich bestenfalls wie bei Manuel und Menes. Auch fanden Übergänge zwischen ihnen statt. Jetzt sind sie von vornherein in eine Atmosphäre einbehalten, die Menschenund Naturwelt umfasst, wo sich eines im anderen spiegelt und Inniges und Trennendes nur unterschiedliche Betonungen eines ursprünglichen, unergründbaren Geschehens darstellen, für das etwa ‚die Wiese‘ als gemeinsamer Ort steht. Dem entspricht die getragene, entdramatisierte und weitgehend auf äußerliche Erregungsgrade verzichtende Sprache, die sich aufgrund der Länge der Satzperioden verlangsamt und einen neuen Rhythmus annimmt. War für die frühere Fassung der fünfhebige Jambus des Blankverses leitend, mit seinen Möglichkeiten der Substituierung, greift der neue Vers auf sechs bis sieben Hebungen aus. Auch in der zweiten Um-schreibung, Am Brunnen, verfehlen Leila und Manuel einander und sind sich dadurch nah. Wo Freude erwartet wird, herrscht noch Angst, tatsächliches Zusammentreffen wird von fehlender Erlaubnis unterminiert, nächste Nähe ereignet sich in der Abwesenheit schlafloser Nächte, der Mond, zu dem die eine wie der andere aufsehen kann und dessen Strahlen sich „plötzlich[]“ wärmer anfühlen, stellt Verbindung und Vereinigung her. Als Manuel „[s]o kurze nähe und so lange trennung“ nicht mehr aushalten mag und Leila in sein Haus und seine Gärten einlädt, weist sie dies mit den Worten ab: „Du musst jezt schweigen und mich verlassen / Denn meine seele ist ganz in zittern.“ (SW XVIII, S. 40). Auch in den beiden um-geschriebenen Szenen Der Vater – Leila hat sich die Atmosphäre gegenüber der früheren Fassung gewandelt. Der jetzt nicht mehr Timon genannte Vater versucht Leila, die sich durch die Begegnung mit Manuel in ihrem Wesen verändert hat, weder durch Pochen auf seine Vorrechte und geziemendes Verhalten noch durch zeitweise Verstoßung an sich zu binden, sondern sie durch Fragen, Hinweise und Eindrücke zu gewinnen. Leila antwortet zwar, aber so, dass sie nicht wie früher reagiert, sondern in ihrer neuen Fühlweise aushält. Die Kluft zwischen Vater und Tochter wird dadurch unerbittlicher, als wenn sie sich direkt gestritten hätten. In dem Moment, wo Leila auf den traurig dastehenden Vater zueilen will, ist er es, der sie aufgrund der verspürten Trennung zurückweist. Nun spricht Leila die entscheidenden Worte:

    828 

     Bruno Pieger

    Was ist vorgefallen in jenen kurzen tagen: Ich sah zwei augen und war plötzlich geblendet Blumen quellen und himmel kamen mir anders vor. Ich spürte zwei lippen und ich lebe seitdem In einem wunderbaren und süssen reiche. So oft ich die lider schliesse spüre ich sie wieder. Deshalb kann mein vater doch nicht erzürnt sein. (hinknieend und die arme emporhebend) Ich fühle mich rein wie die kinder im himmel droben. (SW XVIII, 42)

    Dieser Zustand, der sich auch in der letzten Um-schreibung nicht mehr ändert, in der Leila vom Vater an ihre hohe Abstammung und ihr Flüchtlingsdasein und die damit verbundenen Pflichten erinnert wird, wäre nicht hinreichend erfasst, wenn er nur psychologisiert und im Sinne großer Verliebtheit gedeutet würde. Sie liegt vor, doch aufgrund von etwas über sie Hinausreichendem, für das sie das Modell abgibt, indem sie eine Sprache im Munde führt, durch die sich die Verhältnisse, wie die Akteure in sich, zueinander und zur Welt stehen, erst klären und das Innig-Schmerzliche erzittern lassen. Es kann sich von Zeit zu Zeit wie kindliche Reinheit anfühlen. Auf poetologischer Ebene bedeutet dies: Indem sich George das Schmiegsame und Andeutende symbolistischer Sprache zu eigen macht, verlieren auch die Verhältnisse, von denen er spricht, alles Mechanische, das der früheren Fassung, orientiert an Schillers Dramatik, noch anhaftete. So lässt sich Georges Befreiung von der Konvention auch am Manuel-Projekt studieren. Die Aufhebung einer antagonistischen Realität in die symbolistische Traumsphäre als höhere Wirklichkeit durch einen neuen Bezug zur Sprache ist wahrhaft Um-schreibung und Freiheit schaffende Tat, durch die das Dramatische, scheinbar entdramatisiert, einen anderen Status annimmt. Hier sind nun die in den Blättern für die Kunst erschienenen Äußerungen zur Dramentheorie heranzuziehen. Dabei interessiert weniger die allmählich reifende Gewissheit, dass sich aufgrund des Fehlens einer größeren Gemeinschaft und durch die Kapitalisierung des Theaterbetriebs eine moderne öffentliche Bühne nicht mehr bewerkstelligen lässt. Die vor diesem Hintergrund ausgerufene ‚Bühne der Blätter für die Kunst‘ bedient einen Schonraum, in dem anstelle der theatralischen Gebärde, wie sie der zeitgenössische Schauspieler bevorzugte, das Wort und ein von verhaltener Gestik begleitetes, vom Vers rhythmisch gehaltenes Sprechen die Führung übernehmen und damit zumindest eine tastende Einübung in jene zartere Wirklichkeit erlauben, von der die Um-schreibungen einen ersten Eindruck geben. In den Blättern für die Kunst finden sich Aussagen zu Bühne, Theater, Lyrik und den wechselseitigen Beziehungen allerorten.14

    14 BfdK I, 4: Carl August Klein: Unterhaltungen im grünen Salon. II Das Theatralische, S. 112–116, hier S. 116; BfdK II, 2, S. 34; BfdK II, 4: Paul Gérardy: Geistige Kunst, S. 110–113, hier S. 111  f.; BfdK III, 5,

    

    Kurzdramen und dramatische Fragmente 

     829

    Die Kernsätze aus der Dramentheorie der Blätter belegen dreierlei: Sie formulieren den Anspruch, dass auch die Schaustücke ein ‚neuer Geist‘ durchstimmt. In diesem Sinn geben Georges Um-schreibungen das Maß, indem sie die durch den Sprachrhythmus ausgelöste Entstehung und Gestaltung einer höheren Wirklichkeitsebene einfordern. Was sich in diesem Schritt manifestiert, wird weiter zu fragen sein. Bereits gezeigt hat sich, dass sich die dramatischen Konflikte auf ihr anders anordnen und das Innige und das Schmerzliche in anderer Weise zusammengehören. Zugleich und damit zusammenhängend begegnet insbesondere in den Verlautbarungen Wolfskehls eine für das neue Schauspiel bezeichnende Ambivalenz zwischen Kunst und Kult. Einerseits wird bestritten, dass das Drama je Kult gewesen sein könnte, sondern allenfalls Symbol für ein sich vormals oder noch gleichzeitig ereignendes kultisches Geschehen. Andererseits wird der Hoffnung auf eine Wiederkehr des gültigen Dramas nachgegeben, die sich im Zeichen einer ‚Begnadung‘ und „geheimnisvolle[n] mutterschaft“15 vollziehen müsste und sehr wohl an eine kultische Erneuerung denken lässt. Wohin wandert dann aber dieser höchste Anspruch ab? Tatsächlich ist in der ersten Verlautbarung der Blätter zum Theatralischen die Abwendung vom Drama schon angezeigt und die lyrische Dichtung ins Spiel gebracht. In welcher Weise vermag aber die dramatische Dimension, die eine eigene Höhe hält, in sie überzugehen? Hier können Georges Kurzdramen Die Herrin betet (BfdK II, 2, S. 36–40) und Die Aufnahme in den Orden. Ein Weihespiel (BfdK  V, S. 10–15)16 zur Klärung beitragen. Die Herrin betet (SW XVIII, 45–50) trägt den Untertitel Eine Sage im Sinn der Altkölnischen Meister und ist „dem Burgherrn auf Rheinstein ehrerbietigst gewidmet“17 Das Stück spielt also im Mittelalter und lässt bereits an die zu jener Zeit entstandene Gattung des Mysterienspiels denken, an die das Weihespiel deutlicher anknüpft. Sie war von Wolfskehl als Beispiel für religiöse Dramatik und insgeheim als Orientierungpunkt für eine ausstehende Erneuerung des Dramas genannt worden.18 Der Gang der Handlung, mit der von George gegebenen Regieanweisung besser als „in der weise Lebender Bilder“ bezeichnet, lässt sich nicht leicht nachvollziehen und hat als K ­ uriosum dazu geführt, dass sich die bedeutendsten Kommentierungen, die von Morwitz und jüngst von Merklin, in der Frage, wer den Zweikampf, der im Stück eine Schlüsselstellung einnimmt, gewonnen hat, diametral widersprechen.19 Bei

    S. 132; BfdK  IV,  5, S. 130; BfdK  V, S. 1; BfdK  VII: Karl Wolfskehl: Über das Drama, S. 61–65; ders. in BfdK VIII: Über das Drama, S. 5–7. 15 Karl Wolfskehl: Vorbemerkung über das Drama. In: BfdK VIII: S. 62  f., hier S. 62. 16 Beide Kurzdramen sind in den Schlussband der Sämtlichen Werke, SW XVIII, 45–58, aufgenommen worden. 17 Zum historischen und kunstgeschichtlichen Hintergrund detailliert EM II, 114–118. 18 Zum Wiederaufgreifen der Gattung, genauer der Untergattung des Mysterienspiels vgl. Merklin: Georges moderne Klassik (wie Anm. 2), S. 123–125. 19 Der junge heitere Ritter, „Der mit dem Falken“, bei EM II, 112; der kampferprobte ältere, „Der mit dem Greifen“, bei Franziska Merklin: Georges moderne Klassik (wie Anm. 2), S. 160.

    830 

     Bruno Pieger

    allem Respekt für die innovative, auch an der französischen und belgischen Avantgarde orien­tierten Darstellungsart,20 die eine Zweiteilung der Bühne in die unablässig betende Herrin und die sich je anders gruppierenden übrigen Aufführenden vornimmt, aber ebenso eine zwischen Darsteller und vielleicht nur im Hintergrund gesprochenem Text und dann wieder zwischen Darstellung und bloßem Gedankenspiel der Herrin, in jedem Fall aber zwischen beschreibendem Text und vielleicht nur einflüsternder direkter Rede, wird man das indirekte, aussparende Verfahren als das herausragende Merkmal des Kurzdramas auffassen dürfen. Auf diesem Weg sucht es den potentiellen Zuschauer wie den Leser in Bann zu ziehen. Wer zu viel Klarheit in die Abläufe bringen will, muss das Geschehen mehr ausmalen, als der Text Anhaltspunkte bietet. Er wird dazu auf historische und zeitgenössische Hintergründe setzen, die aber dem vermeintlichen Zuschauer – das Stück kam nie zur Aufführung – nicht gegenwärtig gewesen wären. Auch würde es sich dann nur um ein Historienspiel handeln, bei dem die Schauspieler, dem „Genre der Tableaux vivants“ vergleichbar,21 vielleicht Gestalten, die aus der bildenden Kunst bekannt sind, nachstellen. Der Hauptpunkt ist aber, dass ein unergründliches Geschehen an einer beständig knieenden und betenden Protagonistin vorüberzieht, und das heißt, dass die zum Teil grausamen Vorkommnisse vom Gestus des Betens aufgefangen und umgestimmt werden. Dieses Kontinuum wird von der gleichmäßigen Handhabung des Blankverses unterstrichen. Das Kurzdrama setzt mit einem Text ein (wer spricht ihn?), der von der Regieanweisung als „beschreibende[r] teil“ bezeichnet wird und „zur errichtung der bühne und stellung der gruppen“ dienen soll. Die schmucklose, schwarz gekleidete und von ihrem Gewand beinahe verschleierte Herrin hält eine Art Rosenkranz in den Händen, während sie vor einem Betpult steht oder kniet. Aus einem „spitze[n] bogenfenster“, in dessen „rauten“ eine Mariengestalt eingelassen ist, fällt Licht aus „andre[n] welten“ auf sie und zeigt an, dass sie gegenüber dem Gang der Geschicke in einer höheren Dimension steht. Im Hof unten, also in Hörweite, aber nicht zu sehen, verstummen die „mannen“, während ein „waffentosen“ anhebt. Derweil bewegen sich in der anderen Hälfte der Szenerie und somit der betenden Herrin gegenüber „mägde auf den zehen“ über den Gang. Ihnen sind die Worte „in den mund gelegt“ (vgl. die Regieanweisung), die das bisher Vorgefallene und eben Vorfallende mitteilen (oder wird es vielleicht nur „in leidenschaftslos getragener sprache im hintergrund hergesagt“?): Der „gatte“ der Herrin war auf der Jagd von einem Unbekannten erschlagen worden. Jetzt stehen sich (unten im Hof?) zwei Gestalten gegenüber, die im Zweikampf entscheiden wollen, wer die Gunst der Herrin verdient. Doch besteht der Verdacht, einer könnte der Mörder des früheren Gatten gewesen sein. So geht es nicht nur um das Erringen „höchste[r] huld“, sondern auch darum, „[d]ass einer sich der schweren klage löse“. Bei den nächsten beiden Szenen handelt es sich um imaginative Einflüs-

    20 Vgl. ebd., S. 156  f. 21 Ebd., S. 154.

    

    Kurzdramen und dramatische Fragmente 

     831

    terungen, die die Betende zwischenhinein ereilen; denn die beiden Kämpfer, denen sie zugeordnet sind, schlagen sich eben und sind nicht zu sehen. Zuerst „lispelt ihr / Der mit dem Falken“ zu, wie heiter er sei und wie er überall gern gesehen und von den Frauen geliebt werde. Dann erinnert „Der mit dem Greifen“ daran, wie sie sich ihn als kampferprobten, volksnahen und kreuzzugserfahrenen Ritter vorstellen müsse. Darauf wird „der beschreibende teil“ wieder aufgenommen. So, wie der frühere Gatte „erschlagen“ wurde, tönt jetzt „[e]in lauter schlag“, auf den nach kurzem Innehalten „jubelrufe[] und ein dumpfes murren“ folgen. Die Entscheidung ist gefallen. Die Herrin – und das ist nun sichtbar – erbebt, fasst sich kurz und geht dann dem „sieger“ entgegen, der schon dabei ist, den Gang heraufzukommen. Als sie ihm ‚glänzenden Auges‘ die Hand darbietet, antwortet dieser ebenso mit einer Geste: „Der junge ritter sinkt vor ihr ins knie.“ Also kann es sich nur um „Den mit dem Falken“, den allseits Beliebten und stets Heiteren, handeln, denn der andere, „Der mit dem Greifen“, hat schon viele Kriegszüge hinter sich und muss bedeutend älter sein. An dieser Stelle, also nach dem fünften Abschnitt, verhüllt sich die Szene für kurze Zeit, wie die Regieanweisung ausdrücklich vorgibt. Soweit der erste Teil, der in entsprechend viele sinnführende Abschnitte untergliedert und vom zweiten durch einen Stern getrennt ist. Nun hört man die Herrin einem Priester folgenden Sachverhalt berichten: Nach dem Fest (dem Hochzeitsfest?) habe der junge Ritter eine andere Natur an den Tag gelegt, als er mit seiner Einflüsterung vorgegeben hatte. Er bricht zu „rauhen zügen“ auf, bleibt lange abwesend und hat bei kurzen Aufenthalten daheim „nur böse rede.“ Darüber vereinsamt die Herrin. Der junge Ritter nimmt also geradezu Züge an, die man bei dem älteren Ritter vermutet hätte. Dadurch kommt eine ungeheure Spannung auf, die verloren wäre, wenn man den älteren Ritter zum Sieger erklärte und ihn als Kriegsveteran noch einmal losziehen sähe. In ihrem „kummer“, der auch frühere „prüfungen“ und „schmerzen“ aufrührt, vertraut sie nach langem ‚Ringen‘ und nachdem sie sich an die „gnadenbilder[]“ gewandt und den Armen geholfen hat, dem „[f]romme[n] Vater“ an, dass sie „ein entsetzlicher gedanke“ „[v]erfolgt“. Sie darf ihn nicht aussprechen, denn schon antwortet der Priester, sie solle den „höchsten richter“, der nicht „irrt“ und also – wie nahe gelegt ist – auch über den Ausgang des Zweikampfs entschieden hat, nicht „reize[n]“, vielmehr den „widersacher“ in ihrer Brust bändigen und dafür die „vermittlung“ und den „schutz“ der „Heiligen“ suchen. Im durch einen Stern abgesetzten dritten Teil gibt ein heransprengender Bote kund, dass der fern weilende Gatte der Herrin, also der junge Ritter, „erleuchtet“ von eines „grossen mönches wort“ und „ohne den verzug / Des abschieds“ zum Kreuzzug ins Heilige Land aufgebrochen sei. Seine Rede ist an die Zuschauer gerichtet, denn erst danach – wie es in der abschließenden Beschreibung heißt – sucht er nach der Herrin. Als er „[d]ie angelehnte pforte der kapelle“ bemerkt, hält er inne:

    832 

     Bruno Pieger

    Er öffnet · zögert etwas · legt sie wieder Behutsam bei und mit dem deutefinger Verschliesst er sich den mund:                      ›Die Herrin betet.‹ (SW XVIII, 50)

    Worauf deutet dann ihr ‚entsetzlicher Gedanke‘, den sie nicht aussprechen darf und am Ende im Gebet verschließt? Merklin vermutet, die Herrin könne Untreue fürchten oder ihren jetzigen Gatten, der angeblich der ältere Ritter sein soll, verdächtigen, ihren früheren Mann ermordet zu haben.22 Morwitz leitet aus der Antwort des Priesters ab, sie werde davon bedrängt, „Gott habe sich bei der Entscheidung des Zweikampfs geirrt“ (EM II, 113). Dies bedeutet aber, dass der jüngere Ritter, der ja – wie gezeigt – unzweifelhaft der neue Gatte der Herrin ist, auch der Mörder des früheren war. Es gibt dafür auf rein sprachlicher Ebene ein untrügliches Zeichen, nämlich die schon erwähnte Metonymie zwischen ‚Erschlagen‘ und ‚Schlag‘, die vom Mörder auf den Sieger übergeht und doch bei derselben Person verbleibt (oder ist mit dem „laute[n] schlag“ das Hinstürzen des Verlierers gemeint?). So wird das Brüchige, Abgründige und Doppelbödige dieses Kurzdramas sichtbar. Es erinnert auf allen Ebenen an ein ‚Verkennen und Versehen‘, wie man es vielleicht nur bei Kleist findet, und ist doch in eine ganz andere Sprache aufgehoben. Wenn man sich potentielle Zuschauer vorstellt, wird man sie nach der Aufführung rätseln sehen, wie die Vorgänge aufzufassen sind und wie ihnen nur langsam das eine oder andere dämmert: Der Sympathieträger, als den sich der jüngere, integer scheinende Ritter ausgegeben, hat er sich nicht in einen grimmigen Schurken verkehrt? Der vielseits bewehrte und bewährte ältere Kämpfer – musste er nicht unterliegen und sterben? Aber ist das mit dem Zweikampf verbundene Gottesurteil nicht anders ausgefallen, als es zunächst ausgesehen hat? Blüht dem jüngeren Ritter als vermeintlichem Sieger am Ende nicht der Tod in einem Kampf, für den er in den Kreuzzug zieht? Wird nicht auch das Verweilen der Herrin im Gebet auf’s Schärfste durch die bestürzenden Ereignisse herausgefordert und legt ihr Zweifel nicht ein metaphysisches Desaster nahe? Und wenn der Priester trotzdem mit kirchlich gebotener Sicherheit antwortet, ist seine Rede dann den Ereignissen noch gewachsen? Erweist sich nicht selbst das Licht, das durchs Kapellenfenster einfällt, als trügerisch, weil die Herrin nicht wissen kann, was in diesem Licht erscheint? Denn die Tatsache, dass sich der neue, unrühmliche Ehegatte in den Kreuzzug flüchtet oder in ihm sein Heil sucht, ist nicht nur psychologisch motiviert im Sinne einer Wiedergutmachung an der Herrin bzw. der Sühne begangener Schuld, sondern eine Verlängerung des Gottesurteils, das eben nicht eindeutig ausfällt oder zu erkennen ist und auch jetzt offenlässt, ob der Kreuzfahrer siegreich zurückkehrt oder umkommt. Das nicht zu Ende kommende Gottesurteil, das immer neue Gesichtspunkte aufdeckt, die dem Bewusstsein des Menschen bisher entzogen

    22 Ebd., S. 160.

    

    Kurzdramen und dramatische Fragmente 

     833

    waren und dann mit einem Mal die bisherige Geschichte in ein anderes Licht rücken, gibt die ursprüngliche, unaufhebbare dramatische Situation vor. Dies wird von einer Darstellungsart unterstützt, die nur andeutet, oftmals ausspart, dann symbolisch verdichtet und scheinbar ein abgründiges Spiel treibt. Wie verhält sich aber das Kontinuum des Betens, dem die gleichmäßige und beruhigte Sprache entspricht, zur Dynamik und zum Spannungsfeld des Geschehens? Zumindest entspricht jener Gleichförmigkeit keine zeitliche Dauer, denn die drei Teile sind jeweils durch einen klaren zeitlichen Abstand voneinander getrennt. Es müssen Jahre sein, bis sich der neue Ehemann endgültig als Frevler erwiesen hat, und dann muss weitere Zeit verstreichen, bis der Bote eintrifft. Auch ist darauf zu sehen, dass die betende Herrin wenigstens eine Zeit lang selbst aufs Äußerste gefährdet ist, als sich in ihr der „entsetzliche[] gedanke“ ausbreitet. Schon als sich der Zweikampf zu entscheiden schien, hat sie das ‚Beten‘ nicht vorm ‚Beben‘ bewahrt. Dies heißt aber nichts anderes, als dass die hier geführte Sprache, die in eine höhere Wirklichkeit versetzen will, sich immer wieder in Frage stellen und in das Abgründige, Mehrdeutige und Abbrechende des andrängenden Geschehens halten muss, um es zu durchstimmen und zu reinigen und darüber ihren Wahrheitsanspruch zu erhalten. Nur dann wird sie auf dichterische Weise selbst zum Gebet. Wo dies unterbleibt, schleichen sich das Epigonale und die falsche imitatio ein. Diese glauben darauf verzichten zu können, den Spannungsbogen ganz zu durchlaufen. Sofern das Geschehen aber in die Sprache und ihre Handhabung übergegangen ist und diese nicht nur der Handlung und Interaktion dienen, ist die Vorführung auf der Bühne, das Theatralische, bereits verlassen. Im Wissen um das Fehlen einer Gemeinde, die im Theater die sie angehenden Konfliktlagen verhandelt sieht, hat sich die dramatische als ‚höchste‘ dichterische Aufgabe in die Sprache gerettet. Am Anfang der Dramentheorie in den Blättern für die Kunst steht der Übergang zur lyrischen Dichtung.23 Es wäre eine schöne Aufgabe, einmal nachzuvollziehen, welche sprachlichen Verfahrungsweisen neben Andeutung, Aussparung und Verdichtung George kennt, um die antagonistisch herandrängenden Kräfte zu bannen, zu reinigen und zum Schönen Leben zu binden. Für das Kurzdrama Die Herrin betet sei vor allem auf die Kunst verwiesen, das Zweideutige, ja Doppelbödige ins Spiel zu bringen. Es ist vierfach angelegt: in der Zweiteilung der Bühne, also zwischen erhebendem Gebet und kruder Handlung, in der Differenz zwischen dem Auftreten der Personen und den aus dem Hintergrund herandrängenden Eingebungen, also zwischen den sichtbaren Gesten und den sich bildenden Worten, in dem sich wechselseitig in Frage stellenden 23 Vgl. für das Drama als höchste Aufgabe und für den Übergang zur lyrischen Dichtung das erste und das dritte der oben (Anm. 14) zusammengestellten Zitate aus den BdfK: „Im anfang der kommenden epoche wird das lyrische element vorherrschen..“ (BfdK I, 4, S. 116) und „Warum gerade die bühnendichtung die höchste sein soll?“ (BfdK II, 2, S. 34) – Schon die griechische Tragödie kannte eine Tendenz zur Lyrisierung, die nicht zuletzt dem Chor zugestanden war, vgl. Martin Hose: Euripides. Der Dichter der Leidenschaften. München 2008, S. 114–120.

    834 

     Bruno Pieger

    Verhältnis zwischen metaphysischem Licht und realem Gang der irdischen Dinge – und schließlich zwischen der Fiktion des Bühnenspiels und der sich darüber einstellenden Imagination im Zuschauerraum. Es konkretisiert sich – wie gezeigt – ebenso an den einzelnen Gestalten und breitet sich selbst im Gebet der Herrin aus, das sich an eine Instanz wendet, die vielleicht nur auf Täuschung bedacht ist und ihr Gottesurteil unaufhörlich neu formuliert. So entsteht ein Daseinsraum voller dramatischer Züge, der, wenn auch nicht vom Gebet der Herrin, so doch vom höheren Gebet der dichterischen Sprache zusammengehalten wird. Damit ist zugleich die Konstellation gegeben, die sich in der Dichtung Georges weiter entfaltet. Das ausdrücklich als solches bezeichnete Weihespiel Die Aufnahme in den Orden müsste dann den Schlusspunkt setzen, mit dem der Übergang des Dramatischen ins Gedicht endgültig besiegelt ist. Es ist um ein gutes halbes Jahrzehnt später entstanden als die Um-schreibungen und das Stück Die Herrin betet und 1901 in der V. Folge der Blätter für die Kunst erschienen.24 Da war Georges lyrisches Werk schon weit gediehen und reichte bereits an die Zeitgedichte des Siebenten Rings heran. Zum ersten Mal begegnet jetzt in seinem dramatischen Schaffen der Chor, der am Ende der Umschreibungen nur kurz mit einem Heilruf vorbeiziehender Jünglinge angedeutet war und später als Schlusschor des Sterns des Bundes seine höchste Möglichkeit realisieren wird.25 Das Weihespiel handelt von einem Übertritt und gibt ein Beispiel für jene Figur der Wende, die in Georges späterem Werk eine immer größere Rolle spielt.26 Konkret geht es um die stark ritualisierte Aufnahme eines Jünglings in den Orden. Der „um aufnahme bittende jüngling“ muss nicht nur dem „Grossmeister“27 Rede und Antwort stehen, sondern wird auch vom Chor gemustert, den die Ordensbrüder bilden und unter denen er spätestens beim dritten Versuch einen finden muss, der für ihn bürgt. Zunächst steht dem idealen Ordensbund, der vom Chor als Verwirklichung eines „Traumesgebilde“ verherrlicht wird und dessen Aufgabe es ist, stellvertretend für die Völker die Lebensglut zu wahren, der „von den dunklen mächten fast verwirrte“ Jüngling gegenüber (SW XVIII, 53). Er will sich um seiner Genesung willen den Gesetzen des Ordens unterwerfen, die aber nicht in einer Regel bestehen, sondern in einer Umkehr des Verhaltens: Statt Selbstsucht die Einfügung in den Kreis an dem ihm zukommenden Platz. Hier ist also schon viel von dem vorweggenommen, was George von seinem eigenen Kreis erwarten sollte. Dabei ist darauf zu achten, dass der Orden des Weihespiels zwar eine höhere Seinsstufe verwirklicht, aber durchaus um den dunklen Lebensgrund weiß und mit dem Leid der Welt vertraut ist. Ja, der Großmeister

    24 BfdK V, S. 10–15; SW XVIII, 51–58. 25 SW XVIII, 44, bzw. SW VIII, 114. 26 Vgl. Jürgen Söring: Die Figur der Wende als poetologisches Prinzip. Zum lyrischen Verfahren Stefan Georges. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 102 (1983), S. 200–221. 27 So die dem Drama vorausgeschickte Aufstellung der Personen, SW XVIII, 52.

