Stefan George und die Religion 9783110440065, 9783110435900, 9783110434101

Without a doubt, modernism – including aesthetic modernism – has had a complex relationship with religion. Lately, this

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German Pages 266 [268] Year 2015

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Stefan George und die Religion
 9783110440065, 9783110435900, 9783110434101

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Wolfgang Braungart (Hrsg.) Stefan George und die Religion

Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte



Band 147

Stefan George und die Religion  Herausgegeben von Wolfgang Braungart

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.

ISBN 978-3-11-044006-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043590-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043410-1 ISSN 0083-4564 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort und Übersicht über die Beiträge  VII Wolfgang Braungart Romantische Mythopoesie, Georges Mythopoesie  1 Oder: Kann man Mythen machen? Zur Einführung Jürgen Brokoff Prophetie und Erlösung in Stefan Georges Lyrik nach 1900  27 Lothar van Laak Maximin als religiöses Medium  42 Georg Dörr Stefan Georges neopagane Maximin-Religion  52 Bricolage und intramundane Eschatologie Uwe Spörl Gottlose Mystik und Georges poetische Religion  80 Zwei Arten ästhetischer Religiosität in und mit der Literatur um 1900 Jan Stottmeister ‚Richtlinien‘ gegen Rudolf Steiner  98 Theosophie-Kritik als Wissenschaftskritik im George-Kreis um 1910 Wouter J. Hanegraaff Freeing the Ancient Wisdom from Catholic Crusts  113 Stefan George and Incognito Paganism Justus H. Ulbricht Apollo lehnt geheim an Baldur. Oder: Der Dichter ruft die Götter auf  126 Neopagane Kontexte von „Weihe[n]stefans“ Religiosität Uwe Puschner Rasse und Religion  145 Die Ideologie arteigener Religionsentwürfe

VI  Inhalt

Christoph Auffarth Das ‚Dritte Reich‘ – das ‚Geheime Deutschland‘  157 Stefan George im Kontext. Thesen Richard Faber Der Ästhetizist Algabal, der politisch-religiöse Dichter Stefan George und das Problem seines Präfaschismus  175 Almut-Barbara Renger Die Konjunktur des Meisters  197 Stefan George im Spiegel religions- und wissenssoziologischer Studien seiner Zeit Volkhard Krech Wo „Rausch und Helle“ eins werden  222 Stefan Georges Kunstreligion im Lichte von Georg Simmels Religionstheorie Bertram Schefold Götter sehen? – Einführung zu Martin Mosebachs Vortrag  234 Martin Mosebach Stefan Georges Religion  241 Anschriften der Beiträger  254

Vorwort und Übersicht über die Beiträge Welche große Bedeutung das Religionsproblem, wie ich es vereinfachend einmal nennen möchte – denn es ist ein Problem –, für die Moderne und auch für die ästhetische Moderne hat, findet seit einiger Zeit wieder neue Aufmerksamkeit in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung allgemein und auch in der George-Forschung. Immer deutlicher nimmt man wahr, dass Stefan George und sein Kreis keineswegs einen merkwürdigen religiösen ‚Sonderweg‘ gehen, sondern dass sie kontextualisiert werden können, ja müssen. Das verlangt, das gesamte religiöse Feld um 1900 in den Blick zu nehmen, die vielen konkurrierenden Formen von Religiosität und Entwürfe von Religion. Seit jeher gibt es Religion nur im Plural. Für die Moderne gilt das jedoch in ganz besonderer Weise. Schon in den reformatorischen Jahrzehnten öffnet sich das religiöse Feld stark. Sich für das 19. und 20. Jahrhundert allein auf christliche, kirchlich verfasste, konfessionell interpretierte Religion zu konzentrieren, ist nicht genug, erst recht nicht, wenn man das große Thema ‚Religion und die Künste in der Moderne‘ angemessen und differenziert diskutieren möchte. Von ‚neo-‘ und ‚para-‘ oder ‚pseudo-religiös‘ zu sprechen, wie es immer wieder geschieht, scheint in geschichtlicher Hinsicht nicht sinnvoll, weil man damit impliziert, zwischen ‚eigentlicher‘ und ‚uneigentlicher‘ Religion unterscheiden zu wollen. Zwar wurde ‚Georges Religion‘ schon in den 1930er Jahren von der Forschung angesprochen;¹ und das geschieht seither immer wieder. Aber durch die neuere kulturhistorische, religionssoziologische und religionsgeschichtliche Forschung wurden geschichtswissenschaftliche und theoretisch-methodische Grundlagen geschaffen, die auch die George-Forschung von heute nicht ignorieren kann. Nach der weit ausgreifenden Binger George-Tagung von 1998, die sich „Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘“ zugewandt hat,² schien es also angebracht, sich einmal spezifischer mit der Frage der Religion bei George zu befassen. Auch hier hieße es vielleicht besser und offener: ‚Stefan George und die religiösen Tendenzen um 1900‘. Der vorliegende Band dokumentiert nun (mit Ausnahme der Studien von Almut-Barbara Renger und Uwe Puschner) die 1 Vgl. etwa: Wolfgang Heybey: Glaube und Geschichte im Werk Stefan Georges, Stuttgart 1935 (= Religion und Geschichte 3). 2 Vgl. Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘. Für die Stefan-George-Gesellschaft hg. von Wolfgang Braungart, Ute Oelmann und Bernhard Böschenstein, Tübingen 2001. In einem konzisen, kategorial sehr präzisen Beitrag hat Stefan Breuer damals schon die ‚Religion Stefan Georges‘ umrissen; ebd., S. 225–239; er war aus diesem Grund auf der Binger Tagung 2012 nicht vertreten.

VIII  Vorwort und Übersicht über die Beiträge

Beiträge zu einer Tagung, die im Oktober 2012 von der Stefan-George-Gesellschaft Bingen veranstaltet wurde. Es versteht sich, dass Georges mythopoetischer Gott ‚Maximin‘ auf dieser Tagung mehrfach angesprochen wurde. Überraschenderes aber trat auch zu Tage; so die vielfachen Bezüge des George-Kreises zur Theosophie.³ Die Frage, wie ‚es‘ in Deutschland zum nationalsozialistischen Totalitarismus ‚kommen‘ konnte, fordert die geschichtliche Forschung noch immer heraus. Das wird auch in Zukunft so bleiben. Immer wieder hat man versucht, auch George im ‚präfaschistischen‘ Kontext zu sehen; so auch in Bingen. Jeder George-Leser und -Forscher muss sich dazu selbst eine Meinung bilden. Klar scheint nur, dass sich einfache Antworten verbieten, insbesondere bei George selbst. (Anders ist es bei manchem ‚Jünger‘.) Der Erfolg der Nationalsozialisten beruhte doch gerade auch darauf, für komplexeste historische Herausforderungen einfachste ‚Lösungen‘ anzubieten. Allein dies muss jeder Forschung zur Entstehung der nationalsozialistischen Diktatur eine Warnung sein. Generell kann man den Nationalsozialismus nicht undifferenziert mit ‚Faschismus‘ gleichsetzen. Genauer also: Prätotalitaristisch und pränationalsozialistisch ist in gewisser Weise das Deutsche Reich seit 1871, ist die Unfähigkeit des Bürgertums, die im 19. Jahrhundert sakralisierte Nation wirklich zu republikanisieren. Das hätte nämlich bedeuten müssen: das Politische zu einer gemeinsamen, ‚öffentlichen Sache‘ zu machen, die alle angeht. Am Ende des Kaiserreichs steht nicht nur 1914 – großartig noch immer Heinrich Manns literarische Interpretation in seinem Roman ‚Der Untertan‘ –, sondern, letztlich, 1933, auch wenn damit nicht gesagt sein soll, dass das Kaiserreich zwingend auf 1933 zulief und die Weimarer Republik nicht mehr war als ein Interim, das von vornherein keine Chance hatte. Pränationalsozialistisch ist schließlich die rabiate Kulturkritik des 19. Jahrhunderts (etwa Lagarde, Langbehn), die sich einer produktiven, differenzierten Auseinandersetzung mit den Prozessen der Modernisierung konsequent verweigerte. Unser Band ist so angelegt, dass er gleichsam von innen nach außen geht: von George, seinem Werk, seinem Kreis hin zu den geschichtlichen, religiösen und kulturellen Kontexten. Ich will die Beiträge kurz vorstellen: Meine Einführung stellt Georges Mythopoesie in einen Zusammenhang mit dem Projekt des späten 18. Jahrhunderts einer neuen Mythologie, das nun zu

3 Mittlerweile wurde das Thema in einer großen Monographie dargestellt: Jan Stottmeister: Der George-Kreis und die Theosophie. Mit einem Exkurs zum Swastika-Zeichen bei Helena Blavatsky, Alfred Schuler und Stefan George, Göttingen 2014 (= Castrum Peregrini N. F. 6); eine Vorstudie dazu hat Jan Stottmeister im George-Jahrbuch 9, 2012/2013 veröffentlicht: Melchior Lechter, Stefan George und die Theosophie; ebd., S. 33–88.

Vorwort und Übersicht über die Beiträge



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einer genuin poetischen Aufgabe wird. Von dorther stellt sich die Frage – und sie stellt sich bis in die Kunst der Gegenwart hinein –, wie konkret und wie verbindlich die Imaginationen der Kunst in der Moderne überhaupt noch sein können, ohne die Freiheit der Kunst einerseits oder aber eine mythisch-religiöse Intention andererseits zu verfehlen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma, der bis heute gewählt wird, scheint hier eine Ästhetik radikaler Negativität. Jürgen Brokoff zeigt, wie groß die Bedeutung „eines prophetischen Diskurses“ um und nach 1900 war, von dem aus auch Georges Geschichtsprophetie und seine Erlösungsimagination des Maximin-Kults zu beschreiben ist, dessen Anspruch George selbst jedoch in seinen Gedichten von „lösender, erlösender Wirkung“ (Simmel) relativiert. Die „Stimmung“ dieser Gedichte, die auch Adorno fasziniert hat, ihr poetischer Gestus, ist alles andere als kündend und prophetisch. Lothar van Laak deutet, angeregt von neueren Medientheorien (Sybille Krämer) und Autorschaftskonzepten (Steffen Martus), Georges Maximin als „religiöses Medium“, das gerade durch seinen präsentischen Charakter performative und transformatorische Funktionen übernimmt und so Ästhetisches und Soziales zusammenführt. Das Synkretistische gehört seit dem späteren 18. Jahrhundert konstitutiv zu moderner Religiosität. Vielleicht gehört es sogar überhaupt zu ihr? Auch für George und seinen Kreis ist der Begriff in Anspruch genommen worden. Georg Dörr begründet, warum es sinnvoll ist, bei George von einer neopaganen Religion zu sprechen, welche die christlich geprägte Epoche gewissermaßen vorfindet. Aus deren mythologischen und kulturellen Beständen wie auch aus anderen „Elementen“, vor allem der griechischen Philosophie und Mythologie, wird von George und seinem Kreis eine „intramundane Eschatologie“ ‚gebastelt‘ (mit Levi-Straussʼ Terminus: ‚bricolage‘). Uwe Spörl vergleicht Georges „mythopoetische Religion“ mit moderner, „gottloser“ „Neomystik“, die sich um 1900 in unterschiedlichen Ausprägungen bei einer ganzen Reihe von Autoren beobachten lässt. Spörl kann so deutlich machen, wie differenziert sich um 1900 das religiöse Interesse in der Literatur darstellt. Jan Stottmeister ist der umfassende Nachweis zu verdanken, dass der George-Kreis die seinerzeit sehr populäre Theosophie im Detail gekannt und sie durchaus auch zustimmend rezipiert hat (das gilt insbesondere für Melchior Lechter, den George selbst erstaunlich großzügig gewähren ließ). Sie wurde aber auch als Konkurrenz empfunden; gegen sie wurde deshalb polemisiert (so etwa Wolters gegen Rudolf Steiners Variante der Theosophie). Wouter J. Hanegraaff fragt ganz grundsätzlich danach, inwiefern der George-Kreis überhaupt als ein religiöses Phänomen verstanden werden kann, das eher begrifflich-philosophisch denn kultisch zu verstehen und das tatsächlich als ‚heidnisch‘ zu beschreiben ist.

X  Vorwort und Übersicht über die Beiträge

An diesem Begriff des ‚Heidnischen‘, den George für sich selbst auch in Anspruch genommen hat (so im Gespräch mit Edith Landmann), hält auch Justus H. Ulbricht fest, indem er zeigt, wie dicht der neopagane Diskurs um 1900 tatsächlich ist, den Ulbricht, das ist seine dialektische Pointe, als neureligiös versteht. ‚Religion‘ kann nicht von vornherein einen kulturellen ‚Bonus’ beanspruchen; Religion ist nicht an sich harmols und wird allenfalls ideololgisch missbraucht. Uwe Puschner zeigt in seinem Beitrag, wie sich der religiöse Diskurs um und nach 1900 für die völkische Rassenideologie öffnen und wie der christliche Universalismus dabei ‚deutschchristlich’ zu völkischen Religion eingerichtet werden konnte. Christoph Auffarth verortet die allgemeinere geschichtlich-politische Denkfigur vom ‚Dritten Reich‘ und die spezifischere des George-Kreises vom ‚Geheimen Deutschland‘ im religiösen Feld, das im ‚langen 19. Jahrhundert‘ entsteht. Damit plädiert er zugleich dafür, die „Religionsgeschichte des ‚Dritten Reiches‘“ im größeren Zusammenhang mit der „umfassenderen Frage nach Religion und Moderne“ zu sehen. Von hier aus liest er auch Georges ‚Neues Reich‘ neu. Georges Algabal interpretiert den spätrömischen Kaiser als radikalen Ästhetizisten, bei dem sich das Ästhetische und das Moralische völlig trennen. Richard Faber nimmt hier ein präfaschistisches Potential wahr, das im GeorgeKreis virulent bleibe bis in die poetische Konzeption Maximins und dann, in dessen Zeichen, des ‚Neuen Reiches‘ hinein. George habe in der Tat beansprucht, „Herr der Wende“ zu sein und ein „irdisches Reich pflanzen“ wollen. Meister, Jünger, Kreis: George besetzte ein semantisches Feld, das, wie Almut-Barbara Renger zeigt, auch die zeitgenössische Religions- und Wissenssoziologie beschäftigte (Max Weber, Max Scheler, Joachim Wach). Das ist ein in der Kultur der Moderne herausragendes Beispiel für die Wechselwirkungen, die sich zwischen wissenschaftlicher Soziologie und einer einflussreichen Lebenspraxis im Zeichen der Dichtkunst beschreiben lassen. Volkhard Krech zieht für Georges eigentümliche poetische Offenheit zum Religiösen den Begriff der Kunstreligion heran, der zur Zeit wieder in der Diskussion ist. Er beschreibt Georges Kunstreligion von der Religionstheorie Georg Simmels her. Wie wichtig ihre Bekanntschaft für beide, Simmel wie George, war, ist zwar bekannt. Neu stellt Krech jedoch die Frage, inwiefern Simmels Religionstheorie von George selbst inspiriert sein könnte. Abgeschlossen wird der vorliegende Band durch einen Essay Martin Mosebachs, den er selbst in Bingen vorgetragen hat. In diese Lesung führte Bertram Schefold ein. Diese Einführung wird darum hier ebenfalls abgedruckt, zumal sie Mosebach von Georges Auseinandersetzung mit der Religion her zu verstehen versucht.

Vorwort und Übersicht über die Beiträge



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Tagung und Druck der Tagungsergebnisse wurden wieder, wie schon 1998, in großzügiger Weise durch die Fritz Thyssen Stiftung ermöglicht. Dafür danke ich ganz besonders. Die Stefan-George-Gesellschaft mit ihrer Geschäftsführerin Gisela Eidemüller hat die Tagung wieder einmal (und wie schon so oft) hervorragend in Bingen organisiert. Lothar van Laak und Martin Leutzsch (beide Paderborn) haben mich bei der Planung und Vorbereitung der Tagung in freundschaftlicher Großzügigkeit beraten und die Tagung mit mir gemeinsam geleitet. Die Bielefelder Mitarbeiterinnen Tabea Koepp und Ellen Beyn haben mich sehr engagiert bei der Tagungsvorbereitung unterstützt; Jörg Löffler, Lore Knapp, Charis Goer und Ellen Beyn, Bielefeld, haben alle Beiträge Korrektur gelesen; die redaktionelle Mitarbeit übernahm Christina Caroline Peters, ebenfalls Bielefeld. Sie hat es großartig gemacht; unterstützt wurde sie von Sabrina Deppermann und Anna Lenz. Anja-Simone Michalski hat den Band im Verlag vorzüglich betreut. – Ihnen allen gebührt mein herzlichster, aufrichtiger Dank! Bielefeld, im Herbst 2014

Wolfgang Braungart

Wolfgang Braungart

Romantische Mythopoesie, Georges Mythopoesie Oder: Kann man Mythen machen? Zur Einführung¹

I Mythos und Logos, ausgehend von einer Geschichte Auch Wissenschaft hat ihren ‚Sitz im Leben‘: Es war wohl um 1989/1990, als mein verehrter Doktorvater Jürgen Stenzel meine Familie, die seinerzeit noch in der Nähe von Gießen wohnte, wieder einmal besuchte und in seiner für ihn so charakteristischen freundlichen, immer auch ein wenig ironisch getönten Aufmerksamkeit und Zugewandtheit gleich ein Gespräch zwischen Vater und Tochter mitverfolgte. Wir hatten einen ziemlich schwülen Sommertag, ‚schwergelbe Wolken zogen überm Hügel‘.² Das Donnergrollen steigerte sich ständig; immer näher kam das Gewitter. Warum es denn ‚eigentlich‘ – immer diese ‚eigentlichen‘ Fragen! – donnere; und was das sei, ein Gewitter, wollte die damals vier- oder fünfjährige Tochter wissen. Und der Vater, glücklich über die Neugierde seiner Tochter, hob sogleich an: Also das ist so. Ich hab’ dir doch schon einmal erklärt, was Strom ist. Wenn sich im Inneren einer Wolke Spannung aufbaut, dann…Und so weiter und so fort. Jürgen Stenzel, zwar noch immer freundlich, hörte sich das eine Zeit lang an, unterbrach mich dann aber doch, indem er sich direkt an die Tochter richtete. Auf den donnernden und Blitze schleudernden Zeus wollte er dabei natürlich nicht zurückgreifen. Nein, nein, sagte er, das ist ganz anders. Du weißt doch, wo die Engel sind. Die sind im Himmel. Und dort müssen sie auch etwas tun, sonst wird es ihnen langweilig. Immer nur herumsitzen und singen und rühmen, das ist auch für die Engel nichts. Also spielen sie manchmal Fußball. Und immer, wenn einer ein Tor geschossen hat, dann rumpelt es gewaltig. Das kannst du dann auch hören, das ist der Donner. – Dann muss ich vor dem Donner also gar keine Angst haben? Ganz sicher schien sich unsere Tochter nicht, ob sie das wirklich überzeugend finden 1 Dies ist der leicht überarbeitete und ergänzte Text meiner Einführung zur Binger Tagung. Herzlichen Dank an Jörg Löffler und Christina Caroline Peters für Hilfe und Kritik; ebenso an AnjaSimone Michalski! 2 Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. VI/VII (‚Nietzsche‘), S. 12. Im Folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert.

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sollte. Einerseits spielte und schaute sie mit ihrem Vater damals selbst sehr gerne Fußball; es war ihr also klar, dass es da rumpeln konnte. Engel kannte sie selbstverständlich auch. Andererseits konnte sie sich nicht erinnern, dass ihr Vater jemals so mit ihr geredet hätte, wenn es darum ging, die Welt zu erklären, die ihr begegnete. Was wohl Hans Blumenberg zu alldem gesagt hätte?³ Nun sollte man als Literaturwissenschaftler nicht ins Geschichtenerzählen verfallen. Es sei denn zu wissenschaftsdidaktischen Zwecken. Die kann meine kleine Geschichte hier aber gut erfüllen. Mit der Intervention Jürgen Stenzels stand plötzlich eine mythische, also anschauliche, vorstellbare, poetisch-narrative und sinnvolle Erklärung für ein Phänomen, das in der konkreten sozialen Situation der Familie wirklich erklärungsbedürftig war – das Gewitter rückte ja bedrohlich näher –, gegen eine naturwissenschaftliche. Beide konkurrierten sie also in ihrer zentralen Funktion. Aber die mythische Erklärung kam in diesem Fall nach der naturwissenschaftlichen. Hier ging der Weg also einmal vom Logos zum Mythos. Kam dies mythische Erklärung darum auch zu spät? War sie überhaupt noch möglich? War das gute Kind durch die väterliche, wissenschaftliche Rationalität für den Mythos nicht schon verloren? Oder könnten sich mythische und rationale Denkmodelle doch einigermaßen vertragen, vielleicht sogar gutnachbarschaftlich? Die romantische Mythopoesie kam nach der Aufklärung; Georges Mythopoesie kam nach Nietzsches Religionskritik. Wie ich schon sagte: Auch die mythische Kindergeschichte beanspruchte, wie Mythen es überhaupt tun, etwas darstellend zu erklären; sie wollte nicht bloß schön und unterhaltsam sein.⁴ Etwas ironisch, man könnte auch sagen: poetisch, war sie durchaus. Aber die Ironie war nicht so stark, dass sie die mögliche ‚Wahrheit des Mythos‘ für die Tochter gleich zerstört hätte.⁵ Prodesse und delectare, die beiden berühmten Grundfunktionen der Dichtkunst bei Horaz, schließen einander solange nicht aus, wie sie in einem angemessenen Verhältnis zueinander bleiben und kein poetisch-rhetorisches Mittel dermaßen dominiert, dass sich das spannungsreiche Spiel zwischen rhetorischer Intentionalität und poetischer Freiheit auflöst. Leicht kommt man von hier aus auf das Terrain

3 Sehr zugänglich und präzise zum gesamten Komplex Mythos und Mythologie, zu den verschiedenen Konzepten und Theorien, zu den Mythologien der Weltkulturen und Religionen jetzt: Christoph Jamme/Stefan Matuschek: Handbuch der Mythologie. Unter Mitarbeit von Thomas Bargatzky u. a., Darmstadt 2014, vgl. hier besonders die ganz ausgezeichnete Einführung Jammes und Matuscheks ‚Welten des Mythos‘, S. 11–51. 4 Zu dieser ‚dichterischen‘, ästhetischen Wendung, die die Mythostheorie am Ende des 18. Jahrhunderts nimmt: Jonas Christian von Moritz: Die Rezeption von Religion in romantischer und moderner Literatur. Alfred de Vigny – Gérard de Nerval, Frankfurt a. M. 2014, S. 17. 5 Ich spiele an auf Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985.

Romantische Mythopoesie, Georges Mythopoesie



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von Georges Dichtkunst. Sein Werk, besonders das seit dem ‚Siebenten Ring‘, dringt oft so weit in das Rhetorische, in Kritik und Verwerfung, in schärfste Polemik und apokalyptische Prophetie vor, dass die Freiheit der Poesie in Bedrängnis gerät. Er spürte das; er pflegte immer auch andere poetische Töne. Was ein Gedicht sein und welche Wirkung es entfalten kann, führt das balladeske Gedicht ‚Das Lied‘ im ‚Neuen Reich‘ eindringlich vor. Die mythische Geschichte vom himmlischen Fußballspiel war von vornherein nicht konkurrenzlos. In der konkreten sozialen Situation konnten nun beide Erklärungen eigentlich nicht mehr zufriedenstellen. Die rationale Erklärung war sicher in verschiedener Hinsicht – situativ, pädagogisch, entwicklungspsychologisch – unangemessen. Darum war die Intervention völlig berechtigt. Die mythische Erklärung des Naturphänomens erschien jedoch ihrerseits ziemlich deutlich als bloß gemacht, also ‚nur‘ erfunden. Konnte sie dann noch wirkliche geistige und soziale Geltung beanspruchen? Der Spaltpilz innersozialer, hier: innerfamiliärer, Autoritätsbestreitung streute früh seine Sporen. Das tat er auch schon in der griechischen Tragödie, die mythisch-kultisches Spiel vor der Polis und für die Polis war und zugleich individuelles Kunstwerk.⁶ Seither ist der (griechische) Mythos gewusster, bewusster und poetisch reflektierter Mythos. Das ist auch die Situation, die für die Neuzeit spätestens mit dem Ende des 18. Jahrhunderts konstatiert werden muss, die seither in zyklisch scheinender Wiederkehr reflektiert wird und epochalen Charakter hat. Damit habe ich ein Rivalitätsmodell zwischen Mythos und Reflexion angedeutet, das in der Geschichte menschlichen Denkens und menschlicher Weltverhältnisse immer eine wichtige Rolle spielte und auch die kulturwissenschaftliche und philosophische Mythendiskussion bis heute beschäftigt. Als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist es nicht angemessen zu beschreiben. Zudem gibt es geschichtliche Konstellationen, die zeigen, dass das Modell von Rivalität und Konkurrenz selbst womöglich nicht immer greift. Im Neuen Testament zum Beispiel wird über Gott einerseits in mythischer Anschaulichkeit gesprochen, durch die das philosophisch-theologische Problem, wie Transzendenz und Immanenz vermittelt werden können, gelöst wird: Vater und Sohn und der ihnen gemeinsame Geist. Der Sohn wird Menschkind und bekommt Adoptiveltern; so gibt es Familien- und Lebensgeschichten zu erzählen. Gott wird im Neuen Testament andererseits aber auch als Logos und Liebe verstanden; darauf stellt vor allem das Johannes-Evangelium ab. Am Anfang war das Wort, das sogar selbst Gott ist: abstrakter, intellektueller kann man von Gott kaum reden. 6 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991.

4  Wolfgang Braungart

Fasst man, wie es derzeit in der Forschung wieder neu geschieht, die Bibel als Literatur auf,⁷ so macht einem Derartiges kaum zu schaffen. Denn soweit kann sich Literatur eben spannen: vom Allerkonkretesten, Anschaulichen bis hin zum Abstraktesten, das dem philosophischen Begriff ganz nahe kommen kann. So ist es etwa bei Hölderlin, bei Schiller, bei Thomas Mann – und auch bei Stefan George. „Kein ding sei wo das wort gebricht“: Das ist in eins Poesie und Sprachphilosophie.

II Das Maximin-Problem: Zwei Fragen Mindestens zwei Fragen lassen sich mit meiner kleinen Beispielgeschichte im Hinblick auf das Thema der Binger Tagung, damit auch auf den hier nun vorliegenden Tagungsband, auf George und vor allem den sogenannten Maximin-Kult (war es einer?) stellen: 1.

Kann man Mythen machen? Was können sie leisten, wenn ihre Gemachtheit verstanden wird? Oder müssen sie nicht in einem nicht leicht genau rekonstruierbaren, geschichtlich-kulturellen Diskursgeschehen gleichsam von selbst entstehen, muss man sie nicht vorfinden können, wenn sie religiös, sozial und gesellschaftlich tragfähig und sinnstiftend sein sollen? Schleiermacher hatte im Jahre 1800 diese Frage für die ‚neue Mythologie’ Schlegels schon aufgeworfen.⁸ Wenn Mythen gemacht werden, haben sie etwas Voluntaristisches und Dezisionistisches; sie hängen von dem ab, der sie macht. Das ist bei George so und auch bei anderen religiösen Bewegungen um 1900. Doch was meint das dann, dass Mythen entstehen? Sie entwickeln sich in kulturellen Praktiken und Kommunikationsprozessen.⁹ Unter welchen Be-

7 Vgl. Andrea Polaschegg/Steffen Martus (Hg.): Das Buch der Bücher – gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten, Bern – Berlin u. a. 2006; Hans-Peter Schmidt/Daniel Weidner (Hg.): Bibel als Literatur, Fink, München 2008; Hans-Peter Schmidt: Schicksal, Gott, Fiktion. Die Bibel als literarisches Meisterwerk, Paderborn u. a. 2005. – Diese Publikationen beziehen sich auch auf die wichtige anglo-amerikanische Forschung (z. B. Frye, Bloom). 8 „Nur die neue Mythologie hat mir so etwas Sonderbares an sich; ich kann nicht begreifen, wie eine Mythologie gemacht werden kann.“ Brief Schleiermachers an Karl Gustav von Brinckmann vom 22.3.1800. In: Friedrich Schleiermacher: Aus Schleiermachers Leben. In Briefen. Bd. 4. Hg. von Wilhelm Dilthey, Berlin 1863, S. 61. – Zitiert auch bei Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006 (= Palaestra 323), S. 432, Anm. 274. Damit sei zugleich auf diese grundlegende Studie zur modernen Kunstreligion nachdrücklich hingewiesen. 9 Was damit gemeint ist, kann man sich ein wenig an sprachlichen Innovationen klar machen. In den meisten Fällen kann man nicht sagen, woher sie kommen, wie sie konkret ent-

Romantische Mythopoesie, Georges Mythopoesie



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dingungen wäre das möglich? Hätte die Tochter diese familiär gemachte Geschichte in den Kindergarten getragen und sie mit dem Anspruch auf Geltung erzählt, wäre das sicher nicht gut gegangen, weil die gemachte mythische Geschichte von den anderen nicht gekannt und deshalb nicht geteilt worden wäre. Wenn man jedoch bejahen wollte, dass Mythen auch gemacht werden können: mit welchem Sinnanspruch dann und um welchen intellektuellen und sozialen Preis in aufgeklärter, „nachmythischer Zeit“?¹⁰ Dass er in dieser lebe, war schon Hölderlin vollkommen klar, als er Christus als antiken Heros deutete, ihn Herakles und vor allem Dionysos an die Seite stellte und in ihm den Abschluss der geschichtlichen Großepoche der Antike sah, bevor die pneumatische Epoche, die mythen- und bilderlose Epoche des Geistes anbrach, in der wir Heutigen noch immer verharren. Besonders eindringlich und konsequent gestaltet Hölderlin diese Geschichtsdeutung in seiner großen Elegie ‚Brod und Wein‘.¹¹ Obwohl für Hölderlin der Mythos auch das kulturelle Material war, auf das er zurückgreifen konnte; obwohl der Mythos gewissermaßen auch das war, was sich z.B. in Benjamin Hederichs ‚Gründlichem mythologischem Lexikon‘ (1770) nachschlagen ließ, war er doch nicht einfach allegorisch in abstrakte religiöse, moralische oder geschichtliche Bedeutung übersetzbar. Er war und ist auch das der menschlichen Einbildungskraft ganz Gemäße. Er steht gleichsam dazwischen. Er muss anschaulich überzeugend und aus sich heraus evident sein; und er muss wirklich etwas zu sagen haben. Hölderlins Lyrik gelingt dies, wie um 1800 wohl kaum einem poetischen Werk sonst.¹² Goethe gelingt dies zum Beispiel in den standen sind und wer sie zu verantworten hat. Sie entstehen und setzen sich in Kommunikationsprozessen durch. Ich weiß nicht, woher die sehr anschauliche Metapher des ‚Kampfradlers‘ für einen Typus von Radfahrer, der die Straßen moderner Städte nicht gerade sicherer macht, kommt. Aber jetzt ist sie da und etabliert; man wird sehen, wie lange sie im Sprachgebrauch bleibt. 10 Vgl. Bernd Seidensticker/Martin Vöhler (Hg.): Mythen in nachmythischer Zeit. Die Antike in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart, Berlin – New York 2002. 11 Zu dieser geschichtsphilosophischen Deutung Hölderlins vgl. vor allem Jochen Schmidts Kommentare (und Nachwort) in der Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlags und ders.: Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen. ‚Friedensfeier‘ – ‚Der Einzige‘ – ‚Patmos‘, Darmstadt 1990. 12 Dass ich hier besonders auf Hölderlin hinweise, liegt nahe. Hölderlin hatte für George und seinen Kreis größte Bedeutung. George und Norbert von Hellingrath haben gemeinsam an der philologischen Erschließung von Hölderlins hymnischem Spätwerk gearbeitet. Vgl. Jürgen Brokoff, Joachim Jacob und Marcel Lepper (Hg.): Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der Moderne, Göttingen 2014.

6  Wolfgang Braungart

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mythisch so produktiven Balladen ‚Der Erlkönig‘ und ‚Der Fischer‘ (1782), die Naturverhältnisse so großartig ins poetische Bild bringen, dass hier an der mythisch produktiven Kraft der Poesie kein Zweifel sein kann.¹³ Georges Maximin-Mythos war ein gemachter Mythos, der an den MythenMacher gebunden war. Was das genauer bedeutet, in welcher geschichtlichen und kulturellen Situation, in welchem Kontext sich dieses MythenMachen abspielte: auch das werden die folgenden Beiträge besprechen.¹⁴ Es ist wohl so: Religionen brauchen Mythen, also – in einem weiteren Sinne – erklärende Geschichten, die überindividuell verbindliche Geltung beanspruchen und anschaulich, vorstellbar, sinnlich sind. Reine Ritualreligionen ohne zentrierende, ästhetisch erfahrbare Verbindlichkeit kann es kaum geben, auch wenn religiöse Rituale nicht in jedem Fall performative Realisierungen von Mythen sein müssen und Mythen keineswegs immer die anschauliche, vorstellbare Nacherzählung von Ritualen zu sein brauchen. Das Verhältnis von Mythos und Ritual ist ein altes und großes, wohl kaum je verbindlich zu klärendes Problem der Religionswissenschaft.¹⁵ Kann es aber nicht auch Mythen geben, ohne dass sich mit ihnen der Anspruch auf Religion, also auf eine gemeinschaftliche Praxis im Zeichen des Religiösen verbände? Welche Bedeutung hätten sie dann? Wären diese Mythen nicht das genuine Feld der Poesie, wie dies schon die Romantik behauptete? Denn es gehört zu ihren Diskursregeln, dass sie Imaginationen hervorbringen kann, die dann hohe ästhetische Verbindlichkeit haben, wenn der poetische Text wirklich etwas taugt. Für Hölderlin gilt das ohne Zweifel. Der George-Kreis räumt dieser ästhetischen Verbindlichkeit der poetischen Imagination besondere Bedeutung ein. Ist das aber im Falle des poetischen Gottes Maximin berechtigt? Könnte von dieser poetischen ‚Maximin‘Imagination – Maximin-Mythologie? – eine neue gemeinschaftliche Praxis ausgehen (wie in der Romantik von der neuen Mythologie ersehnt)? In

13 Vgl. ausführlicher zu diesen Überlegungen Verf.: Das religiöse ist ein ästhetisches ist ein politisches Projekt. Zu Friedrich Hölderlins Fragment Über Religion (1796/97) im Kontext der Debatten um Religion und Mythologie (Lessing, Friedrich Schlegel). Demnächst in: Cultura Tedesca 2015. 14 Ich selbst führe es etwas genauer aus in: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, und in meinem diese Überlegungen weiter entwickelnden und systematisierenden Artikel ‚Poetik, Rhetorik, Hermeneutik‘ im kürzlich erschienenen George-Handbuch: Achim Aurnhammer/Verf./Stefan Breuer/Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. 2, Berlin – Boston 2012, S. 495–550. 15 Zum Konzept ‚Religion‘ und seiner neueren Diskussion sei nur hingewiesen auf: Martin Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007.

Romantische Mythopoesie, Georges Mythopoesie



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diesem Sinne wäre die Poesie dann einerseits die Nachfolgerin der Religion, andererseits eben doch auch etwas wirklich anderes und wohl konstitutiv überfordert.

III Mythos und Religion in der Aufklärung: Lessing und Goethe Indem die mythischen Geschichten als solche transparent und ins reflektierende Bewusstsein gehoben werden, wie in meiner Beispielgeschichte geschehen, werden auch die Gemeinschafts- und Lebensformen transparent, die sich im Zeichen des Mythischen konstituieren. Das kann man an Lessings letztem Drama ‚Nathan der Weise‘ studieren, aber eben auch am George-Kreis, der von außerhalb mit großer Skepsis betrachtet wurde. Lessings ‚Schauspiel‘ ist genau in diesem Sinne ein Drama der Aufklärung, als es die rechte Deutung der mythischen Geschichte, die freilich ‚gut erzählt‘ sein muss, wie Saladin sagt, letztlich der Lebenspraxis überantwortet.¹⁶ Es ist insofern ein ‚Tragödienvermeidungsdrama‘, weil es dem unaufgeklärten, nicht reflexiven, ‚nur‘ mythischen Verhängnis des Religionsstreites durch ästhetisch kompetente und sozial verantwortete Kommunikation entkommen will. Ein Tragödienvermeidungsdrama ist auch Goethes ‚Iphigenie‘. Agamemnons Tochter geht erst dann von Thoas und Tauris weg, als sie meint, sicher sein zu können, dass von nun an zwischen Taurern und Griechen „ein freundlich Gastrecht“ waltet (V, 6, V. 2153) und Thoas sie deshalb mit „Lebt wohl!“ (V, 6, V. 2174) verabschiedet, also nicht „ohne Segen“, sondern nur mit einem schroffen „So geht!“ (V, 6, V. 2150 f.). Dieses „Lebt wohl!“ muss er ernst meinen; und solange, bis das gilt, muss weiter beharrliche Kommunikationsarbeit geleistet werden.¹⁷ Nach den Lebens- und Gemeinschaftsformen, die sich im Zeichen des transparent gewordenen Mythischen konstituieren sollen, wurde bei Lessing wie bei Goethe auch das Mythische selbst bewertet. So geschah es ebenfalls während der brodelnden, revolutionären, aber auch utopisch-geselligen Frühromantik;

16 Dazu Annemarie Gethmann-Siefert: Schiller und Lessing. Aus Geschichte(n) lernen. In: Christoph Jamme/Gerhard Kurz (Hg.): Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800, Stuttgart 1988 (= Deutscher Idealismus. Philosophie und Wirkungsgeschichte in Quellen und Studien 14), S. 238–258, hier bes. S. 242ff. 17 Vgl. Verf.: Die Anfänge der Moderne und die Tragödie. In: Sabina Becker/Helmuth Kiesel (Hg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, Berlin – New York 2007, S. 61–96.

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und so auch in dem schon früh sogar als sektenhaft, elitär und exklusiv beschriebenen George-Kreis. In Lessings ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ von 1780 wird der Streit zwischen Vernunft und Offenbarung, der zentral für die theologische Debatte der Aufklärung ist, so gelöst, dass die Offenbarung selbst als erzieherischer Schritt der Menschheit auf ihrem Weg des Fortschritts hin zu ihrer „Vollendung“, also zu sich selbst, verstanden wird. Damit gewinnt sie einerseits einen tiefen innerweltlichen, geschichtlichen Sinn und wird doch andererseits zugleich depotenziert. Wenn Religion die wichtigste ‚Erzieherin der Menschheit‘ ist, werden auch ihre mythischen Geschichten und Vorstellungen geschichtlich relativiert. Irgendwann werden sie nämlich nicht mehr notwendig sein. Irgendwann wird die Tochter einsehen, dass Blitz und Donner aus einer gewaltigen Spannungsdifferenz in den Wolken entstehen und nicht das Gerumpel der im Himmel Fußball spielenden Engel sind. Aber gilt, was für die geistige Entwicklung des Individuums vielleicht gelten mag, auch für unsere ganze Gattung? Der Katzenjammer über die aufklärerische Rationalisierung von Mythos und Religion, die ich hier nur in holzschnittartiger Knappheit skizzieren konnte, war bald groß, schon in den 1790er Jahren. Rufe nach einer neuen Mythologie, einer neuen Religion wurden laut. Bis heute kämpft besonders der bilderfreudige Katholizismus (hier, im George-Kontext, darf er aus gutem Grund in Erinnerung gerufen werden), der nicht nur auf den inneren Glauben und damit auf die Bekenntnis- und Entscheidungsleistung des Subjekts, sondern mindestens ebenso sehr auf ästhetische Erfahrung setzt, mit sich selbst um ein positives, anerkennendes Verhältnis zur Aufklärung, das ihre Leistungen würdigen und integrieren kann.¹⁸ Aber zu dem gerade im Katholizismus durchaus noch immer beliebten ‚Aufklärungsbashing‘ ist hier nur dies zu sagen: Was sich als so mächtige geistige Bewegung in ganz Europa entfaltet, das kommt nicht aus bloßer subjektiver Willkür und Frivolität einiger Freigeister.

18 Die Probleme des Katholizismus mit der (ästhetischen) Moderne sind eindrucksvoll und umfassend behandelt worden von Jutta Osinski: Katholizismus und deutsche Literatur im 19. Jahrhundert, Paderborn u. a. 1993; später dann von Susanna Schmidt: ‚Handlanger der Vergänglichkeit‘. Zur Literatur des katholischen Milieus 1800–1950, Paderborn u. a. 1994. In der sogenannten Literaturtheologie haben katholischerseits vor allem die Theologen Karl-Josef Kuschel, Erich Garhammer und Georg Langenhorst den notwendigen Spielraum moderner Kunst und Literatur zu würdigen gewusst (vgl.: Erich Garhammer/Georg Langenhorst [Hg.]: Schreiben ist Totenerweckung. Theologie und Literatur, Würzburg 2005; Georg Langenhorst: Theologie und Literatur. Ein Handbuch, Darmstadt 2005).

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IV Zwei Beispiele aus der Kunstgeschichte: Rubens und Lorenzo Lotto Vielleicht haben wir uns mit unseren Epochengliederungen ein wenig zu bequem eingerichtet. Die ästhetische Auseinandersetzung mit einer im Mythos fundierten Religiosität ist ja keine Erfindung der Aufklärung, wie ich mit dem Hinweis auf die griechische Tragödie schon angedeutet habe. Sie ist seit der Antike eine Sache der Künste; und sie ist es unvermeidlich, weil jede ästhetische Darstellung selbst schon ein reflexives Moment birgt. Welches theologische Potenzial in den Künsten selbst steckt, haben im 20. Jahrhundert für die deutschsprachige katholische Theologie vor allem die großen Entwürfe Hans Urs von Balthasars und Alex Stocks eindringlich deutlich machen können. Religion ist in ganz grundlegender Weise ein ästhetisches System, und dies nicht erst seit Schleiermachers Wendung zu ‚Sinn und Geschmack fürs Unendliche‘ im Subjekt. Der evangelische Theologe Klaas Huizing geht noch einen Schritt weiter (und führt zugleich die Schleiermacher-Tradition fort), wenn er eine ‚Ästhetische Theologie‘ entwirft¹⁹ – und Romane schreibt.²⁰ Ich greife zur weiteren Veranschaulichung, ziemlich willkürlich, einige Beispiele aus der Geschichte der bildenden Kunst heraus. Zunächst die Marienkrönung von Peter Paul Rubens von ca. 1625 in den Musées royaux des Beaux-Arts in Brüssel. Gottvater ist auf eine bemerkenswert zurückgenommene Weise dargestellt. Man muss nur sein leeres, flaches, ja banales Antlitz mit der Kraft, Vitalität und Schönheit Jesu und Marias vergleichen. Sicher: Maria und Jesus sind klar im Vorteil. Sie sind Menschen; sie kann man malen – zumal wenn man malen kann wie Rubens. Wie soll man Gottvater auch darstellen? Das alte Problem der Darstellung von Transzendenz: Nicht nur sollst du dir kein Bildnis machen – du kannst es auch nicht! Du kannst es allenfalls symbolisch. Hier deutet sich ein systematischer Grund für die Verbindung von Kunst und Religion gerade in der Moderne an. In der Kunst, so etwa bei Kandinsky, kann ‚das Geistige‘, das, was sonst nicht sichtbar wäre, ästhetische Gestalt annehmen und ästhetisch erfahren werden. Es scheint so, als schreckte Rubens förmlich vor einer solchen, religiös hier geforderten, theologisch aber unmöglichen mythischen

19 Die einschlägigen Werke Hans Urs von Balthasars sind so zahlreich, dass sie hier nicht genannt werden können; von Alex Stock zentral: Poetische Dogmatik. Bisher 9 Bde., Paderborn u. a. 1995ff.; von Klaas Huizing vgl.: Ästhetische Theologie. 3 Bde., Stuttgart 2000–2004. 20 Zuletzt: Mein Süßkind. Ein Jesus-Roman, Gütersloh 2012.

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Naivität zurück. Und damit entsteht eben auch ein ästhetisches Problem, nicht nur ein theologisches und religiöses.²¹

Abb. 1: Peter Paul Rubens: Marienkrönung, um 1625, Öl auf Leinwand, 415 x 257 cm; Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel.

21 Es geht meines Erachtens also nicht nur um die Spannung zwischen monotheistisch gefordertem Glauben und polytheistischer Erfahrung (dazu hat Michael Mandelartz, Meiji-Universität Tokyo, 2011 an der Universität Bielefeld einen sehr anregenden Vortrag gehalten), sondern um Mythos und Religion unter der Bedingung kritisch-reflexiven Bewusstseins.

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Man müsste einmal eine Geschichte der Gottvater-Darstellungen schreiben; es wäre eine lohnende Aufgabe!²² Noch drastischer zeigt sich das Problem bereits genau ein Jahrhundert vorher in der Dreifaltigkeitsdarstellung des aus Venedig stammenden Malers Lorenzo Lotto, der zwischen 1513 und 1526 in Bergamo tätig war:

Abb. 2: Lorenzo Lotto, Trinità, 1523/1524, Öl auf Leinwand, 170 x 115 cm; Chiesa di Sant’ Alessandro della Croce, seit 2000 Dauerleihgabe im Museo Diocesano Adriano Bernareggi, Bergamo. – Genehmigung der Reproduktion durch die Fondazione Adriano Bernareggi. 22 Vgl. aber für die Theologie Stock, Poetische Dogmatik (Anm. 19), Gotteslehre, Bd. 3: Bilder. Stock rekonstruiert, wie sich das christliche Gottesbild poetisch und ästhetisch konstituiert.

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Welcher Transzendenz soll man sich hier bloß anvertrauen, wenn sie auf diese Weise ästhetisch ‚gemacht‘ wird? Bei Lotto ist von Gottvater nicht mehr zu sehen als ein grauer, gespenstischer Schatten, dessen Umrisse den göttlichen Vater nur erahnen lassen. Die Konturen des väterlichen Schattens, der über dem Sohn liegt, erinnern an das symbolische Dreieck der Dreifaltigkeit und bringen Gottvater so in den ikonographischen Zusammenhang des Bildes. Das ist eine kühne Bilderfindung,²³ die brisante Deutungen provozieren kann: Von wem stammt dieser Gottessohn wirklich ab? Wie kann er „eines Wesens mit dem Vater“ sein, „gezeugt, nicht geschaffen“ (nach dem Glaubensbekenntnis des Konzils von Nicäa, 325 n. Chr.), wenn sein Vater sich so zeigt? Gerade indem das Bild die aesthetico-theologische Problematik, wie die Transzendenz dargestellt werden kann, zu umgehen versucht, stellt sie sie förmlich aus. Fast möchte man sagen: Der verklärte, zum Himmel auffahrende Gottes- und Menschensohn dürfte dort oben erst recht nichts Gutes zu erwarten haben, wo es ihm auf Erden schon so schlimm ergangen ist (er zeigt, wie es dem ikonographischen Typus entspricht, deutlich seine Wundmale). Vampirartig scheint die düstere, graue Eminenz des Vaters gleich auf den Sohn zugreifen zu wollen. Der ist deshalb dazwischen am besten aufgehoben. Aber kann er dann noch ein Mittler sein? Zwischen welchem Himmel und welcher Erde? Die harmonische Ideallandschaft, über der Christus schwebt, schaut nämlich nicht sonderlich erlösungsbedürftig aus. In den kleinen, sehr unscheinbar bleibenden Szenen, die sich in dieser Landschaft abspielen, sieht man unten links einen Zug von Menschen, darunter geharnischte Ritter und Packesel, die von einem Landgut aus aufbrechen. Mitten im Wald lässt sich ein Mann erkennen, der einem Ziegenbock nachrennt, während auf einer Lichtung zwei Männer eine Schafherde hüten. Als Anspielungen auf die Leidensgeschichte, die eigentlich nahegelegen hätten, lässt sich all das kaum deuten. Kein Wunder, dass Christus den Kopf melancholisch-ernst zur Seite neigt.

V Romantische Mythopoesie: Hölderlin und Friedrich Schlegel Angeregt von diesen systematischen Darstellungsproblemen, möchte ich eine erste These mit Bezug auf George wagen: Zwar unterscheidet George selbst

23 Vgl. David Alan Brown/Peter Humfrey/Mauro Lucco: Lorenzo Lotto. Il genio inquieto del Rinascimento, Mailand 1998, S. 142–144. – Ich danke Guglielmo Gabbiadini, Universität Bergamo, sehr herzlich dafür, dass er mich auf dieses Gemälde aufmerksam gemacht hat, ebenso für seine Ratschläge bei der Deutung des Bildes und auch für den Literaturhinweis; dem Museo Diocesano Adriano Bernareggi, Bergamo danke ich für die Bereitstellung einer Reproduktion und die Erlaubnis, diese zu drucken.

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streng zwischen dem früh verstorbenen Münchner Jungen Maximilian Kronberger und seinem poetischen Gott Maximin. Aber die Spuren von Maximin zurück zu dem jungen Maximilian haben er und der Kreis nie verwischt. Auf diese Weise gibt der reale Kronberger dem poetischen Mythos Maximin einen empirischen Grund und Konkretheit. Diese ‚Erdungs‘- und Konkretisierungsversuche des Mythischen und Religiösen gibt es in den verschiedenen neo- und parareligiösen Entwicklungen um 1900, wie die folgenden Beiträge unseres Bandes belegen, zuhauf. Das romantische Konzept einer neuen Mythologie (Schlegel, Novalis, Hölderlin) und einer „Mythologie der Vernunft“ (so das sogenannte ‚Älteste Systemprogramm‘ von 1796, das vermutlich von Hegel, Hölderlin und Schelling gemeinsam verfasst wurde) versuchte, eine Antwort auf die Problemlage zu geben, die durch die aufgeklärte Theologie und Philosophie entstanden war und die eine staunenswerte argumentative Differenziertheit erreicht hatte. Die Poesie soll nämlich diese neue Mythologie sein, weil die alte nicht mehr trägt. So versteht es Friedrich Schlegel in dem für dieses ganze Problemfeld wohl wichtigsten Text der Frühromantik, dem ‚Gespräch über die Poesie‘, das die ‚Rede über die Mythologie‘ enthält und genau im Jahre 1800 im ‚Athenäum‘ veröffentlicht wurde. Hier wird die Idee einer neuen Mythologie, die eben auch eine sozial integrative sein müsste, mit der kritischen Reflexion der Rolle der Poesie selbst verbunden. Beide, Mythologie und Poesie, werden derart intensiv aufeinander bezogen, dass sie schließlich geradezu identisch erscheinen. Zugespitzt: Die notwendige neue Mythologie ist die neue, moderne, ‚romantische‘ Poesie, „das Künstlichste aller Kunstwerke“, wie Schlegel sagt.²⁴ Hier wirkt ohne Zweifel Herders Konzeption nach. Die Poesie ist bei Herder die grundlegende kulturelle Kraft für das, was das ‚Volk‘ sein soll. Auch für Schlegel ist die künftige, ganz und gar ‚künstliche‘, also zu machende Poesie, wie die zu machende Mythologie, dennoch etwas zugleich Ursprüngliches, Elementares. Sie geht nämlich „aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor“.²⁵ Wenn das der Fall ist, kann man sie, ja muss man

24 Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von JeanJacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 2. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe. Charakteristiken und Kritiken 1 (1796–1801), Paderborn 1967, S. 312 (im Folgenden abgekürzt mit KFSA, Bandnummer, Seitenzahl). Ich übernehme im Folgenden – etwas verändert – eine längere Passage aus: Verf.: „Jedes Werk wie eine Schöpfung von vorn an aus Nichts“. Utopie-Reflexion, SubjektKonzept und Poesie im ‚Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus‘ (1795/1796) und in Friedrich Schlegels ‚Rede über die Mythologie‘/‚Gespräch über die Poesie‘ (1800). In: Study of the 19th Century Scholarship 7, 2013, S. 33–49, hier S. 46–49. 25 KFSA 2 (Anm. 24), S. 285.

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sie sogar machen. Ich zitiere aus der ‚Rede über die Mythologie‘ von 1800 die berühmt gewordenen Sätze: Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie.²⁶

Weil wir sie aber nicht haben, müssen wir selbst sie machen und entsprechen damit unserer ursprünglichen Produktivität, unserer „Urkraft“. Das ist das grundlegend Moderne an der Rede; und es ist nicht so fern von Lessings Position im ‚Nathan‘: Wir müssen die Wahrheit(en) unserer Religion(en) in unserem Tun selbst erweisen und Religion so selbst machen, indem wir sie menschliche Praxis werden lassen. Das moderne Heilige, das zum Gegenstand ästhetisch-religiöser Erfahrung werden kann, ist, so führe ich Schlegel fort, von unseren modernen Dichter-Priestern selbst hervorzubringen. Es ist nicht mehr auf eine naive, ‚kindliche‘ Weise einfach selbstverständlich, gewissermaßen ‚objektiv‘ in religiös-kulturellen Tradierungen gegeben. Der Dichter/Künstler bringt das hervor, woran, dank der von ihm geleisteten ästhetischen Prägnanz und Evidenz, dank der Kraft der Form, ästhetisch-religiöse Erfahrungen gemacht werden können.²⁷ Das mag nach moderner Hybris schmecken, und doch ist alle Religion schon immer auf das Ästhetische notwendig angewiesen: auf ästhetische Manifestationen – siehe Rubens, die Gegenreformation hat das am Beginn der Neuzeit gewusst – und auf erfahrbare, mit- und nachvollziehbare Performanz in Kult und Ritual. Religion, religiöse Erfahrung und religiöses Bezogensein konstituieren sich immer auch ästhetisch-performativ.²⁸ Was sich hier, bei Schlegel, in vertrackter romantisch-ironischer Rhetorik äußert, spricht Hölderlin zur selben Zeit in aller Deutlichkeit in seiner Ode ‚An die Parzen‘ (1797 oder 1798) aus: Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! Und einen Herbst zu reifem Gesange mir, Daß williger mein Herz, vom süßen Spiele gesättiget, dann mir sterbe.

26 Ebd. 27 Das ist das Geheimnis der Form. Dieser Grundkategorie des ästhetischen Diskurses hat Dieter Burdorf eine wichtige Studie gewidmet: Ders.: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte, Stuttgart – Weimar 2001. 28 Noch einmal sei auf einschlägige theologische Entwürfe hingewiesen: Balthasar, Huizing, Stock u. a. (Anm. 19).

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Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht; Doch ist mir einst das Heil’ge, das am Herzen mir liegt, das Gedicht gelungen, Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt! Zufrieden bin ich, wenn auch mein Schattenspiel Mich nicht hinab geleitet; Einmal Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.²⁹

Emphatischer kann man über Dichtkunst kaum reden.³⁰ Aber soll man das auch, soll man so emphatisch über sie reden? Soll man ihr das zumuten? Braucht es ‚das Heilige‘ um 1800 also noch, ja: wieder? Und in welcher Weise? In Hölderlins Ode ist es das lyrische Subjekt selbst, das sich durch das Gelingen des ‚heiligen Gedichtes‘, des Kunstwerks unvergleichlich, unüberbietbar nobilitiert: „Einmal lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht“. In dieser Heiligkeit des Kunstwerks manifestiert und objektiviert sich die Heiligkeit des Subjekts selbst, das sich damit, so darf man folgern, auch in jedem wirklichen Kunstwerk symbolisch immer selbst begegnet. Dieser Gedanke wird von der frühen Romantik nirgendwo preisgegeben. Er ist aus meiner Sicht der Kerngedanke der modernen Kunstautonomie.³¹ Würden wir die uns gemeinsame neue Mythologie als unseren „Mittelpunkt“ nicht selbst machen, dann bliebe „das höchste Heilige immer namenlos und formlos“, wie Schlegels Ludoviko sagt. Und er fährt fort: „[D]ie Kraft der Begeisterung [würde] auch in der Poesie sich immerfort einzeln versplittern und wenn sie sich müde gekämpft hat gegen das widrige Element, endlich einsam verstummen.“³² Ludoviko spürt hier die Gefahr subjektivistischer Willkür, vor der sich die Poesie selbst dadurch schützen muss, dass sie immerfort den mythologischen „Mittelpunkt“ sucht. Das lässt sich leicht auf das Maximin-Problem übertragen, ja, es scheint hier geradezu vorweggenommen. Maximin soll nämlich „die Kraft der Begeisterung“ der Jünger zentrieren, auch in der Poesie. Sie sollen sich nicht „versplittern“. 29 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in 3 Bänden. Hg. von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katharina Grätz. Bd. 1: Gedichte, Frankfurt a. M. 1992, S. 197. 30 Zur Vorgeschichte dieser ‚heiligen Poesie‘ grundlegend: Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997 (= Studien zur deutschen Literatur 144). 31 Vgl. dazu Verf.: Literatur und Religion in der Moderne; erscheint München 2015; vgl. auch ders.: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts. Sprachsuche, Selbstsuche, Gottsuche in Rilkes ‚Duineser Elegien‘. In: Norbert Fischer (Hg.): ‚Gott‘ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes, Hamburg 2014, S. 257–296 (enthält eine hier einschlägige Passage zum 18. Jahrhundert). 32 KFSA 2 (Anm. 24), S. 311f.

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Die ästhetische Verbindlichkeit der neuen poetischen Mythologie, die sich der Leistung des Subjekts selbst verdankt, ist zugleich der Ausweg, ist die Selbsterlösung des Subjekts aus der ihm in seiner Subjektivität drohenden Einsamkeit. Die neue poetische Mythologie konstituiert die neue Gemeinschaft. Die Tendenz zur Hybris, die diesem Konzept ohne Zweifel innewohnt, wird aber auch bei Schlegel (und Lessing und Karl Philipp Moritz, dessen Bedeutung für die frühe Romantik bis heute noch zu wenig gewürdigt wird) sogleich aufgefangen: Um dem „höchsten Heiligen“ wirklich Form und Gestalt zu geben, braucht es „Liebe“. Ein solches Pathos der Liebe bei diesem Ironiker: Man ist vielleicht doch ein wenig verwundert; und doch ist es im Kontext der intensiven PlatonRezeption um 1800 verständlich.³³ Wir haben sie auch bei George und im Kreis, in der platonisch begründeten ‚Sozio-Poetik‘, die er darstellt: Der Kreis ist die Fortführung des poetischen Werkes mit anderen, nämlich sozialen Mitteln.³⁴ Ich zitiere die Schlegel-Stelle ganz: Soll das höchste Heilige immer namenlos und formlos bleiben, im Dunkel dem Zufall überlassen? Ist die Liebe wirklich unüberwindlich [‚für die Darstellung‘, W.B.], und gibt es wohl eine Kunst, die den Namen verdiente, wenn diese nicht die Gewalt hat, den Geist der Liebe durch ihr Zauberwort zu fesseln, dass er ihr folge und auf ihr Geheiß und nach ihrer notwendigen Willkür die schönen Bildungen beseelen muß? ³⁵

Durch die ästhetische Kraft wirklicher Kunst, die sich dem „Geist der Liebe“ verdankt, und in der Kunst allein kann das „höchste Heilige“ selbst überhaupt erst Form gewinnen, also sich zeigen, und sozial wirksam werden. Sie fordert das geradezu. Das ist zwar ein anderes Pathos, ein anderer Ton als bei Lessing, aber doch nicht gar so weit von ihm weg. Damit das möglich ist, verlangt dieses neue Heilige dann doch auch den Glauben, also das feste subjektive Überzeugt-Sein von der unüberbietbaren Bedeutung der eigenen Aufgabe: „Ich bitte Euch“, fordert Ludovico seine Gesprächspartner auf, „dem Unglauben an die Möglichkeit einer neuen Mythologie nicht Raum zu geben.“³⁶ Wenn „Mythologie und Poesie“ nämlich so in eins zusammenfallen, bildet „sich aus immer größern Massen und Gliedern das Ganze“; „alles greift in einander, und überall ist ein und derselbe Geist“.³⁷

33 Die Hölderlin-Forschungen Ulrich Gaisers und Jochen Schmidts weisen viele Platon-Bezüge nach. 34 Vgl. Christian Oestersandfort: Antike-Rezeption. In: Stefan George und sein Kreis (Anm. 14), Bd. 2, S. 647–671. 35 KFSA 2 (Anm. 24), S. 312. 36 Ebd., S. 313. 37 Ebd.

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Diese ästhetische Utopie Schlegels gibt also die Idee des ‚Ganzen‘ nicht preis, die für die idealistisch-klassizistische Ästhetik grundlegend ist und doch wohl auch eine soziale Ganzheit, eine ‚Lebensform, einschließt, wie man hier spürt. Schlegel führt diese soziale Ganzheitsidee nur nicht aus. Er will oder kann nicht sagen, wie diese neue pfingstliche Gemeinde („ein und derselbe Geist“) sich konkret gestalten soll, weil sie von der notwendig zukunftsoffenen, progressiven, darum ‚ironischen‘ Universalpoesie als fortwährende, unabschließbare Aufgabe zu leisten ist. ‚Rede über die Mythologie‘ heißt dieser Einschub in das gesamte ‚Gespräch über Poesie‘ bei Schlegel freilich nicht umsonst: Als ‚Rede‘ gehört sie zum ‚Gespräch‘. Als ‚Rede‘ bildet sie sogar sein Zentrum. Sie ist rhetorisch gemeint; sie ist ein großes auf Wirkung zielendes Projekt und will als solches wahrgenommen werden, wenn sie ihr Anliegen vor Augen führt. Ihre ausgestellte Rhetorizität mit ihren steilen und forcierten Thesen verweist immer auch auf sich selbst und so auf das in vielen Stimmen redende Subjekt,³⁸ das wirklich sich selbst in die Debatte einbringen und in ihr als solches wahrgenommen werden will. Als ‚Rede‘ ist sie eine ironische Stimme im Zusammenhang des gesamten ‚Gesprächs‘, so wie der Gegenstand der ‚Rede‘, das Projekt der ‚neuen Mythologie‘ selbst ein ironisches Projekt ist.³⁹ Man muss hier auch den Rahmen der ‚Rede‘ bedenken: die in der Romantik beliebte Gattung des Kunst-Gesprächs, das heißt die fiktionale Einbettung in den gesprächshaften Austausch über Kunst, in dem sich das Gesellige durch die Gesprächsteilnehmer selbst konstituiert. Das ist aber eine grundlegende Idee der Aufklärung und gerade kein Gegensatz zu ihr! Der Rahmen relativiert und ironisiert (im Sinne romantischer Ironie) die ziemlich steilen und herausfordernden Thesen der ‚Rede‘. Die ‚Rede‘ ist als eine ironische Stimme zugleich ein Beitrag im gesamten symphilosophischen Projekt der frühen Romantik. So entsteht die utopische ‚Konstellation‘, um diesen Begriff, den der Philosoph Dieter Henrich mit etwas anderer Bedeutung in die Debatte eingebracht hat, zu gebrauchen, als spannungsreiche, offene, progressive Balance von entschiedener Subjektivität bei gleichzeitigem Geltungsanspruch und Verbindlichkeit des gemeinsamen Gegenstandes der neuen Mythologie/Religion/Poesie und in der Intersubjektivität des geselligen Gesprächs, in der jedes Subjekt erst zu

38 Zur Rhetorik der Rede, in der sich ihr reflexiver Charakter selbst vorführt und die den Status, den die neue Mythologie beansprucht, nicht unberührt lassen will, vgl. auch Stefan Matuschek: „Doch Homeride zu sein, auch als letzter, ist schön.“ Zur Bedeutung der Mythologie bei Friedrich Schlegel. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72, 1998, S. 115–125. 39 Vgl. Verf.: Eironeia urbana. In: Armin Burkhardt/Brigitte Nerlich (Hg.): Tropical Truth(s). The Epistemology of Metaphor and other Tropes, Berlin – New York 2010, S. 323–338.

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sich selbst kommen kann – aber immer fortschreitend, im unabschließbaren Prozess.⁴⁰ Wir sind auch hier von Lessings ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ gar nicht sehr weit entfernt. Von einer utopischen Konstellation zu sprechen, scheint mir durchaus angebracht. Schlegels ‚Rede‘ schließt in höchster Emphase, indem sie den dynamischen, progressiven, den Entwurfscharakter des Projektes feiert: Und so laßt uns denn, beim Licht und Leben! nicht länger zögern, sondern jeder nach seinem Sinn die große Entwicklung beschleunigen, zu der wir berufen sind. Seid der Größe des Zeitalters würdig, und der Nebel wird von Euren Augen sinken; es wird helle vor Euch werden. […] Mich däucht wer das Zeitalter, das heißt jenen großen Prozeß allgemeiner Verjüngung, jene Prinzipien der ewigen Revolution verstünde, dem müßte es gelingen können, die Pole der Menschheit zu ergreifen und das Tun der ersten Menschen, wie den Charakter der goldnen Zeit die noch kommen wird, zu erkennen und zu wissen. Dann würde das Geschwätz aufhören, und der Mensch inne werden, was er ist, und würde die Erde verstehn und die Sonne. Dieses ist es, was ich mit der neuen Mythologie meine.⁴¹

Die Schlusssätze werden fast zur Parodie. Aber eben nur fast. Auch das gehört zur Ironie dieser romantischen Utopie dazu. Sie hebt sich nicht selbst auf, sondern wird Teil des offenen Projektes romantischer Universalpoesie.

VI Ist es eine ungebrochene mythische Verbindlichkeit in der Kunst der Moderne möglich? Weitere Beispiele aus der Kunstgeschichte Subjektivität und Ironie: Diese beiden für die frühe Romantik grundlegenden Begriffe möchte ich hier festhalten. Sie sind meines Erachtens die Angelpunkte moderner Mythen und Religionen. Der romantische Ironie-Begriff ist hier nun nicht auszuführen. Er meint jedenfalls nicht, was gerne landläufig damit verbunden wird: banale und oft auch billige Relativierung um jeden Preis oder sogar bloße Negation. Sondern er meint eine grundlegende (Selbst-)Reflexivität, ohne die meines Erachtens sowohl Mythos und Religion als auch Kunst und Poesie in der Moderne nicht mehr zu haben sind. Er meint die spannungsreiche und darum ‚progressive‘, also auf Zukunft hin offene Integration des Heterogenen und Komplexen. 40 Vgl. Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1991. 41 KFSA 2 (Anm. 24), S. 322. Hervorhebung W. B.

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Dies ist nun auch die große Herausforderung für George und seinen Kreis. Aber nicht nur für ihn, sondern für jede Kunst, die versucht, sich unter den Bedingungen der ästhetischen Moderne wieder an Mythos und Religion anzunähern. Das soll abschließend an einigen Beispielen aus der modernen Kunst veranschaulicht werden, um den ästhetischen Horizont einer auf Stefan George, seinen Kreis und die Zeit um 1900 konzentrierten Problemstellung noch ein wenig zu öffnen. Zunächst ein Kruzifix der Mecklenburger Künstlerin Dorothea Maroske, Jahrgang 1951. Sie wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet und ist vielfach im öffentlichen Raum vertreten. Das Kruzifix ‚Aufsteigender Christus‘ von 2011 befindet sich in der Kirche von Conow, Feldberger Seenlandschaft. Die Kirche selbst ist von dem Schinkel-Schüler Friedrich Wilhelm Büttel 1826 errichtet worden; das ergibt einen schönen symbolischen Zusammenhang zwischen Klassizismus, Romantik und Gegenwartskunst. Schon das theologisch etwas genierliche Partizip ‚aufsteigend‘ ist interessant (also nicht ‚auffahrend‘, wie es im religiösen Diskurs eingeführt ist).

Abb. 3: Dorothea Maroske (*1951), Aufsteigender Christus, Bronze (Conow, Kirchengemeinde Feldberg); Aufnahme Wolfgang Braungart, Bielefeld 2012.

Christus wird hier als eine androgyne Figur von ephebenhafter Schlankheit dargestellt. Meines Erachtens ist diese Christus-Interpretation misslungen, weil hier etwas konkretisiert und ästhetisch erfahrbar werden soll, was sich in nachmythischer Zeit so nicht mehr konkretisieren lässt, aber schon immer eine besondere Herausforderung war (siehe Rubens): die Darstellung der Transzendenz, die

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Auferstehung, der Kern der christlichen Botschaft. Grünewald etwa interpretiert seinen Auferstandenen als wahre Licht- und Farborgie; damit überspielt (oder bewältigt?) er das Darstellungsproblem ästhetisch.⁴² Wir sehen hier in der Plastik einen ähnlich schwierigen Versuch einer mythischen Neu- beziehungsweise Umdefinition wie in diesen seltsamen modernen Gebeten, die Gott als ‚unseren Vater und unsere Mutter‘ anreden. Kann man das ‚machen‘? Das Mythische muss aber imaginativ konkret und präzise sein, oder es hebt sich selbst auf. Mit der theologisch so schwierigen Frage der Personalität Gottes kann man nicht so metaphorisierend (‚Vater und Mutter‘) umgehen. Aber wie dann? Wäre dann die ‚leere Mitte‘ Georges nicht die redlichere Lösung? Ist sie nicht unabweislich?⁴³ Überzeugen können Christus-Darstellungen in der modernen Kunst am ehesten da, wo die kreatürliche Not Jesu im äußersten Leiden gezeigt wird: Seht diesen Menschen!⁴⁴ Viele Künstler der Moderne haben den leidenden und gekreuzigten Christus dargestellt. Nur ein Beispiel:

Abb. 4: Lovis Corinth, Ecce Homo, 1925, Öl auf Leinwand, 189 x 148 cm; Kunstmuseum Basel.

42 Auf kontroverse theologische und religions- bzw. frömmigkeitsgeschichtliche Deutungen Grünewalds ist hier freilich nicht einzugehen. 43 Ernst Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010. 44 Die ästhetische Moderne macht daraus (auch): Seht den Künstler! Vgl. Richard Faber: ‚Ecce homo‘ in Form des Incognito. Auch ein Beitrag zum Kruzifix-Streit. In: Richard Faber/Volkhard (Hg.): Kunst und Religion im 20. Jahrhundert, Würzburg 2001, S. 35–49.

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Zwei Gestalten flankieren den gefesselten, sichtbar gequälten Menschensohn. Die linke der beiden im weißen Mantel, die auf Christus hinweist, erinnert an den Künstler selbst. Durch Christus erhält der sein Thema schlechthin, das ihm zugleich erlaubt, seine Kunst expressiv farbiger Malerei vorzuführen. Künstlerische Subjektivität und mythischer ‚Mittelpunkt‘ brauchen sich wechselseitig. Mit dieser Frage nach einer glaubwürdigen Darstellung zentraler christlicher Glaubensinhalte in der Kunst von heute wird ein Problem gestreift, das natürlich viel weiter reicht, als die Binger Tagung und die vorliegende Publikation. Angedeutet sei das mit zwei Kreuzwegtafeln des Kasseler Künstlers Norbert Radermacher, der in Bielefeld an der künstlerischen Umgestaltung der spätgotischen Franziskanerkirche St. Jodokus (frühes 16. Jahrhundert) beteiligt war. Er vermeidet das Gestaltungsproblem mythischer Konkretheit ganz durch vollkommene Reduktion auf das karge Wort und die Null-Farbe Schwarz – und dies in einer katholischen Kirche:

Abb. 5: Norbert Radermacher (*1953), Kreuzweg, 2011, St. Jodokus, Bielefeld; Aufnahmen Wolfgang Braungart, Bielefeld 2012.

Mit dieser radikalen Ästhetik der Negativität lässt sich das Problem vielleicht auflösen, sich zur Religion nicht ‚positiv‘, d. h. in darstellerischer Konkretion,

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äußern zu wollen. Angesichts der oft unsäglichen Kreuzwege in der religiösen Kirchen-Kunst des 20. Jahrhunderts ist das zu verstehen. Aber aus dem leidenden Christus wird bei Radermacher so auch ein vollkommen abstrakter Deus absconditus, der beim Betrachter nicht zufällig Erinnerungen an Kasimir Malewitschs mystisch inspiriertes ‚Schwarzes Quadrat‘ (1915) aufkommen lässt.⁴⁵ In der Dunkelheit des Leidens bleibt bei Radermacher allein das Wort, das aber die subjektive Einbildungskraft und das religiöse Gedächtnis des Betrachters notwendig braucht. Er hat die Leidensgeschichte in sich imaginativ zu realisieren. Sie ist heute so wirklich, wie sie für ihn und in ihm wirklich ist. Die Tafeln Radermachers wirken gerade deshalb so ergreifend, weil sie sich bildnerisch so sehr zurücknehmen. In derselben Bielefelder Kirche gibt es Glasfenster der 1950er Jahre, die die mythische Konkretisierung dagegen überhaupt nicht scheuen und formal zugleich doch irgendwie ‚modern‘ sein wollen. Dass es so wirklich nicht (mehr) geht, ist überdeutlich. Der Kontrast zu Radermachers Kreuzweg ist schlagend. – Engel darf man nur malen und zeichnen, wenn man es kann. Also, das wohl berühmteste Beispiel im 20. Jahrhundert, etwa wie Paul Klee.⁴⁶ Das heißt: wenn man die Darstellung von einer eigenen ästhetischen Idee her entwickelt, die die künstlerische Subjektivität und ihre Situation in der Moderne nicht unterdrückt. – Kein Wunder, dass ästhetisch einigermaßen aufgeklärte Kirchenbesucher vor allem das bunte Licht rühmen, wenn die Sonne durch die Scheiben fällt (als hätten Farben an sich einen ästhetischen Wert): Du sollst dir nämlich nicht nur kein Bildnis machen; du kannst dir heute auch kein derart konkretisierendes Bildnis mehr machen, das sich ästhetisch noch verantworten lässt. Gibt es in der Theologie der Moderne überzeugende Entwürfe vom Jenseits?⁴⁷ Ich kenne sie nicht. Seit Kants Kritik sind sie nicht mehr als subjektive Spekulationen. Radermachers Ästhetik der Negativität rückt ihn nahe heran an die wichtige moderne Traditionslinie äußerster semantischer Reduktion und ästhetischer 45 Zu Malewitsch im Zusammenhang dieser Einführung wichtig: Boris Groys: Das säkulare Sakrale. Über Kasimir S. Malewitsch. In: Cai Werntgen (Hg.): Szenen des Heiligen. Vortragsreihe in der Hamburger Kunsthalle, Berlin 2011, S. 191–207. – Auf den gesamten Band sei hier mit Nachdruck verwiesen. 46 Ein neuerer Versuch hierzu: Bernhard Marx: Balancieren im Zwischen. Zwischenreiche bei Paul Klee, Würzburg 2007. 47 Die Frage wirft auch der Theologe und entlaufene Pfarrer Bernard in David Lodges satirischem Roman ‚Neueste Paradies-Nachrichten‘ (engl. Paradise News, 1991) auf; Zürich 1992, Teil III, S. 238ff. Vgl. auch die Novelle Martin Walsers ‚Mein Jenseits‘, Berlin 2010, die das Problem des Glaubens vom reflexiven Bewusstsein her entfaltet, also eben ganz von einer bestimmten Idee der Moderne aus.

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Abb. 6: Chor-Glasfenster, entworfen von Wilhelm Heiner, 1954/1955, St. Jodokus, Bielefeld; Aufnahme Ellen Beyn, Bielefeld 2014.

Kargheit, für die eine Plastik Ulrich Rückriems (*1938) stehen mag, die sich nur wenige hundert Meter von der Kloster-Kirche St. Jodokus entfernt im Park der Bielefelder Kunsthalle befindet:

Abb. 7: Ulrich Rückriem (*1938), Dolomit, gespalten, 1977 (aufgestellt 1979), 108 x 145 x 188 cm, Anröchter Dolomit; Aufnahme Wolfgang Braungart, Bielefeld 2012.

Der Titel ‚Dolomit, gespalten‘ reduziert fast alle Semantik, die sich – etwa – mythologisch oder anders dienstbar machen ließe. Die Plastik wird so zu einer modernen künstlerischen Wegmarke, zu einem modernen Bildstock am Wegesrand. Schließen will ich diesen kleinen ästhetischen Problemaufriss mit drei Plastiken Stephan Balkenhols (*1957), die während der Documenta 13, 2012, aber nicht aus diesem Anlass, in der Kirche St. Elisabeth in Kassel zu sehen waren. Balkenhol gehört derzeit zu den bekanntesten deutschen Bildhauern. Seine grob

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aus dem Holz geschlagenen Figuren verweigern geradezu demonstrativ jede glatte Schönheit. Sie wollen angemalt wirken. Das Blau Marias erscheint regelrecht aufgesetzt. Es gehört nicht zur Figur; es gehört ihr nicht an. Es ist nur Oberfläche. Diese Figuren Balkenhols zeigen durch ihre Machart überdeutlich, wie sie jede glatte, elegante Schönheit verweigern. In der Lyrik würde man sagen: Sie sind poetologisch selbstreflexiv. Zugleich werden diese Plastiken durch die grelle, kräftige Farbgebung, den Titel und den Aufstellungsort geradezu überdeterminiert. Sie zitieren die Ikonographie der religiösen Kunst und gebrauchen sie nicht nur; sie vertrauen sich ihr nicht mehr an. Sie haben dieses Vertrauen verloren. So, in ihrer gespielten Naivität, wirken sie sentimentalisch, ja ironisch. Hebt diese Ironie die religiöse Botschaft auf? Es scheint mir eine besondere Leistung Balkenhols zu sein, dass er sich auf diese Weise an den religiösen Kitsch, an Naivität und Banalität heranarbeitet – also an das, was religiöse Kunst in der Moderne weitgehend ausmacht und sie dann fast immer unerträglich werden lässt.⁴⁸ Vielleicht kommt er an das Naive und den Kitsch sogar so dicht heran, dass er ihm zuweilen selbst zum Opfer zu fallen scheint. Dieses ästhetische Risiko geht er ganz bewusst ein.⁴⁹

48 Vgl. meinen Versuch zu der zeitweilig im Katholizismus sehr bekannten Künstlerin und Schriftstellerin Ruth Schaumann: Verf.: Ruth Schaumann, Autorin und Künstlerin des katholischen Milieus. In: Wilhelm Kühlmann/Roman Luckscheiter (Hg.): Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur, Freiburg i. Br. – Berlin – Wien 2008 (= Rombach Wissenschaften, Reihe Catholica 1), S. 361–379. 49 Man kann das auch anders sehen. Maximilian Probst in seinem Artikel ‚Das allzu weltliche Interesse. Anglikanische Kirchen verkaufen ihre Kunst für Millionen. Sind auch Werke in deutschen Kirchen gefährdet?‘ in der Wochenzeitung ‚Die Zeit‘, 30.1.2014: „Wie sehr die Kirche dabei [in der spannungsreichen Beziehung zwischen Kirche, Kunst und Kunstmarkt; W. B.] in die Defensive gerät, zeigt ein Fall […] [bei dem es] um eine Schenkung von Kunst an eine Kirche geht. Der Künstler ist in diesem Fall Stephan Balkenhol, der für seine grob behauenen Figuren bekannt ist, die gelegentlich ziemlich lange Beine haben und auf öffentlichen Plätzen, in Parks oder Fußgängerpassagen dazu einladen, gedankenlos an ihnen vorbeizulatschen. Im Vorfeld der Documenta hatte es Balkenhol geschafft, seine Werke, die auf dem Kunstmarkt beachtliche Preise erzielen, in der Kasseler Kirche St. Elisabeth zu zeigen – inklusive einer Figur mit ausgebreiteten Armen in der Kirchturmspitze, die für einen kleinen Eklat sorgte, weil sie, gut sichtbar vom zentralen Friedrichsplatz, wie ein Teil der Documenta wirken konnte. Nun braucht man gar nicht die Frage aufwerfen, wie tief eine Kirche gesunken sein muss, um sich eine BalkenholSkulptur hoch oben in den Kirchturm zu stellen. Entscheidend ist, dass Balkenhol das Werk nach der Ausstellung der Kirche schenkte. Und allein durch die Schenkung kehrt sich das alte Verhältnis zwischen Kunst und Kirche um.“ – Was freilich nicht stimmt. Dass Kunst für Kirchen hergestellt und ihnen geschenkt wird, war seit der Frühen Neuzeit die Regel, nicht die Ausnahme.

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Abb. 8: Stephan Balkenhol (*1957), St. Elisabeth, Kassel, 2012; Aufnahme Wolfgang Braungart, Bielefeld 2012.

Wie das ironische Spiel mit der religiösen Ikonographie womöglich leicht in den bloßen Gag abrutschen kann, zeigt eine Plastik des chinesischen Bildhauers Qu Guangci (*1969), der den Typus der Madonna mit Kind persifliert, in dem er dem Kind eine Mao-Mütze aufsetzt und einen paradiesischen, aber kräftig roten Apfel in die Hand gibt.

Abb. 9: Qu Guangci (*1969), Der chinesische Apfel, 2006, 41 x 35 x 53 cm, Bronze; Shanghai Zendai Museum of Modern Art.

Freilich muss man bei dieser Büste auch den chinesischen Kontext berücksichtigen. Das ikonographische Spiel macht Mao zum Kind einer etwas modiglianihaft

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anmutenden, ästhetisch ganz aus der westlichen Kunst kommenden Madonna.⁵⁰ Auch sie nimmt den hochsymbolischen roten Apfel in die Hand; beide kommunizieren sie über ihn.

VII Zurück zu Georges Maximin Die erste Strophe des Gedichtes ‚Einverleibung‘ aus Georges Maximin-Zyklus des ‚Siebenten Rings‘ (1907) schließt mit dem dunklen, mystischen Vers „Ich geschöpf nun eignen sohnes“.⁵¹ Das lässt sich auch poetologisch verstehen: Das lyrische Subjekt weiß, dass es genau dieses „geschöpf“, seinen eigenen ‚Sohn‘, wirklich braucht und ohne es nicht sein könnte (,,Ich geschöpf“). Dieses „geshöpf“ hat das lyrische Subjekt jedoch selbst im poetischen Akt hervorgebracht. Hegel würde dies vielleicht die Dialektik von Herr und Knecht nennen; man könnte es auch christologisch reformulieren: Zum Vater kommt man nur durch den Sohn; insofern aber ist er auch vom Sohn abhängig, wenn er als Vater erfahren werden soll. Im Sohn wird der Vater ‚real‘. Das poetische Subjekt des Gedichtes ‚Einverleibung‘ braucht also diesen gemachten Mythos. Prägnanter kann man das Religionsproblem in der Moderne poetisch kaum fassen. Schlegels Ludoviko hat es ganz ähnlich gesehen. Wenn nun in diesem Band über ‚Stefan George und die Religion‘ diskutiert wird, so müssen wir wohl auch dies beachten, gerade im Blick auf die poetische Qualität: Was sind die verschiedenen Modi der selbstreflexiven Subjektivität, durch die ein Verhältnis zu der skizzierten Paradoxie möglich wird? Auch die Melancholie, die für George so wichtig ist, möchte ich dazu zählen. Inwiefern weiß die Dichtkunst selbst, dass es hier um Mythos und Religion – und Poesie in nachmythischer Zeit geht? Und wie gestaltet man dieses Wissen dennoch auf eine poetisch überzeugende Weise?

50 Man denke nur an die Büsten des Renaissancebildhauers Andrea della Robbia (1435–1525). 51 SW VI/VII (Anm. 2), S. 109.

Jürgen Brokoff

Prophetie und Erlösung in Stefan Georges Lyrik nach 1900 Selten ist die deutsche Kulturgeschichte so sehr durch die Existenz eines prophetischen Diskurses geprägt gewesen wie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. In der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und in den Jahren der Weimarer Republik, die einmal die „Krisenjahre der Klassischen Moderne“¹ genannt wurden, taucht eine Vielzahl von selbsternannten Geistersehern, Wunderwirkern und Heilsbringern auf, die auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Zusammenlebens Abhilfe und Erlösung versprechen.² Die Allgegenwärtigkeit dieses Versprechens lässt daran zweifeln, dass der von Heilssuche getragene prophetische Diskurs im Rücken der modernen Wissenschaftskultur stattgefunden hat. Vielmehr gehört sein Erlösungsversprechen zu den „beherrschenden Gedanken“³ der damaligen Zeit und bezeugt die prekäre Koexistenz von Wissenschaft einerseits und Prophetie andererseits. „Es sei“, so schreibt der Philosoph Max Scheler am Ende der Weimarer Republik, „eine beispiellose Sehnsucht nach Führerschaft allüberall lebendig.“⁴ In Robert Musils Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘, dessen berühmte Eingangspassage zu einem „schönen Augusttag des Jahres 1913“⁵ mit der Meteorologie gleich zu Beginn die moderne Wissenschaft ins Spiel bringt, werden im 108. Kapitel die Gedanken des Generals Stumm von Bordwehr über die „Beliebtheit der Wortgruppe Erlösung“⁶ beschrieben:

1 Vgl. Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987. 2 Vgl. Ulrich Linse: Geisterseher und Wunderwirker. Heilssuche im Industriezeitalter, Frankfurt a. M. 1996; Klaus Schreiner: „Wann kommt der Retter Deutschlands?“ Formen und Funktionen von politischem Messianismus in der Weimarer Republik. In: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 49, 1998, S. 107–160; zur titelgebenden Frage nach dem „Retter Deutschlands“ vgl. ebd., S. 109. – Zu Konzepten der Zukunft in der politischen Kultur der Weimarer Republik vgl. Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008. 3 Vgl. Michael Jeismann (Hg.): Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt a. M. 1995. 4 Max Scheler: Vorbilder und Führer. In: Ders.: Zur Ethik und Erkenntnislehre, Berlin 1933, S. 149–224, hier S. 151. 5 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [1932]. Bd 1. Hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg 1989, S. 9. 6 Musil, Mann ohne Eigenschaften (Anm. 5), S. 519.

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Man war überzeugt, daß es nicht mehr weitergehe, wenn nicht bald ein Messias komme. Das war je nachdem ein Messias der Medizin, der die Heilkunde von den gelehrten Untersuchungen erlösen sollte, während deren die Menschen ohne Hilfe krank werden und sterben; oder ein Messias der Dichtung, der imstande sein sollte, ein Drama zu schreiben, das Millionen Menschen in die Theater reißen und dabei von voraussetzungslosester Hoheit sein sollte: und außer dieser Überzeugung, dass eigentlich jede einzelne menschliche Tätigkeit nur durch einen besonderen Messias sich selbst wieder zurückgegeben werden könne, gab es natürlich auch noch das einfache und in jeder Weise unzerfaserte Verlangen nach einem Messias der starken Hand für das Ganze.⁷

Vom „Messias der Dichtung“, von der Figur des Erlösers im Bereich der Kunst und von der dazugehörigen „Wortgruppe Erlösung“ soll im Folgenden genauer die Rede sein.⁸ Ich gehe dabei in drei Schritten vor. Im ersten Schritt untersuche ich Aspekte der George’schen Geschichtsprophetie, um mich im zweiten Schritt dem Erlösungsdiskurs im Kontext des Maximin-Kults zuzuwenden. Im dritten Schritt möchte ich Georges Konzept der ‚Erlösung‘ und die damit verbundene Religionsfrage im Rahmen einer zeitgenössischen ästhetischen Diskussion erörtern, die um den Begriff der Stimmung kreist.

I Geschichtsprophetie Die Figur des prophetischen Dichters ist in der abendländischen Literaturund Kulturgeschichte unter der Bezeichnung poeta vates bekannt.⁹ Das Substantiv ‚vates‘ bedeutet Wahrsager, Weissager, Prophet und wurde vom römischen Schriftsteller Varro irrtümlich als altrömische Bezeichnung für Dichter verstanden.¹⁰ Horaz und Vergil haben aus vates den prophetischen Dichter, den göttlich inspirierten Dichter-Seher gemacht. In sachlicher Hinsicht lässt sich die Literatur- und Kulturgeschichte des Dichter-Sehers bezie-

7 Musil, Mann ohne Eigenschaften (Anm. 5), S. 519. 8 Zum folgenden Abschnitt vgl. Verf.: Prophetie, Poeta vates und die Anfänge moderner Dichtungswissenschaft. Anmerkungen zur Konstellation Hölderlin – Hellingrath – George. In: Daniel Weidner/Stefan Willer (Hg.): Prophetie und Prognostik. Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten, München 2013, S. 261–276, hier S. 261–265. 9 Vgl. dazu den die einschlägige Forschungsliteratur berücksichtigenden Überblick von Werner Frick: Poeta vates. Versionen eines mythischen Modells in der Lyrik der Moderne. In: Matías Martínez (Hg.): Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, Paderborn 1996, S. 125–162, bes. S. 125–136. 10 Vgl. Hellfried Dahlmann: Vates. In: Philologus. Zeitschrift für das klassische Altertum 97, 1948, S. 337–353.

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hungsweise Dichter-Propheten bis auf den griechischen Epiker Hesiod zurückführen.¹¹ Die von der göttlichen Macht initiierte und ins Werk gesetzte Inspiration ist ein erstes wichtiges Merkmal des poeta vates. Hinzu kommt als ein zweites Merkmal die mit dieser Inspiration verbundene Befähigung, das Zukünftige vorauszusagen, mithin der Besitz eines übernatürlichen und übermenschlichen Wissens. Im Unterschied zur Apokalyptik deutet die Prophetie des poeta vates ihr Wissen über das zukünftige Geschehen jedoch eher an. Sie verweist auf das Zukünftige, ohne es, wie in der Apokalypse, als ein gewaltsames Entweder-Oder im eigenen Text wirksam werden zu lassen.¹² Inspiration und übernatürliches Wissen gehen, drittens, mit einer doppelten Überschreitung einher. Überschritten werden die Grenze des Gegenwärtigen zum Zukünftigen und die Grenze des Profanen zum Heiligen.¹³ Viertens bevorzugt der göttlich inspirierte, mit einem übernatürlichen Wissen ausgestattete und geheiligte Dichter einen ‚hohen‘ Sprachstil, der sich vom Stil der alltäglichen, gewöhnlichen Sprache deutlich abgrenzt. Diese Abgrenzung von der Alltäglichkeit führt, fünftens, zu einer asymmetrischen Sprech- und Kommunikationssituation: Der poeta vates steht als einzelner, nicht selten einsamer und unverstandener Sprecher der Menge, den Vielen, gegenüber. Auch wenn es im Folgenden nicht um die Geschichte der Vorstellung vom poeta vates geht, soll deren Verwurzelung in der jüdisch-christlichen Tradition zumindest benannt werden. Die göttliche Inspiration des geheiligten und geweihten Dichter-Propheten, die in der deutschsprachigen Literatur bei Friedrich Gottlieb Klopstock eine erste wichtige Ausformung findet,¹⁴ lässt sich mit der alttestamentlichen Erzählung von der Berufung des Propheten Jesaja in Beziehung setzen. Im 6. Kapitel berichtet das Buch Jesaja davon, wie einer der Seraphim die unreinen Lippen Jesajas mit glühender Kohle reinigt und ihn so zum Empfang der göttlichen Botschaft bereit macht (vgl. Jes 6,6f.). Schon das Gedicht ‚Weihe‘, das Georges ersten Gedichtband ‚Hymnen‘ von 1890 eröffnet, ist erkennbar dieser biblischen Vorgabe verpflichtet. Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, sondern ein programmatisches Statement, dass am Beginn der von George und Wolfskehl zusammengestellten Gedichtsammlung ‚Das Jahrhundert Goethes‘ (1902) Klopstocks Gedicht ‚Die Stunden der Weihe‘ steht. Die ein Inspirationsge-

11 Vgl. Hesiod: Theogonie. Griechisch/Deutsch, übers. von Otto Schönberger, Stuttgart 1999, S. 5f. (V. 24ff.). 12 Vgl. dazu Verf.: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, München 2001. 13 Vgl. Frick, Poeta vates (Anm. 9), S. 129. 14 Vgl. Gerhard Kaiser: Klopstock. Religion und Dichtung. Kronberg/Taunus ²1975.

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schehen schildernden Eingangsgedichte des ersten Gedichtbands und der Anthologie stellen Georges Lyrik und die von ihm geschätzte ‚Deutsche Dichtung‘ von Beginn an in einen religiösen Bezugsrahmen. Im engeren Sinne ist die Figur des Dichter-Propheten und Dichter-Sehers vor allem mit Georges Spätwerk verbunden, insbesondere mit dem letzten Gedichtband ‚Das Neue Reich‘ von 1928, der schon im Titel einen prophetischen Geltungsanspruch zu erheben scheint.¹⁵ Wenn allerdings im Gedicht ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘ der Dichter als „einzig seher“¹⁶ bezeichnet wird, dessen „profeten-ruf“¹⁷ nicht nur ungehört verhallt, sondern im doppelten Wortsinne zum ‚Verhören‘ des Sehers, das heißt zu dessen Missverständnis (durch die taube Menge) und zu dessen Verhaftung (durch die Anführer derselben) führt, dann muss berücksichtigt werden, dass das lyrische Ich eine ererbte, von der Tradition verbürgte Sprecherrolle thematisiert und für sich geltend macht.¹⁸ Dieser vor allem zu Hölderlin zurückführende Traditionsbezug, der im Gedicht in den „bücher[n] der ahnen“¹⁹ explizit gemacht wird, ist wichtig, weil er im Akt der autoritativen Beglaubigung die historische Gewordenheit der prophetischen Sprecherrolle anzeigt und zugleich einen Einblick in die Medialität dieser Sprecherrolle gewährt. Kennzeichen dieser Medialität ist in erster Linie eine ‚optische‘ Kompetenz, jene Sehergabe, die den Besitz eines seltenen, nicht jedermann zugänglichen Wissens anzeigt. Im Gedicht ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘ heißt es dazu: Und wenn im schlimmsten jammer lezte hoffnung Zu löschen droht: so sichtet schon sein aug Die lichtere zukunft. [...]²⁰

Die Sehergabe und Seherkraft werden auch in anderen Gedichten des Bandes ‚Das Neue Reich‘ thematisiert. So ist in ‚Geheimes Deutschland‘ vom „geschärf-

15 Vgl. umfassend dazu Ernst Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010. 16 Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. IX, S. 28. Im Folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. 17 Ebd. 18 Zur Analyse und Deutungsgeschichte dieses häufig interpretierten Gedichts vgl. Barbara Beßlich: Vates in Vastitate. Poetologie, Prophetie und Politik in Stefan Georges ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘. In: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein, Köln u. a. 2003, S. 201–219; vgl. auch Bodo Würffel: Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978, S. 255–262. 19 SW IX (Anm. 16), S. 29f. 20 Ebd., S. 30.

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teren aug“²¹ die Rede, das die im Verborgenen schlummernde „Fülle“²² zu erkennen vermag. Dabei geht es – trotz oder gerade wegen des privilegierten Zugangs des „einzig[en] Sehers“²³ – auch um Weitergabe und Vermittlung, also darum, andere an der Seherkraft teilhaben lassen. Dies betrifft zu allererst die Miteingeweihten des Kreises, die durch Initiation ebenfalls um die verborgene Zukunft Deutschlands wissen. Schon im ‚Maximin‘-Zyklus des Gedichtbandes ‚Der Siebente Ring‘ von 1907 heißt es, dass die Trübung der Augen der Kreismitglieder durch das Erscheinen eines Gottes überwunden sei.²⁴ Dass dieses Erscheinen eines Gottes, das im Gedicht ‚Auf das Leben und den Tod Maximins: Das Erste‘ wörtlich als ein Heilsgeschehen – „denn euch ist heil geschehn“²⁵ – qualifiziert wird, ein Zur-Erscheinung-Bringen im Sinne dichterischer Hervorbringung ist, an der neben George auch die anderen Autoren des ‚Gedenkbuchs‘²⁶ ‚Maximin‘ mitgearbeitet haben, steht außer Frage. Jenseits der Kreismitglieder betrifft die Teilhabe an der Seherkraft all jene, die den Werken des Dichters aufgeschlossen, also weder verstockt noch taub gegenüberstehen. Im ersten Gedicht des Bandes ‚Das Neue Reich‘, das den Titel ‚Goethes lezte Nacht in Italien‘ trägt, fängt der „vom südlichen Meer“²⁷ zurückkehrende Dichter in seinem Werk einen „strahl“²⁸ ein, der allen Deutschen im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne die Augen öffnen soll: „Bis sich verklebung der augen euch löst und ihr merket:/Zauber des Dings – und des Leibes der göttlichen norm.“²⁹ Eine solche die Augen öffnende, lösende Kraft eignet neben dem Dichter auch dem bildenden Künstler. Im Gedicht ‚Böcklin‘, das in ‚Der Siebente Ring‘ dem ersten Zyklus der ‚Zeitgedichte‘ angehört, ist von einem Publikum die Rede, das „entblindet“³⁰ wieder nach dem vom Künstler geretteten „kleinod“ (V. 14) verlangt, diesem Kleinod also die lange versagte Wertschätzung entgegenbringt. Dies korrespondiert mit der früheren, in der Zeitschrift ‚Blätter für die Kunst‘ überlieferten Äußerung Georges, dass „wir sehend geworden [sind] durch männer wie unser Böcklin.“³¹

21 Ebd., S. 47. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 28. 24 Vgl. SW VI/VII (Anm. 16), S. 99. 25 Ebd. 26 Stefan George (Hg.): Maximin. Ein Gedenkbuch, Berlin 1907. 27 SW IX (Anm. 16), S. 8. 28 Ebd., S. 9. 29 Ebd. 30 SW VI/VII (Anm. 16), S. 14. 31 Stefan George: [Editorial]. In: Blätter für die Kunst. Vierte Folge, I.–II. Band, November 1897, S. 1.

