Stefan George – Ernst Morwitz: Briefwechsel (1905-1933) 9783110617740, 9783110614961

The correspondence between Stefan George and Ernst Morwitz reveals new facets of the poet and his social circle, disclos

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German Pages 634 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Zur Edition
Verwendete Zeichen
Danksagung
Briefwechsel
Briefwechsel 1905- 1912
Briefwechsel 1913 - 1923
Briefwechsel 1924 - 1933
Textanhang
Nachwort
Abbildungen
Abbildungsverzeichnis
Anhang. Siglen- und Kurztitelverzeichnis
Personenregister
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Stefan George – Ernst Morwitz: Briefwechsel (1905-1933)
 9783110617740, 9783110614961

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Stefan George – Ernst Morwitz Briefwechsel (1905–1933)

Stefan George – Ernst Morwitz Briefwechsel (1905–1933) Herausgegeben von Ute Oelmann und Carola Groppe im Auftrag der Stefan George Stiftung

De Gruyter

ISBN 978-3-11-061496-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061774-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061769-6 Library of Congress Control Number: 2019950672 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Porträts Stefan George (um 1914) und Ernst Morwitz (1920er Jahre) / Stefan George Archiv Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Verwendete Zeichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Briefwechsel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Textanhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 Siglen- und Kurztitelverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621

Einleitung Stefan George und Ernst Morwitz: Eine Beziehung im George-Kreis Der Briefwechsel zwischen Stefan George (1868–1933) und Ernst Morwitz (1887–1971) schließt neue Facetten in der Geschichte Georges und seines Kreises auf. Sichtbar wird die Beziehung zweier Freunde und später Liebender, die sich in langsamer Annäherung durch Gespräche über Lyrik, über Fragen der Lebensführung und Berufswahl, über Kreisgeschehnisse, Politik und Pädagogik vollzieht und sich zu einer ebenbürtigen Freundschaft entfaltet. Erkennbar wird neben dem Dichter eine zweite starke Persönlichkeit, Ernst Morwitz, dessen Verehrung nicht wie bei anderen Kreismitgliedern in eine kritiklos verklärende Jüngerschaft mündete. Vielmehr begegneten sich George und Morwitz zeitlebens als Gleichrangige. Als ihre Freundschaft in der Mitte der 1920er Jahre durch George selbst und durch neue, jüngere Kreismitglieder umformuliert wurde in eine distanziertere ‚Staats-Beziehung‘ mit festgelegten Rollen und Aufgabenfeldern, löste sich Morwitz dennoch nicht aus seiner Verbundenheit mit George, sondern stand ihm mit seinen juristischen Kenntnissen und seiner Loyalität bis an dessen Lebensende zur Seite. Für Ernst Morwitz blieben Person und Werk Stefan Georges zeit seines Lebens Sinn stiftend. Dies endete erst mit seinem eigenen Tod im Jahr 1971 im schweizerischen Muralto, in derselben Klinik, in der George 38 Jahre zuvor, am 4. Dezember 1933, gestorben war. Für George andererseits hatte sich mit der Beziehung zu Ernst Morwitz zunächst eine Freundschaft, später eine Liebesbeziehung zu einem jungen Mann eröffnet, der als Gymnasiast, danach als junger Jurist und Richter, für ihn anfänglich eine dichterische Hoffnung dargestellt hatte und der schließlich vor dem Ersten Weltkrieg selbstständig eine neue Rolle und eine neue Struktur im entstehenden George-Kreis entwickelte, welche über dessen bisheriges Selbstverständnis als Dichterkreis und Wissenschaftlergemeinschaft hinausführten. Es war Ernst Morwitz, welcher die Bildung und Erziehung von männlichen Jugendlichen, vereinzelt auch Kindern, als dritte Ebene der ‚Sendung‘ Georges und des Kreises definierte und dies als Erster im Kreis in der Rolle eines Erziehers für die zur Nachhttps://doi.org/10.1515/9783110617740-001