    

    Kurzdramen und dramatische Fragmente 

     835

    betont ausdrücklich, dass nur der ‚Schmerzgeprüfte‘ den gewohnten „erdengüter[n]“ sich „entschlagen“ darf und ihn „der verzicht“ nicht ‚reuen‘ wird (SW  XVIII,  54). Der Jüngling besteht die erste Prüfung, die Leib und Sprache betrifft, erzählt von der „wilde[n] qual“ seiner Jugend mit ihren Liebesverlusten, Todessehnsüchten und suizidalen Gefährdungen (SW XVIII, 55) und muss sich nun dem eigentlichen Test unterziehen, nämlich den Bürgen finden. Das gelingt nicht durch Überzeugungsgabe, sondern durch den Eintritt ins Mysterium, in den innersten Raum des Weihespiels, in dem sich ein einander Erkennen ereignen kann. Zweimal bleibt es ihm versagt. Der als Erstes gefragte Chrysostomus lehnt ab, weil es ihm scheint, der Jüngling würde nach seinem qualvollen bisherigen Leben „zu leicht […] die rast“ gewinnen (SW XVIII, 56). Gewarnt wird also vor einem falschen Frieden, obwohl ein höherer Frieden „einzige pflicht“ des Ordens ist (SW  XVIII,  53). Die dem Dasein auferlegten Spannungsverhältnisse müssen verwandelt werden und dabei erhalten bleiben. Der als Zweites angesprochene Hermogenes verweigert sich ebenfalls und vertieft die von Chrysostomus gegebene Begründung: Nur aus „tiefste[r] angst“ und Todesnähe, die das dem Menschen auferlegte Sein erschließen, darf man im Orden eine neue Heimat finden (SW XVIII, 57). Erst der als Drittes befragte Donatus ‚erwählt‘ ihn als Bruder in einem Akt der Liebe, der „die äussersten peinen“, die aus dem Zurückgestoßen-werden wie dem Zurückstoßen hervorgehen, zu transzendieren vermag (SW XVIII, 58). Da dieses Sich-finden als Mysterium vollzogen wird, können auch die beiden Brüder den Jüngling, den sie zunächst abschlägig beschieden, als ihresgleichen annehmen. Der Großmeister „vollendet“ die Weihe, indem er den Jüngling die Hand von Donatus halten lässt und ihn auf den Bund verpflichtet, der ihn „zu werk und mühe“ und zum „glück“ geleiten soll. Der Chor preist abschließend Geist und Kreis und das „hehre[] wort“, die im rechten Zusammenspiel und in der Wiederkehr Dauer verleihen. Zuvor hatte er die Suche nach dem Bürgen mit dem Refrain vom Erschauern vor einem „unlenkbar geschick“ begleitet, bei dem keiner wissen kann, „[w]ie sichs erfülle.“ Der Jüngling setzte auf Milde, Gnade und Liebe und traf – wie die Namen der Figuren nahelegen – erst auf den Leiderfahrenen, dann auf den Seelenführer, schließlich auf den mit der schenkenden Tugend. Auf diesem Weg konnte sich das Mysterium tatsächlich erfüllen und die Bürgschaft für ihn übernommen werden. Entsprechend stehen sich die Brüder dieses Ordens nicht als Dialog- oder Vertragspartner gegenüber, sondern sind um des Mysteriums willen einander verbunden. Worum ringt am Ende Stefan Georges dramatisches Werk? Auf der Stufe der Manuel-Fragmente war ein „riesengrosses kampfwerk“ gefordert worden: „Mit neuem geist will ich das volk durchsäuern“ (SW XVIII, 33). Das führt aber nicht zu einer Tat, die in Staat und Gesellschaft die Umkehr der Verhältnisse brächte. Damit wird auch das Theater als öffentliches Forum, auf dem die anstehenden und alle angehenden Konflikte dargestellt, ausgetragen und einer Lösung zugeführt werden, hinfällig und tritt im Sinne der ‚Bühne der Blätter für die Kunst‘ in eine häusliche Sphäre zurück, die bestenfalls dem Wachhalten des Dramatischen und seiner verhaltenen Einübung dient. Mit den Um-schreibungen setzt eine Abhebung von der dramatischen Handlung

    836 

     Bruno Pieger

    zugunsten der sprachlichen Gestaltung ein, mit der ein neuer Ton anhebt und zugleich eine Kunst der Andeutung in mehrfacher Brechung wegweisend wird. Dafür steht als formvollendetes Gebilde das Kurzdrama Die Herrin betet. Spätestens jetzt ist zu erkennen, dass mit der symbolistischen Sprache keine Beruhigung und Verflachung des Dramatischen verbunden ist, sondern eine Aufhebung der andrängenden Kräfte und widerstrebenden Lebenstendenzen in eine höhere Sphäre, in der die dramatischen Erfahrungen noch nachzittern und in die sie doch gestaltet und gereinigt eingehen. So entsteht ein ganzer Daseinsraum, der auf einer tragischen Konstituierung beruht, die nirgends verleugnet wird und erst dazu berechtigt, das Abgründige in das Erhabene zu transformieren. Wenn es über die Zeiten hinweg einen Anklang an die griechische Tragödie gibt, so liegt er in dieser ungeheuren Katharsis, die in Anerkennung der dionysischen Zerrissenheit des Daseins, dem unaufhörlichen Walten der Dyas, das Kunstwerk vollbringt.28 Nur dass dies unter den Voraussetzungen der Moderne ganz in die Sprachgestalt abwandern musste und damit eine Dichtart entsteht, die schwerlich als Lyrik bezeichnet werden kann, sondern den Namen ‚tragisch-idealische Dichtung‘ tragen sollte. Hölderlin, einer der Ersten, an dem die moderne Erfahrung zum Durchbruch kam und der doch ganz in der griechischen Antike lebte, hat in seinen poetologischen Entwürfen entsprechende Benennungen vorgeschlagen und erprobt.29 Die Gedichtzyklen Stefan Georges wären auf diesem Hintergrund neu zu lesen. Auch darf gefragt werden, inwieweit der dramatische Darsteller, der nicht länger Schauspieler heißen darf, nicht in den verhaltenen Gestus, die gehobene Tonlage und rhythmische Realisierung dessen, der ein Gedicht hersagt, übergegangen ist. Parallel zur Versprachlichung des Dramatischen vollzieht sich die Ablösung des Öffentlichen durch den Bund, der weniger als Rückzug, sondern als stellvertretende Stätte aufzufassen ist. Die Aufnahme in den Orden enthält schon eine ganze Phänomenologie des Kreises, der sich zum Zeitpunkt, als dieses Weihespiel entstand, im engeren Sinn noch nicht konstituiert hatte. Von daher bleibt dieses Stück dem empirisch feststellbaren Gang der Kreisbildung voraus und erinnert daran, wie sie ursprünglich gedacht war. Erst Der Stern des Bundes (1910, 1913/1914) wird dies von Grund auf erneuern und weiterführen. Doch hatte schon die frühere Stufe zu fragen gewusst, unter welchen Voraussetzungen Menschen füreinander eintreten können und so zueinander finden, dass einer für den anderen bürgen mag. Hier hilft kein dialogisches Prinzip und keine vertragsrechtliche Vereinbarung, und selbst der Freundschaftsgedanke bleibt zurück. Nicht umsonst kommt das Mysterienspiel als Untergattung zum Tragen. Dass damit eine Versöhnung zwischen Kunst und Kult 28 Grundlegende Einsichten dazu bietet der symbolistische Dichter und Gelehrte Vjačeslav Ivanovič Ivanov: Dionysos und die vordionysischen Kulte. Tübingen 2012, insbesondere Kapitel X: „Pathos, Katharsis, Tragödie“, S. 201–233, u. Anhang I: „Der Sinn der antiken Tragödie“, S. 304–316. 29 So etwa in seinen Bemerkungen „Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …“; „Löst sich nicht die idealische Katastrophe …“ und „Der tragische Dichter …“, vgl. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. v. Michael Knaupp. München u. Wien 1992, S. 102–110.

    

    Kurzdramen und dramatische Fragmente 

     837

    versucht wurde,30 schließt den Sachverhalt nicht hinreichend auf. Man muss das Weihe- oder Mysterienspiel im ursprünglichen Sinn des Wortes so verstehen, dass damit eine Einweihung und mit dieser eine Weihung verbunden ist. Gleichzeitig muss davon alles ferngehalten werden, was nach Geheimlehre oder Geheimkult aussieht. Das Rhythmisch-Rituelle ist im Leben selbst angelegt und schöpft aus den zarteren und innigeren Bindungen, die Menschen zusammenführen und schon auf der physiologischen Ebene unserer Wahrnehmung walten. Diese Verknüpfungen in ihr Recht zu setzen und rhythmisch wie gestalthaft erfahren zu lassen, ist die große Aufgabe der Kunst, exemplarisch vorgeführt als Mysterienspiel, das aus der Todeskrisis in gültige Lebensbezüge führt. Georges Dichtung realisiert dies als fortwährenden Übergang: Die dramatische Handlung geht in eine erhabene, dabei für Widerfahrnisse durchlässige Sprache über. Menes und Manuel erkennen einander und tauschen, wer ‚Lenker und Wächter‘, wer ‚Herr und Helfer‘ sei. Was gut, was böse ist, wechselt zwischen den beiden sich duellierenden Rittern, und das Gebet der Herrin findet täuschenden Widerhall im Gottesurteil, das nicht zum Abschluss kommt und doch die fromme Geste verlangt. Der Jüngling entwindet sich seinem qualvollen Leben durch Übertritt in die höhere Riege und wird nur aufgenommen, weil einer der Brüder wie er zu fühlen versteht. Im späteren Werk Georges wird sich dies intensivieren und weiten in Übergängen von ‚Du‘ zu ‚Du‘, von Meister zu Schüler und wieder zu Meister, zwischen Kind und Kindeskind, vom Menschen zur göttlichen Erscheinung und weiter zur Gottheit und wieder zurück zum Gottesantlitz des Freundes. Dabei stehen Natur und Kultur füreinander ein. Der Chor von Georges Weihespiel31 darf dann aber, hervorgegangen aus dionysischer Vereinigung, als Feier und Preis solcher Übergänge aufgefasst werden, die sich zum Kreis als „hort“ von Geist und Wort und mithin des ‚Schönen Lebens‘ runden (SW XVIII, 58).32

    30 So Franziska Merklin: Georges moderne Klassik (wie Anm. 2), S. 123. 31 Vgl. ebd., S. 169–176, wo der „Gebrauch des Chors im Mysterienspiel“ leitend ist. 32 Wer das begrifflich nicht fassbare Mysterium des Chors vergegenwärtigen will, lese Georges Übersetzung von Mallarmés Brise marine (Seebrise) mit dem Schlussvers: „Doch · o mein herz · horch horch auf der matrosen chor!“ (SW XVI, 31)

    Christophe Fricker

    Einleitungen und Merksprüche Textbestand Am Beginn der meisten, wenn auch nicht aller Ausgaben1 der 1892 begründeten und von Stefan George verantworteten Zeitschrift Blätter für die Kunst stehen kurze Prosatexte, die spätestens seit 1899 Einleitungen und Merksprüche heißen.2 Unter dieser gattungsbezeichnenden Überschrift stellte George einige von ihnen dem ersten Auslese-Band aus den Blättern für die Kunst voran. Auch die weiteren Auswahlbände (1904, 1909) beginnen mit zahlreichen dieser Texte. Alle erschienen gesammelt 1964, zusammen mit dem von Kurt Hildebrandt George zugeschriebenen Text Über das Feststehende und die Denkformen und den Nachrichten aus allen Blätter-Folgen.3 ‚Einleitungen‘ und ‚Merksprüche‘ sind nicht trennscharf voneinander abzugrenzen. Einige Stücke sind eher Paratexte, sie kommentieren Beiträge in früheren Ausgaben oder im jeweils aktuellen Heft oder sprechen über den ‚geladenen Leserkreis‘ der Zeitschrift. In der Erstveröffentlichung in den Blättern sind einige mit Einleitung überschrieben. Andere Texte sind durch eine thematische, auf einen Begriff zugespitzte Überschrift inhaltlich bestimmt und haben eher programmatischen Charakter. Es sind Definitionen, Aphorismen, Handlungsanleitungen oder grundsätzliche Einschaltungen zu Thesen oder Ideen, die über den Wirkungskreis der Zeitschrift hinausgehen. Sie verweisen sowohl inhaltlich als auch sprachkünstlerisch auf Georges Gedichte und die poetischen oder geistesgeschichtlichen Werke seiner Freunde und Mitstreiter.

    1 Einzelhefte heißen ‚Bände‘, ab 1901 erscheinen diese zusammengefasst als ‚Folgen‘. 2 Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst. Hg. v. der Stefan George Stiftung. Düsseldorf u. München 1964. Zitiert wird nach dieser Ausgabe unter der Sigle EuM mit Seitenzahl. 3 Diese Texte wurden bisher nicht zusammenhängend dargestellt. Drei Autoren werteten sie im Rahmen umfangreicher Arbeiten über die BfdK und die Konstituierung und Konsolidierung des GeorgeKreises aus: Karlhans Kluncker: Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges. Frankfurt/M. 1974, Steffen Martus in GHb I, 301–364, u. Rainer Kolk (RK). Anmerkung: Die Arbeit an diesem Beitrag wurde mir ermöglicht unter anderem durch ein IntraEuropean Fellowship im Rahmen der Marie Curie Actions des von der Europäischen Kommission aufgelegten Seventh Framework Agreements. Für diese Förderung bin ich außerordentlich dankbar.

    

    Einleitungen und Merksprüche 

     839

    Genre und Funktion Dass in den Einleitungen und Merksprüchen Alltagsbezug und sprachlich ambi­ tionierter Ideenentwurf unterscheidbar, aber nicht voneinander zu trennen sind, ist paradigmatisch für die Ethisches und Ästhetisches verbindende Praxis Georges und seines Kreises. Die zweiteilige Bezeichnung suggeriert, dass beide Gattungen unterschiedliche Schwerpunkte setzen, aber vor dem Hintergrund der jeweils anderen zu lesen sind – mit anderen Worten: Das „sommerliche[] verlassen der stadt“ hat eine programmatische Dimension, das „hellenische Wunder“ eine praktische. Derartige Texte im „Spannungsfeld zwischen rationalem Mitteilungszweck und künstlerischer Gestaltungsabsicht“ sind für die Moderne typisch.4 Die Grenzüberschreitung zwischen Manifest, Aphorismus und Gedankenlyrik ist nötig, wenn Künstler sich und ihr Werk legitimieren müssen; entsprechende Texte sind daher grundsätzlich stilistisch wie inhaltlich ambitioniert und innovativ5 und nur selten argumentativ klar und logisch stringent.6 In Ton und Inhalt unterscheiden sich die Einleitungen und Merksprüche freilich deutlich von Georges Prosagedichten. Das Spannungsreiche der Einleitungen und Merksprüche zeigt sich gleich im ersten Stück, das bald das bekannteste wurde: „Der name dieser veröffentlichung sagt schon zum teil was sie soll: der kunst besonders der dichtung und dem schrifttum dienen, alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend.“ (EuM  7) Durch den offenbar als notwendig erachteten erläuternden Paratext wird die angestrebte Konzentration auf das autonome, selbstreferenzielle Kunstwerk schon argumentativ referenziert, bevor überhaupt das erste Gedicht erschienen ist.7 Dass die Blätter für die Kunst „dienen“ wollen, könnte anzeigen, dass sie sich als eine Art Gerüst verstehen, das abgebaut werden kann, sobald die Produktion und angemessene Rezeption von Gedichten im deutschen Sprachraum ihren Maßgaben entspricht. Wohl mit Rücksicht auf das Medium Zeitschrift hat George das in Kauf genommen; in seinem dichterischen Werk schlug er durch programmatisch lesbare, aber stärker poetisch gestaltete Eingangstexte (etwa Aufschrift und Weihe in den Hymnen) einen anderen Weg ein.8 Auch in den Gedichtbänden gibt es freilich, gerade bei späteren Ausgaben

    4 Ernst-Otto Gerke: Der Essay als Kunstform bei Hugo von Hofmannsthal. Lübeck 1970, S. 22. 5 Uwe Spörl: Literarische Gebrauchsformen. In: Handbuch Fin de Siècle. Hg. v. Sabine Haupt u. Stefan Bodo Würffel. Stuttgart 2008, S. 444–471. 6 Vgl. mit Bezug auf die Einleitungen und Merksprüche Kluncker: Blätter für die Kunst (wie Anm. 3), S. 77. 7 Vgl. Eckhard Heftrich: Was heißt l’art pour l’art? In: Fin de Siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Hg. v. Roger Bauer. Frankfurt/M. 1977, S. 16–29. RK liest entsprechende Stellen als Georges Eingeständnis, „daß auch die ‚Geistige Kunst‘ der sozialen Organisation bedarf“ (S. 62). 8 Die Zueignung an Carl August Klein erscheint erst ab der zweiten Ausgabe. Der Titel des ersten Gedichts, Weihe, entspricht dem lateinischen Wort für Zueignung (dedicatio). Insofern besitzt das Eingangsgedicht ebensosehr paratextuellen Charakter wie die paratextuelle Aufschrift Gedichtcharakter.

    840 

     Christophe Fricker

    und in späteren Werken, nicht nur lyrische Texte, sondern auch propädeutische und diskursive Paratexte. Darin spiegelt sich einerseits der vormoderne Anspruch, dem Leser durch Gedichte Orientierung zu bieten, andererseits die moderne Auffassung, die Unterscheidung von Lyrik und Poetik sei eine nachträgliche kritische Leistung, die an die Ergebnisse eines Schaffensprozesses herangetragen wird, aus dem doch Denken, Dichten und (sprachliches) Handeln zugleich herausgelesen werden können. Das ästhetizistische Paratextparadox verdeutlicht: Das symbolistische Gedicht mag für sich sprechen, kann aber nicht selbst dafür sorgen, dass es auch angemessen gewürdigt oder verstanden wird. Die Einleitungen und Merksprüche schaffen Verständnisbedingungen und machen Schaffensbedingungen verständlich. Den Zusammenhang zwischen lyrischer Produktivität, formulierbarer Realität und problematischer Rezeption pointiert der insgesamt letzte Satz der Einleitungen und Merksprüche: „Nur den wenigen dürfte es einleuchten dass in der dichtung eines volkes sich seine lezten schicksale enthüllen.“ (EuM 58)9 Das ist eine so komplexe epigrammatische Geste, dass sie zugleich auf sich selbst, die Gesellschaft und deren Traditionen sowie die im Zeitschriftenheft folgenden Texte verweist. Sie bedeutet auch das Eingeständnis, dass es nicht in der Macht des Schriftleiters einer Zeitschrift oder eines einzelnen Dichters steht, so Tiefgehendes wie die „lezten schicksale“ offenbar zu machen. Sie „enthüllen“ sich schon – oder eben (noch) nicht. Aphoristische Kurzprosa nach Nietzsche10 konfrontiert den Leser mit einer Reihe hermeneutischer Herausforderungen: Ihr Fragmentcharakter erschwert das Verständnis, da der Leser Argumentationszusammenhänge und Motivfelder selbst ergänzen muss. Andererseits sind sie ernsthafte und nach Wesentlichkeit strebende Vermittlungsversuche, die sich auf eine bereits erfolgte Vorverständigung beziehen. Die Vorläufigkeit, die dem Ausschnitt als solchem anhaftet, wird durch die epigrammatische Zuspitzung letztlich erfolglos geleugnet. Merkspruch heißt also zumindest: Aufforderung zum Aufmerken; Einladung, sich das Gesagte zu merken.

    Autorschaft und Sprecherrollen Die Einleitungen und Merksprüche erschienen anonym.11 Sie werden George zugeschrieben, weil er die Ausrichtung der Blätter für die Kunst bis ins Detail bestimmte. George ist in jeder Ausgabe mit Beiträgen vertreten, die zudem fast immer an erster Stelle stehen. (Allerdings tritt sein Name in sechs Ausgaben nicht in Erscheinung.)

    9 Die Spannung zwischen den ersten und den letzten Aussagen der Einleitungen und Merksprüche kommentiert Eckhard Heftrich: Stefan George. Frankfurt/M. 1968, S. 59–63. 10 Vgl. Friedemann Spicker: Studien zum deutschen Aphorismus im 20. Jahrhundert. Tübingen 2000. 11 Handschriften, Satzvorlagen oder Fahnen sind nicht überliefert, können also zur Klärung der Autorschaft nicht herangezogen werden (freundliche Auskunft von Ute Oelmann).

    

    Einleitungen und Merksprüche 

     841

    Schon die meisten zeitgenössischen Leser mussten annehmen, dass die Einleitungen und Merksprüche von George stammen. Wolters schreibt, die Leser könnten Georges „Tatze an der Prägung der Sätze“ erkennen (BG 75). Viele wussten aber wohl auch, wie George sich im Gespräch mit Freunden verhielt und welche Themen dort verhandelt wurden. Sie schätzten den Anteil anderer Autoren an den anonymen, oft in der ersten Person Plural verfassten Texten womöglich höher und klarer ein, als das im Nachhinein auf der Basis schriftlicher Quellen möglich ist.12 Sehr vereinzelt gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Karl Wolfskehl und Friedrich Gundolf Texte (mit-)verfasst haben.13 Anonym erscheinen in der X. Folge auch einige, in der XI./XII. Folge alle dichterischen Beiträge. Das Prinzip der (vorgeblich) gemeinschaftlichen Autorschaft bzw. die Annahme, dass die Kenntnis des Verfassernamens für das Verständnis eines Textes nicht entscheidend sein sollte, wird in den Einleitungen und Merksprüchen zuerst, früh und maßgeblich umgesetzt und später ausgeweitet. Der Schwerpunkt verschiebt sich von der Autorschaft auf das Werk. Im Gegensatz zu anderen Zeitschriften heißt es in den Blättern nicht, dass namentlich gekennzeichnete Beiträge nicht unbedingt die Meinung der Redaktion widerspiegeln. Dagegen wird suggeriert: Nicht namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung aller Autoren (oder sogar Leser) wieder. In den Einleitungen und Merksprüchen bleibt oft unklar, wer gerade in wessen Namen spricht. Die Rollen des Herausgebers und des (nie explizit als solcher identifizierten) Schriftleiters sowie von Autoren, Lesern und Gleichgesinnten werden nicht voneinander abgegrenzt. Die Überschneidung ist Programm: Künstlerische Produktion, verständige Rezeption und zielgruppengerechte Publikation sollen sich decken.14

    Inhalte Thematisch im Mittelpunkt der Einleitungen und Merksprüche stehen die Poetik und die Größe und Resonanz der von der Zeitschrift repräsentierten und propagierten künstlerischen Bewegung, deren historische Stellung sowie Stellung innerhalb der Diskurse der Gegenwart. Einige der wichtigsten Themen von Georges Dichtung 12 Die BfdK waren stärker als zuweilen behauptet (vgl. Walter Schmitz: Der George-Kreis und seine Medien. Poetische Präsenz, Aristokratismus der Distanz. In: Le milieu intellectuel conservateur en ­Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890–1960). Hg. v. Michel Grunewald. Bern 2003, S. 327–352, hier S. 344) ein Gemeinschaftsunternehmen, vgl. Kluncker: Blätter für die Kunst (wie Anm. 3), S. 64. 13 Vgl. BG 45, Kluncker: Blätter für die Kunst (wie Anm. 3), S. 93, u. GHb I, 334. Während die Gedichte in den BfdK stets nach Autoren gruppiert sind, sind die Einleitungen und Merksprüche also unter Umständen nach anderen Prinzipien angeordnet. 14 Ähnliches gilt für das dreibändige, von George, Karl Wolfskehl und Melchior Lechter betreute kreative Editionsprojekt Deutsche Dichtung. Berlin 1900–1902 (zweite Ausgabe 1910–1912).