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Auch wenn im Gedicht ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘ eine „lichtere Zukunft“³² ins Auge gefasst und im Eingangsgedicht des Buchs ‚Der Stern des Bundes‘ das eingetretene Heil mit den hoch aufgeladenen Worten „erfüllung“³³ und „licht“³⁴ umschrieben wird, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Prophezeiung künftigen und die Verkündung bereits eingetretenen Heils recht vage ausfallen. Insbesondere der Prophezeiung der „lichteren Zukunft“ mangelt es an Konkretion, wofür der vielseitig auslegbare Begriff des ‚Neuen Reiches‘ repräsentativ ist. Schon Montaigne hatte am „prophetischen Jargon“ kritisiert, dass die „Urheber“ dieses Jargons „nie einen klaren Sinn geben, damit die Nachwelt den ihr jeweils passenden hineinlegen könne.“³⁵ Die Vagheit der Prophetie betrifft dabei nicht nur den Reichsbegriff. So ist im Gedicht ‚Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann‘ aus dem Band ‚Das Neue Reich‘ davon die Rede, dass „[d]er welt erlösung nur aus entflammtem blut [kommt]“,³⁶ aber die Frage, ob man sich darunter die Bildung einer heiligen Gemeinschaft von Entflammten oder aber den Zustand nach einem apokalyptischen Weltenbrand vorzustellen hat, ist nicht ohne weiteres entscheidbar. Sehr viel eindeutiger ist dagegen die Abrechnung mit der Jetztzeit, der Gegenwart. Die Wucht, mit der in Georges späteren Gedichten ‚das Fallende gestoßen und das Verworfene verworfen‘ wird, ist enorm. Das „verderben der zeit“,³⁷ der „verweste ball“,³⁸ die „verruchte zeit“,³⁹ das „ganze elend“⁴⁰ – all das wird vom Sprecher der Gedichte schonungslos benannt. Berücksichtigt man in diesem Kontext die Rekurrenz des Posaunenmotivs, die das erste ‚Zeitgedicht‘ aus ‚Der Siebente Ring‘⁴¹ mit dem Gedicht ‚Der Widerchrist‘⁴² aus demselben Band verbindet, so drängt sich die Vermutung einer apokalyptischen Weltdeutung auf, die für die Literatur und Kunst des frühen 20. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches wäre.⁴³ Die Einordnung von Georges Lyrik in diese Form des religiösen Denkens und Schreibens ist aber nicht unproblematisch, wie sich an einem Beispiel verdeutlichen lässt.

32 SW IX (Anm. 16), S. 30. 33 SW VIII (Anm. 16), S. 8. 34 Ebd. 35 Michel de Montaigne: Über die Zukunftsdeutungen. In: Ders.: Essais. Übersetzt von Hans Stilett, Frankfurt a. M. ²1998, S. 25–27, hier S. 27. 36 SW IX (Anm. 16), S. 58. 37 SW VI/VII (Anm. 16), S. 32. 38 Ebd. 39 SW IX (Anm. 16), S. 24. 40 Ebd., S. 28. 41 Vgl. SW VI/VII (Anm. 16), S. 7. 42 Vgl. ebd., S. 56f. 43 Vgl. Verf., Apokalypse in der Weimarer Republik (Anm. 12).

Prophetie und Erlösung in Stefan Georges Lyrik nach 1900



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Die fragliche Textstelle entstammt dem bekannten, zeit- und kulturkritischen Gedicht ‚Der Krieg‘ von 1917, das während des Ersten Weltkriegs in hoher Auflage als Flugschrift kursierte. Dort heißt es unter anderem: Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein · Nur viele untergänge ohne würde . . Des schöpfers hand entwischt rast eigenmächtig Unform von blei und blech · gestäng und rohr. Der selbst lacht grimm wenn falsche heldenreden Von vormals klingen der als brei und klumpen Den bruder sinken sah · der in der schandbar Zerwühlten erde hauste wie geziefer . . Der alte Gott der schlachten ist nicht mehr.⁴⁴

Die Aussage, dass kein „triumf“ sein wird, bedeutet auch, dass auf die Katastrophe kein neues Jerusalem mehr folgen wird. Bliebe noch die Annahme einer ‚kupierten‘, einer abgeschnittenen Apokalypse, die nur aus der Katastrophe (ohne anschließende Erlösung) besteht. Doch auch dies scheint nicht der zeitkritische Ansatzpunkt des Gedichts zu sein. Es spricht nicht von der einen Katastrophe, sondern, diagnostisch präzise, von würdelosen „untergänge[n]“ im Plural und von der Form- und Würdelosigkeit des Sterbens in den Schützengräben. Die Kritik an der Form- und Würdelosigkeit wird in einem späteren Vers des Gedichts aufgegriffen: „Auch in verbriefter ordnung grenzen: taumel.“⁴⁵ Die Kritik erfolgt in ethischer Absicht: George thematisiert hier die Missachtung der 1907 beschlossenen Haager Landkriegsordnung, die im Kriegsfall eine zivilisierende Einhegung des Krieges garantieren sollte.⁴⁶ Von einer apokalyptischen Überhöhung des Weltkriegs, und sei es im negativ-katastrophischen Sinne, lässt sich mit Blick auf Georges Gedicht nicht sprechen. Es herrscht eine um Analyse bemühte Zeitdiagnostik vor. Überhaupt ist das Charakteristikum der apokalyptischen Rede, aus der Transzendenz heraus zu sprechen und das Ende der Welt nicht nur zu verkünden, sondern bereits im eigenen Text wirksam werden zu lassen,⁴⁷ bei George kaum ausgeprägt. Ein Beleg hierfür ist das Gedicht ‚Die Schwelle‘,⁴⁸ das dem ‚Lieder‘Zyklus des Gedichtbandes ‚Der Siebente Ring‘ angehört. Das Gedicht plädiert auf bemerkenswerte Weise für eine Orientierung am Diesseitigen und Konkreten: Kriti-

44 SW IX (Anm. 16), S. 24. 45 Ebd. 46 Im Verlauf des 20. Jahrhunderts werden Carl Schmitt und Hans Magnus Enzensberger sich auf je eigene Weise mit dem Problem einer mangelnden Einhegung des Krieges beschäftigen. 47 Vgl. Verf., Apokalypse in der Weimarer Republik (Anm. 12). 48 SW VI/VII (Anm. 16), S. 58.

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siert der Sprecher in den ersten beiden Strophen eine ungenügsame Orientierung am Fernliegenden, das im Gegensatz zum selbst Hergestellten noch gar nicht existiert, so werden in der dritten und vierten Strophe die negativen Konsequenzen einer solchen Haltung vor Augen geführt. Die in den eigenen Gärten gereiften Früchte verderben angesichts der Bevorzugung des Fernen, und die Stimme des oder der vorübergehenden Menschen wird aufgrund einer falschen Ausrichtung auf den nicht-menschlichen Klang „überhört“.⁴⁹ Solche Verse lassen sich auch als ein werkinternes Korrektiv verstehen, das den bei George zweifellos vorhandenen prophetischen Ton und die damit verbundene Vagheit an ein Irdisch-Diesseitiges zurückbindet und somit das (eigene) Prophetentum relativiert. Aber sind nicht die um den „Gott“⁵⁰ Maximin zentrierten Texte ein bedeutsamer Einwand gegen die behauptete Diesseitsorientierung? Zur Diskussion steht damit die Teilhabe Georges am religiösen Erlösungsdiskurs.

II Erlösung In der Vorrede zum ‚Gedenkbuch Maximin‘ von 1907 heißt es explizit, dass sich den um die Zukunft besorgten Sprechern ein „erlöser offenbart“⁵¹ habe. Auf die unterschiedlichen Facetten dieser „offenbarung“,⁵² die in der ‚Vorrede‘ selbst, in den Gedichten des ‚Gedenkbuchs‘ und in den weiteren Gedichten von Georges ‚Maximin‘-Zyklus poetisch gestaltet wird, soll hier nicht ausführlicher eingegangen werden. Wichtig ist aber die Spannweite der religiösen Begrifflichkeit, die von der „plötzlichen ankunft eines [...] menschen“⁵³ über die Qualifizierung Maximins als „wahrhaft Göttlicher“⁵⁴ bis zu dessen Titulierung als „erlöser“⁵⁵ und „Gott“⁵⁶ reicht. Die christologischen Bezüge sind evident. Max Weber hat deshalb in dem berühmten Brief vom Juni 1910, in dem er den Begriff Charisma einführt, nicht von ungefähr von einer „Erlöser-Inkarnation“⁵⁷ gesprochen.

49 Ebd., S. 158. 50 Ebd., S. 90. 51 Stefan George: Vorrede zu Maximin. In: Ders.: Werke. Ausgabe in vier Bänden. Hg. von Robert Boehringer. Bd. 2, München 1983, S. 302–308, hier S. 306. 52 Ebd., S. 305. 53 Ebd., S. 302. 54 Ebd., S. 305f. 55 Ebd., S. 306. 56 SW VI/VII (Anm. 16), S. 90. 57 Max Weber: Brief an Dora Jellinek, 9. [Juni] 1910. In: Ders.: Gesamtausgabe. Abteilung II. Bd. 6: Briefe 1909–1910. Hg. von M. Rainer Lepsius, Tübingen 1994, S. 559–563, hier S. 560.

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Unter den religiösen Referenzen, die vor allem die vielschichtige ‚Vorrede‘ nahelegt, sticht besonders das Erzählmuster hervor, in dessen Rahmen das Leben des menschgewordenen Gottes dargestellt wird. In der ‚Vorrede‘ werden die Gleichheit des „wahrhaft Göttlichen“⁵⁸ mit den Menschen und zugleich die Grenzen dieser Gleichheit bestimmt: „Uns allen haftete ein schaden an“,⁵⁹ heißt es da; Maximin aber nicht. „Er besass alle unsre feinen werkzeuge, aber er hatte sie erworben auf dem gesunden und rechtmässigen weg.“⁶⁰ Er bat Gott „um prüfungen“⁶¹ und starb, „ehe seine göttlichkeit unsresgleichen geworden war“.⁶² Eine Verbindung zur Formel des Hebräerbriefs, nach der Jesus in allem uns gleich gewesen sei außer der Sünde, ist naheliegend.⁶³ Die Formel ist ein fester Bestandteil der römisch-katholischen Liturgie und dürfte George aus dem (vierten) Hochgebet bekannt gewesen sein. In seinem Brief von 1910 sieht sich Weber zu der kritischen Bemerkung veranlasst, dass „alle neueren Leistungen Georges und seines Kreises ‚Erlösung‘ fordern, verkünden, versprechen, predigen, propagieren.“⁶⁴ In diesem Zusammenhang führt er aus, dass für die Mitglieder des George-Kreises die Erlösung offenbar schon Realität sei: „Diese Leute sind, scheint es, bereits [...] erlöst.“⁶⁵ Eine Prüfung der Gedichte bestätigt diese Sichtweise, vor allem dann, wenn man weit auseinanderliegende Gedichte der Zyklen zusammenführt und sie als eine Art werkinterne Binnenkommunikation versteht, deren Elemente kommentierend aufeinander Bezug nehmen. Am Ende des Gedichts ‚Litanei‘ aus dem ‚Maximin‘-Zyklus steht eine Bitte des Sprechers, der trauernd in ein Gotteshaus eingetreten ist: Töte das sehnen · schliesse die wunde! Nimm mir die liebe · gib mir dein glück!⁶⁶

Setzt man diese Verse mit dem Eingangs- und dem Ausgangsgedicht des Gedichtbandes ‚Der Stern des Bundes‘ in Beziehung, so könnte man sagen, dass die Bitte erhört worden ist:

58 George, Werke, Bd. 2 (Anm. 51), S. 305f. 59 Ebd., S. 304. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 306. 62 Ebd. 63 In der ‚Vorrede‘ heißt es über Maximin: „[E]r war zu rein als dass eine berührung ihn hätte beflecken [...] können“ (ebd., S. 304). 64 Max Weber, Brief an Dora Jellinek (Anm. 57), S. 561. 65 Ebd. 66 SW VI/VII (Anm. 16), S. 129.

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Da troff erfüllung aus geweihten händen Da ward es licht und alles sehnen schwieg.⁶⁷

Und am Ende des Gedichts ‚Schlusschor‘, das ebenfalls dem Band ‚Der Stern des Bundes‘ angehört, heißt es: Gottes band hat uns umschlossen Gottes blitz hat uns durchglüht Gottes heil ist uns ergossen Gottes Glück ist uns erblüht.⁶⁸

Die beiden Gedichte aus dem ‚Stern des Bundes‘ unterstreichen die Aussage aus dem ‚Maximin‘-Zyklus, dass „heil geschehn“⁶⁹ sei, und belegen, dass diese Aussage auch in sprachlich-grammatikalischer Hinsicht zutrifft. Die Verwendung der Perfektform „ist geschehen“ zeigt einen abgeschlossenen Vorgang mit Auswirkung auf und Relevanz für die Gegenwart an. Doch ungeachtet der Tatsache, dass das in den Texten konstatierte Heilsgeschehen auf der sozialen Ebene von enormer gemeinschaftsbildender Kraft gewesen ist,⁷⁰ finden sich im ‚Maximin‘Zyklus ganz erstaunliche Aussagen, die den Lesern der Gedichte einen nüchternen Einblick in die Konstitutionsbedingungen des Maximin-Kults gewähren. Die ersten Verse des gesamten ‚Maximin‘-Zyklus’ lauten so: Dem bist du kind · dem freund. Ich seh in dir den Gott Den schauernd ich erkannt Dem meine andacht gilt.⁷¹

Dass in der „andacht“ ein zentrales Element des religiösen Lebens aufscheint und dass der Schauer des Erkennenden ein wichtiges Körperphänomen ist, das Rudolf Otto zehn Jahre später als ‚tremendum‘ in seiner bahnbrechenden Theorie des Heiligen reflektieren wird,⁷² ist das eine. Ein anderes ist die Formu-

67 SW VIII (Anm. 16), S. 8. 68 Ebd., S. 114. 69 SW VI/VII (Anm. 16), S. 99. 70 Vgl. dazu grundlegend Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997; Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945, Tübingen 1998. – Umfassend zur Wirkungsmacht von George und seinem Kreis im 20. Jahrhundert vgl. Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009. 71 SW VI/VII (Anm. 16), S. 90. 72 Vgl. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen [1917], München 1991.

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lierung „Ich seh in dir den Gott“, die ganz und gar ungewöhnlich ist. Hier steht eben nicht: ‚Du bist der Gott, den schauernd ich erkannt.‘ Nimmt man die erste Verszeile des Gedichts hinzu („Dem bist du kind · dem freund“), so lautet die Aussage in abstrahierter Form: ‚Dem einen bist du x, dem anderen y, mir bist du z.‘ Damit soll nicht behauptet werden, dass die Variablen x, y und z semantisch beliebig füllbar seien. Aber es bedeutet, dass der Aussage des „Ich“ sagenden Sprechers des Gedichts eine beträchtliche Kontingenz innewohnt: ‚Ich seh in dir den Gott, aber andere mögen dies anders sehen.‘ In eine ähnliche Richtung zielt die Aussage eines anderen Gedichts, das ebenfalls dem ‚Maximin‘-Zyklus entstammt. In der ersten Strophe von ‚Hehre Harfe‘ wird die Vergeblichkeit der Bemühung thematisiert, das „übel“⁷³ und das „heil“⁷⁴ der Welt im Äußerlichen zu suchen und zu finden. Auf dieses vergebliche Bemühen antwortet die zweite Strophe mit der folgenden Feststellung: Alles seid ihr selbst und drinne: Des gebets entzückter laut Schmilzt in eins mit jeder minne · Nennt sie Gott und freund und braut!⁷⁵

Auch wenn die Namen für die mit dem entzückten Gebetslaut verschmolzene „minne“ keineswegs willkürlich sind, so fällt doch auf, wie sehr in diesen Versen der Akt der Benennung und der mit diesem Akt verbundene Spielraum betont werden. Dieser Spielraum ist selbst dann vorhanden, wenn die Nennung der drei Namen nicht im Sinne einer Alternative, sondern im Sinne einer Addition zu verstehen ist. Die Kontingenz und der Spielraum von Georges Gedichtaussagen werden hier angeführt, weil sie von einem Problembewusstsein zeugen, das den möglichen, wenn nicht wahrscheinlichen Glaubwürdigkeitsmangel der eigenen Sichtweise und des selbstgeschaffenen Kults zu reflektieren vermag. Dieser bereits von Weber festgestellte Glaubwürdigkeitsmangel⁷⁶ resultiert nicht nur aus der Tatsache, dass ohne die persönliche Bekanntschaft mit dem Jugendlichen Maximilian Kronberger der Offenbarungscharakter solcher Begegnung „nicht [zu] begreifen“⁷⁷ sei, wie es in der ‚Maximin‘-Vorrede heißt. Indem Georges Gedichte an den zitierten Stellen einen Einblick in die Konstitutionsbedingun-

73 74 75 76 77

SW VI/VII (Anm. 16), S. 131. Ebd. Ebd. Vgl. Weber, Brief an Dora Jellinek (Anm.57), S. 561. George, Werke, Bd. 2 (Anm. 51), S. 305.

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gen des Kults gewähren, mit anderen Worten den poetischen Konstruktionscharakter dieses Kults freilegen – ‚Ich seh in dir den Gott, ich nenn dich Gott‘ –, eröffnen sie selbst den Raum, der einen Zweifel an der Göttlichkeit Maximins zulässt. Zumindest ein Stück weit wird damit die Verbindlichkeit gelockert, die jeder religiösen Handlung und somit auch der Vergöttlichung von Maximin zukommt. Die skizzierten Ambivalenzen des Erlösungsdiskurses um den Gott Maximin machen deutlich, dass George nicht auf eine irrationale Weise affiziert und fasziniert ist, sondern die Konstruktion, man könnte auch sagen: die Faktur des von ihm gestifteten Kults sehr genau reflektiert. Entscheidend ist dabei, dass er die Leser seiner Gedichte an dieser Reflexion teilhaben lässt. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, ob die enorme Anziehungskraft, die George über die Kreismitglieder hinaus auf viele seiner Leser ausgeübt hat, tatsächlich von Texten ausgeht, die auf der Ebene der inhaltlichen Aussage das eingetretene Heil und die Offenbarung des Erlösers beschwören, indem sie eine „lichtere Zukunft“⁷⁸ verheißen und über das „geschick [...] des kommenden Tages“⁷⁹ spekulieren. Wie die neuere George-Forschung herausgearbeitet hat, kennzeichnet diese Texte ein oratorischer Ton, der leicht ermüdend wirkt und der zu einer Verfestigung und Verhärtung der Sprache führt.⁸⁰ Das zitierte Gedicht ‚Schlusschor‘ aus dem ‚Stern des Bundes‘ ist ein Beispiel dafür und auch das Gedicht ‚Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande‘, das zu den 1921 veröffentlichten ‚Drei Gesängen‘ gehört. Demgegenüber werden seit einiger Zeit die liedhaft-weichen Klänge in Georges Gedichten ins Feld geführt, die als „Selbstkorrektur“⁸¹ und als „Einreden“⁸² gegenüber dem oratorischen „Propheten- und Tempelton“⁸³ wirken und in den „Ursprungsbereich aller Poesie“⁸⁴ zurückzuführen scheinen.⁸⁵ Im dritten und letzten Punkt soll deshalb

78 SW IX (Anm. 16), S. 30. 79 Ebd., S. 49. 80 Vgl. Wolfgang Braungart: Kult, Ritual und Religion bei Stefan George. In: Richard Faber/ Volkhard Krech (Hg.): Kunst und Religion. Studien zur Kultursoziologie und Kulturgeschichte, Würzburg 2001, S. 257–273; Verf.: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde, Göttingen ²2010, S. 445–507. 81 Braungart, Kult, Ritual und Religion bei George (Anm. 80), S. 259. 82 Ebd., S. 273. 83 Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 15), S. 19. 84 Ernst Osterkamp: „Ihr wisst nicht wer ich bin“. Stefan Georges poetische Rollenspiele, München 2002, S. 48. 85 Vgl. dazu auch Dirk von Petersdorff: Als der Kampf gegen die Moderne zu Ende war, sang Stefan George ein Lied. Zu seinem letzten Gedichtband ‚Das Neue Reich‘. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 53, 1999, S. 325–352.

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auf diese liedhaft-weichen Klänge eingegangen werden, die das „Prophetentum“⁸⁶ des charismatischen Dichter-Sehers relativieren.

III Stimmung und (Er-)Lösung Ausgangspunkt ist das in Webers Brief von 1910 erwähnte Gedicht ‚Entrückung‘, in dem vom „Dröhnen [...] der heiligen Stimme“⁸⁷ die Rede ist, das also den sakralen Anspruch von Georges Gedichten zu bestätigen scheint. Bevor dieses „Dröhnen“ im letzten Vers des Gedichts thematisiert wird, nimmt in der vierten Strophe die im Titel genannte „Entrückung“ Gestalt an: Ich löse mich in tönen · kreisend · webend · Ungründigen danks und unbenamten lobes Dem grossen atem wunschlos mich ergebend.⁸⁸

Auffällig ist, dass sich der Prozess der ‚Lösung‘ auch in der Sprach- und Formgebung widerspiegelt. Anzuführen ist vor allem die Rekurrenz der stimmhaftweichen Konsonanten im ersten der zitierten Verse. Die stimmhafte Weichheit der Sprache erinnert an einen Vers aus Georges frühem Gedicht ‚Weihe‘, in dem ein „schmeichelchor“ junger Wellen beschrieben wird, der versucht, „[z]um ufermoose kosend vorzudringen.“⁸⁹ Steht im Gedicht ‚Entrückung‘ die Bewegung des Sich-Lösens in Tönen noch im Dienst der Auflösung in einen übergreifenden sakralen Zusammenhang: „Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer/Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme“,⁹⁰ so emanzipiert sich diese Bewegung in anderen Gedichten von solchem Dienst und ist deshalb, ohne eigens genannt zu werden, nur in den Tönen selbst greifbar: In windes-weben War meine frage Nur träumerei. Nur lächeln war Was du gegeben. Aus nasser nacht

86 Weber, Brief an Dora Jellinek (Anm. 57), S. 562. 87 SW VI/VII (Anm. 16), S. 111. 88 Ebd. 89 SW II (Anm. 16), S. 10; vgl. dazu Verf., Geschichte der reinen Poesie (Anm. 80), S. 495–506. 90 SW VI/VII (Anm. 16), S. 111.

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Ein glanz entfacht – Nun drängt der mai · Nun muss ich gar Um dein aug und haar Alle tage In sehnen leben.⁹¹

Theodor W. Adorno, der in seiner ‚Rede über Lyrik und Gesellschaft‘ die letzten vier der zitierten Verse zum „Unwiderstehlichsten zähl[t], was jemals der deutschen Lyrik beschieden war“,⁹² spricht in seinem ‚George‘-Essay vom „gelösten, unwillkürlichen Wort“,⁹³ das in den zarteren und fragileren von Georges Gedichten hörbar werde. Es ist höchst aufschlussreich, dass die Gelöstheit, von der in Georges Gedicht ‚Entrückung‘ und in Adornos ‚George‘-Essay explizit die Rede ist, auch in der ästhetischen Diskussion um 1900 eine zentrale Rolle spielt. Zu nennen ist an erster Stelle Georg Simmels Essay ‚Böcklins Landschaften‘ von 1895. In diesem Essay reflektiert Simmel, vier Jahre vor einem berühmten Aufsatz des Kunsthistorikers Alois Riegl,⁹⁴ die Umstände und die Bedingungen der „Stimmung“,⁹⁵ in die der Betrachter von Böcklins Landschaften versetzt wird. Im Mittelpunkt von Simmels Reflexion steht ein durch die Kunst in Gang gesetzter, geistig-emotionaler Ablösungsprozess, der als Befreiung, als „Entrücktheit [...] aus allem Bedingten, aller Bindung und Begrenzung“⁹⁶ qualifiziert wird. Die Semantik der Lösung und der Gelöstheit zieht sich dabei wie ein roter Faden durch Simmels Essay, und sie ist in auffälliger Weise mit dem Begriff der Er-lösung verknüpft. Erlösung findet „durch die Kunst“⁹⁷ statt; die Kunst ist es, die „uns innerlich befreit, unsere Spannungen löst, uns über die Befangenheit im momentanen Schicksal hinaus erweitert.“⁹⁸ Im Essay ‚L’art pour l’art‘ von 1914 spricht Simmel, der in der Zwischenzeit durch zwei wegweisende George-Studien und eine Rezension des Gedichtbandes ‚Der Siebente

91 Ebd., S. 137. 92 Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11: Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997, S. 49–68, hier S. 66. 93 Theodor W. Adorno: George. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11(Anm. 92), S. 523–535, hier S. 525. 94 Vgl. Alois Riegl: Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst [1899]. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Hg. von Karl M. Swoboda, Wien 1928, S. 28–39. 95 Georg Simmel: Böcklins Landschaften [1895]. In: Ders.: Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze, Potsdam 1922, S. 7–16, hier S. 7. 96 Ebd., S. 10. 97 Ebd., S. 11. 98 Ebd.

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Ring‘ hervorgetreten ist, vom „Erlösenden in der Hingabe an ein Kunstwerk“.⁹⁹ Spätestens jetzt ist klar, dass der Begriff der „Erlösung“ bei Simmel ein wirkungsästhetischer ist: So sehr sich Böcklins Landschaften im produktionsästhetischen Sinne von allen sonst geltenden Bedingungen der Welt „gelöst“¹⁰⁰ haben – es geht in erster Linie um die „lösende, erlösende Wirkung“¹⁰¹ seiner Kunst. Von solcher „Wirkung“ und von solcher „Hingabe“ aber zeugen auch die Haltung und der Sprachgebrauch Adornos. Bislang hat noch niemand danach gefragt, was die ‚Unwiderstehlichkeit‘, die Adorno Georges Versen attestiert, im prägnanten Sinne zu bedeuten hat. Sie bedeutet auch, dass der stets um Distanz zu seinem Gegenstand bemühte kritische Theoretiker an dieser Stelle seinen Widerstand gegen die Verse aufgegeben hat, dass er sich diesen Versen hingeben muss. Diese Hingabe betrifft die liedhaft-weichen Verse Georges, also jene Gedichte, die nicht mehr nur von einem Sich-Lösen in Tönen sprechen, sondern in Töne gelöst sind und dementsprechend eine gelöste Stimmung beim Leser und Hörer dieser Verse hervorrufen. Simmels ästhetische Reflexion um 1900, die um die „Stimmung“ und um die „lösende, erlösende Wirkung“ der Kunst kreist, und das Beispiel Adornos aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts machen deutlich, dass die eigentliche Erlösung, die Georges Lyrik zugeschrieben werden kann, nicht im religiösen Anspruch der Gedichte zu suchen ist, sondern in den Tönen selbst stattfindet.

99 Georg Simmel: L’art pour l’art [1914]. In: Ders.: Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze, Potsdam 1922, S. 79–86, hier S. 84. 100 Simmel, Böcklins Landschaften (Anm. 95), S. 8f. u. S. 15. 101 Ebd., S. 10.

Lothar van Laak

Maximin als religiöses Medium I Stefan Georges mythisch-religiöse Figuration Maximin soll eine ästhetische und eine soziale Leistung erbringen. Maximin wird in den Himmel versetzt, um von dort den ‚Bund‘, den Kreis, zu begründen und ihn immer wieder an dieses „denkbild“ des Schönen rückzubinden.¹ Den sogenannten „PLASTISCHEN GOTT“² Maximin zeichnen Schönheit und Greifbarkeit aus. Er ist „nackte[r] glanz“, „erfüllung“ und „licht“, – und soll doch auch Realität sein. Mythos und Mythisierung werden so zu Religion und Gottes-Erfahrung, zu einem gelebten, einem lebendigen Traum.³ Das Ineinander von Kunst und Religion, das sich in dieser ästhetischen Gestaltung eines Imaginären zeigt, zusammen mit der Singularität seiner Dogmatik und seiner Exklusivität, machen es so schwierig, den substanziellen Kern dieser ästhetisch-religiösen Figuration zu fassen. Die zentrale Bedeutung des Kults um Maximin bestimmt Claude David

1 Vgl. zum Verhältnis von Religion und Ästhetik bei George und zur Bedeutung des Ästhetischen für die Prozesse der Kreisbildung die Artikel von Jan Andres: Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaften. In: Achim Aurnhammer/Wolfgang Braungart/Stefan Breuer/Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. 2, Berlin – New York 2012, S. 713–750, insbes. S. 713ff. u. S. 732ff.; und Verf.: Mythen, Mythisierungen, Religion. In: Ebd., S. 751–770. Dort jeweils auch die Hinweise auf den aktuellen Stand der Forschung. 2 Stefan George an Friedrich Gundolf, Brief vom 11.6.1910. In: Robert Boehringer (Hg.): Stefan George – Friedrich Gundolf. Briefwechsel, München 1962, S. 201f., hier S. 202. 3 Claude David: Stefan George. Sein dichterisches Schaffen, München 1967, charakterisiert den von George geschaffenen Maximin-Mythos so: „Maximin ist der in die Wirklichkeit übertragene Traum Georges.“ (S. 273) In zwei Punkten ist sich die Forschung zu Stefan Georges ebenso bemerkenswertem wie merkwürdigem Kult um Maximin weitgehend einig. Zum einen sieht sie die große und nicht zu überschätzende Bedeutung der ästhetischen Mythisierung Maximilian Kronbergers für die Organisation des Werks und des Kreises. Zum anderen muss sie mehr oder weniger offen die Schwierigkeit eingestehen, diesen Kult wirklich zu erfassen und genauer zu beschreiben. Denn, so schon Heinz-Winfried Sabais, „der Gott Maximin besteht ganz und gar aus dem subjektiven Erlebnis des Dichters und seiner Kunsterhöhung. Er steht auf dem Altar und sein Schöpfer ist sein einziger Prophet“. (Heinz-Winfried Sabais: Maximin. Die Einsetzung eines Gottes. In: Manfred Schlösser [Hg.]: kein Ding sei wo das wort gebricht. Stefan George zum Gedenken, Darmstadt ²1961, S. 56–62, hier S. 57; vgl. ähnlich argumentierend: Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007.)

Maximin als religiöses Medium



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als den „Mythos, der Stefan Georges Werk seinen letzten Aspekt und, im Rückblick gesehen, der ganzen vergangenen Dialektik ihre Bedeutung verleihen wird.“⁴ Aus dem Mythos Maximin wird damit auch das Gesamtwerk in seiner Identität hergestellt.⁵ In den folgenden Überlegungen will ich ein Modell skizzieren, das diesen Kult um Maximin und die Relationen, die sich in ihm zeigen, als ein mediales Verhältnis auffassen lässt. Ich will also nicht zuerst auf die Semantik der Botschaft blicken, sondern auf die performativen und Transformationsprozesse, die diese Botschaft vermitteln oder auch: erwirken sollen. Diese Argumentationsrichtung geht auf die Entwicklung in den jüngeren Arbeiten zu George zurück, die weniger die spezifische Semantik des Maximin-Mythos zu rekonstruieren versuchen, als vielmehr auf den ästhetisch gestalteten Vollzug, die performative Dimension, dieser mythischen beziehungsweise religiösen Struktur sehen, ihre ‚Ritualdynamik‘.⁶ Für die Bestimmung der Dynamik dieser performativen Prozesse will ich dabei ein aktuelles medienphilosophisches Modell zu Hilfe nehmen, das Sybille Krämer zu einer Philosophie des Boten ausformuliert hat. Dafür hebt Krämer vier Gesichtspunkte hervor: 1. Eine nicht auf raum-zeitliche Entfernung reduzierbare Differenz ist die Voraussetzung von Übertragungen. 2. Die Rolle des Mittlers ist nicht immer Überbrückung und Nivellierung dieser Differenz, vielmehr auch deren Aufrechterhaltung. Medien – in der Funktionslogik des Boten betrachtet – ermöglichen also den Umgang mit Differenz. 3. Die Funktion des Boten – und das ist medientheoretisch verallgemeinerbar – ist das Wahrnehmbarmachen. Aisthetisierung bildet den Nukleus von Übertragungsvorgängen; das Übertragen ist als ein Zeigen rekonstruierbar. 4. Möglich ist dies durch eine Transformation, bei der ein Andersartiges dadurch zur Erscheinung gebracht wird, dass das jeweils ‚Eigenartige‘ dabei neutralisiert wird. So erzeugt die mediale Mittelbarkeit den Eindruck einer Unmittelbarkeit.⁷

In diesem Modell gibt es eine Bewegung zwischen Differenzbewusstsein beziehungsweise Differenzverhalten (Punkte 1 und 2) und Unmittelbarkeit, auch 4 David, Stefan George (Anm. 3), S. 257. David leitet diesen Mythos wie folgt her: „Der MaximinMythos ist eine Waffe gegen die ‚Kosmiker‘, aber er bleibt ihrer Denkweise noch stark verhaftet.“ (S. 203; vgl. auch S. 273). 5 Als „Werkpolitik“ beschreibt Steffen Martus diese Prozesse (Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin – New York 2007). Sie lassen sich auch als performative Form von Identitätsstiftung auffassen, wie sie in meinen folgenden Überlegungen entwickelt wird. 6 So der Titel des Heidelberger Sonderforschungsbereichs (SFB 619). 7 Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M. 2008, S. 262 (Hervorhebungen im Original).

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Unmittelbarkeit der Wirkung (Punkt 4). Zentral, und das steckt in Punkt 3, ist dabei das Wahrnehmbarmachen, verstanden als Aisthetisierung der Botschaft durch den Boten und rekonstruierbar als Zeigen. Das „Wahrnehmbarmachen“, das Kernmoment der Aisthetisierung, bestimmt Krämer dann so: [D]as Wahrnehmbarmachen, auf das es uns im Zusammenhang von Übertragungsvorgängen ankommt, ist eine Art von Wahrnehmen, bei dem im Präsentierten zugleich die Abwesenheit des darin Vergegenwärtigten erfahren wird. So eben, wie der Bote, der, indem er mit fremder Stimme spricht, in der Präsenz seiner Rede zugleich die Absenz desjenigen, in dessen Name er spricht, zum Vorschein bringt – und dessen ‚Aura‘ dabei gleichwohl präsent macht.⁸

Dieses Wechselspiel von Differenz und Unmittelbarkeit, von Abwesenheit und Präsenz, von ‚Ferne, so nah sie sein mag‘, um mit Benjamins Vorstellung der Aura zu sprechen,⁹ die Krämer hier bewusst in ihre Argumentation einbezieht, dieses vielschichtige Wechselspiel sieht sie als Grundstruktur medialer Prozesse. Dass Krämer die Aisthetisierung, die Versinnlichung und Vergegenständlichung, ins Zentrum dieser Prozesse rückt, macht dieses Modell auch in ästhetischer Hinsicht so gut verwendbar.¹⁰ Insbesondere für die Konzeption von Maximin ist es ertragreich. So hat Wolfgang Braungart für den Maximinkult ähnliche Aspekte schon benannt: „Aus dem Maximin-Mythos spricht das Bedürfnis nach Materialisierung, Konkretion, Erfahrbarkeit und Anschaulichkeit dieser Mitte, die Stefan George für seinen Kreis braucht und die er selbst stiftet.“¹¹ Wie aber lässt sich Krämers Medienmodell beziehungsweise Medialitätsvorstellung nun genau auf den Maximinkult übertragen? Von dessen beiden Hauptfiguren aus lassen sich ja zwei Richtungen der Übertragung bestimmen, vom verkündeten Gott Maximin hin zu seinem Propheten als seinem Vermittler – und umgekehrt. So fragt Steffen Martus ganz zu Recht, „wo [denn] eigentlich der von George verkündete Gott zu finden ist: in Maximin oder in seinem dichtenden

8 Ebd., S. 270. 9 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I: Abhandlungen 1, Frankfurt a. M. 1974, S. 471–508. Siehe auch die differenzierte Einführung in Benjamins Aura-Konzept von Josef Fürnkäs: Aura. In: Michael Opitz/ Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Bd. 1, Frankfurt a. M. 2000, S. 95–146. 10 Das ist das besondere Verdienst von Krämers ‚Kleiner Metaphysik der Medialität‘ (Anm. 7). Ähnlich perspektiviert auch Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung, Hamburg [2006] ³2013. 11 Wolfgang Braungart: „Was ich noch sinne und was ich noch füge/Was ich noch liebe trägt die gleichen züge“. Stefan Georges performative Poetik. In: Text + Kritik 168, 2005, S. 3–18, hier S. 10.

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Propheten.“¹² Wer also ist hier der Bote und wer ist hier derjenige, der die Botschaft aussendet? Wer wird dann präsent gemacht, aisthetisch wahrnehmbar, was zeigt sich wirklich – und wer ist dabei der Mittler, wer die Botschaft? Die Schlussverse von ‚Das Sechste‘ lauten: „Am dunklen grund der ewigkeiten/ Entsteigt durch mich nun dein gestirn.“¹³ Der Bote bringt damit seinen Gott überhaupt erst performativ hervor. Wer da durch wen oder was vermittelt und verkörpert wird, lässt das Ganze mithin zu einem hochkomplexen Spiel mit Identitäten werden, wenn der Künder sich genealogisch als „meines kindes kind“ sieht.¹⁴ Entworfen wird dabei zugleich ein differenziertes Modell von religiöser und ästhetischer Autorschaft sowie von Präsenz in ihren verschiedenen Formen. Wolfgang Braungart hat diese Wendung vom Gott hin zu seinem Erfinder und Propheten gesehen und so zusammengefasst: „Im Unterschied zu Christus spricht Maximin nicht für sich selber. Ohne den, durch den er Sprache wird, ist er nicht. So ist die Verschränkung von Gott und Künder Eucharistie.“¹⁵ In dieser Perspektive ist Maximin der Bote für George und den Kreis. Durch diese Eucharistie wird der Autor als Einzelner, George, vermittels Maximin in seinem Kreis Geist einer Gemeinde und ein in sich differenziertes, multiples, aber doch zu einer Gestalt integriertes und dadurch ‚höheres‘ Autorsubjekt. Maximin wird ‚kommuniziert‘, im Sakrament ausgeteilt und durch den Meister der Veredelung und neuen Vereinigung dem Kreis zugeführt. Dieser formalen Realisierung als Eucharistie entspricht Georges besondere religiöse, rituelle Konzeption: „Wie der Priester im religiösen Ritual, so will auch der poeta vates nicht aus seiner Subjektivität heraus sprechen und sie aussprechen, sondern im Amt und als Auftrag.“¹⁶ Im Maximin-Ritual kann sich der Kreis begründen und George in den Traditionen des poeta vates und des charismatischen Seher-Propheten als Geschöpf eines mythisch selbst erschaffenen „eignen sohnes“¹⁷ stilisieren: „Maximin ist poetische Präsenz des Gottes für George und den Kreis. Seine Anwesenheit ‚verwandelt‘, macht schöner, ästhetisiert.“¹⁸

12 Martus, Werkpolitik (Anm. 5), S. 646. 13 Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. VI/VII, S. 104f. Im Folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. 14 SW VIII (Anm. 13), S. 14; sehr präzise zeigt dies: Ernst Osterkamp: „Ihr wisst nicht, wer ich bin.“ Stefan Georges poetische Rollenspiele, München 2002. 15 Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, S. 246f. Vgl. auch ders.: „Durch Dich, für Dich, in Deinem Zeichen“. Stefan Georges poetische Eucharistie. In: George-Jahrbuch 1, 1996/1997, S. 53–79. 16 Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm. 15), S. 228f. 17 SW VI/VII (Anm. 13), S. 109. 18 Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm. 15), S. 245.

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Damit wird der Gott zum Boten seines Priesters, der ihn in Erscheinung zu bringen und im Kreis zu ‚realisieren‘ vermag.

II Dazu möchte ich im Folgenden eine Differenzierung vorschlagen. Mit ihr wird nicht der Gott Maximin, gleichwohl etwas von seiner Göttlichkeit festgehalten. Diese freilich löst sich von Maximin und erst recht von der Person Maximilian Kronberger. Eine Konsequenz dieser Differenzierung ist, dass damit eine andere Form religiöser und ästhetischer Autorschaft konturiert wird: Unter dem Signum der Göttlichkeit vollzieht sich eine aspektreiche Formung von Präsenz, die, durch das Medium Maximin vermittelt, wahrnehmbar und gezeigt wird. Blicken wir dazu noch einmal genauer auf die Verfahren der Transformation, die Krämer für den medialen Prozess im Wesentlichen benennt: Differenz, Umgang mit der Differenz und als zentralen Aspekt: Wahrnehmbarmachen als Aisthetisierung sowie ein diese Aisthetisierung reflektierendes-rekonstruierendes Zeigen, schließlich der Eindruck der Unmittelbarkeit, indem das ‚Eigenartige‘, man könnte auch sagen: das Individuelle des Boten, neutralisiert wird. Maximins Charakter als Bote des Göttlichen, gerade in diesem Moment der Aisthetisierung, der Wahrnehmbarmachung des Göttlichen, wird an verschiedenen Stellen der ‚Vorrede zu Maximin‘ deutlich, die ich im Folgenden etwas genauer betrachten will.¹⁹ So heißt es – die These Claude Davids vom Wirklichkeit werdenden Traum Georges bestätigend²⁰ – über Maximin: wir „erkannten in ihm den darsteller einer allmächtigen jugend wie wir sie erträumt hatten“ (Z. 26–28). Die Funktion Maximins ist tatsächlich das Zeigen, denn: „was uns not tat war Einer der von den einfachen geschehnissen ergriffen wurde und uns die dinge zeigt wie die augen der götter sie sehen.“ (Z. 36–38) Auf den Tempuswechsel innerhalb dieses Satzes werde ich später noch einmal eingehen. Das Göttliche Maximins zeigt sich in seiner „seele wie deren versinnlichung in gestalt und gebärde und sprache.“ (Z. 46) Maximin ist aber eben nicht nur Bote des Göttlichen. Er steht in commercio, ja, in communio mit dem Göttlichen. Und dies wirft auch ein anderes Licht auf den Boten. Denn, so heißt es zur Bilanz des Boten: „Maximin hat nur kurz unter

19 SW XVII (Anm. 13), S. 61–66. Aus der ‚Vorrede‘ wird im Folgenden unter Nennung nur der Zeilenzahl im Text zitiert. 20 David, Stefan George (Anm. 3), S. 273.

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uns gelebt. Gemäss einem frühen vertrag den er geschlossen wurde er auf einen andren stern gehoben ehe seine göttlichkeit unsresgleichen geworden war.“ (Z. 116–118) Hier, in der Möglichkeit mit den Göttern einen Vertrag zu schließen, streift Maximin seinen Botencharakter ab und – als Mitspieler und Vertragspartner der Göttlichen, damit als autonom und sich ihnen freiwillig verpflichtend – wird er selbst göttlich. Diese Göttlichkeit aber entzieht er „unsresgleichen“ und lässt sich „auf einen andren stern“ heben, um nicht im Verkehr mit „unsresgleichen“ seine Göttlichkeit einzubüßen. Auch Maximins Qualität der Versinnlichung des Göttlichen erfährt eine Präzisierung. Denn die Versinnlichung ereignet sich vollständig und vollgültig erst in der „kommunion mit seinem geiste“, wie es heißt: „das tiefste seines wirkens wird erst sichtbar aus dem was unsren geistern durch die kommunion mit seinem geiste hervorzubringen vielleicht vergönnt ist.“ (Z. 85–87) Die Wirkung der „kommunion mit seinem geiste“, in dem „das tiefste seines wirkens [...] erst sichtbar“ wird, erfüllt sich nicht zwangsläufig, sondern ist ein Ergebnis der Gnade des Göttlichen. Es ist uns „hervorzubringen vielleicht vergönnt“. Mit dieser Einschränkung der Verfügbarkeit ist der Zugriff und Zugang zum Göttlichen von uns her deutlich relativiert. Das Göttliche liegt vor allem in seiner Differenz, in seiner Distanz; und es hat eine geistige Qualität, die sich „in gestalt und gebärde und sprache“ versinnlicht, mithin nicht nur ein katholisches Modell, sondern daneben auch ein pneumatisches und ein Modell von Gnade, die synkretistisch auch die grundsätzliche Aufwertung der Sinnlichkeit in dieser ästhetischen Religion bereichern.²¹ Hervorzuheben ist dabei noch ein zweiter Aspekt. Er liegt in der spezifischen temporalen Struktur, die in der ‚Vorrede‘ entworfen und hier deutlich wird. Zum einen öffnet sich diese Passage sehr eigentümlich in die Zukunft hin, wenn in ihr „vielleicht“ „das tiefste seines wirkens“ erst sichtbar werde. In diesem ‚Vergönnen sichtbaren Werdens‘ steckt etwas von Gnade. Zum anderen sticht diese Passage auch deshalb heraus, weil die ‚Vorrede‘ sonst fast durchgehend im Präteritum gehalten ist. Zum Präsens kommt die ‚Vorrede‘ erst am Schluss. Zuvor sind präsentische Wendungen nur in zwei Nebensätzen versteckt, mit denen über das Göttliche gesprochen und damit dessen Präsenzcharakter herausgehoben wird (Z. 38f. und Z. 77ff.). Die dritte Stelle steht direkt nach der Passage von der Kommu-

21 Ein hermeneutisches Modell der Gnade von Deutung habe ich, ausgehend von Hölderlins ‚Patmos‘-Hymne, entwickelt in Verf.: Gutes Deuten, Schlechtes Deuten. Das Prinzip der hermeneutischen Billigkeit. In: Verf./Susanne Kaul (Hg.): Ethik des Verstehens. Beiträge zu einer philosophischen und literarischen Hermeneutik, München 2007, S. 83–104. Vgl. zum religiösen Synkretismus Georges: Jürgen Egyptien: Entwicklung und Stand der George-Forschung 1955–2005. In: Text + Kritik 168 (Anm. 11), S. 105–122.

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nion, wenn vom Wissen der Gegenwärtigen die Rede ist (Z. 87–101). Von diesem Wissen aus wird dann eine längere Passage der erinnernden und reflektierenden Rückwendung formuliert. Unterbrochen wird das Vergangenheitstempus nur für die gnomische Weisheit (Z. 114f.) und die überlieferte Rede von Maximin und dem Meister sowie im Nebensatz vom Nicht-Glauben-Können an seinen Tod. Erst in den Schlusszeilen der ‚Vorrede‘ wendet sich der Text endgültig und direkt ins Präsens: „So steht er vor uns wie wir zulezt ihn sahen“. Gegenwart und Vergangenheit sind nun ausgesöhnt,²² was im Schlusssatz gipfelt: Wir können nun gierig nach leidenschaftlichen Verehrungen in unsren weiheräumen seine säule aufstellen uns vor ihm niederwerfen und ihm huldigen woran die menschliche scheu uns gehindert hatte als er noch unter uns war.

Damit kann die Gegenwart sich über die Vergangenheit hinwegsetzen und sich zugleich in ihr fundieren. Es ist, so paradox dies klingt, die Präsenz des gewesenen, des absenten Gottes. Für die besondere temporale Struktur der ‚Vorrede‘ lassen sich sehr gut noch einmal die dritte und vierte Bestimmung von Krämers Verständnis des Boten anführen: Die Funktion des Boten – und das ist medientheoretisch verallgemeinerbar – ist das Wahrnehmbarmachen. Aisthetisierung bildet den Nukleus von Übertragungsvorgängen; [und] das Übertragen ist als ein Zeigen rekonstruierbar.²³

Was in der erinnernden Rückschau aus dem Wissen um Maximin ab der zentralen Passage von der Kommunion im Geiste formuliert wird, ist ein „Übertragen“, und dieses „ist als ein Zeigen rekonstruierbar“. In diese Haltung begibt sich der Vorredner auf Maximin. Er und Maximin teilen sich also genau genommen ihre Vermittlungsleistung, beide sind füreinander Boten. „Ich entlasse dich als schüler · nimm mich zum freund! denn immer bleib ich ein teil von dir wie du ein teil von mir.“ (Z. 146f.) So machen sich beide einander wahrnehmbar. Das ist etwas anderes und mehr als nur eine Dialektik von Gott und Prophet, wie sie bisher immer wieder betont worden ist. Statt der Performativität 22 Dies lässt sich als ein besonderes Zeitverhältnis auffassen, als eine Eigenzeitlichkeit, die die Erfahrung von Präsenz darstellt. Vgl. zu diesen Debatten: Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004; einige frühere Arbeiten und weitere Beiträge sind neu zusammengestellt in ders.: Präsenz, Berlin 2012. Vgl. auch die Beiträge in Sonja Fielitz (Hg.): Präsenz Interdisziplinär. Kritik und Entfaltung einer Intuition. Mit einem Vorwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Heidelberg 2012; und Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a. M. 1994; ders.: Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung, München 2008. 23 Krämer, Medium, Bote, Übertragung (Anm. 7), S. 262.

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im Geschehen zwischen Gott und Priester ist hier stärker von Schönheit, Plastizität, Wahrnehmung selbst, ja genauer: Wahrnehmbarkeit, auszugehen. Statt von Performativität mithin von Medialität, als eine Ermöglichung von Wahrnehmung überhaupt, von ihrer Bedingung und Formung, nicht nur von ihrem bewussten oder erfahrenden Vollzug. Es ist also nicht nur das Machen, das performative Moment des göttlichen Schaffens im ‚Fiat Lux!‘. Es ist neben dem ‚Gott machte‘ auch die anerkennende, sich im Wahrnehmen der Kreativität selbst reflektierende Göttlichkeit des ‚Und Gott sah, dass es gut war.‘ Es ist Performanz und die Realisierung, Legitimation und Festigung von Identität. Die Göttlichkeit ist durch den Boten in die Welt gebracht, sie ist als vermittelte, wahrnehmbar gemachte, da; und sie kann auf Grund dessen so vollzogen werden, dass sie sich vollgültig realisiert. Medialität geht der Performativität voran. Es ist mit der Göttlichkeit wie mit den „wahren edelsteine[n]“, von denen zu Beginn der ‚Vorrede‘ gesagt wird, dass sie in einen „haufen von flitterstücken [...] wahllos geworfen wurden“ (Z. 8f.), um sie durch die ‚Vorrede‘ dann als real freizulegen und zu präsentieren. Diese Göttlichkeit ist keine Präsenz (in) der Plötzlichkeit,²⁴ sondern eine der Annäherung und Anreicherung: „Je näher wir ihn kennen lernten desto mehr erinnerte er uns an unser denkbild und ebenso verehrten wir den umfang seines ursprünglichen geistes und die regungen seiner heldenhaften seele“ (Z. 43–46).²⁵ Die Göttlichkeit resultiert also auch aus der Erinnerung „an unser denkbild“, in dem sie präfiguriert gewesen ist. Man kann dieses präfigurierende „denkbild“ als Medium im engeren Sinn verstehen, das sich dann zur Erfahrung von und in Maximin ausformt und in ihm Gestalt annimmt. Seine Göttlichkeit liegt darin, schon immer da gewesen zu sein, als reales Bild eines „denkbilds“, als religiöses Medium für das Göttliche. In Luhmanns Medientheorie ist als eine grundlegende Unterscheidung bekanntlich die Differenz von Medium und Form formuliert.²⁶ Ohne die anti-substanzialistische und anti-metaphysische Stoßrichtung von Luhmanns MetaTheorie hier daraufhin zu diskutieren, inwieweit sie dem impliziten Medienmodell um 1900 adäquat ist, lässt sich ein Gedanke nutzen, den auch Krämer für 24 Auf dieser Kategorie der Modernität ästhetischer Erfahrung hat Karl Heinz Bohrer immer wieder insistiert (Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981). 25 Das Modell einer Literaturgeschichte ästhetischer Anreicherung habe ich detaillierter entwickelt in Verf.: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 2003. 26 Siehe u. a. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Wiesbaden ³2004. Ausgehend von der Systemtheorie Luhmanns hat Oliver Jahraus ein grundlegendes medientheoretisches Modell von Literatur entwickelt: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation, Weilerswist 2003.

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ihre Konzeption aufgreift: den der Festigkeit des Mediums und der Flüchtigkeit und Wandelbarkeit der sich in ihm realisierenden konkreten Formen. Für den Schluss von Georges ‚Vorrede‘ lässt sich dann Krämers vierte Bestimmung des Boten einbeziehen, nach der er sich im Verkünden der Botschaft als Medium realisiert, indem er seine individuell-konkrete Form diaphan werden lässt: Möglich ist dies [das Wahrnehmbarmachen] durch eine Transformation, bei der ein Andersartiges dadurch zur Erscheinung gebracht wird, dass das jeweils ‚Eigenartige‘ dabei neutralisiert wird. So erzeugt die mediale Mittelbarkeit den Eindruck einer Unmittelbarkeit.²⁷

Maximin lässt das Göttliche unmittelbar zur Erscheinung werden, wobei sein Eigenartiges, sein Individuelles ganz abgestreift oder aufgehoben ist: Er ist, wie es zum Schluss der ‚Vorrede‘ heißt, „kein abbild einsiedlerischen duldenden verzichtes sondern der lächelnden und blühenden schönheit.“ (Z. 168f.) Ganz in Schönheit aufgegangen, ist Maximin nicht mehr Bote, auch nicht mehr Botschaft, sondern Möglichkeit der Wahrnehmung des Göttlichen und sodann das Göttliche selbst, zu dem das „Wir“ der ‚Vorrede‘ dann neu und in neue mediale Verhältnisse eintreten kann, wie es im Schlusssatz der ‚Vorrede‘ heißt, der hier noch einmal zitiert sei: Wir können nun gierig nach leidenschaftlichen verehrungen in unsren weiheräumen seine säule aufstellen uns vor ihm niederwerfen und ihm huldigen woran die menschliche scheu uns gehindert hatte als er noch unter uns war. (Z. 169–172)

Das, was hier konstituiert wird, ist ein grundlegender Aspekt medialer Dynamik. Sie bringt nicht nur (immer neue) Medien und Formen hervor, sondern ist Ausdruck, Darstellung, Wahrnehmbarmachung: Zeigen eines menschlichen Begehrens nach Medialität, das heißt nach dem Begehren sich medial zu realisieren. Für George, das zentrale Zitat aus der ‚Vorrede‘ sei noch einmal aufgegriffen, liegt diese mediale Dynamik darin, „das tiefste seines wirkens [...] sichtbar aus dem was unsren geistern durch die kommunion mit seinem geiste hervorzubringen vielleicht vergönnt ist.“ (Z. 85–87; Hervorhebung L. v. L.) Deshalb bringt der Mensch „gierig“ neue Medien hervor, wie es die Bildsäule für Maximin, das Foto des ‚Gedenkbuchs‘ oder das ‚Gedenkbuch‘ selbst und auch die Texte seiner Verehrung sind. Medialität ist dabei – und nun auch allgemeiner gesprochen – kein nur theoretisch rekonstruierter oder gesetzter Selbstzweck, auch nicht an sich greifbar. Vielmehr zeigt sie sich immer wieder neu als Selbstreflexivität des Mediums, oder aber sie wird wahrnehmbar gemacht durch die intermediale 27 Krämer, Medium, Bote, Übertragung (Anm. 7), S. 262.

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Referenz anderer Medien auf ein weiteres Medium. Das löst das ‚Gedenkbuch‘ für Maximilian Kronberger somit in der Tat ein. Denn ist es an dieser Stelle das Bild, die bearbeitete Photographie, die auf Maximin als religiöses Medium verweist. Die Ekphrasis im Text der ‚Vorrede‘ lautet ja, dass sich hier in der Abbildlichkeit beziehungsweise genauer: Ebenbildlichkeit „der lächelnden und blühenden schönheit“ das Göttliche zeige. Medialität kann dann besonders ‚präsent‘ gemacht werden, wenn ein Medium für ein anderes steht oder sich an ein anderes anlehnt: in Prozessen von Intermedialität. Die Medialität bleibt sonst hinter dem Charakter des Mediums verborgen.²⁸ Maximin teilt dies mit dem Charakter des Mediums. Aber dabei wird das religiöse Medium Maximin auch zu einer ästhetisch, religiös und sozial wirksamen medialen Elementarfiguration. Sie lässt den Mediator und Gestalter dieser Figuration zum Boten eines Göttlichen werden, das auf Sichtbarkeit und Plastizität zielt und, mehr noch: das die eigene Autorschaft Georges so nicht nur medial differenziert, sondern den Autor des Boten der Botschaft vergöttlicht, wenn man diese Autorschaft als eine ästhetisch-religiöse in den Blick nimmt. Ein zweiter Blick darauf figuriert diese Autorschaft als die des Zeugen, den Sybille Krämer als besondere Form des Boten bestimmt. Sie skizziert diese Botenfiguration so, dass man bei der Zeugenschaft auf zweierlei angewiesen ist: auf die Übertragung von Wahrnehmung und/oder Wissen seitens der Zeugen einerseits und auf das Schenken von Vertrauen und Glauben seitens der Hörer andererseits. Insofern die Bedingung der Möglichkeit einer Übertragung durch den Zeugen in dem Umstand liegt, dass ihm geglaubt und vertraut wird, birgt [... sie] immer auch eine ethische Dimension.²⁹

Ästhetische und soziale Dimensionen dieser medialen Konzeption von Autorschaft bei George gehören zusammen. Sie schließen sich durch das religiöse Medium Maximin zusammen, das ästhetische und soziale Zeugenschaft durch das Zeigen ihrer Wahrnehmbarkeit gestiftet hat und als Identität vermittelt.

28 Am Beispiel des Films erläutert dies in grundlegender Hinsicht und im Blick auf die Möglichkeit, dabei doch die Medialität des Mediums zum Ausdruck zu bringen, Lorenz Engell: Affinitität, Eintrübung, Plastizität. Drei Figuren der Medialität aus der Sicht des Kinematographen. In: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium?, Frankfurt a. M. 2008, S. 185–210. Vgl. auch die abschließenden Überlegungen zu einer Medientheorie, die sich aus Strukturen der Negativität bestimmt: Mersch, Medientheorien zur Einführung (Anm. 10), S. 221–228. 29 Krämer, Medium, Bote, Übertragung (Anm. 7), S. 260.

Georg Dörr

Stefan Georges neopagane Maximin-Religion Bricolage und intramundane Eschatologie Für Jutta und Wolfgang Braungart

Thomas Mann sagte bei seiner Ankunft im amerikanischen Exil in New York im Jahre 1938 über sich: „Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir.“¹ Stefan George pflegte in den 1920er Jahren von sich zu sagen, wo er sei, da sei Griechenland.² Thomas Manns trotzige Behauptung beinhaltet, dass das von den Nationalsozialisten geschändete echte Deutschland durch ihn oder zumindest durch sein Werk im Ausland repräsentiert werde; Georges Absicht in den 1920er Jahren war es hingegen, durch eine Revitalisierung griechischer Religion und Kultur ein nach seinen Vorstellungen echtes Deutschland in einer ferneren Zukunft³ erst zu schaffen. Sah Georges früherer Weggefährte Alfred Schuler sich als ‚romanus redivivus‛,⁴ als wiedererstandenen Römer, so sah George sich wohl als ‚graecus redivi-

1 Vgl. Helmut Koopmann: Thomas Mann. In: Hartmut Steinecke (Hg.): Deutsche Dichter – Ihr Leben und Werk. Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts, Berlin 1994, S. 135–157, hier S. 150. Bei der Ankunft der Manns in New York City am 21.2.1938 wurde der Autor von Reportern gefragt, ob er das Exil als eine schwierige Last empfinde. Seine Antwort in englischer Sprache: „Where I am, there is Germany“, wurde tags darauf in der ‚New York Times‛ abgedruckt. 2 Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, Düsseldorf – München ²1969, S. 228. 3 Über den möglichen Eintritt seines (Neuen) Reiches gibt es in den späten Gedichten Georges nur vage Angaben. Vgl. Verf.: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule, Würzburg 2007, S. 334: „Das Gedicht ‚Der Brand des Tempels‘ zeigt den Untergang des alten Reiches; es enthält aber auch die Vorhersage der Zeitspanne, die verstreichen müsse, bis das neue Reich entstehen kann.“ Anders als in früheren Gedichten wird hier ein genauerer Zeitraum angegeben: „Der tempel brennt. Ein halbes tausend-jahr/Muss weiterrollen bis er neu erstehe“. (Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. IX, S. 69. Im Folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert.) Diese Zeitangabe wird in Anlehnung an chiliastisch-eschatologische Modelle der katholischen Kirche vorgenommen. Zu Friedrich Gundolfs Lektüre dieses Gedichtes im Jahre 1919 vgl. Kapitel II.4. dieses Beitrages. 4 Verf., Muttermythos (Anm. 3), S. 213, Anm. 965; in seinen Erinnerungen nennt Klages Schuler „[...] diese[n] um anderthalb Jahrtausende verspäteten Römer […].“

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vus‛. Dass 2000 Jahre Christentum an ihm spurlos vorbeigegangen seien, äußerte George auch im Gespräch mit Edith Landmann: Weiß der Teufel, woher das kommt, dass ich vom Christentum außer in seiner heidnischen Form so gar nichts verstehe. Ich bin doch, möcht me spreche [sic], aus einer guten alten katholischen Familie. Wenn ich Plutarch lese, das versteht man doch so ziemlich, da fühlt man sich zu Haus.⁵

Kann man 2000 Jahre Christentum ignorieren? George fühlte sich offensichtlich als ‚anima naturaliter pagana‛⁶ (und eben nicht ‚christiana‛). Die ‚anima naturaliter christiana‛ hat (inzwischen muss man sagen: hatte),⁷ wenn sie vor Christi Geburt lebte, ihren Platz im Limbus (= Vorhölle). Aus welchem heidnischen Limbus (oder Hades) aber taucht die präexistente ‚anima naturaliter pagana‛ Georges (wieder) auf?⁸ Nicht metaphorisch gesprochen: Kann man in der Moderne pagan sein, oder muss man nicht zwangsläufig neopagan (oder paganistisch) sein, das heißt ein 5 Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf – München 1963, S. 47; vgl. dazu auch Georges Ausruf: „Die antike Weisheit von katholischen Krusten befreien!“ (Ebd., S. 144). In Bezug auf Platon notiert Landmann eine weitere Äußerung, die Georges Auffassung bestätigt, dass sich authentisches Heidentum gleichsam aus Versehen ins Christentum ‚gerettet‛ habe: „Das Abendmahl ist im Geheimkult aller Mysterienreligionen und einzig gerade bei den Juden nicht. Alle Jenseits-Gedanken sind orientalisch und antikisch; auch Platon hat sie und rettet auf diese Weise das Griechische ins Christentum hinüber. Da er das Christliche auch hatte, schlüpfte das Griechische per nefas mit durch.“ (Ebd., S. 101). 6 Hier eine Neuprägung zur ‚anima naturaliter christiana‛; die Prägung ‚anima naturaliter christiana‛ stammt von Tertullian (Apologeticum 17,6) und meint, dass die Seele des Menschen von Natur aus christlich ist. Deswegen gibt es auch schon vor Christi Geburt Menschen, denen man eine solche Seele zuschreiben kann, z. B. den römischen Dichter Vergil. Dessen Seele müsste sich bis zum Jahre 2007 (s. Anm. 7) im Limbus, der Vorhölle, befunden haben. 7 „Der Vatikan hat sich nach langer Überlegung dazu durchgerungen, die Vorstellung der Vorhölle, also des Limbus, abzuschaffen. Die Theologen im Vatikan seien zu der Auffassung gelangt, dass kleine Kinder, die nicht getauft sind und sterben, direkt ins Paradies kämen [...]. [...] Das Sekretariat teilte mit, Papst Benedikt XVI. stimme den Erläuterungen zu.“ In: spiegel online vom 20.4.2007; http://www.spiegel.de/panorama/kirchen-vatikan-schafft-vorhoelle-aba-478599.html (zuletzt aufgerufen am 8.5.2014). Es bleibt aber die Frage offen, wo sich die ‚guten Menschen‛ (‚animae naturaliter christianae‛), wie Moses oder Vergil, die vor Christus gelebt haben, jetzt aufhalten. Auch im Paradies? 8 Alfred Schulers Theorie der ‚Ursubstanzen‛, die sich im Unbewussten des Individuums nach ihrem Alter überlagern, wird ironisch dargestellt in Franziska zu Reventlows Roman: Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil, München 1976, S. 47ff. Diese Ursubstanzen werden von einer christlichen Firnis überdeckt, die – z. B. durch ein ‚Urerlebnis‛ – durchstoßen werden kann; auf diese Weise gelangt man dann zu den heidnischen Substanzen im eigenen Innern. Zum Begriff ‚Urerlebnis‛ vgl. Verf., Muttermythos (Anm. 3), S. 240ff.

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Heidentum neben oder nach dem Christentum neu stiften? Denn neopagan oder paganistisch sein heißt: mit Hilfe von Revitalisierung oder Rekonstruktion antiker religiöser Traditionen wird eine neue heidnische Religion geschaffen.⁹ Auch wenn George das anders gesehen haben mag, er war – trotz Plutarch und Schuler – ein neopaganer Religionsstifter. Auch Claude David stimmt, partiell zumindest, in die Selbstdarstellung Georges als ‚graecus redivivus‛ ein. Zum Gedicht ‚Ursprünge‛ schreibt er: „Und das Christentum ist jetzt nur mehr ein Augenblick im Ablauf der Geschichte, nichts weiter als ein Kettenglied zwischen dem Geist der Antike und seiner Wiederkehr.“¹⁰ George nannte – wiederum im Gespräch mit Edith Landmann – die griechische Kunstreligion „transzendenzlos“.¹¹ Da diese Kunstreligion für ihn vorbildhaft war (Gundolf führt das in seinem George-Buch aus),¹² ist leicht zu folgern, dass auch seine Maximin-Religion keiner Transzendenz bedurfte. Die These, dass es sich dabei um eine intramundane (innerweltliche) Erlösungsreligion handelt, ist nicht neu,¹³ kann in diesem Beitrag (im zweiten Teil) nur wiederholt und mit weiteren Belegen gestützt werden. Im Übrigen haben dies schon Claude David und Dominik Jost, wenn auch mit anderer Begrifflichkeit (‚atheistischer Humanismus‛), so gesehen.¹⁴ 9 Hubert Mohr: Paganismus. In: Hubert Cancik/Helmuth Schneider (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 15/2: Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte. Pae–Sch, Stuttgart 2002, Spalte 15ff. 10 Claude David: Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967, S. 250. 11 Landmann, Gespräche (Anm. 5), S. 26. 12 Der Begriff Kunstreligion stammt von Schleiermacher und wurde von Hegel weiter reflektiert; vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. 13, Frankfurt a. M. 1973, S. 140f.; vgl. dagegen Friedrich Gundolf: George, Berlin ³1930 [erste Auflage 1920], S. 44: „Gestaltung, die Vergottung des Leibs, das ist die antike Religion. Das ganze antike Leben ist kunstartig, es gibt dort keine Kunst als eigene Lebensform. Darum ist die antike Kunst selbst Religion, nicht wie die mittelalterliche ein Mittel der Religion, wie die moderne ein Ausdruck der Zeit oder gar ‚religiöses Erlebnis‛.“ 13 Stefan Breuer hat diese These Max Webers aufgenommen und modifiziert. Vgl. Stefan Breuer: Moderner Fundamentalismus, Berlin – Wien 2002 (= Kulturwissenschaftliche Studien 9), S. 16. – Eine Zusammenfassung von Breuers Thesen zur Religion Georges findet sich in: Stefan Breuer: Zur Religion Stefan Georges. In: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hg.): Stefan George. Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‛, Tübingen 2001, S. 225–239. 14 David, George (Anm. 10), S. 258f. „Der ‚Gott‛ Maximin ist die Devise eines atheistischen Humanismus. Gundolf hat recht, wenn er sagt, Maximin sei nicht der ‚Gott‛ einer neuen Religion. Er ist Ausgangspunkt und Wahrzeichen einer Religion ohne Gott.“ Vgl. auch Dominik Jost: Stefan George und seine Elite. Eine Studie zur Geschichte der Eliten, Zürich 1949, S. 62: „So ist der Gott [scil. bei George] in den Ring des Werdens und Vergehens wie jedes Geschöpf miteinbezogen. Der Mensch ist Geburt und Tod Gottes; er schafft göttliche und entgöttlichte Zeiten.“ Rudolf Borchardt kommentiert diesen Sachverhalt ironisch: „George hatte keine Transcendenz. Alle seine Ziele waren auf der

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I Elemente der Maximin-Gestalt ‚Apollinisch-dionysisch‛ und ‚geistige Zeugung‛. Zwei konstitutive Elemente der Maximin-Gestalt Hier soll zunächst ein zentrales ‚Dogma‛ dieser heidnischen Theologie¹⁵ Georges – denn um eine solche handelt es sich – dargestellt werden, nämlich dasjenige der Vergöttlichung Maximilian Kronbergers zum neuen Gott Maximin. Nur wer diesen zentralen Glaubenssatz von Georges neopaganer Religion akzeptierte, konnte nach dem ‚Erscheinen‛ Maximins Mitglied des Kreises bleiben. Zur Erschaffung (Schöpfung)¹⁶ Maximins benutzt George heterogene antike und andere Elemente. An diesem Vorgang lässt sich eine weitere Breuer’sche These – auf die später (ebenfalls) noch eingegangen wird – nämlich die vom Umschlag von Bildungswissen in Erlösungswissen¹⁷ – belegen. George benutzt zur Erschaffung oder Beschreibung der Maximin-Gestalt zum einen antikisch klingende (neomythische) Vokabeln wie „Rausch und Helle“ („Der du uns aus der qual der zweiheit löstest/Uns die verschmelzung fleischgeworden brachtest/Eines und Andres, Rausch und Helle [...]“),¹⁸ die der Kommentator seines Werkes, Ernst Morwitz, mit den aus Nietzsches Geburt der Tragödie stammenden Begriffen ‚dionysisch-apollinisch‛ erklärt beziehungsweise übersetzt.¹⁹ Ebene des Irdischen unterzubringen.“ Rudolf Borchardt: Aufzeichnung Stefan George betreffend. Aus dem Nachlaß herausgegeben und erläutert von Ernst Osterkamp, Tübingen 1998, S. 89. 15 Mohr, Paganismus (Anm. 9), Spalte 20f.: „Politiker, Literaten und Ideologen fanden in der Antike Bausteine zu einer politischen Mythologie und Theologie jenseits des Christentums.“ 16 Der Schöpfer bzw. Vater und zugleich Sohn Maximins ist George – paradoxerweise – selbst: „Ich geschöpf nun eignen sohnes“, SW VI/VII (Anm. 3), S. 109. 17 Breuer, Fundamentalismus (Anm. 13), S. 116. 18 SW VIII (Anm. 3), S. 9. 19 Nicht für das zweite, aber für das sechste Gedicht des ‚Stern des Bundes‛ bringt Morwitz, Kommentar (Anm. 2), S. 367f., eine erschöpfende Erklärung der beiden Rauscharten dionysisch und apollinisch, nicht ohne auf das hier in Rede stehende zweite Gedicht des ‚Sterns‛ zurückzuverweisen: „Im sechsten Gedicht spricht der Dichter zu dem Freund. Es sind der apollinische Licht- und der dionysische Glutenrausch, deren notwendiges Wirken begreiflich gemacht wird. Beide Formen des Rausches werden von dem gleichen Gott gesandt, der schon im zweiten ‚Gebet‛ Maximins als Spender von hellem und dunklem Rausch gefeiert worden ist. In der durch Apollo verbreiteten Helle erblickt der Geist, der jetzt befreit ist und sein inneres Auge nicht mehr zu verhüllen braucht, alle Dinge in grösster Klarheit und beurteilt sie nach Nietzsche lachend, das heisst voll Freude über seine Befreiung und über sein Erhobensein auf die kristallenen Höhen der ‚Entrückung‛. Die Kraft des Gottes äussert sich aber auch im Glutenrausch dadurch, dass er die von Starrheit befreite Seele in das Dunkel zurückkehren lässt, in dem sie blind und trunken Urgrundschauer empfindet und gestaltet wird, bevor sie selbst gestaltet. Sie ist beider Formen des Rausches fähig und teilhaft

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Was aber ist mit der „qual der zweiheit“ gemeint? Ganz offensichtlich die Spannung zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen, zunächst im Künstler. Dass hierbei auch existenzielle und religiöse ‚Zerrissenheit‛ mitschwingt, zeigt weiter, mit welchen Chiffren („verschmelzung“, „fleischgeworden“) diese Spannung und ihre Überwindung beschrieben wird. Wenn man aber mit den Kosmikern davon ausgeht, dass das Dionysische für das Weibliche und das Apollinische für das Männliche steht, dann verkörpert sich in Maximin auch eine Aufhebung des Geschlechterdualismus’. Jedenfalls sind die beiden ‚Mächte‛ von griechischen Göttern zu Eigenschaften (Bestandteilen) eines neuen, in der Antike gänzlich unbekannten Gottes, nämlich Maximins, geworden beziehungsweise zu psychischen Entitäten,²⁰ die sich mit der Erschaffung des Gottes auch in seinem Schöpfer vereinigen. Diese Neo-Mythologeme (dionysisch-apollinisch; das Dionysische, das Apollinische) stammen ursprünglich aus einem ‚Katheder- oder Professoren-Paganismus‛, von den Schreibtischen allerdings außenseiterischer Altphilologen, nämlich Johann Jakob Bachofens und Friedrich Nietzsches.²¹ Beide wurden wegen ihrer aus der positivistischen Sicht der damaligen Klassischen Philologie (zum Beispiel Theodor Mommsens) unwissenschaftlichen Methode von der Zunft der Altphilologen zwar geächtet;²² beim interessierten Publikum und den Schriftstellern und geworden, vermag jedoch nicht zu ermessen, wohin der Gott mit ihr und durch sie den Dichter führen wird.“ – Auch Strodthoff definiert die beiden ‚Mächte‛ in der gleichen Weise: „Der Georgesche Maximin wird beide Mächte, das Dionysische und das Apollinische, im Bild und derart als Vorschein der gewünschten Lebenseinheit in sich vereinigen.“ Werner Strodthoff: Stefan George. Zivilisationskritik und Eskapismus, Bonn 1976, S. 75. Hier sind – wie schon bei Nietzsche – die Adjektive ‚dionysisch-apollinisch‛ in abstrakte Begriffe verwandelt. 20 Zur Frage, wann und wie Götter zu psychischen Entitäten bzw. ‚Realitäten‛ (C. G. Jung) werden können, vgl. Verf.: Archetyp und Geschichte oder München-Ascona. Typologische und menschliche Nähe. Mit einigen Briefen von Olga Froebe an Ludwig Derleth. In: Elisabetta Barone / Mathias Riedl/Alexandra Tischel (Hg.): Pioniere, Poeten, Professoren. Eranos und der Monte Verità in der Zivilisationsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2004, S. 155–170. 21 Nach Ernst Howald hätten Bachofen und Nietzsche das Gegensatzpaar ‚apollinischdionysisch‛ aus Georg Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, Leipzig – Darmstadt ³1843 [Reprint: Olms 1973], übernommen. Nietzsche hätte aber dieses Gegensatzpaar auf das Ästhetische reduziert. Vgl. Johann Jakob Bachofen: Gesammelte Werke. Bd. 7: Die Unsterblichkeitslehre der orphischen Theologie. Römische Grablampen. Mit Benützung des Nachlasses unter Mitwirkung von José Döring und Harald Fuchs hg. von Emanuel Kienzle, Karl Meuli und Karl Schefold, Basel – Stuttgart 1958, S. 509ff. (Nachwort Howald). 22 Zur philologischen Kritik an Nietzsche vgl. Karlfried Gründer (zusammengestellt und eingeleitet): Der Streit um Nietzsches ‚Geburt der Tragödie‛. Die Schriften von Erwin Rohde, Richard Wagner, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Hildesheim 1969. Zur Haltung von Nietzsches Lehrer Ritschl vgl. Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie. Kindheit – Jugend – Die Basler Jahre. Bd. 1, München ²1993, S. 471f.; Bachofens „Gräbersymbolik“ wurde in einer Schweizer Zeitung nach

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Künstlern²³ der vorletzten Jahrhundertwende aber genossen sie erhebliches Ansehen. Ihre imaginative Altphilologie wurde zum Sinnpotenzial, auch zum Reservoir, für moderne Kultur- und Fortschrittskritik in einer götterlosen Moderne, so auch für Stefan George und – muss man hinzufügen – vor ihm schon für die Kosmiker. Die eigentliche Erschaffung des Gottes aber wird zum anderen mit einem philosophischen Konzept, dem der ‚geistigen Zeugung‛ erklärt, das aus der platonischen Philosophie stammt, aus dem ‚Symposion‛ Platons nämlich, einem Schlüsseltext für George und seinen Kreis. Da Maximin aber diese ‚geistige Zeugung‛ inkarniert („fleischgeworden“²⁴), die bei Platon (auch) eine Metapher für die Hervorbringung geistiger Werke, zum Beispiel bei Homer und Hesiod,²⁵ ist, treten bei seiner (geistigen) Erschaffung auch christlich klingende Assoziationen hinzu. George hat also die Maximin-Gestalt aus verschiedenen Elementen der griechischen Philosophie und Mythologie, der christlichen Religion und anderen Bestandteilen zusammengesetzt. Dieses Verfahren kann man herkömmlich als Synkretismus oder mit Lévi-Strauss als Bricolage (wörtlich: Bastelei) bezeichnen. Maximin stellt, wie gesagt, die Synthese eines alten philosophischen und eines neomythologischen Konzeptes dar: dem Konzept der geistigen Zeugung aus Platons ‚Symposion‛²⁶ und dem der durch Bachofen, Nietzsche und die Kosmiker modifizierten Begriffe ‚dionysisch‛ und ‚apollinisch‛ (und das sind nur die wichtigsten Komponenten). George (re-)mythisiert folglich mit neopaganer (-mythischer) Begrifflichkeit das platonische Konzept der geistigen Zeugung; das heißt Maximin als erstes Produkt (oder als Ursprung, Urbild) der geistigen Zeugung verkörpert einerseits die geistige Zeugung und vereinigt andererseits (und gleichzeitig) in sich „Rausch und Helle“,²⁷ wobei – nach Gundolf – auch Eros als Geburtshelfer beteiligt ist.²⁸ Wie diese beiden Mächte oder Kräfte (oder psychischen Energien?) sich in

ihrem Erscheinen im Jahre 1859 als „Höherer Blödsinn“ bezeichnet; vgl. Meuli im Nachwort zu Johann Jakob Bachofen: Gesammelte Werke. Bd. 3: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Zweite Hälfte. Hg. von Karl Meuli. Mit Unterstützung von Harald Fuchs u. a., Basel – Stuttgart 1948, S. 48, Anm. 1. 23 Hier sei als ein Beispiel für die bildende Kunst auf Oskar Kokoschka verwiesen: Vgl. Serge Sabarsky (Hg.): Oskar Kokoschka. Die frühen Jahre, Wien 1983, S. 11: „Damals hatte ich [O. Kokoschka] Bachofen, sein Werk über das Matriarchat zu lesen begonnen mit dem gleichen Enthusiasmus wie andere die Schriften von Karl Marx.“ 24 SW VIII (Anm. 3), S. 9. 25 Vgl. Platon: Symposion, 209 d. 26 Vgl. Platon: Symposion, 204d–212c. 27 SW VIII (Anm. 3), S. 9. 28 „Die ‚Kluft Apollo-Dionysos‛, so Gundolf, habe George durch das Prinzip der antiken Liebe, den Kult des Eros, geschlossen.“ Esther Sophia Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945, Berlin 2004, S. 219.

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Maximin (und in seinem Schöpfer) vereinigen, bleibt vorerst unklar. Es könnte sein, dass George, wie bereits gesagt, – in Kenntnis der kosmischen Deutung – zumindest auch an eine Aufhebung des Geschlechterdualismus gedacht hat.²⁹ Immerhin beschreibt auch Aristophanes in Platons ‚Symposion‛ das vollkommene menschliche Urwesen als androgyn.³⁰ Da eine Gesamtdeutung zur Platon-Rezeption im George-Kreis noch aussteht,³¹ können hier zur ‚geistigen Zeugung‛ als einem wesentlichen Element der Konzeption der Maximin-Gestalt nur einige vorläufige Hinweise gegeben werden. Im George-Kreis galten der platonische Sokrates und sein ‚Kreis‛ als Vorbild für den Kreis selbst. „Folgt man einer gängigen Zählung, so befassten sich in gut 40 Jahren 26 Werke von sieben Autoren mit dem griechischen Philosophen.“³² George habe selbst über Nietzsche um das Jahr 1910 zu Platon gefunden.³³ Für die Platondeutung des Kreises blieben richtungsweisend: Heinrich Friedemann ‚Platon. Seine Gestalt‛³⁴ und die Übersetzungen (jeweils mit deutender Einleitung) des ‚Symposion‛ (Gastmahl)³⁵ und des ‚Phaidros oder vom Schönen‛³⁶ durch Kurt Hildebrandt.

29 Wie bereits erwähnt, stand für die Kosmiker das Dionysische für das Weibliche und das Apollinische für das Männliche. 30 Zumindest zu einem Drittel sind die Urwesen, die Aristophanes in seiner Symposions-Rede beschreibt, androgyn. Denn nach seiner Darstellung irren die Menschen, wenn sie ihren gegenwärtigen Zustand auch für ihren ursprünglichen halten. Dieser ursprüngliche Zustand war vielmehr folgender: Es gab drei Geschlechter, Doppelmann, Doppelweib und Mannweib. Sie waren kugelförmig: Kugeln mit je vier Armen und Beinen, zwei Gesichtern usw. Schnellster Bewegung fähig und ausgerüstet mit großer Kraft neigten sie bald zum Übermut und wurden selbst den Göttern gefährlich. Vgl. Platon, Symposion (189c–190c). – Welches dieser drei Urwesen den Teilnehmern am Symposion das genehmste gewesen sein dürfte, lässt sich denken. 31 Stefan Rebenich: „Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel“ – Platon im George-Kreis. In: George-Jahrbuch 7, 2008/2009, S. 115–141, hier S. 141. – Der ausgezeichnete Beitrag von Christian Oestersandfort: Platonisches im ‚Teppich des Lebens‛ im selben Jahrbuchband (S. 100–114) behandelt zwar schon einige Grundbegriffe, die auch für den Maximin-Kult wesentlich sind (Urbild, Eros, Verleibung des Gottes), spricht aber nicht von ‚geistiger Zeugung‛. Der Autor kündigt aber eine Untersuchung über den „Einfluss Platons auf Stefan George und die Entwicklung einer soziopoetischen Struktur seiner Dichtung“ an. Ebd. S. 100. 32 Ebd. 33 Ebd. S. 120. Anders erinnert sich George in: Landmann, Gespräche (Anm. 5), S. 41: „Die griechische Literatur sei ihm erst aus der Plastik heraus lebendig geworden, selbst Platon. Vorher habe er wenig davon verstanden.“ 34 Berlin 1914. 35 Leipzig 1912. 36 Zuletzt: Stuttgart 2002.

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In seinem George-Buch behandelt Friedrich Gundolf – gleichsam ex cathedra – die „geistige Zeugung“ unter dem Begriff der „griechischen Liebe“. Diese wird wie folgt dargestellt: Die griechische Liebe ist ihrem Ursprung wie ihren Wirkungen nach (zu denen die dorische Gesetzgebung, die attische Plastik, die platonische Philosophie gehören) nicht ein blind zielender und spielender Naturtrieb, sondern die geistige Zeugung im Sinnenstoff selbst, die Schau, ja die Erschaffung des schönen Leibes und die Verleibung des Gottes. Dieselbe Weltkraft die sich bekundet in schönen Leibern, Eros, drängte die Männer dies wahrgenommene Schöne zu besitzen, zu verewigen und zu verherrlichen: der schöne Männerleib regte den geistigen Zeugungstrieb, den plastischen Formtrieb, den heroischen Tatentrieb in derselben Weise an wie der schöne Frauenleib den natürlichen Zeugungstrieb. [...] Nur wo gestaltige Schönheit entsteht aus der Anbetung männlichen Leibes da waltet Eros, der geistig zeugende, der weltschaffende Dämon, wie nur da wo ein Kind entsteht die natürliche Gottheit waltet, Aphrodite.³⁷

Mit dieser Darstellung der griechischen Liebe legitimiert Gundolf die Existenzform des Kreises und Georges religiöse Mission, das heißt die ständige geistige Neu- beziehungsweise Fortzeugung geeigneter deutscher Jünglinge im Geiste Maximins. Denn wie der weitere Verlauf des Textes zeigt, spricht Gundolf nicht von einer beliebigen geistigen Zeugung, sondern von der einen, die den Ausgangspunkt und die Grundlage des Kreises bildet. Nur wem Ein schöner Mensch Gott werden kann hat Augen für die Göttlichkeit des schönen Alls. Nur wem Gott wirklich Mensch werden kann für den ist das Himmelreich, die Liebe Gottes zum Menschen keine Phrase.³⁸

Und mit dieser Umschreibung des zentralen Dogmas von Georges Maximin-Religion (Verleibung des Gottes/Vergottung des Leibes) erscheint Maximin als das Urbild der geistigen Zeugung, weshalb Kurt Hildebrandt schließen kann: „Aus der Erscheinung Maximins folgte notwendig die Idee des Jüngertums und des Neuen Reiches.“³⁹ Sicher richtig kommentiert Jan Steinhaußen Gundolfs Darstellung der ‚geistigen Zeugung‛: Gundolf deutete den Maximin-Kult damit im Paradigma der platonischen Eros- und Schönheitslehre. Das eigentliche Geheimnis von Georges Glauben lag in der Vergottung des deutschen Jünglings. Sie war der Ursprung seiner Dichtung und der Grund seines Wesens.⁴⁰ 37 Gundolf, George (Anm. 12), S. 202f. 38 Ebd., S. 203. 39 Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, S. 41. 40 Jan Steinhaußen: „Aristokraten aus Not“ und ihre „Philosophie der zu hoch hängenden Trauben“. Nietzsche-Rezeption und literarische Produktion von Homosexuellen in den ersten

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Maximin – ein ‚deutscher‛ Gott Die Tatsche, dass die griechisch-platonische Idee der ‚geistigen Zeugung‛ ein wesentliches Element der Maximin-Konzeption darstellt, erhält ihre ganze Bedeutung erst dadurch, dass nur in Deutschland George auf Maximin treffen konnte, dass nur in Deutschland das „Wunder von ferne oder traum“⁴¹ – und das ist das Wunder der ‚geistigen Zeugung‛ – neu eingepflanzt werden konnte. Maximin ist also nur auf deutschem Boden möglich. Dafür musste der Dichter selbst aus dem Süden, aus dem Westen⁴² (und somit der Décadence) nach Deutschland heimkehren: Diese Heimkehr vollzog sich langsam, sie beginnt schon im ‚Teppich des Lebens‛: […] ‚Schon lockt nicht mehr das Wunder der lagunen Das allumworbene trümmergrosse Rom Wie herber eichen duft und rebenblüten Wie sie die Deines volkes hort behüten – Wie Deine wogen – lebengrüner Strom!‛⁴³

Nicht mehr Venedig und Rom ziehen den Dichter an, sondern Deutschland und der heimatliche Rhein mit dem Schatz der Nibelungen treten an ihre Stelle. Und zu Beginn des ‚Sterns des Bundes‛ wird der Dichter durch Maximin endgültig von der „sucht der ferne“ erlöst: Wo bestes blut uns sog die sucht der ferne ... Da kamst du spross aus unsrem eignen stamm Schön wie kein bild und greifbar wie kein traum Im nackten glanz des gottes uns entgegen [...].⁴⁴

Das (man muss sagen griechische) Wunder kann nur in Deutschland neu eingepflanzt werden. Dieses Wunder der ‚geistigen Zeugung‛ (und somit mit Maximin identisch), wird dem Dichter vom Pan im Süden geoffenbart: „Einst lag ich am südmeer/Tief-vegrämt wie der Vorfahr/Auf geplattetem fels“.⁴⁵ In äußerster Not „[h]olten die Himmlischen gnädig/Ihr leztes geheimnis …“.⁴⁶ Dieses letzte Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Thomas Mann, Stefan George, Ernst Bertram, Hugo von Hofmannsthal u. a., Würzburg 2001, S. 286. 41 SW IX (Anm. 3), S. 107. 42 Das Gedicht ‚HELFER VON DAMALS! RICHTTAG RÜCKT HERAN‛, SW VIII (Anm. 3), S. 38, wird hier als Distanzierung Georges von Mallarmé und dem französischen Symbolismus verstanden. 43 SW V (Anm. 3), S. 14: „Du wirst nicht mehr die lauten fahrten preisen“. 44 SW VIII (Anm. 3), S. 8. 45 SW IX (Anm. 3), S. 47 – Vermutlich liegt hier eine Analogie zu Nietzsches Zarathustra-Erlebnis vor. 46 Ebd., S. 46.

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Geheimnis ist, wie gesagt, alt und wohlbekannt: Es ist die platonische ‚geistige Zeugung‛, die hier in einem eklatanten mythologischen Anachronismus⁴⁷ von den oberen, das heißt olympischen Göttern neu erfunden wird. Neu daran ist nur, dass sie, die ‚geistige Zeugung‛, nach Deutschland importiert werden muss und dass sie dort vom lyrischen Ich als Gegenpol zum ‚mütterlichen Untergrund‛ gesehen wird. Hier – in Deutschland – gibt es viel zu zeugen, der mütterliche (deutsche) Untergrund bietet dafür offensichtlich reichlich ‚Material‛. Die ‚geistige Zeugung‛ wird folglich als Überwindung der matriachalen Welt oder als ihre Integration in eine höhere Art der Zeugung als der körperlichen – eben der geistigen, das heißt männlichen – gesehen. Im ‚Templer-Gedicht‛ wurde die ‚große nährerin‛ vom Männerbund noch mit Gewalt zum Weiterzeugen gezwungen: […] So kann nur einer der sie stets befocht Und zwang und nie verfuhr nach ihrem rechte Die hand ihr pressen · packen ihre flechte · Dass sie ihr werk willfährig wieder treibt: Den leib vergottet und den gott verleibt.⁴⁸

47 Denn man muss sich fragen: Existieren die griechischen Götter noch, oder sind sie präexistent (ewig), wie Georges Heidentum in ihm schon immer existiert hat (vgl. Anm. 5 dieses Beitrages)? Die Formulierung „leztes geheimnis“ deutet darauf hin, dass es sich – zumindest auf absehbare Zeit – um die letzte Epiphanie der Götter handelt, die gleichsam aus Verzweiflung und im letzten Augenblick noch einmal in den Weltenlauf eingreifen müssen. 48 SW VI/VII (Anm. 3), S. 53 – Wie die letzte Strophe des ‚Templer-Gedichtes‛ auch verstanden werden kann, zeigt böswillig Rudolf Borchardt in seinem in italienischer Sprache geschriebenen Nachruf auf Stefan George aus dem Jahre 1933, in dem er diese Verse mit Georges Gedicht ‚Porta Nigra‛ – ein „componimento satanico“ – in Verbindung bringt und den in diesem Gedicht auftretenden Manlius (= Schuler) als „barbassa“ (Strichjunge) der römischen Legionäre bezeichnet. Georges Lebensprojekt sei es gewesen, die Homosexualität in Deutschland als Doktrin durchzusetzen. Das sei ihm gelungen. Die letzten vier Zeilen des Templer-Gedichtes werden am Ende des hier folgenden italienischen Zitates mit der „l’oscena bestemmia“ (dem obszönen Fluch) des Knaben Manlius in ‚Porta Nigra‛ gleichgesetzt: „Tale il progetto [scil. seine „verhängnisvollen Gelüste zu befriedigen und gleichzeitig zu läutern“] preso a realizzare prima cautissimamente [...] sotto il riparo della metafora e del mistero, poi più che s’avanzava e che la ragion del mondo che ebbe fredissmima e infallibila l’aveva convinto che in quel mondo in scfacelo [...] poteva osare liberalmente, sempre più rinfrancandosi, finché un libro di liriche stupende eresse a dio un povero Batillo mortogli imponendone alla setta la venerazione, e qualche anno dopo in un componimento satanico che rimarrà proverbio, a un portentento della sua fantasia malevole. Il barbassa dei legionari Romani, spettro errante, sotto gli antri di Porta Nigra di Treviri, mise in bocca l’oscena bestemmia contro la Civiltà moderna, in un altro dello stesso libro ai Ser Brunetti di tutti i secoli rivendicò la Gloria d’avere essi soli, da un evo all’altro salvato il Mondo dalla morte già impedente [...].“ Es folgen die letzten vier Zeilen des ‚TemplerGedichtes‛ in Borchardts Übersetzung ins Italienische. Vgl. Rudolf Borchardt: Stefan George

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Die letzte Zeile beschreibt die ‚geistige Zeugung‛; besser: die Integration des mütterlichen Urgrundes (ebenso wie im Gedicht ‚Geheimes Deutschland‛) in ein männliches Konzept.⁴⁹ Im Grunde verkörpert der deutsche Gott Maximin damit auch die Nietzscheanische Forderung nach Diesseitigkeit („Heiden sind Alle, die Ja zum Leben sagen, denen ‚Gott‛ das Wort für das große Ja zu allen Dingen ist“).⁵⁰ Er ist die leibhafte Darstellung eines neuen, das reine Diesseits bejahenden Lebensgefühls und damit zugleich die Verkörperung der (männlichen) deutschen Jugend (so schon Claude David).⁵¹ Das ist er jedenfalls in seiner endgültigen, späteren Konzeption, wenn man, wie Claude David, zwei Stadien oder mehrere Verkörperungen des Göttlichen bei George unterscheiden will.⁵² George versucht mit seiner Maximin-Religion auch ikonographisch an überlieferte antike Religionsformen, wie den Antinoos-Kult, anzuschließen. Auch dieser Kult wird mutatis mutandis nach Deutschland verpflanzt und mit Hilfe der Photographie auf Maximilian Kronberger übertragen. Esther Sophia Sünderhauf hat kürzlich gezeigt, wie in den Maximin-Kult zahlreiche Elemente der von Kaiser Hadrian im römischen Reich verbreiteten Verehrung des Antinoos übernommen wurden. Auch diese ikonographischen Anleihen werden somit Teil der Bricolage: Auf der Titelseite des Maximin-Gedenkbuches, das George 1907 für seinen im Jahr 1904 mit nur sechzehn Jahren verstorbenen ‚Liebling‛ herausgegeben hatte, wird Maximin auf einem Foto als erosgleicher Jüngling und als lebendige Statue stilisiert [...]. Der ‚Urbild‛Charakter Maximins wird durch ikonographische Bezüge auf die Antike hervorgehoben. In

(1868–1933). Aus dem Nachlass herausgegeben von Gerhard Schuster. In: Kai Kauffmann (Hg.): Das wilde Fleisch der Zeit, Stuttgart 2004, S. 196–217, hier S. 215f. (S. 220–245 findet sich eine ‚Arbeitsübersetzung‛ des unvollendeten Nachrufs ins Deutsche). – Zu Georges Zeitgedicht ‚Porta Nigra‛ vgl. jetzt: Wolfgang Braungart: Archäologische Imagination als poetische Kulturkritik. Stefan Georges Gedicht ‚Porta Nigra‛ und sein ‚kosmischer‛ Kontext (Alfred Schuler). In: Eva Kocziszky (Hg): Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, S. 293–310. 49 Vgl. dazu: Verf., Muttermythos (Anm. 3), S. 324ff. (Interpretation von ‚Geheimes Deutschland‛). 50 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6: Antichrist, München – Berlin – New York 1980, S. 239. 51 David, George (Anm. 10), S. 270f. und S. 307f.: „Das Mysterium der ‚geistigen Zeugung‛ ist es, das dem Dichter erlaubt, von nun an neue Menschen hervorzubringen. Maximin ist der erste einer Reihe. [...] Er ist der unerschöpfliche Schoß, der den Geist aufnimmt und die Söhne des Gottes empfängt. Diese Nachkommenschaft auf Erden repräsentiert den Gott, verkörpert ihn, verewigt ihn. Maximin ist nur mehr der Erwecker.“ 52 Ebd., S. 270ff.