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folge ausersehene ‚Enkel-Generation‘ praktisch umsetzte. Ernst Morwitz trug dadurch ganz wesentlich, wenn auch als Person in der Öffentlichkeit sowohl zu seinen Lebzeiten als auch danach kaum bekannt, zu einer erweiterten Selbstbeschreibung und einer veränderten öffentlichen Wahrnehmung des George-Kreises als einer Gemeinschaft bei, in welcher es neben einer Erneuerung der Dichtung und der Geisteswissenschaften insbesondere um eine Veränderung der Bildungsidee und -praxis und um eine neue Erziehung ging. Mit den programmatisch eng verflochtenen Reformkonzepten für Dichtung, Wissenschaft, Erziehung und Bildung konstituierte sich der George-Kreis vor dem Ersten Weltkrieg als eine Gemeinschaft, die gezielt um die bürgerliche und adlige Jugend an den höheren Schulen und insbesondere an den Universitäten des Deutschen Reiches zu werben begann. Aus einer nach gemeinsamen ästhetischen Prinzipien dichtenden und arbeitenden Künstlergemeinschaft, gruppiert um die von Stefan George begründete Zeitschrift Blätter für die Kunst, hatte sich  – beginnend mit der Bekanntschaft zwischen George und dem Germanistik-Studenten Friedrich Gundolf 1899 – schon kurz nach der Jahrhundertwende ein Kreis junger Studenten und Dozenten um George versammelt, deren Leben – und dies wurde entscheidend für die weitere Entwicklung des Kreises  – nicht mehr allein durch die Dichtung bestimmt wurde, sondern auch durch Wissenschaft und Universität. Bildung durch Dichtung und Geisteswissenschaft war in diesem Zusammenhang nicht zuletzt ein spezifisch deutsches, um die Jahrhundertwende 1800 entstandenes Modell, in dessen Tradition sich der George-Kreis bewusst stellte. Der vorliegende Briefwechsel zwischen Ernst Morwitz und Stefan George schließt die Kreisgeschichte als Bildungs- und Erziehungsgeschichte auf und eröffnet von dort aus neue Aspekte der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte des George-Kreises und der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in Deutschland. Die Geschichte von Georges Werk und Wirkung und die Geschichte seines Kreises sind aber auch Teil der deutschen Historie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts; sie gehören nicht nur mit den Lebensdaten Georges und der Kreismitglieder, sondern auch mit ihren Konzepten und Projekten, bis hin zum Kreis als Sozialgestalt, nicht mehr in das 19. Jahrhundert. Die Lebensgeschichten der Kreismitglieder reichen weit in das zweite Drittel des 20.  Jahrhunderts hinein: in den Aufstieg des Nationalsozialismus, in Verfolgung und Terror, in den Zweiten Weltkrieg und in die Geschichte der 1950er und 1960er Jahre in Deutschland und in der anglo-amerikanischen Welt. Dieser Teil der Kreisgeschichte umfasst nach 1933 auch die Flucht von Kreismitgliedern mit jüdischer Herkunft wie Ernst Morwitz, welche der Verfolgung und den Konzentrationslagern entgingen, und ihre Versuche der er-

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innernden Bewahrung und der Neuinterpretation Georges und des Kreises in der Emigration. Aber die Kreisgeschichte nach 1933 umfasst auch die ideologisch überzeugten oder strategischen Anpassungsleistungen derjenigen, die in Deutschland blieben und vom Regime profitierten sowie ihre Rechtfertigungsversuche und Lebensentwürfe mit und ohne Georges Werk nach 1945. Der Kreis war nach 1933 nicht nur an Georges Tod zerbrochen. Vielmehr waren auch die vielschichtigen Interpretationsmöglichkeiten der Kreisüberzeugungen ursächlich sowie die Eigendynamik der verschiedenen Filiationskreise um jeweils ein älteres Kreismitglied und dessen Auslegung der Kreisziele und ‚Sendung‘ Georges. George hatte diese Filiationskreise in den späten 1920er Jahren nur noch mühsam zusammenhalten können. Hinzu traten im Kreis zunehmend männerbündische Tendenzen, die einer ins Politische ausgreifenden Interpretation der Aufgaben und Ziele des Kreises zuarbeiteten, und ein wachsender Antisemitismus, der die Kreismitglieder jüdischer Herkunft oder Glaubens ins Abseits zu stellen begann. Der Tod Georges im Dezember 1933 nahm dem Kreis schließlich seine die Konflikte überdeckende charismatische Mitte. Der Kreis zerfiel in Gruppen und Einzelpersonen und verstreute sich in die ganze Welt, bis in die Vereinigten Staaten und nach Neuseeland. Aus dem Kreis wurde eine Erinnerung, in die sich die früheren Kreismitglieder jeweils auf ihre eigene Weise einschrieben, Gewesenes subjektiv rekonstruierten und sich selbst einen symbolischen Ort schufen, der die meisten von ihnen bis an ihr Lebensende beschäftigen sollte.