    842 

     Christophe Fricker

    bleiben ausgespart: Natur und Freundschaft kommen gar nicht vor, Georges kultureller Synkretismus, seine Religiosität und seine Sprachphilosophie nur selten (dann allerdings mit besonderem Nachdruck; vgl. EuM 40 zur Unterscheidung von „benennungen“ und „umschreibungen“, EuM 48  f. zur „heiligen Heirat“ von Deutschem und Griechischem, EuM 53  f. zu Gott und Christus). Auch wo, wie in der VII. und IX. Folge, Merksprüche thematisch gruppiert sind, behandeln sie ein Thema nie erschöpfend oder systematisch. Die Einleitungen und Merksprüche sind, zumal angesichts der sorgfältig gegliederten Gedichtbände Georges, erstaunlich uneinheitlich und sprunghaft. Das oben dargestellte Paratextparadox umschiffen die Einleitungen und Merksprüche, indem sie nie von konkreten Werken sprechen; das gehörte in einen „erklärenden teil“ (EuM 12), den Hugo von Hofmannsthal einforderte, George aber ablehnte. Besprochen werden stattdessen die Bedingungen, unter denen Dichtung erarbeitet werden kann, und der Arbeitsprozess selbst, also die für die klassische Moderne zentrale Diskussion um das Verhältnis von ‚Kunst‘ und ‚Leben‘ zueinander. Die von George anvisierte Kunst weist in zweierlei Hinsicht über sich hinaus: als Kunst für die Kunst, also durch ihr expliziertes Selbstverhältnis, und dadurch, dass sie zwar Kunst für die Kunst ist, aber nicht Kunst aus der Kunst. Aus dem ersten Punkt ergibt sich, wenn die Kunst zum Heiligtum erhoben wird, dass auch das Leben für die Kunst da sein soll, wenn eben sogar die Kunst der Kunst dient. Der zweite Punkt ist für die Poetik der Einleitungen und Merksprüche zentral: Kunst ist „wiedergabe von stimmungen“, „darstellung“, „ausdruck eines geschehens“ (EuM 10), gelungene „umformung eines lebens“, „aus der anschauungsfreude aus rausch und klang und sonne“ sich ergebende „aufgabe des lebens“ (EuM 13), die „auf der grundlage“ einer künstlerisch sensiblen „gesellschaft“ entsteht (EuM 28) und „ausdruck eines volkes“ ist (EuM 36), „durchbildung“ gelebten Lebens (EuM 52), „innigere empfindung liebevolleres anschauen zusammengefasstere ausführung“ (EuM 18) – all dies ordnet gelebte Wirklichkeit auf das Kunstwerk hin aus und bindet dieses an jene zurück. Kunstwerke entstehen, so wird suggeriert, nicht nur in einer Gesellschaft, sie ergeben sich auch aus ihr. Der Zustand einer Gesellschaft ist für die Qualität ihrer Kunstwerke mitverantwortlich. Daher erhoffen sich die Blätter für die Kunst ein neues „lebensgefühl“ (EuM  28, 33) und eine neue „lebensführung“ (EuM  48). Wie diese konkret aussehen sollen, könne offen bleiben, denn auch bei der künstlerischen Gestaltung sei es „vorerst belanglos“ (EuM 13), welches Leben überformt werde. Es komme, so lässt sich schließen, weder im Leben noch in der Kunst auf bestimmte Inhalte an, eher auf die richtige „sangesweise“ (EuM 16), den Stil. Die Mitverantwortung der Gesellschaft für das Kunstwerk ist also eine Stilfrage. Aus Produktionsbedingungen ergibt sich nicht automatisch schon Produktion. Zum Schaffensprozess gehören „mühsamkeit“ (EuM 19), das „‚exercitium‘“ (EuM 34), die „äusserste sorge bei der feilung der gefüge · dieses ringen nach der höchsten formalen vollendung im werke · diese liebe für das Runde · das in sich vollkommene“ (EuM 48), die „fruchtbare anstrengung“ (EuM 51). George propagiert den poeta faber, den dichterischen Handwerker. Dieser besitzt Talente, die er ausbilden muss. Sein

    

    Einleitungen und Merksprüche 

     843

    Werk wird ihm nicht (von Gott, Muse oder Alkohol) geschenkt. In den Gedichten spricht George häufig vom Dichter als „Gestalt“; in den Einleitungen und Merksprüchen geht es dagegen fast nur um dessen Arbeitsweise. Autorschaft und Werk sind hier wichtiger als die Person des Autors. Welche positiven Eigenschaften das „neue“ Kunstwerk besitzt, bleibt weitgehend offen.15 Die Formulierung, es enthalte „eine neue note · eine neue schattierung · ein höchst-maass von geleistetem“, ist rein relativ. Die wichtigste positive Bestimmung wird allerdings immer wieder betont: Das angestrebte Werk ist rhythmisch (vgl. EuM  24, 26, 28, 39, 44, 52, 55). George setzt rhythmisches Regelmaß und dichterische Qualität so gut wie gleich16 und stellt sich damit gegen große Teile der lyrischen Moderne. Produktion und Rezeption von Dichtung besitzen laut der Einleitungen und Merksprüche eine geschichtliche und eine gemeinschaftliche Dimension. Die Blätter fordern ein Gedicht, das, indem es Neues bietet, auch „alles frühere schöne erlöst“ (EuM 23). Erarbeitet wird es in einer Gruppe, einer lebendigen Werkstatt.17 Die „minder starken beiträge“ sind „versprechen für die zukunft“ (EuM 21), denn die kunstfertigeren Dichter „erziehen“ (EuM 24) die weniger erfahrenen, und diese „danken“ dem „meister“ (EuM 35). Da dieses produktive „zusammenwirken“ (EuM 26) darauf abzielt, auch mit „heiligkeit der kunst zu nahen“ (EuM 15), verschmelzen in der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden Frömmigkeit und Kreativität. Ausweislich der Einleitungen und Merksprüche sind die Blätter für die Kunst das Organ einer Gruppe, und zwar zunächst einer „kleinen“ (EuM  9). Die „zunahme unseres anhanges“ (EuM  14) wird bald begrüßt. Andere beginnen, die Gruppe zu „bemerken“ (EuM 20), im Kreis selbst beginnt sich etwas zu „entwickeln“ (EuM 28), die Gruppe „erweitert“ sich, doch die „verbreitung der kunst in die massen“ (EuM 33) wird abgelehnt. Selbstbewusst heißt es bald, dass „alles was heute unsre jüngste dichtung ausmacht hier seinen ausgang genommen oder seine anregung empfangen hat“ (EuM 43). Ambivalent dann die Formulierung, „eine ganze gruppe von deutschen menschen · ob auch in beschränkter zahl und auf beschränktem gebiet“ (EuM 48) arbeite hier zusammen. Die letzte Blätter-Folge betont stolz, die eigene Linie habe sich

    15 Helmut Koopmann konstatiert mit Blick auf die BfdK, was letztlich für den gesamten George-Kreis gilt, wenn man den Begriff eng definiert: „Eine eigene Literaturtheorie haben die Blätter für die Kunst nicht entwickelt.“ (Deutsche Literaturtheorien zwischen 1880 und 1920. Eine Einführung. Darmstadt 1997, S. 39) 16 Vgl. Georges kategorische Feststellung: „Freie rhythmen heisst soviel als weisse schwärze“ (SW XVII, 69). 17 Vgl. zu verschiedenen Modellen der Zusammenarbeit im Kreis Gunilla Eschenbach: Imitatio im George-Kreis. Berlin u. New York 2011; Bruno Pieger: Menschliche Gemeinschaft oder „Das Leben von Gedichten“. In: Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis. Hg. v. Roman Köster u.  a. München 2009, S. 151–169, hier S. 157  f., u. CF 94–181.

    844 

     Christophe Fricker

    inzwischen in dritter Generation fortgesetzt, auch wenn das „Draussen“ so unempfänglich wie eh und je sei (EuM 57, vgl. ebd., 21). Die Frage nach (quantitativer) Größe und (qualitativer) Resonanz spielt von der ersten bis zur letzten Ausgabe eine Rolle. Das liegt am Anspruch der Gruppe, für eine „wiedergeburt“ (EuM 7, 24, 33, 55) zu stehen. Das deutsche Wort für Renaissance markiert die über den gesamten Erscheinungszeitraum der Blätter für die Kunst gehegte Annahme, mit bestimmten Positionen umfassend wirken zu können. Die Gegenwart wird jahrzehntelang als Übergangszeit charakterisiert (EuM 10, 16  f, 18, 23, 34, 43, 54). In den Blättern komme „die jugend“ (EuM 10, 18) zu Wort, die Generation der sich ankündigenden Erneuerung. Gruppenbildung wie Erneuerungsbestrebungen führen zur Abgrenzung von vermeintlichen Gegnern. Die Einleitungen und Merksprüche identifizieren Gegner in Literatur und Politik. Die literarischen Widersacher sind Epigonen und Naturalisten, die mit wechselnden Benennungen über den gesamten Erscheinungszeitraum der Blätter für die Kunst hinweg befehdet werden. Die Epigonen (gemeint sind wohl lyrische Bestsellerautoren wie Paul Heyse und Emanuel Geibel) seien flach, die Naturalisten derb (EuM 7, 8, 15, 33, 55). Beide stehen für Verfall und künstlerische Kraftlosigkeit (EuM 40). Beide hätten auch ihr Gutes, ließen aber den „lebenbringenden hauch“ (EuM 20) vermissen und akzeptierten als Wirklichkeit nur, was „verhässlicht“ sei (EuM 15). George bekämpft, da er beide Strömungen noch angreift, wenn sie die literarische Landschaft schon lange nicht mehr prägen, nicht nur diese Richtungen im engeren Sinne, sondern Formen der Kunst- und Wirklichkeitsauffassung, wie sie in ihnen Ausdruck fanden, aber zu anderen Zeiten auch vorkommen. Negative Aussagen über andere Kunstrichtungen macht George im Übrigen erst, nachdem er Positives etabliert hat. Er sagt zunächst, was er will („die GEISTIGE KUNST auf grund der neuen fühlweise und mache eine kunst für die kunst“, EuM 7), bevor er sagt, was er nicht will (vgl. EuM 40). Dass das Adjektiv „neu“ Raum für vieles lässt, erkennt George explizit an (vgl. u.  a. EuM 8). Im Hinblick auf die Politik weist George eingangs bekanntermaßen „alles staatliche und gesellschaftliche“ zurück (EuM 7). Gemeint sind politische und administra­ tive Prozesse, gesellschaftliche Mehrheiten und Kompromisse, soziale Utopien und auch individuelle Laufbahnen (EuM 15, 20). Die Einleitungen und Merksprüche sind im Hinblick auf Politik im engeren Sinne noch weniger konkret als Georges ohnehin schon äußerst vielschichtige Gedichte. Die Verlautbarungen über größere Menschengruppen sind komplex, oft vage und veränderlich.18 Nicht „die Deutschen“, sondern

    18 Helmut Koopmann: Deutsche Literaturtheorien (wie Anm. 15) sieht keine programmatische Entwicklung, wertet aber nur die ersten vier Folgen aus. Karlhans Kluncker: Blätter für die Kunst (wie Anm. 3) zufolge gibt es ab der IV.  Folge auch Gesellschaftskritik, die nicht zugleich Poetologie ist (S. 157). RK 105 spricht von einer „Wendung zur Kulturkritik“, die sich „mit innerliterarischer Polemik nicht mehr“ begnügt. Die Grenzziehung vor der V. Folge entspricht der Scheidung von Georges dichterischem Werk in ein ästhetizistisches Frühwerk vor und ein gesellschaftlich ambitioniertes Spätwerk ab dem Siebenten Ring, wie sie bis in die 1990er Jahre verbreitet war. Vor allem durch Ludwig Lehnen

    

    Einleitungen und Merksprüche 

     845

    vieles an den Deutschen und in Deutschland kritisiere er, wie schon Goethe und Nietzsche (EuM 20).19 Nicht eine bestimmte Person oder ein „volksstamm“ seien mit der Kritik an Preußen gemeint, sondern ein „aller kunst und kultur feindliches system“ (EuM  29). Das ‚Volk‘ wird trotz aller Kritik an der Masse schließlich zum zentralen Bezugspunkt des Dichterischen, da „in der dichtung eines volkes sich seine lezten schicksale enthüllen“ (EuM 58). George hält sich zugute, „eine ganze stämme-vereinigung“ ermöglicht (EuM 22) und die Jugend zur Suche nach „schönen maassen“ und einem großen „volkstum“ angeleitet zu haben (EuM 24  f.). Diese „jugend“ gehe „freien hauptes“ durchs Leben (EuM 25); sieben Jahre später lobt George gerade die „freiheiten“ (EuM 35), die die zeitgenössische Gesellschaft biete – in der Übereinstimmung der Formulierungen mag durchaus ein versöhnlicher Ton anklingen. Im Laufe der zwölf Blätter-Folgen werden immer mehr Gegner benannt.20 Die Befriedigung „wirtschaftliche[r] bedürfnisse“ (EuM  43), die „nützlichkeitslehren“ (EuM 51) und die „sachwissenschaft“ (EuM 54) seien letztlich hohl, weder die „herrschaft des fortschritts“ noch schrittweise Reformen noch gnädige Eingriffe aus einer transzendenten Sphäre (EuM 49  f.) gäben zur Hoffnung Anlass. Wert habe nur das „weiterschreiten in andacht arbeit und stille“ (EuM 43), heißt es in einer in ihrer Einfachheit an die benediktinische Ordensregel erinnernden Formulierung. Die Einleitungen und Merksprüche überschneiden sich in dieser Hinsicht mit den Einleitungen der drei Bände des Jahrbuchs für die geistige Bewegung. Dessen Herausgeber Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters schreiben im ersten Band, sie wollten „angreifen“, allerdings „um zu bejahen“21. Der Angriff wurde wohl verstanden, die beiden weiteren Einleitungen sind Verteidigungsschriften. Erst ist knapp von „schmähung aller art“ die Rede, die weniger einzelne Positionen als das „gemeinsame“ Auftreten ausgelöst hätte,22 in der ausführlichen Einleitung der Herausgeber zum dritten Band wird dann nach und nach eine Reihe konkreter Vorwürfe beantwortet. Die Kritiker geben also den Inhalt der programmatischen Stellungnahme gleichsam von außen vor. Gundolf und Wolters verneinen die Verneinung: Man sei nicht pessimistisch, nicht freudlos, nicht gegen Wissenschaft an sich usw. Sie verklammern die elf Abschnitte ihres Textes durch die Aussage, dass sie der „progressiven schau“ die „zyklische schau“ entgegenstellten.23 Es geht um die Themen, die im Jahrhundert nach Erscheinen der Jahrbücher fast durchgängig die Kontroversen um

    (Mallarmé et Stefan George. Politiques de la poésie à l’époque du symbolisme. Paris 2010) ist sie nachdrücklich in Frage gestellt. 19 Hölderlin (Hyperions Scheltrede An die Deutschen) fehlt 1896 noch in dieser Reihe. 20 Vgl. Helmut Koopmann: Deutsche Literaturtheorien (wie Anm. 15), S. 33. 21 Die Herausgeber [d.i. Friedrich Gundolf u. Friedrich Wolters]: [titellose Einleitung]. In: Jb I, o.P. 22 Die Herausgeber [d.i. Friedrich Gundolf u. Friedrich Wolters]: [titellose Einleitung]. In: Jb II, o.P. Hervorhebung im Original durch Sperrung. 23 [Friedrich Gundolf u. Friedrich Wolters]: Einleitung der Herausgeber. In: Jb III, [III]-VIII, hier [III].

    846 

     Christophe Fricker

    den George-Kreis bestimmt haben: Fragen nach Humanität, Masse, Frauen, Freundschaft, Religiosität und Aktivität.24

    Stil Mit den Einleitungen und Merksprüchen beginnt die Prosa des George-Kreises.25 In ihrer Distanz von der Alltagssprache sind sie stilbildend für spätere Werke Georges und seiner Freunde, besonders im Hinblick auf Wortschatz, Syntax und Morphologie. Charakteristika von Georges Orthografie und Interpunktion sind von Anfang an voll ausgebildet. Die Syntax ist zunächst kompliziert, später glatter; Sätze sind in der Regel sehr lang, Satzteile vor allem anfangs oft durch ungewöhnliche Kopula verbunden: „Man verwechselt heute kunst (literatur) mit berichterstatterei (reportage) zu welch lezter gattung die meisten unsrer erzählungen (sogen. romane) gehören.“ Die Wortwahl ist, zumal in den frühen Jahren, außerordentlich gesucht („verwichenes“ statt vergangenes Jahr, „schriftkundige“ statt Kritiker), gerade mit Bezug auf das eigene Handeln (anweisen, hervortreten, offenbaren). Innovationen gibt es in Morphologie („behellen“ statt aufhellen, „richtverhandlungen“ statt Gerichtsverhandlungen, zusammengesetzte Substantive wie „kraftrest“) und Valenz („berechtigen“ ohne Präpositionalobjekt, „sehen“ ohne Akkusativ). Der Ton ist durchgängig ernst, teils sarkastisch (EuM 17, 29, 57). Über die Jahre verändert sich der Stil. Nur anfangs gibt es zahlreiche Füllwörter (ja, auch, „gewiss auch einmal“) und Leerformeln („Wir halten es für einen vorteil dass wir“), teils gemischt mit gespreizten Formulierungen (man wolle sich „so sehr wie möglich aller schlagworte begeben“), unklaren Bezügen („schlagworte […] die auch bei uns schon auftauchten“) und einem beherzten Klopfen auf die eigene Schulter („glauben wir doch bereits hinlänglich gezeigt zu haben“). Die deutlichste Veränderung betrifft das, was man in Anlehnung an das lyrische Ich und das lyrische Du Georges publizistisches Wir nennen könnte. Insgesamt 51 Pronomen der 1. Person Plural stehen allein in den Einleitungen und Merksprüchen der ersten beiden Folgen.

    24 In einem weiteren Analyseschritt könnte man Karl Wolfskehls programmatische Aufsätze Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur und Weltanschauung des Jahrbuchs berücksichtigen, die den Einleitungen von Jb I und II unmittelbar folgen (S. 1–18 bzw. 4–9). 25 Karlhans Kluncker: Blätter für die Kunst (wie Anm. 3) hat den Stil aller BfdK-Beiträge ausführlich untersucht (S. 108–145). Seine Befunde zu harter Fügung, Schwächung des Verbs, Pathos und rhetorischen Wiederholungsformen gelten auch für die Einleitungen und Merksprüche, mit den unten ausgeführten Einschränkungen im Hinblick auf deren Entwicklung. Besonders die syntaktischen Eigen­heiten der BfdK-Lyrik (nachgestellte Adjektive, vorgestellte Genitive, das Auslassen von Artikeln, Präpositionen oder Partikeln, Reduktion der Satzgefüge durch Apposition oder Partizipialkonstruktionen, Parenthesen, Satzunterbrüche, asyndetische Reihungen) finden sich in den Einleitungen und Merksprüchen im Lauf der Jahre seltener.

    

    Einleitungen und Merksprüche 

     847

    Gönnerhaft klingt dieses publizistische Wir, weil es gleichermaßen auf George, die Zeitschrift und ihren Kreis, ihre vermeintlichen Widersacher sowie die deutsche Kultur und Gesellschaft im Allgemeinen bezogen wird.26 Es soll einerseits suggerieren, dass der „Kreis“ der BfdK einflussreich und einig sei. Wenn aber die eigenen Gegner „[u]nsre KUNSTRICHTER“ (EuM 11), abgelehnte Werke „unsre[] erzählungen“ und die eigene, verworfene Zeit „bei uns“ heißt (Hervorhebung d.V.), dient das Pronomen der Distanzierung durch Vereinnahmung, ohne dass Ironie erkennbar wäre. Diese Tendenz zur obsessiven, wahllosen Selbstbehauptung lässt mit der Zeit nach. In den letzten vier Blätter-Folgen stehen insgesamt nur noch 26 Pronomen der 1. Person Plural. George behauptet anfangs implizit, er sei auf dem Laufenden (über „die grösseren dem schrifttum zugetanen kreise“) und habe alles unter Kontrolle (es sei „noch müssig“, die Blätter weiter zu verbreiten). Er postuliert die Existenz abgrenzbarer Gruppen (er spricht „vom jüngeren geschlechte“) und unterstellt ihnen Meinungen und Handlungen („die oft vergessene tatsache“). Spätere Selbsterklärungen sind ebenfalls selbstbewusst (man habe „alles nötige“ gesagt), es klingt aber auch ein bescheidenerer Ton an („weiter reicht die erwartung eines menschendaseins kaum“). Der Wortschatz besonders der Zeitkritik wird innovativer, die Rhetorik ambitionierter (Gegenwartskunst: „auflösen und verzerren bis zu gestotter klecks und fratze“). Es gibt geläufige Wendungen (viele wurden „schmählich im stich gelassen“ von ihren Idealen); einige besonders hochsprachliche Mittel wie die Elision des Hilfsverbs kommen seltener vor.

    Intertextualität Die Einleitungen und Merksprüche zeichnen sich durch einen hohen, bewusst angelegten und explizit hervorgehobenen Intertextualitätsgrad aus. Sie verhandeln hier und da ähnliche Themen wie Georges Gedichte, teils in ähnlichen Worten, reagieren durch „grundsätzliche Antwort auf konkrete Fragen und Einwände, die an George herangetragen wurden“27 (vgl. EuM  13, 20, 28), und auf Vorgänge außerhalb des Kreises, greifen „innerkreisliche“ Diskussionen auf und tragen so zur Klärung von Positionen und Relationen bei und nehmen Stellung zum jeweils vorliegenden Heft. All dies spiegelt und stärkt den George-Kreis als haltungs- und überzeugungsgeleitete, durchaus veränderliche Arbeitsgemeinschaft kreativer Freunde, die zur produktiven Anteilnahme und zum Lernen angeregt werden (vgl. EuM 8, 12). George verfolgt pädagogische und soziale Ziele und beeinflusst die Rezeption seiner Gedichte. 26 Nicht zuletzt durch diese Offenheit bleibt, wie Martus (GHb I, 357) treffend bemerkt, unbestimmt, ob George sich als Prophet, Vertreter oder Erzeuger der neuen Kunst sieht. 27 Karlhans Kluncker (wie Anm. 3), S. 93.

    848 

     Christophe Fricker

    Einige von diesen stehen deutlich in Beziehung zu den Einleitungen und Merksprüchen. Das hellenische wunder (EuM 48  f.) in der IX. Folge verhandelt wie das zeitgleich entstandene Gedicht Goethes lezte nacht in Italien (SW IX, 7–10) das Verhältnis Deutschlands und der klassischen Welt. Sinn ihrer „Heilige[n] Heirat“ ist der Gedanke „DER LEIB SEI DER GOTT“ (EuM 49) oder, wie es das Gedicht Templer (SW IV/VII, 52 f.) formuliert, eine Welt, die den „leib vergottet und den gott verleibt“. Tote und lebende gegenwart setzt sich wie das Gedicht Du hast des adlers blick (SW VIII, 45) mit Glaube und Kirche des Katholizismus auseinander und weist in seiner Kritik an fadenscheinigen Haltungen, die sich als „das Leben“ aufspielen, auf Der Krieg (SW IX, 21–26) voraus.28 In Diese und jene welt (EuM 50) und Vorlaute Weisheit (EuM 40) klingen, was Zeitkritik und Erneuerungshoffnung aus dem Verschollenen angeht, ähnliche Töne wie in Geheimes Deutschland (SW  IX, 45–49) an.29 In der Einleitung zur XI./ XII.  Folge (EuM  57) kritisiert George wie in Der Krieg einseitige und kurzsichtige Schuldzuweisungen.

    Rezeption Einen „Siegeszug durch die Welt“30 traten die Blätter für die Kunst nicht an, aber dass von ihnen „kaum literarhistorisch relevante Einflüsse“31 ausgingen, ist auch zu vorsichtig formuliert. Dies sei am Beispiel dreier Begriffe gezeigt. Georges in den Einleitungen und Merksprüchen geäußerte Sehnsucht nach einer „deutschen Geste“ werde, so schrieb Rudolf Borchardt 1908, als Alternative zum Weltmachtstreben Wilhelms II. „[n]ationale Bedeutung“ erlangen, sobald sie „geschäftsfähig und weltreif“ werde.32 Oskar Walzel parallelisiert das Wort von der „deutschen Geste“ mit Goethe33 und liest das ihr zugrunde liegende Leiden als „schlimme Bestätigung des Rückgangs deutscher Tatkraft.“34 Harry Graf Kessler identifiziert sie 1916 mit Nietzsches Sterbezimmer und der Bibliothek von Sanssouci: „Wie viel Blut, damit

    28 Vgl. Christophe Fricker: Das lyrische Ich und das lyrische Er in Stefan Georges „Der Krieg“. In: Autobiographie und Krieg: Ästhetik, Autofiktion und Erinnerungskultur seit 1914. Hg. v. Jan Röhnert. Heidelberg 2014, S. 67–82. 29 Vgl. ders.: Stefan Georges Gedicht „Geheimes Deutschland“ – ein politisches Programm? In: DES 131– 163. 30 Carl August Klein: Keine Lust zur Zeitschrifterei. Stefan George und die ‚Blätter für die Kunst‘. Erinnerungen. In: Die Welt, 2. 3. 1950. 31 Karlhans Kluncker: Blätter für die Kunst (wie Anm. 3), S. 181. 32 Rudolf Borchardt: Der Kaiser. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa V. Stuttgart 1979, S. 86–110, hier S. 99. 33 Oskar Walzel: Leben, Erleben und Dichten. Ein Versuch. Leipzig 1912, S. 66. 34 Oskar Walzel: Zukunftsaufgaben deutscher Kultur. Kriegsdichtung. Zwei Aufsätze. Konstanz 1916, S. 16.

    

    Einleitungen und Merksprüche 

     849

    diese deutsche Geste nicht untergeht.“35 Ernst Gundolf schreibt 1923, der Erste Weltkrieg habe den Sinn der Gesten-Passage „allen fühlbar“ gemacht.36 Ernst Kantorowicz sagte in seiner sogenannten Wiederantrittsvorlesung, nicht vom Nationalsozialismus, sondern „von den Herrschern des ‚geheimen Deutschland‘ allein können Sie die echte deutsche Geste erlernen, den ewig-deutschen Stil.“37 Das Wort von der ‚glänzenden Wiedergeburt‘ der Kunst in Deutschland war schon 1905 so bekannt, dass es einer thematisch mit dem Kreis gar nicht befassten Rezension als Bezugspunkt dienen konnte.38 Die Literaturgeschichtsschreibung zitiert es bald affirmativ.39 Wohl mit Augenzwinkern sieht Hofmannsthal eine „glänzende Wiedergeburt“ des englischen Theaters – und meint Oscar Wilde und Noël Coward.40 Aufgenommen und kritisiert wurde auch die Vision der ‚heiligen Heirat‘ von Deutschland und antikem Griechenland, von Ernst Stadler 191241 und von Karl Kerényi 1954.42 Äußerungen wie diese bezeugen die Verbreitung von in den Einleitungen und Merksprüchen geprägten Begriffen und Vorstellungen über den Kreis hinaus.