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Anlehnung an die Typologie des Antinoos – des Lieblings von Kaiser Hadrian – erscheint der Knabe als Büste im verlorenen Profil von rechts, das dunkle, wie bei Antinoos von einem Blätterkranz bekrönte Haar rahmt das Gesicht mit den ebenmäßigen Zügen. Das Inkarnat des Gesichtes und des nackten Oberkörpers setzt sich hell vom dunklen Hintergrund ab. In seiner linken Hand trägt er wie der Antinoos Braschi im Vatikan einen Stab [...].⁵³

Zum poetologischen Aspekt der Maximin-Gestalt Die Maximin-Religion ist nach Georges Auffassung nur in der Dichtung und nur als Dichtung möglich.⁵⁴ Hiermit gewährt sie auch die Möglichkeit, die Welt dichterisch neu zu gestalten, eine Möglichkeit, die zum Beispiel Hofmannsthal nicht hat: Der leer gehäus – ein stumpfes Waffen der: Die eingereihten und die rückgewandten [...] Bringt kranz und krone für den Ungenannten!⁵⁵

Durch das Maximin-Erlebnis kann George weiterdichten, den Dingen neue Namen geben, werden ihm „Rausch und Helle“⁵⁶ zuteil. Hofmannsthal hat ein solch überhöhendes Erlebnis offensichtlich nicht. Sein ‚Chandos-Brief‛ zeigt vielmehr die Unmöglichkeit einer Benennung der Gegenstände; die Worte zerfallen dem Lord „im Munde wie modrige Pilze“.⁵⁷ Während Hofmannsthal aus Georges 53 Sünderhauf, Griechensehnsucht (Anm. 28), S. 223. 54 So auch Lothar van Laak: Mythen, Mythisierungen, Religion. In: Achim Aurnhammer/Wolfgang Braungart/Stefan Breuer/Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. 2, Berlin – Boston 2012, S. 751–770, hier S. 763. – Die Dichtung bietet somit auch die Grundlage des Ritus und des Kultes, die im George-Kreis gepflegt wurden. Wie Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus: Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, richtig zeigt, ist diese rituelle und kultische Funktion schon früh im Werk Georges ausgeprägt, sie gewinnt aber mit der Verfestigung des Kreises nach dem ‚Erscheinen‛ Maximins eine noch stärkere Bedeutung. Vgl. S. 108ff. 55 SW VIII (Anm. 3), S. 37 – Vgl. dazu auch: Verf., Muttermythos (Anm. 3), S. 351ff. 56 Ebd., S. 9. 57 „[D]ie abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“ Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hg. von Herbert Steiner. Bd. 2: Prosa, Frankfurt a. M. 1959, S. 7–20, hier S. 12. – Massimo Cacciari liest den ‚Chandos-Brief‛ im Kontext einer Interpretation der Dichtung Georges und hebt dabei „ … il potere del linguaggio poetico [...]“ Georges hervor: „Qui [scil. im ‚Chandos-Brief‛] si esprime nella sua immediatezza la perdita del rapporto semantico – ma, ancor più lʼabbandono dellʼutopia georghiana sul potere del linguaggio poetico, la sua possibilità dʼessere sintesi di forma e materia [Hervorhebungen G. D.] – che il suo dire possa essere ‚corpo‛ della Stimmung ‚autonoma‛, ‚interiore‛.

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Perspektive zu den „eingereihten“ gehört – denen er seinen utopisch gewendeten männlichen Eros entgegenstellt – scheint sich die Formulierung „die rückgewandten“ auf die Kosmiker zu beziehen, denn sie wollen einen gewesenen Zustand restituieren. Zwar haben sie Waffen – sie sind also nicht nur ein „leer gehäus“ wie Chandos-Hofmannsthal – aber diese Waffen sind stumpf, da sie Gewesenes mit alten Worten bezeichnen. Der Absage an das „leer gehäus“ geht die Beschreibung dessen voraus, was das lyrische Ich gewagt und was es dadurch erreicht hat: Bangt nicht vor rissen brüchen wunden schrammen, Der zauber der zerstückt stellt neu zusammen. Jed ding wie vordem heil und schön genest Nur dass unmerkbar neuer hauch drin west.⁵⁸

Der zerrissene („zerstückt[e]“) Dionysos (Zagreus) wird als Voraussetzung für die Neubenennung der Welt gesehen; er gewährleistet die ‚restitutio in integrum‛, die Wiederherstellung des paradiesischen Zustandes („Der zauber der zerstückt stellt neu zusammen“). Dass in der Schlusszeile Maximin („Bringt kranz und krone für den Ungenannten!“⁵⁹) erscheint, heißt: dass er – anders als das „leer gehäus“ – über den dionysischen Zauber verfügt, der „jed ding“ „heil“ macht.

Vorgeschichte und Voraussetzungen der Maximin-Gestalt a) Ob die Stiftung der Maximin-Religion eine logische Folge von im Werk Georges früh angelegten Tendenzen ist, kann hier nicht im Einzelnen erörtert werden. Dass der Engel des Vorspiels eine Präfiguration Maximins darstellt, lässt sich nicht bezweifeln. Ob aber schon im ‚Kindlichen Königtum‛ des jungen George die Wegrichtung vorgezeichnet war, mag hier dahingestellt bleiben. Und ist Algabal eine Präfiguration Maximins? Nein – aber eine frühe Projektion des Dichters in die Antike, jedoch in Nähe zur französischen Décadence, auf die Maximin eine späte Antwort darstellt. b) Maximin ist andererseits nur als Antwort auf die kosmische Herausforderung zu verstehen – darin stimmt die Forschung seit Claude David fast ein-

[…] La sua [des Chandos-Briefes] straordinaria importanza sta nellʼessere documento crudo, senza appello, della dissoluzione delle ragioni stesse sia della lirica della Nervenkunst sia alla risposta a essa propria di George.“ Vgl. Massimo Cacciari: Krisis. Saggio sulla crisi del pensiero negativo da Nietzsche a Wittgenstein, Milano 1977, S. 165. 58 SW VIII (Anm. 3), S. 37. 59 Ebd.

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hellig überein.⁶⁰ Dass Schulers Auffassung vom Sonnenknaben⁶¹ das Modell für Georges Maximin-Gestalt abgegeben hat,⁶² auch dazu können hier nur einige Hinweise gegeben werden. In der heidnischen Gnosis Alfred Schulers, des Impulsgebers der kosmischen Runde, steht der Sonnenknabe, als pathisches Kind der Großen Mutter, für einen immer wieder aus dem mythischen Geschehen auftauchenden Lichtpunkt der Weltgeschichte, der periodisch dunkle Phasen ablöst (gnostischer Hintergrund).⁶³ Auch nach Thomas Karlauf ist Maximin als Gegenentwurf zum Schulerʼschen Sonnenknaben zu verstehen: Maximin war die Antwort Georges auf die Herausforderungen von Klages und Schuler. In ihm präsentierte George das ersehnte, in Hunderten von Jahren einmal auftretende Sonnenkind.⁶⁴

c)

Maximin kann und muss auch als Konsequenz und Weiterführung von Nietzsches Diesseitsphilosophie⁶⁵ gesehen werden: „[D]ie qual der zweiheit“ kann auch auf das Diesseits und das Jenseits bezogen werden, nicht nur auf die „doppel-schöne“⁶⁶ von dionysisch und apollinisch. Nietzsches bekannter Aphorismus „Heiden sind Alle, die Ja zum Leben sagen, denen ‚Gott‛ das

60 Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007; in der vorhergehenden Forschung vertreten diese Auffassung: Jost, Elite (Anm. 14); David, George (Anm. 10); dann Gerhard Plumpe: Alfred Schuler. Chaos und Neubeginn. Zur Funktion des Mythos in der Moderne, Berlin 1978; Marita Keilson-Lauritz: Von der Liebe die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges, Berlin 1987; Richard Faber: Männerrunde mit Gräfin. Die ‚Kosmiker‛ Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow. Mit einem Nachdruck des ‚Schwabinger Beobachters‛, Frankfurt a. M. 1994; Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995; Geret Luhr: Ästhetische Kritik der Moderne. Über das Verhältnis Walter Benjamins und der jüdischen Intelligenz zu Stefan George, Marburg 2002; Verf., Muttermythos (Anm. 3). 61 Der Sonnenknabe steht im Zentrum von Schulers gnostischer Welt- und Geschichtsdeutung, vgl. Alfred Schuler: Cosmogonische Augen. Gesammelte Schriften. Hg., kommentiert und eingeleitet von Baal Müller, Paderborn 1997, S. 264–268. 62 Hier soll aber auf eine wesentliche Differenz hingewiesen werden: Während Schuler sich selbst als Sonnenknaben (‚puer pathicus‛) sieht (der natürlich viele Verkörperungen haben kann), braucht George einen Sonnenknaben. Er selbst ernennt, in einem „voluntaristischen Akt“ Maximilian Kronberger zum Gott. Vgl. Braungart, Katholizismus (Anm. 54), S. 246. 63 Zu Schulers ‚gnostischer‛ Religion vgl. Verf., Muttermythos (Anm. 3), S. 260–278. 64 Karlauf, George (Anm. 60), S. 333. 65 Edgar Salin: Um Stefan George, München – Düsseldorf ²1954, S. 269, erinnert sich an ein Gespräch mit George über Goethe und Nietzsche, in dem George gesagt habe, „der neue Zustand und die neue Aufgabe lasse sich mit einem Namen zusammenfassen: Nietzsche.“ 66 SW VIII (Anm. 3), S. 9.

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Wort für das große Ja zu allen Dingen ist“,⁶⁷ beschreibt die Funktion und die Aufgabe Maximins, wie sie George seit dem ‚Siebenten Ring‛ darstellt: Er ist als Gott das große Ja zum Leben. Mit seiner Religion der Diesseitigkeit steht George also in direkter Nachfolge Nietzsches (siehe auch Zarathustras Mahnung: „Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder“).⁶⁸ Während Nietzsche aber bei der Forderung nach einem neuen Diesseits verbleibt, lässt George diese Lehre von seinem Gott verkünden. Anders als bei Nietzsche, der nach George in eisigen Höhen vereinsamte („Dort ist kein weg mehr über eisige felsen“⁶⁹), gibt es bei George eine post-eschatologische Situation: „Sich bannen in den kreis den liebe schließt ..“.⁷⁰ Das heißt, das Heil ist eingetreten, jüdisch-christlich gesprochen: Der Messias, der Erlöser ist – im Bund, im Kreis – da. Und während der späte Nietzsche eine Wiederkehr des griechischen Gottes Dionysos erhoffte, am Ende seines Weges gar mit diesem Gott verschmolz (‚Wahnsinnsbriefe‛),⁷¹ setzt George seinen Gott zwar aus disparaten antiken, neoantiken, christlichen und germanischen Elementen zusammen – sein Gott ist im Gegensatz zu Nietzsches Dionysos aber ein nationaler, ein deutscher Gott, auch wenn er einen lateinischen Namen trägt.

Deutungsmöglichkeiten der Maximin-Gestalt Ist Maximin für George womöglich das, was für Heidegger seine Rektoratsrede war, nämlich der Versuch, die ‚ontologische Differenz‛ zwischen dem Sein und dem Seienden zu überspringen, wie Claus-Arthur Scheier spekuliert?⁷² Die Maximin-Gestalt führt (für George und die seinen) zwar zu einer Reduktion der komplexen Zusammenhänge der Moderne. Insofern schließt sie die ontologische 67 Wie Anm. 50. 68 Nietzsche, Zarathustra, Von der schenkenden Tugend; das Zitat steht in folgendem Kontext: „Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit der Macht eurer Tugend! Eure schenkende Liebe und eure Erkenntnis diene dem Sinne der Erde! Also bitte und beschwöre ich euch.“ Nietzsche, Werke (Anm. 50), Bd. 4, S. 99. 69 SW VI/VII (Anm. 3), S. 13. 70 Ebd. – Ausführlich zu Nietzsche und George vgl. Wolfgang Braungart: Georges Nietzsche. ‚Versuch einer Selbstkritik‛. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 2004, S. 234–258. 71 Vgl. Joachim Köhler: Friedrich Nietzsche und Cosima Wagner. Die Schule der Unterwerfung, Berlin 1996, S. 194f. 72 Claus-Arthur Scheier: Maximins Lichtung. Philosophische Bemerkungen zu Georges Gott. In: George-Jahrbuch 1, 1996/1997, S. 81–106, hier S. 105: „Inwiefern Heidegger 1933 selber der Gefahr erlag, die ‚ontologische Differenz‛ vorstellend zu überspringen, mag hier dahingestellt bleiben.“

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Differenz zwischen Sein und Seiendem. Sie stellt aber andererseits selbst ein hochkomplexes Bedeutungsgeflecht dar, das (bewusst?) verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zulässt. Diese Figur musste stark ‚aufgeladen‛ werden, musste viele Projektionen ‚speichern‛, um ihre verschiedenen religiösen Funktionen erfüllen zu können. a) Die uns heute fremd erscheinende Maximin-Gestalt passte nur zu gut in ihre Zeit, wie zwei ganz unterschiedliche Forscher zeigen. Die Zeitgenossen schienen förmlich auf diesen jugendlichen Knabengott zu warten. Zunächst kommt der jüdische Historiker George Mosse zu Wort: Dass im Zirkel um George der Homoerotismus als Bedingung des nationalen Wiedererwachens gesehen wurde, ist sicher eine der überraschendsten Konsequenzen der Wiederentdeckung des Körpers [um die Jahrhundertwende, G.D.].⁷³

Der nationale, ja nationalistische Aspekt der Maximin-Gestalt sollte also nicht übersehen werden. Kürzlich hat Esther Sophia Sünderhauf in ihrer interdisziplinären Arbeit zur Winckelmann-Rezeption in Deutschland von 1840 bis 1945 Mosses Sichtweise bestätigt: Parallel zur Aufwertung des männlichen Körpers und der ‚männlichen‛ Ästhetik ist seit der Jahrhundertwende eine geradezu kultische Verehrung des ‚Jünglings‛ zu beobachten, in deren Mittelpunkt der Junge bzw. junge Mann zwischen ca. zehn und zwanzig Jahren stand. Ein erster Höhepunkt des Jünglingskultes ist zwischen ca. 1900 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges anzusiedeln. Der schöne ‚Jüngling‛ wurde als Wiedergeburt des antiken Eros gefeiert [...]. [...] Der Kult entstand im Spannungsfeld von [...] Homoerotik und Antikebegeisterung⁷⁴.

b) Die Maximin-Gestalt unter dem Aspekt der Geschlechterforschung Die Maximin-Gestalt kann unter verschiedenen Gesichtspunkten interpretiert werden (und sie wurde auch schon zahlreiche Male interpretiert). Hier soll nicht der eben erwähnte politische oder nationale Aspekt weiterverfolgt, sondern auf eine andere Möglichkeit der Interpretation eingegangen werden, nämlich die der Geschlechterforschung, zumal diese sich gut zum hier in den Vordergrund gestellten neomythischen Kontext in Beziehung setzen lässt. Jan Steinhaußen hat in seiner Arbeit gezeigt, dass die von George als übergeschlechtlich definierte Liebe des weltschaffenden Eros, eine Liebe von 73 George Mosse: Nationalismus und Sexualität, bürgerliche Moral und sexuelle Normen, München 1985, S. 66. Weiter heißt es dort: „Der männliche Eros wurde eine konstante Obsession des modernen Nationalismus. Der deutsche Nationalismus war vor allem auf eine Gemeinschaft von Männern gegründet.“ Ebd. S. 71. 74 Sünderhauf, Griechensehnsucht (Anm. 28), S. 212.

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der, nach George, das ‚verhirnlichte‛ Zeitalter nichts ahne, androgyn konstruiert sei.⁷⁵ Dass George diese, seine seelische Lage nicht als widersprüchlich empfunden habe, zeige sich in diesem Gedicht: Ich bin der Eine und bin Beide Ich bin der zeuger bin der schooss Ich bin der degen und die scheide Ich bin das opfer bin der stoss Ich bin die sicht und bin der seher Ich bin der bogen bin der bolz Ich bin der altar und der fleher Ich bin das feuer und das holz Ich bin der reiche bin der bare Ich bin das zeichen bin der sinn Ich bin der schatten bin der wahre Ich bin ein end und ein beginn.⁷⁶

Ganz offensichtlich sieht sich das lyrische Ich in diesem Gedicht als Zeuger und Gebärer zugleich. Wie bei Schuler sind hier männliche Gebärphantasien festzustellen, die sich allerdings auf das geistige Gebären beziehen, so wie Maximin aus der „Sternenzeugung“ hervorgegangen, aus dem Geistigen geboren sei. Steinhaußen zeigt nun weiter, dass das lyrische Ich im Maximin-Zyklus wiederholt in der Rolle der sich einem Gott hingebenden Frau dargestellt wird. „Da schon dein same den ich trug in fahr/Und aus mir nährte und erzog in nöten“.⁷⁷ Zweifellos wird hier von einem Mann ein wohl geistiger Embryo genährt. In Bezug auf solche Stellen habe Gundolf für George offensichtlich das Konzept der Androgynität des Menschen vertreten, in der der Geschlechtsdimorphismus aufgehoben sei. Steinhaußen zeigt also die geistige Zeugung als eine Funktion, in der das lyrische Ich die männliche und weibliche Funktion (eben im Prozess der geistigen Zeugung) übernehmen kann. Zu Recht spricht er darum von männlichen Gebärphantasien. „Den Gebärakt nahm hier in Umkehrung des biologischen 75 Steinhaußen, Aristokraten (Anm. 40), S. 415. „Das Geschlecht wird [von George und Gundolf] nicht binär, sondern androgyn und übergeschlechtlich konstruiert. George selbst hat seine seelische Lage dabei nicht als widersprüchlich reflektiert. Die Welt selbst war nur in der Einheit des binären Gegensatzes denkbar. Mann und Weib waren in einem Körper vereint.“ 76 SW VIII (Anm. 3), S. 27. Zu diesem Gedicht gibt es eine Aufzeichnung von Edith Landmann, Gespräche (Anm. 5), S. 21, Anm. 1, die einen eindeutigen, aber doch eher kryptischen Bezug zu Maximin herstellt: „Er las das ‚Ich bin der eine und bin beide [...]‛ wie einer, der es [?] erduldet [!] hatte und der es nun als ein Erlittenes aussagte. (Womit zusammenhängt, dass dies Gedicht, dessen die Mystiker so sehr sich freuen, keinen Bezug auf das All und überhaupt keinen metaphysischen Sinn hat, dass es vielmehr wörtlich und aus dem Zusammenhang heraus zu verstehen ist als sein eigenes Erlebnis in seiner Beziehung zu Maximin).“ 77 SW VIII (Anm. 3), S. 20.

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Fortpflanzungsaktes der Mann vor. In diesem Sinne war er Erzeuger und Gebärer und, wie Gott oder der Dichter, Schöpfer.“⁷⁸ Diese Deutung lässt sich leicht mit den mythologischen Aspekten der Maximin-Religion verbinden. Die große Urmutter ist, jedenfalls nach Schuler, ebenfalls androgyn (auch bei Plato ist, wie gesagt, das vollkommene Urwesen – zumindest zu einem Drittel – androgyn). Genau diese Androgynität konnte der Archäologe Hans von Prott, der im ‚Geheimen Deutschland‛ als positive Figur dargestellt wird, nicht ertragen – weshalb er Selbstmord beging („Und sprang in die schäumenden fluten“).⁷⁹ Unter dem Eindruck einer grässlichen Vision der Urmutter auf dem Peloponnes, in der diese die Bedingung für den olympischen Götterhimmel darstellte, war dieser junge Archäologe sich seiner eigenen Androgynität bewusst geworden. George, der das Schicksal Protts im ‚Geheimen Deutschland‛ mythologisiert, hat für sich selbst die „qual der zweiheit“, hier den Geschlechterdualismus, überwunden. Maximin hat ihm die Überwindung dieser schaurigen Vision ermöglicht. Die Aufhebung der „qual der zweiheit“ bedeutet folglich auch die Aufhebung des Geschlechterdualismus’ beziehungsweise seine Integration in ein umfassendes Ganzes. Auch das kann als ein post-eschatologischer Zustand oder als Erlösung verstanden werden. Bei Breuer erscheint George zudem verschiedene Male als Mutter (seiner Jünger). So heißt es: George [...] war in letzter Instanz keine Vaterfigur, sondern – eine Mutter. Er wirkte schützend und nährend, wehrte fremde und feindliche Kräfte ab und verschmolz in geradezu symbiotischer Weise mit seinen Geschöpfen. ⁸⁰

Einmal wird er gar als „große […] Mutter“⁸¹ bezeichnet. Ironischerweise stünde also an der Spitze des Männerbundes die ‚Magna Mater‛. George „empfand sich offenbar als ‚Urmutter‛ seines ‚Neuen Reiches‛“,⁸² so auch Steinhaußen. Dass sich George selbst als Mutter gesehen hat, belegt auch ein kurzes Gespräch, das Edith

78 Steinhaußen, Aristokraten (Anm. 40), S. 295. Er bezieht sich hier auf Hildebrandts Deutung der Platon-Rezeption im George-Kreis. Vgl. dazu auch S. 416: „George selbst hatte offensichtlich Gebärphantasien und drückte mehrfach die Rolle einer werdenden Mutter aus [sic], die empfing und gebar, allerdings im geistigen Stoff.“ Und noch pointierter: „George war Gott-Mutter und GottVater in einem.“ Ebd. S. 417. – Zu diesem Thema vgl. jetzt: Christine Kanz: Maternale Moderne. Männliche Gebärphantasien zwischen Kultur und Wissenschaft (1890–1933), München 2009. 79 SW IX (Anm. 3), S. 47. – In Wirklichkeit hat sich Hans von Prott erschossen. Vgl. auch: Claus Viktor Bock/Conrad M. Stibbe: Stefan George und die Göttervision des Archäologen Hans von Prott. In: Castrum Peregrini 145, 1980, S. 5–34. 80 Breuer, Fundamentalismus (Anm. 13), S. 60. 81 Ebd., S. 148. 82 Steinhaußen, Aristokraten (Anm. 40), S. 416, Anm. 41.

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Landmann überliefert. George spricht nach seiner Ankunft in Basel mit ihr gleichsam von Frau zu Frau: „‚Hätten Sie das für möglich gehalten?‛ damit trat er aus dem Wagen in den Garten. Wie es den Kindern gehe? ‚Gut? Ja, meinen auch‛.“⁸³

II Merkmale der Maximin-Religion Bildungs- beziehungsweise Intellektuellen-Religion Hier ist noch einmal, wie eingangs schon angemerkt, auf die Begriffe Bildungsbeziehungsweise Intellektuellen-Religion zurückzukommen. Georges Antike-Bild und somit seine Maximin-Religion sind auch durch seine ausgedehnten Lektüren und Kenntnisse auf den Gebieten der Religionsgeschichte und der Ethnologie bestimmt. Man kann seine neue Religion, die ein schlagendes Beispiel für den Umschlag von Bildungswissen in Erlösungswissen darstellt, deshalb auch als Intellektuellen-Religion⁸⁴ bezeichnen. Es ist belegt, dass Georges Kenntnisse der antiken Mysterien-Religionen außerordentlich weitläufig waren, gleichsam auf dem jeweils neuesten Forschungsstand. So kannte er zum Beispiel die in französischer Sprache geschriebenen, heute noch lesenswerten Werke des belgischen Religionshistorikers Franz Cumont zum MithrasKult,⁸⁵ aber auch die zeitgenössische Ethnologie verfolgte er – vor allem wegen der dort geschilderten Adoptionsriten⁸⁶ – aufmerksam. Überliefert ist die Aussage: „Nietzsche kannte die Philosophen, ich kenne die Indianer.“⁸⁷ 83 Landmann, Gespräche (Anm. 5), S. 67 (Juli 1919). 84 Vgl. Breuer, Fundamentalismus (Anm. 13), S. 106. 85 Nachweise bei Morwitz, Kommentar (Anm. 2), zu Cumont (Mithras) vgl. S. 159. Dass der Mithras-Kult eine Religion war, zu der ausschließlich Männer (Soldaten) Zugang hatten, könnte Georges Interesse an ihm mitbestimmt haben; für Hinweise auf das ‚Corpus Hermeticum‛ und Reitzenstein vgl. ebd. S. 453. – Zur heutigen wissenschaftlichen Beurteilung von Dumonts Leistung vgl. Manfred Clauss: Mithras. Kult und Mysterium, Darmstadt 2012, S. 7. 86 Morwitz, Kommentar (Anm. 2), S. 442: „Wegen der Begründung der Sohnschaft verfolgte der Dichter die Adoptionsriten der verschiedenen Völker und Zeiten.“ 87 „‚Nietzsche kannte die Philosophen, aber ich kenne die Indianer‛, meinte Stefan George, als einmal das Gespräch auf den Denker des Zarathustra kam. Für diese Bemerkung verbürgt sich Robert Boehringer, die besonderen Kenntnisse Georges in der Völkerkunde hervorhebend: „Der ‚Meister‛ habe nach Rohstoff, nach Urstoff verlangt und von den Wilden alles gewußt.“ Werner Müller: Indianische Welterfahrung. Berlin – Wien, 1981, S. 6. Interessant ist hier die Formulierung: „Der ‚Meister‛ habe nach Rohstoff, nach Urstoff verlangt“, weil sie belegt, dass George für die Konzeption seiner künftigen Gesellschaft Reflexionsmaterial auch aus ‚exotischen‛ Bereichen benötigte. Diese Vermutung wird durch eine ähnliche Äußerung Georges bestätigt, die Edith

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George revitalisiert nicht die griechische Religion – wie er vielleicht selbst geglaubt hat⁸⁸ –, sondern er schafft eine neue, intramundane Religion der Diesseitigkeit, die mit modern gedeuteter griechischer Begrifflichkeit beziehungsweise Mythologie und zahlreichen wissenschaftlichen Kenntnissen aus verschiedenen Disziplinen dargestellt wird. Besonders deutlich lässt sich der Umschlag von Bildungs- in Erlösungswissen an Georges Lektüre von Kurt Breysigs 1905 erschienenem Buch ‚Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilsbringer‛⁸⁹ zeigen, denn George hatte die Notwendigkeit des neuen Gottes schon vor Maximins Erscheinen erkannt. Dazu schreibt Breuer: Stefan George meinte in einem Gespräch im Oktober 1905, er habe es [scil. Breysigs Buch, G.D.] in einem Zug durchgelesen. Die Schlussgedanken werde Breysig in seinem nächsten Buch – wohl dem Maximin-Gedenkbuch – wieder finden.⁹⁰

Die Tatsache, dass George die Stiftung eines seinen Kreis zusammenhaltenden Kultes schon vor dem Tode Maximins plante, kommt in einem Gespräch mit Albert Verwey aus dem Jahre 1910 zum Ausdruck, das Thomas Karlauf zitiert: Als Verwey ihm [George, G.D.] in dem [...] Gespräch von 1910 entgegenhielt, ein Dichter dürfe seinen Genius nicht zum Gegenstand allgemeiner Anbetung erklären, meinte George erregt, Maximin könnte auch ein schwarzer Stein sein oder eine grüne Kugel.⁹¹

Es war dann zwar kein „schwarzer Stein“, sondern Maximilian Kronberger, dessen Zusammentreffen mit George zur Gründung einer offenbar benötigten Religion führte – aber nach Georges Aussage wäre er, Kronberger, für die neue Landmann festgehalten hat: „Ich lese jetzt manchmal in der ‚Umwertung der Werte‛ bei Nietzsche. Wenn man so viel von Philosophie hört, will man doch auch nicht zurückbleiben. Er weiß ja furchtbar viel von Philosophie, viel mehr als ich, aber ich kenne die Indianer. Das hätte Nietzsche ganz gut getan, wenn er sich da mal umgesehen hätte. Das gibt ein gutes Korrektiv. Die Geschichte der Werte, die beginnt vor aller Kultur. Die Philosophie kommt erst sehr spät, aber etwas von dem, woraus sie kommt, beginnt schon bei den Indianern.“ Landmann, Gespräche (Anm. 5), S. 164. 88 Vgl. Morwitz, Kommentar (Anm. 2). 89 Berlin 1905. 90 Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus (Anm. 60), S. 122. 91 Vgl. Karlauf, George (Anm. 60), S. 359. Die Erwähnung des schwarzen Steins dürfte ein Hinweis auf den Schuler besonders nahe stehenden römischen Knabenkaiser Heliogabal sein, der seinen Gott, einen schwarzen Stein (einen syrischen Meteoriten) nach Rom brachte, ihn dort mit der karthagischen Tanit vermählte, die Attribute aller Götter in dessen Zelle brachte und sich selbst mit dem Gott identifizierte. Schuler erwähnt Heliogabal am Ende seiner Vorträge ‚Vom Wesen der ewigen Stadt‛, vgl. Schuler, Augen (Anm. 61), S. 300; Heliogabal ist – wie bekannt – auch der Namensgeber für Georges ‚Algabal‛. – Auch der siegreiche Barbar im ‚Brand des Tempels‛ betet einen ‚rohen stein‛ an, vgl. SW IX (Anm. 3), S. 86: „Er betet heissts vor einem rohen stein.“

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Religion nicht unbedingt nötig gewesen, ein „schwarzer Stein“ oder eine „grüne Kugel“ hätten genügt.

Konkurrenz zum Christentum Mit Maximin existiert für George nur noch ein Gott, die anderen in seiner Lyrik auftretenden Götter (zum Beispiel Baldur) werden zu bloßen Zitaten, die zusammenhanglos auftauchen können oder zu Göttermasken, die Ansprüche vertreten. Die Zeile „[...] Apollo lehnt/geheim an Baldur [...]“⁹² soll zum Beispiel die Verbindung Deutschlands mit dem antiken Griechenland symbolisieren. Von einer existenziellen ‚Aufladung‛ des griechischen oder germanischen Gottes kann hier nicht die Rede sein. Als moderner ‚Mono-Gott‛ tritt Maximin, ebenfalls ein Mittler, in typologische Konkurrenz zum Erlöser Jesus Christus.⁹³ Die 2000 Jahre währende christliche Dominanz erscheint als so übermächtig, dass für Georges neopagane Religion Anleihen bei christlicher Sprache und christlichen Ritualen nötig werden.⁹⁴ Auch deswegen muss Maximin als Erlöserfigur typologisch auf Christus bezogen werden. George ist zudem der Meinung, dass der Katholizismus, anders als der Protestantismus, authentische Reste heidnischer Religion bis in die Gegenwart aufbewahrt habe.⁹⁵ Als Kenner der antiken Mysterienreligionen weiß er, wie viele Elemente zum Beispiel der Mithras-Religion oder der eleusinischen Mysterien ins Christentum eingegangen sind. Der „Christ im tanz“⁹⁶ erweist sich als die Projektion einer heidnischen, prächristlichen Mysterienreligion in die Zukunft, in der Christus paganisiert wird. Georges Religionsentwurf ist also auch als Gegenposition zum Christentum zu verstehen, vor allem als eine implizite und explizite Kritik an dessen Aufspal92 SW IX (Anm. 3), S. 26. 93 George interessierte am christlichen Erlöser besonders seine Funktion als Mittler. Vgl. dazu: F. W. LʼOrmeau [i. e. Wolfgang Frommel]: Die Christologie Stefan Georges. In: Castrum Peregrini 19, 1953, S. 5–137. Hier werden allerdings die Grenzen zwischen Christentum und Georges Religionsentwurf immer wieder verwischt. – In Gundolfs George-Buch wird der griechische Gott Eros häufig als Mittler bezeichnet. 94 Übernahmen aus der christlichen Bibel führen in Georges Lyrik manchmal in die Nähe der Blasphemie. Vgl. z. B.: „Wie in der Bücher Buch spricht der Gesalbte/An jeder wendewelt: ‚Ich bin gekommen/Des weibes werke aufzulösen.‛“ SW VIII (Anm. 3), S. 96. 95 Zu dieser Auffassung scheint George schon als Jugendlicher gekommen zu sein, wie folgende Erinnerung belegt, die von tiefer Betroffenheit zeugt: „Über Opfer, Kult und Weihe: Wie es eine der größten Erschütterungen seiner Jugend gewesen sei, diese Prozession mit dem Bilde der Maria auf einer Mondsichel: ‚Die uralte Isis, die da herumgetragen wurde, was das bedeutet!‛“ Landmann, Gespräche (Anm. 5), S. 170. S. dazu auch Anm. 5. 96 SW IX (Anm. 3), S. 59ff. Im Gedicht: ‚Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann‛.

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tung der Welt in ein Diesseits und Jenseits. So kann man in Maximin als intramundanem, sterblichem Gott (der sich aber in der männlichen deutschen Jugend ständig neu verkörpert)⁹⁷ ein Gegenmodell zu Jesus Christus sehen. Durch die Maximin-Gestalt erreicht George, wie gesagt, eine radikale Reduktion der wegen ihrer Komplexität abgelehnten Moderne. So verspricht die Anrufung „Denn du bist ein gott der nähe“⁹⁸ eine göttliche Präsenz im Diesseits, sozusagen in nächster Nähe, auf die man – durch die ständige sich wiederholende Neuverkörperung des deutschen Gottes in deutschen Jünglingen – auch im Alltag stoßen kann.⁹⁹ Diese Reduktion von Komplexität durch das Erscheinen eines neuen, innerweltlichen Gottes lässt sich theologisch oder religionswissen-schaftlich auch als Erlösung bezeichnen (als Umschlag von Bildungs- in Erlösungswissen). Wie radikal sich George mit seinem Gott von der durch ihn abgelehnten Gegenwart abzugrenzen glaubte, zeigt eindrucksvoll Wilhelm Emrich in einem älteren Aufsatz: Da es ausschließlich dieser Eine, leibgewordene, irdisch erschienene Gott ist, der den Zehntausenden, ja einem ganzen Weltzeitalter den Namen und das verbindliche Maß gibt, kann die geschilderte Radikalität der eschatologischen Konzeption Georges nicht mehr erstaunen. Im Gegenteil. Sie ist völlig konsequent, in sich notwendig. Verbindlich ist für George keine abstrakte Idee, kein Postulat der praktischen Vernunft, keine gedankliche Utopie eines kommenden Reiches der Freiheit, einer besseren Gesellschaftsordnung, überhaupt keine Weltanschauung, über die man diskutieren kann und muss, die in philosophischen oder soziologischen oder auch theologischen Explikationen und Theorien entwickelt werden könnte. Dies alles ist für George ‚drusch auf leeres stroh‛. Nur Eines gilt, der Eine Gott, der konkret, leibhaftig erschien und der alle Maße und Ordnungen stiftet.¹⁰⁰

(Post-)Eschatologie. Die Funktion der Maximin-Gestalt für den George-Kreis Mit Maximin ist das Heil eingetreten. George (und seine Jünger) leben in ihrem Bund somit in einer post-eschatologischen Situation, haben für sich die Erlösung 97 David, George (Anm. 10), wie Anm. 51. 98 SW VIII (Anm. 3), S. 71. 99 Seine Lehre vom Augenblick hänge nach George daran, „dass man heidnisch ist, dass man nicht vom Sinnlichen wegsieht, um das Göttliche zu erfassen, sondern das Göttliche im Sinnlichen erfasst.“ Landmann, Gespräche (Anm. 5), S. 40; vgl. ergänzend dazu Jost, George (Anm. 14), S. 66: „Die Betonung des Kairos wird gegen den ‚Stern des Bundes‛ hin immer stärker. In gleicher Weise wuchs die Bedeutung des Menschen. Beides geht Hand in Hand. Die Diesseitigkeit, die für die geforderte Elite Georges so bezeichnend ist, muss auch aus der Lehre vom Kairos begriffen werden.“ 100 Wilhelm Emrich: „Sie alle sahen rechts – nur ER sah links“. Zur Eschatologie Stefan Georges. In: Peter L. Lehmann/Robert Wolff (Hg.): Das Stefan-George-Seminar 1978 in Bingen am Rhein. Eine Dokumentation, Heidelberg 1979, S. 65–78, hier S. 68.

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erreicht: „Du gabst genug mir welten zu bewegen:/Den fussbreit festen grund worauf ich stehe.“¹⁰¹ Dieser Zustand kann später auf die äußere Welt übergreifen, vorerst ist aber nur sein Vorhandensein im Kreis bedeutsam. Der Dichter aber verwaltet das vom Gott gespendete Heil und „deifiziert“¹⁰² sich dadurch selbst. Er trägt es durch stetig sich wiederholende geistige Zeugung weiter, denn er hat von seinem Gott den Auftrag dazu erhalten: „Mir erstem ganz Gewandelten vom geiste“.¹⁰³ George sieht sich selbst als der erste, der die Botschaft Maximins erfahren und verstanden und der nun die Aufgabe hat, diese in die Welt zu tragen (so etwa wie die Apostel nach Pfingsten oder wie Petrus, auf den Christus seine Kirche bauen will).¹⁰⁴ Dass die Zukunft aber in einer weltgeschichtlich eschatologischen Perspektive von seiner neuen Maximin-Religion bestimmt sein wird, formuliert Stefan George 1917 am Ende seines Gedichtes ‚Der Krieg‛, das er als Einzeldruck erscheinen ließ: Der kampf entschied sich schon auf sternen: Sieger Bleibt wer das schutzbild birgt in seinen marken Und Herr der zukunft wer sich wandeln kann.¹⁰⁵

Wie eng die diesem Zitat vorangehenden, mythologisch kaschierten Prophezeiungen in dem für eine breite Öffentlichkeit bestimmten Gedicht mit der MaximinReligion zusammenhängen, zeigt Morwitzʼ Kommentar:

101 SW VIII (Anm. 3), S. 104 – Hinter dieser unverdächtig klingenden Bezugnahme auf einen Ausspruch des Archimedes (Δóς μοι που˜ στω ˜ και` τη`ν γη ˜ν κινήσω. [Gib mir einen Punkt und ich heble die Welt aus den Angeln], verbirgt sich Camouflage, wenn man davon ausgeht, dass George wusste, in welchem Zusammenhang Schuler dieses Zitat verwendete. Die ‚Tabula Tertia‛ der ‚Kosmogoniae Fragmenta Lucemae Dispersae‛ Schulers lautet: „Das Ausgestoßene hat den Herrn erwählt/Und goldne Throne im verlassnen All./Des Griechen Sehnsucht heißt uns erfüllt./Zum Hebel ward das Ausgestoßene./Nur ausgestoßen wenden wir den Ball.“ Schuler, Augen (Anm. 61), S. 77. Die Umdeutung des Archimedes-Satzes durch Schuler ist für diesen von zentraler Bedeutung, denn er will damit sagen, dass nur das ‚Ausgestoßene‛, das heißt die Homoerotik, die Welt verändern könne, wenn die ‚griechische Liebe‛ wieder in ihre ursprüngliche sakrale Funktion – wie in der Antike – eingesetzt würde. Nur so wird Schulers Text verständlich: „Der Griechen Sehnsucht heisst in uns erfüllt. Zum Hebel [!] ward das Ausgestossene“. Sollte George diese Schulerʼsche Deutung gekannt haben, müsste man auch bei ihm das Archimedes-Zitat als Teil einer homoerotischen Soteriologie sehen. 102 So Steffen Martus in: Aurnhammer, Handbuch 2 (Anm. 55), S. 765. 103 SW VIII (Anm. 3), S. 104. – Hildebrandt, Erinnerungen (Anm. 39), S. 38, deutet diese Stelle anders. 104 „George empfand seine Sozialisation innerhalb des Kreises nicht als alternativen homosexuellen Familienbetrieb, sondern missionarisch als Vorform eines geistigen Reiches, das die Schönheit des Lebens und des Jünglings zeugen sollte.“ Steinhaußen, Aristokraten (Anm. 40), S. 294. 105 SW IX (Anm. 3), S. 26

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Aus diesen Götter- und Weltzeitwandlungen schöpft der Dichter den Glauben, dass auch die gegenwärtige Weltzeit der Kriege und dunklen Wirren durch eine Weltzeit [!] des Lichtes abgelöst werden wird, die er im Erscheinen Maximins anbrechen sieht [Hervorhebung G. D.].¹⁰⁶

Ebenso bietet der ‚fussbreit grund‛, den George durch und mit Maximin erreicht hat, den Ausgangspunkt für seine radikale Zeit- und Kulturkritik, wie sie sich in den ‚Zeitgedichten‛ manifestiert, ein Thema, das hier nicht vertieft werden kann.¹⁰⁷

Warum weint Gundolf? – Oder: Von der Parusie zur Eschatologie Maximin ermöglicht und legitimiert die Gründung des Kreises, des ‚Staates‛. Durch ihn entsteht die ‚ewe‛, die George in seinem Kreis verwirklicht sieht, aber auch die Möglichkeit eines künftigen (neuen) Reiches. Durch Maximin ist der Gegensatz von zyklischer und linearer Zeit aufgehoben, der Kairos – die im Augenblick verdichtete Ewigkeit oder besser: die ‚ewe‛ – wird durch ihn ermöglicht: Ich komme nicht ein neues Einmal künden: Aus einer ewe pfeilgeradem willen Führ ich zum reigen reiss ich in den ring.¹⁰⁸

Der intramundane Gott Maximin legitimiert also die Kreisförmigkeit der Zeit („pfeil/ring“); und gerade deshalb garantiert er auch eine innerweltliche eschatologische Perspektive, die sich in ‚ewen‛ oder im Kairos verwirklicht. Als eine solche ‚ewe‛ sah George, wie gesagt, seinen Kreis: Der Sinn aber unseres Staates ist dieser: dass für eine vielleicht nur kurze Zeit ein Gebilde da sei, das, aus einer bestimmten Gesinnung hervorgegangen, eine gewisse Höhe des Menschentums gewährleistet. Auch dies ist dann ein ewiger Augenblick wie das griechische Jahrhundert. Dies erfahren zu haben, ist entscheidend.¹⁰⁹

In Georges eschatologischem Geschichtsmodell wird also der Gegensatz von linearer und zyklischer (mythischer) Zeitauffassung dadurch aufgehoben, dass die Bewegung auf das Ende (Eschaton) hin sich nicht in einem einmaligen Jüngs-

106 Morwitz, Kommentar (Anm. 2), S. 425. 107 Vgl. dazu jetzt ausführlich: Stefan Breuer: Zeitkritik und Politik. In: Stefan George und sein Kreis (Anm. 54), Bd. 2, S. 771–826. 108 SW VIII (Anm. 3), S. 25 – „Im Gegensatz zum Willen der Gegenwart, der nach pfeilgerader Vorwärtsbewegung strebt, hat er [der Dichter] den Reigen, den ewigen Rundtanz, anzuführen, der in den Ring reisst und den Ring schließt. Nach Nietzsche ist die ewige Wiederkehr der Wendepunkt der Geschichte.“ Morwitz, Kommentar (Anm. 2), S. 352. 109 Landmann, Gespräche (Anm. 5), S. 39f.

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ten Gericht im Jenseits vollendet, sondern sich intramundan, in ‚ewen‛, zyklisch wiederholen kann.¹¹⁰ Die eschatologische Dimension des Kreises ist überall spürbar; sie wird mit gleichsam missionarischem Eifer herausgestellt. Wie bei Schuler könnte man von einer soteriologischen Homoerotik sprechen.¹¹¹ Da Maximin die ‚geistige Zeugung‛ auch für die ferne und fernste Zukunft garantiert, ist in Georges imaginiertem künftigen Reich die Frau nur am Rande sichtbar.¹¹² In den millenarischen (chiliastischen) Voraussagen einiger Gedichte wird die Konkurrenz zur 2000-jährigen Geschichte des Christentums deutlich: Wie in der Bücher Buch spricht der Gesalbte An jeder wendewelt: ‚Ich bin gekommen Des weibes werkes aufzulösen.‛¹¹³

Mit der Formulierung „An jeder wendewelt“ wird eine Parallele zu der Zeit Christi hergestellt. Wieder soll für weitere 2000 Jahre die Stellung der Frau im ‚Neuen Reich‛ festgelegt werden. Auf das Christentum soll eine neue Epoche mit einer neuen Religion von ähnlicher Dauer folgen.¹¹⁴ Den Eintritt seines Reiches hat George aber im ‚Brand des Tempels‛¹¹⁵ auf eine ferne Zukunft (500 Jahre) verschoben. Im Dezember 1919 liest Gundolf im kleinen Kreis die neuen Gedichte Georges. Edgar Salin erinnert sich daran: Georges tiefer, prophetischer Ton kam schwer und dunkel dröhnend aus Gundolfs Munde. Und er las weiter, – [...] die ‚Lieder‛ und ‚Der Brand des Tempels‛, und als er zu den Schlusszeilen kam ‚Der Tempel brennt‛, liefen ihm die Tränen die Wangen herunter und die Stimme versagte ... [...]. Mit ihnen [diesen Versen; G. D.] versank die Hoffnung seiner Jugend, mit ihnen versank der Lebenstraum, der ihm auch in diesen Jahren noch Halt war. ‚Ein halbes tausend-jahr‛...¹¹⁶

Man kann Gundolfs Weinen vielleicht so deuten: Seine Naherwartung (Parusie), die Hoffnung, dass noch zu seinen Lebzeiten das ‚Neue Reich‛ entstehe, schien ihm mit diesem Gedicht dahin zu sein und sich in eine spät eintretende Eschatologie zu verwandeln. Das Heil würde zwar eintreten, aber erst in einer fernen

110 Vgl. dazu ausführlich: Verf., Muttermythos (Anm. 3), S. 229ff. 111 Vgl. ebd., S. 210ff. 112 Jan Andres: „frauen fremder ordnung“. Thesen zur strukturellen Misogynie des GeorgeKreises. In: Ute Oelmann/Ulrich Raulff (Hg.): Frauen um Stefan George, Göttingen 2010, S. 37–58. 113 SW VIII (Anm. 3), S. 96 – Auch hier streift die Parallelisierung mit dem Gesalbten (Christus) – wie bei anderen typologischen Bezugnahmen auf den christlichen Erlöser – die Blasphemie. 114 Zu den philologischen Details vgl. Ebd., S. 146f. 115 SW IX (Anm. 3), S. 61ff. 116 Salin, George, (Anm. 65), S. 88.

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Zukunft – dafür stehen die 500 Jahre. Dass Gundolf bei dieser Gelegenheit zuerst im George-Ton („tiefer, prophetischer Ton [...] schwer und dunkel dröhnend“) vorliest und gleich darauf zu weinen beginnt, zeigt, dass er im Jahre 1919 nicht mehr authentisches Glied des Bundes war, denn innerhalb des Kreises lebte man in einer post-eschatologischen Situation. Dass die Zeilen auch anders verstanden werden können, belegt der weitere Text Salins.¹¹⁷ Für Gundolf aber war, auf die eine oder andere Weise – Entfernung von George, Entfernung der Parusie – die mögliche Verwirklichung des ‚Neuen Reiches‛ in weite zeitliche Distanz gerückt. Der Maximin-Kult wird in zahlreichen der ‚Kreisbücher‛ in die Vergangenheit des Kreises, bis hin in seine Vorgeschichte, projiziert – am folgenreichsten vermutlich in Heinrich Friedemanns Platon-Buch von 1914.¹¹⁸ Noch ganz spät erinnert sich George an diesen für die Kreisgeschichte entscheidenden Wendepunkt. Er stellt dieses Buch – trotz zahlreicher Einwände – auf eine Stufe mit Nietzsches ‚Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik‛. In den Kreisbüchern wird, wie schon Walter Benjamin in seiner Kommerell-Rezension festgestellt hat, eine „Heilsgeschichte“ des Kreises selbst und eine „vita sanctorum“¹¹⁹ seiner Mitglieder konstruiert.¹²⁰ Das im Kreis erreichte Heil wird als Vorschein auf die künftige weltgeschichtliche Mission der Maximin-Religion empfunden.

III Nach der ‚ewe‛ Die ‚ewe‛ Georges endet mit seinem Tod. Schon die von George selbst mitinitiierte Kreisgeschichte aus Wolters Feder¹²¹ fand nicht mehr die ungeteilte Zustim-

117 Ebd.: „Wie oft haben wir seither mit den Freunden über den Sinn dieser Schlussverse gesprochen, und noch weiss niemand zu deuten, welche Tempel es alle sind und sein werden, die brennen und wann dieses halbe Jahrtausend begann, – wann es endet.“ 118 Vgl. Anm. 35 dieses Artikels. 119 Beide Begriffe in Walter Benjamin: Wider ein Meisterwerk. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 3. Hg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a. M. 1981, S. 252–259, hier S. 259. 120 Dass damit historische Fakten manipuliert werden, kümmerte George nicht. Kommerell überliefert dazu den Ausspruch des Meisters: „Es geht hier nicht um die Wahrheit, es geht um den Staat.“ Nach Ernst Osterkamp: Das Eigene im Fremden. Georges Maximin-Erlebnis in seiner Bedeutung für die Konzeption der Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst. In: Eijiro Iwasaki (Hg.): Akten des VIII. internationalen Germanistenkongresses, Tokyo 1990, Begegnung mit dem Fremden: Grenzen – Traditionen – Vergleiche, S. 394–400, hier S. 400. 121 Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930.

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mung aller Jünger. Die Publikation ‚Kreis ohne Meister‛¹²² von Ulrich Raulff zeigt den schon früher angelegten Zerfall des George-Kreises. Das sich ankündigende Dritte Reich und sein Eintritt verändert zahlreiche Jünger zur Kenntlichkeit: Einige werden zu Nationalsozialisten, andere müssen Juden sein. Zur Funktion der Maximin-Gestalt lässt sich, kurz zusammenfassend, sagen: Maximin ist nicht nur die Voraussetzung und das Zentrum des Kreises, sondern auch als intramundane, sich in dauernden Inkarnationen erneuernde göttliche Figur mit der Geschichte eines in fernerer Zukunft vielleicht nicht mehr geheimen Deutschlands (als sein Heilsbringer) verbunden. Vom Knabengott Maximin hängt alles ab, was George wichtig war: die Konstituierung und Weiterführung des Kreises, die Möglichkeit von Dichtung, die religiöse Verklärung des Diesseits (des Leibes), vor allem aber – und damit identisch – die innerweltliche Sinnhaftigkeit des geschichtlichen Prozesses. Durch die ständige Fortzeugung geeigneter Jünglinge, die im Männerbund vermutlich Einfluss auf die Geschicke der Welt nehmen sollen, wird diese intramundane Eschatologie gewährleistet. Ob ein ‚schwarzer Stein‛ oder eine ‚grüne Kugel‛ die Aufgaben dieses auch in der Jugendbewegung verehrten deutschen Gottes hätte übernehmen können, wie George 1910 im Gespräch mit Verwey behauptet hat, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Diese Säkularisierung von Heilsgeschichte, für die der intramundane Gott Georges die Voraussetzung war und die schon Walter Benjamin in seiner Kommerell-Rezension bloßstellte, wird andererseits im Jahr 1995 von dem evangelischen Theologen Kurt Anglet Benjamin selbst vorgeworfen. In einer genauen Analyse von Benjamins vieldiskutiertem ‚Theologisch-politischem Fragment‛¹²³ weist Anglet nach, dass Benjamin in diesem enigmatischen Text der „Todesmetaphysik der Dichtung [Stefan] Georges“ verfallen sei. Aus der Kritik an Benjamin kann man kontrafaktisch Anglets Kritik an George herauslesen: Denn alle noch so wortgewaltigen Abgrenzungsversuche gegen die Irrationalismen des George-Kreises, wie sie in den Invektiven gegen Gundolf und Kommerell ihren sichtbaren Ausdruck finden, können nicht die verborgene Affinität Benjamins zur Todesmetaphysik der Dichtung Georges verhehlen. Davon zeugt die Apotheose des Untergangs und der Todesverfallenheit des Lebens im ‚Theologisch-politischen Fragment‛, das nicht einmal davor zurückschreckt, ‚die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis‛ als ‚messianisch‛ zu titulieren.¹²⁴

122 Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009. 123 Benjamin, Schriften (Anm. 119), Bd. 2, 1, S. 203f. 124 Kurt Anglet: Walter Benjamins Konstruktion der historischen Dialektik und deren Aufhebung ins Eschatologische durch Erik Peterson, Berlin 1995, S. 37.

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Die dunkle Seite von Georges „Todesmetaphysik“ (hier im wörtlichen Sinn) zeigt sich in der Hymne ‚Sprüche an die Toten‛ aus dem ‚Neuen Reich‛, in der die Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg „im dritte[n] der Stürme“¹²⁵ zurückkehren, um einem weiteren Weltkrieg¹²⁶ im Voraus einen heilsgeschichtlichen Sinn durch die intramundane Eschatologie der Maximin-Religion zu geben.¹²⁷

125 SW IX (Anm. 3), S. 114. 126 Vgl. das Gedicht Georges: ‚Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg.‛ [Hervorhebung G. D.], SW IX (Anm. 3), S. 31. 127 Vgl. dazu: Verf., Muttermythos (Anm. 3), S. 346ff.

Uwe Spörl

Gottlose Mystik und Georges poetische Religion Zwei Arten ästhetischer Religiosität in und mit der Literatur um 1900 In meiner Dissertation zur ‚Gottlosen Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende‘¹ habe ich mich vor einigen Jahren sehr intensiv mit einer Art von moderner, ästhetischer Religiosität auseinandergesetzt, die um 1900 – nicht nur, aber gerade im deutschen Sprachraum – in einem intensiven und breiten Diskurs greifbar gewesen ist. Diese Religiosität ist von den unterschiedlichsten Schriftstellern der beginnenden Moderne – von Gerhart Hauptmann bis Robert Musil und von Heinrich Mann bis Rainer Maria Rilke, aber wohl nicht von Stefan George – aufgegriffen, poetisch-literarisch gestaltet oder funktionalisiert worden. Weil sie die Möglichkeit adäquaten Sprechens und Schreibens in Frage stellt, poetologische Konsequenzen haben kann; weil sie sich als ‚gottlos‘ versteht, die Transzendenz tradierter Religionen durch eine mindestens im weiteren Sinne ‚ästhetische‘ Erfahrung ersetzt und weil sie deshalb dazu einlädt, sie mit dem, was ich im Titel dieses Beitrags ‚Georges poetische Religion‘² genannt habe, ins Verhältnis zu setzen. Beide Phänomene, die ‚gottlose Mystik‘ oder ‚Neomystik‘³ auf der einen Seite und Georges poetische Religion auf der anderen weisen nämlich, abgese-

1 Verf.: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende, Paderborn u. a. 1997. – Ein weiterer Beitrag zum Thema, der anhand des Gegenstands gottlose Mystik das Verhältnis von Literatur- und Kulturwissenschaft reflektiert, ist Verf.: Mystisches Erleben, Leben und Schreiben. Überlegungen zu den Grenzen der Literaturwissenschaft. In: KulturPoetik 1, 2001, S. 214–230. 2 Vgl. zu dieser Bezeichnung Bernhard Böschenstein: Stefan Georges poetische Religion. In: Silvio Vietta/Stephan Porombka (Hg.): Ästhetik – Religion – Säkularisierung. Bd. II: Die klassische Moderne, München 2009, S. 63–71 sowie Stefan Breuer: Zur Religion Stefan Georges. In: Wolfgang Braungart u. a. (Hg.): Stefan George. Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 225–239. – Mir ist bewusst, dass es ggf. problematisch ist, in Bezug auf George und seinen Kreis pauschal von ‚Religion‘ zu sprechen, besonders dann, wenn damit George als Stifter einer Religion erscheint (vgl. zu dieser Einschränkung Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, S. 247). 3 Dies ist die Bezeichnung, die ich in meiner Dissertation (Anm. 1) für diese gottlose Mystik der Jahrhundertwende 1900 eingeführt habe.

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hen von ihrer Gleichzeitigkeit im ‚Fin de siècle‘, zu der sich in beiden Fällen wohl auch ein gewisses ‚Nachleben‘ in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gesellt,⁴ offensichtlich einige wichtige Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten auf, sicherlich aber auch einige interessante Unterschiede. Vor allem letztere können und sollen dazu beitragen, durch die Kontrastierung beide stärker zu konturieren und so einem besseren Verständnis zuzuführen.⁵ Dies ist die Unternehmung, die ich in diesem Aufsatz in aller Kürze und damit erzwungener Abstraktheit angehen will. Allerdings fehlt mir für diese Unternehmung eine etablierte theoretischmethodische Fundierung, wie sie vielleicht die Religionswissenschaft oder -soziologie zur Verfügung stellen, sodass ich mich – als Literaturwissenschaftler – vor allem auf die Aspekte des Vergleichs konzentrieren will, die das Verhältnis der jeweiligen Religiosität zu den literarischen Texten, die mit ihr in Verbindung stehen, betreffen. Die bewusst vage gehaltene Formulierung ‚in Verbindung stehen‘ deutet dabei eine vorläufige und im Folgenden zu prüfende Hypothese schon an: dass es nämlich in diesem Verhältnis der jeweiligen religiösen Erfahrung beziehungsweise des jeweiligen religiösen Gehalts zum literarischen Text erhebliche, vielleicht sogar gravierende Unterschiede gibt.

I Einen Ansatz, die literatur- und ästhetikaffinen Ersatzreligionen und ‚Religionsersatze‘ der Jahrhundertwende 1900 vergleichend zu typisieren, gibt es allerdings doch. Er stammt von der Literaturwissenschaftlerin Bettina Gruber und unterscheidet – so der Titel des betreffenden Aufsatzes – ‚Mystik, Esoterik und Okkultismus‘ anhand ihres jeweiligen Verhältnisses zu den „Feldern Wissen bzw. Erkenntnis, Geschichte bzw. Zeit und Individuum bzw. Subjekt“.⁶

4 In Bezug auf George und seinen Kreis dürfte dieses Nachleben in der Zeit der Weimarer Republik (und darüber hinaus) klar sein. Für die Nachweisbarkeit und Relevanz einer gottlosen oder modernen Mystik in der gesamten Literatur des 20. Jahrhunderts plädiert Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989. 5 Bzgl. Georges ‚Religiosität‘ ist genau das als Forschungsdesiderat benannt im Forschungsüberblick von Jürgen Egyptien: Entwicklung und Stand der George-Forschung. In: Text & Kritik 168, 2005, S. 105–122, hier S. 121f. 6 Bettina Gruber: Mystik, Esoterik, Okkultismus. Überlegungen zu einer Begriffsdiskussion. In: Moritz Baßler/Hildegard Châtellier (Hg.): Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne

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Mystik beziehungsweise das, was ich ‚gottlose‘ oder ‚Neomystik‘ der Moderne genannt habe, wird von Bettina Gruber – völlig zutreffend wie ich meine – als der Typ von moderner Religion gekennzeichnet, der sich durch die unmittelbare, aber zutiefst subjektive Gewissheit einer augenblickhaften mystischen Erfahrung auszeichnet, die so radikal anders ist als alle übrigen Erfahrungen des Subjekts, dass sie die Zeit aussetzt beziehungsweise jegliche Zeitlichkeit auflöst.⁷ Grubers systematische Begriffsanalyse von ‚Mystik‘ stimmt übrigens, obwohl völlig unabhängig voneinander und etwa gleichzeitig entwickelt, weitgehend mit dem überein, was ich seinerzeit als diskursive Bestimmung der ‚neuen Mystik‘ um 1900 selbst rekonstruiert und ermittelt habe,⁸ auch wenn ich – insbesondere wegen der Nähe von neuer Mystik und Lebensphilosophie – bis heute dazu neige, den tradierten Begriff der ‚mystischen Erfahrung‘⁹ durch den des ‚mystischen Erlebnisses‘ zu ersetzen.¹⁰ „Esoterik oder ‚Philosophie durch Einweihung‘“ zeichnet sich nach Gruber im Unterschied dazu dadurch aus, dass sie „ein diskursiv vermitteltes Wissen über Welt und Seele“¹¹ aufweist, ein Wissen zudem, das in aller Regel kulturkritisch ausgerichtet ist und so einen Gegensatz zwischen der esoterischen Lehre einerseits und dem Mainstream der Zeit andererseits markiert.¹² Die Esoterik beruft sich also gerade nicht auf das übliche Wissen ihrer Zeit und Umgebungskultur, sondern „auf eine möglichst archaische Tradition“,¹³ sodass das Indivi-

autour de 1900/Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900, Strasbourg 1998, S. 27–39, hier S. 28. 7 Vgl. ebd., S. 34f. 8 Vgl. Verf., Gottlose Mystik (Anm. 1), S. 13–27. 9 In der lateinischsprachigen Tradition des Abendlandes ist der einschlägige, von Thomas von Aquin stammende Terminus für die mystische Erfahrung ‚cognitio dei experimentalis‘. – Um 1900 ist es vorrangig der Religionspsychologe William James, der den Erfahrungscharakter von Religiosität betont, damit gerade auch mystische Erfahrungen meint und mit der Einführung des psychologischen Konzepts der religiösen Erfahrung deren Gehalt von einer Existenz-Implikation entlastet. James’ 1902 in englischer Sprache publizierte Monographie ‚The Varieties of Religious Experience‘ wurde spätestens mit der deutschen Erstübersetzung Georg Wobbermins von 1907 unter dem Titel ‚Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit‘ auch im deutschen Sprachraum bekannt. Vgl. Verf., Gottlose Mystik (Anm. 1), S. 131–138. 10 Vgl. ebd., S. 24f. – Der Erlebnisbegriff der Lebensphilosophie des ‚Fin de siècle‘ scheint mir besser als ein allgemeiner Erfahrungsbegriff die subjektive und affektive Bedeutsamkeit der religiösen/mystischen Erfahrung für den, der sie macht bzw. eben erlebt, zu erfassen. 11 Gruber, Mystik (Anm. 6), S. 31. 12 Vgl. ebd., S. 32. – So ergibt sich auch eine Affinität zur Gnosis. 13 Ebd., S. 33.

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duum, der Esoteriker, schrittweise in diese Wissens- und Traditionsbestände eingeführt wird.¹⁴ „Als geradezu klassische Formen“ solcher Esoterik aus der Zeit um und nach 1900 nennt Gruber „die Theosophie Helena Petrovna Blavatskys und Rudolf Steiners Anthroposophie“,¹⁵ sicherlich weist aber auch Stefan Georges poetische Religion die angesprochenen Züge der Esoterik auf, am deutlichsten wohl im Hinblick auf die Abgrenzung des Kreises der wenigen Eingeweihten von den Vielen außerhalb und der modernen Lebenswelt insgesamt. Bettina Gruber beschließt ihren begriffsklärenden Aufsatz nun allerdings mit einem Ausblick, der die drei Typen moderner Religiosität¹⁶ nach ihrer „möglichen Affinität zu verschiedenen literarischen Gattungen“¹⁷ befragt. Prima facie sicherlich einleuchtend wird dabei – hypothetisch und vorläufig – der Mystik aufgrund ihrer „Handlungslosigkeit und momenthaften emotionalen Intensität“¹⁸ die Lyrik und der diskurs- und traditionsbasierten Esoterik die erzählende Literatur zugeordnet.¹⁹ Diese plausibel erscheinende Korrelierung von Typen moderner Religion und literarischen Grundformen widerspricht allerdings massiv und in doppelter Weise dem Befund, der sich einstellt, wenn man die neomystischen Texte der Jahrhundertwende mit den Texten Georges, die seine poetische Religion ausmachen, vergleicht. Denn tatsächlich sind die meisten literarischen Texte der Jahrhundertwende, die ich als Darstellung oder Ausdruck solches neomystischen Erlebens ausgewiesen und interpretiert habe, literarische Erzähltexte.²⁰ Zu nennen wären hier etwa Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘, Musils Roman von den ‚Verwirrungen des Zöglings Törleß‘, Rilkes erzählendes Prosastück ‚Erlebnis‘, Hauptmanns Novelle ‚Der Apostel‘ und natürlich Hofmannsthals berühmter ‚Chandos-Brief‘. Und umgekehrt formiert sich Georges poetische Religion, die hier der Hypothese nach der Esoterik zuzuordnen ist, gerade nicht in diskursiven oder Erzähltexten, sondern so gut wie ausschließlich

14 Vgl. ebd., S. 34. 15 Ebd., S. 32. 16 Den neben Mystik und Esoterik von Gruber behandelten Okkultismus habe ich hier nicht einbezogen. Zum Okkultismus und seiner Bedeutung für die Literatur des ‚Fin de siècle‘ vgl. Priska Pytlik: Okkultismus und Moderne. Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900, Paderborn u. a. 2005. 17 Gruber, Mystik (Anm. 6), S. 36. 18 Ebd. 19 Vgl. ebd. 20 Ähnliches gilt auch für Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne (Anm. 4), wo die unmittelbar literaturbezogenen Kapitel mit Rilkes ‚Malte‘, Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘, Kolbenheyers Roman ‚Das gottgelobte Herz‘ und Handkes ‚Die Wiederholung‘ befasst sind.

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und zweifellos ebenso bewusst wie intendiert in lyrischen Texten, etwa den Gedichten des ‚Siebenten Ringes‘ oder denen aus dem ‚Stern des Bundes‘.²¹ Dieser irritierende Gegenbefund erklärt sich sicherlich zum Teil daraus, dass diese Typen moderner Religion nicht immer akkurat voneinander zu unterscheiden sind, sondern vielfältig miteinander verknüpft und vermischt. So neige ich etwa zu der Ansicht, dass Christian Morgenstern tatsächlich nicht nur als sprachskeptischer und -spielerischer, sondern auch als neomystischer Lyriker anzusehen ist.²² Derselbe Christian Morgenstern hat allerdings nicht nur die ‚Galgenlieder‘ verfasst, sondern war spätestens ab 1909 ein glühender Anhänger Rudolf Steiners und bekennender Anthroposoph. Ich meine aber, dass dieser Befund auch durch eine genauere Analyse des Verhältnisses, in dem die literarischen Texte zur jeweiligen Religion, Religiosität beziehungsweise religiösen Erfahrung stehen, noch genauer erklärt und aufgeklärt werden kann.

II Vor dieser klärenden Analyse möchte ich aber den gemeinsamen zeitgenössischen Kontext, in dem sowohl die neue, ‚gottlose Mystik‘ wie auch Georges lyrische, rituelle und mythologische Kunst-Religion²³ angesiedelt sind, kurz skizzieren – und damit einhergehend beide Religionen in verschiedenen Gemeinsamkeiten beschreiben.

21 Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt hier allerdings die zumindest ihrer Grundanlage nach erzählende ‚Vorrede zu Maximin‘ bzw. das 1907 erschienene ‚Maximin. Ein Gedenkbuch‘ dar. Vgl. Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. XVII, S. 61–66. Im Folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. 22 Für das ‚Galgenlied‘ ‚Fisches Nachtgesang‘ habe ich versucht, das zu zeigen. Vgl. Verf.: Schweigen, Geheimnis und Augenzwinkern. Christian Morgensterns ‚Fisches Nachtgesang‘. In: Kurt Röttgers/Monika Schmitz-Emans (Hg.): Philosophisch-literarische Reflexionen. Bd. 4: Schweigen und Geheimnis, Essen 2002, S. 105–119. 23 Ich beziehe mich mit dieser Formulierung auf eine generelle Einschätzung des George’schen Programms, die Lothar van Laak im kürzlich erschienenen ‚George-Handbuch‘ im Artikel ‚Mythen, Mythisierungen, Religion‘ vorgenommen hat. Dort heißt es: „Die Kunst, mit dieser ihrer (Selbst-)Heiligung des Wortes, wird in ihrer Ritualität und als Kult, in dem sich ihre Mythen und Mythisierungen vollziehen, zur Religion und ihrer mythischen Selbst-Authentifizierung zugleich.“ (Lothar van Laak: Mythen, Mythisierungen, Religion. In: Achim Aurnhammer/Wolfgang Braungart/Stefan Breuer/Ute Oelmann [Hg.]: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. 2, Berlin – Boston 2012, S. 751–770, hier S. 751.)

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Es ist ein Kontext, der zum einen geprägt ist vom Bewusstsein einer generellen Krise, die sich in der endzeitlichen Rede vom ‚Fin de siècle‘ mindestens andeutet und als Sprach- und Erkenntniskrise, als Abscheu und Ekel vor der modernen, zunehmend technisch, ökonomisch und von sozialen Verwerfungen geprägten Lebenswelt oder als allgemeine Kultur- oder Sinnkrise ausprägt. Zum anderen ist dieselbe ‚Fin de siècle‘-Kultur zweifellos von einem engen Verhältnis von religiöser und ästhetischer Erfahrung geprägt,²⁴ sodass der Ansatz nahe liegt, das eine durch das andere zu erklären: Der ästhetischen Erfahrung beziehungsweise dem Kunstwerk wird diesem Erklärungsansatz nach die Funktion zugewiesen, die vorher, also vor Eintritt in die als krisenhaft wahrgenommene Moderne, der Religion beziehungsweise der religiösen Erfahrung zugekommen ist.²⁵ Die ästhetische Erfahrung bestimmt erstens das radikal Andere zur als trivial oder abstoßend empfundenen, jedenfalls ‚entzauberten‘²⁶ Lebenswelt. Sie verheißt so eine Herauslösung, wenn nicht sogar Erlösung aus dieser und wird entsprechend aufgewertet, ja sakralisiert.²⁷ Dieser ‚ästhetische Fundamentalismus‘²⁸ ist bei George und seinem Kreis sicherlich besonders stark ausgeprägt, aber zweifellos in der Zeit kein Einzelfall. Und so neigen auch die Autoren der Jahrhundertwende, die eine neue Mystik diskursiv thematisieren oder propagieren, zu massiver, den Gegensatz des eigenen Programms zur Moderne und ihren Zumutungen betonender Kulturkritik.²⁹

24 Wolfgang Braungart/Gotthard Fuchs/Manfred Koch: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. II: um 1900, Paderborn u. a. 1998, S. 7–13, hier S. 9. – Die enge Verbindung zwischen Religion und Kunst führt Braungart in einem anderen Zusammenhang, nämlich zur Begründung seines Ritual-Konzepts, für die deutende Analyse von Georges Werk an, weil dieses „in beide Richtungen“ – also im Hinblick auf Kunst und auf Religion – „offen“ sei (Braungart, Ästhetischer Katholizismus [Anm. 2], S. 78f.). 25 In Bezug auf George macht diesen Gedanken etwa Breuer, Religion (Anm. 2) explizit, vgl. S. 225. 26 Die berühmt gewordene Formulierung stammt aus Max Webers ‚Wissenschaft als Beruf‘, zit. nach Wolfgang Braungart: Ästhetische Religiosität oder religiöse Ästhetik? Einführende Überlegungen zu Hofmannsthal, Rilke und George und zu Rudolf Ottos Ästhetik des Heiligen. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden II (Anm. 24), S. 15–29, hier S. 29. 27 Vgl. ebd., S. 22f. und S. 28. 28 Vgl. Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995. 29 Dies gilt, um bei den in meiner Dissertation (Anm. 1) behandelten Autoren zu bleiben, vor allem für Friedrich Nietzsche (vgl. S. 174–253), den ‚Rembrandt-Deutschen‘ Julius Langbehn (vgl. S. 120–123) sowie den Sprachkritiker und Mystiker Fritz Mauthner (vgl. S. 86–97), aber auch für ganze Verlagsprogramme wie etwa das des Eugen Diederichs Verlags. – Ähnliches gilt dann auch für solche fiktionalen Erzähltexte, in denen die Figur mit mystischen Erlebnissen in einem

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Nur die ästhetische Erfahrung und das Kunstwerk garantieren zweitens eine echte Erkenntnis und eigentliche Wahrheit, die dem bloßen Reden und ‚Geschwätz‘ der Zeitgenossen oder auch dem, was die modernen Wissenschaften mit ihrem ‚nur rationalen‘ Programm an Erkenntnissen liefern können, an Wahrhaftigkeit überlegen sind. Diesen erkenntnis- und sprachskeptischen Hintergrund, der in nuce in Nietzsches Essay ‚Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne‘ (1872) formuliert ist und den Kern von Fritz Mauthners breit ausgeführter Sprachkritik ausmacht, habe ich in meiner Dissertation als zentrale Erklärung für die Entwicklung der modernen Mystik ausgewiesen.³⁰ Aber auch George nimmt offensichtlich für sich einen privilegierten Zugang zur Wahrheit und Sinnstiftung in Anspruch und wird von seinem Kreis so, also als Person, die diesem Anspruch genügen kann, wahrgenommen. Er, der Dichter und die Person gleichermaßen, erscheint als charismatischer ‚Prophet‘,³¹ als die Wahrheit kündender „Priester“,³² als „der Meister, der allein den Zugang zum Heiligen kontrolliert“.³³ Er gilt mithin als die Wahrheit kündende Instanz, die von der Last der rationalen Argumentation aufgrund einer ihr zugeschriebenen und wohl nur ästhetisch gerechtfertigten Privilegiertheit des Zugriffs auf die Wahrheit befreit ist. Die ästhetische Erfahrung kann somit drittens die religiöse Erfahrung auch dahingehend ersetzen, dass diese eine Erfahrung Gottes, beziehungsweise allgemeiner: eines religiösen Transzendenten, darstellt. Die ‚Neomystik‘ der Jahrhundertwende begreift sich selbst – ausgehend von Nietzsches Diktum vom „Tod Gottes“³⁴ und mit den Worten Fritz Mauthners³⁵ – als „gottlose“ Mystik, ohne

starken Gegensatz zu ihrer jeweiligen Umgebung gezeigt wird, etwa Nietzsches ‚Zarathustra‘, Robert Musils ‚Törleß‘ (vgl. S. 280–309) oder Gerhart Hauptmanns ‚Apostel‘ (vgl. S. 331–335). 30 Vgl. ebd., besonders die Kapitel zu Nietzsche (S. 28–41) und Mauthner (S. 41–50) als Sprachbzw. Erkenntniskritiker. 31 Vgl. etwa Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 18 und S. 311. 32 Karl Wolfskehl über Stefan George, zit. nach ebd., S. 169. 33 Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus (Anm. 28), S. 44. 34 Formuliert wird dieses Diktum etwa im Fünften Buch der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘, Abschnitt 343: „Das grösste neuere Ereigniss, – dass ‚Gott todt ist‘, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. […] In der That, wir Philosophen und ‚freien Geister‘ fühlen uns bei der Nachricht, dass der ‚alte Gott todt‘ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt“ (Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 3: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft, München 1988, S. 343–651, hier S. 573f.) 35 Die Verknüpfungen von Gottlosigkeit und Mystik oder von Skepsis und Mystik sind vielfach im ‚mystischen‘ Werk Mauthners zu belegen, insbesondere im Artikel ‚Mystik‘ aus seinem drei-

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jedoch mit dem Glauben an das Transzendente auch den religiösen Erlebnis- oder Erfahrungsgehalt mitsamt seiner affektiven Vehemenz, unmittelbaren Gewissheit und persönlichen Bedeutsamkeit preiszugeben. All dies wird garantiert, so jedenfalls meine Rekonstruktion des neomystischen Erlebnisses, durch den typisch mystischen Charakter des Erlebnisses als unio- oder Einheitserfahrung.³⁶ Es ist zwar nicht mehr Gott, der eine Gott oder eine Gottheit, mit dem sich der Mystiker oder die Mystikerin vereint (fühlt), sondern das Leben, die Seele, der oder die Andere oder beinahe Beliebiges, das an deren Stelle treten kann;³⁷ aber das unbeschreibliche Einheitserlebnis, das eine Entgrenzung des Ichs mit sich bringt, kommt in seiner Wirksamkeit – und psychologisch³⁸ wie theologisch³⁹ nicht unplausibel – auch ohne die Annahme eines Transzendenten aus. Vergleichbares lässt sich wohl auch für Georges Religion sagen, am besten fokussiert auf Maximin mit den Worten Wolfgang Braungarts: Maximin erscheint nicht als Erlöser im christlichen Sinne, sondern als kultisches Zentrum der ästhetischen Rituale, deren Spielraum er kontrollieren soll. Er ist ein mythopoetischer Gott: Maximin, nicht Maximilian Kronberger.⁴⁰

Auch hier ist also die Gottheit nicht transzendent, sondern unmittelbar präsent, nicht zuletzt im Text, der von ihr spricht, etwa in dem Eingangsgedicht zum ‚Stern des Bundes‘: […] Da kamst du spross aus unsrem eignen stamm Schön wie kein Bild und greifbar wie kein traum

bändigen ‚Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache‘ von 1910/1911 (Bd. 2, München – Leipzig, S. 115–134). Die explizite Formulierung ‚gottlose Mystik‘ findet sich prominent im Titel des vierten und letzten Bandes des Mammutunternehmens ‚Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande‘ (Stuttgart u. a. 1922/1923): ‚Die letzten hundert Jahre. Reaktion – Materialismus – Gottlose Mystik‘. 36 Vgl. Verf., Gottlose Mystik (Anm. 1), S. 26f. 37 In Hofmannsthals ‚Chandos-Brief‘ sind es z. B. auch (letztlich nur imaginierte) Ratten, die dem Briefautor Chandos das Gefühl der „vollste[n] erhabenste[n] Gegenwart“ vermitteln, die „göttlicher, tierischer“ ist als alles, was Chandos bisher kannte (Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 31: Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Ellen Ritter, Frankfurt a. M. 1991, S. 45–55, hier S. 51). – Vgl. Verf., Gottlose Mystik (Anm. 1), S. 378. 38 Vgl. Anm. 9 dieses Beitrags zu William James und zur Begründung der Religionspsychologie. 39 Mystik neigt, da sie auf weltimmanente Erfahrung und Erlebbarkeit Gottes ausgerichtet ist, typischerweise zur Möglichkeit des Verzichts auf Transzendenz und steht so – zumindest in der abendländischen Tradition – notorisch im Konflikt mit der Orthodoxie. 40 Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm. 2), S. 237.

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Im nackten glanz des gottes uns entgegen: Da troff erfüllung aus geweihten händen Da ward es licht und alles sehnen schwieg.⁴¹

All dies, besonders Letzteres, scheint mir relativ klar darauf hinzuweisen, dass wir es in beiden Fällen – der gottlosen ‚Neomystik‘ wie Georges mythopoetischer Religion – mit Säkularisierungsprozessen zu tun haben. Denn es werden jeweils traditionelle und etablierte Gehalte und Elemente von Religion durch Profanes – einen früh verstorbenen Münchner Knaben zum Beispiel oder die berühmt gewordenen Ratten von Hofmannsthals Lord Chandos⁴² – ersetzt. Allerdings muss dabei ein Säkularisierungsbegriff angesetzt werden, der nicht nur dies beinhaltet, sondern auch die umgekehrte Möglichkeit, dass das vormals Profane sakralisiert wird.⁴³

III Bisher haben sich in meinen Überlegungen vor allem Gemeinsamkeiten zwischen der ‚Neomystik‘ und Georges Religion gezeigt, jedenfalls hinsichtlich der kulturund mentalitätsgeschichtlichen Bedingungen, von denen beide gleichermaßen geprägt sind, und hinsichtlich ihrer jeweiligen Reaktionen auf das gemeinsam gegebene Problem-Arsenal. Es scheint allerdings bei George und seinem Kreis zum Teil erhebliche Vorbehalte gegenüber dem zu geben, was Mystik ausmacht oder zeitgenössisch als Mystik bezeichnet wird – und das ist gerade um 1900 beileibe nicht dasselbe, was hier aber nicht weiter erläutert, bestenfalls angedeutet werden kann. Und sicherlich haben die Vorbehalte gegenüber der Mystik auch mit der Ablehnung und Trennung des Kreises von den Münchner ‚Kosmikern‘ zu tun, die wohl im George-Kreis auch als Mystiker angesehen worden sind.⁴⁴ Dennoch, Sätze wie der von Friedrich Gundolf, „die ganze neuere Mystik […] sei altkluges Reportergerede, Hintertreppenklatsch übers Jenseits, nicht weil sie inhaltlich wahnschaffen ist, sondern weil ihr Ton die Leere und Plattheit

41 SW VIII (Anm. 21), S. 8. 42 Vgl. Anm. 37 dieses Beitrags. 43 Eine ausführliche Diskussion zur Frage der Säkularisierung und Sakralisierung bei George findet sich im Kapitel ‚Maximin und die Konsekrierung des Profanen‘ bei Stefan Bodo Würffel: Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978, S. 128–136. 44 Vgl. Breuer, Religion (Anm. 2), S. 229.

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verrät“,⁴⁵ verweisen doch recht deutlich auf ein tiefes Bedürfnis nach Abgrenzung, und sei es nur eine in Stil und „Ton“. Einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden Programmen habe ich oben schon implizit angerissen, als ich Georges Selbstbild und -inszenierung als Priester, Prophet und wohl auch Führer angesprochen habe, zumal auf den ‚Meister‘ ja die ‚Schüler‘ und ‚Jünger‘ des Kreises ausgerichtet sind, die Eingeweihten im Sinne von Bettina Grubers Esoterik-Konzept also. Mir geht es gar nicht darum, diese Organisationsstruktur genauer zu analysieren, sondern um die schlichte Tatsache, dass wir es bei George und seinem Kreis mit Personen, ja mit Persönlichkeiten zu tun haben, die sich durch ihr künstlerisches und intellektuelles Potenzial einerseits und durch ihr Charisma andererseits als zum Kreis zugehörig beziehungsweise als Führer des Kreises geeignet erweisen. Ganz anders verhält es sich bei der Mystik und ‚Neomystik‘: Diese ist, weil sie im Kern auf das Unio- oder Einheitserlebnis des Mystikers ausgerichtet ist, wesentlich davon gekennzeichnet, dass sich die Person, das Individuum auflöst und entgrenzt, indem es sich mit dem Göttlichen oder seinem modernen Ersatz in eins setzt und verbindet. Dieses Erlebnis führt somit zur Vernichtung der bisherigen Persönlichkeit, sodass sich der Mystiker völlig neu orientieren muss, um seine Welterfahrung und sein weiteres Leben mit dem Erlebnis und seinem Gehalt abzugleichen. In der Regel – und ich beziehe mich hier auf einschlägige literarische Gestaltungen aus der Literatur um 1900 – führen solche Erlebnisse also zu ‚Verwirrungen‘ wie bei Musils Törleß, zu resignativem, privatem Glück wie bei Hofmannsthals Chandos oder zu Außenseitertum und Wahnsinnsverdacht wie bei Hauptmanns Apostel, aber gerade nicht zu selbstbewusster Führerschaft mit eigener Gefolgschaft.⁴⁶ Überhaupt sind Mystiker – in ihren Erlebnissen, aber auch nach diesen und durch diese – allein, ganz und nur bei und für sich. Ihr Erlebnis selbst mag zwar durchaus auch erotisch geprägt sein. Das zeigt schon die mittelalterliche Brautmystik, in der eine Vereinigung mit dem Gottessohn imaginiert oder erlebt wird, das zeigen aber natürlich auch die erotischen Konnotationen, die in der Jahrhundertwendeliteratur oft mit neomystischen Erlebnissen einhergehen.⁴⁷ Das Erlebnis besteht ja gerade in der verschmelzenden, affektiven und sinnlichen

45 Friedrich Gundolf: George. Reprographischer Nachdruck der 3., erweiterten Auflage, Berlin 1930, Darmstadt ⁴1968, S. 61 (und identisch bereits in der ersten Auflage, Berlin 1920, S. 61). 46 Vgl. Verf., Gottlose Mystik (Anm. 1), S. 280–309 (Musil), S. 353–383 (Hofmannsthal) und S. 331–335 (Hauptmann). 47 Besonders deutlich wird das in Heinrich Manns Novelle ‚Das Wunderbare‘ (vgl. ebd., S. 255–279) und Gerhart Hauptmanns Traum-Drama ‚Hanneles Himmelfahrt‘ (S. 336–342).

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oder als sinnlich imaginierten Vereinigung mit dem Gegenüber. Und natürlich steht die ‚gottlose Mystik‘ des ‚Fin de siècle‘ in einer engen Affinität zur Lebensphilosophie und ihrem „Grundgedanken“ von „der erotischen Rechtfertigung der Welt“.⁴⁸ Nach dem und unabhängig vom Einheitserlebnis selbst steht der Mystiker aber isoliert in der Welt, isoliert vor allem von seinen Mitmenschen und Nächsten. Im krassen Gegensatz dazu sind sowohl die soziale Praxis des GeorgeKreises als Gemeinschaft von einander freundschaftlich-erotisch Verbundenen als auch das Selbstverständnis dieser Praxis mitsamt der auf die MaximinGestalt als Gott ausgerichteten Religion tief geprägt von Freundschaft und Eros.⁴⁹ Ein weiterer, wie mir scheint ebenfalls signifikanter Unterschied ist oben ebenfalls schon kurz angedeutet worden, in meiner Bezugnahme auf Wolfgang Braungarts Verständnis von Maximin als „mythopoetische[m] Gott“ (Hervorhebung U. S.). Gerhard Plumpe hat das Moment des Mythischen, um das es mir hier geht, in Georges poetischer Religion im Kontext der spezifisch modernen Identitätsproblematik als „mythische Identitätsfindung“ analysiert. Diese mythische Identität setzt, so Plumpe, die Kontingenz und Negierbarkeit von personaler Identität in der Moderne aus und ersetzt sie, kraft des akzeptierten Mythos, durch eine „nichtnegierbare, prägnante und anschauungsnahe Identität“.⁵⁰ Der Mythos – in diesem Fall der Maximin-Mythos des ‚Siebenten Rings‘ und des ‚Gedenkbuchs‘ – stiftet also, jedenfalls innerhalb des Kreises der Eingeweihten, gerade durch seine sinnliche Prägnanz Ordnung und eben auch Identität für die Eingeweihten.⁵¹ Beides – Mythen und durch sie realisierte Ordnungs- und Identitätsstiftung – ist der Mystik wiederum zutiefst fremd. Inwiefern Ordnung und Identität durch das mystische Unio-Erlebnis beeinträchtigt, ja zerstört werden, habe ich eben

48 Ferdinand Fellmann: Die erotische Rechtfertigung der Welt. Aspekte der Lebensphilosophie um 1900. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden II (Anm. 24), S. 31–46, hier S. 35. 49 Vgl. Böschenstein, Georges poetische Religion (Anm. 2). 50 Gerhard Plumpe: Mythische Identität und modernes Gedicht. Stefan Georges ‚Maximin‘. In: Alice Bolterauer/Dietmar Goltschnigg (Hg.): Moderne Identitäten, Wien 1999, S. 109–121, hier S. 114. 51 Vgl. ebd., S. 114–116. – Ähnlich auch van Laak, Mythen (Anm. 23), S. 762, wo es heißt: „Maximin wird ein solcher ‚erfundener‘, für den Kreis verbindlicher Gott. Denn fortan kann nur der noch in den Kreis Aufnahme finden, der die Bedeutung Maximins erkennen kann.“ – Zur sinnlichen Prägnanz und Georges Maximin als ‚plastischem Gott‘ vgl. auch die Ausführungen von Breuer, Religion (Anm. 2), S. 232f.

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schon erläutert. Doch auch die sinnliche Prägnanz des Mythos ist in jeglicher Mystik kaum vorstellbar und realisierbar, beruht das mystische Erlebnis doch auf dem Prinzip der Einheit, die alle Gegensätze auflöst: Inneres und Äußeres, Eigenes und Fremdes, Sinnliches und Geistiges, Bedeutendes und Triviales, Physisches und Psychisches, Göttliches und Weltliches sind im Einheitserlebnis so miteinander verbunden und vermischt, dass sie nicht mehr zu unterscheiden sind. Allem fehlt – ja muss in dieser Erfahrungs- und Erlebnismodalität der Einheit fehlen – jegliche Prägnanz und Konturiertheit, denn diese sind ja auf Grenzen, auf Unterschiede angewiesen, die gerade nicht erfassbar sind und das mystische Erlebnis ausmachen. Anders, kurz und vielleicht etwas überpointiert, aber in einer recht berühmten Formulierung der Zeit gesagt: Der Mythos ist apollinisch, das mystische Erlebnis dionysisch.⁵²

IV Damit komme ich nun abschließend zur eingangs angekündigten Gegenüberstellung der beiden Religionen hinsichtlich ihres Verhältnisses zu den literarischen Texten, die mit ihnen ‚in Verbindung stehen‘. Schon Bettina Gruber vermutet bei ihren Überlegungen zur Unterscheidung von Esoterik und Mystik, dass beide sich „nach dem Verhältnis zum Zeichen“ unterscheiden, wobei „die mystische Praxis einen Zusammenbruch des Signifikationsprozesses anzustreben scheint“, die Esoterik aber „in ein Verweisspiel ein[tritt], das Bedeutungen unendlich vermehrt, gleichzeitig jedoch ‚flüssig‘ hält, indem alles auf alles verweist“.⁵³ Dieser allgemeinen Einschätzung zur Semiotik der beiden Typen von moderner Religion möchte ich ausdrücklich zustimmen. Dennoch gibt es wohl einen weiteren wesentlichen Unterschied zwischen der poetischen Religion Georges und seines Kreises auf der einen und der neuen, ‚gottlosen Mystik‘ des ‚Fin de siècle‘ auf der anderen Seite. Dieser betrifft eher die performative Dimension des jeweils entsprechenden Sprachhandelns und scheint mir deshalb von noch grundsätzlicherer Bedeutung zu sein. Um diesen Unterschied zu entfalten, will ich zuerst möglichst knapp das Verhältnis von Mystiker, mystischem Erlebnis und Sprache beziehungsweise Text skizzieren. Nach und im Anschluss an das mystische Erlebnis der Einheit

52 Vgl. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. In: Kritische Studienausgabe (Anm. 34), Bd. 1, S. 9–156. 53 Gruber, Mystik (Anm. 6), S. 35.

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sieht sich der Mystiker typischerweise gedrängt, sich mitzuteilen, sein Erlebnis und dessen Gehalt mit seinen Nächsten zu teilen und sie daran Anteil haben zu lassen. Die besondere Struktur des Erlebnisses als Unio-Erfahrung, in der, wie erläutert, alle Unterschiede und damit auch alle Begriffe zunichte werden, erlaubt deshalb aber für diese Mitteilung nicht die Verwendung der üblichen Sprache, an sich überhaupt keiner Sprache. Denn jegliche Sprache ist ja immer auf genau die zunichte gewordenen Unterschiede und ihre semantische Relevanz (zur Begriffs- und Kategorienbildung, zur Bezugnahme auf Einzeldinge usw.) angewiesen. Aus diesem Grund sind – und das ist gerade in der ‚Neomystik‘ der frühen Moderne evident – mystische Erfahrung und Sprachkrise, Sprachskepsis und Schweigen auf das Engste miteinander verbunden: Fritz Mauthner, der Sprachkritiker der Jahrhundertwende, wird zum bekennenden Mystiker.⁵⁴ Ludwig Wittgenstein beschließt seinen ‚Tractatus logico-philosophicus‘ (1922), der sich mit der logischen Struktur alles Sagbaren befasst, mit dem Hinweis, dass es allerdings darüber hinaus auch „Unaussprechliches“ gebe: „Dies zeigt sich. Es ist das Mystische.“ Und er schließt mit dem berühmten Diktum: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“⁵⁵ Und Hofmannsthals Lord Chandos – um einen dritten, nun fiktionalen Beleg für diese generelle These anzuführen – schließt seinen ‚Brief‘ mit dem Hinweis darauf, dass ihm allenfalls eine „Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde“,⁵⁶ helfen könnte, sich adäquat auszudrücken, ihm diese Sprache aber völlig unbekannt sei. Eine Alternative zum Schweigen ist für den Mystiker somit allenfalls die Entdeckung oder Entwicklung einer solchen adamitischen ‚Sprache der stummen Dinge‘; und die Geschichte zumindest der abendländischen Mystik ist voll von solchen Versuchen, doch noch einen Ausdruck für das Erlebte zu finden. Solche Versuche sind somit aufgrund des mystisch-sprachskeptischen Ursprungs, auf den sie zurückgehen, immer auch sprachreflexiv und poetologisch. Sie sind allerdings – jedenfalls poetisch interessante Texte sind es – in der deutschsprachigen Literatur um 1900 eher selten. Ein Beispiel für solche – soll man sagen? – ‚Lyrik‘ ist wohl Christian Morgensterns berühmter ‚Fisches Nachtgesang‘, jeden-

54 Vgl. Verf., Gottlose Mystik (Anm. 1), S. 41–50 und S. 86–97. Zu Fritz Mauthner und seinem Werk vgl. auch Joachim Kühn: Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk, Berlin – New York 1975. 55 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. In: Ders.: Werkausgabe in 8 Bänden. Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1984, S. 7–85, hier S. 85. 56 Hofmannsthal, Ein Brief (Anm. 37), S. 54.

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falls dann, wenn man den – soll man sagen? – ‚Text‘ nicht nur als humoristischen liest. Denn hier liegen offenkundig Zeichen vor, die aber stumm bleiben und somit gleichermaßen auf nichts wie auf alles verweisen, wie es der mystischen Erfahrung entspricht.⁵⁷ Somit kann das ‚Ineffabile‘, das Unsagbare der mystischen Erfahrung dennoch gezeigt und zum Ausdruck gebracht werden, wenn auch ohne begrifflichen Gehalt, wie er für die gewöhnlichen Sprachen üblich ist. Weitaus häufiger in der deutschen Literatur des ‚Fin de siècle‘ ist allerdings ein anderes Verhältnis von Mystiker, mystischem Erlebnis und Sprache beziehungsweise Text. Hierbei handelt es sich um Fiktionen, meist literarische Erzähltexte – seltener dramatische Texte – in denen eine fiktive Figur mystische Erlebnisse oder Vergleichbares hat. Natürlich ringt auch diese Figur um Ausdruck für das Erlebte, sodass das eben skizzierte Ausdrucksmodell mystischen Sprechens in solche Fiktionen eingehen kann. Beides, Ausdruck und Figur sind aber selbst Elemente der fiktiven Diegese solcher Texte, die von einem Autor bewusst und – so nehme ich jedenfalls an – ohne eigenes mystisches Erleben gestaltet werden. Vermittelt wird mit solchen fiktionalen Texten also nicht (nur) der Gehalt der mystischen Erfahrung selbst, sondern eine Geschichte, in der solche Erfahrungen eine wesentliche Rolle spielen. Und oft genug rücken die Autoren solcher Texte diese beziehungsweise die von ihnen präsentierten Figuren und Geschichten durchaus in eine erkennbare Distanz von sich selbst. So verarbeitet etwa Hofmannsthal in seinem ‚Chandos-Brief‘ vielleicht auch eigene Erfahrungen; Chandos selbst ist aber eine fiktive Gestalt, die Hofmannsthal sicherlich nicht ohne Grund ins elisabethanische England versetzt hat.⁵⁸ Oskar Panizza und Gerhart Hauptmann thematisieren und reflektieren in ihren einschlägigen Texten – ‚Der Apostel‘ zum Beispiel und ‚Die gelbe Kröte‘ – mit den mystischen Visionen ihrer Protagonisten den Wahnsinnsdiskurs der Zeit.⁵⁹ Und Musil nutzt die mystischen Erlebnisse seiner Törleß-Figur vor allem, um erkenntnistheoretische Fragen zu diskutieren.⁶⁰ Kurz: Die neomystischen Erlebnisse sind in solchen Texten stark auf eine den Gesamttext betreffende Textbedeutung hin funktionalisiert, dieser also zu- oder untergeordnet.

57 Vgl. Verf., Schweigen (Anm. 22). 58 Vgl. Verf., Gottlose Mystik (Anm. 1), S. 353–383. 59 Vgl. ebd., S. 331–335 (zu Hauptmanns ‚Apostel‘) und Verf.: Die Entmündigung eines Autors: Oskar Pannizza als unzurechnungsfähiges ‚Genie‘. In: Michael Niehaus/Hans-Walter SchmidtHannisa (Hg.): Unzurechnungsfähigkeiten. Diskursivierungen unfreier Bewußtseinszustände seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 237–263. 60 Vgl. Verf., Gottlose Mystik (Anm. 1), S. 280–309.