Der George-Kreis im deutschen Kaiserreich. Kreisentwicklung und Kreispolitik in der industriellen Moderne Die achtundzwanzig Jahre, welche der vorliegende Briefwechsel zwischen ­Stefan George und Ernst Morwitz, vom Beginn im Jahr 1905 bis zu seinem Ende im Jahr 1933, umfasst, waren gekennzeichnet von fundamentalen ­politischen Systemwechseln und einem Weltkrieg, der von 1914 bis 1918 ­ oten als hochtechnisierter Massenkrieg mit der Konsequenz von Millionen T geführt worden war. George und Morwitz lebten bis zum November 1918 im deutschen Kaiserreich, wobei dessen letzte vier Jahre den Ersten Weltkrieg umfassten, anschließend in der Weimarer Republik und nach dem ­sogenannten ‚Ermächtigungsgesetz‘ (Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933) schließlich in der nationalsozialistischen Diktatur. Diese politischen Umbrüche verbanden sich mit sozialen, ökonomischen und technologischen Umwälzungen, welche die Lebenswelt für alle Bürgerinnen und Bürger nachhaltig veränderten. Den letzten beiden Jahrzehnten

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vor dem Ersten Weltkrieg kommt in diesem Zusammenhang die ­Bedeutung einer der großen europäischen und transkontinentalen Achsen­ zeiten der Neuzeit zu. So existierte im deutschen Kaiserreich ein deutliches Spannungsverhältnis zwischen den ­ersten beiden Jahrzehnten nach der Reichsgründung (1871–1890) und den darauffolgenden Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg (1890–1914). Reichten die ersten beiden Jahrzehnte in ­Ökonomie, Sozialstruktur und Kultur sowie in den Lebensformen der Einwohner weit in das 19. Jahrhundert zurück, so wiesen die beiden Jahrzehnte ab 1890 mit ihrer Veränderung der Gesellschaft durch Technisierung, Industrialisierung und Urbanisierung voraus auf ein beginnendes neues Zeitalter der politischen und sozialen Großorganisationen und der Massenmedien. Bis zum Ersten Weltkrieg hatte sich die Gesellschaft gegenüber der Reichsgründungszeit schließlich grundlegend verändert. Verstädterung und Technisierung der Lebenswelt, Verwissenschaftlichung und Bedeutungszunahme von Experten, rasanter Bevölkerungszuwachs und demographische Frage bei gleichzeitiger Politisierung der Massen, beginnender Wohlfahrtsstaat, Konsumgesellschaft und Massenkultur, steigende soziale und räumliche Mobilität bei gleichzeitiger Pluralisierung und Liberalisierung der Lebensformen und der Lebensideale: Alle diese Tendenzen entstanden in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, prägten sie und unterschieden sie für die Bürgerinnen und Bürger des Kaiserreichs merklich von früheren Jahrzehnten. Diese ‚neue Zeit‘ wurde deshalb auch vehement diskutiert. Ihre Entwicklungen prägten bereits vor der Jahrhundertwende 1900 die Debatten in der deutschen Politik ebenso wie jene in der Wissenschaft oder Kunst.1 Georges erste publizierte Gedichtsammlungen und -zyklen (Hymnen Pilgerfahrten Algabal, Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der S­ agen und Sänge und der Hängenden Gärten und Das Jahr der Seele) datieren kurz vor der Jahrhundertwende (zwischen 1890 und 1897) und erschienen im Selbstverlag unter Zuhilfenahme kleiner Druckereien. Seit 1898 erschienen seine Werke im Verlag von Georg Bondi in Berlin mit geringer Auflage (durchschnittlich rund 1.000–1.500 Exemplare vor dem Ersten Weltkrieg), der seitdem sämtliche Werke Georges und viele des George-Kreises verlegte. Buch­gestaltung und Drucktype bereits der frühen Gedichtbände Georges verwiesen in ihrer Klarheit und in ihrem Verzicht auf jede historische Reminiszenz auch auf eine neue Funktionalität in der industriellen Moderne. Nach einer symbolistischen Zwischenphase mit dem Maler und Buchkünstler 1 Zu den Rahmenbedingungen des Kaiserreichs vgl. im Überblick und mit weiterer Lite­ ra­tur Carola Groppe: Im deutschen Kaiserreich. Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871–1918, Wien/Köln/Weimar 2018, S. 37  ff.