    35 Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880–1937. Bd. 5: 1914–1916. Hg. v. Günter Riederer u. Ulrich Ott. Stuttgart 2008, S. 528. 36 Ernst Gundolf: Nietzsche als Richter. Sein Amt. In: Ders.: Werke. Aufsätze, Briefe, Gedichte, Zeichnungen und Bilder. Hg., eingel. u. komm. v. Jürgen Egyptien, m. e. Beitrag v. Michael Thimann. Amsterdam 2006, S. 111–165, hier S. 131. 37 Ernst Kantorowicz: Das geheime Deutschland. Vorlesung, gehalten bei der Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit am 14. November 1933. In: Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt. Hg. v. Robert L. Benson u. Johannes Fried. Stuttgart 1997, S. 77–93, hier S. 90. 38 Karl Huffnagl: Rezension von Ottokar Stauf von der Marchs ‚Zensur, Theater und Kritik‘. In: Österreichisch-ungarische Revue 33 (1905), 1, S. 55–64, hier S. 64. 39 Johannes Nohl: Stefan George und sein Kreis. In: Weltliteratur der Gegenwart. Bd. 1. Hg. v. Ludwig Marcuse. Berlin 1924, S. 225–322, hier S. 253. 40 Hugo von Hofmannsthal: Über das Publikum der Salzburger Festspiele. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa IV. Frankfurt/M. 1955, S. 465–470, hier S. 468. 41 Ernst Stadler: Die neue französische Lyrik. In: Der lose Vogel 1 (1912), 5, S. 166–171, hier S. 167. 42 Karl Kerényi: Tage- und Wanderbücher 1953–1960. München 1969, S. 84.

    Siglenverzeichnis Über das nachfolgende Siglenverzeichnis hinaus, das in allen Beiträgen Verwendung findet, sind in einzelnen Beiträgen weitere Siglen eingeführt worden, wenn der entsprechende Referenztext wenigstens fünfmal zitiert wurde. Diese beitragsbezogenen Siglen sind hier nicht aufgenommen. Die vollständige Titelaufnahme des siglierten Textes findet sich im jeweiligen Beitrag bei dessen erster Zitation.

    AS = Armin Schäfer: Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik. Köln, Weimar, Wien 2005. AV = Albert Verwey: Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1895–1928. Autorisierte Uebersetzung aus dem Holländischen von Antoinette Eggink. Leipzig, Straßburg, Zürich 1936. BfdK = Blätter für die Kunst. Begr. v. Stefan George. Hg. v. Carl August Klein. I. Folge, 1. Band (1892) – XI/XII. Folge (1919). Abgelichteter Neudruck. Düsseldorf u. München 1967. BG = Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890. Berlin 1930. BV = Berthold Vallentin: Gespräche mit Stefan George 1902–1931. Amsterdam 1967. CD = Claude David: Stefan George. Sein dichterisches Werk. Autorisierte Übertragung aus dem Französischen v. Alexa Remmen u. Karl Thiemer. München 1967. CF = Christophe Fricker: Stefan George: Gedichte für Dich. Berlin 2011. CP = Castrum Peregrini 1 (1951), H. 1 – 56 (2007), H. 279/280. CVB = Claus Victor Bock: Wort-Konkordanz zur Dichtung Stefan Georges. Amsterdam 1964. DD I–III = Deutsche Dichtung. Hg. u. eingel. v. Stefan George u. Karl Wolfskehl. Erster Band. Jean Paul. Berlin 1900 (Stuttgart 1989) Zweiter Band. Goethe. Berlin 1901 (Stuttgart 1991) Dritter Band. Das Jahrhundert Goethes. Berlin 1902 (Stuttgart 1995). DES = Stefan George. Dichtung – Ethos –Staat. Denkbilder für ein geheimes europäisches Deutschland. Hg. v. Bruno Pieger u. Bertram Schefold. Berlin 2010. DP = Dirk von Petersdorff: Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts. Tübingen 2005 (Hermaea, N. F. 107). EL = Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George. Düsseldorf u. München 1963. EM I = Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges. Düsseldorf u. München 1960. EM II = Ernst Morwitz: Kommentar zu den Prosa-, Drama- und Jugend-Dichtungen Stefan Georges. München u. Düsseldorf 1962. EO = Ernst Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich. München 2010. ES = Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung u. Zeugnis. Zweite, neugestaltete u. wesentlich erweit. Aufl. München u. Düsseldorf 1954. FG1 = Friedrich Gundolf: George. Berlin 1920. FG3 = Friedrich Gundolf: George. Berlin 1930. FW = Friedrich Wolters: Herrschaft und Dienst. Berlin 1909. G/C = Stefan George – Ida Coblenz. Briefwechsel. Hg. v. Georg Peter Landmann u. Elisabeth HöpkerHerberg. Stuttgart 1983. G/G = Stefan George – Friedrich Gundolf. Briefwechsel. Hg. v. Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann. München u. Düsseldorf 1962. G/H = Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. Zweite, erg. Aufl. München u. Düsseldorf 1953. G/KHW = „Von Menschen und Mächten“. Stefan George – Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892–1933. Hg. v. Birgit Wägenbaur u. Ute Oelmann. München 2015.

    852 

     Siglenverzeichnis

    G/M = Stefan George. Stéphane Mallarmé. Briefwechsel und Übertragungen. Hg. u. eingel. v. Enrico De Angelis. M. e. Nachw. v. Ute Oelmann. Göttingen 2013 (Castrum Peregrini N. F. 5). G/W = Stefan George. Friedrich Wolters. Briefwechsel 1904–1930. Mit e. Einl. hg. v. Michael Philipp. Amsterdam 1998 (Castrum Peregrini, H. 233–235). GA = Stefan George: Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung. 18 Bde. Berlin 1927–1934. GHb I, II, III = Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. 3 Bde. Hg. v. Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer u. Ute Oelmann in Zusammenarbeit. m. Kai Kauffmann. Berlin u. Boston 2012. GJb = George-Jahrbuch 1 (1996/1997) ff. HA = Hubert Arbogast: Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges. Eine stilgeschichtliche Untersuchung. Köln u. Graz 1967. HF = Heidi E. Faletti: Die Jahreszeiten des Fin de siècle. Eine Studie über Stefan Georges „Das Jahr der Seele“. Bern u. München 1983. HSS = H. Stefan Schultz: Studien zur Dichtung Stefan Georges. Heidelberg 1967. JA = Jan Aler: Symbol und Verkündung. Studien um Stefan George. Düsseldorf u. München 1976. Jb I, II, III = Jahrbuch für die geistige Bewegung. Hg. v. Friedrich Gundolf u. Friedrich Wolters. I (1910) – III (1912). JR = A Companion to the Works of Stefan George. Edited by Jens Rieckmann. Rochester (NY) and Woodbridge (UK) 2005 JW = Jürgen Wertheimer: Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen. München 1978 (Münchner Germanistische Beiträge 25). KH I = Kurt Hildebrandt: Das Werk Stefan Georges. Hamburg 1960. KH II = Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis. Bonn 1965. L/G = Melchior Lechter und Stefan George. Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. v. Günter Heintz. Stuttgart 1991. LT = Ludwig Thormaehlen: Erinnerungen an Stefan George. Aus d. Nachlass hg. v. Walther Greischel. Hamburg 1962. MD = Manfred Durzak: Der junge Stefan George. Kunsttheorie und Dichtung. München 1968 (Zur Erkenntnis der Dichtung 3). MG = Maximin. Ein Gedenkbuch. Hg. v. Stefan George. Berlin [1906]. RB I/II = Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George. Text- u. Tafelband. Zweite, erg. Aufl. Düsseldorf u. München 1967. RK = Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945. Tübingen 1998 (Communicatio 17). SB = Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995. SGK = Stefan George Kolloquium. Hg. v. Eckhard Heftrich, Paul Gerhard Klussmann u. Hans Joachim Schrimpf. Köln 1971. SM = Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin u. New York 2007 (Historia Hermeneutica 3). StGA = Stefan George Archiv, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart SW = Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Stuttgart 1982–2013. TK = Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie. München 2007. TuK = Stefan George. München 2005 (text + kritik, H. 168). V/G = Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap. Bijeengebracht en toogelicht door Mea Nijland-Verwey. Amsterdam 1965. VAS = Victor A. Schmitz: Bilder und Motive in der Dichtung Stefan Georges. Düsseldorf u. München 1971.

    Siglenverzeichnis 

     853

    WB = Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur. Tübingen 1997 (Communicatio 15). WK = Werner Kraft: Stefan George. München 1980. WuW = Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘. Für die Stefan George Gesellschaft hg. v. Wolfgang Braungart, Ute Oelmann u. Bernhard Böschenstein. Tübingen 2001. ZT = H.-J. Seekamp, R. C. Ockenden, M. Keilson: Stefan George. Leben und Werk. Eine Zeittafel. Amsterdam 1972.

    Ausgewählte Forschungsliteratur Adorno, Theodor W.: George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel: 1891–1906. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 10,1. Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1977, S. 195–237. Adorno, Theodor W.: Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11. Noten zur Literatur. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1974, S. 49–68. Adorno, Theodor W.: George. In: Ebd., S. 523–535. Adorno, Theodor W.: Die beschworene Sprache. Zur Lyrik Rudolf Borchardts. In: Ebd., S. 536–555. Agazzi, Elena: I rapporti di D’Annunzio con la cultura tedesca. In: Itinerari dannunziani. Atti della ­giornata di studio organizzata dal cenacolo orobico di poesia. Bergamo 1999, S. 65–79. Amos, Thomas: Die Anrufung des Lorbeers. Poetisch-poetologische Konzeptionen bei D’Annunzio und George. In: Italienisch 21 (2001), S. 74–81. Andres, Jan: Perls, Richard. In: GHb III, 1576  f. Andres, Jan: Mittelalter als Modell? Gedanken zu Stefan George. In: Modell Mittelalter. Hg. v. Victoria von Flemming. Köln 2010, S. 145–167. Andres, Jan: Stefan Georges Erinnerungsorte in den ‚Tafeln‘ des ‚Siebenten Ring‘. In: „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Hg. v. J. A., Wolfgang Braungart u. Kai Kauff­ mann. Frankfurt/M. u. New York 2007, S. 166–187. Andres, Jan: Gegenbilder. Stefan Georges poetische Kulturkritik in den ‚Zeitgedichten‘ des ‚Siebenten Rings‘. In: GJb 6 (2006/2007), S. 31–54. Aoyama, Nobutoshi: Meine Begegnung mit Stefan George. In: CP 21 (1972), H. 101, S. 24–48. Apel, Friedmar: Landschaftsdarstellung als Zeitkritik im Spätwerk Georges. In: WuW 213–224. Apel, Friedmar: Die Kunst als Garten. Zur Sprachlichkeit der Welt in der deutschen Romantik und im Ästhetizismus des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 1983 (Beihefte zum Euphorion 20). Apel, Friedmar: Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Über­setzens. Heidelberg 1982 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 52). Arbogast, Hubert: Stefan Georges ‚Buch der Hängenden Gärten‘. In: JbDSG 30 (1986), S. 493– 510. Arrighetti, Anna Maria: Dante. Die Göttliche Komödie. Übertragungen. In: GHb I, 218–238. Arrighetti, Anna Maria: Vorbote des Neuen oder eigenwillige Konstruktion? Stefan Georges Dante-Bild im Spiegel seiner Übertragungen. In: Dante Alighieri und sein Werk in Literatur, Musik und Kunst bis zur Postmoderne. Hg. v. Klaus Ley. Tübingen 2010 (Mainzer Forschung zu Drama und Theater 43), S. 123–140. Aurnhammer, Achim: Joris Karl Huysmans’ ‚Supranaturalismus‘ im Zeichen Grünewalds und seine deutsche Rezeption. In: Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Roman Luckscheiter. Freiburg i. Br., Berlin, Wien 2008 (Rombach Wissenschaften: Reihe Catholica 1), S. 17–42. Aurnhammer, Achim: „Der Preusse“. Zum Zeitbezug der „Zeitgedichte“ Stefan Georges im Spiegel der Bismarck-Lyrik. In: WuW 173–196. Aurnhammer, Achim: Stefan George und Hölderlin. In: Euphorion 81 (1987), S. 81–99. Aurnhammer, Achim: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln u. Wien 1986 (Literatur und Leben N. F. 30). Austermühl, Elke: Lyrik der Jahrhundertwende. In: Naturalismus – Fin de siècle – Expressionismus 1890–1918. Hg. v. York-Gothart Mix. München u. Wien 2000, S. 350–366. Battafarano, Italo Michele: Dell’arte di tradur poesia. Dante, Petrarca, Ariosto, Garzoni, Campanella, Marino, Belli. Analisi delle traduzioni tedesche dall’età barocca fino a Stefan George. Bern u.  a. 2006 (IRIS 23).

    856 

     Ausgewählte Forschungsliteratur

    Baumann, Günter: „– beinah beten“: Säkularisierung und Resakralisierung im George-Kreis. In: Säkula­risierung und Resakralisierung. Zur Geschichte des Kirchenlieds und seiner Rezeption. Hg. v. Richard Faber. Würzburg 2001, S. 99–116. Bazar, Kazimierz: Stefan George i Wacław Rolicz-Lieder. In: Skamander 9 (1935), S. 540–549. Beil, Ulrich Johannes: Die Wiederkehr des Absoluten. Studien zur Symbolik des Kristallinen und Metalli­schen in der Literatur der Jahrhundertwende. Frankfurt/M. u.  a. 1988 (Münchener Studien zur litera­rischen Kultur in Deutschland 6). Benjamin, Walter: Rückblick auf Stefan George. Zu einer neuen Studie über den Dichter. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Hg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt/M. 1972, S. 392–399. Benn, Gottfried: Rede auf Stefan George. In: Ders.: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Hg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt/M. 1989 (FTB 5233), S. 479–494. Bennett, Benjamin: Stefan Georges ‚Ursprünge‘. Zur Deutung des ‚Siebenten Rings‘. In: CP 31 (1982), H. 155, S. 28–51. Berger, Erich: Eine Vermutung, Stefan Georges Übertragungen aus der „Göttlichen Komödie“ be­ treffend. In: Monatshefte 48 (1956), H. 7, S. 345–359. Bernus, Alexander von: Sommertage und Sommernächte auf Stift Neuburg in den Jahren 1909 und 1910. In: In memoriam Alexander von Bernus. Ausgewählte Prosa aus seinem Werk. Mit e. Vorwort v. Kasimir Edschmid. Hg. u. m. e. Nachwort versehen v. Otto Heuschele. Heidelberg 1966 (Veröf­fentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 37), S. 21–32. Bernus, Alexander von: Über deutsche Umdichtung englischer Lyrik des 19. Jahrhunderts. In: Ebd., S. 95–134. Beßlich, Barbara: Vates in Vastitate. Poetologie, Prophetie und Politik in Stefan Georges „Der ­Dichter in Zeiten der Wirren“. In: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretatio­nen. Hg. v. Olaf Hildebrand. Köln, Weimar, Wien 2003 (UTB 2383), S. 201–219. Bianchi, Lorenzo: Dante und Stefan George. Einführung in ein Problem. Bologna 1936. Bietenhader, D.: Die Verwey-Übertragungen von Stefan George. In: Niederlandistik in Entwicklung. Vorträge und Arbeiten an der Universität Zürich. Hg. v. Stefan Sonderegger u. Jelle Stegeman. Lei­den u. Antwerpen 1985, S. 127–191. Birkenhauer, Renate: Reimpoetik am Beispiel Stefan Georges. Phonologischer Algorithmus und Reim­ wörterbuch. Tübingen 1993. Blasberg, Cornelia: Charisma in der Moderne. Stefan Georges Medienpolitik. In: DVjs 74 (2000), H. 1, S. 111–145. Blasberg, Cornelia: Stefan Georges „Jahr der Seele“. Poetik zwischen Schrift und Bild. In: Hof­ mannsthal-Jahrbuch 5 (1997), S. 217–292. Blaß, Ernst: Stefan Georges ‚Stern des Bundes‘ [Rez.]. In: Die Argonauten. Eine Monatsschrift 1 (1914), S. 219–226. Bock, Claus Victor u. Christophe Fricker: Gespräch in Stein: Die Begegnung von Kunst und Macht in Stefan Georges Gedicht ‚Bamberg‘. In: Publications of the English Goethe Society 79 (2010), H. 1, S. 5–17. Bock, Claus Victor und Conrad M. Stibbe: Stefan George und die Göttervision des Archäologen Hans von Prott. In: CP 29 (1980), H. 145, S. 5–34. Boehringer, Robert: Ewiger Augenblick. Düsseldorf u. München 1965. Boehringer, Robert: Das Leben von Gedichten. Kiel 1955. Borchardt, Rudolf: Dante und deutscher Dante. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa II. Hg. v. Marie Luise Borchardt unter Mitarb. v. Ernst Zinn. Stuttgart 1959, S. 354–388. Borchardt, Rudolf: Stefan Georges ‚Siebenter Ring‘. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa I. Hg. v. Marie Luise Borchardt. Stuttgart 1957, S. 258–294. Bornmann, Bianca Maria: Interpretazioni gheorghiane. L’Algabal e le sue fonti antiche. In: Studi germa­nici 8 (1970), S. 251–268.

    

    Ausgewählte Forschungsliteratur 

     857

    Böschenstein, Bernhard: Magie in dürftiger Zeit. Stefan George: Jünger – Dichter – Entdecker. In: Ders.: Von Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan. München 2006, S. 93–105. Böschenstein, Bernhard: Stefan George und Italien. In: Ebd., S. 106–119. Böschenstein, Bernhard: Übersetzung als Selbstfindung. George, Rilke, Celan zwischen Nachgesang und Gegengesang. In: Ebd., S. 293–313. Böschenstein, Bernhard: „Weihe“. In: CP 50 (2001), H. 250, S. 7–16. Böschenstein, Bernhard: Stefan Georges Spätwerk als Antwort auf eine untergehende Welt. In: WuW 1–16. Böschenstein, Bernhard: Die Prinzipien von Georges und Wolfskehls Kanonisierung Goethescher Ge­ dichte. In: Spuren, Signaturen, Spiegelungen: zur Goethe-Rezeption in Europa. Hg. v. Bernhard Beutler u. Anke Bosse. Köln u.  a. 2000, S. 333–342. Böschenstein, Bernhard: Georges widersprüchliche Mittelalter-Bilder und sein Traum der Zukunft. In: „Ist mir getroumet mîn leben?“ Vom Träumen und vom Anderssein. Festschrift für Karl-Ernst Geith zum 65. Geburtstag. Hg. v. André Schnyder, Claudia Bartholemy-Teusch, Barbara Fleith u. René Wetzel. Göppingen 1998 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 632), S. 207–213. Böschenstein, Bernhard: Stefan George und Francis Vielé-Griffin. In: Ders.: Studien zur Dichtung des Absoluten. Wirkungen des französischen Symbolismus auf die deutsche Lyrik der Jahrhundert­ wende. Zürich u. Freiburg 1968, S. 127–139. Böschenstein, Bernhard: Die Sprache der Entsagung in Stefan Georges Dichtung. In: Ebd., S. 150–157. Bothe, Henning: ‚Ein Zeichen sind wir, deutungslos‘. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George. Stuttgart 1992. Bozza, Maik: Genealogie des Anfangs. Stefan Georges poetologischer Selbstentwurf um 1890. ­Göttingen 2016 (Castrum Peregrini N. F. 9). Braungart, Wolfgang: „irgendwann, der blumen müd, hast du den sommer zugemacht“. ‚juli-schwermut‘ von Nadja Küchenmeister als Antwort auf Stefan Georges ‚Juli-Schwermut‘. In: GJb 10 (2014/2015), S. 91–106. Braungart, Wolfgang: Poetik, Rhetorik, Hermeneutik. In: GHb II, 495–550. Braungart, Wolfgang: Klein, Carl August. In: GHb III, 1491–1494. Braungart, Wolfgang, Christian Oestersandfort, Franziska Walter u. Jan Andres: Platonisierende Eros­ konzeption in Briefen und Gedichten des George-Kreises (Maximilian Kronberger, Friedrich Gun­ dolf, Max Kommerell, Ernst Glöckner). In: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Renate Stauf, Annette Simonis u. Jörg Paulus. Berlin u. New York 2008, S. 223–267. Braungart, Wolfgang: „Was ich noch sinne und was ich noch füge / Was ich noch liebe trägt die ­gleichen züge“. Stefan Georges performative Poetik. In: TuK 3–18. Braungart, Wolfgang: Georges Nietzsche. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2004, S. 234– 258. Braungart, Wolfgang: „Schluß-Lied“. Georges Ballade „Das Lied“. In: WuW 87–101. Braungart, Wolfgang: „Sieh mein kind ich gehe“. In: CP 50 (2001), H. 250, S. 21–27. Braungart, Wolfgang: Ritual und Literatur. Tübingen 1996 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissen­ schaft 53). Breuer, Stefan: Zeitkritik und Politik. In: GHb II, 771–826. Breuer, Stefan: Zur Religion Stefan Georges. In: WuW 225–239. Breuer, Stefan: Ferntiefenrausch: Ludwig Klages und Arnold Böcklin. In: Hestia. Jahrbuch der Kla­gesGesellschaft 19 (1998/1999), S. 91–103. Kurt Breysig· Stefan George. Gespräche. Dokumente. Amsterdam 1960. Brinkmann, Reinhold: Schönberg und George. Interpretation eines Liedes. In: Archiv für Musikwissen­ schaft 26 (1969), S. 1–28.

    858 

     Ausgewählte Forschungsliteratur

    Brodersen, Arvid: Stefan George und der Norden. In: CP 22 (1973), H. 107–109, S. 129–165. Brokoff, Jürgen: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avant­ garde. Göttingen 2010. Brokoff, Jürgen: Macht im Innenraum der Dichtung. Die frühen Gedichte Stefan Georges. In: Die Souve­ ränität der Literatur. Zum Totalitären der klassischen Moderne 1900–1933. Hg. v. Uwe Hebekus u. Ingo Stöckmann. München 2008, S. 415–432. Burdorf, Dieter: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart u. Weimar 2001. Ciechanowska, Zofia: Stefan George i Wacław Rolicz-Lieder – ich translatorska wzajemność. In: ­Roczniki Humanistyczne 13 (1965), S. 47–80. Curtius, Ernst Robert: Stefan George im Gespräch. In: Ders.: Kritische Essays zur europäischen Litera­ tur. Frankfurt/M. 1984 (Fischer Wissenschaft 7350), S. 138–157. Dahlke, Birgit: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900. Köln, Weimar, Wien 2006 (Literatur – Kultur – Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte. Große Reihe 44). Dennis R. Anderson: Metrics and meaning in the early poetry of Stefan George. Diss. Buffalo 1975. Dessoir, M[ax]: Vom Jenseits der Seele. Stuttgart 1917. Di Taranto, Mattia: Il maestro e l’apostolo. Presenze del Simbolismo francese nell’opera giovanile di Stefan George. Pisa 2014. Dorgerloh, Annette: Lepsius, Reinhold. In: GHb III, 1528–1531. Dorgerloh, Annette: Lepsius, Sabine. In: GHb III, 1532–1535. Dörr, Georg: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundert­ wende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule. Würzburg 2007 (Episte­ mata. Reihe Literaturwissenschaft 588). Dümling, Albrecht: Die fremden Klänge der hängenden Gärten. Die öffentliche Einsamkeit der Neuen Musik am Beispiel von Arnold Schönberg und Stefan George. München 1981. Durand-Henriot, Isabelle: L’Algabal de George face à l’Hérodiade de Mallarmé: Les stratégies d’une révision critique. In: Recherches germaniques 27 (1997), S. 143–164. Dürr, Volker: Stefan George und Gottfried Benn im europäischen Kontext. Politische Aspekte der ­ästhetizistischen Tradition. In: Das Stefan-George-Seminar 1978 in Bingen am Rhein. Eine ­Dokumentation. Hg. v. Peter Lutz Lehmann u. Robert Wolff. Heidelberg 1979, S. 48–59. Durzak, Manfred: Ästhetizismus und die Wende zum 20. Jahrhundert. Gabriele D’Annunzio, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. In: Das Europa-Projekt der Romantik und die Moderne. ­Ansätze zu einer deutsch-italienischen Mentalitätsgeschichte. Hg. v. Silvio Vietta, Dirk Kemper u. Eugenio Spedicato. Tübingen 2005 (Villa Vigoni 17), S. 143–157. Durzak, Manfred: Zwischen Symbolismus und Expressionismus: Stefan George. Stuttgart u.a. 1974 (Sprache und Literatur 89). Duthie, Enid Lowry: L’Influence du symbolisme français dans le renouveau poétique de l’Allemagne: Les Blaetter fuer die Kunst de 1892 à 1900. Paris 1933. Eggert Schröder, Hans: Ludwig Klages. Die Geschichte seines Lebens. Erster Teil. Die Jugend. Bonn 1966. Egyptien, Jürgen: Letzte Worte des Meisters. Abschiede im George-Kreis. In: Letzte Briefe. Neue Per­ spektiven auf das Ende von Kommunikation. Hg. v. Arnd Beise u. Jochen Strobel in Zusammenar­ beit m. Ute Pott. St. Ingbert 2015, S. 181–197. Egyptien, Jürgen: Die ‚Kreise‘. In: GHb I, 365–407. Egyptien, Jürgen: Dowson, Ernest. In: GHb III, 1347–1349. Egyptien, Jürgen: Kultur und Schatzsuche im Abendschein des alten Europa – George und der Geor­ge-Kreis zu Gast bei Alexander von Bernus auf Stift Neuburg 1909/10. In: Gnostika 16 (2012), H. 50, S. 49–66. Egyptien, Jürgen: Stefan George auf Stift Neuburg. Marbach am Neckar 2009 (Spuren 85).