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Ob bei George oder in seinem Kreis ebenfalls religiöse Erfahrungen ursächlich sind für die Gestalt und Gestaltung der Texte, also vor und unabhängig von diesen greifbar sind, kann ich nicht sagen, jedenfalls ist derlei für George selbst – soweit ich sehe – weder bekannt noch nachweisbar.⁶¹ Poetischer Text und religiöse Erfahrung scheinen mir hier vielmehr in eins zu fallen – oder mit Wolfgang Braungart: „Das literarische Kunstwerk wird im George-Kreis als der legitime Ort der sich ereignenden Wahrheit begriffen, die der Leser und Hörer an sich erfährt“.⁶² Dies betrifft offenkundig den Text nicht nur als Repräsentation dessen, was er sagt, also seine semantische Ebene, sondern auch und besonders alle seine pragmatischen und performativen Dimensionen des Text-Vollzugs in einem Kommunikations- und Handlungszusammenhang. Bestätigt wird diese Einschätzung wiederum von Wolfgang Braungart, wenn er schreibt: „Die implizite Poetik des Gesamtwerks ‚George‘ lässt sich als eine performative Poetik beschreiben.“⁶³ Lothar van Laak diagnostiziert in seinem einschlägigen Handbuch-Artikel sogar eine entsprechende generelle AkzentVerschiebung der aktuellen Forschung „von der Charakterisierung und Betrachtung der Semantik dieses Mythos [Maximin …] hin zu der performativen Qualität eines mythischen Weltbilds“.⁶⁴ Diesen performativen Kommunikations- und Handlungszusammenhang hat Wolfgang Braungart sehr überzeugend als ästhetisches Ritual analysiert.⁶⁵ Damit verlieren die Text-Kunstwerke, die in dieses Ritual integriert sind, natürlich nicht ihre Bedeutung im semantischen Sinne, sondern bleiben immer auch Aussagen von Inhalten,⁶⁶ und zwar durchaus im Sinne Bettina Grubers, also als Verweisspiel mit ‚flüssigen‘ Bedeutungen, die aus den religiösen Traditionen des Abendlandes, insbesondere dem Katholizismus,⁶⁷ und aus antiken Quellen

61 Vgl. Thomas Wegmann: „Bevor ich da war, waren alle Gedichte noch gut“. Über Stefan Georges Marketing in eigener Sache. In: Text & Kritik (Anm. 5), S. 97–104, hier S. 98. 62 Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm. 2), S. 165. 63 Wolfgang Braungart: „Was ich noch sinne und was ich noch füge/Was ich noch liebe trägt die gleichen züge“. Stefan Georges performative Poetik. In: Text & Kritik (Anm. 5), S. 3–18, hier S. 13. 64 van Laak, Mythen (Anm. 23), S. 764. 65 Vgl. Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm. 2) und ders.: Ritual und Literatur. Literaturtheoretische Überlegungen im Blick auf Stefan George. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 69, 1992, S. 2–31. Hier findet sich auch eine entsprechende Definition des Ritualbegriffs, demzufolge das Ritual gekennzeichnet ist von Handlungswiederholung, Festlichkeit, Selbstbezüglichkeit, Akteuren und Zuschauern sowie von ästhetisch-symbolischer Ausgestaltung zur Abhebung des Rituals (S. 4). 66 Vgl. Braungart, Ritual und Literatur (Anm. 65), S. 27. 67 So insbesondere Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm. 2).

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wie dem Platonismus⁶⁸ und dem Pythagoreismus⁶⁹ stammen und die hier nun ‚synkretistisch‘ miteinander verbunden werden.⁷⁰ Sie, die lyrischen Gedichte Georges (und seines Kreises) bleiben darauf aber nicht beschränkt – und gleichen darin durchaus dem Ausdrucksmodell für mystisches Erleben, das ja ebenfalls ohne die Repräsentation semantischen Gehalts beziehungsweise dessen ausschließliche Bedeutsamkeit auskommen muss, dafür aber immer auch poetologisch aufgeladen ist, weil es die Bedingungen seiner Entstehung und Gestalt mit reflektiert. Performativ ist somit die Kommunikation der Lyrik Georges mindestens seit dem ‚Siebenten Ring‘ erstens deshalb, weil sie den Mythos, den sie aussagt, durch die Aussage erst hervorbringt: Maximin ist ein ‚mythopoetischer Gott‘. Er ist, wie Ralf Simon es bezeichnet hat, „allein das Realisat des lyrischen Sprechens“,⁷¹ sein Produkt: Dem bist du kind · dem freund. Ich seh in dir den Gott Den schauernd ich erkannt Dem meine andacht gilt. ⁷²

So heißt es in der ersten Strophe des ersten Gedichts aus dem ‚Maximin‘-Zyklus des ‚Siebenten Rings‘, das den Titel ‚Kunfttag I‘ trägt, und die Formulierung lässt keinen Zweifel daran, dass dieses hier im Gestus der Überzeugung des Propheten geäußerte „Ich seh“ den Gott Maximin erst erschafft. Dieser Gott ist somit ein im und vom Kunstwerk erschaffener und in ihm inszenierter Gott.⁷³ Zumindest innerhalb des Kreises selbst spielt diese Inszeniertheit aber trotz aller Bewusstheit wohl keine praktische Rolle mehr. Dies garantieren die Gewissheit des ‚Meisters‘ und Propheten der esoterischen Kultgemeinde zum einen und die Rituale des Kreises zum anderen.

68 Die ‚Antike-Rezeption‘ Georges und seines Kreises stellt im Band 2 des ‚George-Handbuchs‘ (Anm. 23) der gleichnamige Artikel von Christian Oestersandfort umfassend dar (S. 647–671). Dabei spielt die platonische Eros-Konzeption, nach Oestersandfort „die basale Kategorie, auf die StGs Poetik gründet“ (S. 656), eine zentrale Rolle. 69 Dafür argumentiert Jan Stottmeister: Pythagoreische Elemente in Stefan Georges MaximinKult. In: George-Jahrbuch 6, 2006/2007, S. 122–149. 70 Zum Synkretismus im Umgang mit Mythen vgl. van Laak, Mythen (Anm. 23), insbesondere S. 758. 71 Ralf Simon: Das Wasser, das Wort. Lyrische Rede und deklamatorischer Anspruch beim späten Stefan George. In: Stefan George (Anm. 2), S. 48–68, hier S. 51. 72 SW VI/VII (Anm. 21), S. 90. 73 Vgl. ebd., S. 53.

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Performativ ist die Kommunikation der Lyrik Georges somit zweitens deshalb, weil sie rituell ist. Sie erschafft nicht nur ihre Gottheit und ihren Mythos selbst, sondern auch die zugehörige Glaubensgemeinde, die von ihrer Umgebung scharf abgegrenzt werden muss. Teilnehmer am Ritus ist, wer am Textvollzug teilhat, wer also den Meister und Propheten unmittelbar hört. Dabei geht es, wie Braungart gezeigt hat, kaum um die Interpretation oder gar Diskussion des Gesagten, sondern vielmehr um den künstlerischen Sprachvollzug und seine Rezeption selbst: „Die Realisierung von Poesie soll nicht nur das poetische ‚gebilde‘ selbst zum Leben erwecken. Sie soll auch den erwecken, der sich von ihr erfassen läßt.“⁷⁴ Dem korrespondieren natürlich viele andere Charakteristika der Text-Performanz Georges, die allesamt auf eine ästhetische Überhöhung beziehungsweise mit dieser auf die Erzeugung und Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit einerseits und andererseits auf die Be- und Abgrenzung von der Umgebung abzielen – eine kalkulierte ‚Werkpolitik‘ im Sinne von Steffen Martus also:⁷⁵ die restriktive Veröffentlichungspolitik aller seiner Texte, die hochgradig bewusste und ästhetisch signifikante Gestaltung der Texte und ihrer Träger, vom Schriftbild bis hin zur Buchgestaltung, und natürlich auch die visuelle Selbstinszenierung des ‚Meisters‘, etwa und im besonderen Maße durch Photographien.⁷⁶ Thomas Wegmann spricht in diesem Zusammenhang sogar von „Stefan Georges Marketing in eigener Sache“,⁷⁷ Klaus Bartels von „Selbstreklame“ und „Kunstmarketing“, das „den Markenartikel ‚Stefan George‘ [als] ein auratisches Gesamtkunstwerk“ entwickelt und vertreibt,⁷⁸ sodass die Vermutung nahe liegt, dass das ‚Marketing‘ als Teil des ästhetischen Rituals nicht (nur) für die Etablierung der eigenen Religion in Anspruch genommen wird, sondern umgekehrt

74 Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm. 2), S. 173; vgl. auch S. 161 und S. 165. 75 Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin – New York 2007, insbesondere das Kapitel zu George, S. 514–708. – Martus weist in diesem Zusammenhang übrigens darauf hin, dass „George sich mit der Vergöttlichung Maximins selbst deifiziert“ (S. 645). Dies wiederum bestätigt in einer am Performativen ausgerichteten Analyse des Gedichts aktuell Sebastian Lübcke: „Herr der Wende“? – Ästhetische Sprachwerdung des fleischgewordenen Gottes. Verkündigung als Selbstautorisierung in Stefan Georges ‚Das Erste‘. In: Weimarer Beiträge 58, 2012, S. 524–539. 76 Vgl. Klaus Bartels: Die zwei Körper des Dichters. Stefan Georges Arbeit an seinem öffentlichen Gesicht. In: Christine Künzel/Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg 2007, S. 25–46 sowie Wegmann, Marketing (Anm. 61). 77 Wegmann, Marketing (Anm. 61), Untertitel des Aufsatzes. 78 Bartels, Körper des Dichters (Anm. 76), S. 28.

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und im Sinne von Chris Rojeks Konzept von ‚celebrity‘ die ‚Religion‘ (auch) zu Marketing-Zwecken genutzt wird.⁷⁹ Diese – soll man sagen? – ‚blasphemische‘ Hypothese zu überprüfen, wäre sicherlich eine lohnende Aufgabe für die George-Forschung.

79 Vgl. Chris Rojek: Celebrity, London 2001, vor allem das Kapitel ‚Celebrity and Religion‘, S. 51–100.

Jan Stottmeister

‚Richtlinien‘ gegen Rudolf Steiner Theosophie-Kritik als Wissenschaftskritik im George-Kreis um 1910¹ In den Jahren um 1910 beginnt sich der Kreis um Stefan George nach innen und nach außen neu zu profilieren. Er verwandelt sich von einem losen Bündnis gleichgesinnter Dichter, Künstler und Intellektueller in eine Glaubensgemeinschaft, in deren Mittelpunkt als charismatische Herrscherfigur George steht. Und er steigert seine ästhetischen Erneuerungsansprüche zu Heils- und Erlösungsansprüchen, die sich mit Georges poetischem Mythos des Gottes Maximin verbinden. In dieser Phase der Neuausrichtung des Kreises müssen George und diejenigen seiner Anhänger, die aktiv an ihr mitwirken, sich mit einem Problem auseinandersetzen: Um 1910 besteht kein Mangel an Glaubensgemeinschaften mit charismatischen Heilslehrern, in deren Verkündigungen die „‚vagierende‘ Religiosität“² der westlichen Moderne neue Sinnstiftungen jenseits der Kirchen und Synagogen findet. Die einflussreichste alternativreligiöse Glaubensgemeinschaft des frühen 20. Jahrhunderts, die auch unter Dichtern, Künstlern und Intellektuellen Anklang fand, ist die ‚Theosophical Society‘. 1875 gegründet, hatte sie seit den 1890er Jahren von ihrem Hauptsitz in Adyar aus – einem Vorort der südindischen Stadt Madras (heute Chennai) – ein globales Netzwerk von nationalen Sektionen und lokalen Logen aufgebaut. Die Lehren der ‚Theosophical Society‘, deren Fundament vor allem die Bücher ihrer Mitgründerin Helena Blavatsky (1831–1891) bildeten, nahmen die okkultistischen und spiritistischen Strömungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf und vermengten sie mit buddhistischen und hinduistischen Doktrinen zu einer über den Religionen stehenden Weltanschauung, die dem Wahlspruch der Gesellschaft entsprach: „There is no religion higher than truth“.³ Seit 1902 war die

1 Der Aufsatz ist die bearbeitete Fassung meines Beitrags zur Binger Tagung über ‚Stefan George und die Religion‘ am 20.10.2012 und die Grundlage eines ausführlicheren Kapitels in einer kürzlich erschienenen Studie (Verf.: Der George-Kreis und die Theosophie. Mit einem Exkurs zum Swastika-Zeichen bei Helena Blavatsky, Alfred Schuler und Stefan George, Göttingen 2014 [= Castrum Peregrini N. F. 6]). 2 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist. Sonderausgabe, München 1998, S. 508, S. 521 u. ö. 3 H[elena] P[etrovna] Blavatsky: The Key to Theosophy, being a clear exposition, in the form of question and answer, of the ethics, science, and philosophy for the study of which the Theosophical Society has been founded, London 1889, S. 2.

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‚Theosophical Society‘ auch in Deutschland mit einer offiziellen nationalen Sektion vertreten. Der Leiter der deutschen Sektion, Rudolf Steiner (1861–1925), steigerte den Bekanntheitsgrad der Theosophie durch den organisatorischen Ausbau der Gesellschaft, durch ein stupendes Pensum öffentlicher Vorträge und durch Aufsätze und Bücher, in denen er die theosophischen Lehren den Erwartungen des deutschen Bildungsbürgertums anpasste.⁴ Als sich der George-Kreis in eine Glaubensgemeinschaft umzubilden beginnt, ist die Theosophie eine doppelt problematische Einflussgröße. Zum einen ist sie in der Öffentlichkeit, in die er seine Heilsbotschaften trägt, sehr präsent – das heißt in jenem hochgebildeten, kunstinteressierten, zum religiösen „Vagieren“ neigenden Segment der Öffentlichkeit, in dem es auch GeorgeLeser gibt. Zum anderen ist die Theosophie auch innerhalb des George-Kreises gegenwärtig. Ein Theosophie-Anhänger, der im Sozialgefüge des Kreises in dieser Zeit „an Rang nahe bei George“ steht,⁵ ist der Kunsthandwerker und Buchgestalter Melchior Lechter, in dessen künstlerischer Ausstattung seit 1897 die Gedichtbände Georges und alle anderen in Georges ‚Verlag der Blätter für die Kunst‘ publizierten Bücher erschienen. Um die Jahreswende 1901/1902 vertiefte sich Lechter erstmals in die deutsche Übersetzung von Helena Blavatskys Hauptwerk ‚The Secret Doctrine‘ (1888, Nachlassband 1897; dt. ‚Die Geheimlehre‘, 1899–1906) und wurde unter dem Eindruck dieser Lektüre ein derart überzeugter Theosoph, dass er in seiner Berliner Atelierwohnung ein Porträt Blavatskys in Lebensgröße aufhängte.⁶ George störte sich an Lechters TheosophieKonversion über viele Jahre hinweg nicht im Geringsten. Auch nach dem Einzug der lebensgroßen Ikone der Theosophie blieb Lechters Atelierwohnung die Werkstätte der ‚Blätter‘-Publikationen und ein Treffpunkt des Berliner Freundeskreises um George. Im September 1909 kommt Lechters Weltanschauung aber erstmals als Streitpunkt zur Sprache. George findet sich in diesem Monat wie üblich zu seinem jährlichen Herbstaufenthalt in Berlin ein und besucht fast täglich Lechters Atelier. Nach einem dieser Besuche, bei dem auch der George-Verehrer Friedrich Wolters zugegen ist, vermerkt Lechter in seinem Tagebuch: „Über

4 Zur Geschichte der Theosophie im deutschsprachigen Raum, aus der Ende 1912 Rudolf Steiners Anthroposophie hervorging, vgl. Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945, Göttingen ²2008. Eine Einführung in die internationale Geschichte der ‚Theosophical Society‘ ebd., S. 75–106. 5 Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, S. 50. 6 Zu Lechters Theosophie-Konversion und ihren Einfluss auf die Ikonographie seiner Buchausstattungen für George vgl. Verf.: Melchior Lechter, Stefan George und die Theosophie. In: George-Jahrbuch 9, 2012/2013, S. 33–68.

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Mystik und Okkultismus gestritten.“⁷ Das Gespräch ändert nichts daran, dass George sich bis zu seiner Abreise im November weiterhin ständig bei Lechter aufhält. Aber es deutet sich eine Meinungsverschiedenheit an, die sich konkret auf die Theosophie bezogen haben muss. Georges Standpunkt in der Streitfrage „Mystik und Okkultismus“ ist als Echo in einem Brief überliefert, den Friedrich Wolters am 5. Dezember 1909 an George schreibt. In diesem Brief berichtet Wolters von einem gemeinsam mit Lechter besuchten Vortrag Rudolf Steiners, in dem er auf das Gespräch vom September zurückkommt. Wolters schildert den Steiner-Vortrag folgendermaßen: Ich war in der woche einmal mit Lechter in einem vortrag von Steinert [sic] ,Christus und Buddha‘. Was ich hörte, war, wie Sie in diesem Herbst schon sagten, nur Wissenschaft und es fehlte wenig, dass er Christus als den ersten modernen wissenschaftler in anspruch nahm. Er hat in der tat auch schon selbst seine ganze arbeit in ‚geisteswissenschaft‘ umgetauft und nennt das andere den ‚theosophischen schwindel der Madame Blavatzky‘. […] Gegen Geisteswissenschaft kann man ja weiter nichts haben und es geschah schon oft, dass Dilettanten den Zünftigen vorausliefen, warum nicht auch hier in der okkulten Wissenschaft!⁸

Der Brief bezieht sich auf einen öffentlichen Vortrag mit dem Titel ‚Buddha und Christus‘, den Rudolf Steiner am 2. Dezember 1909 im Berliner Architektenhaus hielt.⁹ Steiner deutete in diesem Vortrag das Erscheinen Christi als historischen Wendepunkt, an dem „das alte dämmerhafte Hellsehen verlorengegangen“ sei und der Mensch „von sich aus die Welt [zu] erkennen und erforschen“ beginne.¹⁰ Diesen Ausführungen ließ sich in der Tat der Eindruck abgewinnen, Steiner habe Christus als ersten ‚Wissenschaftler‘ in Anspruch nehmen wollen. Was die Äußerung über Blavatsky betrifft, hat Wolters sich verhört: Vom „theosophischen Schwindel“ der Madame sprach nicht Steiner, sondern der Religionswissenschaftler Friedrich Max Müller, dessen Einwände gegen die Theosophie Steiner in seinem Vortrag missbilligend zitierte.¹¹ Völlig zutreffend an

7 Zit. nach Hans-Jürgen Seekamp/Raymond C. Ockenden/Marita Keilson: Stefan George. Leben und Werk. Eine Zeittafel, Amsterdam 1972, S. 202 (19.9.1909); ebd. der Hinweis auf die Anwesenheit von Wolters. 8 Friedrich Wolters an Stefan George, 5.12.1909. In: Stefan George/Friedrich Wolters: Briefwechsel 1904–1930. Hg. von Michael Philipp, Amsterdam 1998, S. 74. 9 Rudolf Steiner: Buddha und Christus [Berlin, 2.12.1909]. In: Ders.: Metamorphosen des Seelenlebens. Pfade der Seelenerkenntnisse. Achtzehn öffentliche Vorträge, Berlin 1909/1910. Erster Teil, Dornach 1984 (= Rudolf Steiner Gesamtausgabe 58), S. 256–288. 10 Ebd., S. 279f. 11 „Um diese wirkliche Lehre des Buddhismus, so meint er [Müller], kümmere sich kein Mensch in Europa; während der falsche Buddhismus oder, wie er sagt, ‚der theosophische Schwindel der Frau Blavatsky‘ überall Zuspruch fände, wo es nur möglich sei.“ (Ebd., S. 258.) Steiner ging es

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Wolters’ Briefbericht ist dagegen die Angabe, dass Steiner die Theosophie mittlerweile „Geisteswissenschaft“ nannte.¹² Diese Umtaufe gehörte zu einer begrifflichen und gedanklichen Generalüberholung, mit der sich Steiner gegenüber der ‚anglo-indisch‘ geprägten Muttergesellschaft als zunehmend eigenständiger Lehrmeister zu behaupten versuchte.¹³ Zum Zeitpunkt des Vortragsbesuches von Lechter und Wolters plant George gerade das erste ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘, das seinen Kreis mit zeitkritischen Streitschriften als kulturelle Erneuerungskraft etablieren soll. Wolters nimmt nun den Bericht über den Steiner-Vortrag zum Anlass, um George für das ‚Jahrbuch‘ einen Beitrag vorzuschlagen. „Aber“ – so beschließt Wolters seinen Brief – und darum erzähle ich es nur, ich möchte in den ‚Richtlinien‘ einmal kräftig sagen, dass der Wissenschaft ein ganzes und das grössere gebiet des lebendigen völlig verschlossen, undurchdringlich unerforschlich, ja unfasslich ist, auch der okkulten Wissenschaft! Entspräche das dem wesen des kritischen Jahrbuchs?¹⁴

George lässt postwendend ausrichten, der Vorschlag sei „ausgezeichnet“.¹⁵ Der ‚Richtlinien‘-Aufsatz, den Wolters hier ankündigt, erscheint im März 1910 im ersten ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘ als Schlussbeitrag. In diesem Aufsatz geht Wolters von zwei Kräften aus, die die Menschheitsgeschichte bestimmen: die ‚Schaffende‘ und die ‚Ordnende Kraft‘. Die ‚Schaffende Kraft‘ beruht demnach auf „dem unbegreifbaren Gottgrunde als dem

hier um die Klarstellung, dass die Theosophie weder ein richtiger noch ein falscher Buddhismus, sondern eine über den Religionen stehende Weltanschauung sei – eine Klarstellung, mit der auch Blavatsky ihr theosophisches Hauptwerk einleitete. Vgl. H[elena] P[etrovna] Blavatsky: Die Geheimlehre. Die Vereinigung von Wissenschaft, Religion und Philosophie. Aus dem Englischen der dritten Auflage übersetzt von Robert Froebe. 3 Bände und Indexband [1899–1906]. Reprint in 6 Teilbänden, Den Haag o. J., Bd. 1.A, S. 1f. 12 Wann genau Steiner diese Umbenennung vollzog, ist schwer zu bestimmen. Die SteinerGesamtausgabe ist dafür keine zuverlässige Grundlage, weil Steiner bzw. die Nachlass-Herausgeber die Schriften und Vorträge aus seiner Theosophie-konformen Phase später redaktionell nachbesserten. Verlässt man sich auf die Textfassungen der Berliner Vortragsreihen (Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Bd. 51–67, Dornach 1955ff.), beginnt er ab etwa 1906 ‚Geisteswissenschaft‘ und ‚Geistesforschung‘ als Synonyme für ‚Theosophie‘ zu gebrauchen und ersetzt in den Folgejahren ‚Theosophie‘ konsequent durch ‚Geisteswissenschaft‘. In der Textfassung des von Lechter und Wolters besuchten Vortrags ist nur noch von ‚Geisteswissenschaft‘ die Rede. 13 Steiners Aneignung, Eindeutschung und Transformation theosophischer Lehren zwischen 1902 und 1912, die auch die Ersetzung indischer Lehrvokabeln durch deutsche Äquivalente einschloss, ist minuziös rekonstruiert bei Zander, Anthroposophie (Anm. 4), Bd. 1, S. 545–696. 14 Briefwechsel (Anm. 8), S. 74. 15 Friedrich Gundolf an Friedrich Wolters, 6.12.1909. In: Briefwechsel (Anm. 8), S. 75.

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leben verströmenden, leben formenden quell, aus dem ihre auswirkungen […] in das sichtbare dasein treten.“¹⁶ Sie beweist sich „durch die heldische tat, durch das künstlerische werk und durch die verkündigung der gottes-sohnschaft“.¹⁷ Diese Verkündigung, ihre stärkste Erscheinungsform, ist dem wahrhaft „Schauenden“ aufgegeben, der mit der „botschaft seines gottes […] über allen zeiten und über allen räumen das heil in sich begreifen will“.¹⁸ Die ‚Ordnende Kraft‘ dagegen erfasst die Welt durch Logik, durch methodische Erforschung, durch technische Hilfsmittel und systematische Begriffsbildungen. Sie ist „unsinnlich und schafft keine seelischen Werte“,¹⁹ und wenn sie gegenüber der ‚Schaffenden Kraft‘ überhandnimmt, wirkt sie sich lebenszerstörend aus, denn das „leben kommt nicht aus der ordnung, sondern aus der schöpfung“.²⁰ Mit diesen systematischen Begriffsbildungen führt Wolters indirekt George, den Dichter und Schöpfer des Maximin-Mythos, als Heilsbringer und Träger der ‚Schaffenden Kraft‘ ein. Im zweiten, zeitkritischen Teil der ‚Richtlinien‘ bestimmt Wolters dann die ‚Ordnende Kraft‘ als die gegenwärtig herrschende. Der moderne Mensch, so Wolters’ Diagnose, habe in seinem rationalistischen Hochmut und seinem Fortschrittsglauben die Einheit mit dem Göttlichen verloren und sei deshalb in Einsamkeit und Nihilismus gefangen. Die sinnstiftenden Institutionen der Moderne – die Wissenschaft, der Staat, die Kirche mit ihrer „frommen nutzniessung alter und geheiligter ordnungen“²¹ – seien ungeeignet, die verlorene Einheit von Gott und Mensch zu ersetzen. Die ‚Richtlinien‘ münden schließlich in eine Attacke auf die Natur- und Geschichtswissenschaften, die nach Wolters’ Ansicht ein falsches, auf reiner Wissensvermehrung beruhendes Bildungsideal durchgesetzt und „die sinnlichen körper und zeitlichen tatkomplexe zergliedert“ haben.²² Vor dieser Attacke auf die Natur- und Geschichtswissenschaften fügt Wolters eine programmatische Passage ein, in der er die George-Gemeinschaft als Gegenkraft zu diesen Zeittendenzen etabliert. Die Passage steht im gedanklichen und strukturellen Zentrum des ‚Richtlinien‘-Aufsatzes und enthält eine Auseinandersetzung mit der Theosophie. Weil Wolters sich auch dann nicht knapp und klar zu äußern pflegte, wenn er etwas „kräftig sagen“ wollte, muss diese in jeder Hinsicht verschlungene Passage hier vollständig zitiert werden:

16 Friedrich Wolters: Richtlinien. In: Friedrich Gundolf/Ders. (Hg.): Jahrbuch für die geistige Bewegung. Bd. 1, Berlin 1910, S. 128–145, hier S. 128. 17 Ebd., S. 129f. 18 Ebd., S. 129. 19 Ebd., S. 130. 20 Ebd., S. 132. 21 Ebd., S. 138. 22 Ebd., S. 139.

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Es sind von jeher die gemeinschaften der begeisterten gewesen, die eine neue weltschau auffangen und weiterschaffen. Das edelste ist zart, offenbart sich der menge nur im gleichnis und sucht sein geheimstes im kreis der mitschaffenden zu bewahren, solange es kann. Es schafft durch sein wesen selbst notwendig ein esoterisches und ein exoterisches, und eine zeit die für alles die ‚breiteste öffentlichkeit‘ verlangt besagt, dass sie kein edles zu hüten hat. Ein esoterisches wird durch eine summe gleicher erlebnisse der schauenden gewalt und einen daraus bedingten bleibenden gefühlszustand gebildet, der die werke, handlungen und gebärde einer gruppe von menschen als aus dem gleichen kerne des seins genährt erkennen lässt. Sie besitzen in der einheit ein esoterisches geheimnis, das nicht verraten werden kann, weil es nur der vernimmt, dessen herz es schon erfahren hat oder im augenblicke erfährt, wo der ton sein ohr trifft; es sezt keine fähigkeit zu einer besonderen kunst oder wissenschaft voraus, sondern nur den lebendigen grund eines gemeinsamen lebensgefühles; es ist – und darin glauben wir uns weder von der geheimlehre des Veda noch von den antiken Mysterien, noch von der christlichen offenbarung noch von der mittelalterlichen mystik zu scheiden – an die menschliche sinnen-einheit gebunden und wenn man heute hier und da eine summe von körperlichen und geistigen beziehungen ausserhalb der menschlichen organe als möglich behauptet, eine wissenschaft und verwendbarkeit von natur- und weltkräften ausserhalb der menschlichen sinne für eingeweihte in anspruch nimmt, deren geheimnisse man ‚verraten‘ oder zu seinem nutzen und anderer schaden ‚missbrauchen‘ kann, so hat unsere vorstellung vom inneren schauen und seiner verkündigung damit nichts gemein und wir bescheiden uns dabei, dass wir noch nicht an dem ‚hüter der schwelle‘ vorbeigeschritten sind. Wir glauben noch, dass auch auf dem mystischen grunde nichts zu finden sei, ohne es zu schaffen: ebensowenig wie es kunst ohne gestaltetes werk gibt, gibt es mystik ohne verkündete schau […]²³

Wolters geht in dieser Passage grundsätzlich davon aus, dass die menschliche Geistesgeschichte eine Geschichte esoterischer Gruppierungen ist. Diese Annahme teilt Wolters mit den ‚Theosophen‘ und den von ihnen rezipierten okkultistischen und arkangesellschaftlichen Traditionen. Der Theosophie verwandt ist auch die von Indien ausgehende, interreligiöse und millennienweite Dimensionierung dieses esoterischen Traditionszusammenhangs, den Wolters von der „geheimlehre des Veda“ bis zur „mittelalterlichen mystik“ am Wirken sieht und über diese hinaus implizit bis in die Gegenwart verlängert, nämlich bis zur Gemeinschaft der mit dem ‚Jahrbuch‘ sich formierenden ‚geistigen Bewegung‘. Die Bestimmung des Esoterischen selbst, und damit die Vermittlung dessen, was die ‚geistige Bewegung‘ ist, steht jedoch in diametralem Gegensatz zur Theosophie. Während die ‚Theosophen‘ einen überzeitlichen, von Eingeweihten weitergetragenen Bestand geheimer Kenntnisse über die Funktionsprinzipien des Universums annahmen, verlagert Wolters diese Vorstellung auf ein Gemeinschafts- und Einheitsgefühl gleichgesinnter Gruppierungen. Nicht in der Überlie-

23 Ebd., S. 138f.

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ferung eines okkulten Wissens, sondern in der Gemeinschaftsbildung selbst soll das esoterische Geheimnis bestehen. Dieses Geheimnis kann nicht verraten und versprachlicht werden, denn es ist eine in der „einheit“ der Gemeinschaft erfahrene Einheit mit dem Göttlichen. Aber diese spirituelle Einheitserfahrung bleibt, wie Wolters nachdrücklich betont, an die „menschlichen sinne“ gebunden; darin behauptet er sich mit den Veden und der christlichen Mystik einig zu wissen. Die Beschränkung auf die menschlichen Sinne verbindet Wolters mit einer Haltung der Erkenntnisdemut gegenüber der außersinnlichen Welt. Er fasst diese Haltung in die Formulierung vom „hüter der schwelle“. Die Anführungszeichen um diese Formulierung markieren eine Zitatanspielung. Sie bezieht sich auf eine der damals aktuellsten Buchveröffentlichungen Rudolf Steiners: seine 1909 erschienene Lehrschrift ‚Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‘²⁴ Steiner beschreibt darin einen Schulungsweg des Geheimwissens, in dem ein eingeweihter Lehrmeister den Schüler über mehrere Initiationsstufen hinweg bis zur höchsten Erkenntnis der übersinnlichen Welt führt. Im letzten Kapitel des Buches, ‚Der Hüter der Schwelle‘, ist diese höchste Stufe der Einweihung erreicht: Der Schüler begegnet erst einem ‚kleineren‘, dann einem ‚größeren‘ Hüter und darf, wenn er die Prüfungen dieses höchsten göttlichen Lichtwesens besteht, die Schwelle der absoluten Erkenntnis überschreiten.²⁵ Der Schulungsweg ist eine Art Trainingsprogramm der übersinnlichen Wahrnehmungsorgane, in dem sich der Schüler von seinen physischen Sinnen lösen soll. Die Begegnungen mit dem ‚kleineren‘ und dem ‚größeren‘ Hüter setzen solche Ablösungen voraus, wie Steiner kundgibt:

24 Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? Berlin 1909, im Folgenden zit. nach der 24. Aufl. Dornach 1993 (= Rudolf Steiner Gesamtausgabe 10). Das Buch ist eine Aufsatzsammlung aus den Jahren 1904/1905 und erschien nach einem Sonderdruck 1907 erstmals 1909 in einer regulären Buchausgabe; vgl. die bibliographischen Angaben ebd., S. 235. 25 Steiner entlehnte das Motiv des ‚Schwellenhüters‘ Edward Bulwer-Lyttons Rosenkreuzer- und Initiationsroman ‚Zanoni‘ (1842); vgl. Zander, Anthroposophie (Anm. 4), Bd. 1, S. 590f. BulwerLyttons Bestseller war ein wichtiger Inspirationsquell für die gesamte phantastische Literatur, für neu-rosenkreuzerische Arkanbundgründungen und für okkultistische Theoriebildungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert; auch Blavatsky referiert ihn in ihren Werken mehrfach (vgl. z. B. dies., Geheimlehre [Anm. 11], Bd. 1.B, S. 626; Bd. 3, S. 525 u. S. 542.) – Bulwer-Lytton gehörte, um auch diese Verbindung zu erwähnen, zu den Lieblingsschriftstellern des jungen Stefan George. Seine Nachlassbibliothek enthält neben ‚Zanoni‘ noch sechs weitere Romane Bulwer-Lyttons, die meisten in englischen Ausgaben aus den Jahren 1887/1888 (‚Rienzi‘; ‚Paul Clifford‘; ‚Alice or The Mysteries‘ – davon ein weiteres Exemplar in französischer Übersetzung –; ‚Pelham‘; ‚Eugene Aram‘; ‚The Coming Race‘).

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Dem ersteren begegnet der Mensch dann, wenn sich die Verbindungsfäden zwischen Willen, Denken und Fühlen innerhalb der feineren Leiber (des Astral- und Ätherleibes) […] zu lösen beginnen […]. Dem ‚größeren Hüter der Schwelle‘ tritt der Mensch gegenüber, wenn sich die Auflösung der Verbindungen auch auf die physischen Teile des Leibes (namentlich zunächst das Gehirn) erstreckt.²⁶

Gegen diese Spekulationen über das außersinnliche Erkennen schreibt Wolters an, wenn er auf der „menschliche[n] sinnen-einheit“ besteht. Und wenn er betont, das esoterische Geheimnis teile sich unmittelbar jedem mit, der ihm zugänglich sei, und setze keine „fähigkeit zu einer besonderen kunst oder wissenschaft“ voraus, dann bezieht er sich polemisch auf Steiners Ausführungen zum Geheimwissens-Erwerb: In Wahrheit verhält es sich mit dem Geheimwissen nämlich doch nicht anders als mit allem übrigen Wissen und Können des Menschen. Dieses Geheimwissen ist für den Durchschnittsmenschen in keiner anderen Beziehung ein Geheimnis, als warum das Schreiben für den ein Geheimnis ist, der es nicht gelernt hat. Und wie jeder schreiben lernen kann, der die rechten Wege dazu wählt, so kann jeder ein Geheimschüler, ja ein Geheimlehrer werden, der die entsprechenden Wege dazu sucht.²⁷

Wenn Wolters die Vorstellung ablehnt, das Göttliche sei ein Wissen von Eingeweihten, „deren geheimnisse man ‚verraten‘“ könne, dann bezieht er sich in mokanter Zitation auf eine Steinerʼsche Belehrung zum Geheimnisverrat: […] es gibt ein natürliches Gesetz für alle Eingeweihten, das sie dazu veranlaßt, keinem suchenden Menschen ein ihm gebührendes Wissen vorzuenthalten. Aber es gibt ein ebenso natürliches Gesetz, welches besagt, daß niemandem irgendetwas von dem Geheimwissen ausgeliefert werden kann, zu dem er nicht berufen ist. […] Du magst das Herz, die Liebe eines Eingeweihten im vollsten Sinne genießen: sein Geheimnis wird er dir erst anvertrauen, wenn du reif dazu bist. Du magst ihm schmeicheln, du magst ihn foltern: nichts kann ihn bestimmen, dir irgend etwas zu verraten, von dem er weiß, daß es dir nicht verraten werden darf, weil du auf der Stufe deiner Entwickelung dem Geheimnis noch nicht den rechten Empfang in deiner Seele zu bereiten verstehst.²⁸

Ohne Steiners Lehrbuch zu erwähnen, gibt Wolters mit diesen Anspielungen eine deutliche Antwort auf dessen Titelfrage, wie man ‚Erkenntnisse der höheren Welten‘ erlangt: so nämlich nicht. Zum Göttlichen führt nach Wolters kein Steinerʼsches Einweihungsprogramm und keine Wissenschaft „von naturoder weltkräften außerhalb der menschlichen sinne“. Es gibt zwar einen „mysti-

26 Steiner, Erkenntnisse der höheren Welten (Anm. 24), S. 193. 27 Ebd., S. 17. 28 Ebd., S. 18f.

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schen“ Grund, der die menschliche Existenz fundiert, aber dessen Ergründung soll nicht Ziel und Zweck dieser Existenz sein. Er ist nur der Nährboden schöpferischer Gestaltungen: keine Kunst ohne Kunstwerk, keine Mystik ohne „verkündete schau“. Wessen schauende Gewalt, welche verkündete Schau hier gemeint ist, versteht sich von selbst. Das Göttliche soll sich nur über die Gemeinschaft herstellen, die Wolters um den großen Ungenannten der ‚Richtlinien‘, den Maximin-Verkünder George entwirft. Sie ist die wahre Erbin der indischen und griechischen Esoteriker und zugleich die Vorhut einer neuen Menschheit. Mit dieser positiven Vision beschließt Wolters seine Negation der Theosophie in Steinerʼscher Prägung. Im ‚Wir‘-Gefühl der Gemeinschaft, für die er spricht, ruft er dazu auf, sich zusammenzuschliessen, wo ein echter lebenskern aufbricht und eine flamme ihn verkündet, von ihm zu empfangen und selbst entflammt mitzuschaffen, bis ein bund erstarkt, der das immer notwendige draussen, das exoterische, mit in seine wirbel reißt, der den thron des menschen zurückerobert und ein neues adliges geschlecht erstehen lässt, das die stolzeste Gebärde des menschentums auf dem grunde der göttlichen demut trägt.²⁹

So konturiert Wolters in dieser Umbruchsphase, in der sich der Freundeskreis um George als Glaubensgemeinschaft zu formieren beginnt, das Selbst- und Weltverständnis dieser Gemeinschaft durch eine Abgrenzung von der Theosophie. Kritische Einwände gegen die Theosophie waren zu dieser Zeit nichts Ungewöhnliches. Zweifel an der Glaubhaftigkeit ihrer öffentlichen Geheimlehren begleiteten die ‚Theosophical Society‘ seit ihrer Gründung. Ungewöhnlich an Wolters’ Kritik ist allerdings der Kontext, in dem er sie formuliert. Das Selbstverständnis der Theosophie als Wissenschaft bleibt hier völlig unbestritten, und die Polemik gegen die Theosophie ist Teil einer Kritik an den Natur- und Geschichtswissenschaften, den Leitwissenschaften des 19. Jahrhunderts. Wolters folgt damit dem ‚Meisterwort‘, das alles sei „nur Wissenschaft“, aber er entfernt sich weit von dem Standpunkt, von dem aus die Theosophie üblicherweise angegriffen wurde. Denn vom Standpunkt der Vernunft- und Wissenschaftskritik wurden diese Angriffe sonst nicht geführt. Was die Theosophie unter Zeitgenossen seit jeher kritikwürdig machte, war ihre Unvereinbarkeit mit den Wissenschaftskriterien, die in den Natur- und Geschichtswissenschaften galten. Weil ihre kosmo- und anthropogenetischen Thesen weder belegbar noch widerlegbar waren, weil die von ihr gesichteten übersinnlichen Phänomene sich nicht empirisch überprüfen ließen, weil Blavatskys ‚Geheimlehre‘ der zweibändige Kom-

29 Wolters, Richtlinien (Anm. 16), S. 139.

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mentar eines nur der Autorin bekannten tibetanischen ‚Urtextes‘ war, für den nie eine authentische Quelle gefunden wurde, galt die Theosophie in den universitär etablierten Wissenschaftsdisziplinen zu keinem Zeitpunkt als ernsthaft diskutabel.³⁰ Kritiker fanden in der Theosophie zwar Spiritualität im Übermaß, vermissten aber die Rationalität. Es waren deshalb immer Akademiker wie der schon eingangs erwähnte Friedrich Max Müller gewesen, die gegen die Theosophie die schärfsten Angriffe geführt hatten. Auch im Jahr 1910, als die ‚Richtlinien‘ erschienen, kritisierte man den von der Theosophie vertretenen Okkultismus nicht für seine Wissenschaftlichkeit, sondern beklagte im Gegenteil „die Dummheit dieser neuesten Form der alten Wundersucht“.³¹ Wolters hingegen verwirft auf Georges Anregung hin die Theosophie als Wissenschaft. Indem er den Wissenschaftsanspruch der ‚Theosophen‘ völlig unbestritten lässt, bestreitet er ihre Zuständigkeit für das Göttliche. Er rüstet Georges Gesprächsmeinung in eine Argumentationslogik ein, in der die Theosophie als Agentin der ‚Ordnenden Kraft‘ erscheint und folglich der ‚Schaffenden Kraft‘, die den Dichter George und die um ihn sich bildende Gemeinschaft beseelt, genauso lebensfeindlich gegenübersteht wie das historistisch-naturwissenschaftliche Spezialistentum. Nur hat sich die Theosophie eben auf das Übersinnliche spezialisiert statt auf Geschichte und Natur. Darin offenbart sich der Zweck von Wolters’ Theorie der opponierenden Kräfte: Sie erlaubt ihm die Klarstellung, dass die Theosophie, gerade weil sie die höheren Welten zu wissenschaftlich erkennen beansprucht, im Gegensatz zu George nichts beitragen kann zur Erneuerung des „Gottgrundes“ der Menschheit, zur Neuverzauberung der als entzaubert empfundenen Welt. Das ist eine sehr prekäre Selbstabgrenzung, die einige grundlegende Gemeinsamkeiten ausblendet. Denn die Theosophie verband ihren eigenen Wissenschaftsanspruch mit einer Fundamentalkritik an den zeitgenössischen Wis-

30 Die Berufung auf einen tibetanischen ‚Urtext‘, das sogenannte ‚Buch des Dzyan‘, nahm Blavatsky in der Einleitung zur ‚Geheimlehre‘ zum Anlass, den Gegensatz zwischen akademischer Wissenschaft und Theosophie mit herausfordernder Ausdrücklichkeit klarzustellen: „Das Buch des Dzyan (oder Dzan) ist unseren Philologen gänzlich unbekannt, oder zumindest haben sie von demselben nicht unter seinem gegenwärtigen Namen gehört. Das ist natürlich ein großes Hindernis für jene, die die von der offiziellen Wissenschaft vorgeschriebenen Forschungsmethoden befolgen; aber für die Schüler des Occultismus und für jeden echten Occultisten wird das von geringer Bedeutung sein.“ (Blavatsky, Geheimlehre [Anm. 11], Bd. 1.A, S. 6.) 31 Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 2, München – Leipzig 1910, S. 187. Auf diese Quelle (in späterer Ausgabe) und ähnlich lautende Okkultismus-Kritiken von Theodor W. Adorno u. a. verweist Zander, Anthroposophie (Anm. 4), Bd. 1, S. 936.

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senschaften, die in ihren Grundzügen mit der Wissenschaftskritik der ‚Richtlinien‘ identisch ist. Mit der Annahme einer ursprünglichen, in allen religiösen Überlieferungen fragmentarisch enthaltenen „Weisheitsreligion“³² wiesen die ‚Theosophen‘ den Historismus des 19. Jahrhunderts zurück, der die Religionen und Wissensbestände der Menschheit zu quellenkritischen Spezialforschungsobjekten entweihte.³³ Gegen Darwins Evolutionstheorie, die wie keine andere naturwissenschaftliche Theorie zum Krisengefühl der Weltentzauberung beigetragen hatte, setzte Blavatsky ihre eigene Geheimlehren-Anthropogenesis, die sie aus religiösen Mythen und Metaphysiken gewann und auf ein göttliches Wirkungsprinzip zurückführte. Die „occulte Wissenschaft“ war – so schrieb sie in der ‚Geheimlehre‘ – dem Materialismus der „modernen Wissenschaft“ grundsätzlich überlegen, weil die Vertreter dieser „sogenannten exakten Wissenschaft“ irrtümlich versuchten, „die Bildung des Kosmos und seiner lebenden Kräfte dem Geiste zu entreißen und alles dem blinden Stoffe zuzuschreiben“.³⁴ Die moderne Wissenschaft ging nicht mehr, in Wolters’ Worten, vom „Gottgrunde“ der ‚Schaffenden Kraft‘ aus; deshalb konnte sie – so Blavatsky in der ‚Geheimlehre‘ – keine Auskunft geben über „das Geheimnis des uns umgebenden Weltalls“.³⁵ Das theosophische Ziel der Erforschung des Geheimnisses vermittelt Wolters als die wesentliche Differenz zwischen Theosophie und George-Gemeinschaft. Aber das Erkenntnismittel, aus dem die ‚Theosophen‘ ihre Forschungsergebnisse gewannen, entzog sich jeder rationalen Überprüfbarkeit und überantwortete ihr Wissen dem Glauben: Sie beriefen sich auf die Gabe des Hellsehens, der clairvoyance.³⁶ Nach Blavatskys Ansicht – und in dieser Ansicht unterschied sich die Theosophie auch von anderen okkultistischen Theoriebildungen – hatte der theosophische Forscher die Aufgabe, sich selbst hellseherische Fähigkeiten

32 Vgl. Blavatsky, Geheimlehre (Anm. 11), Bd. 1.A, S. 4; Bd. 2.A, S. 241, S. 395; Bd. 2.B, S. 491, S. 673 u. ö. Die Theorie der Weisheitsreligion (‚wisdom religion‘ in Blavatskys Originalschriften) geht auf Renaissance-Vorstellungen einer prisca theologia oder philosophia perennis zurück. Eine Diskussion der historischen Bedeutungen dieser Termini bei Wouter Hanegraaff: Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, Cambridge – New York 2012, S. 5–12. 33 Zur Theosophie als Reaktion auf den Historismus vgl. Zander, Anthroposophie (Anm. 4), Bd. 1, S. 727–780. 34 Blavatsky, Geheimlehre (Anm. 11), Bd. 1.B, S. 518 (in der Einleitung des programmatischen Kapitels ‚Zusätze über occulte und moderne Wissenschaft‘; Hervorhebung im Original). 35 Ebd. 36 Ein unter Blavatskys Namen postum herausgegebenes Theosophie-Glossar definierte clairvoyance als „faculty of seeing with the inner eye or spiritual sight […] irrespective of time (past, present and future) or distance.“ (Helena Blavatsky: The Theosophical Glossary [1892], Reprint Krotona/LA 1918, S. 79.)

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anzueignen, denn nur so könne er zum Ursprung der Dinge gelangen.³⁷ Dass Blavatsky ihre eigene ‚Geheimlehre‘ aus diesen Fähigkeiten schöpfte, mussten die Leser voraussetzen, zumal sie betonte, ihre Darlegungen könnten der „Wahrheit“ zuliebe nicht immer die Ansprüche der „Wissenschaft“ befriedigen.³⁸ Clairvoyance war in der theosophischen Vorstellungswelt das Distinktionsmerkmal einer spirituellen Elite, der übermenschliche Erkenntnisgaben zur Verfügung standen. Glaubensbereite Leser waren eingeladen, die theosophischen Lehrbücher als Offenbarungstexte zu studieren, Vertreter eines rationalistischen Wissenschaftsverständnisses blieben ausgeschlossen. In einem Aufsatz mit dem Titel ‚Theosophie und Wissenschaft‘ schrieb Rudolf Steiner 1905: […] mit der bloßen Gelehrsamkeit ist gegenüber der Theosophie gar nichts anzufangen. Über ihre Tatsachen kann nichts entscheiden als die übersinnliche Erfahrung. Zu dieser übersinnlichen Erfahrung muss man den Menschen verhelfen, nicht sie auf eine unfruchtbare Gelehrsamkeit verweisen.³⁹

Zur Popularität der Theosophie dürfte maßgeblich ihr Versprechen beigetragen haben, dass prinzipiell jeder Mensch unter theosophischer Anleitung hellseherische Fähigkeiten entwickeln könne.⁴⁰ Allerdings war dieses Versprechen, zur Elite der Hellsehenden vorzustoßen, mit bestimmten Voraussetzungen verbunden, die mögliche Misserfolge nicht den Lehrautoritäten, sondern den Lernwilligen anlasteten. Die erste Voraussetzung war, so Steiner in ‚Erkenntnisse der höheren Welten‘, die Befreiung von rationaler Skepsis. Steiner stellte dem Buch die einleitende Warnung voran, dass sich ein Teil seiner „Mitteilungen […] dem

37 „[…] der Occultist, sich stützend auf zugegebene metaphysische Daten, erklärt, daß der kühne Forscher, der die innersten Geheimnisse der Natur ergründen will, die engen Grenzen der Sinne überschreiten und sein Bewußtsein in den Bereich der Dinge an sich und in die Sphäre der ursprünglichen Ursachen versetzen muß. Um dies zu bewirken, muß er Fähigkeiten entwickeln, die – außer in sehr seltenen und ausnahmsweisen Fällen – in der Konstitution der Schößlinge unserer gegenwärtigen fünften Wurzelrasse in Europa und Amerika vollständig schlafend sind. Auf keine andere denkbare Art kann er die Thatsachen, auf die er seine Spekulationen aufzubauen hat, sammeln.“ (Blavatsky, Geheimlehre [Anm. 11], Bd. 1.B, S. 518.) 38 Ebd. 39 Rudolf Steiner: Theosophie und Wissenschaft [Erstdruck in: Lucifer-Gnosis, September 1905]. In: Ders.: Lucifer-Gnosis 1903–1908. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften ‚Luzifer‘ und ‚Lucifer-Gnosis‘, Dornach ²1987 (= Rudolf Steiner Gesamtausgabe 34), S. 181–190, hier S. 183. 40 Theosophische Theorien zur ‚Schulung‘ des Hellsehens, an denen sich auch Steiner orientierte, entwickelte um die Jahrhundertwende vor allem Charles Leadbeater, der persönliche Berater der Blavatsky-Nachfolgerin Annie Besant. Vgl. u. a. Charles Leadbeater: Clairvoyance, London 1899.

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bloßen Verstandesurteile“ entziehe; es gelte aber, das „Gefühl“ zum „Richter über die Wahrheit“ zu machen und ein „Gefühlsurteil“ zu entwickeln.⁴¹ Damit stand Steiners theosophische ‚Geisteswissenschaft‘ zeitgenössischen Wissenschaftskriterien sehr viel ferner als der Forderung von Wolters’ ‚Richtlinien‘ an den „denker“, die „völlige lösung vom rationalen dünkel“ zu erstreben.⁴² Die zweite Voraussetzung war nach Steiner eine „gewisse Grundstimmung der Seele“,⁴³ die in der Bereitschaft zu dienender Verehrung bestehen sollte. Zu höherer Erkenntnis könne nur derjenige vordringen, der „sein Herz in die Tiefen der Ehrfurcht, der Devotion geführt“ habe.⁴⁴ Steiner verbindet diese Aufforderung zu gläubiger Dienstbereitschaft mit einer kulturkritischen Zeitdiagnose: Unsere Zivilisation neigt mehr zur Kritik, zum Richten, zum Aburteilen und wenig zur Devotion, zur hingebungsvollen Verehrung. […] Aber jede Kritik, jedes richtende Urteil vertreiben ebensosehr die Kräfte der Seele zur höheren Erkenntnis, wie jede hingebungsvolle Ehrfurcht sie entwickelt.⁴⁵

Ähnlich lautende kulturkritische Devotions-Appelle spricht auch Wolters in seinem im Dezember 1909 erschienenen Traktat ‚Herrschaft und Dienst‘ aus, einem Manifest des künftigen George-‚Staats‘. Der Mensch, so Wolters in ‚Herrschaft und Dienst‘, müsse sich öffnen, um alles Hohe und Höchste in sich zu zwingen, und sind die öffnungen verschüttet, die kräfte erlahmt oder ungeübt, so bereite er sich auf den stufen des Dienstes und er wird gewiss sein, die beseligende kraft der im Geistigen Reiche verbundenen zu fühlen. [/] Die erste stufe aber ist die ehrfurcht!⁴⁶

Zunächst müsse der Einzelne seinen „dünkel“ überwinden, ehe „die Ehrfurcht wieder ganz der grund und anfang jeder bildung, der natürliche zustand des lernenden, der geforderte des lehrenden vor seinen werten, der ruhende der Meister vor dem Göttlichen wird.“⁴⁷ In den ‚Richtlinien‘ wiederholt Wolters diese Aufforderungen zur „hingebendste[n] vertiefung in die lehren der großen verkünder“ und zum Dienst „in selbstloser bescheidung und freiester selbsthingabe“.⁴⁸ Und schließlich teilt die esoterische Gemeinschaft, die Wolters um

41 Steiner, Erkenntnisse der höheren Welten (Anm. 24), S. 8. 42 Wolters, Richtlinien (Anm. 16), S. 145. 43 Steiner, Erkenntnisse der höheren Welten (Anm. 24), S. 19. 44 Ebd., S. 20. 45 Ebd., S. 21. 46 Friedrich Wolters: Herrschaft und Dienst [1909], Berlin ²1920, S. 56. 47 Ebd. 48 Wolters, Richtlinien (Anm. 16), S. 145.

‚Richtlinien‘ gegen Rudolf Steiner



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George entwirft, mit der Theosophie auch das Sendungsbewusstsein der Menschheitserneuerung. Dem ‚Geheimschüler‘, der den zweiten ‚Hüter der Schwelle‘ und damit das Ziel des übersinnlichen Lehrpfads erreicht hat, wird von Steiner nichts Geringeres aufgegeben als die Mitwirkung an der „Befreiung des Menschengeschlechts“.⁴⁹ Die Theosophie, wie Steiner sie in ‚Erkenntnisse der höheren Welten‘ vertritt, entwickelte mit ihrer Auffassung von ‚Wissenschaft‘ ein Angebot zu religiöser Selbst- und Welterlösung, das sich gegen die Säkularisierung und Rationalisierung der Moderne richtete. Sie versprach die Zugehörigkeit zu einer geistigen Avantgarde. Sie setzte eine intuitive, vom Gefühl geleitete Akzeptanz voraus. Sie verlangte unbedingte Devotion gegenüber der literarischen Autorität der theosophischen Buchautoren und gegenüber der charismatischen Autorität des theosophischen Lehrmeisters, dem sich der ‚Geheimschüler‘ im individuellen Unterricht zu unterwerfen hatte. Die Theosophie war eben nicht „nur Wissenschaft“, sondern ein zeitgemäßes Angebot an den „Willen zum Glauben“.⁵⁰ Sie war – und so pflegte Steiner die Theosophie seit etwa 1904 in seinen Vorträgen zu bezeichnen – eine „geistige Bewegung“.⁵¹

49 Steiner, Erkenntnisse der höheren Welten (Anm. 24), S. 213. 50 William James: The Will to Believe [1896]. In: Ders.: The Will to Believe and other Essays in Popular Philosophy, New York – London u. a. ¹⁵1912, S. 1–31. 51 Im Folgenden einige exemplarische Nachweise aus Steiners öffentlichen und nichtöffentlichen Vorträgen (alle Bandangaben beziehen sich auf: Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 1955ff.): In einem öffentlichen Vortrag über ‚Theosophie und Somnambulismus‘ am 7.3.1904 im Berliner Architektenhaus grenzt Steiner „die theosophische Bewegung“ von „anderen geistigen Bewegungen“ wie dem Spiritismus ab, weil sie im Gegensatz zu diesen „Bruderbewegungen“ dem „Ideal des bewußten Hellsehertums“ folge (Bd. 52, S. 272). In einem Vortrag vor Berliner Mitgliedern der ‚Theosophischen Gesellschaft‘ über ‚Vergangene und künftige Geist-Erkenntnis‘ am 7.5.1906 verkündet Steiner im Gedenken an Helena Blavatsky, es sei der „persönliche Wunsch der Gründerin gewesen, daß die Glieder der theosophischen Bewegung zum lebendigen Ausdrucksmittel für den Geist werden, den sie in selbstloser Art ganz in den Dienst dieser geistigen Bewegung gestellt hat“ (Bd. 96, S. 59.) In einem Vortrag über den ‚Anteil des Menschen an den höheren Welten‘ vor TG-Mitgliedern am 1.10.1906 in Berlin nennt Steiner die Theosophie „unsere geistige Bewegung“ und hofft, dass „diese geistige Bewegung nicht nur in die eigenen Herzen einziehe, sondern sich auch in der Welt verbreite“ (Bd. 96, S. 71). Als „geistige Bewegung“ bezeichnet Steiner die Theosophie auch in einem Mitglieder-Vortrag anlässlich des ‚Weißen Lotos-Tages‘ – des Blavatsky-Gedenktages der TG – am 8.5.1910 in Berlin (Bd. 114, S. 143). Nach der Trennung von der ‚Theosophical Society‘ Ende 1912 überträgt er die Bezeichnung „geistige Bewegung“ auf die Anthroposophie, so z. B. in einem Vortrag vor Mitgliedern der ‚Anthroposophischen Gesellschaft‘ am 31.1.1915 in Zürich (Bd. 159, S. 11); in einem Vortrag am 15.12.1918 in Dornach (Bd. 186, S. 264) und in einem Vortrag anlässlich der ‚Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft‘ 1923/1924 (Bd. 260, S. 35).

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Darin bestehen wesentliche Übereinstimmungen mit dem GemeinschaftsEntwurf der ‚Richtlinien‘, die unter Zeitgenossen die Frage provozieren konnten, was die neue ‚geistige Bewegung‘ um George eigentlich von der Theosophie unterschied. Wolters blendet deshalb die Übereinstimmungen aus und akzentuiert die Unterschiede: Die Theosophie hat die Erkenntnis der übersinnlichen Welt zum Ziel, dagegen betonen die ‚Richtlinien‘ ihre Unerkennbarkeit. Der theosophische Heilsweg erfordert die Ablösung von Körper und Sinnen, dagegen betonen die ‚Richtlinien‘ die „leib- und geisteinheit“, die erst den „ganzen menschen“ forme.⁵² Die Theosophie offenbart das göttliche Prinzip der Schöpfung in Lehrbüchern und Vorträgen, deshalb betonen die ‚Richtlinien‘, dass sich das Göttliche nur im Kunstwerk offenbart. Weil Wolters seine Theosophie-Polemik gegen Steiners ‚Erkenntnisse der höheren Welten‘ richtet, wird ihm bewusst gewesen sein, dass seine eigenen Formulierungen über „den Schauenden“, die „verkündete Schau“, die „schauende gewalt“ usw. mit dem hellseherischen ‚Schauen‘ in Steiners Buch korrespondieren. Steiner verwendet diesen Begriff und seine Ableitungen durchgängig: Sein Erkenntnislehrpfad verheißt die Verwandlung zum „schauenden Menschen“⁵³ und leitet zum „höheren Schauen“,⁵⁴ der ‚Hüter der Schwelle‘ offenbart sich der „schauenden Seele“,⁵⁵ den Fortschritt des ‚Geheimschülers‘ zum „Hellseher“ misst Steiner am „Grad des Schauens“.⁵⁶ Vom ‚Schauen‘ ist in ‚Erkenntnisse der höheren Welten‘ derart oft die Rede, dass Wolters, dessen Zitat-Anspielungen eine aufmerksame Buchlektüre voraussetzen, den ‚Schau‘Begriff der ‚Richtlinien‘ nur in der Absicht gewählt haben kann, eine begriffliche Interferenz zu erzeugen. Mit der Verwendung dieses Begriffs konkurrieren die ‚Richtlinien‘ um die Bedeutungsfrage, welche Art von ‚Schauen‘, das übersinnlich-investigative der Theosophie oder das im geschaffenen Kunstwerk sich manifestierende Georges, das Göttliche glaubhafter ansichtig macht. Indem Wolters das ‚Schauen‘ über das Augenscheinliche hinaus dem Repräsentanten der ‚Schaffenden Kraft‘, dem Dichter-Seher und Gottverkünder George zuschreibt, entwendet er es der Theosophie.

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Wolters, Richtlinien (Anm. 16), S. 140f. (Hervorhebung im Original). Steiner, Erkenntnisse der höheren Welten (Anm. 24), S. 9 u. ö. Ebd., S. 152, S. 198 u. ö. Ebd., S. 213. Ebd., S. 167.

Wouter J. Hanegraaff

Freeing the Ancient Wisdom from Catholic Crusts Stefan George and Incognito Paganism In a conversation with Edith Landmann, Stefan George made a statement that is utterly revealing about his religious affinities: “Weiss der Teufel, woher das kommt, dass ich vom Christentum ausser in seiner heidnischen Form so gar nichts verstehe. Ich bin doch, möcht me spreche [sic], aus einer guten alten katholischen Familie”.¹ The true significance of this utterance will, I hope, have become clear by the end of this article. On the following pages I will be asking myself, firstly, in what sense and to what extent George and his circle may be seen as representing a somehow ‘religious’ phenomenon; and, secondly, how this religious dimension could best be described and interpreted. I will argue that ‘paganism’ (‘Heidentum’) is indeed a key term in that respect, but that in George’s case we are dealing with a philosophical rather than a cultic form of paganism: one that has existed in Western culture mostly as an idealized religion of the imagination, a dreamed religion,² particularly since the period of the Renaissance. To understand the nature of George’s paganism, first of all it must be clearly distinguished from the explicit neo-pagan agendas of the ‘Cosmic Circle’ of Munich linked to the names of Ludwig Klages and Alfred Schuler. We have a fascinating report, by Klages, of how George reacted to Schuler during a memorable dinner on 29 April 1897.³ The passage is well known, but I will quote it here at some length: […] im besten seiner nicht geräumigen Zimmer eine längliche Tafel, imgrunde bescheiden, für seine Verhältnisse üppig mit Speisen bedeckt; Licht von Kerzen und einem römischen Dreidochter; vor diesem auf metallenem Sockel eine Nachbildung des “Adoranten”, dahinter Lorbeer und anderes Grün; um jeden Teller ein Kranz leuchtender Blüten; Weihrauchduft. – Nach der Mahlzeit beginnt [Schuler] mit dem Vorlesen seiner stärksten Fragmente, mächtig schon einsetzend und zu immer mächtigerem Pathos fortgerissen. Es bildet sich, so möchte man meinen, ein magisches Feld […] George gerät in wachsende, schließlich

1 Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf – München 1963, p. 47. Cf. Georg Dörr: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule, Würzburg 2007, p. 284. 2 On paganism as a religion of the imagination, cf. Joscelyn Godwin: The Pagan Dream of the Renaissance, London 2002. 3 Not 1899, as often stated in the literature: See Dörr, Muttermythos (note 1), pp. 188f.

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kaum noch beherrschte Erregung. Er hat sich hinter seinen Stuhl gestellt; fahler denn fahl scheint er im Begriff, die Fassung zu verlieren. Die seelenatmosphärische Spannung wird unerträglich. Keiner vernimmt noch genau, was Schuler kündet; doch aus dem Dröhnen seiner Stimme wächst ein Vulkan, der glühende Lava schleudert […] Auf der nächtlichen Straße stehe ich plötzlich mit George allein. Da fühle ich mich am Arm ergriffen: “Das ist Wahnsinn! Ich ertrage es nicht! Was haben Sie getan, mich dorthin zu locken! Das ist Wahnsinn! Führen Sie mich fort; führen Sie mich in ein Wirtshaus, wo biedere Bürger, wo ganz gewöhnliche Menschen Zigarren rauchen und Bier trinken! Ich ertrage es nicht!”⁴

This is not a picture one would usually associate with Stefan George. Apparently he felt so threatened by the ‘spell’ that Schuler was trying to cast on him that this most elitist of all poets was desperate to escape from the heavy occult atmosphere of Schuler’s pagan cult and was suddenly yearning for the ‘normality’ of beer-drinking ‘Bürger’ in a common pub! Schuler’s brand of romanticized ancient Roman and chthonic matriarchal paganism was definitely not to his taste, and how much it disturbed him can be inferred from his poem ‘A. S.’ (Alfred Schuler) in ‘Das Jahr der Seele’: Dass wir der sinne kaum mehr mächtig · wie vergiftet Nach schlimmem prunkmahl taglang uns nicht fassten · Stets um die stirn noch rosen brennen fühlten …⁵

If Stefan George and his circle represented some kind of ‘pagan’ religion, then it was clearly very different from that of Schuler and Klages. As has been well formulated by Thomas Karlauf in his impressive biography of George, the famous clash with the ‘Cosmic Circle’ in the Winter of 1903/1904 was ultimately based, at least from George’s perspective, on two opposed ways of understanding the nature of art: “Stand die Kunst auf seiten des Geistes […] oder gehorchte sie den Kräften der Seele und diente dem Rausch?”⁶ The reference is, of course, not only to Nietzsche’s opposition of the Dionysian and the Apollonian, but more specifically to Ludwig Klages’ metaphysics, which highlighted die Seele as the dark but positive principle opposed to the negative, alien and hostile principle of der Geist. It is clear that in the wake of his conflict with the ‘Kosmiker’, George definitely came out in favour of der Geist and henceforth saw die Seele as the

4 Ludwig Klages: Einführung des Herausgebers. In: Alfred Schuler: Fragmente und Vorträge. Aus dem Nachlass. Mit Einführung von Ludwig Klages. Leipzig 1940, pp. 1–119, esp. p. 72f. 5 Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Ed. by Stefan George Stiftung. Arranged by Georg Peter Landmann and Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Vol. V, p. 82. Abbreviated as follows: SW, volume, page number. 6 Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, pp. 331–332.

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enemy. Notably in the second cycle of ‘Der siebente Ring’ (‘Gestalten’), a few years after the ‘Schwabinger Krach’, we witness a dramatic battle between darkness and light. Right in the first poem, ‘Der Kampf’, a representative of the chthonic enemy (“Trunken von sonne und blut” – evident references to Schuler’s cult of ancient Rome, with ‘Sol Invictus’, the Mithraic ‘Taurobolium’, and so on) comes rushing from his sinister subterranean abode and out into the open air, where he meets the “schönlockige Gott”: no one else, of course, than the “divine boy” Maximin. The protagonist tries to attack him, but does not stand a chance, for he is immediately struck to the ground by a beam of light that flashes from the eyes of the God: Weh! sie kämpfen mit licht. Den er fasset der fällt. Stampfend sezt er den fuss Auf meine keuchende brust. Lächelnd singt er sein lied … Trunken von sonne und blut Sink ich in ruhmlosen tod.⁷

And that is that. The message should be clear: the ‘Kosmiker’ do not stand a chance against the Lord of Light. In further poems of the same cycle, George highlights a range of further elements that are significant for their suggestions of a spiritual elite in mortal combat with the forces of evil. For example, the poem ‘Der Widerchrist’ paints a horror-like picture of how common people are seduced by diabolic false Messiah, but discover the deception only when it is far too late: “Dann hängt ihr die zunge am trocknenden Trog/Irrt ratlos wie vieh durch den brennenden hof …/Und schrecklich erschallt die Posaune.”⁸ The poem ‘Templer’ is based on the concept of a spiritual warrior elite, with explicit references to the Rosicrucian brotherhood: “Wir Rose: innre jugendliche brunst/ Wir Kreuz: der stolz ertragnen leiden kunst.”⁹ And in ‘Die Hüter des Vorhofs’, we read about the education of the members of the spiritual elite, who are given to remember that they are in truth the offspring of gods. And then eventually, of course, we get to the Maximin-cycle of ‘Der Siebente Ring’, where the God himself makes his full appearance. Since the cult of Maximin is analyzed in some detail elsewhere in this volume, I will not go into it further at this point, but will assume that the reader is familiar with George’s remarkable deification

7 SW VI/VII (note 5), p. 37. 8 Ib., p. 57. 9 Ib., p. 52.

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of the early-deceased Maximilian Kronberger, who was elevated to a divine status: “Dem bist du kind · dem freund/Ich seh in dir den Gott/Den schauernd ich erkannt/Dem meine andacht gilt.”¹⁰ Now how can we contextualize and interpret George’s poetic cult, after the break with the ‘Kosmiker’, from the perspective of the study of religion? To answer that question, I would like to highlight a number of key elements: 1.

From his early years on, George was obsessed with the project of creating a world of his own, a world of superior beauty and truth, separate from the vulgar outside world of bourgeois society – a world, most of all, in which he himself could play the role of uncontested, autocratic leader. In the early days, those who participated in this self-created world even appear to have communicated by means of a secret language – a language entirely in George’s power because he had invented it himself: In einem sange den keiner erfasste Waren wir heischer und herrscher vom All. Süss und befeuernd wie Attikas choros Über die hügel und inseln klang: CO BESOSO PASOJE PTOROS CO ES ON HAMA PASOJE BOAÑ.¹¹

2.

This project of creating his own world eventually took the form of what is known in traditional terms as an ‘inner church’ of the spirit. George referred to it as his ‘Staat’, and it became known under other names such as ‘das Neue Reich’ and ‘das Geheime Deutschland’ as well. Historically, the notion of an inner church is rooted in theosophical traditions since the 18th century: it seems to have emerged in the work of Ivan Lopukhin and Karl von Eckartshausen against the background of earlier spiritualist and pietist movements, and was later taken up by occultists such as Arthur Edward Waite.¹² I do not think that Stefan George was necessarily aware of these precedents or parallels, or interested in them, but what he had in mind was in fact a kind of inner church or community of the spirit. As formulated much later by Hubertus Prinz zu Löwenstein, after George’s death and the dissemination of his circle:

10 Ib., p. 90. 11 Ib., p. 117. 12 Author: Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, Cambridge 2012, p. 250 with note 367.

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Nur im geistigen Raume […] ist das Reich heute vorhanden, und nur in der Seele und in der Handlung einiger weniger hat es sich bislang zu verkörpern vermocht. Diese aber tragen sein Zeichen so sichtbar auf ihrer Stirne, dass sie in einer Einöde leben dürften und doch würden sie von den Brüdern, die zu ihnen angehören, sofort erkannt werden.¹³

Apart from the theosophical Inner Church, such a notion also clearly resonates with the concept of a secret brotherhood modeled on the 17th-century Rosicrucians, who were believed to live their lives incognito but who would recognize one another by means of secret signs known only to themselves. 3. This brings me to a third point, that of a circle of initiates. In his famous article ‘The Sociology of Secrecy and of Secret Societies’, George’s longstanding admirer Georg Simmel highlighted the difference between two types of ‘secret society’. In the case of a ‘Hidden Church’ or secret association of the Rosicrucian type, to which I just referred, its very existence is supposed to be a secret known only to the initiates. But in addition to this, Stefan George’s circle also took the form, in Simmel’s formulation, of a visible social formation that “is unequivocally known, [while] the membership, or the purpose, or the special conditions of the combination are secret”.¹⁴ Entrance into a social formation of this kind requires a process of initiation, and obviously George’s work is full of references to such an ‘Aufnahme in den Orden’ (the title of a piece written as early as 1901), an ‘Einführung der Novizen in die Mysterien’, and so on. Of course, acceptance or non-acceptance depended entirely on the will of ‘der Meister’ himself. 4. Once accepted into George’s ‘Kreis’, its participants were confronted with implicit or explicit, subtle and more overt forms of ritualization that resulted in an atmosphere of sacrality with George himself as the charismatic and, most of all, numinous center. The important point here is the predominance of form over content. When Albert Verwey objected to the manner in which George exalted his personal genius into a general object of worship or veneration, George seems to have responded with great irritation: Maximin, he retorted, could as well have been “a black stone or a green cone”.¹⁵ Thomas Karlauf concludes, correctly in my view, that “Für ihn zähle nicht das Was, sondern das Wie, nicht der Inhalt des Glaubens, sondern die Hingabe der

13 Hubertus Prinz zu Löwenstein: Nach Hitlers Fall. Deutschlands kommendes Reich – Vorletzter Entwurf (Manuscript in Deutsches Exilarchiv, Frankfurt a. M.), p. 50, here quoted according to Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, p. 176. 14 Georg Simmel: The Sociology of Secrecy and of Secret Societies. In: The American Journal of Sociology 11/4, 1906, p. 441–498, here p. 470–471. 15 Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun vriendschap. Ed. by Mea NijlandVerwey, Amsterdam 1965, p. 267.

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5.

Gläubigen.”¹⁶ “Hingabe”, or complete submission, of course, to George himself; and I hardly need to emphasize the extremes of egotism and narcissism typical of the ‘Meister’s’ behavior, or the amazing degree to which his followers were willing to submit themselves to George and allowed him to make decisions even about their intimate personal lives. Finally, of course, George’s ‘Kreis’ was a ‘Männerbund’ that essentially excluded women; and the real secret at its very core was a homo-erotic spirituality. In this regard, the fact that George seems to have been sexually intimate with quite a number of his followers over the years is of not much more than anecdotal importance. Much more significant is the fact that his ‘Kreis’ was grounded in a psychological eroticism in which his followers were expected to benefit from the presence of the ‘Meister’ and his superior knowledge and wisdom, while the ‘Meister’ in turn benefited from their youth and superior beauty. This is, of course, the essence of what is known as ‘Socratic Love’ in the Platonic tradition. The great Renaissance Platonist Marsilio Ficino, to whom I will return, has captured it in a formulation that can be applied without any trouble to George and his pupils: A man enjoys the beauty of a beloved youth with his eyes. The youth enjoys the beauty of the man with his Intellect. … Truly this is a wonderful exchange. Virtuous, useful, and pleasant to both. The virtue certainly is equal to both. For it is equally virtuous to learn and to teach. The pleasure is greater in the older man, who is pleased in both sight and intellect. But in the younger man the usefulness is greater.¹⁷

So let me summarize these five points, which I consider central to the Stefan George cult: (1) the imaginative creation of an autonomous world of spiritual beauty and truth; (2) the notion of an invisible inner church of the spirit; (3) the emergence of a circle of initiates; (4) the centrality of ritual over doctrine, form over content; and (5) the cultivation of a homo-erotic spirituality. Can we find parallels in Western culture for this phenomenon? To answer that question, many George specialists have pointed towards Plato and his Academy, and I will be doing the same here. However, in order to understand its relevance to George, I believe it is important to contextualize Platonism in a specific way: one that highlights the traditional status of Platonism as paganism rather than its well-known status as a model of rational philosophy through Socratic dialogue. To explain the importance of this point to understanding and

16 Karlauf, Stefan George (note 6), p. 359. 17 Marsilio Ficino: De amore II.9. Translation according to Marsilio Ficino. Commentary on Plato’s Symposium on Love. Ed. and transl. by Sears Jayne, Woodstock 1985, p. 58.

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contextualizing Stefan George’s circle, I must now make a short excursus about Platonism as paganism.¹⁸ When the history of philosophy institutionalized itself as an academic discipline in the wake of the Enlightenment, it did so by dismissing large parts of the history of Western thought as false ‘pseudo-philosophy’. With respect to the history of Platonism, this implied two moves that are intimately related but must be distinguished for analytical purposes. Firstly, it was imperative for postEnlightenment academics to distinguish very clearly between Plato’s own philosophy and the interpretations of later generations, the so-called ‘Middle Platonists’ and the ‘Neo-Platonists’. Roughly before Schleiermacher, scholars tended to read Plato through the lenses of such middle- and neoplatonic concepts, resulting in all kinds of anachronistic misinterpretations.¹⁹ Secondly, having cleaned Plato from such later middle- and neoplatonic accretions, historians of philosophy presented his dialogues as an essentially rational project, without any ‘mystical’ or ‘irrational’ elements. Now, this first move was quite correct and legitimate, and has become an indispensable foundation for modern research. The second move, however, was not so convincing: even apart from Plato’s famous ‘seventh letter’, the authorship of which has long been contested, the famous treatises on love – the ‘Phaedrus’ and the ‘Symposium’ – can hardly be seen as rational discussions based on Socratic dialogue. On the contrary, they cast Socrates in the role of an inebriated and divinely inspired seer, who does not engage in discussion very much, but mostly delivers monologues on eros in a state of mania and whose most impressive and memorable statements are made in mythical and symbolical rather than discursive language. In both dialogues, and particularly in the ‘Phaedrus’, Plato is presented not just as a philosopher, but as a wisdom teacher: he discourses about the Good, the Beautiful, and the True from a position ex cathedra, presumably because he has had first-hand experience of these ultimate realities. This religious dimension of Platonism has tended to be marginalized roughly since Schleiermacher; and moreover, the many religious or spiritual interpretations of Plato by middle- and neoplatonic authors have been equally marginalized, rationalized, or treated as sources of embarrassment by modern historians of philosophy. This is unfortunate, for even if a middle- or neoplatonic philosopher misinterprets Plato or adds new ideas of his own, these new perspectives still should be studied and taken ser-

18 For a much longer discussion I must refer to author, Esotericism and the Academy (note 12), chapters 1 and 2. 19 E. N. Tigerstedt: The Decline and Fall of the Neoplatonic Interpretation of Plato. An Outline and Some Observations. In: Commentationes Humanarum Litterarum 52, 1974, pp. 1–108.

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iously in their own right. The truth is that, as a historical phenomenon, Platonism has always had a strong religious dimension next to its obvious philosophical content. This fact was perfectly understood by the early so-called ‘Apologetic Fathers’ of the church (notably Justin Martyr, Clement of Alexandria, Origen, or Eusebius of Caesarea). They adhered to a perspective that has been referred to as ‘Platonic Orientalism’,²⁰ which means that not only did they believe that Plato had been a teacher of religious wisdom but, furthermore, that he had derived that wisdom from the ancient ‘oriental’ peoples and their divinely inspired teachers. The most important names in that regard were Hermes Trismegistus among the Egyptians, Zoroaster among the Persians, and Moses among the Hebrews. By claiming that Christianity had its ultimate origin in Mosaic wisdom, the ‘Apologetic Fathers’ could defend themselves against pagan philosophers who argued that the gospel was a new religion of rebellious upstarts without the historical depth and authority conferred by ancient tradition.²¹ The argument was that true, divinely inspired wisdom could be found not only in the Old and New Testament, but potentially in the writings of the ‘pagan philosophers’ as well, including the Hermetic and Platonic textual corpora. Now this Christian-apologetic perspective, with its inclusivist attitude towards pagan wisdom traditions, experienced a sensational revival in the 15th century, when all the primary sources relevant to Platonic Orientalism (Plato’s complete dialogues, the ‘Corpus Hermeticum’ attributed to Hermes Trismegistus, but also the ‘Chaldaean Oracles’, incorrectly attributed to Zoroaster by Gemistos Plethon and many later authors) were brought from Byzantium to Italy in order to preserve them from the advancing Ottoman armies. The central figure in this Platonic Orientalist revival was the Florentine thinker Marsilio Ficino, who translated almost all of these sources into Latin; and with this, as will be seen, we have reached the strongest historical precedent for the ‘George-Kreis’ as a form of ‘neo-pagan’ religion. Of course, it was not in Ficino’s interest to highlight the ‘pagan’ nature of Platonism. His argument was that Plato and a whole range of other gentile philosophers had been inspired by God himself, either directly through the divine Logos, or indirectly through chains of transmission originating in a primal divine

20 This usage of the term is independent of the famous work of Edward Said [Orientalism, 1978]. The concept of ‘Platonic Orientalism’ was introduced by John Walbridge: The Wisdom of the Mystic East. Suhrwardi and Platonic Orientalism, Albany 2001; cf. author, Esotericism and the Academy (note 12), pp. 12–17 and passim. 21 For the details, see author, Esotericism and the Academy (note 12), pp. 17–28.

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revelation to Moses, Zoroaster, or Hermes. Since the true God was by definition the God of the Christians, this meant that essentially ‘Christian’ doctrines had been revealed already to the pagans. I see no reason to doubt the sincerity of Ficino’s profession of Christian faith, but if one probes a bit beneath the surface of his ‘Platonic Theology’,²² it is clear that he was reading the nature of Christian theology entirely through Platonic (and Plotinian) lenses, and even had no problem with claiming that the entire tradition of true wisdom derived not from Moses – as had been held by the Christian apologists – but from a seer as unambiguously ‘pagan’ as Zoroaster, the leader of the Persian fire priests and the supposed inventor of magic.²³ Marsilio Ficino worked in Florence under the patronage of Cosimo de’ Medici, and eventually surrounded himself by a circle of devoted Christian Platonists. Although Ficino’s so-called ‘Platonic Academy of Florence’ is a predominantly fictional phenomenon,²⁴ there is no doubt that as Ficino got older, he became surrounded by a retinue of younger humanists who looked up to him as the uncontested authority in all matters Platonic. This Florentine circle around Ficino provides us with an extremely interesting parallel and antecedent for the ‘George-Kreis’. Of crucial importance in that regard is the role of poetry in Ficino’s worldview. He was taking his cue from Plato’s ‘Phaedrus’, which (as already noted above) contains a famous discussion of four forms of mania: four distinct types of exalted or ecstatic consciousness, conventionally referred to as ‘frenzies’ or ‘madnesses’. In his crucial treatise ‘De amore’, modeled after Plato’s ‘Symposium’ and finished in July 1469, Ficino described a kind of “therapy of the soul”²⁵ that begins with the first mania: Plato’s poetic frenzy, inseparable in Ficino’s case of the frenzy induced by harmonious music. By means of poetry and music, the higher part of the soul is wakened from its torpor, and its lower part is moved from a state of discord and dissonance towards a state of concord and harmony. This first step – the awakening of the soul by means of poetry – is the essential and indispensable foundation for the rest of the process. Once awa-

22 The term comes from Ficino himself: Marsilio Ficino: Platonic Theology. Ed. and transl. by Michael J. B. Allen and James Hankins, 6 vols., Cambridge/Mass. – London 2001–2006. 23 On this important point, see author, Esotericism and the Academy (note 12), pp. 41–53. 24 James Hankins: Cosimo de’ Medici and the ‘Platonic Academy’. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 53, 1990, pp. 144–162; id.: The Myth of the Platonic Academy of Florence. In: Renaissance Quarterly 44/3, 1991, pp. 429–475. 25 Author: The Platonic Frenzies in Marsilio Ficino. In: Jitse Dijkstra/Justin Kroesen/Yme Kuiper (eds.): Myths, Martyrs, and Modernity. Studies in the History of Religions in Honour of Jan N. Bremmer, Leiden – Boston 2010, pp. 553–567, here p. 559–563.

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kened, the soul must focus all its energies into one and the same direction by means of sacred ritual practices (associated with the second, ‘telestic’ frenzy); once properly directed, the soul must regain its essential unity by means of the third, ‘prophetic’ frenzy, which allows it to see future events; and finally, the unified soul must re-unite with its eternal, immortal, divine archetype. This happens through the fourth and highest of the frenzies, that of love (eros), defined as the soul’s ‘desire for beauty’: a desire that is first evoked by looking at beautiful bodies, but that will ultimately be satisfied only by the perfect beauty of the immortal ideas in the divine mind itself. This Ficinian model of ‘soul therapy’, grounded in a creative re-interpretation of Plato’s treatises on love, appears to be a remarkably close model for what George was trying to accomplish in his own circle. Poetry was, of course, the crucial and indispensable means of initiation into the circle, but at its inner core there was the mystery of love between the ‘Meister’ and his disciples, and I will return to this below. If poetry stands for the initiation into George’s cult, and the mysteries of eros dominate its final culmination, the two other frenzies are clearly central to it as well: in the form of ritual acts that produced an atmosphere of sacrality and spiritual exaltation, and, finally, the attainment of inspired seership as exemplified most prominently by ‘der Meister’ himself. In short, George seems to have re-created or re-invented a basic model of Platonic spirituality grounded in the ‘Phaedrus’ and exemplified by Ficino’s circle in 15th-century Florence. These parallels become even more compelling when we realize that Ficino’s circle, too, was an all-male ‘inner church’ of the spirit grounded explicitly in the homo-erotic model of Socratic love. In a remarkable testimony to intellectual prudishness and implicit ‘idealization’, generations of Ficino scholars have either overlooked or turned a blind eye to the fact that the great Florentine philosopher was obviously inclined towards male-male love, that his famous treatise ‘De Amore’ made no attempt to ‘heterosexualize’ Plato (as customary at the time) but explicitly extolled the virtues of ‘Socratic Love’ between men, and finally, that it was written in a deliberate attempt on Ficino’s part to ‘process’ his own overwhelming infatuation with one of the young humanists in his retinue, Giovanni Cavalcanti.²⁶ Unlike George in his relation to his pupils, Marsilio Ficino felt obliged to suppress and sublimate his strong sexual attraction to

26 For the full story, see author: Under the Mantle of Love. The Mystical Eroticisms of Marsilio Ficino and Giordano Bruno. In: Author/Jeffrey J. Kripal (eds.): Hidden Intercourse. Eros and Sexuality in the History of Western Esotericism, Boston – Köln 2008 – New York 2011, pp. 175–207, esp. p. 184–194.

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Cavalcanti – as documented by several tormented passages in ‘De Amore’ – but otherwise the impact of Cavalcanti on Ficino seems almost identical to the impact that Maximilian Kronberger had on George. Consider these sentences from Ficino’s dedication of his work to what he calls “his unique friend” Cavalcanti: […] that this god Love possessed such power was concealed from me for thirty-four years. Then a hero, a man who was already divine, looked favorably upon me with his heavenly eyes, with a wonderful bending of his head towards me, he showed me the extent of love’s power.²⁷

Ficino is, of course, speaking about Cavalcanti here. And the divine rays that shoot from the eyes of the divine boy – they are not killing his enemies, as in George’s poem ‘Der Kampf’, but certainly put a powerful spell on the lover – are actually analyzed in detail in chapter VII of ‘De Amore’, in terms of early modern theories of the imagination. If Ficino’s Platonic circle in Renaissance Florence was a close historical precedent for George’s circle, we are left with a question of a more theoretical nature: in what sense, or to what extent, can we refer to these two phenomena as instances of ‘pagan religion’? What makes this question difficult to answer is the fact that ‘paganism’ as a category of otherness counts among the most neglected topics in the study of Western religion. Scholars of religion have spent rivers of ink on theoretical concepts such as ‘magic’, ‘myth’, or ‘mysticism’; but underneath these theoretical referents, I would argue, the category of ‘paganism’ has always been lurking as the implicit, common, but usually unnamed and certainly under-theoretized ‘other’ of established Western identities.²⁸ In cases such as the explicit ‘Neuheidentum’ of the ‘Cosmic Circle’ in Munich, or (for that matter) phenomena such as the popular ‘neopaganism’ that emerged since the 1960s from Gerald Gardner’s new witchcraft or ‘Wicca’,²⁹ we are dealing with movements of rebellious opposition that embrace ‘pagan’ values in a deliberate rejection of mainstream, bourgeois Christian as well as Enlightenment values. But if we wish to understand the cultural relevance of ‘paganism’ on a deeper level, we must recognize that this familiar story of opposition and mutual rejec-

27 Ficino: Dedication of ‘De amore’ to Giovanni Cavalcanti. Facsimile in Marsilio Ficino: Commentaire sur le Banquet de Platon (transl. and ed. by Raymond Marcel), Paris 1956, p. 135. English translation: Author, Under the Mantle of Love (note 26), p. 187. 28 Author, Esotericism and the Academy (note 12), pp. 369–371 and passim. 29 Ronald Hutton: The Triumph of the Moon. A History of Modern Pagan Witchcraft, Oxford 1999.

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tion is only one side of the coin: in very important respects, paganism has been an integral part of Western culture since the first centuries of our era. Of course it is true that as an independent cultic practice, popularly associated with idolatry, it could hardly survive under Christian conditions. However, a variety of intellectual traditions that were officially ‘philosophical’ but implicitly religious were assimilated from pagan Hellenistic culture into Christian doctrine since the first centuries – mostly in the form of Platonism. It was only after the enormous revival of such pagan philosophies in the Renaissance – when all the relevant texts became available, first in their original languages and then in Latin, and were circulated on an unprecedented scale thanks to the invention of printing – that theological hardliners began to perceive Platonism as a threat (perhaps even the major threat) to Christian doctrine.³⁰ The results were far-reaching, as I have tried to show in my ‘Esotericism and the Academy’; but for our present purposes we need only look at the earliest stage of the Renaissance reception of paganism as Platonic philosophy. I would suggest that Ficino’s circle can be described as an original case of what might be called ‘incognito paganism’, as opposed to an explicit paganism that openly opposes its non-pagan opponent. Such explicit ‘oppositional paganism’ was still impossible in Ficino’s time, for obvious political reasons, but had become at least a theoretical option during the later 19th century. The Cosmic ‘Neuheidentum’ of Klages and Schuler is a clear example of such explicit oppositional paganism: it openly attacked the Christian and rationalist values of bourgeois culture and modern society, and set itself up as an alternative. But interestingly, George’s Platonic alternative still belongs to the incognito type exemplified so clearly by Ficino. Although George’s rejection of establishment culture and society was ultimately no less radical than that of Klages and Schuler, his spirituality resulted from a radicalization of those pagan tendencies that were already present within the mainstream. This leads us back to the quotation at the opening of this chapter, from a conversation in which George told Edith Landmann that he did not understand anything about Christianity ‘except in its pagan form’. Accordingly, in theses conversations, he spoke of the need for ‘liberating the ancient wisdom from Catholic (and dogmatic) crusts’: “Die antike Weisheit von katholischen (und dogmatischen) Krusten befreien”.³¹ Gundolf once remarked that only people

30 On the integration of ‘pagan’ philosophy in Christian culture starting with the Patristic apologists and the anti-Platonic reaction starting in the 15th and culminating in the 17th century, see author, Esotericism and the Academy (note 12), chapters 1 and 2. 31 Landmann, Gespräche (note 1), p. 144.

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with a Catholic background could understand George – “Man muss aus katholischer Atmosphäre kommen; man muss katholisch gewesen sein”³² –, and we may now conclude that if there is any truth to that statement, it has to do with the ‘incognito paganism’ inherent in Roman Catholicism rather than with anything specifically Christian. It is, of course, a commonplace of Protestant polemics that Roman Catholicism is a pagan religion at heart; and since the end of the 16th century, a whole tradition of anti-Catholic criticism had been arguing that Platonism was the essential core of this endemic paganism. Plato was the name of the pagan virus that had infected the healthy body of Christianity during the first centuries, and that had slowly but surely overtaken it during the course of the Middle Ages, finally turning the church of Christ into the church of Antichrist.³³ With only slight exaggeration, then, George’s circle may be seen as a clear case of ‘Roman Catholicism minus Christianity’. Having renounced almost all of the doctrinal content and theological baggage of Christianity, along with much of its mythology (with some exceptions, notably the mytheme of salvation by a ‘divine child’), George was left with a potent residue of Platonic paganism. This made it possible for him to create his own ‘inner church’, with himself in the role of Pontifex Maximus. Poetic frenzy, ritual sacrality, and semi-divine seership, all in the service of a religion of homo-erotic love defined as desire for ultimate beauty: just like Marsilio Ficino’s Platonic Christianity, this is what Stefan George’s religion was all about.

32 Hermann Glockner: Heidelberger Bilderbuch, Bonn 1969, p. 29; here quoted according to Karlauf, Stefan George (note 6), p. 308. 33 Author, Esotericism and the Academy (note 12), chapter 2. See for example the case of Giovanni Battista Crispo (pp. 90–93) or Mark Pattison’s apt characterization of Protestant perspectives of church history (p. 97).

Justus H. Ulbricht

Apollo lehnt geheim an Baldur. Oder: Der Dichter ruft die Götter auf Neopagane Kontexte von „Weihe[n]stefans“¹ Religiosität „wir ziehen froh: die götter ebnen uns die bahn.“ Stefan George, Der Auszug der Erstlinge

Wer in den ersten drei Dezennien des 20. Jahrhunderts zwei Jünglinge aneinanderlehnte, war nicht sonderlich originell – gleichwohl aber auf der Höhe seiner Epoche. Denn wenn es eine Blütezeit des soteriologischen Jünglings- und Jugendkultes gegeben hat, dann waren es diese Jahre der klassischen Moderne zwischen 1880 und 1930.² Damals lebten so viele junge Menschen in Deutschland wie nie zuvor; bildende Kunst und Literatur huldigten dem jugendlichen Körper und stilisierten ihn zum Gefäß mannigfaltiger, vor allem aber höchst gegensätzlicher Regenerationshoffnungen.³ Damals gingen Angehörige der sogenannten jungen Generation selbst daran, neue Formen einer jugendgemäßen Kultur – damit aber Facetten des eigenen Lebensgefühls – zu erproben. Stefan Georges Werk gehört ganz in diese Zeit, aller zeitenthobenen Pose zum Trotz; es nimmt deren kulturelle Impulse auf, verdichtet diese poetisch und entwickelt schließlich eine höchst intime Privatmythologie, zu deren Eingeweihten sich jedoch nur zählen durfte, wer bereit war, in die Kreise des ‚Meisters‘ zu treten.⁴ Die Wirkung Georges auf die gebildete Welt in den Jahrzehnten nach der Reichs1 Der Schmähname „Weihestefan“ geht auf Theodor Lessing zurück; vgl. ders.: Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen, Prag 1935, S. 243f. Franziska zu Reventlow greift den Namen auf und erweitert ihn zu „Weihenstefan“; vgl.: Jürgen Kolbe: Heller Zauber. Thomas Mann in München 1894–1933, Berlin 1987, S. 186. 2 Zahlreiche Hinweise dazu bei Birgit Dahlke: Jünglinge der Moderne. Jugendkultur und Männlichkeit in der Literatur um 1900, Köln – Weimar – Wien 2006; dort zu George und Borchardt S. 119–144. Vgl. auch Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880–1934), Köln – Weimar – Wien 2008; der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der Eros-Konzeption Hans Blühers. 3 Dazu immer noch orientierend: Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz/Frank Trommler (Hg.): „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985. 4 In der Tat handelt es sich eigentlich um mehrere, generationell unterschiedlich gelagerte Kreise. Zur Orientierung vgl. die Bemerkungen von Kai Kauffmann zum eigentlichen GeorgeKreis in: Achim Aurnhammer/Wolfgang Braungart/Stefan Breuer/Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. 1, Berlin – Boston 2012, S. 41–74; Jürgen Egyptien: Die ‚Kreise‘. In: Ebd., S. 365–407.

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gründung und vor der ‚deutschen Katastrophe‘ wird man allenfalls mit der Richard Wagners und Friedrich Nietzsches vergleichen können, deren Denken und deren Mythos wiederum in Kreisen der ‚Georginen‘ einen ästhetisch-politischen Resonanzraum gefunden hat.⁵ Dabei verliefen die Einflüsse Wagners, Nietzsches und Georges oftmals „unterirdisch“ – wie George selbst einmal bemerkt hat⁶ –, das heißt unbemerkt, indirekt oder erst durch einen späteren wissenschaftlichen Zugriff aufgedeckt. Dies sachte Eindringen Georgeʼschen Denkens in die deutsche Kultur ist inzwischen in vielen Aspekten breit erforscht worden. Dass es vielleicht dennoch etwas Neues zu entdecken gibt, möchte mein Beitrag zumindest andeuten. Dabei geht es nicht darum, George vorschnell mit dem Zeitgeist seiner Wirkungsepoche zu verrechnen, sondern vielmehr darum, einen geistes- und mentalitätsgeschichtlichen Resonanzraum des Georgeʼschen Werkes zu vermessen, in dem manch ein Jünger und viele Leser des Dichters Stimme zwar vernahmen, doch in ihrem eigenen Sinne umdeuteten und damit oftmals auch missverstanden.