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Melchior Lechter kehrte George zu der extrem reduzierten Buchgestaltung der Anfangszeit zurück und entwickelte eine klare, an seine eigene Handschrift angelehnte Drucktype.2 Die Selbstorganisation und -darstellung als literarische Gegenöffentlichkeit, wie sie die Blätter für die Kunst hatten darstellen wollen, unterstützt durch ein wiedererkennbares Erscheinungsbild, wurden schließlich in der wissenschaftlichen Publikationspraxis des Kreises, beginnend mit dem Druck von Friedrich Gundolfs Habilitationsschrift Shakespeare und der deutsche Geist (1911), fortgesetzt. Die wiedererkennbare Drucktype, das „Blätter“-Signet im Bondi-Verlag, d.  h. die Swastika mit der Umschrift „Blätter für die Kunst“ (die Reihe hieß „Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“), sowie die seit 1921 im Verlag Ferdinand Hirt erscheinenden Bücher mit dem Swastika-Signet und der Umschrift „Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“ verwiesen nicht nur auf eine schreibende Gemeinschaft, d.  h. auf ein wissenschaftliches wie weltanschauliches Kollektiv, sondern auch auf Serialität.3 Damit hatten George und der Kreis Anteil an zentralen Entwicklungen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts: Eine industrielle Moderne mit ihren neuen sachlich-funktionalen Zweckbauten traf auf eine sich von historistischen ­Stilen verabschiedende moderne Ästhetik. Diese Ästhetik war nur teilweise eine kritische und abgrenzende Reaktion auf die rasante lebensweltliche Modernisierung. Vielmehr handelte es sich zuvorderst um eine Entwicklung, welche auf die empfundene Diskrepanz zwischen den ‚symbolischen Handlungen‘ und den technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen innovativ reagierte, als Suche nach neuen symbolischen Ausdrucks- und Lebensformen für eine neue Zeit. Als Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters 1912 im dritten und letzten Jahrbuch für die geistige Bewegung (einem Projekt, an dem sich Ernst Morwitz nicht hatte beteiligen wollen) in ihrer programmatischen Einleitung stellvertretend für den George-Kreis festhielten, dass nach „weiteren fünf2 Vgl. zur Druckgeschichte, Buchgestaltung und zu den Drucktypen Christine Haug mit Wulf D. v. Lucius: Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung, in: Achim Aurnhammer/Wolfgang Braungart/Stefan Breuer/Ute Oelmann (Hrsg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd.  1, Berlin/Boston 2012 (künftig: George-Handbuch), S. 408–491, hier S. 418  ff. sowie S. 467  ff. In der Weimarer Republik wurden für manche Gedichtbände wie Der Stern des Bundes auch 5.000 Exemplare in den Auflagen ­erreicht. Im Vergleich zu Bestsellern wie Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929) waren dies jedoch kleine Auflagen. Hier wurden 1930 bereits über eine Million Exemplare aufgelegt. Vgl. ebd., S. 437  f. 3 Die Mitglieder des George-Kreises und George selbst hätten den Begriff des Kollektivs für sich wohl vehement zurückgewiesen, ebenso jede Idee von Serialität. Solche begrifflichen Zuschreibungen können gleichwohl analytisch hilfreich sein.

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zig jahren fortgesezten fortschritts“ die „lezten reste alter substanzen verschwunden sein“ würden, wenn „durch verkehr, zeitung, schule, fabrik und kaserne die städtisch fortschrittliche verseuchung bis in die fernste weltecke gedrungen und die satanisch verkehrte, die Amerika-welt, die ameisenwelt sich endgültig eingerichtet hat“,4 ignorierten sie ihre eigene Teilnahme an diesem Prozess, indem sie ihn ausschließlich kulturkritisch fokussierten. In Literatur und Wissenschaft, Pädagogik und Lebensreform hatte der George-Kreis mit seinem Willen zur bewussten Neugestaltung Anteil an den in allen gesellschaftlichen Feldern einsetzenden Innovationsprozessen des frühen 20. Jahrhunderts.5 Die Strategie der wissenschaftlichen Werke aus dem George-Kreis, nämlich weitgehend ohne Verweise und Fußnoten zu arbeiten und sich damit vom etablierten Wissenschaftsbetrieb abzuheben, verwiesen die Schriften publikationsstrategisch zudem über die Felder der Wissenschaft und der Kunst hinaus in den Bereich der Erziehung und Bildung und den der Jugendliteratur. Sie konnten von bürgerlichen und adligen Jugendlichen, der wichtigsten Zielgruppe Georges und des Kreises, als Fortsetzung früherer Lektüren populärhistorischer Abenteuerromane und ebensolcher Biographien berühmter Persönlichkeiten gelesen werden; die Weltanschauung des George-Kreises wurde den Leserinnen und Lesern dabei en passant vermittelt. Auch Georges eigene Lebensführung, welche durch fortwährende Reisen und beständig versendete Briefe, Karten und Telegramme an Freunde und Bekannte geprägt war, war Ausdruck des neuen Zeitalters der Technik und des Verkehrs. Im Kaiserreich wurden die Verkehrsnetze rasch und umfassend ausgebaut, also Eisenbahnstrecken, Straßenbahnverbindungen, U-Bahnen und Straßen. 1866 gab es rund 15.000 Eisenbahnkilometer, kurz vor dem Ersten Weltkrieg bereits knapp 64.000. Ohne diesen rasanten Ausbau wäre Georges rastloses Leben, das sich aufteilte zwischen den im Deutschen Reich verstreuten Wohnorten seiner Freunde, bei denen er abwechselnd lebte, und den bis zum Tod seiner Mutter 1913 regelmäßigen Aufenthalten im Elternhaus in Bingen am Rhein, nicht möglich gewesen. George, das zeigen auch die Poststempel der Briefe und Karten, die er an Ernst Morwitz richtete, reiste ständig durch Deutschland und Europa. Nicht wenige seiner Briefe enthalten Hinweise, wohin ihn die nächsten Wochen führen würden, welche