    

    Ausgewählte Forschungsliteratur 

     859

    Egyptien, Jürgen: Entwicklung und Stand der George-Forschung 1955–2005. In: TuK 105–122. Egyptien, Jürgen: Die Apotheose der heroischen Schöpferkraft. Shakespeare im George-Kreis. In: Wis­ senschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft. Hg. v. Bern­ hard Böschenstein, J. E., Bertram Schefold u. Wolfgang Graf Vitzthum. Berlin u. New York 2005, S. 159–185. Egyptien, Jürgen: Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg. In: WuW 197–212. Egyptien, Jürgen: „Hexenreihen“. In: CP 50 (2001), H. 250, S. 61–66. Egyptien, Jürgen: ‚Kosmische Elemente‘ in der Dichtung Stefan Georges. In: Hestia. Jahrbuch der Kla­ ges-Gesellschaft 19 (1998/99), S. 11–27. Egyptien, Jürgen: Herbst der Liebe und Winter der Schrift. Über den Zyklus „Nach der Lese“ in Stefan Georges Das Jahr der Seele. In: GJb 1 (1996/1997), S. 23–43. Eidemüller, Gisela: Die nachgelassene Bibliothek des Dichters Stefan George: Der in Bingen aufbe­ wahrte Teil. Hg. v. Robert Wolff. Heidelberg 1987 (Bilder und Bücher aus dem Nachlass 2). Eilert, Heide: Die Vorliebe für kostbar-erlesene Materialien und ihre Funktion in der Lyrik des Fin de siècle. In: Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Hg. v. Roger Bauer u.  a. Frankfurt/M. 1977 (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 35), S. 421–441. Emig, Rainer: Übertragene Dekadenz. Überlegungen zur Rezeption britischer fin de siècle-Literatur bei Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. In: Beiträge zur Rezeption der britischen und irischen Literatur des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Hg. v. Norbert Bachleitner. Amsterdam 2000 (Internationale Forschungen zur allgemeinen und vergleichenden Literatur­ wissenschaft 45), S. 317–343. Eschenbach, Gunilla: Geschichte und Geschichtlichkeit in Stefan Georges Lyrik. In: Geschichtslyrik. Ein Kompendium. Bd 2. Hg. v. Heinrich Detering u. Peer Trilcke. Göttingen 2013, S. 859–884. Eschenbach, Gunilla: Imitatio im George-Kreis. Berlin u. New York 2011 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 69). Eschenbach, Gunilla: Musik als emotiver Verstärker in Stefan Georges „Sänge eines fahrenden Spiel­ manns“. In: Lied und Lyrik um 1900. Hg. v. Dieter Martin u. Thomas Seedorf. Würzburg 2010 (Klassi­sche Moderne 16), S. 129–139. Faber, Richard: Algabal George – George Mussolini. Ein wilhelminischer Dichter zwischen Ästhetizismus und Faschismus. In: Identitätskrise und Surrogatidentitäten. Zur Wiederkehr einer romantischen Konstellation. Hg. v. Cornelia Klinger u. Ruthart Stäblein. Frankfurt/M. u.  a. 1989, S. 216–239. Farrell, Ralph: Stefan Georges Beziehungen zur englischen Dichtung. Berlin 1937. Fechner, Jörg-Ulrich: Erfahrungen spanischer Wirklichkeit in frühen Gedichten Stefan Georges. In: CP 28 (1979), H. 138, S. 52–76. Fest, Joachim: Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli. Berlin 1994. Fieguth, Rolf: Drei Gedichtbücher, drei Stadien der Ich-Überwindung um 1900. In: Die Architektur der Wolken. Zyklisierung in der europäischen Lyrik des 19. Jahrhunderts. Hg. v. R. F. u. Alessandro Martini. Bern 2005, S. 365–384. Fischer, Jens Malte: Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche. München 1978. Flasch, Kurt: Borchardts Dante. In: Das wilde Fleisch der Zeit. Rudolf Borchardts Kulturgeschichts­ schreibung. Hg. v. Kai Kauffmann. Stuttgart 2004, S. 146–168. Frank, Manfred: Stefan Georges „neuer Gott“. In: Ders.: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mytho­logie. Frankfurt/M. 1988 (es 1506), S. 257–314. Franklin, Ursula: The Quest for the Black Flower: Baudelairean and Mallarméan Inspirations in Stefan George’s Algabal. In: Comparative Literature Studies 16 (1979), S. 131–140. Fricker, Christophe: Das lyrische Ich und das lyrische Er in Stefan Georges „Der Krieg“. In: Autobiogra­ phie und Krieg: Ästhetik, Autofiktion und Erinnerungskultur seit 1914. Hg. v. Jan Röhnert. Heidel­ berg 2014, S. 67–82.

    860 

     Ausgewählte Forschungsliteratur

    Fricker, Christoph: Stefan Georges Gedicht ‚Geheimes Deutschland‘: Ein politisches Programm? In: DES 131–163. Fricker, Christophe: Ludwig II. in Stefan Georges „Algabal“. In: Weimarer Beiträge 52 (2006), H. 3, S. 441–448. Frommel, Wolfgang: Templer und Rosenkreuz. Ein Traktat zur Christologie Stefan Georges. Amsterdam 1991. Frommel, Wolfgang: Alfred Schuler. In: CP 34 (1985), H. 168/169, S. 5–23. Fügen, Hans Norbert: Der George-Kreis in der „dritten Generation“. In: Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik. Hg. v. Wolfgang Rothe. Stuttgart 1974, S. 334–358. Gabriel, Norbert: Studien zur Geschichte der deutschen Hymne. München 1992. Gadamer, Hans-Georg: Der Dichter Stefan George. In: Ders.: Ästhetik und Politik II. Gesammelte Werke. Bd. 9. Tübingen 1993, S. 211–228. Gadamer, Hans-Georg: Hölderlin und George. In: Ebd., S. 243–244. George, Stefan: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod. Mit einem Vorspiel. Be­ funde der Handschrift. Für die Stefan George Stiftung hg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Stuttgart 2003. George, Stefan: Sagen und Sänge. Faksimile der Handschrift. Hg. v. Hubert Arbogast u. Ute Oelmann. Stuttgart 1996. Stefan George und Holland. Katalog zur Ausstellung zum 50. Todestag. Amsterdam 1984. George, Stefan: Phraortes. Graf Bothwell. Zwei dramatische Fragmente aus der Schulzeit. Hg. v. Georg Peter Landmann. Düsseldorf u. München 1975. Stefan George 1868–1968. Der Dichter und sein Kreis. Hg. v. Bernhard Zeller. München 1968. Stefan George – Wacław Rolicz-Lieder. Gedichte und Übertragungen. Polnisch-deutsch, deutsch-polnisch. Zusammengestellt v. Annette Landmann. Düsseldorf u. München 1968. Glur, Guido: Kunstlehre und Kunstanschauung des Georgekreises und die Aesthetik Oscar Wildes. Bern 1957. Goldsmith, Ulrich K.: Studies in Comparison. Hg. v. Hazel E. Barnes, William M. Calder III u. Hugo Schmidt. New York u.  a. 1989 (Utah Studies in Literature and Linguistics 28). Goldsmith, Ulrich K.: Stefan George: A study of his early work. Boulder 1959 (Colorado Studies. Series in Language and Literature 7). Gottschalk, Hilde: Wesen und Form der Gespräche aus dem Kreis der „Blätter für die Kunst“. Limburg a. d. Lahn 1932. Graf Vitzthum, Wolfgang: Staatsdichtung und Staatslehre. Das Beispiel Stefan George. In: Recht, Staat und Politik im Bild der Dichtung. Hg. v. Hermann Weber. Berlin 2003 (Recht in der Kunst – Kunst im Recht 15), S. 103–126. Gräff, Thomas: Gedichte der Jahrhundertwende (1890–1910). Interpretationen. München u. Wien 1991 (Oldenbourg-Interpretationen 49). Greber, Erika: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln, Weimar, Wien 2002 (Pictura et Poesis 9). Gresser, Philipp: Deutschsprachige George-Kritik 1898–1945. In: GHb II, 976–1016. Grigorian, Natasha: European Symbolism. In Search of Myth (1860–1910). Oxford u.  a. 2009 (Romanti­ cism and after in France 14). Grigorian, Natasha: The Poet and the Warrior. The Symbolist Context of Myth in Stefan George’s Early Verse. In: German Quarterly 82 (2009), H. 2, S. 174–195. Grimminger, Rolf: Der Sturz der alten Ideale. Sprachkrise und Sprachkritik um die Jahrhundertwende. In: Funkkolleg. Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Studienbrief 3. Tübingen 1993. Groppe, Carola: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933. Köln, Weimar, Wien 1997.

    

    Ausgewählte Forschungsliteratur 

     861

    Gruenter, Rainer: „Komm in den totgesagten park und schau“. In: Gedichte aus sieben Jahrhunderten. Interpretationen. Hg. v. Karl Hotz. Bamberg 1993, S. 186  f. Gsteiger, Manfred: Französische Symbolisten in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende (1869–1914). Bern u. München 1971. Gundolf, Ernst: Nietzsche als Richter. Sein Amt. In: Ders.: Werke. Aufsätze, Briefe, Gedichte, Zeichnun­ gen und Bilder. Hg., eingel. u. kommentiert v. Jürgen Egyptien, m. e. Beitrag v. Michael Thimann. Amsterdam 2006 (Figuren um Stefan George 1), S. 111–165. Gundolf, Friedrich: Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, eingel. u. hg. v. Lothar Helbing (d.i. Wolfgang Frommel) u. Claus Victor Bock. Amsterdam 1963. Gundolf, Friedrich: Der siebente Ring. In: Die Zukunft 16 (1908), H. 14, S. 164–167. Günther, Vincent J.: Der ewige Augenblick. Zur Deutung von Georges „Der Siebente Ring“. In: SGK 197–203. Hamburger, Michael: Wahrheit und Poesie. Spannungen in der modernen Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart. Übers. v. Hermann Fischer. Berlin u. Wien 1985. Hartje, Antje: Von der Wahrnehmungserschwerung zur Wahrnehmungsverhinderung – Hermetisierungs­strategien bei Stefan George und William Butler Yeats. Heidelberg 2012. Hartung, Harald: Spange, Zwerg, Lied. Über einige Gedichte von Stefan George. In: JbDSG 52 (2008), S. 647–656. Hay, Gerhard: Theatermache durch das Schaubedürfnis der Massen. Georges Auffassung vom ­Theater. In: SGK 231–241. Heftrich, Eckhard: Was heißt l’art pour l’art? In: Fin de Siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundert­ wende. Hg. v. Roger Bauer. Frankfurt/M. 1977, S. 16–29. Heftrich, Eckhard: Stefan George. Frankfurt/M. 1968. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959. Hellingrath, Norbert von: Pindar-Übertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe. Leipzig 1910. Helsinger, Elizabeth K.: Poetry and the Pre-Raphaelite Arts. Dante Gabriel Rossetti and William M ­ orris. New Haven u. London 2008. Henne, Helmut: Sprachliche Spuren der Moderne in Gedichten um 1900: Nietzsche, Holz, George, Rilke, Morgenstern. Berlin u. New York 2010 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 137). Herres, Nina: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel. In: GHb I, 156–175. Herres, Nina unter Mitwirkung v. Christoph Meneghetti und Dominique Wagner: Namhafte Bilder, wörtliche Verben. Zu Stefan Georges ‚Das Wort‘. In: GJB 6 (2006/2007), S. 100–121. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Die zarte, aber helle Differenz. Heidegger und Stefan George. Frank­ furt/M. 1999. Hidaka, Makoto: Georges Gedicht „Der Spiegel“: Zum Problem des Selbst am Anfang des 20. Jahrhunderts. In: Doitsu Bungaku / Die Deutsche Literatur 32 (1964), S. 14–26. Hietbrink, Martin: In de schaduw van Stefan George. De Baudelaire-vertalingen van Verwey. In: ­Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 115 (1999), S. 218–235. Hinterhäuser, Hans: D’Annunzio und die deutsche Literatur. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen 116 (1964), H. 201, S. 241–261. Hobohm, Freya: Die Bedeutung französischer Dichter in Werk und Weltbild Stefan Georges (Baudelaire, Verlaine, Mallarmé). Marburg a.d. Lahn 1931. Hoffmann, Friedrich: Stefan Georges Übertragung der Shakespeare-Sonette. In: Shakespeare-Jahrbuch 92 (1956), S. 146–156. Hoffmann, Paul: ‚Im windes-weben‘. In: GJb 1 (1996/1997), S. 44–52. Hoffmann, Paul: Symbolismus. München 1987 (UTB 526).

    862 

     Ausgewählte Forschungsliteratur

    Hoffmann, Peter: Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Die Biographie. München 2009. Hoffmann, Peter: Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder. Stuttgart 1992. Hugo von Hofmannsthal. Der Dichter im Spiegel der Freunde. Hg. v. Helmut A. Fiechtner. Wien 1949. Hölter, Eva: „Der Dichter der Hölle und des Exils.“ Historische und systematische Profile der deutsch­ sprachigen Dante-Rezeption. Würzburg 2002 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 382). Hoorweg, Corrado (d.i. Conrad Michael Stibbe): Stefan George en Maximin. Amsterdam 2012 (AD HOC reeks 7). Höpker-Herberg, Elisabeth: Ida Coblenz. In: GHb III, 1318–1321. Höpker-Herberg, Elisabeth: „Der Teppich des Lebens“. Die „erste reinschrift des Vorspiels“ und das „handgeschriebene buch“. Ein Bericht. In: GJb 4 (2002/2003), S. 195–215. Huber, Konrad: Philologische Bemerkungen zur Dante-Übertragung Stefan Georges. In: Recht, Geist und Kunst. Liber amicorum für Rüdiger Volhard. Hg. v. Klaus Reichert u.  a. Baden-Baden 1996, S. 293–317. Hummelt, Norbert und Klaus Siblewski: Wie Gedichte entstehen. München 2009 (Ästhetik des Schrei­ bens 4). Icks, Martijn: Elagabal. Leben und Vermächtnis von Roms Priesterkaiser. Aus dem Englischen v. Erwin Fink. Darmstadt 2014. Immer, Nikolaus: Mit singender statt redender Seele: Zur Nietzsche-Rezeption bei Stefan George. In: Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Hg. v. Thomas Valk. Berlin u.  a. 2009 (Klassik und Moderne 1), S. 55–86. Jacob, Joachim: Hymnen – Pilgerfahrten – Algabal. In: GHb I, 107–121. Jacob, Joachim: Das Jahr der Seele. In: Große Werke der Literatur. Eine Ringvorlesung an der Univer­ sität Augsburg. Bd. 10. Hg. v. Hans Vilmar Geppert. Tübingen 2007, S. 59–73. Jacob, Joachim: Stefan Georges „Hymnen“. In: GJb 5 (2004/2005), S. 22–44. Jost, Dominik: Im Überflusse siech: Stefan George: Die tote Stadt. In: 1400 deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Bd. 5. Von Theodor Fontane bis Else Lasker-Schüler. Hg. v. Marcel ReichRanicki. Frankfurt/M. 2002, S. 407–410. Kafitz, Dieter: Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2004 (Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte 209). Kahn, Ludwig: Shakespeares Sonette in Deutschland. Versuch einer literarischen Typologie. Bern u. Leipzig 1935. Kaiser, Gerhard: „Dichten selbst ist schon Verrat“. Gibt es Kritik an Dichter und Dichtung im Werk Geor­ges? In: GJb 5 (2004/2005), S. 1–21. Kauffmann, Kai: Stefan George. Eine Biographie. Göttingen 2014. Kauffmann, Kai: Der Siebente Ring. In: GHb I, 175–191. Kauffmann, Kai: Der Stern des Bundes. In: GHb I, 191–203. Kauffmann, Kai: Von Minne und Krieg: Drei Stationen in Rudolf Borchardts Auseinandersetzung mit Stefan George. In: GJb 6 (2006/2007), S. 55–79. Kauffmann, Kai: Loblied, Gemeindegesang und Wechselrede. Zur Transformation des Hymnischen in Stefan Georges Œuvre bis zum ‚Stern des Bundes‘. In: WuW 34–47. Kawerau, Siegfried: Stefan George und Rainer Maria Rilke. Zweite Aufl. Berlin 1928. Keck, Thomas: Der deutsche „Baudelaire“. Bd. I: Studien zur übersetzerischen Rezeption der „Fleurs du Mal“. Heidelberg 1991. Keil, Werner: Franckenstein, Clemens. In: GHb III, 1360–1362. Keil, Werner: Scott, Cyril. In: GHb III, 1639–1643. Keilson-Lauritz, Marita: Übergeschlechtliche Liebe als Passion. Zur Codierung mannmännlicher ­Intimität im Spätwerk Stefan Georges. In: WuW 142–155. Keilson-Lauritz, Marita: Von der Liebe, die Freundschaft heißt: Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges. Berlin 1987 (Homosexualität und Literatur 2).

    

    Ausgewählte Forschungsliteratur 

     863

    Keilson-Lauritz, Marita: Hans von Prott und das ‚geheime‘ Deutschland. In: CP 30 (1981), H. 148–149, S. 18–34. Klett, Ernst: Stefan George. Über seine Erneuerung der deutschen Dichtersprache, u.  a. am Beispiel des Liedes ‚Im windes-weben …‘ aus ‚Der Siebente Ring‘. In: Neue Sammlung 23 (1983), S. 42–61. Klieneberger, Hans R.: A Winter-Scene in George’s „Das Jahr der Seele“ and the Poetic Tradition. In: Schein und Widerschein. Festschrift für T. J. Casey. Hg. v. Eoin Bourke u.  a. Galway 1997, S. 188– 198. Kluncker, Karlhans: Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges. Frankfurt/M. 1974 (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 24). Klussmann, Paul Gerhard: Spruch und Gespräch in szenischen Gedichten des Spätwerks von Stefan George. In: WuW 102–113. Klussmann, Paul Gerhard: Dante und Stefan George. Über die Wirkung der Divina Commedia in Geor­ ges Dichtung. In: SGK 138–150. Klussmann, Paul Gerhard: Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und des Dichters in der Moderne. Bonn 1961 (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur 1). Klussmann, Paul Gerhard: Stefan George. Das Wort. In: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen von der Spätromantik bis zur Gegenwart. Hg. v. Benno von Wiese. Düsseldorf 1956, S. 284–291. Koch, Manfred: Mnemotechnik des Schönen. Studien zur poetischen Erinnerung in Romantik und Sym­bolismus. Tübingen 1988 (Studien zur deutschen Literatur 100). Koch, Willi: Stefan George. Weltbild, Naturbild, Menschenbild. Halle/Saale 1933. Kohlschmidt, Werner: Georges Jacobsen-Übertragungen. In: Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Hermann Meyer zum 65. Geburtstag. Hg. v. Alexander von Bor­mann u.  a. Tübingen 1976, S. 576–591. Kolbe, Uwe: Drei Thesen zu dem Gedicht ‚Lämmer‘ von Stefan George. In: GJb 10 (2014/2015), S. 67– 72. Kommerell, Max: Essays, Notizen, Poetische Fragmente. Aus d. Nachlass hg. v. Inge Jens. Olten u. Freiburg i. Br. 1969. Koopmann, Helmut: Deutsche Literaturtheorien zwischen 1880 und 1920. Eine Einführung. Darmstadt 1997. Koppen, Erwin: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle. Berlin u. New York 1973. Korn, Karl: Rheinische Profile. Stefan George, Alfons Paquet, Elisabeth Langgässer. Pfullingen 1988. Kosler, Hans Christian: Suche nach der schönen Seele. Stefan George: Sieh mein kind ich gehe. In: Frankfurter Anthologie 30 (2007), S. 81–84. Kraft, Werner: Stefan George. München 1980. Kraft, Werner: Wort und Gedanke. Kritische Betrachtungen zur Poesie. Bern u. München 1959. Krämer, Hans: Ästhetische Erfahrung in einem Gedicht aus Georges „Jahr der Seele“. In: GJb 3 (2000/2001), S. 69–75. L’Ormeau, F. W. (d.i. Wolfgang Frommel): Horch was die dumpfe erde spricht. In: CP 8 (1958), H. 35, S. 100–105. L’Ormeau, F. W. (d.i. Wolfgang Frommel): Das Rosensymbol. Eine Meditation. In: CP 1 (1951), H. 1, S. 15–25. Lach, Friedrich: Stefan Georges Gedichtzyklus „Pilgerfahrten“ in Einzelanalysen. Frankfurt/M. 1974. Lachmann, Eduard: Die ersten Bücher Stefan Georges. Eine Annäherung an das Werk. Berlin 1933. Landfried, Klaus: Stefan George – Politik des Unpolitischen. Heidelberg 1975 (Literatur und Geschichte 8). Landmann, Edith: Stefan Georges Auffassung von den Griechen. In: CP 52 (2003), H. 258–259, S. 5–44. Landmann, Edith: Stefan George und die Griechen. Idee einer neuen Ethik. Amsterdam 1971.

    864 

     Ausgewählte Forschungsliteratur

    Landmann, Edith: Stefan George. Das Neue Reich. In: Logos 20 (1931), H. 1, S. 88–104. Landmann, Edith: Georgika. Heidelberg 1920. Landmann, Georg Peter: Vorträge über Stefan George. Eine biographische Einführung in sein Werk. Düsseldorf u. München 1974. „L’âpre gloire du silence“. Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der „Blätter für die Kunst“ 1890–1898. Gesammelt, erl. u. m. e. einführenden Essay hg. v. JörgUlrich Fechner. Heidelberg 1998 (GRM-Beiheft 11). Lauster, Martina: Die Objektivität des Innenraums. Studien zur Lyrik Georges, Hofmannsthals und Ril­kes. Stuttgart 1982 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 113). Lebedewa, Jekatherina: Historischer Kontext und Lyrikübersetzung am Beispiel deutscher und russi­ scher Übertragungen von Shakespeares Sonett 66. In: „Vom Altern der Texte“. Bausteine für eine Geschichte des interkulturellen Wissenstransfers. Hg. v. Hartwig Kalverkämper u. Larisa Schippel. Berlin 2012 (Arbeiten zur Theorie und Praxis des Übersetzens und Dolmetschens 45). Lehmann, Peter Lutz: Meditationen um Stefan George. Sieben Essays. Düsseldorf u. München 1965. Lehnen, Ludwig: Gäas neue Söhne oder die Macht der „finsteren bräuche“. Zur Bedeutung Mallarmés in den späteren Werken Georges. In: DES 164–188. Lehnen, Ludwig: Mallarmé et Stefan George. Politiques de la poésie à l’époque du symbolisme. Paris 2010. Lehnen, Ludwig: George und Celan als Übersetzer Shakespeares. In: Celan-Jahrbuch 9 (2003–2005), S. 273–300. Lehnen, Ludwig: Politik der Dichtung. George und Mallarmé. Vorschläge für eine Neubewertung ihres Verhältnisses. In: GJb 4 (2002/2003), S. 1–35. Lengeler, Rainer: Shakespeares Sonette in deutscher Übersetzung: Stefan George und Paul Celan. Opladen 1989. Lepsius, Sabine: Ein Berliner Künstlerleben um die Jahrhundertwende. Erinnerungen. München 1972. Leppmann, Wolfgang: Um der letzten Strophe willen: Stefan George: Goethe-Tag. In: 1400 deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Bd. 5. Von Theodor Fontane bis Else Lasker-Schüler. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt/M. 2002, S. 429–433. Linke, Hansjürgen: Das Kultische in der Dichtung Stefan Georges und seiner Schule. 2 Bde. München u. Düsseldorf 1960. Loock, Wilhelm: Stefan George: „Komm in den totgesagten Park“. In: Wege zum Gedicht. M. e. Einfüh­ rung v. Edgar Hederer. Hg. v. Rupert Hirschenauer u. Albrecht Weber. München u. Zürich 1972, S. 266–272. Lucke, Mechthild und Andreas Hüneke: Erich Heckel. Lebensstufen. Die Wandbilder im Angermuseum zu Erfurt. Amsterdam 1992. Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. v. Jörg Schönert, Peter Hühn u. Malte Stein. Berlin u. New York 2007 (Narratologia 11). Magris, Claudio: Il „Poema paradisiaco“ del D’Annunzio e i „traurige tänze“ di Stefan George. In: Lettere italiane 12 (1960), H. 3, S. 284–295. Mancini, Lucia: Borchardt und George. Übersetzer von Dantes „Divina Commedia“. In: Rudolf Borchardt 1877–1945. Referate des Pisaners Colloquiums. Hg. v. Horst Albert Glaser in Verb. m. Enrico De Angelis. Frankfurt/M. u.  a. 1987, S. 321–346. Marquart, Lea: Andrian, Leopold von. In: GHb III, 1257–1260. Martin, Dieter: „Wer je die flamme umschritt“. Stefan George am Lagerfeuer. In: Realität als Herausfor­ derung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann. Hg. v. Ralf Bogner u.  a. Berlin u. New York 2011, S. 427–446. Martus, Steffen: Geschichte der Blätter für die Kunst. In: GHb I, 301–364.

    

    Ausgewählte Forschungsliteratur 

     865

    Martus, Steffen: Stefan Georges Poetik des Endens. ‚Zum Abschluß des VII. Rings‘. In: GJb 6 (2006/ 2007), S. 1–30. Marwitz, Herbert: Stefan George und die Antike. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissen­ schaft 1 (1946), S. 226–257. Marx, Friedhelm: Der Heilige Stefan? Thomas Mann und Stefan George. In: GJb 6 (2006/2007), S. 80– 99. Marx, Friedhelm: Heilige Autorschaft? ‚Self-Fashioning‘-Strategien in der Literatur der Moderne. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hg. v. Heinrich Detering. Stuttgart u. Weimar 2002 (Ger­ manistische Symposien 24), S. 107–120. Marx, Olga: Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung. Amsterdam 1967 (CP 77). Mason, Eudo C.: Gundolf und Shakespeare. In: Shakespeare-Jahrbuch 98 (1962), S. 110–177. Mattenklott, Gert: „Die Griechen sind zu gut zum schnuppern, schmecken und beschwatzen“: Die Antike bei George und in seinem Kreis. In: Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert. Hg. v. Bernd Seidensticker u. Martin Vöhler. Stuttgart u.  a. 2001, S. 234–248. Mattenklott, Gert: D’Annunzio e George. In: D’Annunzio e la cultura germanica. Atti del VI Convegno internazionale di studi dannunziani. Pescara 3–5 maggio 1984. Hg. v. Centro Nazionale di Studi dannunziani. Pescara 1985, S. 243–252. Mattenklott, Gert: Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George. Frankfurt/M. 1985. McGuinness, Patrick: Symbolism, decadence and the Fin de siècle. French and European perspectives. Exeter 2000. Meessen, Hubert J.: Stefan George’s „Algabal“ und die französische Décadence. In: Monatshefte 39 (1947), H. 5, S. 304–321. Meier, Hans Albert: Der Dritte Humanismus im Werk Stefan Georges und Thomas Manns. Diss. Bern 1938. Melenk, Margot: Die Baudelaire-Übersetzungen Stefan Georges: „Die Blumen des Bösen“ – Original und Übersetzung in vergleichender Stilanalyse. München 1974 (Freiburger Schriften zur romanischen Philologie 26). Merklin, Franziska: Stefan Georges moderne Klassik. Die „Blätter für die Kunst“ und die Erneuerung des Dramas. Würzburg 2014 (Klassische Moderne 24). Metzger, Michael M.: In Zeiten der Wirren. Stefan George’s Later Works. In: JR 99–123. Metzger, Michael M. u. Erika Alma Metzger: Stefan George. New York 1972. Meyer Troxler, Katharina: Recezione delle opere di D’Annunzio nei paesi tedeschi. In: D’Annunzio e la cultura germanica. Atti del VI Convegno internazionale di studi dannunziani. Pescara 3–5 maggio 1984. Hg. v. Centro Nazionale di Studi dannunziani. Pescara 1985, S. 267–275. Meyer, Richard: Ein neuer Dichterkreis. Rede in der Gesellschaft für deutsche Literatur am 17. März 1897. In: Preußische Jahrbücher 88 (1897), H. 1, S. 33–54. Meyer-Eckhardt, Victor: Der Stern des Bundes. Ein Beitrag zu Stefan Georges jüngster Entwicklung. In: Die Tat 8 (1916/1917), S. 333–341. Michels, Gerd: Die Dante-Übertragungen Stefan Georges. Studien zur Übersetzungstechnik Stefan Georges. München 1967. Mickiewicz, Denis und Ellen Brinks: A polysemic reading of Stefan George’s „Wir schreiten auf und ab im reichen flitter“. In: Memoriæ vis: Essays in Celebration of Arthur R. Evans. Ed. by Erasmo Lei­ va-Merikakis and Erdmann Waniek. Atlanta 1993, S. 125–146. Mojem, Helmut: Algabal bei den Phantasten? Stefan George und Paul Scheerbart. In: GJb 4 (2002/2003), S. 36–78. Möller, Melanie: „Willst du den leuchtenden himmel […] / Wieder vertauschen […]?“. Zur Antikensymbo­ lik in Stefan Georges „Preisgedichten“. In: GJb 7 (2008/2009), S. 49–73. Müller, Annegret: Melchior Lechter (1865–1937) – Leben und malerisches Werk. Diss. Bochum 1981.