I Krieger und Helden Als Stefan George 1917 während der ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‘, im Jahr des Kriegseintritts der USA, dem Ausbruch der russischen Oktoberrevolution und der Gründung der ‚Deutschen Vaterlandspartei‘, sein großes Gedicht ‚Der Krieg‘⁷ als Flugschrift in die Welt gehen ließ – eine für seine sonstige Publikationsstrategie eher ungewöhnliche Form der Einmischung –, stimmte er damit 5 Direkt aus dem Kreis der ‚Blätter für die Kunst‘ stammen die Bücher von Ernst Gundolf/Kurt Hildebrandt: Nietzsche als Richter unsrer Zeit, Breslau 1923; Kurt Hildebrandt: Wagner und Nietzsche. Ihr Kampf gegen das 19. Jahrhundert, Breslau 1924. – Die Nietzsche-Rezeption im GeorgeKreis rekonstruiert Heinz Raschel: Das Nietzsche-Bild im George-Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mythologeme, Berlin – New York 1984; dazu kritisch Frank Weber: Nietzsche und George. Anmerkungen zu einem Buch von Heinz Raschel. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 43, H. 3, 1989, S. 528–533. 6 Vallentin berichtete aus einem Gespräch mit George, dieser verstehe seine Wirkung als eine „unterirdische“; zit. n. Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des GeorgeKreises 1890–1945, Tübingen 1998, S. 455, Anm. 134. 7 Dazu Horst Nalewski: Stefan George: Der Krieg (1917). Kontext, Rezeption, Deutungsaspekte. In: Regina Fasold u. a. (Hg.): Begegnung der Zeiten. Festschrift für Helmut Richter zum 65. Geburtstag, Leipzig 1999, S. 299–310; Ralph-Rainer Wuthenow: Weltverhängnis. Stefan George, der Krieg und die Krise. In: Uwe Schneider/Andreas Schumann (Hg.): Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne, Würzburg 2000, S. 109–120; Jürgen Egyptien: Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg. In: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hg.): Stefan George. Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘, Tübingen

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nicht ein in den Chor der Intellektuellen und Dichter,⁸ die das Gemetzel an allen Fronten und die Auslöschung ganzer Jugendkohorten als „Katharsis“⁹ der Kultur, als reinigendes Stahlgewitter oder als blutig-eisernen Beginn einer neuen Zeit feierten. Auch 1914 war George nicht wie so viele vom Augustfieber dahingerafft worden, sondern hatte sich ausschließlich dichterisch, allerdings bereits im Februar 1914, mit dem ‚Stern des Bundes‘¹⁰ zu Wort gemeldet. Später hat er im inneren Kreis die Kriegseuphorie einzelner Jünger deutlich gedämpft und kritisiert. Den ursprünglichen Titel seines Gedichtbandes ‚Lieder an die heilige Schar‘ gab George übrigens schnell wieder auf. Dies vielleicht deshalb, weil zu viele andere Dichter zu ihrer Gefolgschaft ähnlich sprachen und die Worte ‚heilig‘ oder ‚Schar‘ in Texten des Expressionismus¹¹ oder den Proklamationen jugendbewegter Schriftsteller, Vordenker und Propheten¹² nahezu inflationär verwendet wurden – von der zwischen 1890 und 1914 breit entfalteten neu-religiösen Szene einmal abgesehen. Als 1928 der achte Band der Gesamtausgabe der Werke erschien, während auf dem deutschen Buchmarkt die Weltkriegs-Romane boomten, sah George sich gezwungen, in einer ‚Vorrede‘ das „missverständnis“ aufzuklären, „der dichter habe statt der entrückenden ferne sich auf das vordergründige geschehen eingelassen ja ein brevier fast volksgültiger art schaffen wollen … besonders für die jugend auf den Kampf-feldern.“¹³ Diese Korrektur schien nötig nicht allein wegen der frisch erblühenden Weltkriegs-Erinnerungskultur, sondern auch deshalb, weil die junge Generation des gebildeten Bürgertums, die den Schützengräben halbwegs unversehrt entkommen war, den ‚Stern‘ tatsächlich als „brevier“ lasen und die auf Maximin sowie den Dichterkreis verweisenden Texte allzu schnell 2001, S. 197–212; Klaus Siblewski: „Diesmal winkt sicher das Friedensreich“. Über Stefan Georges Gedicht ‚Der Krieg‘. In: Text & Kritik 168, 2005, S. 19–34. 8 Vgl. als problematisierenden Überblick Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000. 9 Helmut Fries: Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter. 2 Bde., Konstanz 1994f. 10 Dazu Kai Kauffmann: Der Stern des Bundes (SW VIII). In: Stefan George und sein Kreis (Anm. 4), Bd. 1, S. 191–203. 11 Vgl. Hermann Korte: Heilige Scharen. Das Prozessionsmotiv im literarischen Expressionismus. In: Sprachkunst 15, 1. Halbbd., 1984, S. 31–49. 12 Berühmt wurde Georg Stammler: Worte an eine Schar, Heidelberg 1914 (2., erw. Aufl. 1919). Zu Stammler vgl. Verf.: Bücher für die ‚Kinder der neuen Zeit‘. Ansätze zur Verlagsgeschichte der deutschen Jugendbewegung. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 17, 1988–1992, S. 77–140, insbes. S. 132–139. 13 Vorrede. In: Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. VIII, [unpag.]. Im Folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert.

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auf sich selbst bezogen hatten. Unterstützt wurden derartige Deutungen in den 1920er Jahren allerdings von bestimmten Kommentaren einzelner Jünger zu Georges Werk, die diesen in den Kontext der ‚Deutschen Bewegung‘ einordneten und an konservativ-revolutionäre Diskurse der Zeit anschlussfähig machten.¹⁴ In der ‚Bündischen Jugend‘ war George Kult (wenn auch nicht überall),¹⁵ neureligiöse Gruppierungen beriefen sich zum Teil ebenfalls auf ihn – Gründe genug für den Dichter, sich gegen falsche Vereinnahmungen zu wehren, zumal er persönlich zu den neuen sozialen Bewegungen¹⁶ jener Jahre absichtsvolle Distanz hielt. Diese selbst aber verkürzten den Abstand durch die selektive Rezeption Georgeʼscher Texte und Botschaften. Die „strukturelle Misogynie“¹⁷ seines ‚Reichsentwurfs‘ dürfte gerade männerbündisch orientierte, jungenschaftlich organisierte Gruppen angezogen haben;¹⁸ ebenso wie die Kunde vom ‚Reich‘, einer neuen geistigen Elite, die eros-getönten pädagogischen Konzepte und das Pathos des Aufbruchs in eine neue Welt, die die alte in Trümmern gehen ließ. „Seine Hauptwirkung hat George zweifellos in der jungen Frontgeneration gehabt“, urteilte 1932, als sich Kreise und ‚Meister‘ in politicis zerstritten hatten und zu sondern begannen, Ernst Günther Gründel im seinerzeit berühmten Buch ‚Die Sendung der Jungen Generation‘.¹⁹ Doch schränkte er kurz zuvor sein Urteil selbst ein: „Denn selbst eine in den 14 Vgl. Kolk, Literarische Gruppenbildung (Anm. 6), S. 457f. Zur politischen Rezeption Georges vgl. den konzisen Überblick von Stefan Breuer: Politische Rezeption. In: Stefan George und sein Kreis (Anm. 4), Bd. 2, S. 1176–1225. 15 Erforscht wurde bisher die Rezeption Georges im ‚Bund Deutscher Neupfadfinder‘. Vgl. dazu Verf.: Ein ‚Weisser Ritter‘ im Kampf um das Buch. Die Verlagsunternehmen von Franz Ludwig Habbel und der Bund Deutscher Neupfadfinder. In: Walter Schmitz/Herbert Schneidler (Hg.): Expressionismus in Regensburg. Texte und Studien, Regensburg 1991, S. 149–174; vgl. auch Kolk, Literarische Gruppenbildung (Anm. 6), S. 441–449; zur jugendbewegten George-Rezeption vgl. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln – Weimar – Wien 1997, S. 334–369. – Neuere Hinweise zur spannungsreichen Beziehung zwischen George und der bürgerlichen Jugendbewegung bei Verf.: Jugend mit George – Alfred Kurellas Ideen von 1918. Versuch einer Kontextualisierung. In: George-Jahrbuch 9, 2012/2013, S. 219–241. 16 Die Kategorie der ‚neuen sozialen Bewegungen‘ entstammt eigentlich den 1970er Jahren. Doch lassen sich die dort getroffenen Beobachten zur Genese und Struktur alternativer Strömungen innerhalb der alt-bundesrepublikanischen Gesellschaft durchaus auch auf die bildungsbürgerlichen Reformbewegungen der klassischen Moderne übertragen. 17 Vgl. Jan Andres: „frauen fremder ordnung“. Thesen zur strukturellen Misogynie des GeorgeKreises. In: Ute Oelmann/Ulrich Raulff (Hg.): Frauen um Stefan George, Göttingen 2010, S. 37–57. 18 Hier ist an die ‚Jungmannschaft Königsbühl‘ des Joachim Boeckh zu erinnern und an das ‚Graue Corps‘ von Alfred ‚Fred‘ Schmidt. Zu beiden, en detail allerdings bisher nicht erforschten jungenschaftlichen Bünden, existieren knappe Hinweise in Breuers Artikel zur ‚Politischen Rezeption‘ Georges; vgl. Stefan George und sein Kreis (Anm. 4), Bd. 2, S. 1202–1204. 19 Ernst Günther Gründel: Die Sendung der jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, München 1932, S. 99.

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gemeinsamen Grundlagen so einheitliche Generation wie die unsere umfasst immer noch tausend Varianten und zahlreiche Gegensätze, von der Sport- und Benzinbegeisterung bis zum Georgekreis.“²⁰

II Götter und Dichter Ob man also Rudolf Caracciolas Mercedesstern folgte oder dem ‚Stern des Bundes‘, lag folglich im eigenen Ermessen junger Menschen, denen George mit seinem Gedicht ‚Der Krieg‘ eindeutige Weisung zu geben versucht hatte. Die letzte Strophe dieses Poems beginnt mit einer Zeile, der man eigentlich sofort widersprechen müsste. Die jugend ruft die Götter auf . . Erstandne Wie Ewige nach des Tages fülle . . Lenker Im sturmgewölk gibt Dem des heitren himmels Das zepter und verschiebt den Längsten Winter. Der an dem Baum des Heiles hing warf ab Die blässe blasser seelen · dem Zerstückten Im glut-rausch gleich . . Apollo lehnt geheim An Baldur: ‚Eine weile währt noch nacht · Doch diesmal kommt von Osten nicht das licht.‘ Der kampf entschied sich schon auf sternen: Sieger Bleibt wer das schutzbild birgt in seinen marken Und Herr der zukunft wer sich wandeln kann.²¹

Es war jedoch in den seltensten Fällen die Jugend selbst, die die Götter aufrief, sondern Angehörige der erwachsenen bildungsbürgerlichen Generationen dienten ihrem Nachwuchs bestimmte Heiligengestalten oder Götter an, in der Hoffnung, diese wären dann – wie man kreisintern gesagt hätte – eine taugliche „richte“ in den Fährnissen der Moderne.²² 20 Ebd., S. 96. 21 SW IX (Anm. 13), S. 26; zur Interpretation gerade dieser letzten Strophe vgl. Julia Zernack: „Apollo lehnt geheim an Baldur“. Zu einer interpretatio graeca bei Stefan George. In: Klaus von See/Dies. (Hg.): Þú ert vísust kvenna. Beatrice La Farge zum 60. Geburtstag, Heidelberg 2007, S. 65–83; dies.: Nordische Mythen in der deutschen Literatur. Eddaspuren bei Stefan George und Karl Wolfskehl. In: Annette Simonis (Hg.): Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien, Bielefeld 2009, S. 19–41. 22 Nicht zuletzt George selbst wurde in kreiseigenen Publikationen immer wieder als Vorbild und Leitfigur empfohlen; dabei tat sich vor allem Friedrich Gundolf hervor. Vgl. Friedrich Gundolf: Das Bild Georges. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung, Berlin 1910, S. 19–48; ders.: Vorbilder. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung, Berlin 1912, S. 1–20; ders.: Stefan George in

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Die neuen Sinnstifter in der Moderne, seien es nun Poeten, Ideologen oder beides, verfuhren dabei im Umgang mit der Tradition und manch fremden Texten so, wie es Nietzsche einmal formuliert hat: „Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das Übrige und lästern auf das Ganze.“²³ Bei George, der wahrhaftig kein schlechter Leser war, klingt dies vornehmer, denn dort heißt es über den ‚Dichter in Zeiten der Wirren‘: „er holt aus büchern/Der ahnen die verheissung die nicht trügt“.²⁴ Georges oben zitierte Beschwörung, „Doch diesmal kommt von Osten nicht das licht“,²⁵ erstaunt, denn Athen (Apoll) und Kleinasien (Dionysos) liegen östlich von Bingen und München. Und ebenso verwundert es, dass die abendländisch-christliche Variante des Erlösers, der, ebenso wie Odin, auch „an dem Baum des Heiles hing“, zwar aufgerufen, dann aber mit dem apodiktischen ‚ex oriente non lux‘ gleich wieder entwertet wird. Somit ist Christus in auffälliger Weise präsent und doch abwesend. Hölderlinisch gesprochen: „Nah ist und schwer zu fassen der Gott.“²⁶ Welche Götter George gemeinsam aufruft, klärt ein Blick in den Text und die Forschung: Dionysos und Christus, Odin und Apoll, schließlich noch Baldur²⁷ – eine in Kunst und Kultur der Epoche freilich nicht allzu prominente Figur aus dem germanischen Götterhimmel. Beim wohl wirkmächtigsten Verwerter skandinavischer Mythenbestände, bei Wagner, spielt der jugendliche Lichtgott so gut wie keine Rolle. Die kurzzeitig beachtete Oper ‚Der Fremdling‘ aus der Feder Heinrich Vogls, einer der berühmtesten Wagner-Sänger seiner Zeit, wurde zwar am 7. Mai 1899 im Münchner Hoftheater aufgeführt, ist aber nur Spezialisten bekannt und

unserer Zeit (1913). In: ders.: Dichter und Helden, Heidelberg 1923, S. 59–78; ders.: Dichter und Helden (1912). In: Ebd., S. 23–58. 23 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II. Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 137. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988. Bd. 2, S. 436. 24 SW IX (Anm. 13), S. 28–30, hier S. 29f. 25 Auch diese Denkfigur hat eine Geschichte: Vgl. Ingo Wiwjorra: „Ex oriente lux“ – Ex septentrione lux“. Über den Widerstreit zweier Identitätsmythen. In: Achim Leube/Morton Hegewich (Hg.): Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933–1945, Heidelberg 2002, S. 73–106. 26 Mit diesen Worten beginnt die berühmte Hymne ‚Patmos‘; vgl. Friedrich Hölderlin: Patmos. Dem Landgrafen von Homburg. In: Ders.: Werke und Briefe. Hg. von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt. Frankfurt a. M. 1969. Bd. 1, S. 176–183, hier S. 176. 27 Dazu ausführlich Zernack (Anm. 21). Zum gesamten Gedicht vgl. Barbara Beßlich: Vates in Vastitate. Poetologie, Prophetie und Politik in Stefan Georges ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘. In: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen, Köln – Weimar – Wien 2003, S. 198–219.

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hat daher seinen Titel erfüllt. Weitgehend unbemerkt blieb auch Cyril Kistlers Werk ‚Baldurs Tod‘.²⁸ Zu etwas mehr Ruhm brachte es das Weihespiel ‚Baldur‘ des völkisch-religiösen Malers und Schriftstellers Ludwig Fahrenkrog, dessen zeitgenössischer Ruhm jedoch auf seinen untypischen, weil bartlosen Christus-Darstellungen beruhte.²⁹ Das Stück ‚Baldur‘³⁰ wurde 1912 im ‚Harzer Bergtheater‘, einem als ‚völkische Weihebühne‘ gegründeten Naturtheater, uraufgeführt.³¹ Bei der szenischen Umsetzung war Ernst Wachler, ein völkischer Schriftsteller und der Gründer der Freilichtbühne, federführend beteiligt. Er gehörte zur völkisch-religiösen ‚Gesellschaft Wodan‘ (1911) und zur ‚Deutschreligiösen Gemeinschaft‘ des Volksschullehrers Wilhelm Schwaner.³² Wachler und Fahrenkrog zählten zu den einflussreichen Theoretikern des wilhelminischen Neuheidentums, dessen religiöse Ideen beide in zahlreichen ‚Weihedichtungen‘ zur Anschauung brachten.³³ Ein überschaubarer Resonanzraum solcher Religionskonzepte waren einzelne völkisch-religiöse Jugendbünde der spätwilhelminischen und Weimarer Zeit.³⁴ 28 Zu dieser Form der Baldur-Rezeption vgl. Barbara Eichner: Romantischer Held und deutscher Lichtgott. Baldur auf der Opernbühne des Fin de siècle. In: Katja Schulz (Hg.): Eddische Götter und Helden. Milieus und Medien ihrer Rezeption, Heidelberg 2011, S. 313–334. 29 Zu den Bildwelten des Malers Ludwig Fahrenkrog vgl. Marina Schuster/Verf.: ‚Baldur‘ und andere. Oder: ‚Krieger im Heere des Lichts‘. Bildwelten des sakralen Nationalismus. In: Wolfgang Braungart (Hg.): Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen, Tübingen 2002, S. 137–167. – Fahrenkrog gründete 1912 eine seinerzeit bekannte neuheidnische Religionsgruppe, die ‚Germanische Glaubens-Gemeinschaft‘, die heute in anderer Form wieder existiert. Zur alten GGG vgl. die Darstellung von Daniel Junker: Gott in uns! Die Germanische GlaubensGemeinschaft. Ein Beitrag zur Geschichte völkischer Religiosität in der Weimarer Republik, Hamburg 2002. 30 Zum Kontext solcher Dichtung vgl. Verf.: „Veni creator spiritus“ oder: „Wann kehrt Bald[u]r heim?“ Deutsche Wiedergeburt als völkisch-religiöses Projekt. In: Richard Faber (Hg.): Politische Religion – religiöse Politik, Würzburg 1997, S. 161–172. 31 Zur ‚völkischen Weihebühne‘ in Thale/Harz vgl. Uwe Puschner: Deutsche Reformbühne und völkische Kultstätte. Ernst Wachler und das Harzer Bergtheater. In: Uwe Puschner/Walter Schmitz/Verf. (Hg.): Handbuch zur ‚Völkischen Bewegung‘ 1871–1918, München u. a. 1996, S. 762–796. Zum Kontext solcher Theatergründungen vgl. Verf.: Die Geburt der Deutschen aus dem Geist der Tragödie. Weimar als Ort und Ausgangspunkt nationalpädagogischer Theaterprojekte. In: Hans Wilderotter/Michael Dorrmann (Hg.): Wege nach Weimar. Auf der Suche nach der Einheit von Kunst und Politik, Berlin 1999, S. 127–142. 32 Hinweise zu Schwaner und dessen ‚Volkserzieher‘-Bewegung bei Verf.: Völkische Erwachsenenbildung. Intentionen, Programme und Institutionen zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik. In: Handbuch zur ‚Völkischen Bewegung‘ (Anm. 31), S. 252–276, insbes. S. 257–262. 33 Neben den bereits erwähnten Arbeiten von Puschner und Verf. vgl. Sven Neufert: „Aus dunklen Tiefen empor zu lichten Höhen“. Die Edda-Rezeption in der völkischen Theater- und Festkultur. In: Schulz, Eddische Götter und Helden (Anm. 28), S. 267–289. 34 Vgl. Winfried Mogge: „Wir lieben Balder, den Lichten…“. Völkisch-religiöse Jugendbünde vom Wilhelminismus zum ‚Dritten Reich‘. In: Uwe Puschner/Clemens Vollnhals (Hg.): Die völ-

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Auch in der Wahl Baldurs also blieb George ein Besonderer und bediente nicht des Publikums Verehrung dreier anderer Erlösergestalten des ‚Fin de Siècle‘: Zarathustra, Parzival und Siegfried.³⁵ Die beiden letzteren tauchen im weltanschaulichen Schrifttum der wilhelminischen Zeit manchmal als Verschmelzungsfigur auf; auch Siegfried und Baldur konnten die gleiche Gestalt annehmen.³⁶ An Georges Geburt der Götter im Medium der Poesie³⁷ fällt mithin ins Auge, wer fehlt. Die drei populärsten Erlöser- und Retter-Figuren (Zarathustra, Parzival, Siegfried) hätten ‚zeitgeistig‘ nahe gelegen – und tauchen vielleicht gerade deshalb bei ihm nicht auf.

III Germanen und Griechen Bleiben wir bei ‚Baldur‘, ohne all das zu wiederholen, was Julia Zernack im Blick auf Georges und Wolfskehls Adaption ‚nordischer‘, angeblich ‚germanischer‘ Mythologie bisher analysiert hat.³⁸ Klar ist, dass George und dessen Jünger, auf die bekanntlich „ein strahl von hellas“³⁹ fiel und denen das Bekenntnis „hellas ewig unsre liebe“ zum Lebensmotto geworden war, eher selten in diejenigen geistigen Gefilde aufbrachen, in denen sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine stetig wachsende Schar deutscher Gebildeter tummelte, um irgendwo hinter Nor-

kisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012, S. 45–64. 35 Seit Ende des 18. Jahrhunderts das ‚Nibelungenlied‘ wiederentdeckt und als ‚deutsche Ilias‘ gefeiert worden war, gehörte der Held Siegfried ins Mythenrepertoire der Deutschen. Befördert wurde deren Siegfried-Fieber nicht zuletzt durch Wagner und die Wagnerianer. Zu diesem Mythen-Komplex vgl. Herfried Münkler/Wolfgang Storch: Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos, Berlin 1988; Herfried Münkler: Verrat, Heldenmut und Opfergang. Die Nibelungen als Fluch und Schicksal. In: Ders.: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 69–107; Udo Bermbach: Siegfried und der Bayreuther Gedanke. Zur Rezeption eines Wagner-Helden. In: Ders.: Richard Wagner in Deutschland. Rezeption – Verfälschungen, Stuttgart – Weimar 2011, S. 327–367. 36 Vgl. etwa die Aussage „In den Besten, im Allerbesten unseres Volkes lebt Balder-Sigfrid auch heute noch…“. In: Die Nordungen, Folge 1/2. In: Neues Leben. Monatsschrift für deutsche Wiedergeburt 1/2, 1924. 37 Vgl. Ernst Osterkamp: Der Gott des Neuen Reiches. ‚An die Kinder des Meeres‘. In: Ders.: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010, S. 181–244; vgl. dort etwa S. 190 die öfter variierte Einsicht Osterkamps: „Georges Götter sind ausschließlich Geschöpfe der Dichtkuns[t]…“. 38 Vgl. die Arbeiten von Julia Zernack (Anm. 21). 39 Stefan Rebenich: „Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel“. Platon im George-Kreis. In: George-Jahrbuch 7, 2008/2009, S. 115–141.

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wegen, bei Island,⁴⁰ Grönland, in ‚Thule‘ oder gar ‚Atlantis‘⁴¹ die ‚arische Urheimat‘, also ihre kulturelle Identität als Völkische, zu finden.⁴² Nimmt man die religiöse Szene Schwabings einmal aus, in der sich auch Völkische mit ihren Ideen tummelten, so hatte George vor 1914 keinen direkten Kontakt zur sich formierenden völkischen Subkultur, der auch die legendären ‚Kosmiker‘ nicht in allen Aspekten ihrer Weltanschauung zuzurechnen sind.⁴³ Auch nach 1918 sind die Berührungen zwischen George und den „deutschvölkischen Wanderscholaren“ – wie der ehemalige ‚Wahnmochinger‘⁴⁴ Adolf Hitler zu sagen pflegte⁴⁵ – sehr punktuell. In deren Diskurse hat sich George selbst 40 Vgl. das Kapitel ‚Der deutsche Islandmythos‘ in: Julia Zernack: Geschichten aus Thule. Islendingasögur in Übersetzungen deutscher Germanisten. Berlin 1994, insbes. S. 11–96. 41 Vgl. Klaus von See: Nordglaube und Atlantis-Sehnsucht. In: Ders.: Ideologie und Philologie. Aufsätze zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Heidelberg 2006, S. 91–117. – Die wichtigste und bekannteste bauliche Realisierung des Atlantis-Mythos existierte einst in Bremens Böttcherstraße: Vgl. Arn Strohmeyer: Der gebaute Mythos. Das Haus Atlantis in der Bremer Böttcherstraße. Ein deutsches Mißverständnis, Bremen 1993; ders.: Parsifal in Bremen. Richard Wagner, Ludwig Roselius und die Böttcherstraße, Weimar 2002; ders.: Kunst im Zeichen der germanischen Vorfahren und der Wiedergeburt Deutschlands. Ludwig Roselius und Bernhard Hoetger. In: Ders./Kai Artinger/Ferdinand Krogmann (Hg.): Landschaft, Licht und niederdeutscher Mythos. Die Worpsweder Kunst und der Nationalsozialismus, Weimar 2000, S. 43–110. Diese Studien verdeutlichen die enge Beziehung zwischen dem ‚Bayreuther Gedanken‘ und völkischen Ideologemen. 42 Vgl. Verf.: „…in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit…“. Aspekte einer Problemgeschichte ‚arteigener‘ Religion um 1900. In: Stefanie von Schnurbein/Verf. (Hg.): Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe ‚arteigener‘ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 9–39; Julia Zernack: Germanische Altertumskunde, Skandinavistik und völkische Religiosität. In: Ebd., S. 227–253; dies.: Germanische Restauration und Eddafrömmigkeit. In: Politische Religion (Anm. 30), S. 143–160. 43 Neben der Arbeit Richard Fabers ‚Männerrunde mit Gräfin‘ (s. u. Anm. 46) ist für das Verständnis der ‚Kosmischen Runde‘ maßgeblich Georg Dörr: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule, Würzburg 2007, insbes. S. 185–345; vgl. auch Tobias Schneider: Stefan George und der Kreis der Kosmiker. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 44, 2000, S. 154–176; vgl. schließlich die Einleitung in Baal Müller (Hg., kommentiert und eingeleitet): Alfred Schuler: Gesammelte Werke, München 2007, S. 9–68. 44 Die Prägung ‚Wahnmoching‘ für Schwabing stammt von Franziska zu Reventlow. Zur Erinnerung an (und kulturkritischen Abrechnung mit) Schwabing vgl. das Kapitel ‚Wahnmoching‘ in: Georg Fuchs: Sturm und Drang in München um die Jahrhundertwende, München 1936, S. 100–108. Der damalige NS-Sympathisant Fuchs gehörte um 1900 zur Bohème, hatte Kontakt zu Wolfskehl (seinem ehemaligen Darmstädter Schulkameraden) und auch zu George. Er war für zwei Jahrzehnte eine wichtige Figur des Münchner Kulturlebens. Vgl. die biographische Skizze von Rebekka Peters in: Stefan George und sein Kreis (Anm. 4), Bd. 3, S. 1370–1372 und Brigitte Ruhwinkel: Georg Fuchs. Theater als völkischer Ritus. In: Handbuch zur ‚Völkischen Bewegung‘ (Anm. 31), S. 747–761. 45 Vgl. die Abrechnung mit den ‚deutschvölkischen Wanderscholaren‘ und die ‚Ablehnung des Wortes „völkisch“‘ in Adolf Hitler: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausgabe

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allerdings mit seiner Sentenz „Apollo lehnt geheim/An Baldur“ und der apodiktisch verkündeten Botschaft, dass der „Osten“ diesmal kein lichtspendender Kulturraum sei, unfreiwillig eingeschrieben. Damit wurde sein Denken und dessen poetischer Ausdruck anschlussfähig an einen religionshistorischen und identitätspolitischen Kontext, dessen Protagonisten sodann mit dem Dichter und dessen Werk taten, was den Adepten von Nordkult und Edda-Frömmigkeit angeblich „die Ahnen“ eingegeben hatten. Formulierungen Georges, etwa im Gedicht ‚Der Krieg‘, dass „Stämme“ die die „Blut-Schmach“ begehen, „wahllos auszurotten“ seien, luden manch Radikalvölkischen allzu leicht dazu ein, den Dichter als einen der ihren zu lesen. Dass Georges Ideen schon vor 1914 vom ‚Arischen‘ nicht ganz weit entfernt lagen, verdeutlicht die satirische Annonce des ‚Schwabinger Beobachters‘, nach der „der ERLAUCHTE“ in der „weißen uniform des garderegiments Dante Alighieri“ unter „arische[m] baldachin“ auf einem „lotterbett“ geruht habe.⁴⁶ Die Hinwendung zum ‚Norden‘, ins Land der Wikinger oder gar der Hyperboreer – letztere werden bis heute in der Neuheiden-Szene mythisiert und verehrt – setzt lange vor George ein; sie hat erste Wurzeln schon im kulturellen Patriotismus des 18. Jahrhunderts, das ‚Hermann den Cherusker‘ verehrte und in zahllosen Stücken auf die Bühne brachte,⁴⁷ das sich am Ossianismus berauschte und an Nachdichtungen von Bardenpoesie der imaginierten Vorväter versuchte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Worte und Bedeutungsfelder ‚germanisch‘ und ‚deutsch‘ zunehmend angenähert;⁴⁸ damit rückt der Germanenmythos nach und nach ins Zentrum deutschnationaler Identitätsdiskurse.⁴⁹ Um

[158.–159. Auflage], München 1935, S. 395–399. Die spannungsreiche Beziehung Völkische – Nationalsozialisten im religiösen Feld beleuchtet umfassend der Band von Uwe Puschner und Clemens Vollnhals (Anm. 34). 46 So die entsprechende ‚Nachricht‘ im ‚Schwabinger Beobachter, Nr. II‘. In: Richard Faber: Männerrunde mit Gräfin. Die ‚Kosmiker‘ Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow. Mit einem Nachdruck des ‚Schwabinger Beobachters‘, Frankfurt a. M. u. a. 1994, S. 28f. 47 Dazu Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Hermanns Schlachten. Zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos, Bielefeld 2008. – Die Sekundärliteratur zur Adaption des Hermann-Mythos ist Legion; vgl. zur politischen Wirkungsgeschichte Andreas Dörner: Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermann-Mythos: Zur Entstehung des Nationalbewußtseins der Deutschen, Reinbek 1996. 48 Dazu Heiko Steuer: Das ‚völkisch‘ Germanische in der deutschen Ur- und Frühgeschichtsforschung. Zeitgeist und Kontinuitäten. In: Heinrich Beck u. a. (Hg.): Zur Geschichte der Gleichung ‚germanisch-deutsch‘. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, Berlin – New York 2004, S. 357–502. 49 Vgl. Ingo Wiwjorra: Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006; Rainer Kipper: Der Germanenmythos im

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1900 gelangte ‚der Norden‘ und ‚das Nordische‘ vermehrt in den Blick südgermanischer Stammesideologen. Schuld sind einzelne Archäologen und Philologen, die nun weit nördlich von Schleswig das Heimat- und Kernland der Ahnen ausmachten. Wilhelms II. Nordlandfahrten,⁵⁰ der innen- wie außenarchitektonisch putzige Drachenstil, die populäre Aneignung nordischer Götter in Bayreuth und in der Reklame⁵¹ sowie die Begeisterung für die ‚nordische Moderne‘ eines Ibsen, Hamsun oder Strindberg verstärkten solche Tendenzen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war die Rede vom ‚nordischen Erbe‘ der Deutschen zunehmend rassenideologisch aufgeladen worden, vor allem natürlich im radikalen völkischen Spektrum. Dort blieb zwar umstritten, ob die religiöse Wiedergeburt der deutschen Neu-Germanen einer ‚rassischen Veredelung‘ vorausgehen müsse oder ob erst diese eine taugliche Basis einer neuen Religion für alle rassereinen Deutschen sein müsse. Klar ist in jedem Falle, dass Rasse und Religion in den Konzepten der Germanisch- und Nordgläubigen untrennbar verbunden waren. Letztlich genoss die ‚reine Rasse‘ selbst religiöse Dignität, und das Projekt der ‚Rassenveredelung‘ versprach diesseitige Erlösung von den Übeln der Moderne. Das Konzept der Rassenreligion konnte mal strikt pagan beziehungsweise neopagan sein oder aber Relikte eines nunmehr jedoch ‚entjudeten‘ Christentums beibehalten und sich einen ‚arischen Christus‘⁵² imaginieren. Der Schriftsteller Arthur Dinter etwa, berühmt geworden durch seinen völkischen Bestseller ‚Die Sünde wider das Blut‘ und eine Zeit lang NSDAP-Gauleiter in Thüringen (1923–1925), gründete die Religionsgemeinschaft ‚Geistchristentum. Kampfbund zur Vollendung der Reformation‘;⁵³ und Alfred Rosenberg konzipierte eine Blutreligion des deutschen Frontsoldatentums.⁵⁴

Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung, Göttingen 2002. 50 Vgl. Birgit Marschall: Reisen und Regieren. Die Nordlandfahrten Kaiser Wilhelms II., Heidelberg 1991. 51 Vgl. Julia Zernack: Nordische Götter in Werbung und Propaganda. In: Katja Schulz/Florian Heesch (Hg.): ‚Sang an Aegir‘. Nordische Mythen um 1900, Heidelberg 2009, S. 323–369. 52 Neueste Zusammenfassung dieses Diskurses bei Martin Leutzsch: Karrieren des arischen Jesus zwischen 1918 und 1945. In: Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus (Anm. 34), S. 195–217. 53 Vgl. Volker Roelcke: Roman der rassischen Reinheit. ‚Die Sünde wider das Blut‘ von Artur Dinter (1917/1918). In: Dirk van Laak (Hg.): Literatur, die Geschichte schrieb, Göttingen 2011, S. 165–181; weiterführend auch Günter Hartung: Artur Dinter, Erfolgsautor des frühen Nationalsozialismus. In: Ders.: Deutschfaschistische Literatur und Ästhetik. Gesammelte Studien, Leipzig 2001, S. 99–124. Dinter war Bestseller-Autor im völkischen Verlag von Erich Matthes, einer Zentralfigur im rechten Spektrum der Jugendbewegung. 54 Zu Rosenbergs Religiosität vgl. Claus-Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart,

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IV Hellas und Thule Nun hat in den 1930er Jahren Thilo von Trotha, der spätere Privatsekretär Rosenbergs und Abteilungsleiter ‚Norden‘ im ‚Außenpolitischen Amt‘ der NSDAP, gemeint, die deutsche Seele schwinge „zwischen Island und Athen“.⁵⁵ Dies Diktum verweist darauf, dass es in den nationalen, völkischen Kulturkonzepten und Identitätskonstruktionen immer auch darum ging, die zwischen Neuhumanismus und ‚Drittem Humanismus‘⁵⁶ schwebende Liebe deutscher Gebildeter nach dem ‚Süden‘, vor allem nach ‚Hellas‘, sachlich und argumentativ zu vermitteln. Man konnte ‚Thule‘ und ‚Athen‘ zwar auch als striktes Gegensatzpaar lesen: also ‚Thule‘ statt ‚Athen‘. Manch Völkischer tat dies, doch es blieb schwer, sich den dominanten hellenophilen Diskursen deutscher Bildungsbürger entgegenzustellen. Das Erbe der seit etwa 1835 sogenannten ‚Weimarer Klassik‘, die Verankerung antiker und deutsch-klassischer Autoren im Kanon höherer Lehranstalten, die Ausrichtung großer Bereiche der bildenden Kunst und Populärgraphik am antikisch-winckelmannschen Körperideal sowie die Wiederkehr solcher Körperbilder in der wilhelminischen Lebens-, Kleider- und Körperkulturreformbewegung⁵⁷ gaben auch den Nordgläubigen die Richtung vor. Eine Beziehung zwischen ‚Apoll‘ und ‚Baldur‘, philologisch in der Regel nur von akademischen Außenseitern vertreten, lässt sich im wahrsten Wortsinne augenscheinlich herstellen, wenn man sich die nackten Männer und Jünglinge dieser alternativen Bewegungen genauer ansieht – und erkennt, dass sich auch hier der „leib vergottet und de[r] gott verleibt“⁵⁸ hat. Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 1998, S. 188–267; Ernst Pieper: „Der Nationalsozialismus steht über allen Bekenntnissen“. Alfred Rosenberg und die völkischreligiösen Erneuerungsbestrebungen. In: Die völkisch-religiöse Bewegung und der Nationalsozialismus (Anm. 34), S. 337–353. 55 Vgl. dazu Klaus Wolbert: ‚Hellenen, Germanen und wir‘. Verstreute Stationen einer politischen Wirkungsgeschichte des Antikenvorbildes von Winckelmann bis Hitler. In: Ders.: Griechen und Deutsche. Bilder vom anderen, Stuttgart 1982, S. 76–93; vgl. auch Gunnar Brands: Zwischen Island und Athen. Griechische Kunst im Spiegel des Nationalsozialismus. In: Bazon Brock/ Achim Preiß (Hg.): Kunst auf Befehl? Dreiunddreißig bis Fünfundvierzig, München 1990, S. 103–136, dort S. 114 das Zitat Thilo von Trothas. 56 Umfassend dazu nun Barbara Stiewe: Der ‚Dritte Humanismus‘. Aspekte deutscher Griechenrezeption vom George-Kreis bis zum Nationalsozialismus, Berlin – New York 2011. 57 Dazu zahlreiche Hinweise bei Esther Sophia Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945, Berlin 2004; dort zur ‚Lebensreform‘ und ‚Körperkulturbewegung‘ vor allem S. 139–195; zum George-Kreis passim und S. 211–239. 58 Im Gedicht ‚Templer‘ lautet die letzte Zeile „Den leib vergottet und den gott verleibt“; SW VI/ VII (Anm. 13), S. 53.

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Doch wissen wir nicht, ob sich der ‚Meister‘ zu solchen Trivialitäten hat hinreißen lassen und die entsprechenden Foto- und Zeitschriftenbände aus Lebensreform, Körperkulturbewegung und Aktfotographie in der Bibliothek Karl Wolfskehls hat anschauen können. Der Gott Maximin⁵⁹ jedenfalls lehnte geheim an Apoll und Antinoos;⁶⁰ er war optisch also zugleich Göttersohn und Götterliebling. Die exakten Quellen von Georges göttlicher Brüdergemeinschaft Apoll–Baldur liegen dagegen bis heute eher im Dunkeln. Vermittlungskonzepte zwischen Hellas und Germanien existierten schon seit den Anfängen eines ausformulierten Konzepts ‚deutscher Kulturnation‘.⁶¹ Bekannt ist die selbstverblendete Vorstellung mancher Gelehrter und Dichter, es seien auch und gerade die Deutschen, die das Erbe der Griechen kongenial angetreten und aufs Beste verstanden hätten. Der Topos von der Wahlverwandtschaft der Deutschen und Hellenen⁶² ist Bestandteil bürgerlich-gebildeter Selbstverständigungsdiskurse bereits der Zeit um 1800 und verfestigt sich weiter im kulturellen Bewusstsein der Gebildeten. Doch verliert er dabei oftmals die differenzierten poetisch-intellektuellen Konturen, die er im Werk Hölderlins, Humboldts oder der Gebrüder Grimm noch besessen hatte. Ein deutlich nationalistischer Zungenschlag verstärkt sich ebenfalls. Die Nations- und Deutschtumskonzepte nach den Befreiungskriegen und der nicht vollendeten Revolution von 1848 verlieren die weltbürgerlich-kosmopolitische Dimension der älteren Träume von der Selbstbesinnung der Deutschen.⁶³ Im Jahre 1925 erschien im Münchner Callwey Verlag, in dem auch die wichtige Rundschauzeitschrift ‚Kunstwart‘ verlegt wurde, das Buch Ernst Webers ‚Hellas. Griechisches Leben und altklassischer Geist in deutscher Wiedergeburt.‘

59 Dazu Claus-Artur Scheier: Maximins Lichtung. Philosophische Bemerkungen zu Georges Gott. In: George-Jahrbuch 1, 1996/1997, S. 80–106. 60 Vgl. die augenfällige optische Verwandtschaft einer berühmten Fotographie Maximilian Kronbergers (Maximin) mit zwei antiken Antinoos-Darstellungen bei Sünderhauf, Griechensehnsucht (Anm. 57), S. 325, sowie die Ausführungen der Autorin zu dieser gewollten Ähnlichkeit, S. 221ff. 61 Zur Idee eines ‚nordischen Griechentums‘ vgl. Wiwjorra, Germanenmythos (Anm. 49), S. 280–300. 62 Vgl. Manfred Landfester: Griechen und Deutsche. Der Mythos einer ‚Wahlverwandtschaft‘. In: Helmut Berding (Hg.): Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Bd. 3: Mythos und Nation, Frankfurt a. M. 1996, S. 198–219. 63 Doch ist der Patriotismus des 18. Jahrhunderts alles andere als unschuldig; vgl. Hans-Peter Herrmann/Hans-Martin Blitz/Susanna Moßmann: Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1996; wichtige Hinweise auch bei Jörg Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840), Frankfurt a. M. 1998.

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Dort wird in sprachlich-stilistisch recht trivialer Form für ein engeres DeutschHellenentum geworben: Nicht was aus fremdem Idiom Die scharfgeschliffne Brille liest, Nur was als frischer Lebensstrom Durch deutsche Dichteradern fließt, Was wieder Blut von unsrem Blut Und Geist von unserem Geiste ward: Das weckt aufs neu den Tatenmut Und lockt die stammverwandte Art.⁶⁴

Eine andere Möglichkeit des hellenisch-‚nordischen‘ Kurzschlusses bot die Entdeckung der griechischen Archaik in Kunst, Archäologie und Altphilologie der Jahrhundertwende.⁶⁵ Diese Neuentdeckung, angeregt nicht zuletzt durch Nietzsches Faszination für das vorklassische Griechenland, ermöglichte es, die hellenische Archaik beziehungsweise die in diese projizierten Haltungen mit den urtümlichen Anfängen des Nordens in Beziehung zu setzen. Der Rekurs auf Archaisches erlaubte es zudem, den in den Augen zahlreicher Hellas-Jünger verstaubt-positivistischen Zugriff auf die klassische Antike, wie er in Universität und Gymnasium üblich geworden sei, zu kritisieren. Mit der Feier des Archaischen im Griechischen glaubte man an alte Lebensströme anknüpfen zu können, um dies belebende Fluidum aufs ausgetrocknete Feld bildungsphiliströser Antikesehnsucht zu leiten. Klammerfigur für die angeblich naturwüchsige Verwandtschaft zwischen Deutschland und Griechenland, Antike und (zu überwindender) Moderne, war der ‚Barbar‘, dessen subtile Umdeutung vom negativen Stereotyp zur affirmativen Identitätsformel die notwendige Grundlage solch hellenischnordischer Projektionen war.⁶⁶ Noch abenteuerlicher nehmen sich Denkfiguren aus, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts behaupten, die Kultur des antiken Griechenlands sei eigentlich eine nordisch-germanische Großtat gewesen. Mit solchen Gedanken konnte 64 Ernst Weber: Hellas. Griechisches Leben und altklassischer Geist in deutscher Wiedergeburt, München 1925 (= Der deutsche Spielmann 32), S. 4. – Der Münchner Oberlehrer Ernst Weber (1873–1948) war Mitglied im Gesamtvorstand des ‚Dürerbundes‘; er arbeitete von 1896 bis 1918 als Volksschullehrer und leitete von 1919 bis 1935 die Lehrerbildungsanstalt in Bamberg; vgl. Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. 4. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Weinheim – München 2005, S. 90, Anm. 131. 65 Vgl. Glenn W. Most: Die Entdeckung der Archaik. Von Ägina nach Naumburg. In: Bernd Seidensticker/Martin Vöhler (Hg.): Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, Stuttgart – Weimar 2001, S. 20–39. 66 Vgl. Klaus von See: Der Germane als Barbar. In: Ders.: Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994, S. 31–60.

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man zwar an einzelne Vorstellungen schon des Humanismus oder etwa auch des schwedischen Gotizismus anknüpfen. Doch das wesentliche Feld jener kulturellen Konstrukte war die außeruniversitäre, auf „mythengeschichtlichen Assoziationen“⁶⁷ beruhende, vorgeschichtliche Laienforschung, wofür zum Beispiel ein Buch des Jahres 1844 wie ‚Das nordische Griechentum und die urgeschichtliche Bedeutung des nordwestlichen Europas‘ des Juristen Hermann Müller steht.⁶⁸ Konnte man zudem die ‚Urheimat‘ aller Indogermanen im Norden sowie gar die arktische Herkunft der arischen Urahnen Indiens dort ausmachen, so der bis heute in der Esoterik-Szene vertriebene und gelesene Bal Gangadhar Tilak, dann war die denkbar größte Distanz zum ‚Orient‘ und nach ‚Asien‘ markiert – und eben dies war für die arischen Nordgläubigen die Hauptsache.

V Sigfrid oder Christus Im esoterisch-völkischen Verlag von Lorenz Spindler in Nürnberg erscheint 1920 Friedrich Döllingers Buch ‚Baldur und Bibel. Weltbewegende Enthüllungen über die Bibel. Germanische Kultur im biblischen Kanaan und Germanisches Christentum vor Christus‘.⁶⁹ Dort, in diesem von Antisemitismus und platter Kirchenfeindlichkeit strotzenden Pamphlet, heißt es am Ende: „Das deutsche Volk gleicht Baldur selbst. Der listige falsche Loki-Judas fand einen blinden Hödur – betörte Volksgenossen – die Baldur töteten. Aber Baldur wird in nicht zu fernen Tagen eine glänzende Auferstehung feiern.“⁷⁰ In Hermann Wielands Buch ‚Atlantis, Edda und Bibel. 200.000 Jahre germanischer Weltkultur und das Geheimnis der Heiligen Schrift‘ (Weißenburg 1922) wird konstatiert, dass Baldur eigentlich mit Christus identisch sei und auf Atlantis gelebt habe. Der uns bekannte Jesus allerdings sei eine Verfälschung durch das ‚Judentum‘. Wer das glaubte, griff dann selbstverständlich nicht mehr zum Neuen oder gar zum Alten Testament, sondern zur ‚Edda‘ oder wenigstens zur Germanenbibel

67 Wiwjorra, Germanenmythos (Anm. 49), S. 283. 68 Hermann Müller: Das nordische Griechentum und die urgeschichtliche Bedeutung des nordwestlichen Europas, Mainz 1844. Dazu Wiwjorra, Germanenmythos (Anm. 49), S. 283f. 69 Friedrich Döllinger: Baldur und Bibel. Weltbewegende Enthüllungen über die Bibel. Germanische Kultur im biblischen Kanaan und Germanisches Christentum vor Christus, Nürnberg 1920. Zum Kontext vgl. Verf.: ‚Buddha‘, ‚Sigfrid‘ oder ‚Christus‘. Religiöse Suchbewegungen als Ausdruck kultureller Identitätskrisen im deutschen Bildungsbürgertum um 1900. In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 4, 1998, S. 209–229. 70 Döllinger, Baldur und Bibel (Anm. 69), S. 190.

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Wilhelm Schwaners,⁷¹ um die frohe Botschaft der ‚Germanischen Wiedererstehung‘⁷² zu vernehmen. Eine vermittelnde Position nahmen deutschchristliche Ideo-Theologen ein, denen es darum ging, eine ‚heldische‘ Heilandslehre zu konzipieren, damit völkische Haltungen mit der gesellschaftlich weiterhin dominanten Religion, dem Christentum, vermittelbar blieben. So schrieb man sich die ‚Germanisierung‘ des Christentums aufs „völkische banner“ und entwickelte das Phantasma vom ‚arischen‘ oder ‚nordischen‘ Jesus.⁷³ Hier lehnt dann Christus geheim an Odin oder Thor, strahlt bisweilen auch wie Baldur, mit dem er bekanntlich das Schicksal teilt, erst gestorben zu sein, um einst wiederzukehren.⁷⁴ Eine sanftere Variante der ‚Vernördlichung‘ des christlichen Erlösers findet sich bereits in den Christus-Darstellungen etwa der ‚Düsseldorfer Malerschule‘ schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dort sowie beim populären Hans Thoma wird Christus optisch verdeutscht, in dem biblische Szenen in deutsche Landschaften beziehungsweise Geschichtslandschaften eingebettet werden. Die Rezeption solch deutschchristlicher Kunst unterstreicht den Versuch einzelner Künstler, Jesus und seine Zeit bewusst zu entorientalisieren und damit in deutschnationale, wenn nicht gar völkische Kontexte zurückzuholen.⁷⁵ Wiederum andere kümmerten sich um die Parallelisierung von Christus und Zarathustra, womit man versuchte, nietzscheanische Konzepte von Religiosität⁷⁶ mit Relikten der christlichen Überlieferung zu kombinieren. Auch solche Denkfiguren zielen auf ein heldisches, 71 Wilhelm Schwaner: Germanen-Bibel. Aus den heiligen Schriften germanischer Völker, BerlinSchlachtensee 1904, weitere Auflagen 1910, 1934. Zu Schwaners Rolle im neureligiös-völkischen Feld vgl. Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, insbes. S. 240–249; aus bildungshistorischer Sicht vgl. Verf. (Anm. 32). 72 Hermann Nollau (Hg.): Germanische Wiedererstehung. Ein Werk über die germanischen Grundlagen unserer Gesittung, Heidelberg 1926. 73 Neben Leutzsch, Karrieren des arischen Jesus (Anm. 52), vgl. Rainer Lächele: Germanisierung des Christentums – Heroisierung Christi. Arthur Bonus – Max Bewer – Julius Bode. In: Völkische Religion (Anm. 42), S. 165–183. 74 Zu dieser Denkfigur vgl. Verf., „Veni creator spiritus“ (Anm. 30). 75 Zur Genese einer ‚deutschen‘, gar völkischen Christus-Figur in der Kunst um 1900 vgl. EvaMaria Kaffanke: Der deutsche Heiland. Christusdarstellungen um 1900 im Kontext der völkischen Bewegung, Frankfurt a. M. u. a. 2001, insbes. S. 173–242 (Kapitel ‚Nationalisierung des Christus-Bildes‘). Zur Renaissance von Christus-Bildern auch in der Avantgarde vgl. nun AnneMarie Bonnet u. a. (Hg.): Christus. Zur Wiederentdeckung des Sakralen in der Moderne, Düsseldorf 2012. 76 Religiosität in der (oft missverstandenen) Nachfolge Nietzsches ist ein großes Thema; zur Orientierung vgl. Steven A. Aschheim: Nach dem Tode Gottes. Varianten nietzscheanischer Religion. In: Ders.: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart – Weimar 1996, S. 219–250; zu völkischen Varianten vgl. Verf.: Barbarentheologie. Zur Abschaffung des Mitleids

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starkes, selbstbewusstes Gläubigsein des Individuums, ohne allerdings den völkischen Salto Mortale aus dem Christentum hinaus ganz zu vollziehen. Dass sich Nietzscheanismus, die Bewunderung für George und ein radikal antichristliches, völkisch-religiöses Empfinden durchaus vermitteln lassen, zeigt ein Fall, der am Ende unserer Betrachtungen stehen soll: Im Jahre 1976 erschien ‚Heimkehr zum Artglauben im 20. Jahrhundert‘,⁷⁷ der letzte Teil einer gleichnamigen Trilogie aus der Feder des ehemaligen Lehrers Wilhelm Kusserow. Das 27. Kapitel, das Schusskapitel der gesamten Trilogie, ist allein dem „Seher und Künder des Ewigen im Artvolk“ gewidmet, also Stefan George, dessen „dichterische Aussage […] über Zeit und Zukunft voll bestätigt worden“ sei.⁷⁸ Kusserow, einst Mitglied des ‚Altwandervogels‘ und des ‚Deutschnationalen Jugendbundes‘, hatte bereits 1926 bei Max Dessoir mit einer Arbeit über ‚Friedrich Nietzsche und Stefan George‘ promoviert.⁷⁹ Ab Ende der 1920er Jahre gelang es ihm, in den Kern der Führerschaft der nordisch-religiösen Bewegung vorzudringen. Man findet ihn auch 1934 auf dem legendären Eisenacher Treffen der ‚Deutschen Glaubensbewegung‘ Jakob Wilhelm Hauers, aus der die strengen Art- oder Nordgläubigen jedoch schnell wieder ausgestiegen sind.⁸⁰ Kusserows ‚Nordische Glaubensgemeinschaft‘ überstand im Abseits das ‚Dritte Reich‘ und wurde 1951 in Göttingen als ‚Artgemeinschaft e. V. Glaubensbund wesensgemäßer Lebensgestaltung‘ wieder gegründet.⁸¹ Im Jahre 1980 vom rechtsradikalen

im Diskurs neuer Religionen seit 1900. In: Knut Berner (Hg.): Neuere Verflechtungen von Macht, Religion und Moral, Münster 2006, S. 34–52. 77 Wilhelm Kusserow: Heimkehr zum Artglauben im 20. Jahrhundert, Berlin 1976. Vgl. auch ders.: Artglaube. Lebenssinn – Volksgesetz – Selbsterfüllung, Berlin 1977; mit einem Widmungsspruch von „Stefan George, dem größten Dichter des 20. Jahrhunderts“: „Heil allen, die in seinen strahlen gehen“. 78 Kusserow, Heimkehr zum Artglauben (Anm. 77), S. 305. 79 Wilhelm Kusserow: Friedrich Nietzsche und Stefan George, Potsdam [o. J.]. Dieses 78 Seiten starke Buch ist ein Teildruck der Dissertation, die in den Archiven der Berliner Humboldt-Universität nicht mehr aufzufinden ist. Dass die Arbeit im Verlag ‚Der Weisse Ritter‘ erschien, ist alles andere als Zufall, handelt es sich dabei doch um einen wesentlichen Ort jugendbewegter Nietzsche-, George- und Rudolf Pannwitz-Rezeption (vgl. auch Anm. 15). 80 Zur ‚Deutschen Glaubensbewegung‘ vgl. Ulrich Nanko: Die Deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993. 81 Zur Nachkriegsgeschichte der deutsch- und nordgläubigen Szene vgl. Ulrich Nanko: Von ‚Deutsch‘ nach ‚Frei‘ und zurück? Jakob Wilhelm Hauer und die Frühgeschichte der Freien Akademie. In: Rainer Lächele/Jörg Thierfelder (Hg.): Das evangelische Württemberg zwischen Weltkrieg und Wiederaufbau, Stuttgart 1995, S. 214–233; ders.: Religiöse Gruppenbildungen vormaliger ‚Deutschgläubiger‘ nach 1945. In: Hubert Cancik/Uwe Puschner (Hg.): Antisemitismus, Paganismus und Völkische Religion, München 2004, S. 121–134.

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Anwalt Jürgen Rieger entmachtet, gründete Kusserow den ‚Treuekreis Artglaube Irminsul‘ und fuhr dann im August 1985 zu den Ahnen ein – beziehungsweise nach neuheidnischer Zeitrechnung im Ernting des Jahres 3785 nach Stonehenge. Auch wenn es vielleicht so scheinen mag: Es war nicht die Absicht dieses Beitrags, kulturhistorische Skurrilitäten vorzuführen, von denen es dann relativ leicht ist, zu behaupten, diese hätten mit George beziehungsweise dieser mit jenen nichts zu tun. Es ging mir vielmehr darum, bildungsreligiöse wie neureligiöse Kontexte zu skizzieren, in die George-Leser ihren verehrten Dichter eingeordnet haben; und die Verwandtschaft einzelner Denkfiguren anzudeuten, die uns zeigen, dass Stefan George und einige seiner Jünger die Zeitgenossen anderer ‚Unbehauster‘ in der Moderne gewesen sind. Georgeaner und Völkische glaubten beide, in der griechischen Antike beziehungsweise im nördlichen Kulturerbe sei eine unzerstörbare Substanz des Menschlichen, des ‚ewigen Deutschen‘,⁸² entwickelt und bewahrt, derer man erneut habhaft werden könne, indem man sich an den Werken der Alten aufrichte und den neuen Weisungen begabter Ausdeuter und Dolmetscher⁸³ – der Dichter also – folge. Wenn es stimmt, dass Georges Poesie zwar dazu dient, den Verlust einer Mitte zu kompensieren, aber doch letztlich eine „leere Mitte“ anbietet,⁸⁴ wird verständlich, warum diese Mitte so leicht zu besetzen war. Schon 1922 hat Werner Picht über den von ihm hymnisch gepriesenen Dichter kritisch gesagt, dass in dessen dichterischer Verkündigung „die Inhalte fehl[t]en“.⁸⁵ Zugleich bezeichnete er George und die Autoren der ‚Blätter für die Kunst‘ als „völkische Seelsorger eigener Berufung“.⁸⁶ Goethe oder der neureligiöse Verleger Eugen

82 Diese Prägung geht zurück auf einen seinerzeit viel gelesenen Weltanschauungsroman, nämlich Hermann Burte: Wiltfeber, der ewige Deutsche. Die Geschichte eines Heimatsuchers, Leipzig 1919. 83 Einer davon war auch der Volkskundler und Germanist Hans Naumann, der am 18.1.1931 – dem an vielen deutschen Universitäten feierlich begangenen Reichsgründungstag (den man oft für Positionierungen gegen die Weimarer Republik nutzte) – an der Frankfurter Universität eine Rede hielt: Vgl. Hans Naumann: Der Mythos vom Gotte Balder und das altgermanische Lebensgefühl, Frankfurt a. M. 1931 (= Frankfurter Universitätsreden 36), S. 3–21. Naumann rekurrierte hier auf die legendären ‚Hördur-Reden‘ Bismarcks im Deutschen Reichstag von 1885. Der Kult um den ‚Eisernen Kanzler‘ setzte diesen selbst zuweilen mit Baldur gleich. Dazu Zernack, Nordische Götter in Werbung und Propaganda (Anm. 51), S. 323–369; hier S. 362f. 84 Vgl. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 37). 85 Werner Picht: Stefan George als Richter unserer Zeit. In: Ders.: Stefan George. Eine kritische Huldigung, Heidelberg 1931, S. 8–27, hier S. 19. Pichts Aufsatz wurde erstmals 1922 in der reformkatholischen Zeitschrift ‚Hochland‘ veröffentlicht. Den Band von 1931 widmete der Autor seinem Sohn Georg [!]. 86 Ebd., S. 14. – Im Übrigen lässt Picht keinen Zweifel daran, dass seine Zeit „nach dem Führer“ verlange (S. 5), als welchen er dann George anpreist.

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Diederichs hätten wohl präziser von ‚volklich‘ gesprochen. Diejenigen aber, die sich wirklich als ‚völkische‘ Propheten ihrer Zeit verstanden, nutzten recht unbefangen Denkfiguren wie Denkbilder eines der seinerzeit berühmtesten deutschen Dichter. Wer erfahren will, wie es heute klingt, wenn Black Metal, Apokalyptic Folk und George-Gedichte zusammenklingen, sollte sich die CDs des Musikkünstlers ‚Sagittarius‘ anhören, der Cornelius Waldner heißt und in Paderborn lebt. Waldner vertonte auch schon Texte Ernst Jüngers und zählt – will man meinen Netz-Recherchen glauben – zum Spektrum der ‚Neuen Rechten‘, in der auch und wieder George eine Kult-Figur ist. Das Sternbild ‚Schütze‘ steht im Süden. Somit verweist der Künstlername Waldners auf Georges ‚poetische Religion‘⁸⁷ und deren Traum vom Griechentum als ideeller Ressource für die Gesundung der Gegenwart.⁸⁸ – Von Werner Picht stammt der Satz: „Die Blindheit des Volkes ist die Tragik des Sehers.“⁸⁹ Im Blick auf einzelne Aspekte der Wirkungsgeschichte Georges, die hier in aller gebotenen Kürze skizziert wurden, könnte man den Satz auch umdrehen.

87 Vgl. Bernhard Böschenstein: Stefan Georges poetische Religion. In: Silvio Vietta/Stephan Porombka (Hg.): Ästhetik – Religion – Säkularisierung. Bd. 2: Die klassische Moderne, München 2009, S. 63–71. 88 Damit belebt es eine Denkfigur der Jahrhundertwenden 1800 und 1900; vgl. das Kapitel ‚Das Griechentum als sinn- und identitätsstiftendes Fundament‘ in: Stiewe, Der ‚Dritte Humanismus‘ (Anm. 56), S. 88–93. 89 Picht, Stefan George (Anm. 85) S. 17.

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Rasse und Religion Die Ideologie arteigener Religionsentwürfe Zu Beginn sechs zeitgenössische Äußerungen, die nicht kommentiert werden müssen, weil sie schlagend die Relevanz des Problems zeigen, mit dem sich der Beitrag befasst: Wenn […] die bisherigen Ergebnisse der erbbiologischen, der psychologischen und der Konstitutionsforschung richtig dargestellt sind, so muß ganz allgemein der Schluß gezogen werden, daß, wenn es ein körperliches Rassenbild gibt, das sich durch die Jahrhunderte und Jahrtausende vererbt, es auch ein seelischgeistiges Rassenbild geben muß.¹ Rassestand und Religionsfähigkeit der Völker fallen geradesweges in ein und dasselbe zusammen. Jede Rasse hatte nur eine einzige, ihr mögliche Religion.² Aber sollten wir jenen Pulsschlag des Glaubenslebens der Väter nicht auch noch spüren können als Angelegenheit des eigenen Blutes? So könnten wir […] in der Saga des Nordens […] für uns selbst ein heiliges Sollen […] entnehmen, jene natürlichen Mittelpunkte des Lebens wiederzugewinnen, in denen Göttliches und Weltliches in einem Akkord zusammenklingt!³

Daß in der Religionsgeschichte die Rassenunterschiede beachtet werden müssen, und zwar viel mehr als bisher, darüber sind wir uns einig. Dagegen ist innerhalb der wissenschaftlichen Forschung völlig offen die Frage […]: In welchem Sinne hat Rasse auf Religion Einfluß?⁴ Blut und Glaube bilden eine Einheit. Die Religion ist eine Funktion der Rasse. Diese Behauptung ist falsch. Ihr widersprechen sowohl die Ergebnisse der Rassenforschung als auch die vergleichende Religionsgeschichte.⁵ Die Religion ist keine unselbständige und unablösbare Funktion und kein Produkt der Rasse oder irgendeiner Rassenseele. Sie ist nicht durch sie determiniert und prädestiniert. Zwischen Rasse und Religion besteht kein unmittelbarer Zusammenhang.⁶

1 [Jakob] Wilhelm Hauer: Rasse und Religion, Tübingen 1941, S. 41. 2 Thomas Westerich: Orplid das heilige Land. Das Mysterium der Reinheit, Stade 1922, S. 8. 3 Sigrid Hunke: Die Germanen religionslos? In: Nordische Rundschau vom 21.1.1935, S. 17. 4 Heinrich Frick: Deutschland innerhalb der religiösen Weltlage, Berlin 1936, S. 145. 5 Christel Matthias Schröder: Einige Formen des Neuheidentums und ihre Bedeutung. In: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 25, 1935, S. 97–105, hier S. 103. 6 Christel Matthias Schröder: Rasse und Religion. Eine rassen- und religionswissenschaftliche Untersuchung, München 1937, S. 299.

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Im Gegensatz zu den vielzähligen Stimmen wie der des völkischen Kapitalismuskritikers Johannes Gaulke, der in seinem Rückblick auf die Wandlungsprozesse des gerade zu Ende gegangenen 19. Jahrhunderts feststellte, „[d]ie Religion hat ihre Rolle ausgespielt, unsere Zeit steht im Zeichen des Industrialismus und des Verkehrs, die wirtschaftlichen Momente geben den Ausschlag“,⁷ war „Religion ein zentrales Thema öffentlicher kulturpolitischer Diskurse und akademischer Debatten“⁸ nicht nur um 1900, sondern über die gesamte Epoche der klassischen Moderne hinweg. Dabei ist es kein Widerspruch, wenn Vertreter der Kirchen wie der Prämonstratenserpater Albert Maria Weiß unmittelbar nach der Jahrhundertwende eine „religiöse Gefahr“ diagnostizieren und beklagen, „daß das Christentum […] seine Rolle ausgespielt habe und einer neuen Gestaltung der Dinge Platz machen müsse.“⁹ Mit der Renaissance des Religiösen um 1900 begann der Markt höchst unterschiedlicher religiöser Angebote zu expandieren, die neben das tradierte Kirchenchristentum und zu ihm in Konkurrenz traten. Im Jahr 1913 bilanziert Ernst Troeltsch eine „chaotische Zerspaltung unseres Religionswesens“.¹⁰ Unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und keineswegs auf die nationalsozialistische Epoche beschränkt konstatiert der Münchener Franziskanerpater Erhard Schlund in seiner dem „Suchen der Gegenwart nach Gott und Religion“ gewidmeten kritischen Bestandsaufnahme des ‚Modernen Gottglaubens‘, dass „[g]erade auf dem religiösen Gebiet […] heute in unserem Volke ein solcher Wirrwarr [herrscht] wie kaum jemals zuvor.“¹¹ Tatsächlich hatten sich in den dreieinhalb Jahrzehnten, die zwischen dem Erscheinen der Bücher von Weiß und Schlund liegen, in Deutschland eine Vielzahl religiöser Strömungen herausgebildet und religiöse Gemeinschaften etabliert, deren Verständnis von Religion ebenso divergent war wie ihre nicht nur religiöse Weltanschauung. Hierzu zählt die völkisch-religiöse Bewegung,¹² deren dynamische Entwicklung seit Beginn des 20. Jahrhunderts sich schon darin manifestiert, dass Weiß

7 Johannes Gaulke: Stilwandlungen des neunzehnten Jahrhunderts. In: Die Gesellschaft. Halbmonatsschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik 17, 1901, 1. Teilbd., S. 10–16 und S. 91–98, hier S. 95. 8 Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004, S. 133–178, hier S. 133. 9 Albert Maria Weiß: Die religiöse Gefahr, Freiburg i. Br. 1904, S. 387. 10 Ernst Troeltsch: Religion. In: David Sarason (Hg.): Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung, Leipzig – Berlin 1913, S. 533–549, hier S. 534. 11 Erhard Schlund: Modernes Gottglauben. Das Suchen der Gegenwart nach Gott und Religion, Regensburg 1939, S. 35. 12 Zur interdisziplinären Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand sowie zu den völkischen Religions-‚stiftern‘, den völkisch-religiösen Konzepten, Strömungen, Gemeinschaften und

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und Troeltsch sich diesem Phänomen – Troeltsch unter dem Stichwort ‚Rassentheologie‘ – nur am Rande widmen, während Schlund die verschiedenen Ausformungen, ihre Vertreter und Gemeinschaften auf annähernd 200 Seiten ausführlich vorstellt und analysiert.¹³ Gleichwohl geben Weiß und Troeltsch bereits entscheidende Hinweise auf die Pfeiler des Konzeptes der von ihren Protagonisten sogenannten arteigenen Religion, ohne jedoch die ideologischen Dimensionen auszuloten und die immanenten Zusammenhänge von Rasse und Religion aufzuzeigen. In seinen knappen Ausführungen über die „Errichtung besonderer Nationalreligionen“ verweist Weiß 1904 „halb mit scheuem Staunen, halb mit Bewunderung ob ihrer Kühnheit“ darauf, dass „die Ur- und Alldeutschen den Dienst des alten Odhin oder des ‚Allvater‘ wieder ein[führen]“, womit sie vor „zwanzig Jahren noch […] der Lächerlichkeit erlegen [wären], wenn sie öffentlich altheidnische Gottesdienste und die alte heidnische Zeitrechnung mit den heidnischen Festtagen eingeführt hätten“.¹⁴ Troeltsch kommt sieben Jahre später am Schluss seiner Auseinandersetzung mit „außerchristlichen und antichristlichen Religionsbewegungen“ in wenigen Worten auf „Rassenethik und Rassentheologie“ zu sprechen und verweist in diesem Zusammenhang neben dem Rassezuchtideologen Willibald Hentschel und seinem Mittgart-Projekt auf die ‚Bayreuther Gemeinde‘ und Houston Stewart Chamberlain als Exponenten einer neuen, rassenideologisch begründeten Religion – um sich anschließend der „literarisch-künstlerischen-philosophischen Religiosität“ zuzuwenden und damit auch dem „in der heutigen Jugend so einflußreichen hocharistokratischen Kreis Stefan Georges“ als Beispiel „für eine antikisierende Romantik, die aus der antiken Einheit von Leib und Geist die Welt ethisch und religiös erneuern will“.¹⁵ Hatten das Bekenntnis des völkischen Lebensreformers Gustav Simons 1912 auf dem in Hamburg stattfindenden ‚I. Kongress für Biologische Hygiene‘ („Ich bin Heide von Hause aus, und der will ich bleiben mein lebenlang“) oder die ein Jahr später in seinem Berliner Vortrag ausgegebene Parole des völkischen Anti-

deren Geschichte bis zum Nationalsozialismus bzw. nach 1945 vgl. den resümierenden Überblick in: Verf./Clemens Vollnhals (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012 (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 47), sowie jetzt Jörn Meyers: Religiöse Reformvorstellungen als Krisensymptom? Ideologen, Gemeinschaften und Entwürfe „arteigener Religion“ (1871–1945), Frankfurt a. M. 2012, und Christiane Kliemannel: Religiöse Sinnstiftungsangebote für Frauen und Mädchen in der völkischen Jugendbewegung (1918–1936), Remda-Teichel 2014. 13 Weiß, Gefahr (Anm. 9), S. 153; Troeltsch, Religion (Anm. 10), S. 546; Schlund, Gottglauben (Anm. 11), S. 80ff. 14 Weiß, Gefahr (Anm. 9), S. 152f. 15 Troeltsch, Religion (Anm. 10), S. 546f.

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semiten Adolf Bartels „Immer mehr Deutschchristentum, immer weniger Judenchristentum!“ noch keine nennenswerten öffentlichen Reaktionen zur Folge,¹⁶ änderte sich dies nach dem Ersten Weltkrieg. Die nicht nur verbal aggressive Präsenz völkischer Demagogen und Organisationen in der deutschen Öffentlichkeit und ihre aktive publizistische Offensive entfachten eine intensive Auseinandersetzung mit Bewegung und Weltanschauung, vornehmlich auch mit ihren religiösen Vorstellungen und Forderungen. Dabei galt neben der deutschgläubigen und neugermanisch paganen Richtung der völkisch-religiösen Teilbewegung, der Erhard Schlund 1924 eine vielbeachtete Aufklärungsschrift widmete,¹⁷ das Hauptaugenmerk dem Rassenparadigma der unterschiedlichen völkischen Religionsentwürfe. Die vor allem von – zunächst überwiegend katholischen – Theologen formulierte Kritik wandte sich dabei keineswegs grundsätzlich gegen die zeitgenössische Rassenanthropologie und – wie zum Beispiel Schlund – gegen das völkische „Bestreben, das deutsche Blut, die deutsche Rasse rein zu halten“,¹⁸ sondern gegen den Rassismus, das heißt gegen sozialdarwinistische Rassenhierarchien von Höher- und Minderwertigen und gegen Exklusionsforderungen. Im Mittelpunkt der Kritik stand das völkische Paradigma, demzufolge – in den Worten des evangelischen Hamburger Theologen Karl Witte – die „Rasse […] als die entscheidende göttliche Offenbarung angesehen“ wird,¹⁹ die Rasse also die Religion konstituiere, „[d]eutsches Blut […] die Religion [macht]“.²⁰ Nicht nur Theologen sahen in dieser völkischen Überzeugung und ihren daraus folgenden Anstrengungen um eine arteigene Religion „die Zerstörung aller echten Religion“.²¹ Für den Philosophen und Politologen Julius Goldstein, der sich kritisch-analytisch mit zeitgenössischen Rassentheorien und völkischer Weltanschauung auseinandersetzte, bedeutete das Zurückführen von

16 Gustav Simons: Volkswirtschaft und Volksgesundheit. In: I. Kongress für Biologische Hygiene. Vorarbeiten und Verhandlungen, Hamburg [1912] 1913, S. 343–356, hier S. 355; Adolf Bartels: Der deutsche Verfall, Zeitz ³1919, S. 38. 17 Erhard Schlund: Neugermanisches Heidentum im heutigen Deutschland, München 1923 (Nachdr. der 2. Aufl. 1924 als H. 4 der Reihe ‚Irmin-Edition‘, München 1976). 18 Erhard Schlund: Orientierung. Eine Hilfe im Weltanschauungskampf der Gegenwart, Hildesheim – Leipzig 1931, S. 377, und zum Folgenden S. 349–465, bes. S. 459f.; ferner Deutsche Zentrumspartei: Klare Fronten. Volkstum – Sitte – Obrigkeit. In: Das Zentrum. Mitteilungsblatt der Deutschen Zentrumspartei 3, 1932, S. 196f. 19 Karl Witte: Die germanische Religion. In: Carl Schweitzer (Hg.): Das religiöse Deutschland der Gegenwart. Ein Handbuch für jedermann. Bd. 1, Berlin 1928, S. 324–336, hier S. 326; vgl. dort auch ders.: Deutschtum und Christentum, S. 124–137. 20 Schlund, Orientierung (Anm. 18), S. 404; Schlund, Heidentum (Anm. 17), S. 19f. 21 Witte, Germanische Religion (Anm. 19), S. 326; Schlund, Orientierung (Anm. 18), S. 373.

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[r]eligiösen Schöpfungen auf Rasse […], die Eigengesetzlichkeit der Religion [zu] leugnen. […] Wer die Rasse als die eigentliche Triebkraft der Geschichte betrachtet, wer deshalb in allen großen Leistungen nur den Ausdruck der Rasse sieht, der muß auch die Kontinuität der religiösen Schöpfungen im Blut sehen. Er kann keine Eigengesetzlichkeit der Religion zugeben. Er wird vor allem im Religiösen nicht ein Gebiet anerkennen, das über den Rassen, über der Verschiedenheit der Menschen liegt. Den Anspruch der Religion absolute, das heißt, von der Verschiedenheit der Menschen unabhängige Wahrheit zu sein, wird der Rassengläubige nicht anerkennen können. Und damit hat er das Leben der Religion getötet. Er hat auch die tiefste Sehnsucht des Menschengeschlechts vernichtet: Daß es jenseits aller Verschiedenheit ein Heil, eine Heilsgemeinschaft für alle Menschen gibt. […] Nicht das ist die religiöse Behauptung, daß alle Menschen gleich sind, sondern daß die religiöse Wahrheit durch alle Verschiedenheit, alle schicksalsmäßigen Verschalungen der Seele durchstoßen kann, damit alle Menschen Gottes Kinder werden können. Und wenn es auch eine Gnadenwahl gibt in gewissen Religionen, es ist doch Gott, der erwählt und verdammt, und nicht das Blut, es ist eine religiöse und keine biologische Gnadenwahl. […] Die Rassentheorie […] hebt […] die Möglichkeit der Religion auf, denn sie ist Materialismus.²²

Die völkischen Weltanschauungsagenten teilten mit Goldschmidt zwar die Überzeugung vom „Materialismus und dessen […] Religionslosigkeit“,²³ wobei sie selbst jedoch aus dessen Fundus schöpften. Sie sahen gerade in der Rasse die Religion begründet, die dem Rassesubjekt innewohnend und ihm intuitiv erfahrbar sei: „Ja, meine Religion besitze ich nur durch meine Rasse, denn nur meine Rasse ist es, die mir meine Religion möglich macht und mir das tiefinnerliche Verständnis für sie erschließt. Rasse und Religion sind eins!“²⁴ Eine universale Religion existierte folglich in diesem Denken nicht, vielmehr sei von einem deutschen Gott, einem englischen Gott, einem jüdischen Gott zu sprechen; ‚der‘ Deutsche, das heißt die Personifikation des Deutschtums, ‚der‘ Engländer, ‚der‘ Jude usf. kann gar nicht anders, als von Gott diejenigen Vorstellungen auszubilden, die seiner Rasse gemäß sind. Jahveh und Allah sind tatsächlich andere Götter als unser Gott.²⁵

Auf dieser für das völkische Denken axiomatischen Grundlage erschienen seit 1900 unterschiedliche Entwürfe einer ‚rassegemäßen‘ beziehungsweise, wie es im völkischen Jargon hieß, ‚arteigenen‘, Religion, die in Analogie zu der jeweils zugrunde liegenden rassentheoretischen Variante als arisch, indogermanisch,

22 Julius Goldstein: Rasse und Politik, Schlüchtern 1921, S. 128–141, hier S. 134f. 23 Ernst zu Reventlow: Wo ist Gott? Mit einem Nachwort an die Kritiker, ²Berlin [1935], S. 241. 24 Artur Dinter: Die Sünde wider das Blut. Ein Zeitroman, Leipzig – Hartenstein ¹⁶1921, Nachwort zur 1., 2. und 3. Auflage, S. 344. 25 Betrachtungen über Familie, Schule und Kirche. In: Deutschbundspiegel. Auf Veranlassung der Leitung des Deutschbundes. Von einem Bundesbruder, Schwelm/Westfalen 1923, S. 62–82, hier S. 68.

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germanisch, nordisch oder deutsch idealisiert wurde.²⁶ Annähernd zeitgleich begannen sich deren Anhänger in häufig konfliktreich konkurrierenden und in ihrem Mitgliederbestand, ihrer Existenz und Verfasstheit ebenso wie in ihren Glaubensüberzeugungen und ihrer religiösen Praxis höchst differenten Gemeinschaften zu organisieren. Wie für die völkische Bewegung im Allgemeinen beklagten ihre Anhänger auch für das religiöse Segment, dass „[l]eider […] auf deutsch-religiösem Gebiete auch […] neue und nebeneinander herlaufende, auf einander eifersüchtelnde Gruppen [entstanden seien], so daß die Stoßkraft der jungen Bewegung sich nicht auswirken konnte.“²⁷ Das sich dem Zeitgenossen präsentierende Bild von einem „Tohuwa-bohu“ völkischer „Religionen, Glaubensgemeinschaften und Kirchenversuche“ beschreibt insofern anschaulich Expansion, Dynamik und Unübersichtlichkeit der völkisch-religiösen Bewegung, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg.²⁸ Mit – wie sie sich selbst bezeichneten – ‚Neuheiden‘ und ‚Deutschchristen‘ können (neben der von deutschchristlicher Seite scharf abgelehnten Ariosophie der Wiener Rassenmystiker Jörg Lanz von Liebenfels (= Adolf Lanz) und Guido (von) List und deren Anhängerschaft),²⁹ beeinflusst von nationalreligiösen Ideen des 19. Jahrhunderts, von Friedrich Nietzsche und Richard Wagner sowie besonders von den völkischen Säulenheiligen Paul de Lagarde und Houston Stewart Chamberlain, grob zwei Hauptströmungen unterschieden werden, deren gemeinsames Fundament die kulturalistische und – dominant – biologistische Paradigmen integrierende Rassenideologie ist. Vornehmlich auf der Grundlage der dem deutschen Nationalismus seit Beginn des 19. Jahrhunderts eingelagerten und sukzessive erweiterten Germanenideologie und deren literatur- und sprachgeschichtlich, archäologisch und volkskundlich unterfüttertem Grundsatz einer (indo-)germanisch-deutschen Genealogie sowie der zeitgenössischen Befunde von kritischer Bibel- und Religionswissenschaft wurden um 1900 Forderungen erhoben, den Glauben der germanischen ‚Vorfahren‘ als der arteigenen deutschen Religion wiederzuerwecken. In der neuheidnischen Überzeugung war es, wie der ehemalige evangelische Pfarrer, Romancier und jahrzehntelange völkische Agitator Gustav Frenssen 1936 appellativ erklärte, 26 Den Variantenreichtum völkischer Religionsentwürfe und die divergenten Einstellungen in der völkischen Bewegung veranschaulicht die jugendbewegte Zeitschrift ‚Die Kommenden‘; vgl. Stefan Breuer/Ina Schmidt (Hg.): Die Kommenden. Eine Zeitschrift der Bündischen Jugend (1926–1933), Schwalbach/Taunus 2010 (= Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 15), S. 266–273. 27 Willi Buch: 50 Jahre antisemitische Bewegung. Beiträge zu ihrer Geschichte, München 1937, S. 78–82, hier S. 79. 28 Schlund, Orientierung (Anm. 18), S. 407. 29 Max Robert Gerstenhauer: Was ist Deutsch-Christentum?, Berlin-Schlachtensee 1930, S. 30.

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der älteste mit unsrer Rasse geborene, unser Glaube von uralters her. Seht: jener altgermanische Glaube unserer Väter, jener versunkene Glaube der Edda, hatte den Kern dieses Glaubens mit vielen Gestalten und ihren Legenden umrankt. Der christliche hat ihn verdeckt und verschüttet. Er war immer da; aber er schlief.³⁰

Unter Verweis auf ihre geschichtsdeterministischen, rassenideologischen Überzeugungen lehnten die ‚Neuheiden‘ das Christentum als „widerdeutsch[e]“, oktroyierte Religion und die Kirche als „eine undeutsche Einrichtung“ ab: Die natürliche Religion der Deutschen, welche der der stammesverwandten Griechen entsprach, wurde nach jahrhundertlangen erbitterten Kämpfen durch die der römischen Kirche dienstbare Macht des Frankenreichs (Chlodwig, Karl den Großen) überwältigt. Die ‚deutschen Apostel‘ Rupert, Kilian, Willibrord, Bonifaz zerstörten die heiligen Haine unsrer Vorfahren und fällten ihre Donner-Eichen; anstelle der alten Heiligtümer gründeten die Fremden Kapellen, die sich zu Kirchen und Domen auswuchsen. Der heimische Glaube, unsre Sage und Dichtung, Sittlichkeit, Sitte und Recht ward ausgerottet oder verfälscht; die deutsche Erziehung (Waffendienst, Leibeszucht) ersetzt durch die lateinische Klosterschule und den Stuben-Unterricht.³¹

Ernst Wachler, einer der ersten und zumindest bis 1914 einflussreichen Propheten des ‚germanischen‘ Neuheidentums, verweist in seiner in der Folgezeit von unzähligen von dessen Anhängern wort- und variantenreich wiederholten, ausgeschmückten und in die völkische Geschichtserzählung eingeschriebenen Polemik gegen Christentum und (katholische) Kirche auf die überlieferten „Urkunden“ der neu-germanischen Religion: die zur „nordische[n] Bibel“ stilisierte isländische ‚Edda‘, die von Jacob und Wilhelm Grimm kulturnational aufbereiteten ‚deutschen‘ Märchen, Sagen und Mythen, die taciteische ‚Germania‘, das volkskundliche und speziell volkskulturelle, im Verlauf des 19. Jahrhunderts wiederbelebte beziehungsweise geschaffene Brauchtum (zum Beispiel Sonnwendfeuer), die maßgeblich von der Romantik angestoßene Naturverehrung und die vornehmlich seit den 1920er Jahren germanenideologisch, unter dem Paradigma der „altgermanischen Kulturhöhe“, interpretierten Befunde der zur „hervorragende[n] nationale[n] Wissenschaft“ erhobenen prähistorischen Archäologie.³² Auf diesem um pseudowissenschaftliche Ausdeutungen der ihrer gattungsspezifischen und historischen Kontexte entledigten Überlieferungen, um eigene literarische Produktionen (Dramen, Romane, Erzählungen) angerei-

30 Gustav Frenssen: Der Glaube der Nordmark, Stuttgart 1936, S. 124. 31 Ernst Wachler: Ringbüchlein. Abriß deutscher Weltansicht, Weimar 1904, S. 3 und S. 10. 32 Ebd., S. 18–26, hier S. 19f.; Gustaf Kossinna: Altgermanische Kulturhöhe. Ein Kriegsvortrag, Jena 1919, unter dem Haupttitel erweitert zu: Eine Einführung in die deutsche Vor- und Frühgeschichte, Leipzig 1927; ders.: Die deutsche Vorgeschichte eine hervorragende nationale Wissenschaft, Leipzig 1912.

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cherten und um Bausteine aus unterschiedlichen als arisch deklarierten (‚arisierten‘) Kulturen erweiterten Fundament wurden verschiedene deutschgläubige und neugermanische, vielfach „monistisch und pantheistisch“ geprägte und diesseits orientierte Religionskonzepte formuliert.³³ Das immer wieder, meist mit spöttischem Unterton geäußerte Diktum, es handle sich um einen „Wotanskult“,³⁴ ist irreführend. Es ging den ‚Neuheiden‘ nicht darum, die „germanische Urreligion“ wiederzuerwecken, zumal diese „endgültig umgebracht“ sei und dem „jetzigen grundgeänderten Lebens- und Zeitumstande nicht mehr Genüge tun“ könne: Wohl aber kann und muß ihr für alle Zeiten und Zustände unseres völkischen Lebensganges Richtung bestimmender Gedanken- und Weltanschauungsfruchtkern wieder zur lebendigen, fortan christlich unverstörten Keimung im vorher wohl zu bereitenden Boden unseres Volksbewußtseins gebracht werden.³⁵

Die (eddischen) Götter werden demnach nicht als real, sondern als Ideen, Prinzipien, Werte, als „gemüt- und sinnvolle Abstraktion der Erscheinungswelt“ gedacht und sie sind handlungsleitend.³⁶ Neuheidnische Vordenker sind insofern gegenwarts- und zukunftsorientiert, gerade weil für sie arteigene Religion angeboren ist: Nicht aus alten Büchern holen wir die Götter der Altvordern. In deiner Brust, du deutscher Mensch, quillt die deutsche Religion […]. Wahre Religion ist immer da; sie ist geboren mit dem Menschen als Gotteswerk und unzerstörbar, und so lehrt schließlich auch die deutsche Geschichte, daß es die deutsche Religion immerdar gegeben hat.³⁷

Mehr noch, nach neuheidnischen Vorstellungen trägt der Deutsche […] die ganze Welt in seinem Innern: Gott und die Kreatur. Aber nebeneinander können die beiden nicht bestehen; wo Gott geboren wird, da muß die Kreatur verschwin-

33 Meyers, Reformvorstellungen (Anm. 12), S. 188; in Hinblick auf den Monismus- und Pantheismus-Bezug vgl. Schlund, Heidentum (Anm. 17), S. 32f. 34 Heinrich Frick: Religiöse Strömungen der Gegenwart, Leipzig 1923 (= Wissenschaft und Bildung 187), S. 116. 35 Adolf Harpf (1919) zit. n. Schlund, Heidentum (Anm. 17), S. 30. 36 [Otto Sigfrid Reuter]: Sigfrid oder Christus?! Kampfruf an die germanischen Völker zur Jahrtausendwende, von einem Deutschen, Leipzig 1910 (Nachdr. Quellentexte zum wissenschaftlichen Studium der Zeit- und Geistesgeschichte. Deutschgläubige Bewegung, Quelle I, Toppenstedt 1976), S. 33; vgl. auch Alfred Conn: Warum deutschgläubig?, Leipzig 1934/1936, S. 18; Adolf Kroll: Die Germanische Glaubens-Bewegung. In: Das Deutsche Buch (= Sonderdruck im Doppelheft November/Dezember 1913 und im Januar-Heft 1914 von ‚Die Nornen‘). Hg. von der Germanischen Glaubens-Gemeinschaft, S. 34–41, hier S. 35f. 37 [Otto Sigfrid Reuter]: Religion deutsch. Vom Verfasser ‚Sigfrid oder Christus?!‘ Sonderabdruck aus der Staatsbürger-Zeitung vom 10.11.1911, Berlin 1911, S. 4.

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den. So ist es der Held im deutschen Menschen, der das Gemeine überwindet und Gott im Gemüte erlöst und befreit. Deutsche Religion ist Selbstverantwortung und Selbsterlösung, d. h. der Durchbruch des göttlichen Lichtes durch das Dunkel in uns.³⁸

Diese Auffassung von einer „Glaubensgesinnung, deren Erlebniswerte im eigenen Blute schlummern“ und „[k]raft des [ariosophischen] Erberinnerns“ reaktiviert werden sollten (und wurden),³⁹ nährte in Verbindung mit dem der Rassenideologie eingeschriebenen Superioritätsparadigma die Heilsgewissheit der eigenen Auserwähltheit und den daraus abgeleiteten Auftrag zur Rettung des deutschen Volkes und der Menschheit. Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg begannen sich ‚Neuheiden‘ – unter anderem in den langlebigen Vereinigungen mit einem gewissen Vorbildcharakter: der ‚Deutschgläubigen Gemeinschaft‘ (gegründet 1911) und der ‚Germanischen Glaubens-Gemeinschaft‘ (gegründet 1912/1913) – zu organisieren, wobei die jeweilige dogmatische und rituelle Ausprägung in hohem Maße von den miteinander konkurrierenden Stifterpersönlichkeiten abhängig war. Erhard Schlund spricht zu recht von „Rassenreligion“,⁴⁰ die sich einerseits aus den rassenideologischen völkischen Grundlagen arteigener Religion erklärt und andererseits in ‚Arierparagraphen‘ äußert. Aspiranten der ‚Germanischen GlaubensGemeinschaft‘ mussten bei der Aufnahme erklären, dass sie (unter Vorlage des Austrittsnachweises) keiner „Religionsgemeinschaft“ mehr angehörten, „nach bestem Wissen und Gewissen germanischer Abkunft und vom Blute einer nichtarischen Rasse frei“ sind und auch „in der Ehe“ ihr „Blut rein erhalten werde[n]“.⁴¹ Für den Beitritt zur ‚Deutschgläubigen Gemeinschaft‘ musste neben der Erklärung, keiner „anderen Religionsgemeinschaft“ anzugehören, „an Eides-

38 Alfred Fritsch / Ernst Hunkel: Unsere Volksreligion, die Schnsucht nach ihr von heute, die Erfüllung in Zukunft, Oranienburg-Eden 1915, S. 37f. 39 Conn, Warum deutschgläubig (Anm. 36), S. 99; Gerstenhauer, Deutsch-Christentum (Anm. 29), S. 37. Nach ariosophischer Vorstellung konnte mit Hilfe des für die völkische Rassenideologie und insofern auch für das völkisch-religiöse Denken zentrale Element des ‚Erberinnerns‘ das infolge der Christianisierung verschüttete, im Unterbewusstsein, in der ‚Stimme des Blutes‘ bzw. der Rassenseele bewahrte und in Brauchtum, Mythen, Sagen, Märchen und der Muttersprache sowie der materiellen Kunst verschlüsselt überlieferte Wissen aus vorchristlicher germanischer Zeit freigesetzt werden. Hierzu Ingo Wiwjorra: In Erwartung der ‚Heiligen Wende‘. Herman Wirth im Kontext der völkisch-religiösen Bewegung. In: Völkisch-religiöse Bewegung (Anm. 12), S. 399–416, hier S. 411f. 40 Schlund, Orientierung (Anm. 18), S. 385. 41 Beitrittserklärung zur Germanischen Glaubens-Gemeinschaft [undatiert, 1920er Jahre]; Archiv des Diakonischen Werkes der EKD (Berlin) CA/AC-S 154; mit kleineren Abweichungen abgedr. in: Das Deutsche Buch. Hg. von der Germanischen Glaubens-Gemeinschaft. 2., verm. u. verb. Aufl., Berlin-Steglitz 1921, S. 37.

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statt versicher[t]“ werden, von „deutscher Abkunft und […] von semitischem und dunkelfarbigem Rasseneinschlag frei“ zu sein und „Nachkommen aus gleichem reinen Blute“ zu haben und haben zu werden.⁴² Über die völkische Rassenideologie war der Antisemitismus in der germanenideologisch, antichristlich und daraus folgend antisemitisch bestimmten Argumentationskette der ‚Neuheiden‘ eingelagert. ‚Neuheiden‘ und ‚Deutschchristen‘ stimmten in ihrer antisemitisch begründeten Ablehnung des bestehenden – für sie artfremden – Christentums überein. Mehr als für ‚Neuheiden‘ war für ‚Deutschchristen‘ der Antisemitismus Ursprung und Antriebskraft ihrer Forderung nach einer neuen, deutschvölkischen Reformation und nach einem arteigenen Christentum. Adolf Bartels hatte in seinem Berliner Vortrag nicht nur zum deutschchristlichen Bekenntnis aufgerufen, sondern zugleich erklärt: „Wer in unserer Zeit nicht Antisemit ist, der ist auch kein guter Deutscher.“⁴³ Die antisemitischen Antriebskräfte deutschchristlicher Akteure sind offensichtlich, zumal wenn sie wie Bartels aus der antisemitischen Bewegung der 1880er Jahre stammten. Daneben erfuhr die deutschchristliche Bewegung wesentliche Impulse einerseits aus dem Nationalprotestantismus und andererseits von der von den österreichischen ‚Alldeutschen‘ mit Unterstützung reichsdeutscher Kräfte an der Wende zum 20. Jahrhundert entfachten ‚Los von Rom-Bewegung‘, wodurch der germanenideologische „antirömische Affekt“ des deutschen Nationalismus antikatholisch beziehungsweise antiklerikal und zugleich rassenideologisch antiromanisch aufgeladen wurde.⁴⁴ Die seit 1900 geforderte und konzipierte „Deutschkirche“ war nicht nur mit Blick auf ihre Anhänger im Deutschen Reich protestantisch bestimmt,⁴⁵ wenngleich vereinzelte völkische Gegenstimmen die aggressiven Angriffe aus dem eigenen Lager gegen die „Katholiken von deutscher Rasse“, keineswegs aber die gegen die katholische Amtskirche und ihre Institutionen verurteilten.⁴⁶ Deutschchristliche Ideologen konnten den „Charakter des Christentums als Weltreligion“ nicht leugnen.⁴⁷ Sie postulierten jedoch zum einen, dass „das Christentum als höchste Religion [...] aus der höchsten Menschenrasse, nämlich 42 Beitrittserklärungen zur Deutschgläubigen Gemeinschaft; abgedruckt in: Philipp Stauff: Das Deutsche Wehrbuch, Wittenberg 1912, S. 206f. 43 Bartels, Verfall (Anm. 16), S. 39. 44 Klaus von See: Deutsche Germanen-Ideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1970, S. 9f. 45 [Franz] W[interstein]: Beiträge zur Deutschkirche. In: Heimdall. Zeitschrift für reines Deutschtum und All-Deutschtum 7, 1902, S. 22–24. 46 Weka [= Walther August Gottfried Kabel]: Die Weltanschauung des Hammer. In: Hammer. Blätter für deutschen Sinn 181, 1910, S. 18–21, hier S. 20. 47 Gerstenhauer, Deutsch-Christentum (Anm. 29), S. 21.

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der arischen“ hervorgegangen und die „Jesus-Religion“ überdies in der germanischen Glaubenswelt „vorausbestimmt“ gewesen sei,⁴⁸ und sie verwiesen zum anderen auf den völkischen Grundsatz der rassischen Bedingtheit von Religion, weswegen das „Christentum der Neger, Chinesen oder Inder, der Russen oder Serben, der Italiener oder Franzosen […] ein ganz anderes als das der Deutschen oder der Schweden, der Amerikaner oder der Engländer [ist]“.⁴⁹ Um die „Synthese von Deutschtum und Christentum […] zum Deutschchristentum“ bewerkstelligen und es mit dem „deutschen, arisch-germanischen Wesen“ in Einklang bringen zu können,⁵⁰ wurde dieses Rassechristentum von seinen jüdischen Grundlagen und Traditionen, in erster Linie vom Alten Testament, wie auch von seiner gerade für das Luthertum zentralen paulinischen Theologie gelöst und gleichzeitig Jesus Christus mit Hilfe von kruden rassischen Beweisführungen „arisiert“.⁵¹ Der von deutschchristlichen Apologeten mit den Attributen Tatgeist, „Kampfbereitschaft und Siegeswille“ belegte „deutsche Christus“ ist Abbild der völkischen „Art-Ethik“,⁵² deren rassenideologisch, im Konkreten rassenhygienisch und rassenzüchterisch unterlegten „Wesenseigenschaften […] der heldische, idealistische Sinn, der Charakter des echten deutschen Menschen[s] als Kämpfer für das Gute und Edle, der deutsche Gedanke des Dienens und sich Opferns für die Gesamtheit, für außer unserer Person liegende Ideale“ sind und die das Deutschchristentum als „germanische Pflicht- und Tatreligion“ charakterisieren.⁵³ Wenngleich sich die deutschchristlichen Antriebskräfte in erster Linie aus ihren rassenantisemitischen Grundüberzeugungen heraus erklären, stehen ‚Deutschchristen‘ in derselben Weise wie ‚Neuheiden‘ auf dem Boden der völkischen Rassenideologie und sind insofern wie alle Völkischen zutiefst davon beseelt, kraft der arteigenen (Erlösungs-)Religion das deutsche Volk aus der in apokalyptischen Bildern düster gezeichneten Gegenwart und vor dem drohenden Untergang erretten zu können und zu wollen. Für ‚Neuheiden‘ war dafür die

48 Friedrich Andersen: Der deutsche Heiland (Neuauflage des ‚Anticlericus‘ [1907]), München 1921, S. 134 und S. 138. 49 Gerstenhauer, Deutsch-Christentum (Anm. 29), S. 21. 50 Ebd., S. 31 und S. 33. 51 Vgl. Andersen, Heiland (Anm. 48), S. 123–129; Gerstenhauer, Deutsch-Christentum (Anm. 29), S. 27–30; zu Paulus: Oskar Michel: Vorwärts zu Christus! Fort mit Paulus! Deutsche Religion!, Berlin 1905; ders.: Fort mit dem negativen Christentum! Ein Weckruf. [Der jüdische Falschapostel Schaul genannt Saulus-Paulus], Berlin 1936, sowie Martin Leutzsch: Karrieren des arischen Jesus zwischen 1918 und 1945. In: Völkisch-religiöse Bewegung (Anm. 12), S. 195–217. 52 Julius Bode: Wodan und Jesus. Ein Büchlein von christlichem Deutschtum, Sontra 1920, S. 43; Gerstenhauer, Deutsch-Christentum (Anm. 29), S. 24. 53 Gerstenhauer, Deutsch-Christentum (Anm. 29), S. 24f.