4 Einleitung der Herausgeber, in: Friedrich Gundolf/Friedrich Wolters (Hrsg.): Jahrbuch für die geistige Bewegung, Bd. 3, Berlin 1912, S. III–VIII, hier S. VIII. 5 Zu den verschiedenen Facetten des Verhältnisses von George-Kreis und ästhetisch-sozialer Moderne vgl. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln/Weimar/Wien 1997.

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Reisestationen gerade hinter ihm lagen und wohin die nächsten Brief- und Paketsendungen an ihn zu richten wären. Zeitlebens kannte er sich mit Eisenbahnfahrplänen ausgezeichnet aus. Da der George-Kreis in nicht geringem Maß ein Netzwerk darstellte, das nicht nur durch persönliche Begegnungen und Freundschaften, sondern zum großen Teil durch Briefverkehr existierte,6 war der Kreis in seiner Struktur, die sich um George aufspannte, auch auf eine technisch und organisatorisch effiziente Post angewiesen bzw. hätte ohne die ausgebaute Infrastruktur des deutschen Kaiserreichs gar nicht entstehen können. Die Veränderung und Verdichtung des Nachrichtenwesens zeigte sich nicht nur in der neuen telegraphischen Kommunikation, sondern insbesondere im Briefverkehr, der den George-Kreis so entscheidend bedingte. Er nahm von rund 270 Millionen Briefen kurz vor der Reichsgründung auf über 7 Milliarden 1913 zu. Ohne eine umfassende Technisierung hätte auch die rasche Verstädterung im Kaiserreich nicht erfolgen können. Nach der Jahrhundertwende lebte schon jede und jeder fünfte Deutsche in einer Stadt mit über 100.000 Einwohnern. Berlin, das 1870 knapp unter 800.000 Einwohner zu verzeichnen gehabt hatte, besaß 1914 über zwei Millionen. Berlins ‚Vorstädte‘ wie Charlottenburg, Schöneberg, Neukölln und viele andere, welche erst 1920 im Groß-Berlin-Gesetz eingemeindet wurden, waren schon im Kaiserreich so eng mit Berlin verbunden, dass sie kurz vor dem Ersten Weltkrieg einen städtischen Ballungsraum von fast vier Millionen Einwohnern bildeten, und dies nicht nur strukturell, sondern auch im Bewusstsein. Die ersten Briefe, die Ernst Morwitz an Stefan George richtete, trugen als Ort in der Überschrift Berlin, wo Morwitz lebte, waren aber im eng benachbarten Charlottenburg abgestempelt. Das Wachstumstempo Berlins war im Europa des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts beispiellos. Die neue Millionenstadt hatte sich zudem fundamental verändert: Wie alle Städte im Kaiserreich war Berlin elektrifiziert worden, so dass es ab 1900 elektrisches Licht in den meisten Wohnungen gab; Varietés, Kabaretts, Theater wurden eröffnet, riesige, luxuriöse Hotels entstanden, die ersten großen Kaufhäuser wurden gebaut, es entstanden Infrastrukturen für Freizeitkultur und Nachtleben. Gleichsam kontrapunktisch zu Georges durch den gesamten Briefwechsel mit Ernst Morwitz nachzuverfolgender Reiseexistenz verlief Ernst Morwitz’ eigenes Leben, das er von 1902 bis 1938 fast ausschließlich in Berlin verbrachte. Durch die Veränderung Berlins war sein Leben aber ebenso wie das6 Ute Oelmann hat das Briefnetzwerk des Kreises in seinen vielen Funktionen zusammengestellt und auf seine Bedeutung für die Kreisgestaltung hingewiesen. Vgl. Ute Oelmann: Briefnetzwerke des George-Kreises (Typoskript).