    866 

     Ausgewählte Forschungsliteratur

    Mundt, Joachim: Die Landschafts- und Städte-Tafeln und die Jahrhundert-Sprüche in Stefan Georges „Siebentem Ring“. Eine politisch-historische Deutung. In: CP 39 (1990), H. 193, S. 5–91. Neumann, Heinrich: Stefan Georges Algabal. Ein Hinweis zum Unterreich-Zyklus. In: CP 27 (1978) H. 134/135, S. 122–124. Neumann, Markus: „Irrende Schar“: Brechts „Ballade von den Seeräubern“ als George-Kontrafaktur. In: Germanistik 15 (2005), H. 2, S. 387–394. Neumann, Peter Horst: „Von diesen Städten wird bleiben der Wind“: Stefan George und Bertolt Brecht. In: Ders.: Erlesene Wirklichkeit. Aachen 2005, S. 43–58. Nohl, Johannes: Stefan George und sein Kreis. In: Weltliteratur der Gegenwart. Bd. 1. Hg. v. Ludwig Marcuse. Berlin 1924, S. 225–322. Norton, Robert E.: Secret Germany. Stefan George and his circle. Ithaca 2002. Nutt-Kofoth, Rüdiger: Autor oder Übersetzer oder Autor als Übersetzer? Überlegungen zur editorischen Präsentation von ‚Übertragungen‘ am Beispiel Stefan George. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 14 (2000), S. 88–103. Ockenden, Ray: Shakespeare and Stefan George’s Circle. In: Angermion 5 (2012), S. 3–28. Ockenden, Ray: Kingdom of the Spirit. The Secret Germany in Stefan George’s later poems. In: A Poet’s Reich. Politics and Culture in the George Circle. Ed. by Melissa S. Lane and Martin A. Ruehl. Rochester 2011, S. 91–116. Ockenden, Ray C.: Mensch und Natur in der Dichtung Stefan Georges. In: DES 353–396. Ockenden, Ray: Voyaging with a Concordance: The Sea in Stefan George’s Poetry. In: Publica­tions of the English Goethe Society 79 (2010), H. 1, S. 50–62. Ockenden, Raymond Curtis: Stefan George. Grundworte seiner Dichtung. In: CP 17 (1968), H. 81, S. 5–29. Ockenden, R.C.: „Komm in den totgesagten park und schau“. Some Aspects of Nature and Nature Imagery in Stefan George’s Poetry. In: Oxford German Studies 2 (1967), S. 87–109. Oelmann, Ute: Das Jahr der Seele. In: GHb I, 137–156. Oelmann, Ute: Shakespeare Sonnette. Umdichtung. In: GHb I, 238–254. Oelmann, Ute: Rezeption der skandinavischen, englischen und niederländischen Literatur. In: GHb II, 637–647. Oelmann, Ute: Vom handgeschriebenen Buch: Stefan Georges ‚Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel‘. In: Edition und Interpretation moderner Lyrik seit Hölderlin. Hg. v. Dieter Burdorf. Berlin u.  a. 2010, S. 103–111 (Beihefte zu editio 33). Oelmann, Ute: Das „protestantische erblaster“ und die Frauenfrage. Gertrud Simmel im Gespräch mit Stefan George. In: Frauen um Stefan George. Hg. v. U. Oe. u. Ulrich Raulff. Göttingen 2010, S. 143–155. Oelmann, Ute: Das Mittelalter in der Dichtung Georges. Ein Versuch. In: Geschichtsbilder im Geor­geKreis. Wege zur Wissenschaft. Hg. v. Barbara Schlieben, Olaf Schneider u. Kerstin Schulmeyer. Göttingen 2004, S. 133–145. Oelmann, Ute: Anklänge: Stefan George und Ernest Dowson. In: Goethezeit – Zeit für Goethe. Auf den Spuren deutscher Lyriküberlieferung in die Moderne. Festschrift für Christoph Perels zum 65. Geburtstag. Hg. v. Konrad Feilchenfeldt u.  a. Tübingen 2003, S. 313–321. Oelmann, Ute: Karl Josef Partsch. Politik und Kunstgeschichte im George-Kreis. In: GJb 3 (2000/2001), S. 176–191. Oelmann, Ute: Das Gedicht als „Gebilde“. Zur Poetik des jungen Stefan George. In: „Sinnlichkeit in Bild und Klang“. Festschrift für Paul Hoffmann zum 70. Geburtstag. Hg. v. Hansgerd Delbrück. Stuttgart 1987, S. 317–325. Oestersandfort, Christian: Antike-Rezeption. In: GHb II, 647–671. Oestersandfort, Christian: Platonisches im ‚Teppich des Lebens‘. In: GJb 7 (2008/2009), S. 100–114. Ortlieb, Cornelia: Baudelaire · Die Blumen des Bösen. Umdichtungen. In: GHb I, 254–269.

    

    Ausgewählte Forschungsliteratur 

     867

    Ortlieb, Cornelia: Poetische Prosa. Beiträge zur modernen Poetik von Charles Baudelaire bis Georg Trakl. Stuttgart u. Weimar 2001. Osterkamp, Ernst: Das Neue Reich. In: GHb I, 203–217. Osterkamp, Ernst: „Ihr wisst nicht wer ich bin“. Stefan Georges poetische Rollenspiele. München 2002 (Themen 74). Osterkamp, Ernst: Die Küsse des Dichters. Versuch über ein Motiv im ‚Siebenten Ring‘. In: WuW 69–86. Osthoff, Wolfgang: Das Maß und das Tragische. Gedanken zum ‚Gespräch des Herrn mit dem römi­ schen Hauptmann‘. In: WuW 125–141. Osthoff, Wolfgang: Stefan George und „Les deux musiques“. Tönende und vertonte Dichtung im Ein­ klang und Widerstreit. Stuttgart 1989. Oswald, Stephan: Dante Deutsch – breve profilo delle versioni tedesche della Divina Commedia. In: La ricezione di Dante Alighieri. Impulsi e tensioni. Hg. v. Rita Unfer Lukoschik u. Michael Dallapiazza. München 2011, S. 87–108. Oswald, Victor A.: Oscar Wilde, Stefan George, Heliogabalus. In: Modern Language Quarterly 10 (1949), S. 517–525. Oswald, Victor A.: The historical content of Stefan George’s „Algabal“. In: Germanic Review 23 (1948), S. 193–205. Pannwitz, Rudolf: Albert Verwey und Stefan George. Zu Verweys hundertstem Geburtstag. Heidelberg u. Darmstadt 1965. Pauen, Michael: Alfred Schuler. Heidentum und Heilsgeschichte. In: CP 42 (1993), H. 209–210, S. 21– 54. Paul, Fritz: Bild – Dichtung – Übersetzung. J. P. Jacobsens „Michelangelo-Arabeske“ in den Übertra­ gungen Georges und Rilkes. In: Skandinavistik 21 (1991), S. 81–99. Paul, Karen und William H. McClain: Stefan George’s Swinburne Translations. In: Modern Language Notes 86 (1971), S. 706–714. Perels, Christoph: Stefan George in Paris. Rekonstruktion einer literarischen Szene. In: Hofmanns­thalJahrbuch 20 (2012), S. 173–197. Petersdorff, Dirk von: Stefan George – ein ästhetischer Fundamentalist? In: Wissenschaftler im Geor­ ge-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft. Hg. v. Bernhard Böschenstein, Jürgen Egyptien, Bertram Schefold u. Wolfgang Graf Vitzthum. Berlin u. New York 2005, S. 49–58. Petersdorff, Dirk von: Wie viel Freiheit braucht die Dichtung? ‚Das Zeitgedicht‘ im ‚Siebenten Ring‘. In: GJb 5 (2004/2005), S. 45–62. Petersdorff, Dirk von: Stefan Georges Dichtung als Gegenreich. In: CP 53 (2004), H. 264/265, S. 51–72. Petersdorff, Dirk von: „In stillste Ruh“. In: CP 50 (2001), H. 250, S. 134–138. Petersdorff, Dirk von: Als der Kampf gegen die Moderne verloren war, sang Stefan George ein Lied. Zu seinem letzten Gedichtband „Das Neue Reich“. In: JbDSG 43 (1999), S. 325–352. Pieger, Bruno: Eine Erfahrung mit Dichtung. Hellingrath als Leser des ‚Siebenten Rings‘ und des ‚Sterns‘. In: WuW 335–352. Pieger, Bruno: Menschliche Gemeinschaft oder „Das Leben von Gedichten“. In: Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis. Hg. v. Roman Köster, Werner Plumpe, Bertram Schefold u. Korinna Schönhärl. Berlin 2009 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 33), S. 151–169 Pikulik, Lothar: Stefan Georges Gedicht ‚Der Teppich‘. Romantisch-Unromantisches einer wählerischen Kunstmetaphysik. In: Euphorion 80 (1986), S. 390–402. Pirro, Maurizio: Klang und Rhythmus bei Stefan George. In: Mythos Rhythmus. Wissenschaft, Kunst und Literatur um 1900. Hg. v. Massimo Salgaro u. Michele Vangi. Stuttgart 2016, 133–142. Pirro, Maurizio: Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten. In: GHb I, 122–136.

    868 

     Ausgewählte Forschungsliteratur

    Pirro, Maurizio: Per una lettura ‚begriffsgeschichtlich‘ della categoria di ‚Gestalt‘. Le traduzioni di Stefan George della „Divina Commedia“. In: Studi theodisca 19 (2012), S. 93–111. Pirro, Maurizio: Anmerkungen zum Nietzsche-Bild im George-Kreis. In: Nietzsche nach dem ersten Weltkrieg. Bd. 1. Hg. v. Sandro Barbera. Pisa 2007 (Nietzscheana 9), S. 7–36. Pittrof, Thomas: „Lobgesang“. In: CP 50 (2001), H. 250, S. 67–78. Port, Ulrich: ‚die neue geste‘ & ‚das neue pathos‘. Über einen Gemeinplatz der klassischen Moderne. In: Geste und Gebärde. Beiträge zu Text und Kultur der klassischen Moderne. Hg. v. Isolde Schiffer­müller. Innsbruck, Wien, München 2001 (Essay und Poesie 12), S. 14–39. Prang, Helmut: Doch es treibt mich auf. In: CP 7 (1957/1958), H. 34, S. 13–18. Raulff, Ulrich: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München 2009. Rebenich, Stefan: „Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel“. Platon im George-Kreis. In: GJb 7 (2008/2009), S. 115–141. Rehfeldt, Martin und Denise Dumschat: Der Garten als Medium des Übergangs. Beobachtungen anhand der Interpretation von Stefan Georges „Komm in den totgesagten park und schau“ und Max Goldts „Komm in den Garten“. In: Gärten als Spiegel der Seele. Hg. v. Hans-Peter Ecker. Würzburg 2007, S. 131–143. Reiser, Simon: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George. Formen und Funktionen eines ästhe­tischen Rituals. Würzburg 2015 (Klassische Moderne 28). Stefan George und die Religion. Hg. v. Wolfgang Braungart. Berlin u. Boston 2015 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 147). Rieckmann, Jens: Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer ‚Episode‘ aus der Jahrhundertwende. Tübingen u. Basel 1997. Riedel, Manfred: „Welch ein schimmer traf mich vom südlichen meer?“ Zu Georges Gedicht „Goethes lezte Nacht in Italien“. In: DES 95–130. Riedel, Manfred: Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg. Köln, Weimar, Wien 2006. Riedel, Volker: Ein problematischer ‚Einstieg‘. Zum Umgang Stefan Georges mit der antiken Überliefe­ rung im „Algabal“. In: GJb 7 (2008/2009), S. 20–48. Riedl, Peter Philipp: Epochenbilder, Künstlertypologien. Beiträge zu Traditionsentwürfen in Literatur und Wissenschaft 1860 bis 1930. Frankfurt/M. 2005. Wacław Rolicz-Lieder und Stefan George. Gedichte · Briefe. Stuttgart 1996 Ross, Werner: Bohemiens und Belle Epoque. Als München leuchtete. Berlin 1997. Rossellit, Jutta: Aufbruch nach innen. Studien zur literarischen Moderne mit einer Theorie der Imaginati­on. Würzburg 1993 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 108). Rovagnati, Gabriella: D’Annunzio nella traduzione di George: dal fascino dell’ambiguo al ritmo deciso della misura. In: Sulla traduzione letteraria. Contributi alla storia della ricezione e traduzione in lin­gua tedesca di opere letterarie italiane. Hg. v. Maria Grazia Saibene. Milano 1989, S. 97–117. Schaub-Bungers, Annegret: Die Poetik Stefan Georges im Rahmen seiner Kunstanschauung. Versuch einer Ideologiekritik. Diss. masch. Göttingen 1972. Schefold, Bertram: „Seelied“. In: CP 50 (2001), H. 250, S. 105–117. Schierenberg, Rudolf Eilhard: Einführung. In: Freundschaftsdichtung in den Niederlanden. Jacques Perk, Willem Kloos, Albert Verwey. Heidelberg 1996, S. 11–101. Schloon, Jutta: Zeitgenössische Dichter. In: GHb I, 269–290. Schloon, Jutta: Verwey, Albert. In: GHb III, 1738–1744. Schlüter, Bastian: Explodierende Altertümlichkeit. Imaginationen vom Mittelalter zwischen den Weltkrie­gen. Göttingen 2011. Schmalenbach, Herman: Die soziologische Kategorie des Bundes. In: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften 1 (1922), S. 35–105.

    

    Ausgewählte Forschungsliteratur 

     869

    Schmitz, Walter: Der George-Kreis und seine Medien. Poetische Präsenz, Aristokratismus der Distanz. In: Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890–1960). Hg. v. Michel Grunewald. Bern 2003 (Convergences 27), S. 327–352. Schneider, Wolfgang Christian: „Aus einer ewe pfeilgeradem willen / Führ ich zum reigen reiss ich in den ring“ – Zu Ethik und Philia bei Stefan George. In: DES 289–306. Schneider, Wolfgang Christian: Staat und Kreis, Dienst und Glaube. Friedrich Wolters und Robert Boeh­ringer in ihren Vorstellungen von Gesellschaft. In: Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklich­keit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis. Hg. v. Roman Köster, Werner Plumpe, Bertram Schefold u. Korinna Schönhärl. Berlin 2009 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 33), S. 97–122. Schoolfield, George C.: Stefan George’s Translations of Jens Peter Jacobsen. In: Kentucky Foreign Language Quarterly 10 (1963), H. 1, S. 31–40. Schroeder, Hildegard: Eine literarische Freundschaft. Stefan George und Wacław Lieder. In: Festschrift für Margarete Woltner zum 70. Geburtstag. Hg. v. Peter Brang. Heidelberg 1967, S. 228– 250. Schultz, H. Stefan: „Templer“. Interpretation des Gedichts aus dem „Siebenten Ring“ von Stefan George. In: Auslegung. Düsseldorf u. München 1972, S. 25–41. Schultz, H. Stefan: Überlieferung und Ursprünglichkeit in Stefan Georges Buch der Sagen und Sänge. In: CP 15 (1966), H. 71, S. 28–39. Schultz, H. Stefan: Über das Verhältnis Stefan Georges zu Schiller. In: Friedrich Schiller 1759–1959. Bern u. München 1961 (Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung 4), S. 109–129. Schultz, Karla: In Praise of Illusion: ‚Das Jahr der Seele‘ and ‚Der Teppich des Lebens‘: Analysis and Historical Perspective. In: JR 79–98. Schwabing. Kunst und Leben um 1900. Hg. v. Helmut Bauer unter Mitarb. v. Sandra Uhrig. München 1998. Siblewski, Klaus: „Diesmal winkt sicher das Friedensreich“. Über Stefan Georges Gedicht „Der Krieg“. In: TuK 19–34. Simmel, Georg: Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie. In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Bd. I. Hg. v. Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt u. Otthein Rammstedt. Frankfurt/M. 1995, S. 21–35. Simmel, Georg: Der siebente Ring. In: Ders.: Zur Philosophie der Kunst. Hg. v. Gertrud Simmel. Pots­ dam 1922, S. 74–78. Simon, Ralf: Die Bildlichkeit des lyrischen Texts. Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke. München 2011. Simon, Ralf: Hymne und Erhabenheit im 19. Jahrhundert, ausgehend von Stefan Georges „Hymnen“. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hg. v. Steffen Martus, Stefan Scherer u. Claudia Stockinger. Bern 2005, S. 357–385. Simon, Ralf: Das Wasser, das Wort. Lyrische Rede und deklamatorischer Anspruch beim späten Geor­ge. In: WuW 48–68. Simonis, Annette: Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne. Tübingen 2000 (Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturge­schichte 23). Simonis, Annette: Politische Utopie und Ästhetik. Die deutsche William Morris-Rezeption. In: Beiträge zur Rezeption der britischen und irischen Literatur des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Hg. v. Norbert Bachleitner. Amsterdam 2000, S. 171–214. Simons, Gabriel: Die zyklische Kunst im Jugendwerk Stefan Georges, ihre Voraussetzungen in der Zeit und ihre allgemeinen ästhetischen Bedingungen. Diss. Köln 1965. Sørensen, Bengt Algot: J. P. Jacobsen und der Jugendstil. Zur Jacobsen-Rezeption in Deutschland und Österreich. In: Orbis Litterarum 33 (1978), S. 253–279.

    870 

     Ausgewählte Forschungsliteratur

    Söring, Jürgen: Die Figur der Wende als poetologisches Prinzip. Zum lyrischen Verfahren Stefan Geor­ ges. In: ZDP 102 (1983), S. 200–221. Speier, Hans-Michael: Die Ästhetik Jean Pauls im Werk Stefan Georges. In: Das Ste­fan-George-Seminar 1978 in Bingen am Rhein. Eine Dokumentation. Hg. v. Peter Lutz Lehmann u. Robert Wolff. Heidelberg 1979, S. 197–207. Stadler-Altmann, Ulrike: Das Zeitgedicht der Weimarer Republik. Mit einer Quellenbibliographie zur Lyrik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (1900–1933). Hildesheim, Zürich, New York 2001 (Germanis­tische Texte und Studien 69). Stamm, Rudolf: „A Cup of Alteration.“ Shakespeare’s Sonett 66 – Deutsch von Stefan George, Karl Kraus und Heinz Helbling. Sonett 116 – Deutsch von Heinz Helbling, Ilse Krämer und Paul Celan – Französisch von Pierre Jean Jouve. In: Meaning and beyond. Ernst Leisi zum 70. Geburtstag. Hg. v. Udo Fries u. Martin Heusser. Tübingen 1989, S. 21–41. Steffensen, Steffen: Stefan George und seine Wirkungen in Skandinavien. In: Nerthus. Nor­dischdeutsche Beiträge 2 (1969), S. 52–78. Steiner, Uwe: Verhüllungsgeschichten. Die Dichtung des Schleiers. München 2006. Stern, Martin: Böcklin – George – Hofmannsthal. Zu Arnold Böcklins 150. Geburtstag am 16. Oktober 1977. In: Hofmannsthal-Blätter 17/18 (1977), S. 326–333. Storck, Joachim W.: Das Bild des Mittelalters in Stefan Georges „Buch der Sagen und Sänge“. In: Mittel­alter-Rezeption II. Hg. v. Jürgen Kühnel u.  a. Göppingen 1982, S. 419–437. Storck, Joachim: Trauerarbeit bei Stefan George. In: Das Stefan-George-Seminar 1978 in Bingen am Rhein. Eine Dokumentation. Hg. v. Peter Lutz Lehmann u. Robert Wolff. Heidelberg 1979, S. 80– 95. Strodthoff, Werner: Stefan George. Zivilisationskritik und Eskapismus. Bonn 1976 (Studien zur Literatur der Moderne 1). Szewczyk, Grażyna Barbara: Wacław Rolicz-Lieder und Stefan George. Geschichte einer Freundschaft und der literarischen Zusammenarbeit. In: Deutschland, Italien und die slavische Kultur der Jahrhundertwende. Phänomene europäischer Identität und Alterität. Hg. v. Gerhard Ressel. Frankfurt/M. 2005 (Trierer Abhandlungen zur Slavistik 6), S. 409–416. Thiel, Friedrich: Vier sonntägliche Straßen. A Study of the Ida Coblenz Problem in the Works of Stefan George. New York 1988. Thimann, Michael: Bildende Kunst. In: GHb II, 551–584. Thomasberger, Andreas: Stefan Georges ‚Siebenter Ring‘ als Wegweiser im Rhythmischen? Hof­ mannsthals George-Bezug im Sommer 1912. In: WuW 403–410. Tiedemann-Bartels, Hella: Versuch über das artistische Gedicht. Baudelaire, Mallarmé, George. Mün­ chen 1971. Todd, Jeffrey Dean: „Poetry is praise“. Beobachtungen zu Stefan Georges Dichtung. In: CP 52 (2003), H. 258/259, S. 45–66. Todd, Jeffrey Dean: Stefan George’s Dante Translations. Past Perspectives and Future Itineraries. Diss. Univ. Cincinnati 1997. Usinger, Fritz: Stefan George. In: Blätter der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft 9 (1983), H. 4, S. 145–156. Varthalitis, Georgios: Die Antike und die Jahrhundertwende. Stefan Georges Rezeption der Antike. Diss. masch. Heidelberg 2000. Versari, Margherita: Figuren der Zeit in der Dichtung Stefan Georges. Aus dem Italienischen v. Stephan Oswald. Würzburg 2013. Versari, Margherita: Strategien der Liebesrede in der Dichtung Stefan Georges. Aus dem Italienischen v. Asta von Unger. Würzburg 2006. Versari, Margherita: „Blaue Blume“ – „Schwarze Blume“. Zwei poetische Symbole im Vergleich. In: Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul Gerhard Klussmann. Hg. v. Bettina Gruber u. Gerhard Plumpe. Würzburg 1999, S. 89–99.

    

    Ausgewählte Forschungsliteratur 

     871

    Verwey, Albert en Stefan George: De documenten van hun vriendschap. Bijeengebracht en toegelicht door Mea Nijland-Verwey. Amsterdam 1965. Verwey, Albert: Rhythmus und Metrum. Übers. v. Antoinette Eggink. Halle/Saale 1934. Verwey, Albert – Ludwig van Deyssel: Aufsätze über Stefan George und die jüngste dichterische Be­ wegung. Mit Genehmigung der Verfasser übertragen v. Friedrich Gundolf. Berlin 1905. Vignazia, Adriana: Die deutschen D’Annunzio-Übersetzungen. Entstehungsgeschichte und Überset­zungsprobleme. Frankfurt/M. u.  a. 1995 (Wiener Beiträge zu Komparatistik und Romanistik 6). Vilain, Robert: Stefan George’s Early Works 1890–1895. In: JR 51–77. Vilain, Robert: Temporary Aesthetes. Decadence and Symbolism in Germany and Austria. In: Symbo­lism, Decadence and the Fin de siècle. French and European Perspectives. Ed. by Patrick McGuinness. Exeter 2000, S. 209–224. Vordtriede, Werner: Zu einem George-Gedicht. In: Monatshefte 43 (1951), S. 39–43. Vordtriede, Werner: The Mirror as Symbol and Theme in the Works of Stéphane Mallarmé and Stefan George. In: Modern Language Forum 32 (1947), S. 13–24. Vordtriede, Werner: The Conception of the Poet in the Works of Stéphane Mallarmé and Stefan George. Evanston 1944. Voß, Torsten: Die Vernichtung des Körpers durch die Geburt des Kunstwerks in der petrarkis­tischmanieristischen Lyrik. In: DVjs 83 (2009), S. 103–128. Voß, Torsten: Die Distanz der Kunst und die Kälte der Formen. München 2007. Wacker, Gabriela: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Mo­ derne. Berlin und Boston 2013 (Studien zur Deutschen Literatur 201). Wägenbaur, Birgit: Hofmann, Ludwig von. In: GHb III, 1441–1445. Walter, Franziska: Kronberger, Maximilian Konrad August. In: GHb III, 252–255. Waters, William: Stefan George’s Poetics. In: JR 25–49. Werberger, Anette: Inszenierung des Unheimlichen. Ein Gedicht Wacław Rolicz-Lieders in der Überset­ zung Stefan Georges. In: CP 53 (2004), H. 261–262, S. 70–86. Werberger, Anette: Stefan George und Wacław Rolicz-Lieder. Anmerkungen zu einer exemplarischen Freundschaft um 1900. In: Polonistyczne spotkania Tybinga. Studia o literaturze polskiej i pols­ ko-niemieckich związkach literackich przełomu XIX i XX wieku. Hg. v. Danuta Knysz-Tomaszewska u. Jadwiga Zacharska. Warszawa 2002, S. 73–80. Wertheimer, Jürgen: Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen. Mün­ chen 1978 (Münchner Germanistische Beiträge 25). Wilke, Jürgen: Das „Zeitgedicht“. Seine Herkunft und frühe Ausbildung. Meisenheim a. Glan 1974 (Deutsche Studien 21). Winkler, Michael: Der Jugendbegriff im George-Kreis. In: „Mit uns zieht die neue Zeit.“ Der Mythos Ju­gend. Hg. v. Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz u. Frank Trommler. Frankfurt/M. 1985, S. 479– 499. Winkler, Michael. Zu einigen Liedern im Siebenten Ring Stefan Georges. In: German Quarterly 38 (1965), H. 3, S. 298–309. Wittmer, Felix: Stefan George als Übersetzer. Beitrag zur Kunde des modernen Sprachstils. In: Germanic Review 3 (1928), S. 361–380. Wolff, Robert: Mensch und Drud – Erfüllung einer Prophetie. Stefan George und die Natur. In: Stefan George – Lehrzeit und Meisterschaft. Bingen 1968, S. 97–110. Wolfskehl und Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897–1946. Hg. v. Mea Nijland-Verwey. Heidelberg 1968 (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 40). Würffel, Bodo: Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges. Bonn 1978 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 249). Zanucchi, Mario: D’Annunzio, Gabriele. In: GHb III, 1329–1332.