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„Waffe einer völkischen Religion“ deshalb „ebenso gut ein Kampf- und Machtmittel, wie Schnellfeuergeschütze und Panzerschiffe.“⁵⁴ ‚Deutschchristen‘ und ‚Neuheiden‘ verfolgten insofern das gleiche Ziel: „die Reinigung der deutschen Religion und des ganzen deutschen Lebens vom undeutschen Geiste und Wesen.“⁵⁵ Deshalb forderte ein führender deutschchristlicher Ideologe in der Hochphase der völkisch-religiösen Bewegung um 1930, dass die Deutschreligiösen mit uns verbündet für dieses Ziel kämpfen. Später kann immer noch jede Gruppe ihre eigenen Wege gehen. Vorläufig aber und noch auf lange, lange Zeit haben wir den gleichen Weg. Unser gemeinsames Ziel ist der Kampf für deutschen Gottglauben, für die Reinheit deutschen Wesens, für alle heiligen Ideale des Deutschtums; Kampf gegen die römisch-jüdische Afterreligion und alle ihre Schutztruppen, Kampf gegen die tausendjährige Unterdrückung und Verfälschung des deutschen Geistes durch den römisch-jüdischen, also deutsche Gewissensfreiheit, für die Vollendung der Reformation, für eine freie deutsche Kirche, für die endliche Befreiung des deutschen Geistes.⁵⁶

Diese Avancen blieben auf neuheidnischer Seite nicht unerhört, ohne dass jedoch die Gegensätze – wenn auch nur temporär – überwunden werden konnten. Dies lag trotz der gemeinsamen Grundüberzeugung von der „Einheit von Blut und Glauben“ nicht nur in den unterschiedlichen Auffassungen von der Gestalt der arteigenen Religion begründet,⁵⁷ sondern maßgeblich in den höchst differenten Ausformungen innerhalb der beiden völkisch-religiösen Strömungen mit ihrer Vielzahl von Gemeinschaften und von ihren ebenso selbstgewissen wie streitbaren geistigen Führern.

54 Adolf Riemann [= Josef Weber]: Allvater (Wodan) oder Jehovah? Das Deutsche Glaubentum, Salzburg [1921] (Erstauflage Berlin 1906), S. 7. 55 Gerstenhauer, Deutsch-Christentum (Anm. 29), S. 55. 56 Ebd. 57 Willo Mahr: Religiöse Richtsätze für völkische Deutsche. In: Die Sonne. Monatsschrift für Nordische Weltanschauung und Lebensgestaltung 10, 1933, S. 435.

Christoph Auffarth

Das ‚Dritte Reich‘ – das ‚Geheime Deutschland‘ Stefan George im Kontext. Thesen

I Eine Religionsgeschichte des ‚Dritten Reiches‘ Eine Religionsgeschichte des ‚Dritten Reiches‘ ist eine große Herausforderung. Als die Nationalsozialisten das Programm ‚Das Dritte Reich‘ aufgriffen, nicht neu schufen, war es bereits vielfältig gefüllt. Joseph Goebbels ist beeindruckt von der Lektüre von Moeller van den Brucks Buch mit diesem Titel. Aber der Begriff und die Idee des ‚Dritten Reiches‘ sind, als Moeller van den Bruck 1923 diesen Buchtitel wählt, schon weit bekannt und haben eine ganze Reihe von Wurzeln in verschiedenen Diskursen. 2. Eine Religionsgeschichte des ‚Dritten Reiches‘ sollte also nicht die Abkürzung und Selbstdarstellung der Nationalsozialisten repetieren oder mit überlegenem Wissen von den zwölf Jahren des ‚Tausendjährigen Reiches‘ leichthin reden. Viel eher geht es darum, die NS-Diktatur und ihre Religion als Konsequenz verschiedener Entwicklungen des langen 19. Jahrhunderts und ihrer Radikalisierung, Bestialisierung in der ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‘, im Ersten Weltkrieg und seiner Geschichte über das Ende der Kampfhandlungen hinaus zu verstehen. 3. In einer Religionsgeschichte geht es dann nicht mehr um die Frage: Wie konnte es zu der unbegreiflichen Verirrung der NS-Ideologie kommen? Wer ist ein Nazi und wer ist keiner? Diese Frage war, so lange die Täter noch lebten und sich hinter dem Befehlsgehorsam juristisch verstecken konnten, eine notwendige Frage der moralischen Reinigung. 4. In der nunmehr dritten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg kann und muss sich die Frage von der individuellen Verantwortung lösen. Jeder und jede waren in immer anderen Situationen des Lebens konfrontiert mit den Regelungen der neuen Machthaber und den Personen, die sie einforderten. Wann lohnte es sich mitzumachen, wann sich zu widersetzen? Und in welcher Situation waren die Prinzipien der eigenen Gemeinschaft so über den Haufen geworfen, dass man hier ‚Nein‘ sagen musste? 5. Eine Religionsgeschichte des ‚Dritten Reiches‘ gehört in die umfassendere Frage nach Religion und Moderne. Lange wurde das Verhältnis als Antagonismus verstanden: Religion und Moderne schließen sich aus. Das nennt 1.

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man Säkularisierung.¹ Die Religionswissenschaft hat dagegen die verschiedenen Formen der Modernisierung von Religion beschrieben. Das Paradigma ist die Europäische Religionsgeschichte.² 6. Eine methodische Grundsatzentscheidung für eine solche Religionsgeschichte ist, sie nicht auf ‚Religion‘ zu beschränken. Religionswissenschaft untersucht das ‚religiöse Feld‘. Dazu gehören neben den Religionsgemeinschaften und denen, die sich selbst als religiös bezeichnen, auch diejenigen, die das ‚religiöse Feld‘ besetzen. Darunter die Gruppe derer, die ‚Religion‘ prinzipiell bestreiten als Irrationalität, und die weit größere Gruppe, die sie irrelevant findet. Die ‚Religionsproduktivität‘ übernimmt meist die traditionellen Fragen, kann sich aber nicht mit den traditionellen Antworten zufrieden geben und begibt sich somit aus dem von den institutionalisierten Religionen definierten Gebiet.³ 7. Im langen 19. Jahrhundert findet eine fundamentale Umbesetzung des ‚religiösen Feldes‘ statt. Kennzeichnend sind:⁴ a) die Nation als von Gott gegebene Naturordnung des Sozialen; b) die soziale Verantwortung der Kirchen für die Verlierer der Industrialisierung; c) die Ästhetisierung von Religion bis hin zur Kunst als Religion; d) die Aufklärung als religiöses Selbstbild (‚Entzauberung‘): Naturwissenschaft widerlegt die supranaturalistischen Elemente von Religion, was aber nicht das Ende von Religion bedeutet; e) die innerweltliche Eschatologie als Chiliasmus (das ‚Tausendjährige Reich‘): Das Reich Gottes ist nicht ein Ereignis außerhalb der Zeit und des Raumes dieser Welt (‚Himmelreich‘), sondern ein Programm, das sich innerweltlich realisieren muss. 8. Das bedeutet: Als Religionswissenschaftler nehme ich nicht das apologetische Programm auf, das Hans Maier und seine Arbeitsgruppe als ‚Politische Religion‘ entwickelt haben: Diese sei das Gegenteil von Religion. Oder die Reden von der Ersatzreligion, Quasireligion oder Ideologie. In seiner Ausein1 Vgl. Hartmut Lehmann (Hg.): Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Göttingen 2004. Das ist der hierzu aktuell einschlägige Sammelband. 2 Das Programm bei Burkhard Gladigow: Europäische Religionsgeschichte [1995]. In: Ders.: Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft, Stuttgart 2005, S. 289–301. Grundsätzliche Bestandsaufnahme der methodischen Fragen und Paradigmen in Hans G. Kippenberg/Jörg Rüpke/Kocku von Stuckrad (Hg.): Europäische Religionsgeschichte. Ein Handbuch, Göttingen 2009. 3 Vgl. Verf.: Theologie als Religionskritik in der Europäischen Religionsgeschichte. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 15, 2007, S. 5–27. 4 Zum Problem (mit Beispielen eher des 21. Jahrhunderts) vgl. Volkhard Krech: Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft, Bielefeld 2011.

Das ‚Dritte Reich‘ – das ‚Geheime Deutschland‘



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andersetzung mit Carl Schmitt bei seiner Konversion in Rom 1930 hat Erik Peterson die ‚Politische Religion‘ nicht problematisiert, wohl aber die ‚Politische Theologie‘ unter den eschatologischen Vorbehalt gestellt. Niemand rühme Kaiser Konstantin als Gottes Messias oder Hitler als den Heiland. 9. Als Religionswissenschaftler kann ich sie, ob liberale Protestanten, politischen Katholizismus, Wagners Bühnenweihspiel, Völkische und Religion des ‚Dritten Reiches‘, die gläubigen Physiker und den George-Kreis auf einem gemeinsamen Feld beobachten.⁵ Dabei spielt die Verschiedenheit der Vergemeinschaftungsformen eine wichtige Rolle: Lesemysterium, Intellektuellenreligion, Gemeindeformen mit hohem oder niedrigem commitment, der ‚Kreis‘, der Orden. Und weiter ist zu beachten, inwieweit religiöses Sprechen und Ritual geübt werden (wie im George-Kreis) oder Sprechen über Religion (wie im Kreis um Max Weber).⁶ 10. Es geht also nicht mehr darum, George als „Ahnherrn der neuen nationalsozialistischen Bewegung“ zu verstehen, wie die Einladung, Präsident der von den Nationalsozialisten neugegründeten Dichterakademie zu werden, ihn umgarnen wollte.⁷ Das angebliche Bekenntnis, George habe sich selbst so bezeichnet, stufte Kurt Hildebrandt als Verfälschung des NS-Kultusministeriums ein. Tatsächlich schrieb George, als er den ihm angetragenen Ehrenposten ablehnte: „Zwar bin ich der Ahnherr jeder nationalen Bewegung – wie aber der Geist in die Politik kommen soll – das kann ich ihnen nicht sagen.“⁸

5 Hier kann ich nicht die wichtige Forschungsliteratur zu dem Thema der Einordnung der Religion Stefan Georges und seines Kreises diskutieren. Ich habe mit großem Gewinn gelesen: Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der moderne Antimodernismus, Darmstadt 1995; Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997; Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende, Paderborn 1997; Richard Faber: Abendland. Ein politischer Kampfbegriff, Berlin – Wien 2001; Georg Dörr: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule, Würzburg 2007. 6 Hans G. Kippenberg hat dem rituellen Aspekt in seinem wichtigen Beitrag wenig Beachtung geschenkt: Hans G. Kippenberg: Joachim Wachs Bild vom George-Kreis und seine Revision von Max Webers Soziologie religiöser Gemeinschaften. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 61, 2009, S. 313–331. 7 Dazu der Text des Beileidtelegramms, das am 4.12.1933 von der NS-Regierung an Georges Schwester gesandt wurde, abgedruckt in: Margarete Klein: Stefan George als heldischer Dichter unserer Zeit, Heidelberg 1938, S. 100. 8 Zitiert bei Martin A. Siemoneit: Politische Interpretationen von Stefan Georges Dichtung, Frankfurt a. M. 1978, S. 61. Tatsächlich gab es George-Jünger, die lauthals die Regierungsübernahme Hitlers als die Rettung begrüßten (Ernst Bertram und Woldemar Uxkull-Gyllenband), während Kantorowicz – von dem unten zu reden sein wird – entschieden ablehnte. Vgl. Eckhart Grünewald: „Übt an uns Mord und reicher blüht was blüht!“ Ernst Kantorowicz spricht am

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11. Ebenso wenig kann man aus der Beteiligung der beiden aus dem Kreise der Georgeaner, Claus und Berthold von Stauffenberg, am Widerstand gegen Hitler schließen, dass George und sein Kreis eine Revolte des deutschen Geistes planten und durchführten, also in prinzipiellem Widerstand gegen den Nationalsozialismus standen.⁹ Aus einem Gerücht heraus wurde mit Gewissheit behauptet, Claus von Stauffenberg habe bei seiner Hinrichtung seinen Tod mit den Worten geweiht: „Es lebe das Geheime Deutschland!“¹⁰

II Religion im modernen Staat: Zivilreligion 1.

2.

3.

Methodisch und theoretisch sind die Versuche zur Positionierung der Religion im modernen Verfassungsstaat und zur Positionierung der Politik auf dem religiösen Feld noch wenig vorangekommen. Eine Religionspolitologie, die ‚Politische Religion‘, ‚Politische Theologie‘: Sie greifen zu kurz in spezielle Diskurse; am weitesten ist da die Theorie der Zivilreligion gekommen und die methodische Umorientierung, an Stelle einer Definition von Religion die Diskurse zu analysieren, in denen der Bereich, das Feld beschrieben wird. Die Beziehung und wechselseitigen Ansprüche von eigensinnigen, aber nicht autonomen Bereichen kann man auf dem Gebiet der Metaphern und Begriffe erkennen, lohnender aber in der ‚Anspielung‘ von Ritualen, das heißt von Mustern, die aus dem ‚hoch‘ ritualisierten und ‚tief‘ sozialisierten christlichen Gottesdienst stammen, sodass die Zuhörer in Gedanken den Satz vollenden können. „Para-christlich“ nennt Hubert Cancik daher eine solche Verwendung von liturgischen Formeln und Ritualen. Mögen die Worte manchmal ausgetauscht sein, Beanspruchung und Besetzung von religiös sozialisierten metaphorischen Formeln und Symbolen erzeugen einen Habitus, der prägend ist über die gerade praktizierte Religion hinaus, negativ ablehnend oder positiv affirmierend.¹¹

14.11.1933 über das ‚Geheime Deutschland‘. In: Robert Louis Benson/Johannes Fried (Hg.): Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung, Stuttgart 1997, S. 57–76, hier S. 62–64. 9 Zur Entwicklung vom Gerücht über die Zeugenaussagen bis zum Mythos: Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 409–427. 10 Ebd., S. 424f. Edgar Salin hat das in der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte (1948), S. 204, zitierfähig geschrieben. Vgl. dazu Joachim Fest: Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli, Berlin 1994, S. 280; Manfred Riedel: Geheimes Deutschland, Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln 2006, S. 174. Kritisch und skeptisch dagegen Peter Hoffmann: Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, München 1979, S. 862f. 11 Hubert Cancik: „Wir sind jetzt eins“. Rhetorik und Mystik in einer Rede Adolf Hitlers, Nürnberg 11.9.1936. In: Günter Kehrer (Hg.): Zur Religionsgeschichte der Bundesrepublik Deutsch-

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4. Für eine Rede zum Neujahr 1900 habe ich einmal gezeigt, wie Goethes Hymnen, Zitatteile aus evangelischen Kirchenliedern, ein historisierend sich auf Kaiser Konstantin beziehendes Bild und eine durchaus profane Festrede in der wissenschaftlichen Akademie zusammen eine zivilreligiöse Veranstaltung ergeben.¹²

III Das ‚Dritte Reich‘: Besetzungen eines Programms 1.

2.

Als George seinen neunten Gedichtband unter dem Titel ‚Das Neue Reich‘ 1928 veröffentlicht, stellt er das Werk durch diesen Titel¹³ mitten in eine lebhafte Diskussion. Das Programm drängt auf Realisierung. Das bedeutungsvolle Wort ‚Reich‘ war nach dem Untergang des ‚Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation‘¹⁴ und gegen Napoleons ‚Empire‘ als Zukunftserwartung hoch besetzt. Die Realisierung als ‚Heiliges Protestantisches Reich Deutscher Nation‘, das ‚Zweite Kaiserreich‘, wurde als Erfüllung

land, München 1980 (= Forum Religionswissenschaft 2), S. 13–48. Ebenfalls abgedruckt in: Hubert Cancik: Antik – modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, Stuttgart 1998, S. 229–264. 12 Vgl. Verf.: „Ein Hirt und keine Herde“. Zivilreligion zu Neujahr 1900. In: Verf./Jörg Rüpke (Hg.): Ἐπιτομὴ τῆς Ἑλλάδος. Studien zur römischen Religion in Antike und Neuzeit für Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier, Stuttgart 2002, S. 203–223. Zu den Jahrhundertwenden als religiösen Ereignissen vgl. Wolfgang Braungart/Gotthard Fuchs/Manfred Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 2: Um 1900, Paderborn u. a. 1998. Zu Zivilreligion im Anschluss an Robert N. Bellah: Civil religion (1969) vgl. Heinz Kleger: Religion des Bürgers: Zivilreligion in Amerika und Europa, Münster ²2011; Rolf Schieder: Civil religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur, Gütersloh 1987; Thomas Hase: Zivilreligion. Religionswissenschaftliche Überlegungen zu einem theoretischen Konzept am Beispiel der USA, Würzburg 2001; Andreas Nix: Zivilreligion und Aufklärung. Der zivilreligiöse Strang der Aufklärung und die Frage nach einer europäischen Zivilreligion, Berlin – Münster 2012. 13 Erst in der letzten Phase als ‚Notdach‘ für thematisch sehr unterschiedliche Gedichte gewählt – oder als Betonung der zentralen, neuen Gedichte: vgl. Ernst Osterkamp: Das Neue Reich (SW IX). In: Achim Aurnhammer/Wolfgang Braungart/Stefan Breuer/Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. 1, Berlin – Boston 2012, S. 203–217, hier S. 204. 14 Vgl. Verf.: Das zukünftige Reich. Die Wissenschaftsgeschichte als Teil der Religionsgeschichte der Jahrhundertwende 1900. In: Ders.: Irdische Wege und himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem und Fegefeuer in religionswissenschaftlicher Perspektive, Göttingen 2002 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 144), S. 210–252; Ulrich Raulff: „In unterirdischer Verborgenheit“. Das geheime Deutschland. Mythogenese und Myzel. Skizze zu einer Ideen- und Bildergeschichte. In: Barbara Schlieben/Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer (Hg.): Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004, S. 93–115.

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3.

proklamiert. Doch sehr schnell setzte sich die Ahnung durch, dass das ‚Zweite Deutsche Kaiserreich‘ nicht die Realisierung des eschatologischen Programms darstellte. Es konnte nur ein Übergangsreich sein, dem ein ‚Drittes Reich‘ folgen müsse. In der katholischen Antwort werden den staufisch-hohenzollerischen Preußenbildern universalere Reichsutopien entgegengestellt. Die Vision des Joachim von Fiore vom Dritten Reich spielt dabei eine Rolle.¹⁵ Dieses ‚Dritte Reich‘ aber müsste gegen den Gratifikationsverlust geschützt werden, den jede Realisierung eines Chiliasmus ereilt.¹⁶ Bald siebzig Jahre später war die offene Diskussion um das verheißungsvolle Programm des ‚Dritten Reiches‘ verfestigt auf die historische Realisierung durch die NS-Diktatur und ihr Ziel: den Krieg über die ganze Welt zu bringen, eine Rassenpolitik, die überschattet vom Krieg nach außen den Genozid an der eigenen Bevölkerung bis zum Letzten als oberstes Ziel realisierte. Die Politik ist legitimiert durch Gott, aber eine eigene Religion braucht sie nicht: In Hitlers Rede am 6. September 1938 bemüht er zwar wie bisher die Einheitsmystik, das ‚Neue Reich‘ und den Glauben, aber er verabschiedet das prophetische Programm des ‚Dritten Reiches‘: Es ist nicht mehr nur ‚Idee‘, sondern in Erfüllung gegangen als Großdeutschland. Aber sie begann als Idee und immer noch heißt es das ‚Neue Reich‘. Den höchsten Dank aber wollen wir selbst dem Allmächtigen sagen für das Gelingen der Vereinigung der alten Ostmark mit dem neuen Reich. Er hat es gestattet, der deutschen Nation dadurch ein Glück, dem neuen Reich aber einen großen Erfolg zu schenken, ohne daß es notwendig war, das Blut und Leben unserer Volksgenossen einzusetzen. Mögen die Deutschen nie vergessen, daß dies ohne die im Nationalsozialismus geeinte Kraft der ganzen Nation nicht möglich gewesen wäre. Denn als am Morgen des 12. März die Fahne des neuen Reiches über die Grenze hinausgetragen wurde, war sie nicht mehr wie früher das Zeichen eines Eroberers, sondern das Symbol einer schon längst alle Deutschen umschließenden Einheit. Die Kriegsflagge, die unsere Wehrmacht damals in die neuen Gaue trug, war im schweren Kampf zum Glaubenszeichen des Sieges für unsere Brüder geworden. So hat dieses Mal zuerst eine Idee ein Volk erobert und geeint! Für uns und für die alle nach uns Kommenden wird das Reich der Deutschen nunmehr aber stets nur noch Großdeutschland sein!¹⁷

15 Vgl. Verf., Irdische Wege (Anm. 14), S. 242–249; Klaus Breuning: Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur 1929–1934, München 1969; Reinhard Richter: Nationales Denken im Katholizismus der Weimarer Republik, Berlin 2000. 16 Vgl. Verf., Irdische Wege (Anm. 14), S. 71f. (bezieht sich auf Alois Hahn: Soziologie der Paradiesvorstellungen, Trier 1976). 17 Max Domarus (Hg.): Hitler, Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Bd. 1: Triumph, Zweiter Halbband 1935–1938, Wiesbaden [1962] 1973, S. 892–894 [Hervorhebungen C. A.].

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Und am gleichen Tage bei der Kulturtagung spricht er über das Religiöse am Nationalsozialismus, indem er die Zentralbegriffe der Religion anspricht, Kult, Gebet, sogar Demut: Unser ,Kult‘ heißt ausschließlich: Pflege des Natürlichen und damit auch des göttlich Gewollten. Unsere Demut ist die bedingungslose Verbeugung vor den uns Menschen bekanntwerdenden göttlichen Gesetzen des Daseins und ihrer Respektierung. Unser Gebet heißt: Tapfere Erfüllung der sich daraus ergebenden Pflichten. Für kultische Handlungen aber sind nicht wir zuständig, sondern die Kirchen!¹⁸

Die Nationalsozialisten haben das programmatische Wort vom ‚Dritten Reich‘ als prophetische Verheißung übernommen und für ihre Politik als positiv besetzte Ankündigung mit tiefem Bedeutungsgehalt und hohem Wahrheitsanspruch genutzt. Sie haben es aber ausdrücklich 1938 wieder aufgegeben. In autoritativen Ansprachen haben Hitler, Goebbels und Rosenberg verboten, den Begriff ‚Drittes Reich‘ weiter für den NS-Staat zu verwenden. Das Wort wird aus dem Duden gestrichen, die Presse und Propaganda angewiesen, den Begriff nicht mehr zu gebrauchen.¹⁹ Mystik gehöre nicht auf die politische Bühne, sondern in die Kirchen. Und in den Kirchen erhielten auch 1938 noch der Führer und seine Regierung eine breite Unterstützung. Wenn 1938 der Mystizismus des Wortes ‚Drittes Reich‘ abgelegt wird, so war es den Machthabern bewusst, dass sie ihren Aufstieg auch diesem prophetischen und verheißungsvollen Symbol verdankten, das sie von anderen aufnahmen und besetzten. Das Symbol ‚Drittes Reich‘ umfasst Ästhetisches und Chiliastisches, kaum Apokalyptisches. Um den Gratifikationsverlust seiner Realisierung zu verhindern (wie es der Nationalsozialismus gerade erlebte), bedarf es der Katechontik.

IV Ästhetisches 1.

Prominent ist die Junktur „dritte[s] Reich“ in dem 1912 erschienenen Essay Thomas Manns in einer Überlegung zum mäßigen Erfolg seines Dramas ‚Fiorenza‘. Schillers Unterscheidung zwischen naiver und sentimentalischer Dichtung sei im Künstler aufgehoben:

18 Ebd., S. 892–894 [Hervorhebungen C. A.]. Vgl. Bernd Johannsen: Reich des Geistes. Stefan George und das Geheime Deutschland, München 2008, S. 201. 19 Das Wichtigste bei Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 1998, S. 156–160.

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Denn der Dichter ist die Synthese selbst. Er stellt sie dar, immer und überall. Die Versöhnung von Geist und Kunst, von Erkenntnis und Schöpfertum, Intellektualismus und Einfalt, Vernunft und Dämonie, Askese und Schönheit – das dritte Reich.²⁰

2.

3.

Thomas Mann hat den Begriff nicht selbst geprägt. „Im Laufe des 19. Jahrhunderts war der Begriff dank seiner prophetischen Aura und mannigfachen Adaptierbarkeit zu neuer Beliebtheit gekommen (der er dann auch seine Karriere in der Konservativen Revolution nach 1918 verdanken sollte).“²¹ Eine mögliche Quelle ist Ibsens ‚Kaiser und Galiläer‘ (1873; dt. 1888).²² George beschäftigte sich 1888 mit dem Werk.²³ Thomas Mann konnte ihn weiter finden in Dimitri Mereschkowskis Buch ‚Tolstoi und Dostojewski‘²⁴ oder im ersten Band von Karl Lamprechts ‚Zur jüngsten deutschen Vergangenheit‘²⁵. Die Verwendung der Formel knüpft direkt an deren mystische Ursprünge an. Im dritten Akt von Thomas Manns Drama ‚Fiorenza‘ tritt ‚Fiore‘ auf. Interessant ist vor allem der 3. Akt des I. Teils. Die ästhetische Seite des ‚Neuen Reiches‘ bei George ist durchgehend deutlich.²⁶ Wenn er in den ersten beiden Gedichten der ‚Sämtlichen Werke‘ Band IX in der Rolle Goethes und Hölderlins spricht, dann ruft er die ‚Bildungskraft‘ des deutschen Idealismus auf und ruft sie zugleich aus ihren Träumen

20 Thomas Mann: Essays, Frühlingssturm 1893–1918. Hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Bd. 1, Frankfurt a. M. 1993, S. 156f. Dazu der Kommentar S. 369f.; gekürzt wiederholt in Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. von Heinrich Detering u. a. Bd. 14.1: Essays I 1893–1914 Text, Frankfurt a. M. 2002, S. 349ff.; die Kommentierung von Detering in Bd. 14.2, S. 483. 21 Nach Kurzke 1993, Zitat bei Detering (Anm. 20), S. 483. 22 Henrik Ibsen: Kejser og Galilæer, norwegisch uraufgeführt Kristiania 1903; dt. Kaiser und Galiläer, uraufgeführt Leipzig 1896. Als Lesestück veröffentlicht in Kopenhagen 1873; dt. Leipzig 1888. In der Mitte des 4. Aktes weiht der orientalische Mystiker Maximos Julian ein in die Lehre von den drei Reichen. Dazu Richard Faber/Helge Høibraaten (Hg.): Ibsens ‚Kaiser und Galiläer‘. Quellen – Interpretationen – Rezeption, Würzburg 2011. Darin Lisbeth P. Wærp: Ibsenʼs Third Empire Reconsidered, S. 105–120; Richard Faber: Die politisch-religiösen Ideendichter Ludwig Derleth, Stefan George und Henrik Ibsen, S. 181–210; Helge Høibraaten: Carl Schmitt, Henrik Ibsen und die Politische Theologie. Die ‚Kronprätendenten‘, ‚Kaiser und Galiläer‘ und die Lehre vom Dritten Reich, S. 233–294. 23 Vgl. Jutta Schloon: Mittelalter-Rezeption. In: Stefan George und sein Kreis (Anm. 13), Bd. 2, S. 672–682, hier S. 680, Anm. 44. 24 Dimitri Mereschkowski: Tolstoi und Dostojewski, Leipzig 1903, S. 115. 25 Karl Lamprecht: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, Freiburg 1905, S. 406. 26 Als Ausgangspunkt der Interpretation des Gedichtes beziehe ich mich gerne auf Christophe Fricker: Stefan Georges Gedicht ‚Geheimes Deutschland‘. Ein politisches Programm? In: Bruno Pieger/Bertram Schefold (Hg.): Stefan George. Dichtung, Ethos, Staat. Denkbilder für ein geheimes europäisches Deutschland, Berlin 2010, S. 131–163.

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von der griechischen und römischen Klassik zurück. In ‚Geheimes Deutschland‘²⁷ heißt es in den Strophen 6 und 7: Einst lag ich am südmeer […] (bis Pan²⁸ ihn auffordert) ‚Kehr in die heilige heimat Findst ursprünglichen boden Mit dem geschärfteren aug Schlummernder fülle schooss Und so unbetretnes gebiet Wie den finstersten urwald‘. .

4. Die Bestimmung des Neuen Reiches liegt also in der heiligen Heimat. Die räumliche Rückkehr ist aber nicht der einzige Weckruf zur Umkehr. Ein zweiter betrifft den Bezug auf eine mythische Urzeit. Strophe IV bestimmt „wo nicht mehr, […] wo nicht […]“. Das ist der Imperativ: Verlasse Paradies und Wildnis der Urzeit und begib dich in die Gegenwart! Aber ist diese nicht bis in die letzten Geheimnisse erforscht, „bestapft“ (V. 6): in der Urbanisierung (V. 11–12), in der Überflut der Informationen (Strophe 10), im Chaos des Weltkriegs (Strophe 13), wo soll da das ‚Neue Reich‘ entstehen? Ort, Zeit, Raum sind hier und in der Gegenwart. Da, in den äußersten Nöten (Strophe 5), entsteht – ein Geschenk der Himmlischen – neuer Raum im Raum. 5. Die drei gliedernden Kurzstrophen 1, 8 und 17 fassen das zusammen: Der Abgrund ist zum Greifen nah, ja der Dichter will in aller Deutlichkeit in ihn hineinblicken (Strophe 1) – der Sonnentraum, will er nicht wie Ikarus einen Blick in den Himmel erhaschend zerschmettern, muss nun nah am Grunde²⁹ streichen (Strophe 8) – und doch bleibt der Gipfel das Ziel, ohne abzustürzen (Strophe 17). 6. Da offenbaren die Götter „ihr lezt geheimnis“ (Strophe 5): Es ist als Epiphanie anzuschauen, eine bezaubernde Schönheit. Mitten in der Not und Befan27 Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. IX, S. 45–49. Im Folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. 28 Fricker lässt einen germanischen Dämon am klassischen Südmeer auftreten. Vgl. Gustav Jungbauer: Mittagsgespenst. In: Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 6, Berlin 1934/1935, S. 414–418, zeigt nur die Übernahme des Pan in christliche Kontexte, keinen eigenständigen germanischen Dämon. 29 Fricker, Geheimes Deutschland (Anm. 26), S. 143 versteht Grund als „Grund des Abgrundes“ und damit als coincidentia oppositorum mit der Sonne als höchstem Ort.

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7.

genheit in Alltag und Krieg (der Bruch zwischen Strophe 13 und 14) zeigt sich der ‚Liebling des Glückes‘ (Strophe 14). Aber das ist nicht der Augenblick, zu dem man sagt: „Verweile doch, du bist so schön!“ Oder mit Osterkamp gesagt: „Das Reich des neuen Gottes existiert nur im Augenblick der Überwältigung durch die Schönheit, bildet einen Punkt außerhalb der Zeit“.³⁰ Das übersieht die Markierungen des Chiliastischen. Daher wende ich mich im folgenden Abschnitt dem Chiliastischen zu. Nein, dieses ‚Neue Reich‘ geht nicht im Schönen und nicht im gegenwärtigen Augenblick auf.

V Chiliastisches 1.

2.

3.

Die Benennung der Gedichtsammlung als ‚Das neue Reich‘ setzt diese in den Kontext einer laufenden Debatte. Schon das Wort ‚Reich‘ enthält im Deutschen Konnotationen über die Herrschaftsausübung hinaus; die eschatologische Komponente gehört durch die vier Weltreiche aus Daniel, Kapitel 7, und das Endreich der Apokalypse des Johannes, Kapitel 21, als Gottes Reich immer mit dazu. Das Gottesreich in eine Zeit nach der Geschichte und in einen anderen, jenseitigen Raum zu verlegen als ‚Himmelreich‘ und damit sein weltveränderndes, revolutionäres Potential zu entschärfen, war die etablierte Kirche eigentlich immer bemüht. Dagegen haben kleinere christliche Gruppen das Revolutionäre betont und daraus einen innerweltlichen Aktivismus mit Berufung auf die tausendjährige Herrschaft der Auserwählten, das Millennium, abgeleitet (Apk 20,1–7). Das Epitheton ‚Neues‘ oder ‚Drittes‘ Reich ist die Absage an alle Reform im bestehenden System, es ist Ansage der Revolution. Was ist davon in Georges ‚Neuem Reich‘ enthalten? Als Ludwig Thormaelen dem Dichter 1909 begegnete, beschreibt er seinen „Eindruck einer gewaltigen, dämonischen, erd- und weltumwälzenden Naturkraft, die mit aller Leidenschaft sich der Zeit und dem Geschichtsgang in die Räder werfen will, sie in andere, neue Bahnen reißen will.“³¹ Das Chiliastische muss sich immer davor absichern, dass ein Gratifikationsverlust, das Einholen der Utopie durch den real existierenden, hässlichen

30 Ernst Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010, S. 126–128. Vgl. S. 229: „Georges Götter gehen in Serie, weil sie, die nur im Augenblick existieren, sich überaus rasch verbrauchen.“ 31 Ludwig Thormaehlen: Erinnerungen an S. G., Hamburg 1962, S. 29. Zitiert nach Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 30), S. 115.

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Zwangsstaat, durch Parteidiktatur, Zensur und Spitzelwesen das Programm desavouiert. Die Lösung, das ‚Geheime Deutschland‘, beschreibt die Erfüllung des ‚Neuen Reiches‘, denn eine präsentische Eschatologie stützt sich auf zwei Interpretationen: 4. Die eine Interpretation sieht als die Erfüllung des Programms vom ‚Neuen Reich‘ den Kreis um den Meister, der dann auch ohne Meister dieses Reich des Geistes trägt.³² Gerd Theißen hat für die Jesusbewegung nach dem Tode Jesu in einem vergleichbaren Vorgang den Begriff des ‚Gruppenmessianismus‘ geprägt: Anstelle des einen Messias tritt nun die Gruppe, die die gleichen Erwartungen auf sich zieht und für ihre Umsetzung einsteht.³³ Man kann versuchen, die Strophen biographisch jeweils einem Mitglied des George-Kreises zuzuweisen, wie das nach anderen etwa Fricker tut:³⁴ „Hinter den in den Strophen 9–12 und 14–16 Aufgerufenen, Erinnerten und Verklärten stehen historische Personen.“ Sieben Menschen seien aufgerufen.³⁵ Muss aber nicht das Evozieren von Verstorbenen und ehemaligen Mitgliedern, die dem Kreis den Rücken gekehrt haben, im Verkünden schon das Scheitern des ‚Geheimen Deutschland‘ eingestehen?³⁶ 5. Womöglich wichtiger aber als Ordnungsfaktor im Gedicht, mehr noch als den biographischen, findet Fricker dann den Aspekt, der sich in allen Strophen finde: den religiösen.³⁷ Und kommt (S. 160) zu dem Schluss: Die Musterung der Strophen 9–16 hat erschlossen, dass die Strophen in zwingender Folge den Bereich einer religiösen Grunderfahrung anzeigen, der zunächst durch seine Fremdheit 32 Den Beweis zu führen, wie der Kreis auch ohne den Meister, ohne sein Charisma lebt, hat Ulrich Raulff in seinem Buch 2009 unternommen (Anm. 9). 33 Gerd Theißen: Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu. In: Jahrbuch für Biblische Theologie 7, 1992, S. 101–123. 34 Dabei stützt er sich auf Interpretationen aus dem Kreis. 35 Strophe 9 beziehe sich auf Hans von Prott (1869–1903), Strophe 10 auf Alfred Schuler (1865–1923) (vgl. Stefan George und sein Kreis [Anm. 13], Bd. 3, S. 1633–1636), Strophe 11 auf Maximilian Kronberger/Maximin (1888–1904) (vgl. Stefan George und sein Kreis [Anm. 13], Bd. 3, S. 1500–1503), Strophe 12 auf Karl Wolfskehl (1869–1948) (vgl. Stefan George und sein Kreis [Anm. 13], Bd. 3, S. 1765–1771), in Strophe 14 sei Ernst Glöckner (1885–1934) gemeint (vgl. Stefan George und sein Kreis [Anm. 13], Bd. 3, S. 1379–1381). Strophe 15 beziehe sich schließlich auf Saladin Schmitt (1883–1951) (vgl. Stefan George und sein Kreis [Anm. 13], Bd. 3, S. 1627–1629) und Strophe 16 womöglich auf Berthold Vallentin (1877–1933) (vgl. Stefan George und sein Kreis [Anm. 13], Bd. 3, S. 1728–1732). Fricker (Anm. 26) räumt ein: „Daran können Zweifel angebracht werden, die auszuführen hier der Platz allerdings nicht ausreicht.“ (S. 144, Anm. 27). 36 Das ist Osterkamps Lösung: Es gehe um die Wiederkehr der Toten. Vgl. Osterkamp, Das neue Reich (Anm. 13), S. 216. 37 Vgl. Fricker, Geheimes Deutschland (Anm. 26), S. 146–160.

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schockiert, sodann in seiner Eigenart anerkannt, schließlich an eine von Gegenseitigkeit und geistiger Übereinkunft geprägte Gemeinschaft vermittelt wird. Die […] religiöse Ebene steht […] als unberührbarer Raum der modernen Welt fremd und unbekannt (gegenüber).

Auch dieses Verständnis wird dem dynamischen Aspekt des Chiliasmus im Gedicht nicht gerecht. 6. Das begründet die zweite Interpretation, dass es um die Begründung des Kultes für den ‚Liebling des Glückes‘ (Strophe 14) als vergöttlichter Maximin gehe. Auch dies ist aber chiliastisch zu modifizieren.³⁸ Die präferierte Lösung hebt Zeit und Raum auf durch drei Bestimmungen: Die Realisation des ‚Neuen Reiches‘ geschieht im Kultischen; im ‚Augenblick‘ verliert sich die zeitliche Dimension; Anschauung und Ästhetik verzichten auf Aktion. 7. Aber das Gedicht endet nicht mit der Epiphanie des Gottes „liebling des glückes“. Wohl ist der Gipfel erreicht, fast erreicht. Das „hundertäugig allkunde Gerücht“ weiß: Der in Strophe 14 und 15 Besungene und sein Verhalten, „solches“ ist einmalig (Strophe 16), einzigartig in der Weltgeschichte. 8. Statt aber hier voran zu gehen, den Kairos zu nutzen, bricht das Gedicht um. Der einmalige Augenblick, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen, weil sie hinten keine Haare hat, wird in der Weimarer Zeit diskutiert. Unter dem Stichwort Kairos bekommt die chiliastische Eschatologie eine Zuspitzung: Sie will die Erfüllung hier und jetzt als Sozialismus oder als Nationalismus, als Aktion, und sie wartet nur auf den rechten Augenblick.³⁹ Die Krisis, das lange verspürte Misslingen aller Reform, aller Bewegungen, aller Utopie, der Weltrevolution oder des Weltgerichts,⁴⁰ ja das Misslingen jeder Kultur wird nun zur notwendigen Voraussetzung des chiliastischen Durchbruchs, des Kairos. Das sagt auch George in der Weltkriegsstrophe 13 und weiter in 18. 9. Also Krisis: Dass was meist ihr emporhebt Dass was meist heut euch wert dünkt

38 Chiliastisch: „Jezt naht nach Tausenden von Jahren/Ein einziger freier Augenblick“, SW IX (Anm. 27), S. 36. 39 Gut aufgearbeitet von Alf Christophersen: Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008 (= Beiträge zur historischen Theologie 143). Für George vgl. das Unterkapitel 4.4.5.2 ‚Kairologie‘ in Christian Oestersandfort: Antike-Rezeption. In: Stefan George und sein Kreis (Anm. 13), Bd. 2, S. 657–660. 40 Vgl. Lucian Hölscher: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989. Nur für die Sozialdemokratie: Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Berlin 1973.

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Faules laub ist im herbstwind Endes- und todesbereich:

10. Und nun wäre zu erwarten angesichts der gleichzeitigen Diskussion über den Kairos, dass George diesen verkündet. Nicht erst nach Hitlers Amtsantritt wurde in der Zeit überall verkündet: ‚Die Stunde ist da‘, so der deutsche Ausdruck für den Kairos. Die Stunde der Kirche, die Stunde des Volkes oder der Ausruf des ‚Tages‘, nicht mehr des ‚Herrn‘, sondern der Tag der Wiedergeburt, der Tag der Deutschen.⁴¹ 11. Innerweltliche Eschatologie als Chiliasmus (das ‚Tausendjährige Reich‘, auch Millenarismus): Das Reich Gottes ist – entsprechend der Ankündigung in der Offenbarung des Johannes 20,1–7 – nicht ein Ereignis außerhalb der Geschichte und des Raumes dieser Welt („Himmelreich“), sondern ein Programm, das sich innerweltlich realisieren lässt. In der ‚Erweckungsbewegung‘ in Europa im 19. Jahrhundert und parallel dazu im ‚Great Awakening‘ in den USA wird daraus praktische Politik. Die Verse Wunder undeutbar für heut Geschick wird des kommenden tages.⁴²

deuten die ‚Zeichen der Zeit‘ (semeîa = Zeichen; Wunder: Lukas 12,54–57) als Offenbarung, die im Augenblick noch nicht verständlich, aber von Gott/dem Schicksal für die Zukunft („kommenden Tages“) sicher bestimmt sind. 12. George proklamiert also nicht den Kairos.⁴³ Das Heute kann das Wunder nicht deuten. Das gilt nicht nur für die anderen, sondern schließt den Meister und seinen Kreis mit ein. Was diese beiden unterscheidet von den anderen, ist die Vorahnung, die Prolepse des ‚Neuen Reiches‘ in der Epiphanie des Gottes. Doch ihr ‚Liebling des Glücks‘ war, wie es in Strophe XIV heißt, ein Opfer, stellvertretend für den Gefährten:

41 Im George-Kreis wird „der Tag der Deutschen“ öfter heranzitiert, u. a. bei Kantorowicz in seiner Antrittsvorlesung über das Gedicht-Fragment von Friedrich Schiller ‚Deutsche Größe‘ (1797): „Jedes Volk/hat seinen Tag in der Geschichte, doch/der Tag der Deutschen ist die Ernte/ der ganzen Zeit.“ (in: Friedrich Schiller: Sämtliche Gedichte. Hg. von Jochen Golz, Frankfurt a. M. ²1992, S. 556ff, hier S. 559.). Kantorowicz benutzt es, um sich von der NS-Ideologie abzusetzen, die ihn als Juden aus der nationalen Kultur ausschließt (vgl. dazu Ernst Kantorowicz [Anm. 8], S. 88). 42 SW IX (Anm. 27), S. 49. 43 So auch im Gedicht ‚Kairos‘: SW VI/VII (Anm. 27), S. 166. Vgl. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 30), S. 120.

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[…] bis spät er gestand Im halt des gefährten hab er sich verzehrt – Sein ganzes dasein ein opfer.⁴⁴

13. Die Epiphanie ist proleptisch, nicht die Erfüllung.⁴⁵ Sie erlaubt die Prophetie auf das Neue Reich, sie ist nicht das Reich selbst. Das ‚Neue Reich‘ bleibt der Zukunft vorbehalten. 14. Später wird der Tod des Tyrannenmörders erneut nur prophetisches Opfer und Verweis auf das Kommende sein. Es ist – wieder – nicht da. Soll es je da sein? Hier kommt eine dritte Figur der eschatologischen Dynamik ins Spiel: die Katechontik.

VI Katechontik 1.

Als sich die Prophezeiung Christi, noch in seiner Generation werde die Herrschaft Gottes einbrechen, dahinzieht und auch die zweite Epiphanie sich nicht ereignet, da fragt sich Paulus, was denn das weltumstoßende Ereignis aufhalte: Wer ist das oder der Verhinderer (Katechon)?⁴⁶ 2. In Ibsens ‚Kaiser und Galiläer‘ ist bereits das Konzept entwickelt, dass ein Widersacher nötig ist, um das ‚Neue Reich‘ in Gang zu setzen. 3. Die Ambivalenz des ‚Neuen Reiches‘ orientiert sich an den großen Reichen. Sie fungieren als Katechonta, indem sie einerseits die Katastrophe aufhalten, andererseits aber auch das Glück verhindern und dem alltäglichen Bösen einen sicheren Raum bieten.⁴⁷ 4. Der Mythos vom bergentrückten Kaiser⁴⁸ galt zunächst Friedrich II., dem stupor mundi, dem idealen Vorbild des ‚Neuen Reiches‘;⁴⁹ erst später ist er 44 SW IX (Anm. 27), S. 48. 45 So ähnlich, ohne den Begriff vorwegzunehmen, Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 30), S. 121. 46 Vgl. 2. Thess. 2,6f.; vgl. dazu Fritz W. Röcker: Belial und Katechon. Eine Untersuchung zu 2. Thess. 2,1–12 und 1. Thess. 4,13–5,11, Tübingen 2009; Paul Metzger: Katechon. 2. Thess. 2,1–12 im Horizont apokalyptischen Denkens, Berlin 2005. 47 Als Begriff hat ihn besonders Carl Schmitt in die Debatte eingeführt; zwischen 1936 und 1938 hat er ihn, vom SS-Regime als Kronjurist nicht mehr gefragt, konzipiert. Vgl. Alfons Motschenbacher: Katechon oder Großinquisitor? Eine Studie zu Inhalt und Struktur der politischen Theologie Carl Schmitts, Marburg 2000; Massimo Maraviglia: La penultima guerra. Il ‚katéchon‘ nella dottrina dellʼordine politico di Carl Schmitt, Milano 2006. 48 Klaus Schreiner: Friedrich Barbarossa. Herr der Welt, Zeuge der Wahrheit, die Verkörperung nationaler Macht und Herrlichkeit. In: Reiner Hausherr (Hg.): Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur. Bd. 5, Stuttgart 1977, S. 544–551. 49 Raulff, „In unterirdischer Verborgenheit“ (Anm. 14), S. 93–115.

Das ‚Dritte Reich‘ – das ‚Geheime Deutschland‘



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auf Barbarossa im Kyffhäuser (das Denkmal 1890–1896) übertragen worden. Neben Friedrich Gundolfs ‚Caesar‘ (1924) ist Ernst H. Kantorowiczʼ ‚Friedrich II.‘ (1927/1931)⁵⁰ unmittelbar vor dem ‚Neuen Reich‘ erschienen.⁵¹ Kantorowicz nahm sich als nächstes Projekt nach dem charismatischen Kaiser vor, die darauffolgende Epoche zu untersuchen: wie im Machtvakuum des Interregnums Herrschaft bestehen konnte allein aus Symbolen – imperium transcendat hominem (‚The kingʼs two bodies‘).⁵² Das ist eine Katechontik nach dem Charisma und vor – vielleicht – einem neuen Charisma.⁵³ Die Vorlesung eröffnete er mit einer Rede ‚Das geheime Deutschland‘.⁵⁴ Dort fasst er es so: „Das geheime Deutschland“ ist gleich dem Jüngsten Gericht und Aufstand der Toten stets unmittelbar nahe und gegenwärtig, ist tödlich-faktisch und seiend. Es ist die geheime Gemeinschaft der Dichter und Weisen, der Helden und Heiligen, der Opfrer und Opfer, welche Deutschland hervorgebracht und die sich Deutschland dargebracht haben. […] Ein solches geheimes Reich, das niemals war und doch ewig ist, erschließt sich wie die Mysterien nicht Jedem.⁵⁵

Außer zur Zeit der Staufer stand und steht das „geheime Deutschland“ immer in Opposition zu den gerade herrschenden Regierungen. Er schließt katechontisch: […], bis dereinst „geheimes Deutschland“ und das sichtbare Reich miteinander eins werden. […] Bis dahin aber ist noch ein weiter Weg. Bis dahin hat über die verborgnen Kräfte das geheime Deutschland zu wachen, dessen Herrscher, selbst unangreifbar und ewig, dem inneren und äußeren Feinde zurufen: hemmt uns! untilgbar ist das wort das blüht hört uns! nehmt an! Trotz eurer gunst: es blüht. übt an uns mord und reicher blüht was blüht!⁵⁶ 50 Schreiner, Barbarossa (Anm. 48), S. 551–579. 51 Das Gedicht ist im Wissen um Kantorowiczʼ großes Werk gedichtet. Ernst H. Kantorowicz antwortete auf die Kritik an seinem Werk, das sei ein großer Hymnus von einem staufischen Hofdichter, keine Geschichtswissenschaft, mit einem – ziemlich provokanten – Vortrag auf dem Historikertag in Halle 1930: ‚Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben der Darstellung mittelalterlicher Geschichte‘ (Edition von Eckhart Grünewald, Deutsches Archiv 50, 1994, S. 89–125). Außer in dem in Anm. 8 genannten Tagungsband ist zu Kantorowicz viel geforscht worden: Johannes Fried: Einleitung zu Ernst H. Kantorowicz: Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums, Stuttgart 1998, S. 7–45. Ein guter Überblick bei Bastian Schlüter: Explodierende Altertümlichkeit. Imaginationen vom Mittelalter zwischen den Weltkriegen, Göttingen 2011, S. 257–316. 52 So der Titel des Buches, das dann im Exil in Princeton 1957 erschien (dt. München 1990). ‚Imperium transcendat hominem‘ (das Reich überschreite/transzendiere den Menschen/Herrscher): Diesen Ausspruch Friedrichs II. zitiert Ernst H. Kantorowicz in seinem Geburtstagsbrief vom 5.6.1933 an Stefan George, zit. Schlüter, Altertümlichkeit (Anm. 51), S. 312. 53 Fried, Einleitung (Anm. 51), S. 7f. und S. 31. 54 Ernst H. Kantorowiczʼ Frankfurter Antrittsvorlesung vom 14.11.1933 ist postum veröffentlicht von Eckhart Grünewald (Anm. 8), S. 78–93. Wieder in George-Jahrbuch 3, 2000/2001, S. 131–155. 55 Kantorowicz, Das geheime Deutschland, ed. Grünewald 1997 (Anm. 54), S. 80. 56 Ebd., S. 93.

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5.

„[N]och ein weiter Weg“, so sieht das auch George. Im Gegensatz zu den enttäuschten Erwartungen, die in Wahrheit dem „Endes- und todesbereich“ (Strophe 18) zuzuordnen sind, bleibt das ‚Neue Reich‘ verborgen. George vertagt es: noch, tief, innerst, lang, nicht einmal ertastbar. Es schläft: Nur was im schützenden schlaf Wo noch kein taster es spürt Lang in tiefinnerstem schacht Weihlicher erde noch ruht – Wunder undeutbar für heut Geschick wird des kommenden tages.⁵⁷

6.

7.

Die Reichsvorstellung bezieht sich auf die glänzende Epoche des Mittelalters, des ersten Reiches, das unmittelbar nach diesem Höhepunkt im interregnum nur noch zu einem Schemen seiner selbst wurde. In der Verborgenheit schlummert es. Weder der Aufruf des Chiliasmus, es aktiv vorzubereiten, noch die Proklamation, dass es jetzt beginnt, sind in dem Gedicht Georges – im Gegensatz zu den gleichzeitigen Diskussionen in der Weimarer Republik – verkündet. Nur die Prolepse des schönen Augenblicks in der Epiphanie des Lieblings der Götter und die prophetische Gewissheit, dass es das ‚Geheime Deutschland‘ gibt und es an einem kommenden Tag zum Geschick wird. Die Stunde, der kairos, ist nicht jetzt und nicht bald. Soll es besser nie kommen? Geheim bleiben? Weil die Menge es verfälschen, der Gratifikationsverlust die Schönheit der Erwartung zerstören wird? Bei Kantorowiczʼ öffentlichem (exoterischem) Sprechen⁵⁸ über das ‚Geheime Deutschland‘ fehlt die Epiphanie des schönen Leibes, des Lieblings der Götter. Angesichts der von anderen verkündeten Ausrufung des Kairos: „Das ist die Stunde der Deutschen“, widerspricht er katechontisch: Nur das ‚Geheime Deutschland‘ hat die Kraft, dem ‚Dritten Reich‘ zu widerstehen. Dafür muss es aber warten, ist sein Kairos noch lange hin. Wie in Georges Gedicht.

VII Epilog 1.

Konstantinos Kavafis, den ich komparatistisch daneben setze, hat in seinem Gedicht ‚Warten auf die Barbaren‘ (1904) eine Idee dazu entwickelt, die sich aus der Situation des British Empire versteht, als dessen Beamter in Alexan-

57 SW IX (Anm. 27), S. 49. 58 Kantorowicz, Das geheime Deutschland, ed. Grünewald 1997 (Anm. 54), S. 86: „das engere/ weitere geheime Deutschland“.

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dria der Dichter arbeitete, ein Zeitgenosse Georges.⁵⁹ Der Vergleich kann die deutsche Konzeption des Reiches in einen Bezug setzen zum Empire.

Warten auf die Barbaren Worauf warten wir und haben uns auf dem Marktplatz versammelt? Es sind die Barbaren, die heute kommen sollen. Warum in der Ratsversammlung eine derartige Tatenlosigkeit? Was sitzen die Senatoren da und machen keine Gesetze? Weil die Barbaren heute kommen sollen. Welche Gesetze sollten die Senatoren jetzt noch erlassen? Die Barbaren, wenn sie kommen, werden Gesetze erlassen. Warum ist unser Kaiser so früh aufgestanden? Und sitzt am Haupttor der Stadt oben auf seinem Thron und trägt die Krone? Weil die Barbaren heute kommen sollen, Und der Kaiser wartet darauf; er will ihren Führer einen Empfang bereiten. Vorbereitet hat er sogar, um sie ihm zu überreichen, eine Pergament-Urkunde. Mit lauter Titeln und Namen darauf geschrieben. Warum gehen unsere beiden Konsuln heute aus und die Prätoren mit ihren roten, bestickten Togen? Warum tragen sie Armbänder mit so vielen Amethysten und Ringe mit funkelnden und glänzenden Smaragden? Warum halten sie heute die wertvollen Szepter, Ausgezeichnet geformt, mit Silber und Gold? Weil die Barbaren heute kommen sollen, Und solche Dinge blenden die Barbaren. Warum kommen die besten Redner nicht, um wie üblich Ihre Reden zu halten? Weil die Barbaren heute kommen sollen, Und vor solcher Beredtheit langweilen sie sich. Warum regt sich auf einmal diese Unruhe und das Chaos? Da muss was Bedeutsames passiert sein; man sieht das an ihren Gesichtern. Warum leeren sich die Straßen und Plätze so schnell und Und alle gehen nachdenklich zurück zu ihren Häusern? Weil es Nacht geworden, ohne dass die Barbaren gekommen sind. Und einige Leute trafen ein von den Grenzen 59 Konstantinos Kavafis: Das Gesamtwerk, Zürich 1997, S. 70–73. Ein etwas entfernter Georgeaner, einer der Basler, Helmut von den Steinen, hat die Werke von Kavafis übersetzt: Gedichte. Aus dem Neugriechischen übertragen und herausgegeben von Helmut von den Steinen, Frankfurt a. M. 1953; dasselbe bei Castrum Peregrini 1962. Seine Übersetzungen sind aber weder wortgewaltig noch treffen sie den Sinn gut. Weit treffender sind die Übersetzungen von Jörg Schäfer. Die hier gegebene Übersetzung stammt vom Verfasser.

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Und berichteten, es gebe keine Barbaren mehr. Und jetzt? Was wird aus uns werden ohne Barbaren? Diese Menschen waren – wie auch immer – eine Lösung.

a) Der Alexandriner Konstantinos Kavafis hat das spätantike Reich aufgerufen. Das ist in der westlichen Optik das dekadenteste aller möglichen Reiche. Das ist im deutschen Geschichtsbild blanker Orientalismus. Carl Schmitt hat, als er vor 1938 die Theorie des Katechon ausarbeitete, das oströmische byzantinische Reich als weltgeschichtliches Musterbeispiel verstanden für die Verhinderung des Neuen und des Guten. b) Das Warten auf die Barbaren lässt die spätantike Stadt erstarren in Untätigkeit. Am Ende stellt sich heraus: Möglicherweise gibt es die Barbaren gar nicht. Aber sie waren der Staatszweck, der Staat begründete sich als Bollwerk, als katechon gegen die Barbaren. Wenn nun die Barbaren nicht existieren, wozu dann das Reich? Das Gedicht ist anti-chiliastisch, der Kairos ist da und vergeht, selbst die Funktion des Reiches als Katechon erweist sich als rhetorische Lebenslüge. c) Solch eine entlarvende Analyse fehlt dem Gedicht Georges. Wohlfeile Gegenwartskritik und unverbindliche Prophetie lassen die Prolepse als Vorgeschmack erscheinen und werten damit einen Abend im Kugelzimmer auf zu einem weltgeschichtlichen Ereignis. Noch sei das nicht die Vollendung, aber es lässt die Ahnung aufkommen. d) Statt der Proklamation des Hier und Heute, des Aufrufs zum Handeln, ist das ‚Neue Reich‘ vertagt.

Richard Faber

Der Ästhetizist Algabal, der politischreligiöse Dichter Stefan George und das Problem seines Präfaschismus I Einleitung Wie erschien Stefan George in den Jahren seines ‚Algabal‘ einem keineswegs feindseligen, jedoch distanzierten Beobachter? Ich zitiere aus Theodor Lessings ‚Einmal und nie wieder‘: George war zu der Zeit, da wir ihn kannten, ein junger melancholischer Prinz im Exil, herrisch und verhärmt. Um seine knochigen Schultern wehte ein römischer Mantel und auf dem dunkel schimmernden, im Nacken mit sogenanntem Polkaschnitt grad gezirkelten Gelock thronte statt einer Krone der bürgerliche Zylinderhut. Stolz das junge fordernde Haupt zurückgeworfen, ging, nein schritt er durch das Cafe, wie der Bischof durch die Mitte von Sankt Peter. Gleichzeitig wunderlich und bedeutend, gleichzeitig närrisch und achtunggebietend. Denn blieb er erfolglos, so war er eben einer von den vielen, durch lange Mähne und schöne Schlipse gekennzeichneten verkannten Genies, die damals rudelweise in Schwabing Tee tranken. Setzte er sich aber durch (wie das Idiotenwort lautet), dann wurde aus Zylinder, Gehrock und priesterlicher Haltung der nächste ästhetische Stil. – Er legte Wert auf Form und Kleid. Band sich, wozu wir Leichtfüßigen keine Neigung hatten, sorgsam vor dem Spiegel eine Halskrause, blickte in die Modenmagazine, betrachtete neue Schmuckformen, lobte Tuche und Seiden, bespiegelte aufmerksam im Glase die gute Ordnung seiner Krawatte. Kurz, er war ein gehaltener Herr, während wir kunstzigeunernde Jungen waren. Selbst hinterm Maßkrug bewahrte der Hohepriester eine so würdige Haltung, daß mein Hohn ihn den Weihestephan nannte. Denn reichte er zu Empfang oder Abschied uns die Hand, so zelebrierte er gleichsam Empfang und Abschied. Und verließ ihn auf der Straße der Jünger, um in ein Bedürfnishäuschen zu treten, so machte George einen königlichen Gestus, wie die Majestät, welche auf eine Weile ihre Begleitung in den Alltag entläßt, und kam der Jüngling wieder, dann nahm ihn der Geweihte neuerdings auf in sein Königtum. – Diese großen Attitüden waren aber nicht gespielt, sondern waren der natürliche Schutz einer überverletzlichen Seele, die sich umzirkt, weil sie im Alltag nicht blühen kann.¹

Im Hinblick auf die für den Schwabinger George zentrale Dichtung des ‚Algabal‘, die ihm die hohe Wertschätzung nicht zuletzt der ‚Kosmiker‘ einbrachte, wiederhole ich die Worte, zu denen einem dieser ‚Algabal‘ leicht einfällt: „Prinz“, „herrisch“, „Krone“, „Stolz“, „fordernd“, „achtunggebietend“, „priesterliche Haltung“, „Stil“, „Hohepriester“, „Gestus“, „Majestät“, „Königtum“.² Den letzten Satz Les1 Theodor Lessing: Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen, Prag 1935, S. 243f. 2 Vgl. auch die völlig unironischen Ausführungen Karl Wolfskehls: Stefan George. In: Castrum Peregrini 156/7, 1983, S. 219f.

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sings muss ich insgesamt wiederholen, nicht weil er mir als ‚Blankoscheck‘ für George erscheint, sondern weil er – gerade persönlich – nicht unterschätzt werden darf: „Diese großen Attitüden waren [...] nicht gespielt, sondern waren der natürliche Schutz einer überverletzlichen Seele, die sich umzirkt, weil sie im Alltag nicht blühen kann.“ Der ‚Fall George‘ besteht dann allerdings darin, dass die hochmütige Absonderung des Übersensiblen nur Vorbereitung eines aggressiven Ausfalls und Angriffs ist, mit dem Ziel eines neuen und, wie vermittelt auch immer, eigenen Imperatorentums. Zunächst erscheint direkte Herrschaft, absolutes Königtum vergangen und tot. „DEM GEDÄCHTNIS LUDWIGS DES ZWEITEN“ ist der ‚Algabal‘ gewidmet, jenem Bayernkönig also, der die Reinkarnation Ludwigs XIV. nur noch spielte. Umso leichter kann George in der „GEDÄCHTNIS“-„AUFSCHRIFT“ formulieren: „ALS MEINE JUGEND MEIN LEBEN HOB IN SOLCH EIN LICHT/KAM SIE ERSTAUNEND DEINEM NAH UND LIEBTE DICH.“³ – Der königliche Dichter liebte den künstlerischen König: „NUN RUFT EIN HEIL DIR ÜBERS GRAB HINAUS ALGABAL/DEIN JÜNGRER BRUDER O VERHÖHNTER DULDERKÖNIG“.⁴

II Ästhetizist Algabal War, ist Algabal ein anderer Christus, frage ich,⁵ Ludwigs II. tendenzielle Identifikation mit dem Wagnerʼschen Amfortas auf sich beruhen lassend? Ist Algabal der bloße Ästhetizist oder, gerade als solcher, nicht auch etwas ganz anderes? Zunächst einmal baut ‚Algabal‘, in dem der Dichter auf sich selbst reflektiert, in deutlicher Anspielung auf Ludwig II. eine reine Kunstwelt auf. In ihr geruht ein spätrömischer Herrscher ästhetisch zu existieren, dessen Dasein streng abgeschieden ist von allem Wirklichen.⁶ Ich zitiere zum Beleg dieses berühmte Gedicht: Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme · Der garten den ich mir selber erbaut Und seiner vögel leblose schwärme Haben noch nie einen frühling geschaut.

3 Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. II, S. 56. Im Folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. 4 Ebd. 5 Vgl. auch Hella Tiedemann-Bartels: Versuch über das artistische Gedicht. Baudelaire, Mallarmé, George, München 1971, S. 56. 6 Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Muse, Maske, Meduse. Europäischer Ästhetizismus, Frankfurt a. M. 1978, S. 211f. und S. 202.

Der Ästhetizist Algabal, der politisch-religiöse Dichter Stefan George



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Von kohle die Stämme · von kohle die äste Und düstere felder am düsteren rain · Der früchte nimmer gebrochene läste Glänzen wie lava im pinien-hain. Ein grauer schein aus verborgener höhle Verrät nicht wann morgen wann abend naht Und staubige dünste der mandel-öle Schweben auf beeten und anger und saat. Wie zeug ich dich aber im heiligtume – So fragt ich wenn ich es sinnend durchmass In kühnen gespinsten der sorge vergass – Dunkle grosse schwarze blume?⁷

Die Ästhetik dieses „kohlschwarzen gartens“⁸ ist eindeutig eine der Natur- und Leblosigkeit, eine Ästhetik des Todes. Sie ist eingestandenermaßen die Ästhetik eines Mörders, wie das unmittelbar anschließende Gedicht belegt: Wenn um der zinnen kupferglühe hauben Um alle giebel erst die sonne wallt Und kühlung noch in höfen von basalt Dann warten auf den kaiser seine tauben. Er trägt ein kleid aus blauer Serer-seide Mit sardern und safiren übersät In silberhülsen säumend aufgenäht · Doch an den armen hat er kein geschmeide. Er lächelte · sein weisser finger schenkte Die hirsekörner aus dem goldnen trog · Als leis ein Lyder aus den säulen bog Und an des herren fuss die stirne senkte. Die tauben flattern ängstig nach dem dache ‚Ich sterbe gern weil mein gebieter schrak‘ Ein breiter dolch ihm schon im busen stak · Mit grünem flure spielt die rote lache. Der kaiser wich mit höhnender gebärde.. Worauf er doch am selben tag befahl Dass in den abendlichen weinpokal Des knechtes name eingegraben werde.⁹ 7 SW II (Anm. 3), S. 63. 8 Schwabinger Beobachter; Nachdruck in Verf.: Männerrunde mit Gräfin. Die ‚Kosmiker‘ Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow, Frankfurt a. M. u. a. 1994, hier S. 16. Im Folgenden abgekürzt mit der Sigle SB, Seitenzahl. 9 SW II (Anm. 3), S. 66.

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Bereits nach diesem zweiten Gedicht kann es nicht mehr wundern, dass der ‚Kosmiker‘ Alfred Schuler im ‚Algabal‘ die „glutvolle Welt des kaiserlichen Roms“ zu spüren glaubte.¹⁰ Bleiben wir zunächst aber beim ästhetizistischen Charakter des Gedichtzyklus; Ralph-Rainer Wuthenow hat zu diesem letzten Gedicht treffend angemerkt: „Die Figur des Getöteten erstarrt zum Ornament; die Tötung selbst ist ein Akt, der die Gelassenheit von Opfer und Mörder bestätigt, eine Haltung, in der sich dann beide vereinen.“ Und Wuthenow fährt, weiter ausholend, fort: Die ausgesparten Motive deuten auf die Diskrepanz zwischen Kult und Unterbrechung; nur der erste ist wichtig, ihm ist alles zu opfern. Der Lyder in seiner Bereitschaft zur Sühne steht für absolute Ergebenheit; was wie Huldigung aussieht, ist Demut, Bitte um Nachsicht oder gar um Bestrafung. Diese aber ist der Tod – und auf ihn und das, was ihn notwendig machte, reagiert der Herrscher mit einer für ihn ungewöhnlichen, raschen Bewegung und einer Verzerrung des gemessenen Gestus, die eben jener Reaktion entsprechen dürfte, von der her nur indirekt vernehmbar wurde, daß sie ein Erschrecken signalisiert hatte. „Der kaiser wich mit höhnender gebärde../Worauf er doch am selben tag befahl/Dass in den abendlichen weinpokal/Des knechtes name eingegraben werde.“ – Daß der Herrscher gestört wurde, fordert Sühne. Das Ritual war in Frage gestellt worden, sein Gleichgewicht gestört, in der „höhnenden Gebärde“ erst findet er es wieder. Indem er nun den Namen des Dieners der Erinnerung weiht, ehrt er nicht dessen Ergebenheit, sondern die eigene Großmut oder, da er sich selbst ehrt, das Herrschaftsverhältnis, das hier ganz selbstverständlich als Gesetz erscheint. Zwar wird der Tote schließlich im Gedächtnis aufgehoben wie alles Lebendige im Georgeschen Gedicht, doch zeugt die adversative Wendung in der letzten Strophe von einer Ambivalenz: die Ruhe ist zwar wiederhergestellt, aber das Andenken der Störung, die der gravierte Name bewahren soll, ist das einer momentan-spontanen Regung. […] Was hatte erschrecken können, wird zum Monument und fortan nicht mehr schrecken können. Die Unmöglichkeit oder doch die Gefährdung des Vollkommenen, der vollkommenen Aussparung, der perfekten Stilisierung deutet sich an. Die Störung ist als Spannung da, doch das Gebannte darf, gewissermaßen Kunst geworden, nur vom gebannten Schrecken künden. Kunst, hier als hieratisches Ritual, hat vertilgenden Charakter; das Leben ist ein Mittel geworden, um in ihr zu ersterben.¹¹

III Neuer Barbar Algabal Wuthenow expliziert an dieser Stelle nur, was wir schon aufgrund des ersten Gedichtes konstatiert haben. Entscheidend für das Weitere ist Wuthenows Fest-

10 Vgl. Gerhard Plumpe: Alfred Schuler. Chaos und Neubeginn. Zur Funktion des Mythos in der Moderne, Berlin 1978, S. 163. 11 Wuthenow, Muse, Maske, Meduse (Anm. 6), S. 216.

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stellung, dass Algabals sublime Selbstvergottung an eingestandene Barbarei gebunden ist.¹² Die letzten Verse eines späteren Gedichtes lassen daran keinen Zweifel: Hernieder steig ich eine marmortreppe · Ein leichnam ohne haupt inmitten ruht · Dort sickert meines teuren bruders blut · Ich raffe leise nur die purpurschleppe.¹³

Als ornamentaler Massenmörder figuriert Algabal schließlich in dieser Passage: „Schmal in regelgraden ketten/Rinnen ziegelrote bäche ·“.¹⁴ Vor allem an solche Stellen dürfte Ulrich Raulff gedacht haben, als er noch kürzlich vom „Blutrausch des ‚Algabal‘“ sprach.¹⁵ – Wenden wir uns den vorangehenden Strophen zu, erfahren wir von Algabals lustvoller Selbstzerstörung: Graue rosse muß ich schirren Und durch grause fluren jagen Bis wir uns im moor verirren Oder blitze mich erschlagen. Auf dem samenlosen acker Viele helden stumm verbleichen · Nur das russende geflacker Loher fichten ehrt die leichen.¹⁶

Kaum überraschend zitierte der ‚Kosmiker‘ Ludwig Klages die erste Strophe, die er besonders liebte, sehr gern als Beispiel für einen einsamen Naturrausch seiner Art. Nicht zufällig erinnern aber auch die beiden letzten Verse der zweiten Strophe an Klages und den nazistischen Totenkult auf dem Münchener Königsplatz.¹⁷ Im Blick hierauf möchte ich Wuthenows generelle Überlegung zitieren: Die Nachfolgenden müssen Georges Werk anders lesen, als es den Zeitgenossen von 1900 [vielleicht; R. F.] noch möglich war. „Im Bewußtsein der realen Greuel, die seit den frühen Versen Georges sich ereignet haben, wirken die ästhetisierten im Totenreich Algabals als die menschenverachtenden Phantasien pubertärer Arroganz, die noch nicht weiß, wovon sie spricht.“¹⁸

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Vgl. ebd., S. 159. SW II (Anm. 3), S. 68. Ebd., S. 72. Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 243. SW II (Anm. 3), S. 72. Vgl. Verf., Männerrunde mit Gräfin (Anm. 8), Kap. IV, 1 und 2a. Wuthenow, Muse, Maske, Meduse (Anm. 6), S. 213.

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So erinnert sich der „charismatische Führer“ Algabal:¹⁹ Männer weinten frauen stöhnten Unter deines tempels türe · Glühend baten die gehöhnten Dass dein kleid ihr haar berühre –²⁰

Lesen wir das anschließende Gedicht: Am markte sah ich erst die würdevolle Die schönste aus der weissen Schwestern zug · Wie fürstenmantel hing die schlichte wolle Um ihres nackens ihrer schulter bug. Im schauspiel dann als sich die opfer mehrten Und zügellos die menge beifall rief · Die todberufenen den cäsar ehrten: IHR auge blieb gelassen streng und tief. Wenn ich der kurzen werbung rausch bedenke! Ich riss die priesterin von dem altar · Und alle länder brachten brautgeschenke · Ich bot in bächen gold und balsam dar.. Und zweifelnd ob das neue glück mir werde Erfand ich nur den quell der neuen qual.. Ich sandte sie zurück zu ihrem herde · Sie hatte wie die anderen ein mal.²¹

IV Décadent Algabal Auch in diesem Gedicht begegnen Algabal Misogynie und Selbstquälerei. Ich möchte darauf nicht weiter eingehen, doch aus Anlass dieses Gedichtes ausführen, dass die von George bewusst gewählte spätrömische Epoche eine der zu seiner Zeit oft zitierten ‚décadence‘ gewesen ist.²² So hieß es schon in einem Gedicht Paul Verlaines von 1883 : „Je suis lʼempire romain à la fin de la déca-

19 Zum charismatischen Führer George vgl. Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München – Wien 1985, S. 323f. und S. 346. 20 SW II (Anm. 3), S. 80. 21 Ebd., S. 81. 22 Vgl. Wuthenow, Muse, Maske, Meduse (Anm. 6), S. 208 sowie Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des fin de siècle, Berlin 1973, S. 128f.

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dence.“²³ Vor allem aber ist wieder an Schuler zu erinnern, der in seiner – dem George des ‚Algabal‘ so verwandten – Nero-Begeisterung zunächst gleichfalls an die französische Dekadenz anknüpfte (deren poetisches Manifest das der Verlaineʼschen Sonette ist, dessen Eingangsvers ich zitiert habe). Zugleich vermeinte er aber – über den Ästhetizismus hinaus –, im kaiserzeitlichen Rom „die ‚Essenz‘ der antiken Lebensunmittelbarkeit“ zu erkennen, als noch einmal „in reinster Weise verdichtet“.²⁴ Und wieder nicht anders als George, für den er in den 1890er Jahren zur maßgeblichen Autorität in Fragen antiker Kulte, Mythen und Mysterien werden sollte. Später trennten sich ihre Wege, aber nicht nur zur Zeit ihrer gemeinsamen Beschwörung des späten Rom vertraten sie beide einen „sozusagen phallischen Vitalismus“.²⁵ George hat ihm noch in der ‚Porta Nigra‘ des ‚Siebenten Rings‘ seine, wenn auch distanzierte, Reverenz erwiesen und dieses Gedicht nicht zufällig „Ingenio Alf: Scolari“ gewidmet. Selbst sein intentional anti-kosmischer ‚Maximin‘ ist ohne Schuler (und Klages) unvorstellbar.

V Algabal und Elgabal. Ein historischer Exkurs Bevor wir auf Maximin eingehen, wenden wir uns noch einmal dem Algabal zu und zwar dieser Strophe des zuletzt zitierten Gedichtes: Wenn ich der kurzen werbung rausch bedenke! Ich riss die priesterin von dem altar · Und alle länder brachten brautgeschenke · Ich bot in bächen gold und balsam dar..²⁶

Die von Georges Bataille und den Seinen in unseren Tagen wieder gefeierte „Freigebigkeit“ als „eine Form der Orgie“, die auch „im Akt der Grausamkeit vorhanden“ sei,²⁷ steigert sich hier ins Sakrilegische: Die Jungfräulichkeit einer 23 Vgl. Santo Mazzarino: Das Ende der antiken Welt, München 1961, S. 192f. – Verlaine spricht Ludwig II. wie folgt an: „Roi, le seul vrai roi de ce siècle.“ Zit. nach Erwin Koppen, Dekadenter Wagnerismus (Anm. 22), S. 300. 24 Dominik Jost: Ludwig Derleth. Gestalt und Leistung, Stuttgart 1965, S. 44. 25 Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Der Haß gegen die Geschichte. Berauscht vom eschatologischen Denken: Alfred Schuler (1865–1923). In: FAZ, 20.11.1965. 26 SW II (Anm. 3), S. 81. 27 Vgl. Reinhard Kiefer/Birgit Jungheim: Der Krieg der Prinzipien. Über Georges ‚Algabal‘ und Artauds ‚Heliogabal‘, Aachen 1981. Ausführlicher und kritisch: Verf.: Algabal George – George Mussolini. Ein wilhelminischer Dichter zwischen Ästhetizismus und Faschismus. In: Cornelia Klinger/Richard Stäblein (Hg.): Identitätskrise und Surrogatidentitäten. Zur Wiederkehr einer romantischen Konstellation, Frankfurt a. M. 1989, S. 216–239, bes. S. 216–219.

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Vestalin war in Rom streng tabuisiert. Algabal verletzt dieses Tabu offen, ja gewaltsam, und reißt das ganze Reich mit in den Taumel seines Sakrilegs. – Zeit, um einen althistorischen Exkurs einzuschalten: 218 n. Chr. wird der Hohepriester der mächtigsten Sonnengottheit Syriens, des Baals von Emesa, als Elgabal römischer Kaiser. Zwar regiert er nur kurz, und mit seinem gewaltsamen Ende 222 scheitert zunächst auch die rigorose Religionspolitik zugunsten seines Gottes. Aber unter Aurelian (270–275) ist der Sol Invictus, wie der Gott von Emesa jetzt lateinisch heißt,²⁸ endgültig der alle Länder und Völker verbindende eine Reichsgott. Dass der Rückschlag der Sonnenreligion nach Elgabals Tod nur ein vorläufiger blieb, dafür sorgten unter anderem drei religiöse Zeitströmungen, die dem Baal von Emesa und seinen Vettern zugute kamen: die Mysterienreligion des Mithras, eine ausgesprochene Militär-Religion; die Romanliteratur des 3. Jahrhunderts mit ihren überragenden ‚Aithiopika‘ des Heliodor aus Emesa; die panentheistische Philosophie des Neuplatonismus. Gerade für eine ‚junge‘ und zunächst sehr fremde Religion wie die des Baals von Emesa war solch humanistische und philosophische Läuterung wichtig, erst recht nachdem sie ihr Priester-Kaiser Elgabal allzu sehr in Misskredit gebracht hatte. Und danach entsteht der Roman Heliodors auch erst. – Orgiastische Feiern, Tempelprostitution und Menschenopfer wie unter Elgabal waren im römischen Staatskult nicht möglich und mussten dem durch Jahrhunderte griechisch gebildeten Mittelmeerraum einfach ‚barbarisch‘ erscheinen. Die Mission verlangte die neuen literarischen Formen also nicht nur, weil man in einer „Welt der Bücher“²⁹ lebte, sondern weil die notwendig mit ihnen verbundene Weltläufigkeit auch inhaltlich erst Breitenwirkung verschaffen konnte. Am Roman Heliodors kann man ablesen, wie der göttliche Herr Emesas sich anschickt, den Übergang zum Universalgott zu vollziehen:³⁰ Ursprünglich ‚hauste‘ der Gott dort, wo sich seine Wohnung befand, im heiligen Stein von Emesa. Noch Elgabal musste diesen mit sich nach Rom ‚schleppen‘. Bei Heliodor ist der Gott an keine Stätte mehr gebunden, so wenig wie das himmlische Gestirn. Nur konsequent spricht Heliodor nie mehr von „Baal“, sondern nur noch von „Helios“, der „der Götter Schönster“ genannt wird.³¹ Und wer wollte bezweifeln, dass Helios die – nicht nur sprachliche – Übertragung von Baal ist? Indem er synkratisch beziehungsweise henotheistisch mit jenem Gott eins wird, 28 Vgl. Franz Altheim: Der unbesiegte Gott. Heidentum und Christentum, Hamburg 1957, S. 26. 29 Ebd., S. 67. 30 Vgl. ebd., S. 71f. 31 Ebd., S. 68.

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mit Apollon besonders, zivilisiert sich Baal.³² (Eine der dramatischsten Szenen des Romans schildert, wie in Äthiopien – dorthin wurde Emesa geographisch transponiert – die Menschenopfer abgeschafft werden.)³³ Diese Zivilisierung oder Internationalisierung des Gottes von Emesa ist die weittragende Leistung des Heliodor. Seiner literarischen entspricht die politische Aurelians; beide Leistungen ergänzen sich. Politisch-religiös lässt sich konstatieren: „Seit Aurelian gebührt dem Kaiser als dominus et deus Anbetung.“³⁴ Und deshalb hat posthum, aber prinzipiell Elgabal doch gesiegt. Bereits vor dem (vom katholizistischen Ludwig Derleth so sehr zum Vorbild genommenen)³⁵ Konstantin gilt seitdem: „Ein Gott, ein Reich, ein Kaiser.“³⁶ Damit zurück zu Georges Algabal, der den historischen Elgabal durchscheinen lässt, zum Beispiel in diesem Gedicht: Gegen osten ragt der bau Wo dem großen Zeus zu frönen Toller wunder fremde schau Und die würde sich versöhnen. Tänzer öffnen das geleit In verführenden gewändern. Knaben die ein opfer feit In den sonnenschlaffen ländern · Macht aus öl- und palmenlaub Vor des priesters fuss ein kissen · Streuet sand und silberstaub Tote liljen und narzissen! An der schwelle haltet rast Wo das heilige bild entschleiert Nur sich gibt dem einen gast Der es oft und innig feiert · Nur sein mund gebete lallt · Auch kein bruder sei zugegen: Spricht des gottes zwiegestalt Seinen immergleichen segen. Junge stimmen · ferner hall. Narden die verflüchtet irren 32 Vgl. Heliodor: Die Abenteuer der schönen Chariklea. Aithiopika. Ein Griechischer Liebesroman. Übertragen von Rudolf Reymer, Zürich 1950, S. 315. 33 Vgl. ebd., S. 318. 34 Theodor Eschenburg: Über Autorität, Frankfurt a. M. 1965, S. 30. 35 Vgl. Verf., Männerrunde mit Gräfin (Anm. 8), Kap. IV, 4. 36 Vgl. Verf.: Die Verkündigung Vergils: Reich – Kirche – Staat. Zur Kritik der ‚Politischen Theologie‘, Hildesheim – New York 1975, Kap. I, 2e–4g.

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Durch der räuche strengen quall Zu dem kuss der süssen mirren.³⁷

VI Cäsarist Algabal Im nächsten Gedicht wird daran erinnert, dass der Hohepriester des Baals von Emesa ein Soldatenkaiser war, das heißt mit Waffengewalt – dank seines Heeres – auf den Thron gelangte: O mutter meiner mutter und Erlauchte [...] Gedenkt es dir wie viele speere pfiffen Als ich im Osten um die krone rang? ³⁸

Und auch im späteren Leben Algabals gilt, wie schon einmal zitiert: Graue rosse muß ich schirren Und durch grause fluren jagen Bis wir uns im moor verirren Oder blitze mich erschlagen.³⁹

Nur um diese Gefahr sind zu erringen „Gesamter städte ganzer staaten beute“: die „weltenkrone“.⁴⁰ – Damit sind wir unabweislich in den politischen Raum des Algabalʼschen Cäsarismus eingetreten: „Kind erkoren von den Hulden/Zu der völker heil und liebe.“ So heißt es Seiten später in einer an Vergils 4. Ekloge erinnernden Weise und: „Ihrem jugendlichen gotte/Jubelten die erdensöhne.“⁴¹ Ihm, der in seinen „schwersten tagen“ sprechen wird: Ich will dass man im volke stirbt und stöhnt Und jeder lacher sei ans kreuz geschlagen. Es ist ein groll der für mich selber dröhnt. ICH bin als einer so wie SIE als viele · Ich tue was das leben mit mir tut Und träf ich sie mit ruten bis aufs blut: Sie haben korn und haben fechterspiele. 37 SW II (Anm. 3), S. 67. 38 Ebd., S. 68. 39 Ebd., S. 72. 40 Ebd., S. 61. 41 Ebd., S. 80. – Was Vergils 4. Ekloge angeht, verweise ich nochmals auf Verf., Die Verkündigung Vergils (Anm. 36), speziell Kap. I,1.

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Dennoch oder gerade deshalb fürchtet Algabal – im selben Atemzug –, sie „nie [...] tief [genug, R. F.] gehasst“ zu haben, „[d]er eigenen artung härte recht ermessend.“⁴² Jedenfalls gebar ihn „das los für den purpur“, wie es auf der übernächsten Seite heißt.⁴³ Anschließend finden sich, wie zusammenfassend – auch die Kollektivgeschichte – folgende Verse: Lärmen hör ich im schläfrigen frieden: Horde die zu gehorchen vergisst. ‚Schreckt dich das schlimme sternwort der Iden?‘ Widriges melden die schlangen · doch wisst: Euer gebieter ist von euch geschieden Ehe die stadt sich zu murren vermisst.⁴⁴

Das übernächste Gedicht beginnt mit den Versen: „Grosse tage wo im geist ich nur der herr der weiten hiess ·/Arger tag wo in der heimat meine tempel ich verliess!“⁴⁵ Diese Verse sind auch autobiographisch zu lesen: ‚Arger Tag, wo George seinen Kunst-Tempel verlassen haben wird, um sich auf den Weg zu einem neuen Gott-Kaiser zu machen.‘ Doch schon im Gedichtzyklus ‚Algabal‘ hat sich George die Stilisierung ins Herrscherhaft-Heroische gestattet. Haltung, Gestus, Gebärde, das heißt Stil wollte George schon damals den Deutschen vormachen, „die deutsche Geste“ nämlich, wollte sie damit etwas lehren, was wichtiger sei „als zehn eroberte Provinzen“.⁴⁶

VII Georges ‚(Deutsche) Geste‘ Das so ausgesprochene antipolitische Ziel ist in sich selbst wiederum politisch, wie sich noch zeigen wird. Verweilen wir zunächst bei Georges ‚Geste‘, die – auch für ihn selbst – so zentral war, dass Franziska zu Reventlow zeitweise überlegte, den „Meister“ ihres Schlüsselromans ‚Herrn Dames Aufzeichnungen‘ schlicht „Die Geste“ zu nennen.⁴⁷ Tatsächlich geschrieben hat sie, die Geste des

42 SW II (Anm. 3), S. 71. 43 Ebd., S. 73. 44 Ebd., S. 74. 45 Ebd., S. 78. 46 Vgl. Wuthenow: Muse, Maske, Meduse (Anm. 6), S. 200. 47 Franziska zu Reventlow: Briefe 1890–1917. Hg. von Else Reventlow, Frankfurt a. M. 1977, S. 538.

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Meisters sei „einfach das dritte Zimmer“⁴⁸ im „weihenstephinger georgianum“.⁴⁹ Und sie war damit einmal mehr eine historisch zuverlässige Chronistin: Während die übrigen Gäste die beiden Hauptwohnräume der Karl Wolfskehlʼschen Wohnung füllten, residierte der Meister in einem anschließenden kleinen Zimmer, wo er nur ausgewählte Besucher empfing. Der ‚Schwabinger Beobachter‘ persifliert diese Eigenart, in der sich für ihn Georges ‚Geste‘ erschöpft, unter der Überschrift ‚Vom tage und von den taten‘: Bei dem sonntäglichen empfang lehnte der ERLAUCHTE, welcher in der weissen uniform des garderegiments Dante Alighieri mit kranz auf einem orientalischen lotterbett (– kanape –) unter arischem baldachin ruhete, mit ablehnender handgebärde – (deutscher geste) – einige damen ab, die sich vorstellen lassen wollten .... Einem on dit zufolge hat daraufhin der weihenoberst – (oberhofceremonienmeister) – eine abänderung der heldenverehrung – (personenkultus) – in Vorschlag gebracht.⁵⁰

Ich weise darauf hin, dass der ‚Schwabinger Beobachter‘ die „Uniformität [...] in dem Ästhetenzirkel um Stefan George“⁵¹ sehr spezifisch, nämlich wilhelminisch auffasst und damit die Relativität des Georgeʼschen Antiwilhelminismus entlarvt; mit dem „weihenoberst“ Wolfskehl als „oberhofceremonienmeister“ wird sogar die unmittelbare Hofsphäre herbeizitiert – und sei es eher die Ludwigs II. als die Wilhelms II. – In jedem Falle gelten die späteren Verse: „Mit Mummenschanz befassen sie/Sich wie mit Substanzen./Und als kultisch sehn sie an/Ihre Beardsleyhosen.“⁵² Andererseits handelt es sich nicht um reine und bloße Dandys: Der „unter arischem baldachin ruhete“, wenn auch „auf einem orientalischen lotterbette“ à la Algabal, lehnte mit ‚deutscher Geste‘ ab. Der ‚Schwabinger Beobachter‘ will deren Trivialität erweisen, doch ihre politische Konnotation keineswegs vergessen machen!

VIII Georges ‚Neues Reich‘ Dass ‚die deutsche Geste‘, die George 1901 in den ‚Blättern für die Katz‘ alias Kunst über „zehn eroberte Provinzen“ stellte,⁵³ eine politische ist, daran kann es 48 Franziska zu Reventlow: Gesammelte Werke in einem Bande. Hg. und eingel. von Else Reventlow, München 1925, S. 751. 49 SB (Anm. 8), S. 16. 50 Ebd., S. 28f. 51 Erich Mühsam: Namen und Menschen. Unpolitische Erinnerungen, Berlin 1977, S. 113. 52 SB (Anm. 8), S. 37. 53 Vgl. Johannes Székely: Franziska Gräfin zu Reventlow. Leben und Werk. Mit einer Bibliographie, Bonn 1979, S. 101, Anm. 155.

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spätestens seit dem ‚Stern des Bundes‘ keinen Zweifel mehr geben, doch schon seit der Jahrhundertwende und wohl unter dem Einfluss Schulers war George immer mehr der Überzeugung, „die höhere Weihe des Erweckers und Führers empfangen zu haben“,⁵⁴ der „Herr der Wende“⁵⁵ hin zum „Neuen Reich“ zu sein: dessen „geistiger Herrscher“ als Dichter.⁵⁶ Im ‚Stern des Bundes‘ von 1914, jener Gedichtsammlung, die Zeichen dafür ist, dass „das Reich [...] unzerstörbar geworden“ ist,⁵⁷ fragt George: „Kommt wort vor tat kommt tat vor wort?“ Und er antwortet: „Die stadt/Des altertumes rief den Barden vor../Gebrach auch seinem arm und bein die wucht/Sein vers ermannte das gebrochne heer/Und er ward spender lang vermissten siegs.“⁵⁸ George, der hier natürlich von sich selbst spricht, wird 1930 dem von ihm beauftragten Hagiographen Friedrich Wolters als Mensch gelten, der „täglich einen Thron besteigen“ könnte.⁵⁹ Wolters spricht – in der Sprache des „Neuen Reiches“ und „geheime[n] Deutschland[s]“ zugleich – vom „heimliche[n] Kaisertum“ des Vates-Deus.⁶⁰ Und Wolters hat recht: George verkündet sich selbst; er ist der wiedergeborene „Gott Augustus“, den der Knabe zu seiner Zeit „auf dem goldnen Wagen“ sah⁶¹ – im Schuler gewidmeten Gedicht ‚Porta Nigra‘. George hat auch einen zeitgenössischen Imperator besungen, Generalfeldmarschall von Hindenburg, „der noch heute“, wie Wolters schreibt, „die erste Wacht hält“⁶² – als Ersatzkaiser. So lauten die Verse aus dem Gedicht ‚Der Krieg‘: [...] da entstieg gestützt Auf seinen stock farblosem vororthaus Der fahlsten unsrer städte ein vergessner Schmuckloser greis.. der fand den rat der stunde Und rettete was die gebärdig lauten Schliesslich zum abgrundsrand gebracht: das reich..⁶³

Aber George fährt fort: „vor dem schlimmren feind kann er nicht retten.“⁶⁴ Das kann nur einer aus seiner – des „Sängers“ – Schar, wie es im nächsten Gedicht ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘ heißt: 54 Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst, Berlin 1930, S. 305. 55 Friedrich Wolters: Herrschaft und Dienst, Berlin ³1923, S. 5. 56 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 54), S. 360. 57 Wolters, Herrschaft und Dienst (Anm. 55), S. 6. 58 SW VIII (Anm. 3), S. 26. 59 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 54), S. 264. 60 Ebd., S. 527. 61 SW VI/VII (Anm. 3), S. 16. 62 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 54), S. 440. 63 SW IX (Anm. 3), S. 24. 64 Ebd.

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[...] Ihm wuchs schon heran [...] Gestählt im banne der verruchten jahre Ein jung geschlecht [...] Das aus geweihten träumen tun und dulden Den einzigen der hilft den Mann gebiert.. Der sprengt die ketten fegt auf trümmerstätten Die ordnung · geisselt die verlaufnen heim Ins ewige recht wo grosses wiederum gross ist Herr wiederum herr · zucht wiederum zucht · er heftet Das wahre sinnbild auf das völkische banner Er führt durch sturm und grausige signale Des frührots seiner treuen schar zum werk Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich.⁶⁵

– so das „geheime Deutschland“ Georges ins offizielle wandelnd, dem die Verheißung gilt, „daß einst/Des erdteils herz die welt erretten soll..“⁶⁶ Mit der ihm eigenen Schärfe notiert Walter Benjamin in einer seiner Kritiken am George-Schüler Max Kommerell, dass „das [geheime] von dem offiziellen [Deutschland] zuletzt nur das Arsenal ist, in welchem die Tarnkappe neben dem Stahlhelm hängt.“⁶⁷ – An die Worte „und pflanzt das Neue Reich“ schließt sich das Gedicht ‚Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg‘ unmittelbar an, um dessen „Scheitel“ der Dichter „von strahlen [...] eine krone“ sieht: „Alles wozu gediehst rühmliches ringen hindurch/Bleibt dir untilgbar bewahrt stärkt dich für künftig getös..“⁶⁸ (Hindenburg gehört noch der ‚alten ewe‘ an; der Mann, der das „Neue Reich“ pflanzt, muss der neuen, von George begründeten zugehören.) Bevor George das „Neue Reich“ heimlich pflanzen konnte, am Ende mit seiner bisherigen Dichtung, wäre er „bereit gewesen, kein Gedicht mehr zu machen“ und selbst „das geistige Bildner- und Führeramt gegen jedes andre zu vertauschen, wenn es Waffe und Sieg über die Widerwelt“⁶⁹ versprochen hätte: Keines versprach es ihm; dafür erhielt er erneut als Dichter die Gewissheit, „die höhere Weihe des Erweckers und Führers empfangen zu haben [...] , der Träger des heiligen Feuers und einzige Hüter des Tempels zu sein“.⁷⁰ Zusätzlich wurde ihm die Bürgschaft seines Anspruchs: die „Geburt des Gottes“⁷¹ Maximin. 65 Ebd., S. 30. 66 Ebd. 67 Walter Benjamin: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a. M. 1966, S. 436. 68 SW IX (Anm. 3), S. 33. 69 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 54), S. 306. 70 Ebd., S. 305. 71 Ebd., S. 307.