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jenige Georges ein Teil der neuen industriellen und großstädtischen Moderne. Ernst Morwitz war am 13. September 1887 als einziges Kind eines jüdischen Ehepaares, des Kaufmanns Wilhelm Morwitz (1850–1902) und seiner Ehefrau Rosalie, geb. Aaronsohn (1850–1927), in Danzig geboren worden. Aus der ersten Ehe der Mutter besaß er drei Stiefschwestern, Helene (1869–1942) und Käte (1879–1942), welche als Jüdinnen im Nationalsozialismus ermordet wurden; der Vorname der dritten Stiefschwester, verheiratete Heim, und ihr Schicksal sind unbekannt. In Danzig hatte Morwitz zunächst eine private Vorschule und anschließend das städtische Gymnasium bis zur Versetzung in die Untersekunda (Klasse 10) besucht, eine der zwei dortigen altsprachlichen höheren Lehranstalten. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1902 wurde Ernst Morwitz für vier Jahre (1902–1906) bis zur Ablegung des Abiturs Schüler des Kaiserin-Augusta-Gymnasiums in Charlottenburg bei Berlin, ebenfalls einer altsprachlichen Anstalt, und lebte zunächst bei einem Lehrer, vermutlich in einer der damals für auswärtige Schüler häufig eingerichteten Schülerpensionen.7 Nach einiger Zeit zog auch seine Mutter nach Berlin und lebte bis zu ihrem Tod 1927 mit ihrem Sohn zusammen.8 Morwitz und seine Familie waren damit, wie viele andere Kreismitglieder und George selbst auch, Teil einer bis dahin für Europa beispiellosen und auch im 20. Jahrhundert einschließlich der Fluchtmigration am Ende des Zweiten Weltkriegs zahlenmäßig nie wieder erreichten Binnenwanderung, welche im deutschen Kaiserreich stattfand. 1907 lebte etwa die Hälfte der Reichsbevölkerung nicht mehr an ihrem Geburtsort, wobei die Anziehung von den neuen urbanen und industriellen Zentren des Kaiserreichs ausging. Auch George war 1868 in der Provinz, im rhein-hessischen Büdesheim bei Bingen, geboren worden. Nach einer kurzen europäischen Wanderschaft am Ende der 1880er 7 Eine Schülerpension ist eine von einer Privatperson betriebene familienähnliche Einrichtung zur Unterbringung von einem oder mehreren auswärtigen Schülern ohne strukturelle Verbindung zu einer Lehranstalt. Alumnate und Internate dagegen sind Einrichtungen zur Unterbringung größerer Schülerzahlen in enger Verbindung mit einer Schule. Vgl. zu den Schülerpensionen Groppe, Im deutschen Kaiserreich (wie Anm. 1), S. 206  ff. 8 Daten der Angehörigen und familienbiographische Angaben nach autobiographischen Notizen aus Ernst Morwitz’ Briefbuch (vgl. die Ausführungen „Zur Edition“ am Ende dieser Einleitung); Personal-Akten des Reichsjustizministeriums, betreffend: Dr. Ernst Morwitz, Bundesarchiv Berlin, Sign. R 3001/68802 (künftig zitiert als BAB, Sign. R 3001/68802, Personalakte Morwitz) sowie Wolfgang Braungart: Ernst Morwitz, in: Neue Deutsche Biographie 18, 1997, S.  162  f. [Onlinefassung]; URL: http://www. deutsche-biographie.de/pnd118584316.html (Abruf 6. 12. 2018); Harald Kohtz: Ernst Morwitz (1887–1971). Ergänzungen und Berichtigungen, in: Der Westpreuße 19, 1987, S. 10.

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Jahre lebte er, obwohl er lebenslang immer wieder in sein Elternhaus in Bingen am Rhein, wohin seine Familie 1873 gezogen war, zurückkehrte, bis zum Ende des deutschen Kaiserreichs vornehmlich in den deutschen Großstädten München und Berlin, später hauptsächlich an denjenigen deutschen Universitätsorten, an denen die Kreismitglieder forschten und lehrten.

Ernst Morwitz: Eine Berliner Biographie Berlin war Ernst Morwitz’ gewählter Lebensort und seine Lebensform, und das sollte bis zu seiner Emigration 1938 so bleiben. Nach dem Abitur ­begann er 1906 ein juristisches Studium, welches er hauptsächlich an der ­Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin absolvierte. Nach der juristischen Staatsprüfung wurde er im Dezember 1909 in Berlin als Justiz-Referendar vereidigt, absolvierte anschließend den vierjährigen Justizvorbereitungsdienst, promovierte begleitend 1910 an der Juristischen Fakultät der Uni­ versität Heidelberg und wurde im Juli 1914 in Berlin zum Gerichtsassessor ernannt. Da Ernst Morwitz keinen einjährig-freiwilligen, d.  h. einen auf ein Jahr verkürzten Militärdienst abgeleistet hatte (vgl. Br. 76, Br. 114), zu dem er als Abiturient berechtigt gewesen wäre, aber auch nicht zum Wehrdienst eingezogen worden war,9 meldete er sich im Dezember 1914 als freiwilliger Krankenpfleger zum Roten Kreuz, ging mit Beginn des Jahres 1915 ins Feld und kehrte erst im November 1918 nach Berlin zurück. Für die Zeit des Kriegsdiensts war er aus dem Staatsdienst beurlaubt worden. Da Morwitz während der Kriegsteilnahme keine Dienstbezüge erhalten hatte und unmittelbar nach Kriegsende auch keine Stelle als Richter im Staatsdienst offenstand, ließ er sich nach dem Krieg nochmals beurlauben, um für ein halbes Jahr in der Industrie und im Rechtsanwaltsbüro von Berthold Vallentin zu arbeiten, der ebenfalls dem Kreis um Stefan George angehörte. Am 1. April 1921 wurde Morwitz – inzwischen Landrichter am Landgericht III in ­Berlin –