    872 

     Ausgewählte Forschungsliteratur

    Zanucchi, Mario: Tra ‚Entsagung‘ e vitalismo: considerazioni sulla poetologia di Stefan George nel ciclo „Das Jahr der Seele“. In: Spazi di transizione. Il classico moderno (1888–1933). A cura di Mauro Ponzi. Milano 2013, S. 179–193. Zierau, Gerhard: Zum Triumfe des großen Lebens … Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel. Eine Deutung. Diss. Leipzig 1939. Zweig, Arnold: Standbild und Einsturz des Stefan George. In: Neue deutsche Literatur 2 (1957), S. 107– 116.

    Namensregister Das Register erfasst ausschließlich Namensnennungen im Haupttext. Die Berücksichtigung der Fußnoten und Siglen hätte den Umfang gesprengt.

    Addens, Ehepaar 778 Adorno, Theodor W. 257, 457, 459, 461, 463, 474, 663, 807 Agathon von Athen 88 Aler, Jan 292, 296–298, 531, 535, 538, 540, 544 Alexander der Große 97, 577 Alkibiades 88, 577 Amiel, Henri-Frédéric 181 Andres, Jan 338, 472, 698, 702 Andrian, Leopold von 313, 471 Anton, Johann 633, 649 Arbogast, Hubert 9, 11, 22, 31, 91, 190, 712–714, 719, 721  f., 724 Aristoteles 508, 577 Arnaut Daniel 679 Arndt, Ernst Moritz 558 Arnim, Achim von 442 Auerbach, Ida, s. Coblenz, Ida Auerbach, Leopold 240 Augustin 269, 271 Aurnhammer, Achim 479, 576 Austermühl, Elke 229 Bachofen, Johann Jakob 492 Balde, Jacob 431 Baldwin, Charles Sears 694 Barrès, Maurice 63 Bassermann, Alfred 684 Baudelaire, Charles 23, 28, 30, 36  f., 45, 91, 93, 95, 106, 181, 183, 192, 225, 450, 454  f., 459, 461, 474, 565, 652, 712–726, 734  f., 769  f., 775  f., 806  f., 812 Bazar, Kazimierz, s. Jarosław Iwaszkiewicz  Beardsley, Aubrey 736 Beckmann, Max 479 Beethoven, Ludwig van 470–472 Bellini, Giovanni 480 Benedikt VIII. 481  f. Benjamin, Walter 143  f., 474, 714, 717 Benn, Gottfried 583 Berger, Erich 681

    Bernus, Alexander von 495, 734, 750 Bertram, Ernst 605, 671 Bertrand, Louis 797, 807  Bierbaum, Otto Julius 440 Bietenhader, D. 776–778 Bismarck, Otto von 338 Blake, William 167 Blumenthal, Albrecht von 561 Bock, Claus Victor 481  f. Böcklin, Arnold 48  f., 102, 335, 343, 345, 349– 355, 615, 811  f. Bodenstedt , Friedrich von 10, 101 Boehringer, Erich 586 Boehringer, Robert 167, 241, 385, 420, 469, 622, 663, 668, 786, 792, 806 Bonagiunta Orbicciani 679  Bondi, Georg 39, 242, 285, 692, 696 Böning, Thomas 669 Booth, Stephen 699, 709  f. Borchardt, Rudolf 216, 238, 356, 413, 415, 442, 449, 451, 683  f., 848 Böschenstein, Bernhard 476, 654, 663 Bouts, Dierick 811  f. Braungart, Wolfgang 223, 388, 459, 466, 620, 651–655, 698, 702 Brentano, Clemens 193, 227, 442, 458 Breuer, Stefan 213, 221 Brodersen, Arvid 754 Brokoff, Jürgen 225, 232, 238 Brück, Luise 114 Bruegel, Pieter (der Ältere) 612  Busse, Carl Hermann 807 Cacciaguida 582, 677 Carlos, Balthasar 35  Carrière, Moritz 285  Casella 679  Cassius Dio 78  Castellari, Marco 461 Catull 107 Celan, Paul 669, 673, 695 Chlodwig I. 596

    874 

     Namensregister

    Ciechanowska, Zofia 788  f., 793, 795 Cimabue 811 Coblenz (spätere Auerbach, Dehmel), Ida 35, 108, 110, 112, 114, 120, 123  f., 149, 160, 173  f., 216, 225, 240  f., 243  f., 248, 259  f., 436, 443, 446, 452, 457, 459, 464, 799, 803, 805, 807, 812 Cohrs, Adalbert 631  f., 639  f., 644, 646  f., 649  f. Coward, Noël 849 Cox, George 267  Cranach, Lukas (der Ältere) 619  Curtius, Ernst Robert 12, 285 D’Annunzio, Gabriele 198, 243, 734, 780–785 Dante Alighieri 37, 339, 343  f., 348, 357, 473, 544, 571, 579, 582, 615, 656, 675–691, 712, 775, 781, 813 Dauthendey, Max 44 David, Claude 46, 91, 298  f., 442, 652, 662 Dedecius, Karl 789, 795 Dehmel, Ida, s. Coblenz, Ida Dehmel, Richard 240 Demetrios Polyorketes 110 Derleth, Anna Maria 469 Derleth, Ludwig 469, 492, 521 Descartes, René 269 Dessoir, Max 6, 554 Diogenes Laertios 109, 114 Dirigl, August 93 Hl. Dominikus 35 Dowson, Ernest 310, 733  f., 736, 738, 742–745 Duerr, Hans Peter 18 Dujardin, Édouard 267 Durand-Henriot, Isabelle 80  Dürer, Albrecht 480 Durzak, Manfred 91, 673 Duthie, Enid Lowry 91 Egyptien, Jürgen 183, 245, 367, 414 Eichendorff, Joseph von 217, 227, 249 Elagabalus (auch: Heliogabalus, Algabal) 60– 63, 69, 72, 78  f., 81  f., 210, 239, 364 Elisabeth von Österreich (‚Sissi‘) 335, 339, 343 Elisabeth zu Hessen 469  Emig, Rainer 738, 744  f., 747 Empedokles 524  f., 603 Epikur 185 Ernst Ludwig von Hessen 469 Eschenbach, Gunilla 284, 337

    Eucken, Rudolf 285 Euripides 109 Faletti, Heidi E. 231, 239, 252 Farrell, Ralph 695, 735  f., 738, 750–752 FitzGerald, Edward 737 Flacourt, Étienne de 106 Floerke, Gustav 353 Fra Angelico 35, 291 Franckenstein, Clemens von 312 Frank, Manfred 414 Franziska von Rimini 679 Frauenlob 130  f. Freud, Sigmund 807 Fricker, Christophe 481  f., 606 Friedemann, Heinrich 636 Friedrich II. 346, 481 Frommel, Wolfgang 263  f., 383, 532, 534, 613, 619, 656, 673 Fuchs, Georg 4, 114 Gadamer, Hans-Georg 656, 669 Gautier, Théophile 130, 225, 450 Geibel, Emanuel 10, 192, 287, 844 George, Anna Maria Ottilie 241, 802 George, Emery 734  George, Eva 4, 6 George, Friedrich Johann Baptist 110, 802 George, Stephan 4, 6 Gérardy, Paul 98, 111, 126, 197, 211, 221  f., 294 Gezelle, Guido 447 Gherardesca, Ugolino della 679  Ghil, René 721, 813 Gildemeister, Otto 684 Giorgione 480 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 215, 339 Glöckner, Ernst 605 Goethe, Johann Wolfgang von 10  f., 17, 31, 39, 42, 84, 167, 235, 278, 284  f., 296  f., 335, 339, 343  f., 347  f., 357, 383, 420, 442, 445, 458  f., 571–575, 601, 613, 615, 652, 656, 662, 666, 668, 672, 676, 845, 848 Goldsmith, Ulrich K. 9, 695 Gomringer, Eugen 464–466 Gomulicki, Juliusz Wiktor 788 Gorter, Herman 771–774 Gothein, Percy 546, 632 Gottschalk, Hilde 613 Grabowsky, Adolf 351

    Namensregister 

    Gramatzki, Hugh 469  Grandidier, Alfred 106 Greenblatt, Stephen 700–702 Groesbeek, Klaas 771  Grünewald, Matthias 471, 476, 478–480 Gsteiger, Manfred 740 Guinizzelli, Guido 679 Günderrode, Karoline von 201–206, 471 Gundolf, Elisabeth, s. Salomon, Elisabeth Gundolf, Ernst 469, 472, 849 Gundolf, Friedrich 4, 18, 44, 96, 160, 260, 265, 269, 273, 285, 291  f., 302, 336, 350, 366, 385, 388, 424, 426, 431, 469  f., 472, 478, 531, 540, 551, 560, 566, 578, 622  f., 634, 654, 662, 692  f., 696  f., 701  f., 704, 707, 772–774, 786, 841, 845 Haan, Willem de 775 Hadrian (Kaiser) 111  Haeckel, Ernst 558 Hallwachs, Karl 114 Hamburger, Michael 466 Harris, Clement 335, 343, 346, 348 Hartmann von Aue 135, 147 Hay, Gerhard 610 Hebbel, Friedrich 195  f. Heckel, Erich 649 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 229, 236, 498 Heidegger, Martin 275, 655  f., 666, 669, 672  f. Heine, Heinrich 450, 732 Heinemann, Katharina 479 Heinrich II. 481 Heiseler, Henry von 468 Heisterbach, Caesarius von 471 Hellingrath, Norbert von 517, 549, 556, 564, 566, 571, 575  f., 589, 636, 652, 814 Helsinger, Elizabeth K. 737  f. Henel, Heinrich 85 Henne, Helmut 11, 233, 237, 239 Henry VIII. 703 Heraklit 508 Herder, Johann Gottfried 107, 442, 522 Heredia, José-Maria de 98, 116, 466  Herodian 78 Herres, Nina 296  f., 670–673, 803  f. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von 669 Heyer, Wolfgang 637 Heyse, Paul 783, 844 Hildebrand, Adolf von 471

     875

    Hildebrandt, Kurt 159  f., 215, 217, 219, 257, 265  f., 268, 270, 274, 452, 455, 588, 654, 838 Hildegard von Bingen 17 Hilsdorf, Jacob 177 Hitler, Adolf 359, 473, 583 Hoffmann, E.T.A. 218 Hoffmann, Friedrich 697, 708  f. Hoffmann, Paul 207, 462  f. Hofmann, Ludwig von 311 Hofmannsthal, Hugo von 24, 44, 50, 60, 74, 84, 109, 116, 174, 193, 196, 201, 258, 347, 352, 474, 655, 734  f., 739, 780, 822, 842, 849 Holbein, Hans (der Jüngere) 292, 304  f.  Hölderlin, Friedrich 3, 238, 274, 431, 450  f., 490, 494, 499, 504, 517, 524  f., 528, 541, 546, 549, 556  f., 564–566, 571, 575–577, 585, 588  f., 592  f., 595, 597, 599, 602–604, 669, 713, 797, 814  f., 836 Holten, Otto von 174, 241, 578, 797 Holz, Arno 193 Homer 105, 448, 473, 508, 573 Horaz 31, 99, 101, 107, 185, 563 Howard, Henry 703 Huch, Friedrich 807 Hugo, Victor 130, 450 Hühn, Peter 704 Husmann, August 223 Husserl, Edmund 155 Huysmans, Joris-Karl 63, 79, 478  f. Ibsen, Henrik 753–759, 768  f. Immer, Nikolaus 337 Isokrates 112 Iwaszkiewicz, Jarosław 787  f., 793 Jacobsen, Jens Peter 460, 753, 757–769 Jean Paul (d.i. Johann Paul Friedrich Richter) 292, 297, 306, 533, 813  f. Jung, Carl Gustav 17, 20 Kahn, Gustave 76 Kahn, Ludwig W. 695, 700, 709 Kaiser, Gerhard 659, 670  f. Kantorowicz, Ernst 582, 849 Karl der Große 471 Karlauf, Thomas 9, 457, 459, 610, 622, 626, 654, 665 Kauffmann, Kai 336, 357, 385, 387–389, 393, 397, 402

    876 

     Namensregister

    Kawerau, Siegfried 336 Keck, Thomas 714  f., 719 Kerényi , Karl 849 Kerr, Alfred 787 Kessler, Harry Graf 848  Kittler, Friedrich 669 Klages, Ludwig 112, 224, 264, 360, 384, 492, 495, 521 Klee, Paul 479 Klein, Carl August 6, 25  f., 43  f., 46  f., 314, 343, 467  f., 722, 724, 771, 797 Klein, Johannes 654 Kleist, Heinrich von 544, 832 Klingenfeld, Emma 756 Klinger, Max 811  f. Kloos, Willem 771  f., 774 Klopstock, Friedrich Gottlieb 31  f., 75, 84, 193, 719, 722 Klussmann, Paul Gerhard 609–611, 623, 670 Koblinsky, Max 772 Kohlschmidt, Werner 759 Kolbe, Uwe 284 Kommerell, Max 649, 652, 655, 659 Konradin von Hohenstaufen 290, 471 Konstantin der Große 585 Kopisch, August 684 Korn, Karl 436 Kraft, Werner 463, 662  f. Kratinos 111 Kronberger, Maximilian 7, 362, 418–424, 427, 443, 448, 473, 494, 542, 578, 590, 592, 604, 639, 646, 648, 663, 672, 702, 775, 811, 815 L’Ormeau, F.W., s. Frommel, Wolfgang  Laktanz 105 Lamia 110 Lampridius 78 Landfried, Klaus 613  f., 665 Landmann, Edith 360, 387, 413, 479, 510, 566, 586, 610, 625, 636, 654–656, 658 Landmann, Georg Peter 197, 233, 423, 610, 713 Lang, Oscar (O.L.) 551 Längle, Alfried 20 Latini, Brunetto 679 Latour, Bruno 602 Le Cardonnel, Louis 63 Lebedewa, Jekatherina 696, 707, 710

    Lechter, Melchior 4, 174, 177, 222, 242, 280, 282, 292  f., 420, 467, 469, 472, 537, 572, 724, 735  f., 759 Leconte de Lisle, Charles 225, 466 Lehnen, Ludwig 707 Lenau, Nikolaus 193–195 Lengeler, Rainer 694, 697 Lenz, Gustav 108 Leo XIII. 343, 348 Lepsius, Reinhold 307 Lepsius, Sabine 216, 307, 469 Lessing, Gotthold Ephraim 812 Lieder, Franz 110 Lieder, Wacław (Wenzeslaus), s. Rolicz-Lieder  Lochner, Stephan 304 Lombard, Jean 79 Lorrain, Jean 62 Louÿs, Pierre 107, 114, 116 Ludwig II. von Bayern 62  f., 93–95, 210 Lukian 123  Luther, Martin 470 Lysippos 810  Macke, August 479 Macrinus 61 Maesa, Julia 70 Maeterlinck, Maurice 479 Mallarmé, Stéphane 3, 23  f., 35, 43, 80–84, 96, 109, 114, 116, 181, 183, 209, 222, 258, 265–269, 275–279, 335, 343, 348, 419, 459, 474  f., 506, 585, 676, 712  f., 719–724, 734, 770, 772, 786, 797  f., 807, 812–815, 826 Manet, Édouard 724 Mann, Klaus 473, 622, 663 Mann, Thomas 475 Marès, Roland de 771 Marius Aurelius Antoninus 60 Martial 107 Martus, Steffen 49, 192  f., 338, 475 Marx, Olga 694, 706, 741, 746, 750–752 Massys, Quentin 811 Mauclair, Camille 267, 279 Maxentius 585 McClain, William H. 734  f., 741  Meessen, Hubert J. 91 Meier-Graefe, Julius 351, 353 Meinke, Hanns 628  Meissen, Heinrich von 130

    Namensregister 

    Meister Wilhelm 304, 476 Melenk, Margot 712, 715, 719–721, 723, 728 Melissus, Paul 41  Mendès, Catulle 62 Menippos 123 Merklin, Franziska 610, 829, 832 Merleau-Ponty, Maurice 511 Metzger, Michael M. 410 Meyer, Conrad Ferdinand 42, 84–92, 560, 652 Meyer-Eckhardt, Victor 551 Mockel, Albert 109 Moeller van den Bruck, Arthur 571 Montefeltro, Bonconte da 679 Montesquiou, Robert de 63  Moréas, Jean 98, 107, 116, 143 Moreau, Gustave 102, 811 Morice, Charles 267 Mörike, Eduard 193, 445, 458, 652 Morris, William 736  f. Morwitz, Ernst 4, 6, 12, 14, 21, 102, 108, 112, 114, 126, 180, 182, 197, 209, 212–214, 219–221, 224, 252, 260, 263, 268, 270, 274, 278, 288, 290, 292  f., 298, 300, 357, 395, 405, 410, 412, 436, 442  f., 447, 467, 469–471, 473, 477  f., 526, 534  f., 538–541, 546, 561, 565, 578, 589, 596  f., 610  f., 614, 619, 622  f., 625, 632, 644, 650, 654  f., 660, 663  f., 667, 737, 797, 803, 808–810, 816, 829, 832 Müller, Max 267  Nietzsche, Friedrich 40, 53, 68, 185, 196  f., 335, 337, 339, 343, 345, 348, 350, 361, 422  f., 479, 508  f., 513, 516, 534  f., 551, 601, 613, 619, 621, 623, 840, 845, 848 Nonnos 813 Novalis (d.i. Friedrich von Hardenberg) 39, 84, 91, 166, 218, 231 Ockenden, Raymond C. 692, 701 Oelmann, Ute 11, 45, 588, 610, 695  f., 707, 734, 751  f. Oestersandfort, Christian 395, 698, 702 Ortlieb, Cornelia 800 Osterkamp, Ernst 366, 391, 572, 577, 609, 612, 614, 622, 639, 654, 745 Osthoff, Wolfgang 619–621 Ostini, Fritz von 352 Otto III. 290 Ovid 7  f., 360, 572, 575

     877

    Pannwitz, Rudolf 347, 776 Papadiamantopoulos, Ioannis 98, 116 Paschal, Léon 211 Paul, Karen 734  f., 741 Péladan, Joséphin 63 Perikles 577 Perk, Jacques 771 Perls, Richard 224, 314, 468 Petersdorff, Dirk von 625  f., 655, 663, 665 Petrarca, Francesco 4, 676, 781 Philaletes 684 Philoktet 103 Phintias 109 Pia de’ Tolomei 679  Pikulik, Lothar 282 Pindar 31, 107, 571, 575, 676, 813 Platon 88, 114, 118, 278, 382, 384, 387  f., 398, 409  f., 413, 525, 551, 636, 688 Podraza-Kwiatkowska, Maria 789 Poe, Edgar Allan 459, 565, 673, 724 Port, Ulrich 461 Pound, Ezra 737 Prang, Helmut 21 Prott, Hans von 603 Proust, Marcel 216, 807 Raffael 305, 479 Rassenfosse, Edmond 111, 115, 197, 211 Reed, Terence James 11 Régnier, Henri de 116, 197, 479, 712, 725 Reiß, Katharina 693 Rembrandt van Rijn 366, 471, 478 Retté, Adolphe 266 Reventlow, Franziska (‚Fanny‘) 492 Riemenschneider, Tilman 481 Rilke, Rainer Maria 84, 764 Rimbaud, Arthur 222  f., 712, 725 Rolicz-Lieder, Wacław 98, 110  f., 126, 221  f., 294, 362, 786–797 Roos, Martin 736 Rossetti, Dante Gabriel 675, 733–748 Rossetti, William Michael 735 Rosżniecki, Stanisław 757 Rouge, Karl (Carl) 46–49 Rousseau, Jean Jacques 576 Ruskin, John 741, 750, 797 Saint-Paul, Albert 24  f., 35, 43–45, 60  f., 108– 110, 113, 124, 479, 725, 786

    878 

     Namensregister

    Saint-Paul, Marguerite 109 Salin, Edgar 565 Salomon, Elisabeth (‚Elli‘) 662 Samain, Albert 198 Sanders, Daniel 47 Sappho 603 Schäfer, Armin 658, 669 Schauman, Eugen 775 Schefold, Bertram 657, 659 Schiller, Friedrich 41, 109  f., 142  f., 166, 825, 828 Schlegel, August Wilhelm 684 Schmidt, Erich 31 Schmitt, Saladin 605 Schmitz, Richard Ferdinand 24 Schmitz, Victor A. 460 Schnorr von Carolsfeld, Julius 305 Schoenfeldt, Michael 697, 701 Schönaich-Carolath, Emil 352 Schönberg, Arnold 149 Schroeder, Hildegard 789 Schubart, Walter 17 Schuler, Alfred 343, 345, 347, 384, 492, 495, 521–523, 603 Schultz, H. Stefan 30, 39, 128, 142, 247, 663  Schultz, Karla 227, 231 Schulz, Gerhard 201 Scott, Cyril 224, 264, 309, 317 Shakespeare, William 10, 48, 287, 358, 571, 605, 645, 670, 676, 692–712, 775, 799 Shelley, Percy Bysshe 167, 734, 776 Siemens, Werner von 93 Siliang, Xue 739 Simmel, Georg 32, 307, 356, 359 Simon, Ralf 34, 257, 414, 417 Simonis, Annette 737 Sinding, Stephan 478 Smetana, Bedřich 407 Sokrates 88, 109, 114, 301, 386, 390, 397, 412, 688 Solon 506  f. Sophie in Bayern 343  Sophokles 577, 810  f. Speier, Hans-Michael 410 Stadler, Ernst 849 Stahl, Arthur 5, 13 Stamm, Rudolf 696, 710 Stanguennec, André 270 Stauffenberg, Berthold Schenk Graf von 359, 649

    Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 359, 649  Steiner, George 383 Steiner, Herbert 561 Stephan I. von Ungarn 481 Stevens, John 704 Strauß, Botho 377 Swinburne, Algernon Charles 451, 454, 667, 733–739, 741–752 Tacitus 105, 581 Taylor, Charles 269 Theokrit 99 Thormaehlen, Ludwig 623, 662 Tiedemann-Bartels, Hella 91 Tizian 479 Toorop, Jan 772  f. Treuge, Lothar 468 Troschel, Hans 578 Turner, Victor 455 Tyrtaios 509 Uhland, Ludwig 104 Uxkull-Gyllenband, Bernhard von 583, 631, 633, 639, 644, 646  f., 649  f., 664 Uxkull-Gyllenband, Woldemar von 578, 631  f. Vaillant-Carmanne, H. 43  Valéry, Paul 24, 461, 474 Vallentin, Berthold 561, 606 Van Deyssel, Lodewijk 771–774 Van Eyck, Jan 177–179 Varius Avitus 61 Velazquez, Diego 35 Vergil 99, 675, 679, 685–691 Verhaeren, Émile 224, 447, 712, 725, 771 Verlaine, Paul 23, 29, 62, 225, 240, 343, 348, 652, 664, 712, 719, 724–732, 734, 739, 770, 772, 812  f. Vermeer, Jan 693, 739 Versari, Margherita 387 Verwey, Albert 224, 308, 310, 336, 350, 447, 468–470, 628, 632, 736, 738, 770–779, 798 Verwey, Katharina (‚Kitty‘ ) 308 Vico, Giambattista 626 Vielé-Griffin, Francis 266, 663  f. Villiers de l’Isle-Adam, Phillippe-Auguste 91, 343, 348 Vloten, Gerlof van 469

    Namensregister 

    Voegelin, Erich 271 Vollmoeller, Karl Gustav 780 Vossler, Karl 683  f. Wacker, Gabriela 337, 414 Wagner, Richard 53, 62, 130, 147 Waldenfels, Bernhard 153 Waldhausen, Balduin 638  f. Walter, Franziska 698, 702 Walzel, Oskar 848 Wasmann, Friedrich 814 Waters, William 234, 238 Wenghöfer, Walter 636  f., 640, 646 Werberger, Anette 790 Wertheimer, Jürgen 622 Wilde, Oscar 739, 849 Wilhelm II. 638, 848 Wille, Eliza 85 Winckelmann, Johann Joachim 40 Winkler, Michael 412, 442–444, 448, 455  f., 638

     879

    Witte, Karl 684 Wittmer, Felix 740 Wolfram von Eschenbach 806 Wolfskehl, Hanna 469 Wolfskehl, Karl 4, 39, 44, 60, 84, 98, 111, 126, 195, 294, 296, 350, 469, 473, 492, 526, 564, 566, 575, 604  f., 652, 668, 735, 753, 775, 788, 791, 814, 829, 841 Wolters, Friedrich 23, 84  f., 159  f., 221, 265, 270  f., 273, 356, 374, 477, 500, 551, 627, 633, 635, 638–640, 648  f., 654, 665, 720, 736, 790  f., 841, 845 Wyatt, Sir Thomas 703  f. Wyzéwa, Teodor de 267 Yeats, William Butler 625, 736 Zernik, Hugo 448, 469 Zierau, Gerhard 282, 288, 291, 296  f., 304 Zimmer-Zerny, Friederike (‚Frieda‘) 114 Zoozmann, Richard 684

    Werkregister Das Werkregister erfasst alle Nennungen von Texten Stefan Georges, die in den Sämtlichen Werken enthalten sind, außerhalb desjenigen Beitrags, der ihnen gewidmet ist.