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IX Georges ‚Maximin‘-Religion Maximin ist der Kultname für einen, wie auch andere Chronisten berichten, jungen, schönen, also mit den Eigenschaften, die dem ‚Meister‘ lieb waren, ausgestatteten Mann, dem George 1901 in der Schwabinger Leopoldstraße begegnete. Dieser junge Mann war damals noch nicht ganz 14 Jahre alt und hieß Maximilian Kronberger: ein Bajuware im Vor- und Nachnamen. George sprach ihn im Vorfrühling 1902 an, nachdem er ihn schon lange beobachtet hatte, und machte ihn, wie es so schön heißt, zu seinem vertrauten Freunde.⁷² Der ‚Schwabinger Beobachter‘ schreibt einmal mehr Klartext, indem er den von ihm ‚Caracalla‘ genannten Algabal George zu seinem ‚tizianellino‘ sagen lässt: blinkende Steine sind meine glut fleisch und gebeine sind nicht mehr gut kohlschwarzen gartens einerlei schimmernden schillers brökelgebräu ich hab es satt es macht nur matt mein junge deine frische gier da kommt sie recht gelegen mir deinem verehren will ich nicht wehren deine liebe wärme schlaffe gedärme komm kleiner schwärme.⁷³

Das ist mehr als deutlich. Ich habe es jedoch nicht zitiert, um damit zu bestreiten, dass George Kronberger für ein frühreifes Dichtertalent hielt.⁷⁴ Jedenfalls eröffnete er ihm den Zugang zu seinem Kreis und ließ ihn an ‚Kosmiker‘-Festen teilnehmen: am sogenannten Dichterzug des Jahres 1904 und am Maskenzug desselben Jahres – die beide vom ‚Schwabinger Beobachter‘ parodiert werden. – Das Freundschaftsverhältnis beendete der Tod des jugendlichen Kronberger. Am 15. April 1904, einen Tag nach Vollendung seines 16. Lebensjahrs, starb er an Genickstarre.⁷⁵ George litt ungemein unter diesem Verlust und verwand ihn nur, indem er dem „Schwabinger Knaben“⁷⁶ zu einer Apotheose verhalf und ihn als Maximin 72 Vgl. Manfred Frank: Gott im Exil. Vorlesungen über die Mythologie. II. Teil, Frankfurt a. M. 1988, S. 292. 73 SB (Anm. 8), S. 16. 74 Vgl. Maximilian Kronberger: Gedichte, Tagebücher, Briefe. Hg. von Georg Peter Landmann, Stuttgart 1987. 75 Vgl. Frank, Gott im Exil (Anm. 72), S. 292f. 76 Lessing, Einmal und nie wieder (Anm. 1), S. 246.

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zum Mittelpunkt eines neuen, allgemeine Gültigkeit beanspruchenden Kultes machte. In solch verwandelter und erhöhter Gestalt gab er George selbst die Gewissheit zurück und löste „alle Zweifel“.⁷⁷ Um seine eigenen, sich bewusst an Dante anschließenden Worte zu zitieren: Wir hatten eben die mittägliche Höhe unseres Lebens überschritten und wir bangten beim Blick in unsre nächste Zukunft. Wir gingen einer entstellten und erkalteten Menschheit entgegen die sich mit ihren vielspältigen Errungenschaften und verästelten Empfindungen brüstete, indessen die große Tat und die große Liebe am Entschwinden war. Massen schufen Gebot und Regel und erstickten mit dem Lug flacher Auslegung die Zungen der Rufer die ehmals der Mord gelinder beseitigte: unreine Hände wühlten in einem Haufen von Flitterstücken worin die wahren Edelsteine wahllos geworfen wurden, zerlegender Dünkel verdeckte ratlose Ohnmacht und dreistes Lachen verkündete den Untergang des Heiligtums. Wir waren reif genug um uns nicht mehr gegen die schicksalhafte Wiederkehr der notwendigen Leiden aufzulehnen; jetzt aber schien uns eine Seuche zu wüten vor der kein Mittel hälfe und die mit der Entseelung dieses ganzen Geschlechts endigte. Schon wandten sich einige von uns abseits nach dunklen Bezirken und priesen den Wahnsinn selig – andre verschlossen sich in ihren Hütten voll Trauer oder Haß: als die plötzliche Ankunft eines einzigen Menschen in der allgemeinen Zerrüttung uns das Vertrauen wiedergab und uns mit dem Licht neuer Verheißung erfüllte.⁷⁸

So spricht der Dichter zu diesem Menschen, Maximin geheißen: „Dem bist du kind · dem freund./Ich sehe in dir den Gott/Den schauernd ich erkannt/Dem meine andacht gilt.“⁷⁹ Er heißt nur Maximin, wie gerade auch diese Verse nahe legen und ausdrücklich die Skizze ‚Kunst und menschliches Urbild‘: Unsere lebensfliessung (rhythmus) verlangt ausser uns das urbild das in den vielen menschlichen gestalten oft einzelne züge und zeit- und näherungsweise eine verkörperung findet. Eine andere erklärung gibt es weder für die Dantesche Geliebte noch für den Shakespearischen Freund. Nach der einen wirklichen Beatrice und dem einen wirklichen W. H. zu suchen ist eine spielerei der ausleger.⁸⁰

Vor allem die Analogie Beatrice – Maximin ist zwingend. Aber gerade so entpersönlicht kann Maximin „der Gott und Retter“⁸¹ werden, nicht anders als Vergils ‚puer‘. Besonders auf diese Analogie ist hinzuweisen. Auch Maximin wird „das ewige Kind“ geheißen, das aus „weltennacht“ schritt⁸² und deswegen der „Herr

77 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 54), S. 307. 78 Zit. nach ebd., S. 310f. 79 SW VI/VII (Anm. 3), S. 90. 80 SW XVII (Anm. 3), S. 70. 81 Wolters, Herrschaft und Dienst (Anm. 55), S. 5. 82 Ebd.

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der Wende“⁸³ ist. Mit diesen – der 4. Ekloge Vergils deutlich nachempfundenen – Worten erbittet „Leo XIII.“ den „Knaben“: ‚Komm heiliger knabe! hilf der welt die birst Dass sie nicht elend falle! einziger retter! In deinem schutze blühe mildre zeit Die rein aus diesen freveln sich erhebe.. Es kehre lang erwünschter friede heim und brüderliche bande schlinge liebe!‘⁸⁴

Wie nicht anders möglich, ist damit auch an das Christkind erinnert; Maximin ist ein neuer und anderer Christus. Demgemäß sprechen die Georgeaner am Ende ihrer „Wallfahrt“: „Dies allen gleiche haus ist ziel der reise./Wir sehen entblössten haupts die nackte halle/Aus der du in die welt zogst.. Sind drei weise/ Doch einst dem stern gefolgt zu einem stalle!“⁸⁵ Maximin ist der Christus, der zum „reigen“ führt und „in den ring“ reißt,⁸⁶ ein „griechischer Christus“, wie ihn Verwey mit Recht interpretiert.⁸⁷ Vor dem ‚Maximin-Erlebnis‘ dichtete George im ‚Teppich des Lebens‘: Drüben schwärme folgen ernst im qualme Einem bleichen mann auf weissem pferde Mit verhaltnen gluten in dem psalme: Kreuz du bleibst noch lang das licht der erde. Eine kleine schar zieht stille bahnen Stolz entfernt vom wirkenden getriebe Und als losung steht auf ihren fahnen: Hellas ewig unsre liebe.⁸⁸

Post Maximinum, im ‚Neuen Reich‘, sagt Christus selbst zum „römischen Hauptmann“, das Gegeneinander in ein Nacheinander verwandelnd: Des Sohnes banner mag im erdrund siegend wehn Äonenlang sein sinnbild ob den völkern stehn Eh wer des bundes fülle schaut: den Christ im tanz.⁸⁹

83 SW VIII (Anm. 3), S. 8. 84 SW VI/VII (Anm. 3), S. 20. 85 Ebd., S. 100; vgl. auch die George-Karikatur des ‚Simplizissimus‘ aus dem Jahre 1928. In: Jürgen Kolbe: Heller Zauber. Thomas Mann in München 1894–1933, Berlin 1987, S. 202. 86 SW VIII (Anm. 3), S. 25. 87 Vgl. Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 54) , S. 348. 88 SW V (Anm. 3), S. 16. 89 SW IX (Anm. 3), S. 59.

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X Georges nationalrevolutionäre Ideologie George hat ihn geschaut und indem er diesen „Halbgott […] verkündigte“,⁹⁰ hat er, schon zur „Zeit als den ernüchterten Europäern die Unabwendbarkeit des Untergangs dämmerte, […] die frohe Botschaft des abendländischen Aufgangs unter den Deutschen verkündet“.⁹¹ Im zweifachen Sinn des ‚unter‘: Er hat den Aufgang unter den Deutschen verkündet und, dass er unter ihnen geschehe. Im Bericht über sein ‚Maximin-Erlebnis‘ schreibt George unmissverständlich: Wir erkannten in ihm den Darsteller einer allmächtigen Jugend wie wir sie erträumt hatten, mit ihrer ungebrochenen Fülle und Lauterkeit, die auch heute noch Hügel versetzt und trockenen Fußes über die Wasser schreitet – einer Jugend die unser Erbe nehmen und neue Reiche erobern könnte.⁹²

– Maximin wird angerufen: „Du geist der heiligen jugend unsres volks!“⁹³ Es waren „trauer-läufte“,⁹⁴ als George „die frohe Botschaft des abendländischen Aufgangs unter den Deutschen verkündete“.⁹⁵ In ihnen sorgt der „Sänger“, wie es im Gedicht ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘ heißt, Dass nicht das mark verfault · der keim erstickt. Er schürt die heilige glut die über-springt Und sich die leiber formt · er holt aus büchern Der ahnen die verheissung die nicht trügt Dass die erkoren sind zum höchsten ziel Zuerst durch tiefste öden ziehn […]⁹⁶

Und ist dies geschehen und sind die Erkorenen „Gestählt im banne der verruchten jahre“, dann wird aus ihrer Mitte der Cäsar geboren, jener „einzige […] der hilft“, der „Mann“: Pflanzer des „Neuen Reichs“. Nichts anderes wollte also George, als Ludwig Derleths ‚Proklamationen‘ auch wollten: antike Härte mit der ekstatischen Glut und der lebendigen Innerlichkeit der jüngsten Geschlechter verschmelzen, nichts anderes sein als ein geller Fanfarenweckruf in die

90 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 54), S. 319. 91 Ebd., S. 571. 92 Zit. nach ebd., S. 311. 93 SW VIII (Anm. 3), S. 15. 94 SW IX (Anm. 3), S. 29. 95 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 54), S. 571. 96 SW IX (Anm. 3), S. 29f.

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Nacht der Zeiten hinaus, das triumphierende Nahen des Siegerhelden verkündend: Christus Imperator Maximus!⁹⁷

Und wie bei Derleth hat es auch bei George nicht an Versuchen gefehlt, selbst und gerade solch extremistische Äußerungen als ‚rein mystische‘ zu retten, allenfalls zugestehend, sie hätten nicht jede Missdeutung ausgeschlossen, und die sei selbstverständlich vorgekommen. Mag es nun aber zum Beispiel tatsächlich so gewesen sein, dass Georges ‚Stern des Bundes‘ die „entrückende […] ferne“ meinte, „die sofort nach erscheinen sich überstürzenden welt-ereignisse“ haben „die gemüter“ für ihn empfänglich gemacht;⁹⁸ sie fanden das „vordergründige Geschehen“ in den Gedichten affirmativ vorweggenommen. Und George selbst hatte dazu die abstrakte Voraussetzung geschaffen. Niemand anderes als Wolters formuliert 1930 lapidar, dass George schon im ‚Siebenten Ring‘ vom „geistig-künstlerischen auf den staatlich-weltlichen Raum übergriff“.⁹⁹ Und das war von Beginn an angelegt: Die Blätter für die Kunst hatten von Beginn ihres Erscheinens an keinen Zweifel darüber gelassen, dass sie vom heutigen Staate und der heutigen Gesellschaft des Bürgertums kein Heil mehr für unser Volk erwarteten. Indem sie alles Staatliche und Gesellschaftliche, alle Weltverbesserungen und Allbeglückungsträume schon seit der ersten Folge von der Kunst ausschieden und in der Neugestaltung der Dichtung und der dichterischen Bildung des Menschen ihre einzige Aufgabe suchten, verwandten sie alle gesammelte Kraft darauf einen neuen Lebenskern im Volke zu bilden, der unangetastet von den tausend Wirren der Zeit sein Wachstum entfalten und die Formen des gemeinsamen Lebens aus seinem Eigengesetze entwickeln konnte. Da der Geist des Dichters diesen Lebenskeim geboren hatte, so war jeder Sieg der neuen Dichtung auch ein Sieg des neuen Lebens, und die scheinbare Zwecklosigkeit und Selbstgenügsamkeit der Kunst, welche die Blätter in den ersten Jahren betonten, bedeutete nicht die Abschließung in einem ‚ästhetischen‘ Teilbereiche, sondern die unbedingte Pflege und Hegung des ganzen Lebens, das aus dieser innersten Zelle entstehen sollte.¹⁰⁰

Die Introversion war eine dialektische, um eines Tages desto mehr Extraversion werden zu können. Wenn George im noch ganz und gar Schwabinger ‚Algabal‘ gerade das „irdische Königreich“ dieses exzessiven Despoten „zum gleichnis des phantastischen“ und dieses wiederum zum „sinnbild“ seines „Geistigen Reiches“ machte,¹⁰¹ dann war damit die Möglichkeit einer erneuten Heraussetzung diese Reiches ins Irdische schon damals mitgesetzt. Wäre das frühe Reich

97 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 54), S. 350. 98 SW VIII (Anm. 3), Vorrede [o. Pag.]. 99 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 54), S. 349. 100 Ebd., S. 433. 101 Wolters, Herrschaft und Dienst (Anm. 55), S. 16.

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auch noch so innerlich gewesen: bereits der ‚Algabal‘ richtete eine extreme, despotische Gegenwelt gegen die gar nicht so liberale auf. Wolters betont es: Schon […] im ‚Algabal‘ brechen die staatlichen Schichten mit einer Wucht ohnegleichen auf; aber vom Herrscher aus gesehen nicht vom Volke, von der heldischen Person nicht von der öffentlichen Freiheit, vom ‚Menschenrechte‘ auf der höchsten Stufe der Gesellschaft, nicht von den ‚allgemeinen Menschenrechten‘ aus. In der Zeit, wo alles Große – auch auf den Thronen – herabgedrückt und alles Kleine ohne Recht und Sinn übersteigert wurde, litt George wie keiner an der Not des Untergangs aller hohen Menschenbilder und am Verlust jeder adligen Menschenart, für deren Bildung und Erfüllung alle bestehenden Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft weder Raum noch Nahrung boten.¹⁰²

Wolters kommt, George folgend, erneut zu dem Schluss: Diese Seelenlage des europäischen Menschentums war von keinem Punkte der vorhandenen Praktiken oder Theorien des Staates zu ändern. Sie erforderte die Schaffung einer neuen geistigen Sphäre für ein Menschtum, das aus einer gänzlich gewandelten Anschauung vom Aufbau staatlicher Gemeinschaft die Lebensformen erzeugen könnte, die George als Bild einer würdigen Daseinsweise des Volkes in sich trug.¹⁰³

Das ‚herrscherliche Merkmal‘ der Georgeʼschen Dichtung sind für Wolters „volksumgreifende Zukunftsvisionen“.¹⁰⁴

XI Georges Präfaschismus Es spricht für politische wie literarische Naivität, wenn Hermann Bahr glaubt, George derart Mussolini gegenüberstellen zu können, dass dessen „glänzende, lärmende, gewaltsame Gestalt“ die italienische „Eigenart und Eigenmacht“ verkörpere, „die Summe wahrhaft deutschen Daseins“ aber „die stillen reinen Züge Stefan Georges“ trage.¹⁰⁵ Auch er ist ein „Diktator“, wie Wolters affirmiert: Er „gründete seine Herrschaft tiefer, umfassender und dauernder als heute“ selbst der „kühne staatliche Spieler“ Mussolini.¹⁰⁶ Eine ihrerseits lächerliche Behauptung, so sehr, dass sie den Vergleich überhaupt verunmöglicht. Die Schärfe der Borchardtʼschen Kritik an George ist, unabhängig von ihrem affirmativen Charakter, nicht unberechtigt:

102 103 104 105 106

Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 54), S. 545f. Ebd., S. 546. Ebd., S. 363. Zit. nach ebd., S. 514. Ebd., S. 550.

Der Ästhetizist Algabal, der politisch-religiöse Dichter Stefan George



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Wenn es Unglückliche gibt, die heute noch meinen können, dasjenige, was ich den führbaren Deutschen, das steingefügte Grundbaumaterial der Führung nenne, könne aussehen wie die Jüngerschar und die Lehrschar gewisser pseudogelehrter Schwarten, so möchte ich den Blick vorausnehmen können, mit dem eine Führung Deutschlands auf dem Ketzerhaufen dieser hochfahrenden Wiedertäufer ruhen und ihre Gläubigen außerhalb des rauhen Bezirkes weisen wird, in dem seine Faust gestaltet. Denn in diesem Bezirke wird nicht geliebelt und gehimmelt, nicht proklamiert und nicht gekniet und das alte Ritual des Gottesdienstes naiv profaniert, sondern diese Fastnacht hat wie die allgemeine Freiheitsfastnacht des Haufens ein Ende, und statt der Herrschaft der Mysterienstifter und des Dienstes seiner Mysten tritt ein anderes Begriffspaar, Befehl und Gehorsam, in sein altes Männerrecht, der steinharte Druck, der in die Gesichtszüge der großen völkerumbauenden Volksmänner aller Zeiten gegraben ist, der Cromwell und Mussolini.¹⁰⁷

Es ist aber festzuhalten, dass Georges Diktatur eine war und vor allem die Schule eines irdischen Diktators abgeben wollte. George ist gerade dadurch von soziokulturellem Interesse, dass er nicht einfach nur Lehrer sein wollte, der mit seinen Schülern ein Modell praktiziert, aber auch nicht bloß ein sektiererischer Religionsstifter, sondern dass er, ausgehend von einem scheinbaren Ästhetizismus, beanspruchte, eine völlig neue Weltperiode heraufzuführen, samt ihrem Gott – seinem Gott –, und dass dann, unter dessen Ägide, gerade auch ein neues Reich der Gesellschaft beginnen würde, das heißt, im bisherigen Sinn von Gesellschaft, eines gegen sie. Nichts macht seinen totalen Anspruch, „Herr der Wende“ zu sein, deutlicher, als dass George sich auch als ‚Vater‘ Maximins fühlt, nicht nur des ‚Mannes‘, der das irdische Reich pflanzen wird. Wolters schreibt, George habe „im deutschen Land den jungen schönen Gott“ geboren und ihn „ins ewige Wort gebannt“.¹⁰⁸ Dass die ‚Geburt‘ eine war, die – einmal geschehen – ihn wiederum zum „geschöpf […] [des] eignen sohnes“ machte, wie es in der ‚Einverleibung‘ heißt,¹⁰⁹ ändert am Georgeʼschen Prius nichts, was entscheidend ist: Das „kind“ ist „aus hehrer lust und hehrer fron“.¹¹⁰ Mag George – immer dialektisch – auch formulieren: „Wie er mein kind ich meines kindes kind“: schon den nächsten Jüngern bleiben – im selben Gedicht – bloß die Verse: „Mehr deutet nicht! ihr habt nur mich durch ihn!/ […] Lasst was verhüllt ist: senkt das haupt mit mir“.¹¹¹ Georges Anspruch ist, in rhetorischer Frage: „Riss ich nicht ins enge leben/Durch die stärke meiner liebe/ Einen stern aus seiner bahn?“ Er selber hat „ihn geboren“,¹¹² sein Verkünder

107 Rudolf Borchardt: Reden, Stuttgart 1955, S. 418f. 108 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 54), S. 369f. 109 SW VI/VII (Anm. 3), S. 109. 110 SW VIII (Anm. 3), S. 26. 111 Ebd., S. 14. 112 Ebd., S. 70.

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und Diener: Wer George hört, hört Ihn, ja, wer jenen verehrt, verehrt Diesen. In Wolters ‚Herrschaft und Dienst‘ heißt es ausdrücklich: „wie der Herrscher sein verhältnis zum weltgrunde als kult erfasst, so hat der dienende sein verhältnis zum herrschaftsgrunde als kult erfasst“.¹¹³ Jeder, der an George Anteil gewinnt, gewinnt Anteil an Maximin, wenn er, als zum ‚Kreis‘ Zugelassener, ihn nicht schon längst besitzt. Denn niemand anderes ist Maximin als der „geist der heiligen jugend unsres volks“.¹¹⁴ Und ist der „gestählt“, wird er zu cäsarischer Materie; ein weiteres Mal wird aus dem ‚puer‘ der ‚Augustus‘-Mussolini. 1928 erklärt George Berthold Vallentin, es „käme immer nur darauf an, dass eine große Täterperson solche Gedanken“ wie die seinen „aufgreife und sie in die politische Wirksamkeit überführe. In der Richtung sei vielleicht etwas von Mussolini zu besorgen.“¹¹⁵ Lacht da jemand? Ich sicher nicht, vielmehr widme ich das Voranstehende Franz Hessel, einem der Mitverfasser des ‚Schwabinger Beobachters‘, 1940 Opfer des Faschismus.

113 Wolters, Herrschaft und Dienst (Anm. 55), S. 60. 114 SW VIII (Anm. 3), S. 15. 115 Berthold Vallentin: Gespräche mit Stefan George 1902–1931, Amsterdam 1961, S. 102; vgl. auch Karl Wolfskehl: Mussolini und sein Faschismus. In: Europäische Revue IV, 1928, S. 565–568.

Almut-Barbara Renger

Die Konjunktur des Meisters Stefan George im Spiegel religions- und wissenssoziologischer Studien seiner Zeit „Ein letzter Rathschlag in dieser Angelegenheit: sagen Sie im Gespräch mit Frau Wagner nie anders als ‚der Meister‘ […].“¹ Mit diesen Worten bereitete der Richard-Wagner-Verehrer Houston Stewart Chamberlain 1894 seinen Verleger Hugo Bruckmann auf ein erstes Treffen mit Cosima Wagner vor. Chamberlain selbst, von Geburt Engländer, aus Überzeugung Deutscher, hielt sein Leben lang an seiner „inbrünstige[n] Liebe“² zum „Bayreuther Meister“³ fest. In seiner Autobiographie ‚Lebenswege meines Denkens‘ (1919) schildert er, wie „Gott […] [ihn] einen wunderbaren, gesegneten Weg nach Bayreuth geleitet“⁴ habe – in die „Sphäre“ seines späteren Schwiegervaters, die ihm von je „als Heiligtum“⁵ gegolten habe –, und legt Zeugnis ab von „Erregung“ und „Rausch“⁶ bei Berührung mit dessen Arbeiten sowie von „der Offenbarung“, als die er Wagners „vollendete[n] Meisterwerke“⁷ verstanden wissen will. Dabei macht Chamberlain, wie für kunstreligiöse Bestrebungen jener Zeit charakteristisch,⁸ sprachlich und metaphorisch zahlreiche Anleihen bei der christlichen Bibel. Zum Beispiel stilisiert er Wagners Werk zum Manna: „Das wiederholte Erleben höchster Kunst, dargeboten von reinster Absicht und bestem Können, gewinnt für das Leben eine nicht zu ermessende Bedeutung: es

1 Brief vom 23.8.1894, Nationalarchiv Bayreuth, Nachlass Chamberlain. Diesen Hinweis verdanke ich Sven Fritz. 2 Houston Stewart Chamberlain: Lebenswege meines Denkens, München 1919, S. 202. 3 Ebd., S. 161 u. S. 285. 4 Ebd., S. 247. 5 Ebd., S. 218. 6 Ebd., S. 203. 7 Ebd., S. 208f. 8 Zum Begriff der Kunstreligion vgl. u. a. Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997 (= Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte 15); Bernd Auerochs: Kunstreligion. Studien zu ihrer Vorgeschichte in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Habil.-Schr., Univ. Jena 1999; ders.: Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006 (= Palaestra. Untersuchungen der deutschen und skandinavischen Philologie 323); Richard Faber/Volkhard Krech (Hg.): Kunst und Religion. Studien zur Kultursoziologie und Kulturgeschichte, Würzburg 1999.

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handelt sich um eine himmlische Speisung, die der Geist nicht mehr entbehren kann“.⁹ Auch in seiner Wagner-Biographie offenbart Chamberlain dem ‚Meister‘ gegenüber glühende Verehrung und eine Ergebenheit, die über den Bereich existentieller Selbstvergewisserung als Schriftsteller hinaus in den Bereich von Mythos und Mystik, Religion und Spiritualität weisen. Wagner – „[d]ieser makellos edle, gänzlich uneigennützige immer nur für die reine, heilige Kunst entbrannte Mann“¹⁰ – will ihm als „künstlerischer Seher“¹¹ erscheinen, als „Dichter, dessen Traum es war, alle Menschen zu Künstlern ‚zu erlösen‘“,¹² als Meister schlechthin, dem Gott „das seltene Können […] anvertraut hatte, zum Heil der Kunst, zum Heil seines Vaterlandes“.¹³ An dieser religiös ausgerichteten Überhöhung Wagners arbeitete Chamberlain in enger Verbundenheit mit Cosima Wagner, der ‚Herrin vom Hügel‘,¹⁴ und dem sogenannten ‚Bayreuther Kreis‘, der die dogmatische Weiterentwicklung und Veröffentlichung Wagnerʼscher Ideen zum Ziel hatte und politische beziehungsweise religiöse ‚Erlösung‘ propagierte.¹⁵ Gemeinsam kultivierten sie den Mythos eines Virtuosen von überirdischem Glanz und mystischer Enthobenheit – einen Mythos, der unter anderem durch konsequente Verwendung des Substantivs ‚Meister‘ gestützt wurde. Die Art der Bezogenheit Chamberlains auf Wagner ist seinerzeit keineswegs singulär: Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts kommt es in unterschiedlichsten Lebensbereichen wiederholt zu religiös aufgeladenen Verehrungen einzelner Persönlichkeiten, deren Bezeichnung als ‚Meister‘ anzeigen soll, dass sie 9 Chamberlain, Lebenswege (Anm. 2), S. 246. Ein weiteres unter mehreren Beispielen für solche Anleihen ist seine Stellungnahme zu den Abweichungen seines eigenen und Carl Friedrich Glasenapps Berichts über eine Rede des „Meister[s] am Vorabend der ersten Aufführung des ‚Parsifal‘“. Er vergleicht die Divergenzen mit den Unterschieden der Evangelien im Neuen Testament: „die Worte des Herrn gleichen sich oft bis auf die letzte Silbe; Umstellungen, Kürzungen und Erweiterungen erklären sich […] aus dem Charakter und der Absicht der Verfasser“; Chamberlain, Lebenswege (Anm. 2), S. 285. 10 Houston Stewart Chamberlain: Richard Wagner, München ⁶1919, S. 61. 11 Ebd., S. 210. 12 Ebd., S. 18. 13 Ebd., S. 61. 14 Vgl. Oliver Hilmes: Herrin des Hügels. Das Leben der Cosima Wagner, München 2007. 15 Vgl. zum ‚Bayreuther Kreis‘: Wolfgang Altgeld: Wagner, der Bayreuther Kreis und die Entwicklung des völkischen Denkens. In: Ursula Müller (Hg.): Richard Wagner 1883–1983. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 129), S. 35–64; Winfried Schüler: Der Bayreuther Kreis von seiner Entstehung bis zum Ausgang der Wilhelminischen Ära. Wagnerkult und Kulturreform im Geiste völkischer Weltanschauung, Münster 1971 (= Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung 12).

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in besonderem Grade über Erfahrung, Expertise und Wissen verfügen und als Könner und Vorbild auf ihrem Gebiet bewundert werden. Und nicht selten gesellen sich um solche Akteure Gleichgesinnte in Form von Kreisen, Bünden und ähnlichem.¹⁶ ‚Der Bayreuther Kreis‘ ist in jener Zeit nur eine von vielen Variationen der Gesellung und Vergemeinschaftung mit ‚Meister‘-Bezug. Sie bilden sich nicht nur in Domänen, in denen die Lehrbeziehung zum ‚Meister‘ ohnehin formalisiert und in Organisationsstrukturen institutionalisiert ist – wie etwa in handwerklichen und technisch-gewerblichen Berufen, in denen der ‚Meister‘ als höherer Berufsabschluss Voraussetzung dafür ist, dass jemand als ‚Meister‘ in einem Betrieb arbeitet und einem bestimmten Arbeitsbereich vorsteht –, sondern zum Beispiel auch in Bereichen wie der Literaturproduktion, in denen das Lehrverhältnis zum ‚Meister‘ nicht institutionalisiert ist. Häufig greift hierbei eine Semantik des Meisterbegriffs, die religiöse Führerschaft impliziert (wie sie etwa ein Religionsstifter im Verhältnis zu seiner Gefolgschaft innehat). Um die Jahrhundertwende erreicht die Aufwertung von Kunst und Künstlern bis hin zur ‚Kunstreligion‘ einen Höhepunkt, und immer mehr Literaten, Maler und Musiker stilisieren sich zu einer Führergestalt mit Heilsfunktion, die Anhänger um sich schart. Stefan George, der sich mit Vorliebe ‚Meister‘ nennen ließ und vielumkreister Mittelpunkt einer Anhängerschaft war, stellt das wohl prominenteste Beispiel für Kreisbildung um Meistergestalten in der Zeit um 1900 dar. Er setzte sich zwar vehement von Wagner ab, indem er ihn einen „schlechten Mimen“ nannte, von seinem „Wallhall-Schwindel“ sprach¹⁷ und ihm unterstellte, „nur der großen Wirkung halber das Kultische auf die Bühne geschleppt“¹⁸ zu haben; schon Theodor Heuss stellte aber die Vermutung an, dass der Grund hierfür ein „geheime[s] Gefühl der peinlichen Parallelen“¹⁹ zwischen Wagner und dem eigenen Werk und dessen Inszenierung gewesen sein könnte – eine Vermutung, die nicht unberechtigt erscheint und auch vor dem Hintergrund der politischen Rezeption beider ‚Meister‘ durch die deutsche Rechte Beachtung verdient.²⁰ Wie 16 Vgl. Richard Faber/Christine Holste (Hg.): Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, Würzburg 2000. 17 Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, München – Düsseldorf ²1954, S. 271. 18 Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, S. 108. 19 Theodor Heuss: Über Stefan George und seinen Kreis II. In: Die Hilfe 41, 1913, S. 649–651, hier S. 650. 20 Vgl. für Wagner z. B.: Altgeld, Wagner (Anm. 15), Schüler, Bayreuther Kreis (Anm. 15) und Udo Bermbach: Richard Wagner in Deutschland. Rezeption – Verfälschungen, Stuttgart 2011. Vgl. für George: Stefan Breuer: Politische Rezeption. In: Achim Aurnhammer/Wolfgang Braungart/Stefan Breuer/Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Berlin – Boston 2012, Bd. 2, S. 1176–1225, hier S. 1212–1223.

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dem ‚Bayreuther Meister‘ gegenüber, dessen Zug ins Theatralische und Heroische der spätere Bundespräsident ablehnte, da er sie angesichts des von ihm beobachteten Hangs der Deutschen zum Irrationalen und Nationalistischen als gefährlich einschätzte, bezog er George und seiner ‚Jüngerschaft‘ gegenüber, wie sie sich seit dem Erscheinen Friedrich Gundolfs als erstem ‚Jünger‘ formiert hatte,²¹ eine kritische Position. Er hielt den Dichter für „weder stark noch anziehend“,²² erachtete die Schlagworte von Meister- und Jüngerschaft als Anzeichen einer längst überholten „geistige[n] und soziale[n] Gesinnung“²³ und gab zu bedenken, George sei der Rolle als Menschheitsführer, die ihm tatsächlich von etlichen Anhängern zugewiesen wurde, in keiner Weise gewachsen. Die Existenz des George-Kreises war, wie Heuss’ Kommentare in Friedrich Naumanns Wochenschrift ‚Die Hilfe‘ exemplarisch verdeutlichen, weithin bekannt.²⁴ Nach der Jahrhundertwende nahm der Kreis, unter anderem vermittelt über geistes- und kulturgeschichtliche Publikationen seiner Mitglieder und deren Lehrtätigkeit an deutschen Universitäten, breitenwirksam Einfluss auf die deutsche akademische Landschaft. Er löste bei vielen Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern, deren Einschätzung längst nicht so nüchtern ausfiel wie die von Heuss, das Bedürfnis aus, ihm anzugehören oder sich ihm zumindest in irgendeiner Weise anzunähern, zum Beispiel in wissenschaftlich-analytischer Form. So erschienen in den verschiedensten Bereichen Arbeiten, die George und seine Anhängerschaft in den Blick nahmen. Viele dieser Schriften zeigen eine Form der wechselseitigen Durchdringung von Lebenspraxis und Theorie, die sie heute obsolet erscheinen lässt, und sind ohne größere Wirkung geblieben. Doch es entstanden auch etliche Studien, welche die nachfolgende Forschung maßgeblich prägten, wie etwa in der Wissens- und in der Religionssoziologie. Es handelt sich hierbei um Schriften, die auch und insbesondere mit Blick auf die ‚Meister‘-Thematik aufschlussreich sind. Max Weber, Max Scheler und Joachim Wach veröffentlichten wichtige Studien, in denen – unter dem Eindruck von Stefan George, ausgehend von dem Modell des ‚Meisters‘ und seines Kreises – religions- und kulturhistorische sowie gesellschaftstheoretische Überlegungen zu Themen wie Gemeinschaftsbildung, Wissenstransfer, religiösem Spezialistentum und Charisma angestellt werden. Diese Studien bezeugen eine ausgeprägte 21 Vgl. hierzu: Kai Kauffmann: Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze. In: Stefan George und sein Kreis (Anm. 20), Bd. 1, S. 7–94, hier S. 43–47; Jürgen Egyptien: Gundolf, Ernst. In: Stefan George und sein Kreis (Anm. 20), Bd. 3, S. 1399–1403. 22 Heuss, Über Stefan George II (Anm. 19), S. 650. 23 Theodor Heuss: Über Stefan George und seinen Kreis I. In: Die Hilfe 40, 1913, S. 632–634, hier S. 633. 24 Vgl. zum Thema ausführlich das erste große Kapitel (‚Stefan George und sein Kreis‘) in: Stefan George und sein Kreis (Anm. 20), Bd. 1, S. 7–491.

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Faszination durch das Phänomen ‚Meister‘ und seine Konjunktur um 1900. Ihnen geht der vorliegende Beitrag nach. Ausgewählte Schriften und Schriftwechsel dienen hierbei der Verortung im zeitgeschichtlichen Kontext.

I Meister, Kreise, Vereine. Georges Aufstieg in Zeiten neuer Gesellungsformen So nachdrücklich George den ‚Bayreuther Meister‘ ablehnte, so ostentativ orientierte er sich am „beispiel“ anderer „höchste[r] meister“²⁵ der europäischen Literatur- und Kulturgeschichte, wie etwa an Dante, den er als Meister identifizierte, und thematisierte dies auch in seinen Gedichten mittels Analogien und Korrespondenzen. Besondere Orientierung unter Zeitgenossen bot ihm zunächst Stéphane Mallarmé, an dessen bekannten Mardis er mehrfach teilnahm. Bei diesen Dienstagstreffen (seit 1877) empfing Mallarmé junge Dichter wie Émile Verhaeren, Maurice Maeterlinck, Oscar Wilde, Joris-Karl Huysmans, Paul Valéry, André Gide, William Butler Yeats, Rainer Maria Rilke und, wohl ab 1889, auch George in seiner Wohnung in der Rue de Rome.²⁶ Die Faszination, die von der zentralen Gestalt des französischen Symbolismus ausging, zog zahlreiche Besucher an, so auch Chamberlain, der, wie er Cosima Wagner 1893 schrieb, sich schon lange gesehnt habe, „diesen einen Mann zu sehen“, und bei seinem Anblick „lebhaft das seltene Gefühl“ gehabt habe, „vor dem wirklich Bedeutenden zu stehen“.²⁷ Die Kunst wurde hier, im ‚cercle‘ Mallarmés, als etwas Heiliges betrachtet, das Aspekte besitze, die sonst nur bei Religionen zu finden seien; der ‚maître‘ selbst hatte den Status eines ‚Priesters der Kunst‘ inne und galt als maßgebliche literarische Autorität, der Bewunderung entgegengebracht wurde – eine Haltung freilich, die nicht jeder teilte. Was Chamberlain tief beeindruckt und zu seiner überhöhenden Darstellung Wagners und seiner Kunst inspiriert haben mag, stieß bei anderen auf die Kritik, an manchen Abenden habe man den Eindruck bekommen, den Adepten würde ‚das Manna einer neuen Religion‘ („la manne d’une religion nouvelle“²⁸) gereicht. 25 Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. V, S. 27. Im Folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. 26 Vgl. Kauffmann, Leben Stefan Georges (Anm. 21), und Annette Simonis: Mallarmé, Stéphane (eigentl. Étienne). In: Stefan George und sein Kreis (Anm. 20), Bd. 3, S. 1538–1541. 27 Brief aus Wien vom 15.11.1893. In: Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain im Briefwechsel 1888–1908. Hg. von Paul Pretzsch, Leipzig 1934, S. 360–363, hier S. 362. 28 Gustave Kahn: Symbolistes et décadents, Paris 1902, S. 30.

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Bei George jedenfalls wirkten, wenn er auch in Mallarmé nicht etwa seinen Meister erkennen wollte, die Besuche in der Rue de Rome in inspirierender Weise nach. Er übersetzte nicht nur Teile von Mallarmés Dichtung und schulte sein eigenes Dichten durch Orientierung an ihm, sondern guckte sich, leger formuliert, auch etliches von dem älteren Kollegen ab, etwa wie „ein Dichter auftritt, redet, sich bewegt, wie er fast unmerklich Distanz herstellt und wie er, nicht zuletzt, sich vom allgemeinen Literaturbetrieb abgrenzt“ – den „Zug ins Gewollte, die theatralische Leidensfähigkeit, das Pathos, die Pose“.²⁹ Kurz, George übernahm Strategien der Herstellung und Bewahrung von Autorität, wie sie sich in vielfältigen Variationen auch an Meistergestalten und Gurus im Feld rezenter alternativer Religiosität beobachten lassen. Bei alledem scheint, wie ein Briefwechsel zwischen George und Mallarmé andeutet, das Verhältnis von gegenseitiger Achtung geprägt gewesen zu sein³⁰ – einer Achtung, die George der eigenen Person gegenüber später in seinem eigenen Kreis nachdrücklich einforderte. 1893 schrieb er: „Deshalb o dichter nennen dich genossen und jünger so gerne meister, weil du am wenigsten nachgeahmt werden kannst und doch so grosses über sie vermochtest […]“,³¹ und verlieh damit einer Einschätzung des ‚maître‘ Ausdruck, die er nach 1900 immer wieder mit Bezug auf sich selbst geltend machte. An Mallarmé orientiert, suchte er sich zunächst ‚Genossen‘, Dichterkollegen, um einen internationalen Freundeskreis aufzubauen. À la longue aber gründete er sein Wirken als Meister nicht, wie Mallarmé, auf freundschaftlich-lockere Treffen zwecks intellektuellen Austauschs, sondern auf eine hierarchische Gruppenstruktur, innerhalb derer er maßgeblich den Ton angab und in zunehmendem Maße auch Zwang auf die Mitglieder ausübte.³² So entwickelte sich aus einer losen Assoziation gleichgesinnter, weitgehend gleichaltri29 Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 86. 30 Vgl. Stefan George/Stéphane Mallarmé: Briefwechsel und Übertragungen. Hg. und eingeleitet von Enrico de Angelis. Mit einem Nachwort von Ute Oelmann, Göttingen 2013 (= Castrum Peregrini N. F. 5). Vgl. zur gegenseitigen Achtung auch Simonis, Mallarmé (Anm. 26). 31 Dichterköpfe. III Mallarmé. In: Blätter für die Kunst 1,5, August 1893, S. 134–137, hier S. 137; SW XVII (Anm. 25), S. 48. 32 Seit den Arbeiten Vordtriedes gibt es eine rege Auseinandersetzung über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen George und Mallarmé, die nicht nur die Dichtung, sondern auch die Formen der Selbstinszenierung, die Form der Führung und die Sozialbeziehungen angehen. Vgl. Werner Vordtriede: The Conception of the Poet in the Works of Stéphane Mallarmé and Stefan George, Diss., Northwestern Univ., Evanston 1944; ders.: Direct Echoes of French Poetry in Stefan George’s Works. In: Modern Language Notes 60, 1945, S. 461–468. Vgl. aus jüngerer Zeit hierzu z. B. Karlauf, Stefan George (Anm. 29), S. 78–87; Judith Ryan: Mallarmé and the Mardistes. Meister und Jünger in einer säkularen Zeit. In: Verf. (Hg.): Meister und Schüler in Geschichte und Gegenwart. Von Religionen der Antike bis zur modernen Esoterik, Göttingen 2012, S. 319–329. Weiteres zusammenfassend mit Angaben von Sekundärliteratur bei Simonis, Mallarmé (Anm. 26).

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ger Dichter, die sich um die von George seit 1892 herausgegebenen ‚Blätter für die Kunst‘ gruppierte, ein komplexer ‚Kreis‘ mit verschiedenen Binnenkreisen, in dem George im Laufe der Jahre zu einem Bildner der Jugend avancierte,³³ der als Lehrmeister Unterordnung forderte.³⁴ Die Kreisbildung, wie sie sich um 1900 auch unter Schriftstellern vollzieht, entspricht dem allgemeinen Trend seit dem 18. Jahrhundert, Vereinigungen (Clubs, Assoziationen, Vereine, Bünde)³⁵ zu bilden, in denen Ideale und Werte gelten, deren Verwirklichung, wie paradigmatisch im Fall von Mallarmé und George, den Erwerb von Achtung anderer – und damit von Selbstachtung – bedeutet. In diesen Formen der Geselligkeit und Gruppenbildung – in bürgerlich-liberalen Assoziationsformen mit freiem Zutritt ebenso wie in esoterischen Gegenstrukturen zu diesen – spielen gemeinsame ideelle Einstellungen und Ziele eine wichtige Rolle und es werden entsprechende Bestände von Spezialwissen kultiviert und vermittelt. Nicht selten handelt es sich hierbei auch um handlungsleitendes Wissen, das in Schulen, Universitäten und betrieblichen Bildungseinrichtungen – Institutionen, die auf die Vermittlung gesellschaftlich als relevant anerkannten Wissens spezialisiert sind – nicht kanonisiert ist oder dessen Form der Auffassung und Anwendung herkömmlichen bürgerlichen Lebensidealen nicht entspricht. Georges Kreis gehörte zu denjenigen Vereinigungen, die sich von Geselligkeitsformen einer ‚bürgerlichen Öffentlichkeit‘ mittels esoterischer Interaktionsformen distanzierten.³⁶

33 Vgl. dazu Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der GeorgeKreis 1890–1933, Köln – Weimar – Wien 1997 (= Bochumer Schriften zur Bildungsforschung 3); Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung am Beispiel des George-Kreises 1890–1945, Tübingen 1998 (= Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte 17), S. 108–123; Günter Baumann: Der George-Kreis. In: Kreise – Gruppen – Bünde (Anm. 16), S. 65–84; Jürgen Egyptien: Die ‚Kreise‘. In: Stefan George und sein Kreis (Anm. 20), Bd. 1, S. 365–407. 34 Vgl. Martin Roos: Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, Düsseldorf 2000, S. 161–173. 35 Vgl. zum Vereinswesen in Deutschland z. B. Thomas Nipperdey: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung. In: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976, S. 176–205; Otto Dann (Hg.): Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft, München 1984 (= Historische Zeitschrift: Beiheft, N. F. 9); Wolfgang Hardtwig: Verein, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft, Gewerkschaft. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 789–829. Zu literarischen Kreisen siehe Wulf Wülfing/ Karin Bruns/Rolf Parr (Hg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde: 1825–1933, Stuttgart – Weimar 1998. 36 Vgl. hierzu Kolk, Literarische Gruppenbildung (Anm. 33), S. 108–123.

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Auf dem ‚Ersten Deutschen Soziologentag‘ vom 19. bis 22. Oktober 1910 in Frankfurt am Main weist Max Weber in seinem ‚Geschäftsbericht‘ am ersten Sitzungstag auf die Tendenz der Bildung von Vereinigungen hin.³⁷ Er nennt es eine fundamentale Aufgabe einer jeden Gesellschaft für Soziologie […], diejenigen Gebilde zum Gegenstand ihrer Arbeiten zu machen, welche man konventionell als ‚gesellschaftliche‘ bezeichnet, d. h. alles das, was zwischen den politisch organisierten oder anerkannten Gewalten – Staat, Gemeinde und offizielle Kirche – auf der einen Seite und der naturgewachsenen Gemeinschaft der Familie auf der anderen Seite in der Mitte liegt.

Es gehe also vor allem um „eine Soziologie des Vereinswesens im weitesten Sinne des Wortes, vom Kegelklub […] angefangen bis […] zur religiösen oder künstlerischen oder literarischen Sekte“.³⁸ In den dann folgenden Ausführungen bringt Weber Beispiele aus verschiedenen sozialen und kulturellen Bereichen, die einmal mehr sein Interesse an Sozialstrukturen und deren Analyse im interkulturellen Vergleich dokumentieren. Er erläutert die Frage, wie „die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art von Verband nach innen“, „auf die Persönlichkeit als solche“ wirkt, und führt vor allem psychosoziale Faktoren wie (Selbst-)Behauptung und (Selbst-)Achtung an.³⁹ Weitere Fragen, die er aufwirft, betreffen die Auswirkung der „Vereinstätigkeit“ auf den „Gesamthabitus“ und die „Reglementierung“ der „Lebensführung“⁴⁰ und die „Prägung“ sowohl „der einzelnen Individuen“ als auch der „objektiven, überindividuellen Kulturgüter“.⁴¹ Auf diese Fragen Webers und seine Aufforderung, ihnen nachzugehen, reagierten etliche zeitgenössische Wissenschaftler, so auch, mit einer sehr spezifischen Schwerpunktsetzung, der Philosoph, Anthropologe und Soziologe Max Scheler, der sich wiederholt mit Webers Thesen auseinandersetzte.⁴² Scheler erstellte in zahlreichen Arbeiten, von denen ‚Die Wissensformen und die Gesellschaft‘ (1926) einschlägig wurde, Regeln, Typen und Gesetze des gesellschaftlichen Lebens und versuchte, die tatsächlichen Einflussgrößen des zwischen37 Max Weber: Geschäftsbericht. In: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19. bis 22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Reden und Vorträge von Georg Simmel, Ferdinand Tönnies, Max Weber, Werner Sombart, Alfred Ploetz, Ernst Troeltsch, Eberhard Gothein, Andreas Voigt, Hermann Kantorowicz und Debatten, Frankfurt a. M. 1969, S. 39–62, hier S. 52–62. 38 Weber, Geschäftsbericht (Anm. 37), S. 52f. Wiederabdruck in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924, S. 441f. 39 Weber, Geschäftsbericht (Anm. 37), S. 55. 40 Ebd., S. 58. 41 Ebd., S. 59. 42 Vgl. zu Teilaspekten dieser Auseinandersetzung z. B. Karl-Heinz Nusser: Wissenschaft, Weltanschauung und Charisma bei Max Scheler und Max Weber. In: Gerhard Pfafferott (Hg.): Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft. II. Internationales Kolloquium der MaxScheler-Gesellschaft e. V., Universität zu Köln, 7.–10.6.1995, Bonn 1997, S. 251–263.

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menschlichen Verstehens und Handelns zu benennen. 1924 veröffentlichte er, in Vorbereitung seiner ‚Wissensformen‘, einen Sammelband mit dem Titel ‚Versuche zu einer Soziologie des Wissens‘, der den Begriff ‚Wissenssoziologie‘ zum Diskussionsgegenstand machte. Der Band enthält (neben Schelers einführender Abhandlung ‚Probleme einer Soziologie des Wissens‘) mehrere beziehungswissenschaftliche Aufsätze über Gruppen von der Antike bis in die Moderne, denen gemein ist, dass in ihnen kommunikatives Handeln die Funktion sinnvermittelnder und strukturbildender Wissensvermittlung hat. Etliche Autoren des Bandes haben noch heute über die Soziologie hinaus einen Namen, so zum Beispiel Helmuth Plessner und Leopold von der Wiese. Unter den Beiträgen des Bandes sind (in Reihenfolge des Abdrucks): ‚Übertragungsformen des Wissens‘ von Paul Luchtenberg, ‚Kundnehmen und Kundgeben‘ von Hans Lorenz Stoltenberg, ‚Zur Erkenntnissoziologie der aristotelischen Schule‘ von Paul L. Landsberg, ‚Soziologie der Scholastik‘ und ‚Soziologie der Mystik‘ von Paul Honigsheim, ‚Zur Soziologie moderner Lebenskreise (um Stefan George, Johannes Müller, Graf Keyserling, Rudolf Steiner)‘ von Wilhelm Vollrath, ‚Soziologie des Steiner-Kreises‘ von Walter Johannes Stein und ‚Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität‘ von Plessner. Schon die Titel lassen das facettenreiche Spektrum des Bandes erkennen. Die darin versammelten Einzelstudien gehen Formen des Wissenserwerbs und der Wissensverbreitung in verschiedenen kulturellen Bereichen nach und zeigen, welche spezifischen Motivationen, Erkenntnisziele und -akte, Persönlichkeitstypen und sozialen Gruppen sowie historische Bewegungsformen sie auszeichnen. Die Zusammenstellung dieser Spezifika macht die soziale und kulturelle Bedingtheit, die Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit von Wissensbeständen auf eindringliche Weise transparent. Auffällig am Band ist nicht zuletzt die große Diversität der Verwendung des Begriffs ‚Meister‘. Honigsheim zum Beispiel gebraucht ihn als Bezeichnung für einen Mystiker mit unterweisender Funktion.⁴³ Er erarbeitet eine „Kasuistik der mystischen Vergesellschaftungen“,⁴⁴ in der er, an Differenzierungskriterien Max Webers orientiert, interpersonelle Lehr-Konstellationen nach Zahl und Geschlecht der beteiligten Beziehungspartner – „Meister“ auf der führenden und „Jünger“ auf der geführten Seite – systematisiert.⁴⁵ Traditionen und Kulturen, die er in die Klassifizierung einbezieht, sind unter anderem der antike Dionysos-Kult, verschiedene Strömungen und Kirchen des Christentums, der Chassidismus, der Manich43 Vgl. Paul Honigsheim: Soziologie der Mystik. In: Max Scheler (Hg.): Versuche zu einer Soziologie des Wissens, München 1924, S. 323–346. 44 Ebd., S. 340. 45 Ebd.

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äismus, der Buddhismus und der Taoismus. Anwendung finden die Termini ‚Meister‘ und ‚Jünger‘ in Schelers Sammelband aber auch für ganz andere Bereiche. Landsberg zum Beispiel dient der Meisterbegriff zur Bezeichnung für einen antiken griechischen Philosophen: Platon, von dem sich „sein bedeutendster Schüler Aristoteles“ gelöst habe.⁴⁶ Deutlich wird hier einmal mehr, dass sich die Bekanntheit von Schulen und Lehreinrichtungen der Prominenz ihrer Gründer und Lehrer verdankt. Vollrath, der über Meisterschaft der führenden Person und Jüngerschaft (zum Beispiel mit Bezug auf Gundolf)⁴⁷ auf Seite der Geführten mit Blick auf die „Kreise“⁴⁸ um George, Johannes Müller, Graf Keyserling und Rudolf Steiner spricht, zeigt anhand dieser zeitgenössischen Gemeinschaftsbildungen religiöser Prägung, dass der Meisterbegriff über das akademische Milieu und weitere Institutionen organisierten personalen Wissenstransfers (wie Gilden und Zünfte, Klöster und Werkstätten) auf Intellektuellenassoziationen ausgegriffen hat, wie sie im Zuge der Renaissance des Religiösen um 1900 verschiedene wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse prägten.⁴⁹ Und selbst Kuno Mittenzwey gebraucht, unter Bezug auf die Geschehnisse um Sigmund Freud in Wien, die ‚Meister-Jünger‘-Terminologie in seiner Charakterisierung psychoanalytischer Praktiken und Vereinigungen der Zeit.⁵⁰ Er unterscheidet zwei Typen von Analysanden nach ihrem Verhältnis zum Analytiker: den „gläubige[n], jüngerhafte[n]“ „ewigen Patienten“ einerseits und den „mehr intellektuell gerichteten“, „selbständigeren“ Patienten andererseits. Während Vertreter des ersten Typus, die „Jünger“, ein starkes „Attachement“ an den „Analytiker, in dem sie den Meister sehen, und an dessen Lippen sie während der Sitzungen hängen“, kennzeichne, hänge der zweite Typus eher dem in der Analyse gewonnenen neuen Wissen an und entwickle einen Geltungsdrang gegenüber „den ‚Laien‘, den Unanalysierten“, sowie gegebenenfalls auch ein Bedürfnis nicht nur nach Zughörigkeit zu, sondern sogar Gründung von einer psychoanalytischen Gesellschaft oder Schule.⁵¹ Es ist bemerkenswert, dass in keiner dieser Abhandlungen der Begriff des ‚Meisters‘ näher erläutert wird. Selbst Honigsheim gibt in seiner systematischen Unterteilung der Beziehung zwischen Mystikern in mehrere Sonder- und Unter46 Paul L. Landsberg: Zur Erkenntnissoziologie der aristotelischen Schule. In: Versuche zu einer Soziologie des Wissens (Anm. 43), S. 295–301, hier S. 295. 47 Wilhelm Vollrath: Zur Soziologie moderner Lebenskreise (um Stefan George, Johannes Müller, Graf Keyserling, Rudolf Steiner). In: Versuche zu einer Soziologie des Wissens (Anm. 43), S. 347–364, hier S. 355. 48 Beispielsweise: Vollrath, Moderne Lebenskreise (Anm. 47), S. 347f, S. 351–359, S. 362f. 49 Vgl. ebd. 50 Vgl. Kuno Mittenzwey: Zur Soziologie der psychoanalytischen Erkenntnis. In: Versuche zu einer Soziologie des Wissens (Anm. 43), S. 365–375. 51 Ebd., S. 372f.

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formen keine terminologische Erklärung. Er erörtert weder den Begriff selbst noch benachbarte beziehungsweise assoziierte Termini wie zum Beispiel ‚Jünger‘. Schelers Sammelband sieht mithin – das ist evident – keinen Klärungsbedarf. Was unter einem ‚Meister‘ zu verstehen sei, wird als hinreichend bekannt vorausgesetzt und geht nur implizit aus den entsprechenden Beiträgen hervor, die Übereinkunft über Folgendes dokumentieren: Die Beziehung (eines Schülers, Studenten, Lehrlings, Novizen, Adepten, Anhängers, Jüngers etc.) zu einem ‚Meister‘ bedeutet Führung und/oder Wissensvermittlung durch diesen, die in Strukturen autoritär-hierarchischer Organisiertheit und Vergemeinschaftung verlaufen. Der ‚Meister‘ selbst steht entweder in einem religiösen Kontext oder es werden an ihm Eigenschaften diagnostiziert, die religiös aufgeladen sind. Wer sich der personalisierten Wissensvermittlung und/oder Führung durch ihn unterstellt, sieht sich in einer Vertikalrelation ähnlich nicht nur der des Kindes den Eltern, sondern auch der des Menschen Gott gegenüber.

II Termini und ihre Verwendungszusammenhänge. Begriffsgeschichtliche Entwicklungen Ein Blick auf die Begriffsgeschichte vermag die Frage, wie es zu dieser Übereinkunft, die sich in Schelers Band ausdrückt, gekommen ist, zu klären. Das deutsche Wort ‚Meister‘ – ahd. meistar (‚Baumeister‘, ‚Lehrer‘, ‚Vorsteher‘), mhd. meister (‚Lehrer‘, ‚Gelehrter‘, ‚Meistersänger‘, ‚Künstler‘, ‚Handwerksmeister‘, ‚Bürgermeister‘, ‚Besitzer‘) – ist ein Lehnwort relational-komparatistischen Charakters. Es stammt von dem lateinischen Substantiv magister ab und geht – über das Adverb magis (‚mehr‘, ‚in höherem Grade‘, ‚stärker‘) – auf das Adjektiv magnus (‚groß‘, ‚umfangreich‘, ‚weit‘) zurück. Ihm wohnt mithin eine Semantik der Größe und Überbietung inne, die das Lemma ‚meister‘ des ‚Mittelhochdeutschen Wörterbuchs‘ von Benecke, Müller und Zarncke wie folgt umschreibt: „der allgemeine begriff, der im mhd. das wort beherrscht, ist der des übertreffens, überlegenseins u. damit der auctorität, des massgebendseins“.⁵² Die Entlehnung des Wortes vollzog sich maßgeblich in zwei Kontexten: Hof und Kirche. Am fränkischen Hof zum Beispiel war magister nach römischer Überlieferung Titel von höheren Beamten, in klerikalen Zusammenhängen wurde das Wort gebraucht, wenn im Urtext des Neuen Testaments von διδάσ52 [Art.] meister. In: Wilhelm Müller/Friedrich Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke. Bd. 2,1, Leipzig 1863, Sp. 113b–119a, hier Sp. 113b.

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καλος (didáskalos) oder καθηγητής (kathēgētē´s) die Rede war (siehe unten). Von diesen beiden Kontexten aus breitete sich meistar beziehungsweise meister, wie die vielfältigen Möglichkeiten der Übersetzung aus dem Alt- und dem Mittelhochdeutschen anzeigen, über Schule und Universität hinaus auf weite Kreise der Alltags- und Hochkultur, Laien- und Gelehrtenwelt aus.⁵³ Schließlich kam die Terminologie überall dort zur Anwendung, wo Erfahrungen des Menschen im Rahmen kultureller Kompetenz- und Wissensvermittlung terminologisch ihren Niederschlag fanden und, so formuliert es ‚Grimms Deutsches Wörterbuch‘, „eine ehrende und titelhafte bezeichnung auf grund einer maszgebenden stellung, einer gelehrsamkeit oder kunst gegeben werden sollte“.⁵⁴ Definitionsversuche in modernen Lexika und Wörterbüchern fallen, wie paradigmatisch in ‚Grimms Wörterbuch‘, dementsprechend weit aus. Adelungs ‚Grammatisch-kritisches Wörterbuch‘ gibt an, es handele sich beim „Meister“ in allgemeiner Bedeutung um „de[n] vornehmste[n] unter mehrern Einer Art“ und in engerer Bedeutung um „de[n] vornehmste[n]“ beziehungsweise „Herr[n]“ entweder „der Macht und Stärke nach“ oder „[d]en Kenntnissen, und besonders der Geschicklichkeit nach“.⁵⁵ ‚Zedlers Universal-Lexicon‘, das umfangreichste enzyklopädische Projekt im Europa des 18. Jahrhunderts, leitet das Lemma ‚Meister‘ wie folgt ein: „Meister, Magister, Maitre, Maestro, wird in weiten Verstande von einen jeden gesagt, der über andere zu gebieten hat; ingleichen der in einer Kunst Meister ist, und selbige andern lehret“. Im Anschluss hieran werden als Beispiele aufgezählt: „die Meister der Philosophie und freyen Künste, […] Sprach-Meister, und die Exercitien-Meister, als da sind die Fechtund Tantz-Meister, […] die Magistri morum, Ludorum, Scripturæ, equitum, […] Zucht-, Schul-, Rent-Meister, Marschälle und so weiter“.⁵⁶ Die darauf folgenden Ausführungen gelten, neben dem Handwerk, vor allem der jüdischen und der christlichen Religion, wobei unter anderem, mit Verweis auf Jesus Christus, auf die Begriffe ‚Rabbi‘ und ‚Rabbiner‘ (jidd. Rebbe; hebr. Sg. ‫ רב‬Rav, Pl. ‫רבנים‬

53 Vgl. hierzu Verf.: Der ‚Meister‘. Begriff, Akteur, Narrativ. Grenzgänge zwischen Religion, Kunst und Wissenschaft. In: Meister und Schüler in Geschichte und Gegenwart (Anm. 32), S. 19–49. 54 [Art.] Meister. In: Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 12, Leipzig 1885, Sp. 1952–1966, hier Sp. 1952. 55 [Art.] Meister. In: Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Mit D. W. Soltau’s Beyträgen revidirt und berichtiget von Franz Xaver Schönberger, Wien 1811, Sp. 165–167, hier Sp. 165f. 56 [Art.] Meister. In: Johann Heinrich Zedler/Johann Peter von Ludewig/Carl Günther Ludovici (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Bd. 20, Halle – Leipzig 1739, Sp. 389–404, hier Sp. 389.

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Rabbanim; dt. Pl. ‚Rabbiner‘, ‚Rabbinen‘) und die Ableitung von hebräisch Rav oder aramäisch Rabbuni sowie den Rückgang auf die gemeinsemitische Wurzel raba ‚groß sein‘ eingegangen wird. Es ließen sich hier weitere Beispiele für Lemmata aus einschlägigen Nachschlagewerken der Moderne anführen, um die Streuweite und Bedeutungsbreite des Begriffs aufzuzeigen. Doch soll Folgendes zusammenfassend genügen: Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts umschließt die Semantik des Substantivs ‚Meister‘ in seiner allgemeinen Verwendung ungezählte Formen von Meisterschaft, handwerkliche ebenso wie künstlerische, wissenschaftliche ebenso wie religiöse. Als Meister gilt jeder Könner beziehungsweise Experte, der sein Gebiet kompetent beherrscht und gegebenenfalls Schüler, Lehrlinge oder Adepten hat, die er anleitet und unterweist. Ein mit dem Begriff verbundener Anspruch besteht in der grenzüberschreitenden Wirkung meisterhaften Tuns und Schaffens: ‚Wahre Meister‘ haben das Potential, so der Anspruch, Zeitströmungen und Generationen zu überdauern, und dies über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg. So gesehen, markiert Meisterschaft eine Form der translatio von Praxis und Theorie, von Erfahrung, Kompetenz und Wissen über Zeit- und Kulturräume hinweg – in Kontexten, in denen es um Lehren und Lernen als Prozess personalen Wissenstransfers geht, ebenso wie dort, wo Formen der religiösen Führung gemeint sind, die beanspruchen, sinnlich-irdische Dimensionen zu transzendieren. Die religiöse Aufladung der Meisterbegrifflichkeit und der sozialen Beziehung zu Akteuren mit Meisterstatus ist maßgeblich, das macht Zedlers Lemma exemplarisch deutlich, durch die Wirkmächtigkeit der christlichen Bibel bedingt. Das Substantiv ‚Meister‘ ist Bestandteil der christlichen Bibelsprache und hat sich dort, wo die Bibel als kanonische Schriftensammlung der christlichen Kirchen von großer Breitenwirksamkeit war, tief ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben. Im Neuen Testament (vgl. z. B. Mt 9,11; 17,24; 23,8; Joh 13,14) dient es namentlich als Bezeichnung für Jesus Christus im Kreise seiner ‚Jünger‘, der Gruppe, die Jesus auf seinen Wanderungen begleitet. Das in Schelers Sammelband in vielfältigen Zusammenhängen verwendete deutsche Substantiv ‚Jünger‘ wurde ursprünglich in der Übersetzung der Bibel für griech. μαθητής (mathētḗs) gewählt. ‚Jünger‘ ist die substantivierte Komparativform von ‚jung‘ und diente im Mittelalter zur Lehnübersetzung von lat. iunior (‚Schüler‘, ‚Untergebener‘), was wiederum Komparativ zu iuvenis (‚jung‘) ist. Von Etymologie und Wortlaut her bezeichnet ‚Jünger‘ mithin ein Verhältnis zu einem Vergleichsobjekt, das älter ist und einen Vorsprung an Wissen oder Macht hat; in Kombination mit dem Wort ‚Meister‘, das durch seine Herkunft von magis (‚mehr‘, ‚in höherem Grade‘, ‚stärker‘) ebenfalls ein Vergleichsobjekt impliziert, zeigt es ein deutliches Gefälle zwischen zwei Partnern einer Beziehung an – im Falle des Neuen Testaments der Beziehung des ‚Meisters‘ Jesus und seiner mathētaí.

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Über Luthers Bibelübersetzung, die für die Standardisierung der deutschen Sprache von großer Bedeutung war, ging die ‚Meister-Jünger‘-Terminologie fest in den deutschen Sprachschatz ein. Sie findet Verwendung vor allem dort, wo eine Sozialstruktur bezeichnet werden soll, die dem urchristlichen Gemeinschaftsmodell ähnlich ist, oder Prozesse der Wissensvermittlung durch eine religiös prägende Persönlichkeit abgebildet oder inszeniert werden sollen. Ein Beispiel bildet die von Jakob Böhme repräsentierte christliche Theosophie, die an Luthers Theologie anschloss, indem sie, neben dem Studium der Bibel, die Suche nach einem individuellen Zugang zum Göttlichen forderte. In seiner erfolgreichen Traktatsammlung ‚Der Weg zu Christo‘ (1631) gab Böhme der Schrift ‚Vom übersinnlichen Leben‘ (1624), einer praktischen Einführung in die mystische Erkenntnis, die Form der Wissensvermittlung in Frage und Antwort und nannte sie ‚Gespräch eines Meisters und Jüngers‘.⁵⁷ Damit wählte er die schon in der Antike vielverwendete Gattung des Dialogs, der maßgeblich Platon zum Durchbruch verholfen hatte – eine Lehr- und Darstellungsform, die als Gespräch zwischen fragendem Schüler und antwortendem Meister im Mittelalter in verschiedenen Bereichen vielfach verwendet worden war. Als exemplarisch zu nennen ist der um 1190 im Auftrag Heinrichs des Löwen entstandene ‚Lucidarius‘, eine christliche Weltkunde, die weltliches und geistliches Wissen enzyklopädisch zusammenbindet. George stellte sich gewissermaßen in diese von Platon geprägte Tradition, auch wenn es nicht er, sondern Wolfkehl war, der in den ‚Blättern für die Kunst‘ „Meister“ und „Jünger“ in dialogische Konstellation brachte.⁵⁸ Von zentraler Bedeutung für die zunehmende esoterische Besetzung und zugleich Prominenz der Meisterbegrifflichkeit sind im 17. und 18. Jahrhundert zudem die ‚Rosenkreuzer‘ und die ‚Freimaurer‘ gewesen, durch die handwerkliche Terminologie in geheime Verbindungs- und Initiationssysteme übernommen wurde. Die Freimaurerlogen etwa arbeiten bis heute mit drei Graden: Lehrling, Geselle und Meister, und bei ihnen ist, wie bei den ‚Rosenkreuzern‘ und in anderen Geheimgesellschaften, das semantische Feld ‚Meister/Meisterschaft‘ (wie auch das Feld ‚Bruder/Bruderschaft‘) in Theorie und Praxis von großer Signifikanz. Das zeigt sich zum Beispiel in der Bezeichnung der Großlogenvorsitzenden als ‚Großmeister‘ – eine Bezeichnung, von der Querverbindungen zur Autorität verlaufen, die mit dem Begriff (als Titel des höchsten Würdenträgers: des Ordensmeisters an der Spitze der Ordensgemeinschaft) in einigen Ritterorden verbunden ist. Die Integration des Meisterbegriffs in Geheimbünde, mystische Gesellschaften und Orden in jenen Jahrhunderten schuf den Boden für seine Entfaltung und Popu57 Vgl. Jakob Böhme: Vom übersinnlichen Leben. Gespräch eines Meisters und Jüngers. In: Ders.: Jakob Böhme’s sämmtliche Werke. Bd. 1: Der Weg zu Christo, Leipzig ²1860, S. 130–152. 58 Karl Wolfskehl: Der Maskenzug. In: Blätter für die Kunst 7, 1904, S. 148–155, hier S. 152f.

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larisierung in esoterischen Kontexten um 1900: Von hier, aus dem Wirkungsbereich der Geheimgesellschaften, ging der Terminus ein ins Vokabular der 1875 von Helena P. Blavatsky gegründeten ‚Theosophischen Gesellschaft‘ – als Bezeichnung für spirituell besonders hochentwickelte, mit geheimnisvollen Kräften ausgestattete Individuen.⁵⁹ Die Appropriation des Begriffs durch Blavatsky erfolgte unter Verschmelzung seiner spezifisch europäischen Bedeutungen mit Vorstellungen aus Süd- und Ostasien, was unter anderem deshalb möglich war, weil infolge des im 19. Jahrhundert erwachten Interesses an fremden Kulturen und Sprachen immer mehr hinduistische und buddhistische Texte übersetzt und zugänglich gemacht wurden. Zudem hatte die Annahme an Einfluss gewonnen, es habe Religionsformen gegeben, die Grundlage aller später entstandenen Religionen gewesen seien. Innerhalb dieses Diskurses gedieh die maßgeblich in der deutschen Romantik vertretene Theorie einer universalen ‚Urreligion‘, die bis ins 20. Jahrhundert hinein eine Fülle weiterer mit ihr verbundener Theorien nach sich zog, sodass Blavatsky Werke wie ‚Isis Unveiled‘ (1877) und ‚The Secret Doctrine‘ (1888) zu lancieren vermochte. Bei diesen Werken handelt es sich um Versuche der Konstruktion einer universellen Urweisheit der Menschheit, die Urquell aller bekannten Religionen und Philosophien der Welt sei und seit alters in bestimmten Traditionslinien übermittelt werde – von ‚Meistern der Weisheit‘ („Masters of Wisdom“), in theosophischen Schriften unter anderem auch als „Ältere Brüder“, „Mahatmas“, „Große Weiße Loge“ oder „Bruderschaft von Shambala“ bezeichnet.⁶⁰ Die Wirkung der ‚Theosophischen Gesellschaft‘ zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist nicht zu unterschätzen. Ihre Lehren fanden insbesondere bei Künstlern, Intellektuellen und sozialen Eliten großen Anklang. Das gilt auch und zumal für den Mythos der ‚Meister‘, die als Figuren der Besonderung mit Vorstellungen und Bildern des Wunderbaren, Geheimnisvollen und Faszinierenden, des Mysteriums und des mythischen Glanzes verbunden waren. Diese Vorstellungen und Bilder gingen im allgemeinen Zeitgeist der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert auf und

59 Vgl. zum Gebrauch der ‚Meister‘-Terminologie durch Blavatksy und die Theosophische Gesellschaft z. B. Joscelyn Godwin: The Theosophical Enlightenment, Albany 1994, S. 277–306; Wouter J. Hanegraaff: New Age Religion and Western Culture. Esotericism in the Mirror of Secular Thought, Leiden 1996, S. 448–455; Olav Hammer: Claiming Knowledge. Strategies of Epistemology from Theosophy to the New Age, Leiden 2001, S. 379–386; Kocku von Stuckrad: Was ist Esoterik? Kleine Geschichte des geheimen Wissens, München 2004, S. 197–215; Nicholas Goodrick-Clarke: The Western Esoteric Traditions. A Historical Introduction, Oxford 2008, S. 211–228; ders.: The Coming of the Masters. The Evolutionary Reformulation of Spiritual Intermediaries in Modern Theosophy. In: Andreas B. Kilcher (Hg.): Constructing Tradition. Means and Myths of Transmission in Western Esotericism, Leiden – Boston 2010, S. 113–160. 60 Z. B. Helena P. Blavatsky: The Theosophical Mahatmas. In: Dies.: The Key to Theosophy, London ³1893, S. 185–192.

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wurden in großer Breite wirksam. In engem Kontakt mit einem ‚Meister‘ zu stehen und seinem Kreis anzugehören, galt als erstrebenswert, auch deshalb, weil es Zugehörigkeit zu einer Elite bedeutete. Wer einem ‚Meister‘ nahestand, war gewissermaßen ‚ausgelesen‘ (lat. electus; engl. to elect, von lat. eligere). Er gehörte der eigenen Wahrnehmung nach nicht der ‚Masse‘ oder dem ‚Durchschnitt‘ an, sondern einer Gruppierung, einem Bund oder Bündnis tatsächlich oder mutmaßlich überdurchschnittlich qualifizierter Personen und unter Umständen sogar den herrschenden beziehungsweise einflussreichen Kreisen der Gesellschaft. Elitenbildung wurde damals verschiedentlich, auch von Seiten einflussreicher Intellektueller und Theoretiker, betrieben und diskursiviert – auch von Max Scheler. Überlegungen zur Elite ziehen sich wie ein roter Faden durch sein Werk, in dem er die Notwendigkeit einer vorbildhaft wirkenden Elite für die Gesellschaft in unterschiedlichsten argumentativen Zusammenhängen zu belegen sucht.⁶¹ Auch die von George angeführte elitäre Vergemeinschaftung stand – wie unter anderem die Symbolik zeigt, mit der Georges Buchgestalter Melchior Lechter ihre Publikationen versah – unter der Wirkung der Theosophie; und dies in einem Ausmaß, dass George sich bald um Abgrenzung bemühte, indem er sich expressis verbis von den „dicken Folianten der dicken Madame“ und Spekulationen, seine Dichtung enthielte „eine chiffrierte Theosophie“, distanzierte.⁶² George dürfte sich zwar nicht als einen ‚Meister der Weisheit‘ in Blavatskys Sinne gesehen haben. Die affektive Aufladung des religiös imprägnierten Meisterbegriffs, wie sie sich über Jahrhunderte angebahnt hatte und im Feld und Umfeld der ‚Theosophischen Gesellschaft‘ zu voller Blüte kam, wirkte sich in seinem Kreis aber besonders intensiv aus.

III Zwischen Ablehnung und Affirmation Religions- und wissenssoziologische Positionierungen George nutzte für seine Zwecke viele der oben umrissenen Aspekte und Konnotationen, die um 1900 in der Semantik der Meisterbegrifflichkeit mitschwangen. 61 Vgl. dazu Gabriele Schneider: Wertelite und Macht. Max Schelers Beitrag zum Elitediskurs, Diss., Humboldt-Univ. Berlin 2002. 62 Vgl. dazu ausführlich Jan Stottmeister: Melchior Lechter, Stefan George und die Theosophie. In: George-Jahrbuch 9, 2012/2013, S. 33–68, hier S. 34f.; ders.: Der George-Kreis und die Theosophie. Mit einem Anhang zur Swastika bei Helena Blavatksky, Alfred Schuler und Stefan George, Göttingen 2014 (= Castrum Peregrini N. F. 6).

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Zeugnis hiervon legen in besonderem Maße die ‚Blätter für die Kunst‘ mit ihrer poetischen Stilisierung Georges zum ‚Meister‘ ab, aber auch viele weitere Testimonien von Zeitgenossen. Die Treffen des Kreises hatten einen rituell-kultischen Charakter (gemeinsame Mahlzeiten, Gespräche über Kunst, [Vor-]Lesung, Übersetzung und Diskussion von Gedichten), und nur Ausgewählte durften daran teilnehmen. Diese rituellen Elemente waren Bestandteil von Aufnahmeprüfungen durch den ‚Meister‘ und seine ‚Jünger‘, von denen wir aus Erinnerungen von Kreis-Mitgliedern wissen, zumal solchen, die das „Geheimnisvolle dieser ersten Augenblicke“ beschwören.⁶³ Eine besonders wichtige Rolle spielte die gemeinsame Rezitation von Texten sowie die kultische Verehrung Maximilian Kronbergers, der in jungem Alter gestorben war und unter dem Namen Maximin zu einem Gott erhoben wurde, dem George zahlreiche Gedichte widmete.⁶⁴ George selbst inszenierte sich bei seinen Auftritten bewusst priesterlich und rief mit seiner gegenwartskritischen ‚geheimbündlerischen‘ Poesie gezielt Affekte hervor, die er für seinen Zweck, die Schaffung eines Arkanums, das den Kreis zusammenschmieden sollte, effizient nutzte. Ein Beispiel hierfür sind die Privataufführungen seines ‚Weihespiels‘ ‚Die Aufnahme in den Orden‘, die es ihm erlaubten, als ‚Großmeister‘ in Erscheinung zu treten. Der Text, der in der Fünften Folge der ‚Blätter für die Kunst‘ erschienen war,⁶⁵ und das Zeugnis seiner Lesungen zeigen, wie sehr George sich und sein Wirken im Sinne sozialer Strukturen verstand, in denen (wie in vielen Orden und Bünden) einem Großmeister zentrale Position zukommt. Das ‚Weihespiel‘ wurde mehrfach im Format der Vor-Lesung ohne Zuschauer als Medium exklusiver Kommunikation des Kreises aufgeführt – durch und für Freunde Georges, der bisweilen selbst die Rolle des ‚Großmeisters‘ las. In diesen Privataufführungen standen die Ordensbrüderfiguren des Spiels, ein Chor und drei Brüder (mit antikisierenden, auf die hermetische Anlage des Ordens verweisenden Namen), deklamierend im Kreis um die beiden Hauptfiguren – den ‚Großmeister‘ und einen um Aufnahme bittenden ‚Jüngling‘ – herum. Der ‚Großmeister‘ eröffnete die Initiation mit dem Verweis, dass der ‚Jüngling‘ nun Teil einer Gemeinschaft werde, in und mit der er ohne Verfolgung von Eigennutz zu wirken habe: „Der du uns suchst weisst du von unserem satze?/Wir lösten von uns sterblich weh und heil/Hier bist du nicht dir selbst hier ist dein teil:/Im kreise fühlen wirken nach dem platze.“⁶⁶ 63 Salin, Um Stefan George (Anm. 17), S. 165. 64 Vgl. Franziska Walter: Kronberger, Maximilian Konrad August. In: Stefan George und sein Kreis (Anm. 20), Bd. 3, S. 1500–1503. 65 Stefan George: Die Aufnahme in den Orden. Ein Weihespiel. In: Blätter für die Kunst 5, 1900/ 1901, S. 10–15. 66 SW XVIII (Anm. 25), S. 53; vgl. dazu Ernst Morwitz: Kommentar zu den Prosa-, Drama- und Jugend-Dichtungen Stefan Georges, München – Düsseldorf 1962, S. 113–118; Kolk, Literarische

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Es waren nicht zuletzt ‚ummunkelte‘ Riten dieser Art, die außerhalb des Binnenraums der Gruppe, wo nur diffuse Kenntnisse über sie bestanden, verschiedenste Reaktionen, Emotionen ebenso wie Spekulationen, provozierten. Die wissenschaftlichen, und so auch diejenigen religions- und wissenssoziologischen Studien der Zeit, auf die in diesem Beitrag Bezug genommen wird, spiegeln diese Diversität der Reaktionen anschaulich wider. Weber nimmt unmissverständlich kritisch Stellung, Wachs Darstellung dagegen ist deutlich affirmativ von Georges Dichtung und Wirken inspiriert und Scheler stellt in seiner Einleitung zu den ‚Versuchen zu einer Soziologie des Wissens‘ zwar fest, dass sich der Kreis „auf allen möglichen Gebieten des Lebens, der Philosophie und auf dem Boden der Wissenschaften ausgewirkt hat“,⁶⁷ wertet dies aber nicht explizit. In den wenigen Worten, mit denen Scheler in seiner Einleitung in die ‚Versuche‘ auf George und seinen Kreis eingeht, skizziert er dessen spezifische Signatur zusammenfassend wie folgt: Es handele sich um „eine aus dem Geiste der schärfsten Opposition zur Vermassung des Lebens herausgeborene erotisch-religiöse hocharistokratische gnostische Sekte“.⁶⁸ Katholische und im „stark lateinisch gefärbten rheinischen Katholizismus“ bewahrte „heidnische“ Elemente wirkten mit der „Vorbildwirkung“ des „Herrn und Meisters“ zum einen und einer Intention auf „Selbsterlösung“ zum anderen so zusammen, dass die Inhalte und Mitglieder des Kreises hinter der „persönlichen Gestalt des Meisters“ gänzlich zurückträten.⁶⁹ Dass sein Sammelband keine gesonderte soziologische Studie hierzu vorlegt, erklärt Scheler damit, dass sich „keine geeignete Person“ habe „gewinnen“ lassen, „um den George-Kreis […] in soziologischer Hinsicht so zu kennzeichnen, wie er es verdiente“.⁷⁰ Um diese, von ihm selbst identifizierte, Lücke im Band zu kompensieren, verweist er auf zwei Bücher. Das erste, gerade erschienen, ist Christian Geyers Studie ‚Die Religion Stefan Georges‘ (1924), die, wie etliche Abhandlungen der Zeit, die Bedeutung des Religiösen für George herausarbeitet und in dem Dichter eine Bedrohung der christlichen Religiosität und Theologie sieht. Bei der zweiten Empfehlung handelt es sich um Erich von Kahlers ‚Der Beruf der Wissenschaft‘ (1920), die Gegenposition zu Max Webers Wissenschaftsbild der Gruppenbildung (Anm. 33), S. 218–225; Karlauf, Stefan George (Anm. 29), S. 438–444; Jan Andres: Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaften. In: Stefan George und sein Kreis (Anm. 20), Bd. 1, S. 713–750, hier S. 725–729. 67 Max Scheler: Probleme einer Soziologie des Wissens. In: Versuche zu einer Soziologie des Wissens (Anm. 43), S. 3–146, hier S. 121. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd.

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Werturteilfreiheit in ‚Wissenschaft als Beruf‘ (1919), dem Kahler eine neue, von lebensphilosophischen Ansätzen im Sinne Gundolfs motivierte Wissenschaft gegenüberstellt. Etwas ausführlicher um George geht es in Vollraths Artikel ‚Zur Soziologie moderner Lebenskreise‘. Auch hier werden die kultisch anmutende Zentralposition Georges und die religiöse Komponente des Kreises, vor allem die hinter allem stehende „Sehnsucht nach Erlösung“, stark betont.⁷¹ Unter anderem auf den Aspekt der Erlösungssehnsucht als Reaktion auf die Krise des modernen Subjekts hatte schon Weber aufmerksam gemacht – mit dem Hinweis darauf, dass George und sein Kreis „,Erlösung‘ fordern, verkünden, versprechen, predigen, propagieren“⁷² –, allerdings mit deutlicher Kritik: „Diese Leute sind, scheint es, bereits nur allzu ,erlöst‘ – und daher bleibt als einziges noch mögliches Ziel: das Streben nach Selbstvergottung, nach dem unmittelbaren ,Genuß‘ des Göttlichen in der eigenen Seele.“⁷³ Mochte Weber Georges Dichtung auch gelobt haben;⁷⁴ und mochte er, vermittelt durch Gundolf, George in Heidelberg mehrfach zu persönlichen Gesprächen getroffen haben, die ihn durchaus beeindruckten: Er ließ keinen Zweifel daran, dass er die prophetische Mission, die der Dichter auszuüben meinte und den Glauben seiner ‚Jünger‘ an diese Mission ablehnte. Wenn er auch George „Züge wirklicher Größe“ zugestand, stellte er doch auch solche fest, die „[fast] das Gebiet des Grotesken streifen“.⁷⁵ Besonders störte Weber sich am Personenkult um den selbsterklärten Propheten. Er bespöttelte ihn als Schwärmerei wirtschaftlich unabhängiger Rentiers⁷⁶ für den „Weihen-Stefan“.⁷⁷ Noch „absurde[r]“ erschien ihm der „Kult“⁷⁸ um die Vergot71 Vollrath, Moderne Lebenskreise (Anm. 47), S. 347. 72 Brief Webers an Dora Jellinek, 9.[6.]1910; Heidelberg. In: Max Weber: Briefe 1909–1910. Hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön, Tübingen 1994 (= Max Weber Gesamtausgabe. Abteilung II: Briefe, Bd. 6), S. 559–563, hier S. 561. 73 Ebd., S. 561. 74 Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze (Anm. 38), S. 453; Brief Webers an Dora Jellinek (Anm. 72). Vgl. zum Thema z. B. auch Arvid Brodersen: Stefan George und sein Kreis. Eine Deutung aus der Sicht Max Webers. In: Castrum Peregrini 91, 1970, S. 5–24. 75 Brief Webers an Dora Jellinek (Anm. 72), S. 559. 76 Vgl. Max Weber: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Edith Hanke in Zusammenarbeit mit Thomas Kroll. Bd. 1/22: Wirtschaft und Gesellschaft. Nachlaß Teilbd. 4: Herrschaft, Tübingen 2005, S. 465f. 77 Brief Webers an Mina Tobler, 28.8.1915; Heidelberg. In: Max Weber: Briefe 1915–1917 Hg. von Gerd Krumeich und M. Rainer Lepsius in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön, Tübingen 2008 (= Max Weber Gesamtausgabe. Abteilung II: Briefe, Bd. 9), S. 107f., hier S. 107. 78 Brief Webers an Dora Jellinek (Anm. 72).

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tung des Frühverstorbenen Maximilian Kronberger.⁷⁹ Resümierend stellte er fest: „Stefan George und seine Schüler dienen in entscheidenden Punkten vermutlich oder wahrscheinlich letztlich ,andren Göttern‘ als ich, so hoch ihre Kunst und ihr Wollen mir steht.“⁸⁰ Webers kritische Haltung George gegenüber verwundert angesichts des von ihm an den westlichen Kulturen diagnostizierten Wegs der Entzauberung nicht. Wie alle Formen der Religiosität, die damals im Bildungsbürgertum verbreitet waren, von Naturmystik über Gemeinschaftsromantik bis zum Glauben an die erlösende Kraft der Liebe, erschienen dem kulturprotestantisch sozialisierten Weber die kultischen Tendenzen und Geltungsansprüche Georges, die ästhetische Soteriologie und die um den Maximin-Kult zentrierte Theophanie als regressiv und verachtenswert. Wie die gesamte lebensreformerische Mystik-Renaissance in Europa um 1900 empfand er sie als Verrat an der Durchsetzung der westlichen Rationalität. Dieses Urteil freilich änderte an seinem soziologischen Interesse an George, der ihm als illustrierendes Beispiel für die Existenz des charismatischen Führers in der Moderne diente, nichts. Voluntaristische Gemeinschaften – nicht zuletzt „von künstlerischen Weltgefühlen getragene Sekten“, in die aufgrund einer persönlichen Entscheidung aufgenommen zu werden besondere Qualifikationen und deren eingehende Prüfung durch die Gemeinschaft beziehungsweise deren Führer voraussetzt – erregten Webers Forscherdrang in besonderem Maße. Die „Sekte Stefan Georges“ rechnete er daher „in soziologischer Hinsicht zu dem Interessantesten, was es geben kann“.⁸¹ Er begann, von Georges Auftreten und Wirken inspiriert, sich vermehrt mit dem Begriff des ‚Charisma‘ zu befassen, der im letzten Jahrzehnt seines Wirkens zu einem theoretischen Schlüsselbegriff werden sollte. Weber bezeichnete mit ihm eine von drei Formen der Herrschaft (‚traditional‘, ‚rational‘ und ‚charismatisch‘). Während seiner Darstellung nach die rationale und die traditionale Herrschaft von Kontinuität geprägte Alltagsformen sind, ist die charismatische Herrschaft spezifisch außeralltäglich. Sie entsteht regelmäßig in Krisen; in Situationen physischer oder psychischer, ökonomischer oder politischer, ethischer oder religiöser Not treten Personen mit Charisma auf, die selber an ihre Sendung glauben, und erhalten Zulauf.⁸² Weitaus affirmativer als Weber nahm Wach auf George Bezug – in seiner zweiteiligen Abhandlung ‚Meister und Jünger. Zwei religionssoziologische 79 Vgl. dazu z. B. Karlauf, Stefan George (Anm. 29), S. 410–418; Hans G. Kippenberg: Joachim Wachs Bild vom George-Kreis und seine Revision von Max Webers Soziologie religiöser Gemeinschaften. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 61, 2009, S. 313–331. 80 Brief Webers an Paul August von Klenau, 26.11.1910; Heidelberg. In: Weber, Briefe 1909–1910 (Anm. 72), S. 697. 81 Weber, Gesammelte Aufsätze (Anm. 38), S. 441f. 82 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 76), S. 140.

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Betrachtungen‘ (1925), mit der er die Gemeinschaftsform, wie sie der GeorgeKreis repräsentierte, zum Thema machte.⁸³ In dieser Abhandlung, deren erster Teil auf einen 1922 erschienenen Aufsatz zurückgeht, während der zweite Teil die schriftliche Fassung seines Habilitationsvortrags von 1924 darstellt,⁸⁴ überträgt er die urchristliche Sozialstruktur Jesu und seines Kreises – des ‚Meisters‘ und seiner ‚Jünger‘ – auf Religionen, deren Gemeinschaftsbildung nicht nach Kriterien wie (tatsächlicher oder imaginierter) Blutsverwandtschaft oder Ausbildung verläuft, sondern auf Berufung durch den jeweiligen Stifter in die Elite des Kreises basiert. Wie Schelers Band ist Wachs Studie, der sich in seinen Arbeiten regelmäßig auf Weber, insbesondere dessen Auffassung von Erlösungsreligiosität, bezog, eine Reaktion auf Webers Aufforderung, dem zeitgenössischen Phänomen vermehrter Kreisbildungen nachzugehen. Zugleich spielte in Wachs Fall seine eigene Faszination für den George-Kreis eine wichtige Rolle.⁸⁵ Wach arbeitet in seiner Abhandlung die Religionsstifter Jesus von Nazareth und Buddha Shakyamuni (Siddharta Gautama) als Prototypen des religiösen ‚Meisters‘ heraus, wobei er vorab zwischen ‚Meister‘ und ‚Jünger‘ einerseits und ‚Lehrer‘ und ‚Schüler‘ andererseits differenziert. Der maßgebliche Unterschied zwischen dem ‚Meister‘ und dem ‚Lehrer‘ besteht Wachs Analyse nach darin, dass zwar beide, ‚Meister‘ und ‚Lehrer‘, Autorität infolge von Wissen beziehungsweise Erfahrung, die sie weitergeben, besitzen, dass aber die Wirkfaktoren der Lehrbeziehungen, die sie unterhalten, verschieden sind. Während Wach das ‚Lehrer-Schüler‘-Verhältnis in erster Linie vom vermittelten Wissen bestimmt sieht, hinter dem der ‚Lehrer‘ gleichsam verschwindet, hat er mit dem ‚Meister‘ den Autoritätstypus des charismatischen Führers vor Augen, dessen Beziehungen von seiner Person und Persönlichkeit geprägt sind und wesentlich im Verhältnis wechselseitiger Bedeutsamkeit bestehen: „der Meister wird erst zum Meister am Jünger“.⁸⁶ ‚Meister‘ wie ‚Jünger‘, so stellt es Wach unter Anführung zahlreicher Beispiele aus der Religions- und Philosophiegeschichte dar, geben sich der Beziehung und dem Miteinander ganz und gar hin. Wie sich der ‚Meister‘ seiner Aufgabe opfere und sie, im Wissen um die persönliche Sendung erfülle, so überantworte sich der ‚Jünger‘ dem ‚Meister‘ in Form des „Opfer[s] des Leibes, des Geistes, aller Habe und seines Anhangs“.⁸⁷ Es sei dieses Funda-

83 Joachim Wach: Meister und Jünger. Zwei religionssoziologische Betrachtungen, Leipzig 1925. 84 Rainer Flasche: Die Religionswissenschaft Joachim Wachs, Berlin 1978 (= Theologische Bibliothek Töpelmann 35), S. 41f. 85 Vgl. dazu Kippenberg, Joachim Wachs Bild (Anm. 79). 86 Wach, Meister und Jünger (Anm. 83), S. 9. 87 Ebd., S. 40.

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ment der Wechselseitigkeit, auf dem der ‚Meister‘ – als „der Führer, der Vater, der Retter“⁸⁸– die ‚Jünger‘ auf dem Weg leite. Wachs Ausführungen, die im ‚Meister‘ vor allem den religiösen Führer und Stifter im Verhältnis zu seinen ‚Jüngern‘ erkennen, entstanden vor dem Hintergrund seines Studienaufenthaltes in Heidelberg von 1922 bis 1924. In dieser Zeit kam er dem Kreis um Friedrich Gundolf näher und erlebte den Bruch zwischen George und seinem ersten Jünger aus nächster Nähe mit, was sich in seiner Studie zu ‚Meister und Jünger‘ in Reflexionen zur Problematik des Ablösungsprozesses niederschlug.⁸⁹ Mag auch Wachs Abhandlung auf Überlegungen zu historischen Figuren wie Empedokles, Sokrates, Jesus, Buddha und Mohammed gründen, ist sie doch, wenn auch nicht expressis verbis, implizit substantiell an George orientiert. Indem er ‚Meister und Jünger‘ ein Zitat aus Georges Gedichtzyklus ‚Der Stern des Bundes‘ (1913/1914) voranstellte („Da menschenwesen sich nur dort erhält/Wo sich das dunkle opfer wiederholt“⁹⁰) und auch in den Text selbst Zitate aus ‚Der Siebente Ring‘ (1907) einfließen ließ, referierte er unmissverständlich auf den ‚Meister‘, dem Karl Wolfskehl in den ‚Blättern für die Kunst‘ in den Gedichten ‚Der Meister‘ (1903) und ‚Berufung‘ (1910) mit den Worten „Euch dank ich mein WISSEN: mir danket den WEG!“⁹¹ und „Ich bin dein knecht ich will dein Petrus sein“⁹² seine absolute Unterwerfung zum Ausdruck gebracht hatte (Nebenbemerkung: Das Gedicht ‚Der Meister‘ war besonders bekannt, George hatte persönlich einen Sonderdruck an Freunde verteilt). Auch ein Verweis am Ende von Wachs Aufsatz auf die ‚soziologische Kategorie des Bundes‘, die Hermann Schmalenbach⁹³ unter dem Eindruck der sozialen Bewegung der bündischen Jugend und der Person Georges entworfen hatte, ist ein Tribut an den Dichter.⁹⁴ Mit seiner Abhandlung ‚Die soziologische Kategorie des Bundes‘, die heute als Sublimat der deutschen Jugendbewegung gilt, hatte Schmalenbach den Versuch unternommen, Ferdinand Tönnies’ Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft⁹⁵ um die Kategorie des Bundes zu erweitern und – 88 Ebd. 89 Vgl. ebd., S. 10. 90 SW VIII (Anm. 25), S. 68. 91 Karl Wolfskehl: Neue Gedichte. In: Blätter für die Kunst 6, 1902/1903, S. 25–42, hier S. 38. Das Gedicht bildet auch das Schlussgedicht in Wolfskehls ‚Gesammelten Dichtungen‘. Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 1: Dichtungen, Dramatische Dichtungen. Hg. von Margot Ruben und Claus Victor Bock, Hamburg 1960, S. 60. 92 Karl Wolfskehl: Legenden. In: Blätter für die Kunst 9, 1910, S. 48–53, hier S. 53. 93 Vgl. Herman Schmalenbach: Die soziologische Kategorie des Bundes. In: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften, München 1922, S. 35–105. 94 Vgl. Wach, Meister und Jünger (Anm. 83), S. 44 und S. 75, (Anm. 53). 95 Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Berlin ²1912, S. 16–19 und S. 28–34.

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unter Rückgriff auf den ‚Stern des Bundes‘, in dem der Schlüsselbegriff der Jugendbewegung verwendet wird – ein neues kommendes Zeitalter des Bundes prognostiziert. Wachs Darlegungen zu ‚Meister‘ und ‚Jünger‘ hatten eine nicht unerhebliche Wirkung. Sie sind von nachfolgenden Religionswissenschaftlern, insbesondere Religionsphänomenologen, wiederholt aufgenommen und unter Übernahme der wichtigsten Thesen eigenen Überlegungen zur Thematik zugrunde gelegt worden. 1947 zum Beispiel hat sich Gustav Mensching in seiner ‚Soziologie der Religion‘ detailliert mit der Thematik befasst und 1960 Kurt Goldammer in ‚Die Formenwelt des Religiösen‘.⁹⁶ Nicht zu unterschätzen ist auch Wachs Wirkung über den Artikel ‚Jüngerschaft‘ (1929) im Handwörterbuch ‚Die Religion in Geschichte und Gegenwart‘ (RGG),⁹⁷ der Jüngerschaft als „Wirkung der Erscheinung eines religiösen Genius“ bestimmt. Die Rezeption der RGG, die unter dem Überbegriff Religion auf zahlreiche kulturelle Phänomene, die das Verhalten und Handeln, Denken und Fühlen des Menschen prägen, eingeht, ist von jeher sehr breit gewesen. Sie dient als Nachschlagewerk über Fächer- und Konfessionsgrenzen hinaus nicht nur der Religionswissenschaft und den Theologien, sondern auch der Philosophie und der Ethik, der Politik- und der Wirtschaftswissenschaft, der Psychologie und der Soziologie.

Schlussbemerkungen Webers, Wachs und Schelers Auseinandersetzungen mit George, seinem Kreis und der Beziehung von ‚Meister‘ und ‚Jünger‘ zeigen, dass die Religionssoziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenso wenig an der Konjunktur von Meisterfiguren vorbeikam wie die entstehende Wissenssoziologie. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert waren Lehren, die die Notwendigkeit eines ‚Meisters‘ postulieren, um einen geistigen Weg beschreiten zu können, immer stärker in das Bewusstsein der Gesellschaft hinein diffundiert. Im deutschsprachigen Raum hatten sich Gruppen gebildet, die nicht nur (wie zunächst der sogenannte ‚Wandervogel‘) aus Jugendlichen bestanden, sondern den Charakter eines Lebensbun96 Vgl. Gustav Mensching: Soziologie der Religion, Bonn 1947, S. 167–180; Kurt Goldammer: Die Formenwelt des Religiösen. Grundriss der systematischen Religionswissenschaft, Stuttgart 1960, S. 169–174. 97 Vgl. Joachim Wach: Jüngerschaft. In: Hermann Gunkel/Leopold Zscharnack (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3, Tübingen ²1929, Sp. 504–506. In der ersten Auflage (1912) gab es noch kein Lemma, in der dritten Auflage von 1959 wurde Wachs Artikel durch einen von Paul Honigsheim ersetzt: Vgl. Paul Honigsheim: Jüngerschaft. In: Kurt Galling (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3, Tübingen ³1959, Sp. 1009f.