9 Im Kaiserreich wurde jeweils nur etwa die Hälfte jedes wehrpflichtigen Jahrgangs zum Wehrdienst einberufen, die andere Hälfte war infolgedessen nicht militärisch ausgebildet. Den wissenschaftlichen Befähigungsnachweis für das einjährig-freiwillige Militärjahr durften nach der Wehrordnung von 1875 alle gymnasialen Vollanstalten ausstellen. Es genügte die erfolgreiche Versetzung in die Klasse 11 (Obersekunda). Vgl. dazu Groppe, Im deutschen Kaiserreich (wie Anm.1), S. 385  ff. In seiner Personalakte beim Reichsjustizministerium wird Ernst Morwitz als Teil des „Landsturms ersten Aufgebots zum Dienst ohne Waffe“, d.  h. als wehrfähige Person ohne militärische Ausbildung geführt. Vgl. BAB, Sign. R 3001/68802, Personalakte Morwitz (wie Anm. 8), Bl. 1R, Bl. 18.

10 Einleitung

zum Landgerichtsrat ernannt. Der Kammergerichtspräsident hatte ihm anlässlich seiner Bewerbung um die Landgerichtsratsstelle im Januar 1921 ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt: Ernst Morwitz sei „über den Durchschnitt befähigt, im Besitze guter Rechtskenntnisse, fleißig, praktisch und gewissenhaft“; „Gesundheitszustand bedenkenfrei. Führung tadellos“.10 Nachdem Morwitz sein geldliches Vermögen in der Inflation verloren hatte, hatte er sich in den 1920er Jahren mehrfach um monetäre Unterstützung an seine Vorgesetzten wenden müssen, insbesondere um die Pflegekosten und später auch die Beerdigungskosten seiner Mutter zu decken, die am 11. Juni 1927 verstorben war und mit der er bis zu ihrem Tod zusammengelebt hatte. Seit 1927 war Morwitz als Hilfsrichter am preußischen Kammergericht beschäftigt,11 dem Oberlandesgericht Berlin und zugleich dem obersten Gericht des preußischen Staates; im September 1930 wurde er dort zum Kammergerichtsrat ernannt. Als solcher und als Mitglied eines Zivilsenats des Kammergerichts nahm Morwitz eines der höchsten Richterämter im preußischen Staat wahr.12 Anlässlich seiner Beförderung zum Oberlandesgerichtsrat hatte es bereits 1930 in der Beurteilung geheißen: „sehr gut juristisch befähigt, von gründlicher, rechtswissenschaftlicher Durchbildung, rascher und scharfer Auffassung, lebendigstem Interesse für das Wirtschaftsleben und von großer Arbeitskraft und Arbeitsfreudigkeit, die auch bei starkem Geschäftsgang anhält.“13 Auch nach seiner Ernennung zum Kammergerichtsrat im September 1930 wurden Ernst Morwitz vom Senatspräsidenten des Kammergerichts vorzügliche Urteile über seine richterliche Befähigung ausgestellt: „Erhebliche Allgemeinbildung, verbindliche Formen. […] Das juristische

10 Vgl. „Personal- und Befähigungs-Nachweisung betreffend den Landrichter Dr. Ernst Morwitz in Berlin“ vom 7.  Januar 1921, BAB, Sign. R 3001/68802, Personalakte ­Morwitz (wie Anm. 8), Bl. 18, 18R. Befähigungsnachweise und Führungszeugnisse für die jeweils unterstellten Beamten, sogenannte ‚Konduitenlisten‘, wurden regelmäßig für preußische Beamte angefertigt und wie im Falle von Ernst Morwitz vom Kammer­ gerichtspräsidenten dem Justizminsterium zugeleitet. 11 Vgl. „Personal- und Befähigungs-Nachweisung“ vom 17. April 1930 bezüglich der Bewerbung von Morwitz um die Stelle eines Kammergerichtsrats: „Seit 1.  April 1921 Landgerichtsrat beim Landgericht  I Berlin. Hilfsrichter beim Kammergericht vom 12. Mai – 14. Juli 1927, vom 16. September 1927 – 14. Juli 1928, vom 16. September 1928 – 14. Juli 1929 und vom 16. September 1929 ab.“ BAB, Sign. R 3001/68802, Personalakte Morwitz (wie Anm. 8), Bl. 24. 12 Vgl. BAB, Sign. R 3001/68802, Personalakte Morwitz (wie Anm. 8), Bl. 24  ff. 13 „Personal- und Befähigungs-Nachweisung“ vom 17. April 1930, BAB, Sign. R 3001/ 68802, Personalakte Morwitz (wie Anm. 8), Bl. 24R.