    DIE FIBEL. AUSWAHL ERSTER VERSE 733

    Tage

    Die Najade 287 Gräber II Leise singen im abendhauche 804 Canzoniere 781

    O mutter meiner mutter und Erlauchte 622

    HYMNEN · PILGERFAHRTEN · ALGABAL 467

    Ich will mir jener stunden lauf erzählen:  720 Vogelschau 209, 325, 621

    HYMNEN 7, 43  f., 48  f., 75  f., 84, 186, 248, 295, 468, 471, 476, 783 Weihe 8, 15, 258, 532, 839 Einladung 259 Neuländische Liebesmahle II. Den blauen atlas in dem lagerzelt 672 Hochsommer 286 Bilder 471 Der Infant 471 Ein Angelico 471, 718 PILGERFAHRTEN 186, 672 Mühle lass die arme still 287 Verjährte Fahrten II. Kein tritt kein laut belebt den inselgarten 198 Die Spange 130 ALGABAL 43  f., 55, 98  f., 105, 116, 159, 187, 210, 212, 216, 219, 229, 231  f., 235, 238, 242, 302, 364, 439, 443, 454, 468, 554 Im Unterreich 187, 210, 213, 720, 812

    Andenken

    DIE BÜCHER DER HIRTEN- UND PREISGEDICHTE · DER SAGEN UND SÄNGE UND DER HÄNGENDEN GÄRTEN DAS BUCH DER HIRTEN- UND PREISGEDICHTE 127 Flurgottes Trauer 672 Der Herr der Insel 326 DAS BUCH DER SAGEN UND SÄNGE 97, 103, 280 Die Tat 672 Frauenlob 671 Sänge eines fahrenden Spielmanns 725 Sieh mein kind ich gehe 823 DAS BUCH DER HÄNGENDEN GÄRTEN 97, 127, 142 Kindliches Königtum 380 Meine weissen ara haben safrangelbe kronen  326

    DAS JAHR DER SEELE 111, 257  f., 259, 263, 279  f., Ihr hallen prahlend in reichem gewande 15, 187 316, 441, 467, 593, 629, 725, 783 Der saal des gelben gleisses und der sonne 187 Daneben war der raum der blassen helle 187 Vorrede der zweiten Ausgabe 441, 593 Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme  187, 365, 439

    882 

     Werkregister

    NACH DER LESE · WALLER IM SCHNEE · SIEG DES SOMMERS Nach der Lese Komm in den totgesagten park und schau: 216, 222, 453, 718, 783 Ihr rufer junger jahre die befahlen 259 Waller im Schnee 216, 229 Ich trat vor dich mit einem segenspruche 259, 732 Die blume die ich mir am fenster hege 459 Dein zauber brach da blaue flüge wehten 259 Wo die strahlen schnell verschleissen 259 Sieg des Sommers Den blauen raden und dem blutigen mohne 805 Überschriften und Widmungen 174, 180, 443, 467 Des sehers wort ist wenigen gemeinsam 810 Sprüche für die Geladenen in T.. 111, 148, 630 Rückkehr 98, 539, 671 Entführung 9 W.L. 362 P.G. 73 A.V. 667 Traurige Tänze 174, 180, 198, 258 Mir ist kein weg zu steil zu weit 259 Ihr tratet zu dem herde 195 DER TEPPICH DES LEBENS UND DIE LIEDER VON TRAUM UND TOD · MIT EINEM VORSPIEL 4  f., 8, 361, 410, 467, 469, 476, 705, 737

    VII Ich bin freund und führer dir und ferge  547, 619 XII Wir die als fürsten wählen und verschmähn  418 XV Dein geist zurück in jenes jahr geschwenkt  303 XVIII Einst werden sie in deinen schluchten spüren 676, 692 XXII So werd ich immer harren und verschmachten 302 XXIII Wir sind dieselben kinder die erstaunt 288 Der Teppich des Lebens Der Teppich 705 Herzensdame 811 Die Maske 725 Die Verrufung 613 Der Täter 613 Der Jünger 260 Der Verworfene 118 Das Kloster 261, 359 Die Lieder von Traum und Tod 297  f., 467 Blaue Stunde 281 Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang:  I Sie die in träumen lebten sehen wach 275, 396 II Ihr kündigtet dem Gott von einst die liebe – 275 Juli-Schwermut 303, 542, 805 Tag-Gesang III 663 DER SIEBENTE RING 111, 257, 471, 554  f., 610, 651 Zeitgedichte 372, 378, 382, 403, 433, 467, 653, 834

    Das Zeitgedicht 357, 468, 472, 474, 716, 726 Dante und das Zeitgedicht 676, 678 Vorspiel 297  f., 415, 422, 619, 811, 821 Goethe-Tag 672 Nietzsche 357, 361, 365, 382, 535, 702 I Ich forschte bleichen eifers nach dem horte 8  f. Porta Nigra 290, 357 II Gib mir den grossen feierlichen hauch 300 Franken 296, 725 III In meinem leben rannen schlimme tage 294 Leo XIII. 802, 811 IV Zu lange dürst ich schon nach eurem glücke.  Carl August 357 303 Das Zeitgedicht 263, 357, 367

    Werkregister 

    Gestalten 397, 467, 821 Der Kampf 378 Manuel und Menes 823  f. Algabal und der Lyder 621 Templer 283, 391 Der Eid 271 Gezeiten 279, 359, 372  f., 435, 467, 543



     883

    Ein Vierter: Schlacht 403 Ein Fünfter: Östliche Wirren 403 Ein Sechster 403

    DER STERN DES BUNDES 120, 261, 268, 271, 364, 374, 382, 396, 437, 468, 475, 571, 579, 588, 597  f., 610, 629, 632, 652  f., 821, 836 Eingang 507, 532  f.

    Für heute lass uns nur von sternendingen reden!  Du stets noch anfang uns und end und mitte 274, 592 590 Betrübt als führten sie zum totenanger 671 Der strom geht hoch . . da folgt dies wilde herz  Der Spiegel 672 278 Lobgesang 361, 372 Ergeben steh ich vor des rätsels macht 823 Nun wachs ich mit dir rückwärts in die jahre 518 Maximin 338  f., 374, 384, 403  f., 433  f., 436, Wer ist dein Gott? All meines traums begehr  ·  467  f., 653 266  f., 385, 504, 526 Kunfttag I 468 Erwiderungen: Einführung 744 Auf das Leben und den Tod Maximins Das Fünfte: Erhebung 9 Gebete I 744 Einverleibung 384, 411, 486, 511, 544, 707 Entrückung 413

    Erstes Buch 532  f., 543

    Lieder I-VI  Im windes-weben 213 Lieder I-III 667 Mein kind kam heim 469, 823 Rhein 660 Verschollen des traumes 263

    Da dein gewitter o donnrer die wolken zerreisst  611 Dies ist der fügung meistes dass du lebst 824 Als sich dir jüngling dein beruf verkündigt 268, 719 Dass unfassbar geschehn in vorgeburten 825 Nennt es den blitz der traf den wink der lenkte: 611, 626 Alles habend alles wissend seufzen sie: 381 Ihr baut verbrechende an maass und grenze:  578, 616 Schweigt mir vom Höchsten Gut: eh ihr entsühnt 278, 536, 667 Wägt die gefahr für kostbar bild und blatt 607, 624  f. Nun bleibt ein weg nur: es ist hohe zeit . . 267, 277 Du hast des adlers blick der froh zur sonne 848 Fragbar ward Alles da das Eine floh: 532

    Tafeln 630, 653

    Zweites Buch

    An Ugolino 660 Kölnische Madonna 304 Winkel: Grab der Günderode 203 Jahrhundertspruch 403 Ein Zweiter 403 Ein Dritter 403, 613

    Die uns nur eignet: dein und meine runde 499 Wer seines reichtums unwert ihn nicht nüzt 119 Was ist geschehn dass ich mich kaum noch kenne 289 Was einst verhohlen quälte ward entschleiert 118 Über wunder sann ich nach 498

    Traumdunkel 467 Der verwunschene Garten 452 Hehre Harfe 268, 277, 671  f. Lieder 398, 467, 507, 653

    884 

     Werkregister

    Vor-abend war es unsrer bergesfeier 602, 821 Die einen lehren: irdisch da – dort ewig . . 699 Drittes Buch 382 Von welchen wundern lacht die Morgen-erde  505, 542, 547, 594, 821  f. Dies ist reich des Geistes: abglanz 396 Wer je die flamme umschritt 119 Neuen adel den ihr suchet 382  f. Vor dem glanz der stetigen sterne 279 Ein wissen gleich für alle heisst betrug. 533 Die weltzeit die wir kennen schuf der geist 520 Hier schliesst das tor: schickt unbereite fort.  505, 632 Als nach der seligen erweckung frist 824 Du trugst in holder scham die stirn gesenkt 522 Schlusschor 834 DAS NEUE REICH 364, 374, 467  f., 473, 554  f., 699, 821

    Seelied 284 Das Wort 268, 326, 331 Das Licht 507 In stillste ruh 820 Du schlank und rein wie eine flamme 329 DANTE. DIE GÖTTLICHE KOMÖDIE. ÜBERTRAGUNGEN 582, 626, 781 ZEITGENÖSSISCHE DICHTER I UND II 111, 243, 664 TAGE UND TATEN Tage und Taten 476 Briefe des Kaiser Alexis an den Dichter Arkadios  111 Bilder 476 Lobreden

    Goethes lezte Nacht in Italien 667, 848 Hyperion I 510 An die Kinder des Meeres 667 Der Krieg 252, 607, 619, 626, 640, 652, 676, 848 Der Dichter in Zeiten der Wirren 252, 473 Einem jungen Führer im ersten Weltkrieg 275 Gebete I 673 Geheimes Deutschland 274, 719, 848 Der Gehenkte 639 Der Mensch und der Drud 283, 380, 804 Der Brand des Tempels 611 Sprüche an die Lebenden 467, 699, 703 Der Schlüssel 620 Sprüche an die Toten 467, 699

    Mallarmé 94, 676, 720, 722 Verlaine 725 Jean Paul 292 Hölderlin 575  f., 588, 713

    Das Lied Schifferlied 251 Horch was die dumpfe erde spricht 617

    Die Herrin betet 610

    Vorrede zu Maximin 416, 419  ff., 426, 486, 490 Betrachtungen

    Rat für Schaffende 676 Über Dichtung 500, 680

    SCHLUSSBAND Manuel 364, 506

    Die Aufnahme in den Orden 15, 291, 610

    Die Beiträger Achim Aurnhammer wurde 1952 in Kirchbrombach geboren und studierte von 1971 bis 1978 Germa­ nistik, Geschichte und Italienisch an den Universitäten Heidelberg und Florenz. 1984 wurde er mit einer Studie zum Motiv der Androgynie in der europäischen Literatur promoviert. 1991 habilitierte er sich mit einer Arbeit zur Rezeption Torquato Tassos in der deutschsprachigen Literatur. Nach einer Vertretungs­professur an der FU Berlin lehrt er seit 1992 als Ordinarius für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Freiburg/Br. mit Forschungsschwerpunkten in der Literatur der Frühen Neuzeit und der Klassischen Moderne sowie der deutsch-italienischen Literaturbeziehungen. Er ist Mitherausgeber des dreibändigen Handbuchs Stefan George und sein Kreis (2012, zweite Aufl. 2015) sowie der Reihen Frühe Neuzeit und Klassische Moderne. Günter Baumann, geb. 1962, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Philosophie und Niederlan­ distik in Stuttgart, München und Leiden. 1996 bis 2013 Redakteur im Verlag Philipp Reclam jun., Ditzin­gen, seit 2013 Mitarbeiter der Galerie Schlichtenmaier, Schloss Dätzingen und Stuttgart. Publikationen: Wolfgang Frommel und das Castrum Peregrini. Dichtung als Lebensform. Würzburg 1995; „Der George-Kreis“. In: Kreise, Gruppe, Bünde. Hg. v. R. Faber u. Ch. Holste. Würzburg 2000, S. 65–84; „›– beinah beten‹. Säkularisierung und R ­ esakralisierung im George-Kreis“. In: Säkularisie­ rung und Resakralisierung. Hg. v. R. Faber. Würzburg 2001, S. 99–116; (Hg.) Stefan George: Ge­dichte. Stuttgart 2004 (Taschenbuchausgabe 2008); Beiträge im Handbuch Stefan George und sein Kreis (2012), im Castrum Peregrini und im George-Jahrbuch. Angela Beuerle studierte Skandinavistik, Germanistik und Musikwissenschaft an der Universität Hamburg, anschließend Promotion mit einer Arbeit zur mittelalterlichen Sprachtheorie (Sprachtheorie im Mittelalter. Ein Vergleich mit der Moderne. 2010). 2006 bis 2013 Dramaturgin für Oper an den Staatstheatern Stuttgart. Seit 2014 Lehrbeauftragte an der Theaterakademie der HfMT Hamburg für Dramaturgie und Regie Musiktheater, freie Dramaturgin; wissenschaftliche Veröffentli­chungen in den Bereichen Skandinavistik, Sprach- und Musikwissenschaft, zahlreiche essayistische Texte, Programmhefte zu Oper und Konzert sowie Übersetzungen aus dem Skandinavischen. Jürgen Egyptien, Jg. 1955, lehrt Neuere deutsche Literaturgeschichte an der RWTH Aachen, von 1999 bis 2007 in der Redaktion der Zeitschrift Castrum Peregrini, von 2000 bis 2006 Stellvertretender Vorsit­zender der Stefan-George-Gesellschaft, Herausgeber der Schriftenreihe Figuren um Stefan George, Beiträger zum Handbuch Stefan George und sein Kreis, seit 2012 Mitglied der Stefan George Study Group am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst. Zahlreiche Publikationen zur Literatur und Ästhetik von der Gothezeit bis heute, Mitherausgeber des 13-bändigen Killy Literaturlexikons (2008–2012), zu George und dem George-Kreis u.  a. Stefan George auf Stift Neuburg (2009), Friedrich Gundolf in Heidelberg (2013) sowie eine Edition der Werke von Ernst Gundolf. Gunilla Eschenbach, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Archivabteilung des Deutschen Literaturar­chivs Marbach und Lehrbeauftragte an der Universität Stuttgart für Neuere deutsche Literatur. Ausge­wählte Veröffentlichungen: Imitatio im George-Kreis, Berlin und New York 2011; (zus. m. Helmuth Mojem) Friedrich Gundolf – Elisabeth Salomon. Briefwechsel (1914–1931), Berlin u. Boston 2015; „Geschichte und Geschichtlichkeit in Stefan Georges Lyrik“. In: Heinrich Detering und Peer Trilcke (Hg.): Geschichtslyrik. Ein Kompendium. Göttingen 2013, Bd. 2, S. 859–884; „Wie dichtet

    886 

     Die Beiträger

    der ‚Urgeist’? Hellingraths Konzept der harten Fügung“. In: Jürgen Brokoff, Joachim Jacob u. Marcel Lepper (Hg.): Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne. Göttingen 2014, S. 107–118. Christophe Fricker ist Autor von Stefan George: Gedichte für Dich (Berlin 2011), Herausgeber des Briefwechsels Friedrich Gundolf – Friedrich Wolters (Weimar 2009) und der Gespräche zwischen Ernst Jünger und André Müller (Weimar 2015), Mitherausgeber (mit Bruno Pieger) eines Cas­trum-PeregriniThemenhefts zu Hölderlin (Amsterdam 2005) und (mit Jane V. Curran) einer englischen Übersetzung von Schillers Essay Über Anmut und Würde. Redakteur von Castrum Peregrini (2000–2006), nach seiner Oxforder Promotion Post-doc an der Duke University und Marie-Curie-Fellow an der University of Bristol, Sprecher der Stefan-George-Forschungsgruppe am Hanse-Wissenschaftskolleg. Zu George erschienen außer den genannten Publikationen zahlreiche Aufsätze und Essays. Antje Hartje, Jahrgang 1980, arbeitet derzeit als Lehrbeauftragte an der Universität Heidelberg und als Sprachtrainerin in der Erwachsenenbildung. Sie promovierte 2012 mit der Arbeit Von der Wahrneh­ mungserschwerung zur Wahrnehmungsverhinderung: Hermetisierungsstrategien bei Stefan George und William Butler Yeats. Ihr Aufsatz ‚William Butler Yeats and Stefan George: Hermetic texts as ritualistic texts‘ erschien in der Zeitschrift Germanistik in Ireland 7 (2012). In Kürze erscheint ihr Beitrag mit dem Titel ‚Literarische Gruppierungen um Stefan George und William Butler Yeats‘ im Sammelband Kreis aus Kreisen. Nina Herres, Gymnasiallehrerin für Deutsch und Latein an einer internationalen Schule. Zuvor Studium der Germanistik, Latinistik, Soziologie und Philosophie in Karlsruhe, Freiburg und Basel. Zwischen 2005 und 2009 Mitarbeiterin beim nationalen Forschungsschwerpunkt „Bildkritik“ an der Universität Basel. Publikationen im George-Jahrbuch 6 sowie in Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch (Berlin 2012). Mitherausgeberin des Tagungsbandes Das lyrische Bild (München 2010), darin: „Kein Ort, an dem der Schwan geschont wird. Epiphanie und Entzug einer Allegorie“. Beitrag im Tagungsband Zwi­schen Architektur und literarischer Imagination (München 2013): „Kammerspiel und Raumangst. Filmi­sche Innenarchitekturen zwischen Expressionismus und Film noir.“ Elke Kasper, promovierte Literaturwissenschaftlerin, studierte an der RWTH Aachen Germanistik und Komparatistik, freiberuflich tätig; Publikationen zur deutschsprachigen Literatur des 18. und 20. Jahrhun­derts, Beiträgerin zum KLG und zum Killy Literaturlexikon. Ludwig Lehnen hat Romanistik und Germanistik an der Sorbonne studiert, an der er 2006 mit einer komparatistischen Arbeit über Mallarmé und George promoviert hat. Daneben hat er Georges dichteri­ sches Werk, Hölderlin, Klages und Derleth ins Französische übersetzt. Er ist Mitglied der Forschungs­ gruppe REIGENN an der Sorbonne/Paris IV und gehört seit 2012 der Stefan George Study Group am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst an. Anika Meier lebt als freie Autorin und Digital Creative in Hamburg. Sie arbeitet an einer Dissertation über Stefan George und die bildende Kunst. Studium der Kunstgeschichte und Germanistik in Heidel­ berg, Stipendienaufenthalte am Deutschen Literaturarchiv (Marbach), am Deutschen Forum für Kunst­ geschichte (Paris) und als Junior Visiting Fellow am Institute for Germanic and Romance Studies der University of London. Franziska Merklin, Senior Lecturer am Department of Romance Languages and Literatures, Colgate University, NY, Veröffentlichungen zu Stefan George und seinem Kreis: Stefan Georges moderne Klas­ sik. Die „Blätter für die Kunst“ und die Erneuerung des Dramas. Würzburg 2014 (Klassische Moderne

    

    Die Beiträger 

     887

    24), Beiträge über Die Blätter für die Kunst in der deutschen Literaturkritik und über Heinrich Friedemann im Handbuch Stefan George und sein Kreis. Raymond Curtis Ockenden, geb. 1936. Studium in Heidelberg und Oxford, Promotion über Themen und Bilder bei Stefan George. Von 1960 bis 1967 Lecturer an der Universität London, von 1967 bis 2003 Lecturer an der Universität Oxford und Fellow in German am Wadham College. Nach Emeritierung Fortsetzung der Lehrtätigkeit in Oxford. Veröffentlichungen hauptsächlich zu deutscher Lyrik; zu George: Stefan George, Leben und Werk, Eine Zeittafel (mit H.-J. Seekamp and M. Keilson), Amsterdam 1972; Aufsätze in Publications of the English Goethe Society (1964 und 2010), Oxford German Studies (1967), Castrum Peregrini (1968), Angermion (2012); in Deutsche Romantik und das 20. Jahrhundert (Stuttgart 1986), in Stefan George, Dichtung – Ethos – Staat (Berlin 2010), in A Poet’s Reich, Politics and Culture in the George circle (Camden House 2011). Bruno Pieger, M. A., geboren 1957 in München, arbeitet als Erzieher in der Kinder- und Jugendhilfe und leitet seit 23 Jahren eine Wohngruppe für männliche Jugendliche, zu der seit 2013 auch junge unbe­gleitete Flüchtlinge gehören. Von 2000 bis 2007 war er redaktioneller Mitarbeiter der Zeitschrift „Castrum Peregrini“; seit 2012 gehört er der Stefan George Study Group am Hanse-Wissenschaftskolleg in Del­menhorst an. Neben editorischen, kommentierenden und rezensierenden Arbeiten verfasste er Aufsätze, Handbuch- und Lexikon-Artikel zu Norbert von Hellingrath, Karl Wolfskehl, Walter Wenghöfer, Rudolf Fahrner, Rudolf Pannwitz, Hölderlin und Martin Heidegger, zuletzt „Hölderlin und das Tragische“. In: Stephen D. Dowden/Thomas P. Quinn (Hg.): Tragedy and the Tragic in German Literature, Art, and Thought. Rochester, New York 2014. Maurizio Pirro lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bari. Forschungs­ schwerpunkte: Aufklärung, Klassische Moderne und Gegenwartsliteratur. Zahlreiche Publikationen zu Stefan George, zuletzt: Come corda troppo tesa. Stile e ideologia in Stefan George (Macerata 2011); Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten. In: GHb I, 122–136; Klang und Rhythmus bei Stefan George. In: Massimo Salgaro, Michele Vangi (Hg.): Mythos Rhythmus. Wissenschaft, Kunst und Literatur um 1900 (Stuttgart 2016), S. 133–142. Robert Rduch, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für germanische Philologie der Schlesischen Universität Katowice, Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur Schlesiens, Deutschschweizer Literatur, Expressionismus, deutsch-polnische Literaturkontakte. Simon Reiser studierte in Tübingen und Freiburg Neuere deutsche Literaturgeschichte und Philosophie. Er promovierte in Freiburg bei Achim Aurnhammer über die Erinnerungskultur im George-Kreis. Seine Dissertation Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George. Formen und Funktionen eines ästhetischen Rituals erschien 2015 und wurde mit dem Gerhart-Baumann-Preis ausgezeichnet. Francesco Rossi ist seit 2011 Forscher (ricercatore) und Lehrbeauftragter für Deutsche Literatur an der Universität Pisa. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Literatur der deutschen Klassik und Romantik sowie des Fin de Siècle und der Zwischenkriegszeit. Ausgewählte Veröffentlichungen: Gesamterkennen. Zur Wissenschaftskritik und Gestalttheorie im George-Kreis (Würzburg 2011). Mit-Hg.: Thomas Mann e le arti. Thomas Mann und die Künste (Rom 2014). „‚Vom Wort ergriffen‘. Weltan­schauliche Verflechtungen der frühen Hölderlin-Philologie. Norbert von Hellingrath im Dialog mit Ludwig Klages und Henri Bergson“, in: Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne. Hg. v. Jürgen Brokoff, Joachim Jacob u. Marcel Lepper (Göttingen 2014), S. 245–266.

    888 

     Die Beiträger

    Armin Schäfer ist Professor für Neugermanistik, insbesondere der Literatur des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart an der Ruhr-Universität Bochum. Veröffentlichungen u.  a. zur Literatur des Barock, der Mo­derne, zum Verhältnis von Literatur und Psychiatrie, zur Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts sowie zu Stefan George: Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik. Köln, Wien, Weimar 2005. Jutta Schloon, Stipendiatin an der Universität Bergen/Norwegen. Ausbildung zur Verlagsbuchhändlerin bei Rowohlt, Studium der Germanistik, Romanistik und Betriebswirtschaftslehre an den Universitäten Freiburg i. Br. (M. A.) und Paris III (Licence franco-allemande). Mitarbeiterin am Literaturhaus Basel und Literaturbüro Freiburg, Wissenschaftliche Koordinatorin des SFB 948 (Freiburg). Promoviert über „Mittel­alter-Imaginationen im George-Kreis“. Beiträge u.  a. im Stefan-George-Handbuch und in Rezeptionskul­turen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur (Hg. v. Mathias Herweg u. Stefan Keppler-Tasaki, Berlin u. Boston 2012). Wolfgang Christian Schneider, Professor für Philosophie, Geistes- und Kulturgeschichte an der Cusanus-Hochschule (Bernkastel-Kues); Gastprofessor an der Universität Hildesheim; seit 2012 Mitglied der Forschergruppe „Stefan George“ am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst, von 1996 bis 2007 im Beirat der Zeitschrift Castrum Peregrini, seit 2010 geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Coincidentia. Veröffentlichungen: Vom Handeln der Römer (1998); Die Elegischen Verse von Maximian (2003); Bernward von Hildesheim (2010); Mit-Hg.: Das Emblem im Widerspiel von Intermedialität und Synmedialität (2007); Mit-Hg.: „videre et videri coincidunt“. Theorien des Sehens in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts (2010); weitere Studien zur antiken und mittelalterlichen Geistes- und Kulturgeschichte sowie zu Stefan George. Torsten Voß, Priv.-Doz. Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Linguistik und Lite­ raturwissenschaft der Universität Bielefeld 2004 bis 2012 im Fachbereich „Germanistische Literaturwis­senschaft“; seit 2013 Lehrbeauftragter ebd., 2013/2014 Postdoc-Stipendiat am Deutschen Literaturarchiv Marbach, seit 2016 Mitarbeiter im FWF-Projekt „Zur Funktion auktorialer Paratexte für die Inszenierung von Autorschaft (um 1800)“ an der Universität Innsbruck. Studium der Germanistik, Geschichtswissenschaft und Pädagogik in Bielefeld, erstes Staatsexamen 2000. Dissertation Die Distanz der Kunst und die Kälte der Formen 2004, Habilitationsschrift: Körper, Uniformen und Offiziere. Soldatische Männlichkeiten in der Literatur von Grimmelshausen und J M. R. Lenz bis Ernst Jünger und Hermann Broch. Forschungsschwerpunkte: Men’s Studies, Neuere deutsche Literaturgeschichte im europäischen Kontext, Rezeptionsästhetik, Lyriktheorie und Lyrik der klassischen Moderne, Metaphorik der Medien, Literarischer Katholizismus, Creative Writing. Tina Winzen studierte in Aachen Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft und Soziologie. Seit 2013 verfasst sie an der RWTH Aachen ihre Dissertation zum Thema ‚Kunstreli­gion bei Stefan George und Botho Strauß‘ und ist Mitglied der Stefan George Study Group am Han­seWissenschaftskolleg in Delmenhorst. Mario Zanucchi, Promotion zur Frühromantik (Novalis – Poesie und Geschichtlichkeit, 2006). Seit 2007 akademischer Mitarbeiter und seit 2014 Akademischer Rat am Institut für Neuere Deutsche Literatur der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Mitarbeit am Stefan-George-Handbuch (Stefan George und sein Kreis, 2012) zur übersetzerischen Rezeption Georges und zum Einfluss des George-Kreises auf die Germanistik. Seine Habilitationsschrift geht u.a. der Rezeption der französischen Symbolisten im dichte­rischen Werk Georges nach (Transfer und Modifikation – Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne 2016).