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des hatten, in dem eine Führungsfigur hohen Stellenwert hatte. Zentrales Ideal war hierbei das Menschenbild des Mannes als Ritter, der sich als im Dienst seines Bundes und dessen Zielen stehend begreift und sich freiwillig Disziplin und Selbstdisziplin unterwirft. Das brachte unter anderem mit sich, dass anstelle koedukativer Bünde reine Männer- oder Frauenbünde gegründet wurden. Diese Gruppierungen und auch weitere Kreise, die sich in dieser Atmosphäre bildeten, hatten regen Zulauf. Sie zogen zahlreiche Schriftsteller und bildende Künstler, Philosophen und Gelehrte an. Gemeinsam wurde in mehr oder weniger poetischen und religiösen Metaphern von der Revitalisierung antiker oder ‚orientalischer‘ philosophischer und religiöser Wissensbestände geschwärmt. Es kam zu Personenkulten, in deren Rahmen Führungsfiguren im Bereich der Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und Kultur, zumal seitens der Intellektuellen, eine Verehrung erfuhren, die ins Religiöse hineinreichte.⁹⁸ Weber und Wach ebenso wie Schelers Sammelband von 1924 dokumentieren dieses Klima sehr eindrücklich. Die Studie von Vollrath in den ‚Versuchen zu einer Wissenssoziologie‘ gibt einen Eindruck davon, wie das moderne Subjekt auf „Vereinzelung“ mit „Zusammenrücken“ sowie Sehnsüchten nach „Erhebung“, „Überwindung des augenblicklichen Weltzustandes“ und „Verankerung des eigenen Selbst in metaphysischem Grund“ reagierte. Vollrath beschreibt die geistige Verfasstheit seiner Epoche in eindringlichen Bildern. Er berichtet von einem breiten Angebot „von Helfern und Heilandsfirmen“, die den Wunsch nach Erlösung in Form von „Gemeinschaft“ und „einem Retter aus der Not“ zu stillen versprechen, von konkurrierenden „Bünden und Kreisen verschiedenen Bekenntnisses und gegensätzlicher Schlagworte“, von „Verheißungen bald wissenschaftlichen, bald künstlerischen, bald politisch-wirtschaftlichen Gepräges“.⁹⁹ An George und drei weiteren Beispielen, darunter der bis heute prominente Rudolf Steiner, zeigt er detailliert die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Bünde und Kreise um ihre Stifter und Zentralfiguren – die ‚Meister‘ – auf. Dabei wird deutlich, wie ausgeprägt zur damaligen Zeit das Bedürfnis war, sich gleichsam mit Blick nach oben hingebungsvoll in ein religiös codiertes Vertikalverhältnis zu Führungspersönlichkeiten zu stellen, die 98 Zu den zeitgenössischen Kontexten vgl. z. B. Werner Kindt (Hg.): Dokumentation der Jugendbewegung. Bd. 3: Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die Bündische Zeit, Düsseldorf – Köln 1974; Klaus von See: Politische Männerbund-Ideologie von der wilhelminischen Zeit bis zum Nationalsozialismus. In: Gisela Völger/Karin Welck (Hg.): Männerbande, Männerbünde. Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich. Bd. 1, Köln 1990, S. 93–102; Ulrike Brunotte: Zwischen Eros und Krieg. Männerbund in der Moderne, Berlin 2004, insbes. S. 89–117; Friedrich-Wilhelm Graf (Hg.): Intellektuellen-Götter. Das religiöse Laboratorium der klassischen Moderne, München 2009. 99 Vollrath, Moderne Lebenskreise (Anm. 47), S. 347.

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dem kulturübergreifenden Meta-Idol der Autorität und Besonderung als Resultat von Leistung, Statuserkennung und Erlösungsverheißung entsprachen. Die Konjunktur des ‚Meisters‘ in jener Zeit stand offenbar im Zusammenhang mit Krisenerfahrungen, die sie auf ihre Weise sistierte: Die in der Beziehung zu einem ‚Meister‘ vermittelten Kenntnisse, seine Haltung und Einstellung zum religiösen und gesellschaftlichen Leben dienten als Orientierungswissen, das Sicherheit zu bieten vermochte – eine Sicherheit, die von Wissensparadigmen der Kultur wissenschaftsgläubiger Rationalität des späten 19. Jahrhunderts nicht auszugehen vermochten. Wie die Dichterbünde Ende des 18. Jahrhunderts und die Geheimbundkultur des Aufklärungszeitalters partizipierten Kreise und Bünde um 1900 jenseits ihrer ästhetischen und politischen Interessen an der emotionalen und religiösen Dimension, die ihnen die persönlich definierte Verbindung zu einem Meister zu garantieren schien.

Volkhard Krech

Wo „Rausch und Helle“ eins werden Stefan Georges Kunstreligion im Lichte von Georg Simmels Religionstheorie

I Einleitung Georg Simmel, Philosoph, Soziologe, scharfsinniger Zeitdiagnostiker und Zeitgenosse Stefan Georges, war – wie viele Intellektuelle um 1900 – fasziniert von dem unkonventionellen, schillernden, aber auch umstrittenen Dichter. Daher nahm Simmel, der sich stets den neuesten Kulturerscheinungen widmete, in der Zeit, als Stefan George in Berlin weilte, rasch Kontakt zu ihm auf und entwickelte sich zu einem begeisterten Leser.¹ Vom Katheder aus nannte er „Rodin und George die größten Künstler des Jahrhunderts“.² „In einer Mischung aus Zivilisationskritik und neuer Spiritualität spiegelte das Georgesche Werk die Ambivalenz des wilhelminischen Bürgertums wider.“³ Diese Mixtur kennzeichnete insbesondere die Mentalität der bürgerlichen Jugend um 1900, die sie jedenfalls in der Universität nicht fanden. „Außer all den vortrefflichen Belehrungen spezialistischer und exakter Art“ wünschten sich „oft gerade die innerlich lebendigsten und idealistischsten jungen Männer [Frauen waren noch nicht durchgängig zum Studium zugelassen, V. K.] […] noch etwas Allgemeineres oder, wenn man will, Persönlicheres“. Wo sie das nicht fanden, suchten sie Zuflucht in der Mystik, bei der Sozialdemokratie oder in einem falsch verstandenen Nietzsche. „Täuschen wir uns nicht darüber“, so Simmel, „die deutschen Universitäten haben die innerliche Führung der Jugend in weitem Umfang an Mächte dieser Art abgegeben.“⁴ Mit den „Mächte[n] dieser

1 Vgl. Kurt Gassen/Michael Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie, Berlin 1958, S. 119ff. 2 Brief Gundolfs an George, März 1907; zitiert nach Michael Landmann: Georg Simmel und Stefan George. In: Heinz-Jürgen Dahme/Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Frankfurt a. M. 1984, S. 147–173, hier S. 154. 3 Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2008, S. 428f. 4 Georg Simmel: An Herrn Professor Karl Lamprecht. Offener Brief. In: Die Zukunft 83, 1913, S. 230–234, hier S. 233; wieder abgedruckt in Georg Simmel: Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889–1918, anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen 1888–1920. Hg. von Klaus Christian Köhnke, Frankfurt a. M. 2005 (= Gesamtausgabe 17).

Wo „Rausch und Helle“ eins werden



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Art“ waren ohne Zweifel unter anderem auch Stefan George und sein Kreis gemeint.⁵ In einem Artikel über Simmel und George schreibt Michael Landmann⁶ zum Verhältnis beider: Ein Grund der Anziehung lag darin, daß die beiden sich gegenseitig produktiv machten. Sie haben es sich vielleicht nie gestanden, daß der geheime Sinn jener Abende [die sie in aller Regel gemeinsam mit Simmels Frau Gertrud, manchmal auch mit Friedrich Gundolf verbrachten, V. K.] für beide nicht nur im geistigen Austausch bestand, sondern auch in dem, was durch ihn in der eigenen Entwicklung und im Werk ausgelöst wurde. Margarete Susman erzählte, Simmel habe zwar einesteils bedauert, daß George nicht in dem Sinn wie Goethe, der in seiner Zeit noch Philosophie und Wissenschaft mitumspannen konnte, eine ‚große Intelligenz‘ sei, aber er suche, so sagte er, das Gespräch mit ihm, und dies, obgleich er in vielem nicht mir ihm übereinstimme, denn kein anderer Mensch setze sein eigenes Denken so sehr in Bewegung.⁷

In gewissem Sinne verhielten sich die Mentalitäten der beiden Geistesschaffenden komplementär zueinander. Einerseits hatten sie ganz unterschiedliche Herangehensweisen an Welt und Leben: „Simmel verlor sich an die Mannigfaltigkeit der Phänomene“ und „kam erst sekundär, wenn überhaupt zu einer Einheit“. George dagegen „ordnete das Viele von vornherein aus einer geschlossenen Weltdeutung.“⁸ Bei Simmel war alles intellektuelle, ins Formale gehende Reflexion, bei George alles Substanz. „Wo Simmel literarische Metaphern für Begriffe benützte, dachte, schaute George ursprünglich in Bildern.“⁹ Andererseits hatten Simmel und George einen gemeinsamen Schnittpunkt; er bildete sich in Simmels impressionistischem Blick und Georges theoretischer Ader.¹⁰ Überdies sieht Michael Landmann eine Gemeinsamkeit zwischen Stefan George und Georg Simmel (sowie Kurt Breysig) im sozialen Status des Außenseitertums. Die beiden Berliner Kollegen waren miteinander gut bekannt, und „mit diesen beiden befreundet war auch der Verächter des Öffentlichen und Offiziellen, der Sucher der ‚Seltnen‘: Stefan George“.¹¹ Mich interessiert im Folgenden weniger der Einfluss Simmels auf George; dem nachzugehen, wäre ich als Dilettant in Sachen George auch nicht in der Lage. Vielmehr gilt mein Augenmerk der umgekehrten Richtung, nämlich der Inspiration Simmels durch George – dem Thema der Tagung und des Sammelbands entspre5 Vgl. Karlauf, Stefan George (Anm. 3), S. 443. 6 Landmann, Georg Simmel und Stefan George (Anm. 2). Dieser Aufsatz ist m. E. immer noch die wichtigste Referenz zum Thema; deshalb greife ich im Folgenden auch häufiger auf ihn zurück. 7 Landmann, Georg Simmel und Stefan George (Anm. 2), S. 148. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 149. 10 Vgl. ebd., S. 148. 11 Ebd., S. 147.

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chend, insbesondere seiner Religionstheorie über den Umweg seiner Kultur- und Kunstphilosophie, mit der sich wiederum das Werk Georges interpretieren lässt.¹² Zwar sind im Wesentlichen nur philosophische und kunstphilosophische Äußerungen Simmels über George überliefert. Bei näherem Blick sind jedoch auch Einflüsse Georges auf Simmels Religionsverständnis zu finden, sodass sich Georges Werk und Person im Lichte von Simmels Religionstheorie deuten lässt. Ich will das in drei vorbereitenden Etappen und einem vierten, ausführlicheren Schritt tun: 1. 2. 3. 4.

Die Autonomie der Form gegenüber dem Inhalt; Die Tragödie der Kultur: objektive und subjektive Kultur; Das individuelle Gesetz; Kunstreligion.

II Die Autonomie der Form gegenüber dem Inhalt Simmels Soziologie und Kulturphilosophie ist von der analytischen Unterscheidung zwischen Form und Inhalt beziehungsweise Prozess geprägt. Dieser analytischen Differenz gemäß kann jeder Inhalt prinzipiell von jeder Form aufgenommen werden.¹³ Zu den großen Weltformungen, die die ganze Welt nach einer je eigenen Rationalität in sich abbilden, zählt Simmel etwa Recht, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Politik, Alltagspraxis, aber auch Kunst, Philosophie, Moral¹⁴ und Religion.¹⁵ Mit Blick auf die Eigengesetzlichkeit der Kunst verhalf der Dichter Stefan George dem Kulturphilosophen Simmel dazu, den Begriff der autonomen Kunst 12 Wegen der Konzentration auf Simmels Religionstheorie lasse ich seine kunstphilosophische Studie über Stefan George hier außer Acht; das wäre mindestens einen eigenen Aufsatz wert. 13 Vgl. u. a. Georg Simmel: Zur Soziologie der Religion (1898). In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1894–1900. Hg. von Hans-Jürgen Dahme und David P. Frisby, Frankfurt a. M. 1992 (= Gesamtausgabe 5), S. 266–286, hier S. 268f., und ders.: Die Religion. In: Ders.: Philosophie der Mode (1905), Die Religion (1906/²1912), Kant und Goethe (1906/³1916), Schopenhauer und Nietzsche (1907). Hg. von Michael Behr, Verf. und Gert Schmidt, Frankfurt a. M. 1995 (= Gesamtausgabe 10), S. 39–118, hier S. 55. 14 Moral freilich nicht im Sinne allgemeingültiger Gebote, sondern in lebensphilosophischer Perspektive verstanden als Versuch, dem Leben eine individuelle Form zu geben. Ethik in diesem Sinne steht „sehr viel näher an dem Leben in seiner Unmittelbarkeit“ als etwa Wissenschaft und begriffliche Formung (vgl. Georg Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Hg. von Michael Landmann, Neuausgabe mit einem Nachwort von Klaus Christian Köhnke, Frankfurt a. M. 1987, S. 180f.) Nur in diesem Sinne lässt sich Moral in die Reihe der expressiven Weltformen einordnen. 15 Später unterscheidet Simmel die zuerst genannten instrumentellen Zweckreihen von eher expressiven Weltformungen.

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herauszubilden. Es war Georges Ziel, „das Werk zum privilegierten Kontext seiner selbst zu machen“.¹⁶ Er kenne keinen zweiten Dichter, schrieb Georg Simmel in seiner Rezension zum ‚Siebenten Ring‘, der in so ausschließlichem, ich möchte sagen, metaphysischem Sinne nur aus sich heraus lebte, und der es so zwingend fühlbar machte, daß alles objektive Sein, in sein Werk hineingenommen, nur die verteilten Rollen sind, in denen seine Seele sich selbst spielt.¹⁷

III Die Tragödie der Kultur: Objektive und subjektive Kultur Georg Simmel ist nicht nur der Analytiker der genannten Weltformungen, sondern auch der Soziologe und Philosoph der Individualität. Beide, die Differenzierung zu eigenen Weltformungen und die qualitative Individualität, können in Konflikt miteinander geraten. Diesem Dilemma der Moderne wendet sich Simmel mit seinem Ansatz zur ‚Tragödie der Kultur‘ zu. Im Rahmen der Arbeiten zur ‚Philosophie des Geldes‘¹⁸ ist Simmel mit dem Problem konfrontiert worden, dass sich die kulturellen Objektivationen verselbständigen und sich den Menschen mit eigener Autonomie gegenüberstellen, obgleich sie sämtlich ihren Ursprung in der menschlichen Tätigkeit haben. Wird das Zweckhandeln zunächst als bewusste Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt beschrieben,¹⁹ so zeigt Simmel im weiteren Verlauf seiner Untersuchung am Beispiel des Geldes auf, dass das Mittel zum Endzweck werden kann.²⁰ Dieser von ihm „Metempsychose des Endzwecks“ genannte Prozess wird wesentlich durch Arbeitsteilung und zunehmende Technisierung ausgelöst. Allerdings stellt nicht bereits die innerhalb der Zweckreihen der einzelnen Kulturgebilde gelegene sachliche Bedeutung einen Kulturwert dar. Beispielsweise sind die „großen Reihen der künstlerischen und der sittlichen, der wissenschaftlichen und der wirtschaftlichen Produktion“ vielmehr erst dann Kultur-

16 Steffen Martus: Stefan Georges Poetik des Endens. ‚Zum Abschluss des VII. Rings‘. In: GeorgeJahrbuch 6, 2006/2007, S. 1–30, hier S. 4. 17 Georg Simmel: Der Siebente Ring (1909). In: Ders.: Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze, Potsdam 1922, S. 74–78, hier S. 76. 18 Zur Entstehungsgeschichte der ‚Philosophie des Geldes‘ vgl. den editorischen Bericht in Georg Simmel: Philosophie des Geldes (1900, ²1907). Hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt a. M. 1989 (= Gesamtausgabe 6). 19 Vgl. Simmel, Philosophie des Geldes (Anm. 18), S. 256. 20 Vgl. ebd., S. 292ff.

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werte, wenn sie über ihren immanenten Endzweck hinaus in die Kulturreihe eingestellt werden und somit eine „Bedeutung für die Gesamtentwicklung der einzelnen Individuen und ihrer Summe“ gewinnen.²¹ Aus diesem Verständnis von Kultur ergibt sich eine doppelte Bedeutung ihres Begriffs, nämlich objektive und subjektive Kultur. Während objektive Kultur „die Dinge in jener Ausarbeitung, Steigerung, Vollendung“ meint, „mit der sie die Seele zu deren eigener Vollendung führen oder die Wegstrecken darstellen, die der Einzelne oder die Gesamtheit auf dem Wege zu einem erhöhten Dasein durchläuft“, steht subjektive Kultur für „das so erreichte Entwicklungsmaß der Personen“.²² „Die Tragödie der Kultur“ besteht nun im „Übergewicht, das die objektive über die subjektive Kultur im 19. Jahrhundert gewonnen hat“,²³ und hieraus erklären sich die Probleme und „Dissonanzen des modernen Lebens“:²⁴ [D]ie Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst – sind unsäglich kultiviert; aber die Kultur der Individuen, wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Verhältnis vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen.²⁵

In kulturphilosophischer Hinsicht gilt die Autonomie der einzelnen kulturellen Bereiche; im Falle der Kunst war George dafür ein Gewährsmann. Doch wie sieht es mit der Persönlichkeitsentwicklung aus?

IV Das individuelle Gesetz In der Spätphase seines Werkes arbeitet Simmel die Figur des ‚individuellen Gesetzes‘ heraus, mit dem er das angedeutete Dilemma des Widerstreits zwischen objektiver und subjektiver Kultur zu lösen versucht. Während Nietzsche die gegenwärtige Gesellschaft mit dem Ideal der Vornehmheit und des Edlen zu überwinden versuchte, allerdings mit ‚immoralistischen‘ Vorzeichen, wollte Simmel diese Haltung in eine neue Ethik übersetzen, für die er auf die auf Schleiermacher zurückgehende Formel des ‚individuellen Gesetzes‘ zurückgriff. Eine dem Individualisierungsmaß der Moderne angemessene Ethik sei nicht die, die von außen eine Norm für alle und Regeln für die einzelnen Handlungen vor21 Georg Simmel: Vom Wesen der Kultur. In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Bd. 2. Hg. von Alessandro Cavalli und Verf., Frankfurt 1993 (= Gesamtausgabe 8), S. 363–373, hier S. 369. 22 Ebd., S. 371. 23 Simmel, Philosophie des Geldes (Anm. 18), S. 621. 24 Simmel, Vom Wesen der Kultur (Anm. 21), S. 372. 25 Simmel, Philosophie des Geldes (Anm. 18), S. 620.

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schreibt. Jedes ‚starke‘ Leben trage vielmehr in sich selbst sein eigenes, singuläres Gesetz. Wer diesem Maßstab treu bleibt, muss und darf sich daher manchmal über das allgemein Verbindliche stellen. Es ist dies nicht ein kasuistischjuristisches Gesetz für bestimmte Situationen, sondern lenkt das Leben als Ganzes. Nur in ihm liegt damit die Stileinheit der zeitlich auseinandergezogenen Handlungen. Sie alle sind Ausdruck dieses Gemeinsamen, zumindest sollen sie es sein und finden auch darin, ob und wie weit sie das Grundmuster einer Person spiegeln, ein Kriterium ihrer Moralität. Wie alle Werke eines Künstlers seine Handschrift tragen, so tun dies idealiter auch alle Lebensbekundungen einer Person; Rilkes Forderung nach dem „eignen Tod“²⁶ zweigt hier ab. Diese „Treue zu sich selbst“ macht sich, recht verstanden, auch in der Ethik geltend, in der nicht, wie vor dem juristischen Gesetz, „alle gleich“ sind.²⁷ Margarete Susman hat darauf aufmerksam gemacht, dass Simmel bei der Formulierung des ‚individuellen Gesetzes‘ durch Stefan George angeregt worden ist. Sie war der Überzeugung, dass Simmel seinen größten Gedanken ohne George nicht gefunden hätte. In der Formulierung Michael Landmanns: In ihm sah er einen Menschen und Künstler vor sich, der dämonisch-unbeirrbar die in ihm vorgezeichnete linea innata realisierte und zu Ende führte. Das ‚individuelle Gesetz‘, das er zum tragenden Begriff seiner Ethik erhob, bildete für ihn genetisch die Formel für das bedrängende Phänomen dieses Dichters. Bevor es ewiger Grundsatz wurde, war es historische Deutung eines Lebendig-Nahen. Zuerst lebte George, durch eine ‚Philosophie in Taten‘, was Simmel dann dachte und zu expliziter Philosophie sublimierte. Geistesgeschichtlich gesehen verwirklichte sich George nicht nur in seinem Werk und seiner Schule, sondern lebt auch weiter in der Verwandlung, die die Ethik durch ihn bei Simmel erfuhr.²⁸

Insofern das ‚individuelle Gesetz‘ das Dilemma der modernen Kultur zu lösen imstande ist, kann George als jemand gelten, der die Ansprüche der objektiven Kultur in Gestalt der autonomen Kunst mit den Erfordernissen der subjektiven Kultur in Form der Gesamtpersönlichkeit in einen Ausgleich gebracht hat. Dementsprechend erachtet es Simmel als „die große Leistung Stefan Georges […], dem lyrischen Ausdruck des subjektiven Erlebens eine monumentale Form gewonnen zu haben“.²⁹ Stefan George muss eine ungewöhnliche Ausstrahlung gehabt haben, denn nicht nur Georg Simmel hat durch ihn die Anregung zur 26 Rainer Maria Rilke: Das Buch von der Armut und dem Tode. In: Ders.: Sämtliche Werke. 7 Bde. Hg. vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 1: Gedichte, Frankfurt a. M. 1955, S. 343–366, hier S. 346. 27 Vgl. Landmann, Georg Simmel und Stefan George (Anm. 2), S. 150. 28 Ebd., S. 151. 29 Georg Simmel: Rodin. In: Ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, Leipzig 1911 (= Philosophisch-soziologische Bücherei 27), S. 196.

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Balance von Person und Werk, von Hingabe an eine Sache im Medium der Subjektivität erhalten, sondern auch Max Weber hat durch die Bekanntschaft mit dem Dichter den Begriff des Charismas entwickelt, der für seine Herrschaftsund Religionssoziologie zentral wurde.³⁰

V Kunstreligion Ich halte als Zwischenschritte fest: Zum einen hat George Simmel zum Begriff der autonomen Kunst verholfen, und umgekehrt lässt sich Georges Werk im Lichte der Simmelʼschen Kunstphilosophie als Beispiel der Eigengesetzlichkeit der Kunst interpretieren. Zum anderen war Simmels Bekanntschaft mit George, wie ich im zweiten und dritten Teil meines Beitrags anzudeuten versucht habe, an der Herausbildung des ‚individuellen Gesetzes‘ beteiligt, das wiederum als Antwort auf die ‚Tragödie der Kultur‘ zu verstehen ist. Letztlich aber bleibt der Ausgleich zwischen der Eigengesetzlichkeit der Kunst einerseits und der autonomen Gesamtpersönlichkeit des Künstlers andererseits, wie ich jetzt im vierten Teil argumentiere, auf Kunstreligion verwiesen. Simmel hat bereits in der ‚Moralwissenschaft‘ auf zentrale Analogien zwischen Moral und Religion hingewiesen, die jedoch eher historischer Art sind. In der Moderne aber kommen sich eine revidierte Moral in Form einer ‚Seinsethik‘ und eine bestimmte Fassung von Religiosität im Konzept des ‚individuellen Gesetzes‘ sehr nahe. Zwischen der Genese des Konzeptes des ‚individuellen Gesetzes‘ im Rahmen ästhetischer Reflexion und der systematischen Ausarbeitung als metaethischem Prinzip liegt die religionsphilosophische Reformulierung des christlichen Topos vom ‚Heil der Seele‘. Simmels Reinterpretation zielt auf ein Verständnis, nach dem das ‚Heil der Seele‘ in der Verwirklichung des Ideals ihrer selbst besteht: [I]n jedem Menschen ruht potenziell, aber doch wirklich, das Ideal seiner selbst; die reine Form seiner, das, was er sein soll, durchdringt als eine ideelle Wirklichkeit die reale und unvollkommene.³¹

Die Vorstellung vom ‚Heil der Seele‘ steht für den Sachverhalt, „daß ihr nicht von außen etwas hinzugetan oder angebildet wird, sondern daß sie eigentlich 30 Vgl. Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005, S. 469f., und Karlauf, Stefan George (Anm. 3), S. 413; der Sache nach auch Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 116. 31 Georg Simmel: Vom Heil der Seele (1902/1903). In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Bd. 1. Hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1995 (= Gesamtausgabe 7), S. 109–115, hier S. 110.

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nur eine Hülle abzuwerfen, nur zu werden braucht, was sie schon ist“.³² Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die dem Seelenheil dienlichen Handlungen mit dem Gefühl von Freiheit konnotiert sind, denn: Der Mensch ist in dem Maße frei, in dem das Zentrum seines Wesens die Peripherie desselben bestimmt, d. h. wenn unsere einzelnen Gedanken und Entschlüsse, unser Handeln wie unser Leiden, unser eigentliches Ich ausdrücken, unabgelenkt von Kräften, die außerhalb unser liegen.³³

Freiheit in diesem Sinne meint selbstverständlich nicht willkürliches Handeln, sondern ist am ‚tiefsten Punkt‘ unserer Persönlichkeit ausgerichtet. Zugleich aber – und darin liegt die Pointe der Simmelʼschen Interpretation – ist die Bedeutung vom ‚Heil der Seele‘ nicht nur in der zentripetalen Ausrichtung unserer Handlungen zu sehen. Dem christlichen Ideal vom ‚Heil der Seele‘ ist ebenfalls eigen, daß diese Herausarbeitung unserer Persönlichkeit, diese Befreiung ihrer von allem, das nicht sie selbst ist, dieses Sich-Ausleben nach der Idee und dem Gesetz des Ich – daß dies zugleich das Leben den Gehorsam gegen den göttlichen Willen, zugleich das Leben nach seiner Norm, zugleich die Uebereinstimmung mit den letzten Werten des Daseins überhaupt bedeutet.³⁴

Es geht somit nicht darum, von außen aufgedrängten Mächten zu folgen und einem dogmatischen Glauben nachzukommen. Dies wäre der Seele etwas Zufälliges und damit ein äußerer Zwang: Erst wenn der Inhalt der religiösen Forderung an einen jeden Menschen in ihm selbst wirklich ist, und nur von dem befreit zu werden verlangt, was an uns nicht wir selbst sind – erst dann ist das Gebiet des religiösen Heiles zugleich das Reich der Freiheit.³⁵

Freilich handelt es sich bei diesem Verständnis des christlichen Ideals vom ‚Heil der Seele‘ um eine religionsphilosophische Reinterpretation religionsgeschichtlichen Materials; Simmel spricht deshalb von seiner individualitätsbezogenen und antidogmatischen Deutung als einer „Entzauberung des Wertes, der zwar in der Seele von je vorhanden ist, aber mit Fremdem, Unreinem, Zufälligem gemischt“.³⁶ Dennoch stellt dieser Interpretationsversuch nicht einen Bruch mit

32 Ebd., S. 110f. 33 Ebd., S. 111. 34 Ebd., S. 112. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 113. Es ist nicht auszuschließen, dass die durch Max Weber inaugurierte Erfolgsgeschichte des Entzauberungsbegriffes zur Bezeichnung des okzidentalen religiösen Intellektualisierungsprozesses hier ihren Ausgang genommen hat.

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dem überkommenen Verständnis dar. Vielmehr legt Simmel bestimmte, dem Begriff vom ‚Heil der Seele‘ inhärente Konnotationen frei, handelt es sich doch bei Begriffen stets um die Verdichtung von Vorstellungen, Interessen und Erfahrungen. In diesem Sinne betont Simmel die individualitätskonstitutiven Bedeutungselemente des Heilsbegriffes. Er grenzt sie zum einen von der Vorstellung eines Gutes oder Besitzes im Sinne von Religion-Haben zugunsten eines ReligiösSeins ab. Zum anderen sucht er das Ideal des Ichs mit dem der Gleichheit aller Individuen vor Gott zu vermitteln, da der Heilsbegriff beide Ideale in sich birgt: Wenn nun aber das Heil nichts anderes sein soll, als daß jede Seele ihr eigenstes inneres Sein [...] ganz zum Ausdruck bringt, ganz in ihm aufgeht – wie vereinigt sich denn die unendliche Verschiedenheit der Seelen nach Höhe und Tiefe, Weite und Enge, Helligkeit und Dunkelheit, mit der Gleichheit des religiösen Erfolges, mit der gleichen Würdigkeit vor Gott?³⁷

Dieses Problem rührt an den Sachverhalt des Ausgleichs von Allgemeinem und Besonderem. Simmel will den durch das Gleichheitsideal verdrängten qualitativen Individualismus des christlichen Heilsbegriffes zu seinem Recht verhelfen und versteht die Gleichheit aller Seelen so, „daß jede einzelne die ihr eigene Idee durch alles Außenwerk hat durchwachsen lassen; dabei mag der Inhalt der verschiedenen um Welten verschieden sein“.³⁸ Indem jedes Individuum auf sein ihm ureigenes Innerstes gestellt ist, ist es darin allen anderen gleich. Vor dem Hintergrund der Reinterpretation des christlichen Topos vom ‚Heil der Seele‘ kann die gemäß dem ‚individuellen Gesetz‘ sich konstituierende Lebensform als die ‚entzauberte‘, darin aber nicht unreligiöse Fassung des christlichen Heilsbegriffes, als die ethische Variante des Religiös-Seins interpretiert werden.³⁹ Indem die religiöse Funktion zwischen den zentrifugalen und den zentripetalen Kräften vermittelt, führt sie die beiden dem Leben immanenten ‚Seinsfaktoren‘, nämlich Selbst- und Fremdbestimmung, zum Ausgleich. In diesem Sinne ist sie gerade auch dann wirksam, wenn sich das Individuum in kulturel37 Ebd. 38 Ebd., S. 114. 39 Für den religionsphilosophischen Hintergrund der Konzeption des ‚individuellen Gesetzes‘ spricht neben den angeführten Parallelen zur Reinterpretation des christlichen Heilsbegriffes auch die im ‚individuellen Gesetz‘ angeführte Analogie aus dem Bereich der Religion. Nachdem Simmel erläutert hat, dass sich das Leben in den beiden Formen von Wirklichkeit und Sollen vollzieht, stellt er folgenden Vergleich an: „Dies verhält sich etwa wie Religion als ein religiöses Leben, eine von dem Lebensprozess selbst erzeugte Weihe, Rhythmik, Gestimmtheit seiner, zu der Religion als einer Summe transzendenter Vorstellungen, die als feste, für sich bestehende, auf die Seele zurückwirkende Gebilde aus jenem kontinuierlichen Lebensprozess auskristallisiert sind“ (Simmel, Das individuelle Gesetz [Anm. 14], S. 196).

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len Objektivationen entäußert und sich darin erhöht. Wichtig allein ist der Umstand, dass sich die Hingabe an eine Sache oder an Werte in Freiheit im oben explizierten Sinne und nicht unter dem Druck eines äußeren Zwanges vollzieht. Simmel hält die skizzierte Fassung des Heilsbegriffes für eines der Motive, „aus denen das gegenwärtige Leben wieder instinktiv nach Religion tastet“,⁴⁰ denn das „tiefste Lebensproblem der Gegenwart“ besteht für ihn in der Suche nach dem Allgemeingültigsten, das zugleich individuell ist, nach dem Rechte der Person, das zugleich das Recht der Allgemeinheit sei, nach dem Typus, der die Unvergleichbarkeit der Einzelgestaltung in sich aufnehme.⁴¹

Eine gemäß dem ‚individuellen Gesetz‘ geführte Existenz ist somit der Ausdruck des Verlangens vonseiten des Lebens, den Konflikt zwischen Sein und Sollen, zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Prozess und Form auf einer ihm immanenten Ebene zu versöhnen. Wenngleich Religion nicht unbedingt eine definitive Lösung dieses Problems bereithält, so hat sie doch zum mindesten dessen Formulierung zum Gegenstand,⁴² und von daher ist es zu verstehen, dass sich das Leben „unmittelbar als religiöses aussprechen“ will.⁴³ Von diesen Analogien zwischen dem ‚Heil der Seele‘ und dem ‚individuellen Gesetz‘ her versteht sich auch die Nähe zwischen der Kunst und einem bestimmten Verständnis von Religion. Als Gemeinsamkeit des religiösen und des künstlerischen Verhaltens führt Simmel an, daß das eine wie das andre seinen Gegenstand in eine Distanz, weit jenseits aller unmittelbaren Wirklichkeit hinausrückt – um ihn uns ganz nahe zu bringen, näher, als je eine unmittelbare Wirklichkeit ihn uns bringen kann.⁴⁴

Aufgrund dieser tiefen „Formgleichheit, aus der heraus die Religion allenthalben als der Vorläufer der Kunst, und die Kunst allenthalben als die Erregerin religiöser Stimmung auftritt“,⁴⁵ kann die Kunst so häufig religiöse Motive verar-

40 Simmel, Vom Heil der Seele (Anm. 31), S. 114. 41 Ebd., S. 114f. 42 Vgl. ebd., S. 115. 43 Georg Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur. Ein Vortrag (1918). In: Ders., Das individuelle Gesetz (Anm. 14), S. 148–173, hier S. 170. 44 Georg Simmel: Das Christentum und die Kunst (1907). In: Ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908 (Anm. 21), S. 264–275, hier S. 264; vgl. auch ders.: Aus dem nachgelassenen Tagebuch. In: Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlass und Veröffentlichungen der letzten Jahre. Hg. und mit einem Vorwort von Gertrud Kantorowicz, München 1923, S. 1–46, hier S. 8: „Kunst und Religion haben das Gemeinsame, dass sie ihren Gegenstand in die größte Distanz rücken, um ihn in die größte Nähe zu ziehen.“ 45 Simmel, Das Christentum und die Kunst (Anm. 44), S. 265f.

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beiten und sich Religion in künstlerische Formen kleiden. In dieser Perspektive lassen sich Kunst und Religion im Unterschied zu Wirtschaft, Politik und Wissenschaft als die beiden „expressiven Weltformungen“ verstehen, die zugleich eine emphatische Individuierung ermöglichen: Der Affekt gegenüber der Schönheit und der Kunst ist nicht weniger primär als der religiöse und deshalb so wenig wie dieser durch Auflösung in anderwertig vorkommende Bewusstseinswerte zu beschreiben; obgleich, da beide den ganzen Menschen in Erregung setzen, noch alle die anderen Bewegtheiten der Seele sich auf ihren Ruf einfinden: Aufschwung und Demut, Lust und Leid, Expansion und Zusammenraffung, Verschmelzung und Distanz gegenüber ihrem Gegenstand. Eben dies hat so oft verleitet, sie auf die Bejahung und die Verneinung, auf die Mischung und den Gegensatz dieser großen Potenzen des sonstigen Lebens zurückzuführen.⁴⁶

Aus der Verwandtschaft zwischen Kunst und Religion, wie sie Simmel skizziert, resultiert der sich gegen die Kunst abgrenzende Ikonoklasmus in der Religionsgeschichte, aber auch die Verschmelzung beider Bereiche zur Kunstreligion. Im Lichte der Simmelʼschen Kultur-, Kunst- und Religionstheorie ist die Kunstreligion, wie sie Stefan George innerhalb der Literatur – ähnlich wie zuvor etwa die Präraffaeliten und Caspar David Friedrich innerhalb der darstellenden Kunst – repräsentiert, ein Versuch, die Widersprüche der Moderne zu vermitteln. Dass dieser Versuch mit synästhetischen Mitteln einhergeht, wie der Titel meines Beitrags ‚Wo „Rausch und Helle“ eins werden‘ in Anlehnung an Worte aus dem ‚Stern des Bundes‘⁴⁷ andeutet, liegt psychologisch und ästhetiktheoretisch nahe.

VI Kurzes Resümee und Schlussfolgerungen Stefan George hat Georg Simmel in zentralen Etappen seiner Werkgeschichte angeregt, sodass sich das dichterische Werk Georges und die Kulturphilosophie Simmels in wechselseitigem Bezug aufeinander interpretieren lassen. Mit dem Autonomieanspruch des Künstlerischen tut sich ein Widerspruch auf. Wie alle anderen kulturellen Formen erhöht auch Kunst das Leben, wendet sich in der Eigengesetzlichkeit aber zugleich gegen das individuierte Leben. Dieser Widerspruch wird im Modus der Kunstreligion aufzulösen versucht. Dafür steht exemplarisch das Werk Georges. 46 Georg Simmel: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus (1907). In: Ders., Philosophie der Mode (Anm. 13), S. 167–408, hier S. 302f. 47 Vgl. Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. VIII, S. 9.

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Über Simmels Ansatz hinausgehend, sei abschließend auf die Gefahren einer Praxis und ihrer Theoretisierung hingewiesen, die mit der Sakralisierung von Kunst – und übrigens ebenso mit der Sakralisierung von Politik in Gestalt politischer Religion – verbunden sind und auch historisch eingetreten sind. George lehnte sich selbst an Simmels Kulturphilosophie an, weil er Subjektivität nicht im Sinne der modischen ‚Selbstverwirklichung‘ verstanden wissen wollte, sondern als Repräsentationsinstanz historisch-notwendiger Entwicklung.⁴⁸ Ohne eine bewusste Intention und eine direkte kausale Verbindung der nationalsozialistischen Berufung auf den Dichter unterstellen zu wollen, geht aber doch mit jeglicher Sakralisierung (und so auch in Gestalt der Kunstreligion) die Gefahr einher: Wenn das Konkrete, das immer partiell bleiben muss, den Anspruch erhebt, das Allgemeine zu repräsentieren, ist auch das machtvoll Totalisierende nicht fern.

48 Vgl. Landmann, Georg Simmel und Stefan George (Anm. 2), S. 156: Dass sich George „bei Simmel anlehnt, legt sich deshalb nahe, weil die Zerstörung bei George nicht um der Selbstverwirklichung von Künstlern willen erfolgen soll, vielmehr liegt es im Gesetz der Geschichte, daß sie erfolgen muß. Er denkt nicht subjektiv vom Künstler her, sondern kulturphilosophisch.“

Bertram Schefold

Götter sehen? – Einführung zu Martin Mosebachs Vortrag „Unbedingte Verbindlichkeit der Geschichte für die eigene Existenz“ – so charakterisiert Martin Mosebach in einem seiner berühmten Essays über ‚Schöne Literatur‘ Rudolf Borchardt. Das „konkret Tagespolitische“ habe für Borchardt einen „geringeren Grad an Wirklichkeit“ besessen, „wenn er die steinernen und sprachlichen Traditionslinien betrachtete, die über den größten Umbrüchen nicht zerrissen waren. Wirklichkeit besaß nur die Form“.¹ Wer dies liest, wird sogleich an Mosebachs eigene Haltung zur katholischen Kirche denken, die in ‚Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind‘, einem seiner erfolgreichsten Bücher, ihren Ausdruck findet. Da lesen wir: Das deutsche Laster Philosophie hat bis in die bescheidensten Gehirne hinein das Konstrukt eines Unterschieds von Inhalt und Form verankert. Nach dieser Doktrin seien Inhalte und Formen voneinander ablösbar: was sie den Inhalt nennt, die Abstraktion, der theoretische Extrakt, das ist für sie die eigentliche Wirklichkeit; die durchbluteten Körper, die sinnlich tastbaren Gestalten hingegen sind bloße Form, austauschbare Schattengebilde; wer sich mit dieser Form befasst, verbleibt im Peripheren, im Akzidentiellen – wer aber durch die Form hindurchstößt zu den ewigen Abstraktionen, der ist ans Licht der Wahrheit gelangt. Formen sind hier fast etwas Beliebiges geworden, und manchmal sogar Schlimmeres – sie sind unwahr, sie sind verlogen. Wer die Form wahrnimmt und ernst nimmt, schwebt bereits in der Gefahr, gleichfalls verlogen zu sein. Er ist der Ästhetizist. Er sucht die Wahrheit an der falschen Stelle, nämlich im Bereich des Anschauens, und er sucht mit den falschen, mit den verbotenen Mitteln: mit seinen Sinnen nämlich, seinem Geschmack, seiner Erfahrung und seinem Verstand. Aus diesem denkerischen Aufstand gegen das Offensichtliche ist die Grundstimmung unseres Zeitalters geboren worden: ein die ganze Öffentlichkeit erfüllendes Misstrauen gegen jede Art von Schönheit und Vollkommenheit. Etwas sei ‚nur schön‘ – das ist heute die schärfstmögliche Verurteilung. In der Kunst wird das Unfertige, das Fragmentarische, das Zerbrochene begünstigt. Die Beherrschung handwerklicher Regeln und Fähigkeiten, die zum Gebrauch einer vollendeten Formensprache notwendig sind, wird verachtet.²

Unzeitgemäß also ist Mosebachs gutes Schreiben: ein Handwerk, das zu lernen er sich sorgfältig befleißigte. Die Anschauung ist ihm, wie Goethe, der Zugang zur Wahrheit. Viel hat er zur bildenden Kunst geschrieben, die Museen mit

1 Martin Mosebach: Schöne Literatur. Essays, München 2009, S. 40f. 2 Martin Mosebach: Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, München ²2007, S. 101f.

Götter sehen? – Einführung zu Martin Mosebachs Vortrag



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antiken Schatzhäusern verglichen und auch in den Kirchen die Kunst herausgehoben: „Der enorme Kult, der um die Kunstwerke der Kirche getrieben wurde – tatsächlich hat er im Norden Europas folgenreichen Ärger erregt –, nährte sich bei aller Frivolität, die man ihm vorwerfen darf, aus der Gewissheit, dass die Kunst nicht das Ziel der Kunst sei, sondern dass es ihr schönes Privileg sei, an herausragender Stelle einem höheren Zweck zur Sichtbarkeit zu verhelfen“.³ Schreiben als Handwerk, Anschauung als Erkenntnis, sinnlich fassbare Erscheinung des Religiösen, Kampf mit den Geistern der Geschichte als gegenwärtige Mächte, Verehrung des Heiligen: Erinnert das nicht an George? Gehört also Mosebach zum geheim fortlebenden Kreis? In ‚Stadt der wilden Hunde. Nachrichten aus dem alltäglichen Indien‘, vordergründig ein Reisebuch, in dem aber genau diese Thematiken in der grellen Widersprüchlichkeit einer Provinz des Orients zur Sprache kommen, gibt es sogar in der Prosa listig versteckte George-Zitate. Freilich sind Mosebachs eigene Gedichte von anderer Inspiration – außer Stefan George bewundere er besonders Christian Morgenstern, sagte er einmal, und als Schriftsteller ist er vor allem der Autor einer langen Reihe bedeutender Romane, in der Zeit- und Gesellschaftskritik – auf längeren Strecken mit heiterer Ironie, dann auf kürzeren mit bissigerer Schärfe – komplexe Handlungen psychologisch genau gezeichneter Charaktere begleitet. In diesen Romanen stehen wir George offenbar ferner und folgen, teils gut unterhalten, teils absichtsvoll beunruhigt, den aus offenen Vergangenheiten in offene Zukünfte führenden Wechselfällen individueller Schicksale, mit denen der Autor jongliert. Martin Mosebach, geboren 1951 in Frankfurt am Main, Absolvent eines Jurastudiums, lebt seit 1980 als freier Schriftsteller in der Stadt seiner Geburt. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, Mitglied der Berliner und der Bayrischen Akademie der Schönen Künste und des P.E.N.-Clubs. Er hat eine erstaunliche Anzahl von literarischen Preisen erhalten: unter anderem den Heinrich-von-Kleist-Preis, die Warburg Stiftungs-Professur, den großen Literaturpreis der Bayrischen Akademie der Schönen Künste und den Georg-Büchner-Preis. Er ist der Verfasser von gegenwärtig zehn Romanen und besonders bekannt für seine scharfsinnigen Essays. Er hat Gedichte und Dramen geschrieben und mit seiner besonderen Beobachtungsgabe Berichte über Reisen und Länder, die seltsam fremd erscheinen, obwohl auch dort alle ‚Taschentelephone‘ herumtragen. Die vorbereitenden Gespräche zu diesem Vortrag gehen auf eine Lesung mit einigen meiner Studenten für Herrn und Frau Mosebach bei mir zuhause aus 3 Martin Mosebach: Nichts ist lebendiger als die Liebe. Rede zur Wiedereröffnung der Sammlung Museum Kunstpalast, Düsseldorf 2011, S. 11.

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dem ‚Maximin-Gedenkbuch‘ und dem ‚Maximin‘-Zyklus des ‚Siebenten Rings‘ zurück. Die jüngeren Teilnehmer, die ein solches Buch – sonst unter Glas – wohl noch nie in Händen hatten, zeigten sich beeindruckt von den Gedichten des vierzehnjährigen Maximilian Kronberger und der Gestaltung seiner Todesahnungen. Interpretationen des ‚Siebenten Rings‘, welche die Dichtung in ihren Kontext stellen wollen, sollten die hohe Begabung, die sich in Maximilian Kronbergers Gedichten zeigt, als Voraussetzung der Deutung der entsprechenden Gedichte Georges ernst nehmen. George muss in seiner Jugend nach katholischer Erziehung durch religiöse Skepsis und nietzscheanischen Nihilismus hindurchgegangen sein. Er erzählte davon später wenig, ließ es aber doch geschehen, dass seine geniale ‚Teuflische Stanze‘ im Verborgenen bekannt wurde – in die ‚Fibel‘, die Sammlung seiner Jugendgedichte, nahm er sie nicht auf: Noch jeder Gott war menschliches geschöpfe Die immer seligen sind allein die tröpfe Nur was die narren sprechen ist orakel Nur was nie war ist frei von jedem makel Die tugend dankt am meisten dem vergehen Kein heiliger ders nicht aus dem sünder wurde Und ewige wahrheit bleibt nur das absurde.⁴

Auf jede dieser Zeilen antworten spätere Gedichte, wie ganz direkt ‚Der Gehenkte‘: […] Tugend […] So strahlen kann sie nur wenn ich so fehle!⁵

In Staunen versetzt uns die erste Zeile. Ist sie nicht die moderne Kritik am Maximin-Erlebnis, ausgesprochen vom jungen George gegen den reifen? Wie verlief diese Entwicklung? Anscheinend war, wenn wir jetzt gängige Worte verwenden, Maximin für George nicht vor-, sondern postmodern. In den frühen Gedichten, von den ‚Hymnen‘ bis zum ‚Jahr der Seele‘, stoßen wir auf eine Vielzahl religiöser Vorstellungen, christliche und antike, wie in dem ergreifenden ‚Auszug der Erstlinge‘;⁶ noch wurde jedoch kein eigener Mythos gestiftet. Weit und mannigfaltig sprießen religiöse Vorstellungen bei George und 4 Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George. Textband, Düsseldorf – München 1951, S. 116. 5 Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. IX, S. 52. Im Folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. 6 SW III (Anm. 5), S. 20.

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seinem Kreis in der Münchner Zeit, bis er das Schwärmerische der ‚Kosmiker‘, dem in der Dichtung kein Eingang gewährt worden war, abschüttelte. In den ‚Merksprüchen‘ heißt es: „URGRUNDSCHWÄRMER. Setzet nicht Gott für den götzen für den Geist das gespenst für den Seher die hexe.“⁷ Religion bei George beginnt, wo die Literatur endet und die Dichtung anfängt. Sie ballt sich erst im Maximin-Zyklus zu einer bildlichen Einheit solcher Art, dass man erkennt, worauf frühe Gedichte erst hinweisen: Das Göttliche erscheint dem, der es zu sehen bereit ist. Es war die Stiftung eines religiösen Bildes wie in Hölderlins Hymnen; sie stand in einer Tradition, die über christliche Dichtung zur Antike zurückreicht. Wer darin ein Dogma sucht, wird wenig finden: „greifbar im glanz“ nannte George seinen Gott,⁸ und so wird Maximin kühn im ‚Gedenkbuch‘ ‚abgelichtet‘. Wolfskehl war mit einem eigenen Gedicht am ‚Gedenkbuch‘ beteiligt. Darin heißt es […] Doch ihr merkt nicht An eurem karg bewachsnen uferrand Der gräser rascheln · aller kreatur Wollüstig frieseln · wisst das wunder nicht · Im immergleichen zug den schmalen krug Der mir zuteil ward […] […] […] der immer überquillt Vom segen der in heiligem fliessen rinnt […]⁹

Das Kommen Maximins spürt die Natur; die Menschen bleiben dumpf. Doch von diesem Allgefühl wandte sich Wolfskehl im Exil ausdrücklich ab und gab uns damit e contrario einen Hinweis, wie er Maximin verstand. Er kehrte zum Gott der Väter zurück, von dem es weder Bildnis noch Gleichnis geben soll, und gestaltete seine Vision in dem Gedicht ‚Die Stimme‘– es ist die Stimme des Herrn: Wohl wohl und aber wehe! Du sahst Mich hier und überall, Doch spürst du Meinen Finger, Spürst du, dass Ich dich zu Mir zwang, Dich armen Allumschlinger? Besteh vor Mir, bestehe!

7 Stefan George Stiftung: Einleitungen und Merksprüche der ‚Blätter für die Kunst‘. Düsseldorf – München 1964, S. 41. 8 SW IX (Anm. 5), S. 14. 9 Stefan George (Hg.): Maximin. Ein Gedenkbuch, Berlin 1907, [o. Pag.].

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Du fandest mich in Wurm und Blatt, In jedem Kiesel wellenglatt, In jedem Sprung und bunten Ball, Im Jubel und im Widerhall. Doch also war nicht Gottes Gang – Ich, Ich will nicht gefunden sein, Du bist nicht Stahl, Ich bin nicht Stein! Ich Funke sprüh aus Mir in Mich, Ich bin der stillsten Stunde Drang. Bin nicht der Dolch, Ich bin der Stich, Ich bin Ich, nur Ich Und Ich will dich Und dich allein: Drum schuf Ich dir notselige Pein. Drum reiss Ich dich von allem los. Heut stehst du vor Mir öd und bloss. Heut hab Ich dich allein!¹⁰

Wolfskehls Freunde, Salin, Boehringer und andere, empfanden diese Wendung als einen Abfall,¹¹ doch Wolfskehl selbst beharrte darauf,¹² auch so seinem ‚Meister‘ zu dienen. Das „Ich will nicht gefunden sein“ weist eine ästhetische, aus der Schau der Natur gewonnene Gotteserfahrung als unzureichend zurück. Der „Allumschlinger“, Wolfskehl wie er war, der junge Wolfskehl insbesondere, ist „arm“. Ihm begegnet nun der alttestamentliche Gott. Dieser fordert die ganze Person. Eine Zeile („Bin nicht der Dolch, Ich bin der Stich“) spielt direkt auf Georges „Ich bin der degen und die scheide/Ich bin das opfer bin der stoss“ an, aus dem Gedicht ‚Ich bin der Eine und bin Beide‘ im ‚Stern des Bundes‘.¹³ Wolfskehl setzt diesem fordernden Gott Georges Allheitsvorstellung des Göttlichen („Ich bin ein end und ein beginn“) entgegen. Der Unterschied mochte früh spürbar gewesen sein, auch wenn er erst spät benannt wurde. Nicht grundlos lässt George in ‚Geheimes Deutschland‘, das 1928 erschien, Wolfskehl zu Maximin schweigen. „‚Hier fass ich nicht mehr und verstumme‘“,¹⁴ lässt er Wolfskehl sagen, obwohl dieser zum ‚Maximin-Gedenkbuch‘ 1906 das einleitende Gedicht beigetragen hatte, aus dem wir zuerst lasen, ein Gedicht, das

10 Karl Wolfskehl: Späte Dichtungen. Hg. von Friedrich Voit, Göttingen 2009, S. 29f. 11 Verf. in Verbindung mit Bruno Pieger: Wege des Geheimen Deutschland. Eine Einführung. In: Dies. (Hg.): Stefan George. Dichtung – Ethos – Staat, Berlin 2010, S.17–94. 12 Verf.: Karl Wolfskehl. Der Fernblick des ‚Exul‘ auf Deutschland, Europa und Israel. In: Giusy M. A. Margagliotta/Andrea A. Robiglio (Hg.): Art, Intellect and Politics. A Diachronic Perspective, Leiden – Boston 2013 (= Studies on the interaction of art, thought and power 6), S. 435–470. 13 SW VIII (Anm. 5), S. 27. 14 SW IX (Anm. 5), S. 45–49, hier S. 48.

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doch Georges Maximin-Erlebnis in starken eigenen Bildern aufnimmt und weitergibt. Vielleicht können zwei Goethe-Zitate helfen, das Gemeinsame und das Trennende zu erkennen. Im Nachlass-Stück ‚Über Literatur und Leben‘ zu den ‚Maximen und Reflexionen‘ heißt es: „‚Ich glaube an einen Gott!‘ dies ist ein schönes löbliches Wort; aber Gott anerkennen, wo und wie er sich offenbare, das ist die eigentliche Seligkeit auf Erden.“¹⁵ Der reife George und der späte Wolfskehl erlebten je ihre Offenbarung, doch waren sie so polar verschieden, wie Goethe es in ‚Wilhelm Meister‘ beschreibt: „Es gibt nur zwei wahre Religionen, die eine, die das Heilige, das in und um uns wohnt, ganz formlos, die andere, die es in der schönsten Form anerkennt und anbetet. Alles was dazwischen liegt, ist Götzendienst.“¹⁶ Den Götzendienst werden wir nach den Erkenntnissen der neueren Ethnologie und der Bewunderung der Kunst der ‚Primitiven‘ durch die Pioniere der Moderne nicht mehr als Schreckbild beiseiteschieben, wie Goethe es noch tat, der doch sonst seinen Weg zu jeder der Weltkulturen fand. Aber den Gegensatz hat er schön entfaltet, mit einem Pol, der George und, mit Vorbehalt, dem jungen Wolfskehl, und einem andern, der dem alten Wolfskehl entspricht. So eindringlich George für seine Weltsicht warb, so bereit war er doch, es als Grundtatsache des Lebens zu nehmen, wenn die Menschen ihre religiösen Vorstellungen verschieden entfalten. Dass Maximin jeder anders sieht, sagt schon der Anfang des ersten an Kronberger gerichteten Gedichts. Dem bist du kind · dem freund. Ich seh in dir den Gott Den schauernd ich erkannt Dem meine andacht gilt.¹⁷

So versteht man die Erschütterung, die durch den späten George-Kreis ging, als Hölderlins Gedicht ‚Sokrates und Alkibiades‘ neu entziffert und durch die Lesung von „Tugend“ durch „Jugend“ als Hinweis auf das Maximin-Erlebnis gedeutet werden konnte, nachdem man schon wusste, dass Hölderlins Sokrates auf Alkibiades „wie auf Götter“ blickte:¹⁸ 15 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. 9: Die Wahlverwandtschaften. Novellen. Maximen und Reflexionen. Einführung und Textüberwachung von Paul Stöcklein, Zürich 1977, S. 608. 16 Ebd., S. 588. 17 SW VI/VII (Anm. 5), S. 90. 18 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hg. von Paul Stapf, Berlin – Darmstadt 1956, S. 178. George und Wolfskehl hatten diese Lesart nicht gekannt, als sie das Gedicht in den dritten Band ihrer Sammlung ‚Deutsche Dichtung‘ aufnahmen (‚Das Jahrhundert Goethes‘). Robert Boehringer

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„Warum huldigest du, heiliger Sokrates, Diesem Jünglinge stets? kennest du Größers nicht? Warum siehet mit Liebe, Wie auf Götter, dein Aug’ auf ihn?“ Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste, Hohe Jugend versteht, wer in die Welt geblickt, Und es neigen die Weisen Oft am Ende zu Schönem sich.¹⁹

hat in seiner Neuauflage (Das Jahrhundert Goethes. Hg. und eingeleitet von Stefan George und Karl Wolfskehl, Düsseldorf – München [1902] ⁴1964.) die damals neue Lesung („Jugend“) nach der ‚Großen Stuttgarter Ausgabe‘ („zur vierten Auflage“, S. 7) übernommen, aber die letzte und neueste Auflage ist ohne nähere Erklärung zu „tugend“ zurückgekehrt. (Deutsche Dichtung. Hg. und eingeleitet von Stefan George und Karl Wolfskehl. Bd. 3: Das Jahrhundert Goethes, Stuttgart 1995, S. 31.) 19 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hg. von Friedrich Beißner. Bd. 1: Gedichte bis 1800, Stuttgart 1946, S. 260.

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Stefan Georges Religion Man kann mit gutem Recht die Überzeugung vertreten, dass es nicht statthaft ist, nach der Religion eines Dichters zu fragen. Gedichte sind Wahrheitskapseln; was sie sagen, hat durch ihre Sprache, ihren Rhythmus und ihre Form eine Gestalt angenommen, die in den Grenzen des Werks ein unbestreitbares Lebensrecht besitzt. Man kann gegen ein Gedicht philosophisch, theologisch oder politisch nicht argumentieren. Was in einem Gedicht steht, ist unanfechtbar, durch die Form gegen jeden Einwand gepanzert. Die Religion des Dichters währt so lange wie sein Gedicht – es ist unerlaubt, aus Gedichten Doktrinen zu extrapolieren. Was in ihnen steht, fordert absolute Geltung – was nicht in ihnen steht, existiert nicht für sie. Und doch fallen Gedichte nicht einfach vom Himmel. Sie wachsen aus einem Humus hervor, der aus Tradition, Sprache, Religion gebildet wird. Die Dichter der deutschen Sprache stammen vorwiegend aus protestantischem Milieu; Goethe und Hölderlin, Mörike und Benn haben eine dezidiert protestantische Erziehung genossen; nicht ohne Grund hat man gesagt, Deutsch sei „ein protestantischer Dialekt“. Sollte dies so sein – wäre es einem deutschen Dichter, der Katholik ist, überhaupt möglich, diesen ‚protestantischen Dialekt‘ zu verlassen? Ist die lyrische Sprache des Clemens Brentano und des Joseph von Eichendorff ‚katholisch‘? Und muss oder darf Stefan George ein im kulturellen Sinn ‚katholischer Dichter‘ genannt werden? Es hat nicht an Versuchen gefehlt, diesen Dichter mit seiner Liebe zu Rom und großer Form, zu Hierarchie und Mysterium, mit seiner Abneigung gegen das Hohenzollernreich und seiner Hinwendung zu Frankreich der katholischen Welt zuzurechnen. Es geht hier nicht um die praktizierte Religion. Man kann, mit den Worten des Charles Maurras, „Atheist und Katholik“ sein. Aber war Stefan George in diesem, im Maurras’schen Sinne, wenigstens Katholik? Was mag sich für einen Autor daraus ergeben, als Katholik geboren zu sein? Katholische Erziehung schaffe einen uneinholbaren Vorsprung, schrieb der Konvertit Heimito von Doderer; er wisse das, weil er sie nicht genossen habe. Es sei erlaubt, eine durchaus tastende Beantwortung dieser Frage von einem persönlichen Standpunkt aus zu versuchen – ein anderer stünde mir auch gar nicht zu Gebote. Was katholische Erziehung denn genau sei, vermag ich, 1951 von einer katholischen Mutter mit kölnisch-trierischen Wurzeln und einem reformiert-protestantischen Vater aus dem nordhessischen Kassel in Frankfurt am Main geboren, der damals geltenden Regel, in einer Mischehe hätten die Kinder dem

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katholischen Elternteil zu folgen, entsprechend katholisch aufgewachsen, nicht wirklich zu sagen. Man verwundere sich nicht über die Pedanterie, mit der ich Jahreszahlen und Landsmannschaftlichkeiten vermerke: Im in Konfessionen und Regionen zerfallenden Deutschland und in einer von stärksten Erschütterungen heimgesuchten Kirche ist jedes dieser Daten für den Kenner der Verhältnisse höchst aufschlußreich. Wenn ein Doderer von katholischer Erziehung spricht, denkt er an die berühmten Jesuiteninternate und Benediktinerschulen, von denen ich kaum einen matten Abglanz erlebt habe; er denkt an eine im täglichen Leben präsente Religionsausübung, an tägliche Frühmessen, an eingehaltene Fastenzeiten, an die allgemein geübten Disziplinen der Gewissenserforschung und der Beichte, an Tischgebet, Rosenkranz, an Litaneien und Fronleichnamsprozessionen, an denen das gesamte Erzhaus teilnahm, von Doderer als protestantischem Außenseiter beobachtet, an die Gründonnerstagszeremonie, wenn der Kaiser auf Knien zwölf armen alten Männern die Füße wusch. Er denkt an eine von der katholischen Kirche nicht bloß geprägte, sondern recht eigentlich geschaffene Kultur, eine in Alltag, Politik, Kunst und Philosophie gewendete Religion, eine Religion, die den kulturellen Gestus auch derjenigen bestimmt, die ihr nicht angehören, die auch die Protestanten, Juden und Atheisten der Donaumonarchie auf unbestimmte Weise zu Katholiken machte, weil sie den allgemeinen Stil bestimmte. Und das muss der Außenseiter, der sich diesem Stil beugen muss, ohne an seinem geistigen Kern Anteil zu haben, natürlich schmerzhaft empfinden, vor allem, wenn er so intelligent ist zu wissen, dass ein Stil von seinem geistigen Kern grundsätzlich nicht zu lösen ist. Das so zynisch klingende Wort Heinrich Heines, die Taufe sei das Entréebillett für die europäische Kultur, ist ja nichts weniger als zynisch, es enthält die Einsicht in die reinste Realität. Ich will keine Analyse der Gegenwart wagen, weil sich die Gegenwart der zeitgenössischen Analyse entzieht – wie will man einen historischen Moment beobachten, in dem man selbst bis über beide Ohren steckt –, aber man übertreibt nicht, wenn man zu dem Ergebnis gelangt, dass alle wichtigen geistigen und politischen Strömungen, jedenfalls bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, gerade auch die dezidiert antichristlichen, auf das engste mit dem Christentum verbunden waren, sich aus ihm heraus gebildet, in seinen Denkmustern gestaltet haben, auf das Christentum antwortend, sich nach dem Muster der großen frühchristlichen Häresien richtend, ganz und gar aus der von ihm gestifteten gedanklichen Substanz bestehend. Europäische Literatur und Malerei sind nur aus einer sorgfältigen Kenntnis der christlichen Theologien und insbesondere der katholischen Liturgie heraus verständlich; dies gilt auch für die Architektur, die eine in den großen öffentlichen Gebäuden der Religion und des Staates gebaute Ordnung der in den irdischen Verhältnissen sich spiegelnden Himmelsharmonie war. Die Vorstellung, als Europäer und als

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Abkömmling der von Europa begründeten Kulturen Amerikas im Schöpferischen, das seiner Natur nach mit dem Bereich des Unbewußten und der Teilnahme an einer ererbten kollektiven Empfindungsweise verbunden ist, die vom Christentum geschaffenen Denkmuster auch nur um einen Schritt verlassen zu können, grenzte in ihrer Vergeblichkeit bis vor kurzem noch ans Komische. Aber selbstverständlich wirkt sich diese grundsätzliche, unüberwindliche Abhängigkeit fruchtbarer aus, wenn man sie nicht vergeblich bekämpft oder verdrängt, sondern wenn sie in ihrer produktiven Kraft erkannt und genutzt wird. In dieser Hinsicht wird Doderers Wort vom „uneinholbaren Vorsprung“ verständlich. Und ich, der ich die selbstverständliche Umgebung katholischer Kultur nicht mehr kennengelernt habe und Berichte davon wie Zeugnisse einer fernen, untergegangenen Epoche lese, habe durch die Gnade der frühen Geburt – deutlich vor dem II. Vatikanischen Konzil, nach dem die Weltkulturrevolution von 1968 auch in die innersten Bezirke der katholischen Kirche eindrang und mit ihrem Flachsinn erreichte, was die geistig unendlich gewichtigeren Revolutionen von 1789, 1848 und 1917 nicht erreicht hatten – durch die wenigen Jugendjahre vor eben diesem Konzil und den durch es ausgelösten Umstürzen noch erleben können, was zwar nicht katholische Kultur, aber was ihr Fundament, ihre Quelle, ihre Lebensader war: den Ritus, der unverändert seit der Spätantike durch die Geschichte in die Gegenwart gewandert war. Dieser Ritus ist das Stiftungsereignis der europäischen Kultur, um von seiner entscheidenden Bedeutung für die christliche Religion nicht zu reden – hier kann nicht die Rolle, die dem Ritus für die Verkündung der christlichen Wahrheit zukommt, besprochen werden, es soll hier nur um seine Prägekraft gehen, die er auf jene schöpferischen Menschen ausübt, die in seinem Bann aufwachsen. Der inkarnierte Gott ist die Wahrheit, die betrachtet werden will – der Gottmensch ist das Bild der Wahrheit, und so muss sein Kult Bildwerdung sein. Der Katholik begegnete in der Messe, wie sie vor dem II. Vaticanum gefeiert wurde, den tiefsten Arcana seines Glaubens, weniger in Texten, in Lesungen, in katechetischer Unterrichtung, als vielmehr in einem großen bewegten Bild; man hat die traditionelle katholische Liturgie – das gilt natürlich ebenso für die göttliche Liturgie des Hl. Johannes Chrysostomos – eine Ikone genannt, für deren Zustandekommen eine heilige Choreographie, Paramente, Gesten, Gesang, das Rauchopfer aus dem Tempel von Jerusalem, Kerzenflammen und Besprengungen mit geweihtem Wasser eine ebenso wichtige Funktion übernahmen wie das Wort – das allerunwichtigste in der katholischen Liturgie ist stets das Genre der mehr oder weniger gelehrten Reflexion gewesen, des mehr oder weniger intellektuellen Diskurses, der katechetischen Indoktrination, der Predigt mithin. Das Mysterium fidei, das hier gefeiert wurde, wird bis auf den heutigen Tag falsch übersetzt: Hier ist nicht von einem ‚Geheimnis‘ im Sinne des Mysteriösen die Rede, irgendeiner Geheimnistuerei,

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einer wohlfeilen Flucht in Gedankenunschärfe, die sich das gleichsam poetische Privileg herausnimmt, alles, was ihr nicht zu definieren gelingt, als ‚Geheimnis‘ zu deklarieren. ‚Mysterium‘ im Zusammenhang der Messe heißt soviel wie ‚Vollzug‘ oder noch besser ‚Ereignis‘ – die Wandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut des Herrn will ein Ereignis sein, ein tatsächliches objektiv statthabendes Geschehen. Der Katholik sieht im Zentrum seines Glaubens eine Bilderfolge und im Zentrum dieser Bilderfolge eine Umwertung des Bildes: die Wandlung, die bei unveränderter Gestalt der gewandelten Gaben eine neue Seinsart für sie begründet und dies durch eine Fülle von Zeichen miterlebbar macht. Es kann nicht verwundern, dass Menschen, die von klein auf solche Riten in höchster Eindringlichkeit Woche für Woche mitvollziehen, davon nicht nur in ihren religiösen, sondern auch in ihren ästhetischen Auffassungen maßgeblich geformt werden. So ist die ganze abendländische Malerei von dieser Wirklichkeitsauffassung durchtränkt; ihr geheimes Thema durch die Jahrhunderte ist die Substanzverwandlung, Verdichtung der Materie bis zu deren Umschlag in den Geist, kurzum Verklärung des Materiellen in durchaus biblischem Sinn. Noch der urkatholische Atheist James Joyce – auf die Bemerkung einer Dame, sie habe gehört, er sei Protestant geworden, entgegnete er: „Madam, ich habe meinen Glauben verloren, aber nicht meinen Verstand“ – erklärte seine Methode der Einbeziehung trivialer Textpassagen in sein Werk mit dem Vorbild der katholischen Liturgie: So wie in der Messe durch die Wandlungsworte das Brot in den Leib des Herrn gewandelt werde, verwandele er den Zeitungsartikel, den Lexikoneintrag, die Zeugenaussage durch Einfügung in seinen Prosazusammenhang in Kunst – und zwar endgültig –, das eingepflanzte Textfundstück könne diesen Charakter nun nicht mehr verlieren, obwohl es nicht redigiert oder umgestaltet worden sei; es sei nun in seinem realen Charakter für immer verwandelt. Da die scholastischen Erklärungsversuche der Transsubstantion, so sehr sie als orthodox anerkannt sind, keineswegs die einzig mögliche Definition der Wandlung enthalten, vielmehr immer neue Erklärungsversuche erlaubt sind, solange sie zum selben Ergebnis führen: nämlich der Annahme einer wesenhaften, endgültigen Substanzveränderung, sollte der Joyceʼsche Einfall unbedingt auf seine theologische Haltbarkeit hin untersucht werden. Aber gleichgültig, was dabei herauskäme: Es bliebe in beispielhafter Weise sichtbar, wie stark die katholische Liturgie die schöpferische Phantasie von Künstlern beeinflusst, deren Kindheit sie geformt hat. Um eine andere Stimme zu nennen, die aus katholischer Erziehung und Kultur hervorgegangen ist: der Agnostiker Marcel Proust, der in seiner Kunst gleichwohl katholisch denkt und sein unübertroffenes Erzählwerk ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘ an einem Gedanken ausgerichtet hat, der katholischer Mess-Theologie entstammt. Sein Erinnerungskult wird gefeiert mit einem kleinen nach dem Vorbild

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der Jakobsmuschel geformten Gebäck, der Madeleine, die in Lindenblütentee getaucht wird, der Krankenspeise seiner Kindheit, die, als er sie als Erwachsener wieder zu sich nimmt, die Vergangenheit in einer Fülle und Überdeutlichkeit vergegenwärtigt, die sie, als er sie durchlebte, nicht besaß. Ganz unzweifelhaft steht hier die Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers durch das Mahl von Brot und Wein im Hintergrund der Proustʼschen Schlüsselszene: die Erzeugung vergangener Gegenwart durch den Ritus von Trank und Speise, die Aufhebung der Zeit durch eine wirklichkeitssetzende Erinnerung – und Anamnesis heißt eben auch das Herzstück der katholischen und der orthodoxen Liturgie –, Erinnerung nicht als nostalgischer Traum, sondern als schockhafte Überwältigung durch eine wiederaufsteigende Vergangenheit, die wirklicher ist als die Gegenwart. So hat auch Proust einen bedeutenden Beitrag zu einer aktualisierten MessTheologie geleistet, der seine theologische Auswertung gewiss nicht vergeblich erwartet. Für die genannten und knapp skizzierten beiden Fälle ist von Bedeutung, dass es sich nicht um Schriftsteller handelt, die den christlichen Glauben, katholische Theologie, katholische Probleme im engeren Sinne in ihren Werken behandeln, wie das eine im frühen 20. Jahrhundert gleichzeitig entstehende ‚katholische Literatur‘ getan hat, Schriftsteller etwa, die aus der Sphäre des renouveau catholique stammten, auch England und Deutschland kennt solche Autoren. Das Phänomen einer ‚katholischen Literatur‘ in diesem engeren, durch die theologische Thematik gekennzeichneten Sinn gehört in die neuere Zeit, in der der bewusste kulturelle Einfluss der Kirche schwand, die Kirche sich politisch, philosophisch und wissenschaftlich angegriffen sah und wie wehrlos in die Ecke gedrückt fand. Diese Literatur hat apologetischen Charakter; sie versuchte zu leisten, was den Priestern nicht mehr zu gelingen schien: den Glauben aus seiner Verbürgerlichung zu lösen, ihn wieder kühn und abenteuerlich erscheinen zu lassen, ihn aus neuscholastischen Panzern zu befreien, ein nah beim Existentialismus angesiedeltes antigesellschaftliches heroisches Einzelgängertum im Zeichen der Religion zu schildern. Obwohl Proust und Joyce sich während ihres Schriftstellerlebens gleichsam außerhalb des Tempels aufgehalten haben – der eine mit liebevoll verehrendem Blick, der andere mit blasphemischem Spott – gehören sie zum älteren, ich möchte sagen: zum eigentlichen Typus des katholischen Schriftstellers. Zum ersten, weil sie beide Romane geschrieben haben, die das katholische Weltbild des Mittelalters bestätigen und zu neuartigem Ausdruck gelangen lassen: die Auffassung der Welt als großem Welttheater, als Spiegel der himmlischen Ordnung mit ihren Rängen von Thronen und Herrschaften, Mächten und Gewalten, Engeln und Erzengeln, die sich in ihrem irdischen Pendant beschreiben lassen – eine Literatur weniger des Einzelhelden und seiner seelischen Entwick-

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lung als vielmehr eines großen sozialen Konzerts, in dem der Einzelne seinen zugewiesenen Platz einnimmt und in dessen Rhythmus er agiert. Zum andern zeigt sich diese alte Katholizität in einer womöglich überraschenden Hinsicht: nämlich gerade in der Distanz zur Kirche und ihrem Glauben. Die katholische Kirche ist hierarchisch aufgebaut, sie wird von Priestern regiert, ihre Lehre wird vom päpstlichen Lehramt überwacht und steht nicht zur Disposition Einzelner, und seien sie noch so begnadet – das erweist sich etwa bei der misstrauischen Behandlung der meisten Mystiker, die erst deutlich nach ihrem Tod und nach gründlicher Prüfung der Verehrung des gläubigen Volkes empfohlen werden. In theologischen Zonen haben Laien nicht herumzuexperimentieren. Aber das hat zur Folge, dass der profane Bereich den Laien unbeschränkt freigegeben ist, hier darf der Künstler frei von theologischer Aufgabenstellung walten. Deshalb ist der Schelmenroman die genuin katholische Kunstform, deshalb haben katholische Künstler aller Jahrhunderte eine Nähe zum Grotesken, zum Absurden, zum Satirischen gesucht und gefunden, deshalb ist die Komödie die katholische Theaterform und eben nicht das ‚Bühnenweihefestspiel‘ – wozu Marcel Proust bemerkt: „Man kann sagen, daß eine Wagner-Aufführung in Bayreuth wenig ist neben der Zelebration eines Hochamtes in der Kathedrale von Chartres.“ Für den katholischen Künstler ist das große, das Überkunstwerk immer schon da, es muss nicht mehr geschaffen werden, kein Dante und kein Cervantes vermögen ihm noch etwas hinzuzufügen. Der Ritus ist das große Feuer, von dem die katholische Kultur ihr wärmendes Leben empfängt. Der Ritus ist ohnehin da, in ihm vereinigen sich Kultur und Natur, er ist niemals persönliche Leistung. Dies Überkunstwerk bedarf seinerseits nicht der Kunst – es adelt vielmehr die Künste, die zu seinem Schmuck hinzutreten, kommt aber auch ohne sie aus. Der Ritus bedarf nicht der religiösen Genies und nicht der Propheten; er wird zelebriert von einer Priesterhierarchie, aber er hat eine demokratische Seite: Er ist für alle da, nicht nur für Eingeweihte und Wissende, und seine Priester sind keine Brahmanen, Mitglieder einer höheren edleren Kaste, sondern ohne Verdienste in ihr dienendes Amt berufen. Es schien mir notwendig, diese Eigentümlichkeiten der katholischen Kultur, in die als Kind selbstverständlich hineinzuwachsen den von Doderer festgestellten „uneinholbaren Vorsprung“ verschaffen soll, in aller Skizzenhaftigkeit zu betrachten, bevor ich mich dem Verhältnis Stefan Georges zur Religion zuwende. Wenn es diesen Dodererʼschen Vorsprung wirklich gibt, dann müsste George ihn gehabt haben. Seine katholische Abstammung ist lupenrein. In seinen Adern floss französisches Blut, aber eben nicht hugenottisches, wie in Deutschland gerade in Hessen sonst üblich, sondern katholisches. Er entstammt dem römisch kolonisierten Rheinland; dem protestantischen Preußen-Deutschland stand er mehr als skeptisch gegenüber. Das Bistum Mainz, zu dem Bingen

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gehört, ist eines der ehrwürdigsten in Deutschland; der Mainzer Kurfürst war Kanzler des Reiches. Die Traditionen von Mainz waren mit dem Heiligen Römischen Reich eng verbunden, hier lebte, wenn auch vielleicht nur noch schattenhaft, die Erinnerung an ein Deutschland unter römischem Vorzeichen fort, und George hat diese Traditionen eingesogen und sich wirklich zueigen gemacht. In der Kleinstadt Bingen war der Alltag vom Kirchenjahr mit seinen Festen und Zeremonien bestimmt; die katholische Kultur, die ich nur bis auf den Ritus geschrumpft erlebt habe, bildete seine Atemluft – vielleicht nicht nur im geistig fördernden Sinne: Die größte Gefahr einer zur Kultur gewordenen Ritenwelt ist ohne Zweifel, dass aus dem Umgang mit den himmlischen Dingen alltägliche Routine wird, dass der Schrecken des Heiligen domestiziert erscheint, dass der Sakral-Materialismus der Sakramente in einen Materialismus ohne Sakralität umschlägt. Einer der schönsten Prosatexte Georges ist der berühmte ‚Kindliche Kalender‘.¹ Ich habe ihn immer mit Gefühlen gelesen, die dem Neid ähnlich sahen, mit Groll auf eine zeitgenössische Kirche, die mir diese Eindrücke verwehrt hatte. Hier wird die Verschmelzung der Jahreszeiten mit der Liturgie noch einmal gefeiert; Sommer und Winter, Licht und Dunkelheit werden als kosmische Liturgie erfahren, in die die Riten der Religion eigentlich nur noch einstimmen. Der Karneval ist das entgrenzende dämonische Fest, das scharf von der Fastenzeit absticht. Die Tenebrae, die nächtlichen Feiern der Karwoche, bereiten das Osterfeuer vor. Die Körperlichkeit des liturgischen Betens wird in den verschiedenen Handhaltungen für Dank- und Bittgebet betont. Prozessionen ziehen durch die Stadt nach dem Bergheiligtum zu; die Kinder trugen dabei „pilgerkutten […] mit aufgenähten muscheln und führten in der hand flasche und stab“. Nur zwei Sätze unterbrechen die sonst so lückenlose Harmonie: Dort hörten wir einmal wie die schnitter ein lied vom Wote sangen und konnten uns unser grauen und unsere verwunderung nicht erklären. Erst viel später fiel uns der grund ein: dass ein seit jahrtausenden entthronter Gott noch in erinnerung sein sollte während ein heutiger schon in vergessenheit geriet.²

Es ist der wichtigste Satz im ‚Kindlichen Kalender‘ – dass dem Autor „erst viel später“ der Grund einfiel, warum er als Kind bei diesem Lied Grauen empfunden haben will, verstärkt mein Misstrauen gegenüber der Authentizität dieser Erinnerung. Bei der Behauptung, dass „die schnitter“ vom „Wote“ gesungen hätten, muss ich an eine eigene Erinnerung denken, das Gespräch mit einer uralten 1 Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. XVII, S. 14–16. Im Folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. 2 Ebd., S. 15.

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Bauersfrau aus dem Westerwald, die mir vom Dorfleben vor dem Ersten Weltkrieg erzählte, von den Spinnstuben und „den Burschen, die abends unter der Linde die uralten Lieder gesungen“ hätten, die sich auf meine drängenden Fragen, ob sie sich denn nicht wenigstens an ein einziges dieser „uralten Lieder“ erinnern könnte, den Kopf zermarterte, um schließlich mit feiner Greisenstimme anzustimmen: „Ham Se nicht den kleinen Cohn gesehn …“ Doch, doch, das seien die schönen uralten Lieder gewesen. Man verzeihe mir den traurigen Hohn dieser Anekdote. Er ist das Ergebnis einer gewissen Gereiztheit; hier ist der Punkt berührt, an dem ich George nicht mehr zu folgen vermag. Ich nehme ihm den „Wote“-Gesang der „schnitter“ nicht ab – schon gar nicht ein geheimes Grauen, das er ausgelöst haben soll, denn gelernte Katholiken fühlen sich durch fortdauernde heidnische Residuen nur noch bestärkt. Das lange vor Nietzsche schon beliebte Ausspielen von Heidentum gegen Christentum ist ihnen fremd, katholisches Christentum betrachtet sich als legitimen Erben des Heidentums; die „schnitter“ auf den Feldern um Bingen haben in Wahrheit wohl nicht von „Wote“ gesungen, aber wenn sie es getan hätten, dann nur deswegen, weil sie Christen waren – und sollte der Christengott tatsächlich in Vergessenheit fallen, was angesichts allein des außereuropäischen Christentums vielleicht doch noch nicht unmittelbar bevorsteht, dann wird vorher der „Wote“ der Schnitter jedenfalls endgültig untergegangen sein. Es haftet dem ‚Kindlichen Kalender‘ eben doch eine Abschiedsstimmung an – um es mit dem Apostel Paulus zu sagen: „Als ich ein Knabe war, sprach ich wie ein Knabe und dachte ich wie ein Knabe, als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was knabenhaft an mir war.“ (1 Kor 13, 11) Es war eben ein kindlicher Kalender, obwohl dessen liturgischer Teil ebenso gut von einem Erwachsenen hätte durchlebt werden können. Nicht von George freilich, der wie ungezählte seiner Zeitgenossen den Gott der Christen „in Vergessenheit“ geraten sah – bemerkenswert die Wortwahl –, Nietzsche oder Marx hätten den Christengott nicht als vergessen erlebt; die AntiTheisten vom Schlage eines Proudhon hätten zum Sturz der Idole aufgerufen, die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts hätten erklärt, dass es etwas, was da hätte vergessen werden können, überhaupt nie gegeben habe, die Idealisten hätten Gott in das Bewusstsein des Einzelnen verwiesen, wo er getrost und je nachdem leuchten oder verblassen mochte, die protestantische Bibelkritik hätte darauf hingewiesen, dass es ein großer folgenschwerer Irrtum der Kirchengeschichte gewesen sei, Jesus von Nazareth jemals als Gott definiert zu haben. Dies war die Luft des 19. Jahrhunderts, die George atmete und die George nährte. Er in seiner stolzen Einsamkeit und Ausnahmehaftigkeit unterschied sich hier in nichts von der Mehrzahl der Durchschnittsintellektuellen seiner Zeit. Der Unterschied bestand vielleicht nur darin, dass er sich in solchen Einsichten, die für ihn so unabweisbar waren wie für die meisten, nicht wohlfühlte. Das materialis-

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tische Weltbild genügte ihm nicht, die Leugnung des Geistes war ihm unheimlich, die wissenschaftliche Entmythologisierung erschien ihm platt, der kommerzielle Utilitarismus als Grundlage der menschlichen Gesellschaft unzureichend. Die durch die industrielle Revolution geschaffenen Fakten, der durch sie notwendig gewordene Weg in die Massendemokratie gefährdeten in seinen Augen die menschliche Existenz – es ist mir übrigens nicht recht klar, ob ihm die gleichsam geologische Gewalt der Industrie- und Geldwirtschaft, ihre die gesamte überlieferte Weltordnung zermahlende Kraft wirklich in ihrer Irreversibilität aufgegangen ist, oder ob sein Ekel vor den Massen ihn hier einfach zum Wegsehen zwang. Aber alle diese Ahnungen und Einsichten und starken Empfindungen konnten ihn doch nicht zurück zu der Kirche führen, die er im ‚Kindlichen Kalender‘ noch einmal hatte Revue passieren lassen. Statt nach Gründen für diese Verweigerung zu suchen, genügt es, sich den erwachsenen, nicht den knabenhaften George in einer Messe vorzustellen: George in einer gläubigen Menge vor dem Altarsakrament auf den Knien liegend, George im Beichtstuhl, George unter vielen bei der Fronleichnamsprozession, George sich bekreuzigend, George einem dicken, literarisch völlig ungebildeten Bischof den Ring küssend, George beim Tischgebet – das alles sind in ihrer Unmöglichkeit geradezu erheiternde Vorstellungen, abwegiger als George auf dem Fußballplatz oder in der Talkshow. George im Gespräch mit Rüdiger Safranski ist ein wahrscheinlicheres Bild als George in Lourdes in der langen Reihe mit kranken alten Männern auf die Eintauchung in die heilige Quelle wartend. Es ist mit solchen Unmöglichkeiten weit mehr über ihn ausgesagt, als es eine theoretische Analyse seiner Vorstellungen vermöchte. Und doch gab es bei ihm die beunruhigende Empfindung, dass Goethe recht hatte, als er in den ‚Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans‘, einem von George leider nicht genügend geschätzten Werk, dem größten Gedichtzyklus der Deutschen, schrieb: Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens. Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube, in welcher Form es sei, einen kümmerlichen Sieg behauptet, und wenn sie auch einen Augenblick mit einem Scheineglanz prahlen sollten, verschwinden vor der Nachwelt, weil sich niemand gern mit Erkenntnis des Unfruchtbaren abquälen mag.³

Hier tat sich ein furchtbarer Verdacht auf: dass das eigene Werk vergeblich sein könnte, dass es mitsamt allen anderen Hervorbringungen seiner Zeit (jener

3 Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16]. Bd. 3, Berlin 1960ff., S. 256.

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„Epoche […] , in welche[r] der Unglaube […] einen kümmerlichen Sieg behauptet“) im Orkus des Vergessens verschwinden würde, dass es unfruchtbar sei und dass in Zukunft – und es war die Zukunft, die George im Auge hatte – sich niemand mit der Erkenntnis solcher unfruchtbaren Kunst abgeben würde. Er glaubte nicht, aber er sah gerade für sich als Dichter die Notwendigkeit zu glauben. Er gehörte gewiss nicht zu denen, über die Nietzsche, mit einem gern überhörten klagenden Unterton, schon geradezu einem Vorwurf, sagte, sie hätten Gott getötet, aber ER war eben „vergessen“, schlimmer noch als tot – der tote Gott auf den Knien seiner jungfräulichen Mutter war immerhin eines der bewegendsten und wirkungsvollsten Andachtsbilder. Kann man glauben wollen? So unterschiedliche Geister wie Thomas von Aquin und Pascal versichern uns, dass sei möglich, aber auch ohne ihnen widersprechen zu wollen, ist doch die Skepsis gegenüber einem solchen Vorhaben schwer zu besiegen. Die bereits erwähnten Schriftsteller Joyce und Proust zogen ihre eigenen Schlüsse aus ihrer Unmöglichkeit zu glauben. Joyce spottete und verhöhnte und lästerte nach Kräften, aber er schuf sein Werk ganz und gar aus dem Leib der alten Kirche, so wie die Dörfler am Meer einst gestrandete Walfische ausschlachteten, um mit deren Fett ihre Hütten zu beleuchten. Proust hielt seinen verzweifelten Blick auf die alten Kathedralen Frankreichs gerichtet, die ihm die Form für sein Riesenwerk vorgaben. George aber wählte einen Weg, der ihm als katholisch geprägtem Menschen eigentlich hätte versperrt sein müssen: den Weg in die Privatreligion. Er ist wahrlich nicht der einzige gewesen, der in seiner Zeit diesen Weg beschritt. Die Privatreligion schien einer großen Zahl von bürgerlichen Denkern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der rettende Ausweg aus dem Ödland vulgarisierter Aufklärung und naiver Wissenschaftlichkeit; zugleich sicherte die Privatreligion den Überlegenheitsgestus, das Superioritätsgefühl über die alte törichte Religion, mit der die religionsfeindlichen Strömungen ihre Anhänger so wunderbar beschenkte. Man war klüger als die primitiven Materialisten, aber auch klüger als die Priester des alten Glaubens. Der Sekten ist in dieser Zeit kein Ende. Von Auguste Comtes soziologischer Kirche, über die Nachkommen der Saint-Simonisten, die verschiedenen Freimaurerdenominationen, die Tolstoianer, die Theosophen der Madame Blavatsky, die Anthroposophen des Rudolf Steiner, Ramakrishna und Sri Aurobindo, die Psychoanalyse, soweit sie nicht Heilmethode, sondern Welterklärung ist, bis hin zu den groteskesten Kulten im Dunstkreis des Monte Verità, dem Hermaphroditen-Tempel des Elisar von Kupfer und dem Ostara-Orden des Jörg Lanz von Liebenfels. Eine schmeichelhafte Gesellschaft ist das nicht – George wäre empört gewesen, ihn in solchen Zusammenhängen zu nennen, wie auch alle anderen dieser Sekten sich leidenschaftlich den Vergleich mit den übrigen Sekten verbeten hätten. Nein, sie waren alle unvergleich-

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lich, hatten allein die Wahrheit entdeckt, besaßen das Geheimnis, das sie den Mitverschworenen überlieferten, dem kleinen Kreis, dem Orden, dem „Staat“, den gnostischen Auserwählten, aber von außen betrachtet gehören sie zusammen, unfähig, Wissenschaftspositivisten zu bleiben, und unfähig, zur alten Kirche zurückzukehren, in beängstigendem Schwebezustand – es kommen mir unversehens wieder Joyce und seine freche Bemerkung in den Sinn: Es ist leider möglich, nicht nur seinen Glauben, sondern dazu noch seinen Verstand zu verlieren. Es war George klar: Um als Dichter vor dem Maßstab der Jahrtausende bestehen zu können, musste er Anteil haben am Sehertum der großen Dichter der Vergangenheit, an ihrem unmittelbaren Umgang mit Musen und Göttern. Sophokles empfing den Besuch des Gottes Asklepios in seinem Haus, Dante erblickte am Ende der Wanderung durch Hölle, Purgatorium und Paradies in Gestalt der ihm sichtbar werdenden mathematisch unmöglichen Quadratur des Kreises den Schöpfergott. Gott zu sehen, einen Gott zu sehen, dies würde mit einem Schlag allen Zweifel an der Dauer und Bedeutung des eigenen Werks beseitigen – die Dekadenz, das war die Epoche, in der die Götter sich verbargen. Mit dieser Einsicht waren die Notwendigkeit und die Gewissheit verbunden, selber einen Gott zu sehen – nicht den der Menge, „deren Zahl schon Frevel“ ist, zugedachten Christengott in Gestalt der erhobenen Hostie in der Messe, sondern einen nur für ihn bestimmten Spezialgott. Reichte sein Wille auch nicht aus, um gegen den Glaubensverlust Katholik zu bleiben, so triumphierte dieser Wille doch, indem er die Erscheinung Maximins herbeizwang. Dessen Auffindung gestaltete sich nach dem Vorbild der Begegnung von Dante und Beatrice – die Dante zwar in den siebten Himmel erhob, aber wahrlich nicht vergötterte – und beanspruchte einen noch höheren Rang, denn Beatrice wies Dante seinen Platz in der Schöpfung zu, während Maximin weder Sünde noch Erlösung kannte, sondern nur die wortlose Wonne mit seinem Begünstigten. George habe keinen Kult gründen wollen, behauptet sein Schüler Ernst Morwitz. In der ‚Vorrede zu Maximin‘⁴ liest es sich freilich anders: Wir können nun gierig nach leidenschaftlichen verehrungen in unsren weiheräumen seine säule aufstellen uns vor ihm niederwerfen und ihm huldigen woran die menschliche scheu uns gehindert hatte als er noch unter uns war.⁵

Alles nur Literatur, elende Literatur? möchte man entrüstet hinzufügen. Das hieße wohl, die Bedeutung, die George seinen eigenen Setzungen, seinem dezisionistischen Akt beimaß, zu unterschätzen. Ich weiß nicht, ob im engsten Kreis 4 SW XVII (Anm. 1), S. 62–66. 5 Ebd., S. 66.

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jemals Weihrauchkörnchen zu Ehren Maximins verbrannt worden sind, wie es Kaiser Hadrian für seinen vergötterten Favoriten Antinoos anordnete, und ob das nicht vielleicht immer noch da und dort geschieht, aber es wäre gewiss falsch, in dem latreutischen Treiben um das Gedächtnis des jungen Kronbergers nur ein symbolisches Spiel, eine Maskerade wie jene Münchner Dichterumzüge zu vermuten, deren Photographien wir besitzen. Wir wissen nicht, ob George für seinen Gott gestorben wäre, leben wollte er für ihn. Und hier bewährte sich dann doch seine außerordentliche Intelligenz: was die Maximin-Religion vor den anderen gleichzeitigen Sekten auszeichnete, und was ihren verführerischen Reiz ausmachte, war ihre Botschaftslosigkeit. Auch als Prophet seines Gottes wahrte George die Disziplin, die er sich als Dichter auferlegt hatte: „In der dichtung […] ist jeder der noch von der sucht ergriffen ist etwas ‚sagen‘ etwas wirken zu wollen nicht einmal wert in den vorhof der kunst einzutreten.“⁶ Und so ist Maximin ein stummer Gott, das macht ihn inkontestabel. Er verkündet kein Himmelreich, er spricht nicht von Moral und Gericht, aber auch nicht vom Gegenteil, er erklärt nicht Anfang und Ende der Welt, und sein Prophet George interpretiert dieses Schweigen nicht, er wird nicht Maximins Theologe, sondern ihm genügt es, in dieser Gott-Erkenntnis die eigene Unruhe und den eigenen Zweifel für immer besiegt zu sehen. Nur ein unfertiger junger Mensch, kaum der Kindheit entwachsen, konnte diesem Anspruch genügen, noch besser geeignet wäre wohl nur ein Tier gewesen in seinem reflexionslos anmutigen puren Sein. Wäre es doch nur bei solch einem durch einen gewalttätigen Willensakt herbeigeführten mystischen Erlebnis geblieben! Stattdessen konnte George der Versuchung nicht widerstehen, aus Jesus Christus eine mythische Figur und als solche eine Art Maximin-Vorläufer zu machen, einen ‚Jesus zu Pferde‘ statt auf dem biblischen Esel, einen Meister, der zu seinen Jüngern in einem ähnlichen Verhältnis aus Flirt und Unterwerfungsforderung steht, wie er, der sich selbst ‚Meister‘ nennen ließ, zu den Mitgliedern seines Kreises. ‚Jesus hoch zu Roß‘ – dieses wahrhaft blasphemische Bild, das er wagte zu entwerfen, es heißt nichts anderes, als dass der moderne Künstler, er, George, als dieser Künstler schlechthin, an nichts zu glauben bereit war, als was er nicht selbst geschaffen hatte. Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, dieses als Ring auch in seinem Kreis beliebte Symbol, ist es nicht vor allem ein Bild der Unfruchtbarkeit? So gelang dem Hohepriester der Maximin-Religion nicht der Ausbruch aus dem Gefängnis des Subjektivismus der Moderne, und auch da, wo er anbeten wollte, wurde er immer nur wieder auf sich selbst verwiesen. Es führt kein Weg an der Einsicht vorbei: Der „uneinholbare Vorsprung“, den die katholische Erziehung Stefan George gewährt hatte, war schließlich aufgegeben worden – der Dichter 6 Ebd., S. 68.

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hatte sich, weit entfernt von wirklicher Avantgarde, was seine Religion anging, dem Haupttrupp seiner intellektuellen Zeitgenossen angeschlossen, darüber vermögen gewisse exotische und schrille äußere Aspekte seines Glaubensgestus nicht hinwegzutäuschen. Welche Bedeutung dies für seine Kunst hatte, das wäre einer eigenen Betrachtung wert. Sie müsste untersuchen, wie weit sein Werk im Bann seiner Vorstellungen stand und wo es ihm in den Gedichten gelang, in die Regionen des „Inkommensurablen“ vorzustoßen, um ein Wort Goethes zu verwenden – das heißt nichts anderes als im Gedicht mehr und anderes zu sagen als das, was er dachte. Nur in solchem Selbstwiderspruch wäre eine Hoffnung auf die Zukunftsträchtigkeit seines Werks begründet.

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