Einleitung 11

Wissen und Können liegt erheblich über Durchschnitt.“14 Ungeachtet des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, das von den neuen nationalsozialistischen Machthabern entgegen seinem Titel explizit erlassen wurde, um jüdische und politisch oppositionelle Beamte aus dem Staatsdienst entfernen zu können, erhielt Morwitz 1934 vom Senatspräsidenten weiterhin glänzende Beurteilungen über seine juristischen Kenntnisse und Begabungen und über die Erfüllung seiner Amtspflichten: „Hervorragende richterliche Begabung, ausgezeichnete Rechtskenntnisse; den schwierigsten Sachen gewachsen, schneller und sehr gewissenhafter Arbeiter, angenehmes Zusammenarbeiten.“15 Der Kammergerichtspräsident ergänzte in seiner parallelen Beurteilung allerdings in distanzierender Klarstellung die neue, rassistisch begründete Rechtsstellung des ehemals gleichrangigen deutschen Richters und Staatsbürgers: „Dr.  Morwitz ist Nichtarier und durch Erlass vom 12. Juli 1933 – II c. 2834 – in seiner bisherigen Dienststellung zu belassen. Die ihm gegen Reich und Volk obliegenden Pflichten erfüllt er mit Ernst und ohne Abneigung.“16 Ein weiteres Blatt in Morwitz’ Personal­ akte vom 17.  Dezember 1935 kündigte auf Grund des „§  3 des Reichs­ bürgergesetzes in Verbindung mit §  4 der 1. Verordnung dazu“ seine mit Ablauf des 31.  Dezembers 1935 eintretende Versetzung in den Ruhestand an: „Der Entlassungsbescheid liegt bei.“17 Die Abschriften der Versetzung in den Ruhestand und des Entlassungsbescheids, so vermerkte der Eintrag ungerührt weiter, seien dem zuständigen Gauleiter der NSDAP zuzuleiten sowie innerhalb der Behörde der Kalkulatur und der Personalstatistik, damit die Akten ordnungsgemäß weitergeführt werden konnten.

14 BAB, Sign. R 3001/68802, Personalakte Morwitz (wie Anm.  8), Bl. ohne Zählung, 1932. 15 BAB, Sign. R 3001/68802, Personalakte Morwitz (wie Anm. 8), Bl. ohne Zählung, im Dezember 1934 . 16 Vgl. BAB, Sign. R 3001/68802, Personalakte Morwitz (wie Anm. 8), Bl. ohne Zählung, im Dezember 1934. Beamte jüdischen Glaubens oder jüdischer Familienherkunft, die im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten oder bereits vor 1914 verbeamtet worden waren, wurden zunächst von der Versetzung in den Ruhestand ausgenommen. Sebastian Haffner, 1933 Referendar am Kammergericht, erinnert sich an den bereits im Vorfeld des Gesetzes erfolgten Auftritt der SA dort am 31. März 1933 und an deren unmissverständliche, von Gewaltanwendung begleitete Aufforderung an die jüdischen Juristen, das Gebäude sofort zu verlassen. Vgl. Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, Stuttgart/München 6. Aufl. 2001, S. 144  ff. 17 Entlassungsbescheid vom 17. Dezember 1935, BAB, Sign. R 3001/68802, Personalakte Morwitz (wie Anm. 8), Bl. 28.

12 Einleitung

Deutscher Staatsbeamter – jüdischer Emigrant §  4 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.  November 1935 regelte auf der Grundlage des Reichsbürgergesetzes vom 15. September 1935 (Teil der Nürnberger Rassengesetze) mit rassistisch segregierender Eindeutigkeit, dass „ein Jude […] nicht Reichsbürger sein“ konnte. „Ihm steht ein Stimmrecht in politischen Angelegenheiten nicht zu; er kann ein öffentliches Amt nicht bekleiden.“ Und: „Jüdische Beamte treten mit Ablauf des 31.  Dezember 1935 in den Ruhestand.“18 Aus dem deutschen Staatsbürger und Beamten und hohen preußischen Richter mit hervorragenden Dienstzeugnissen Dr. Ernst Morwitz, der zu diesem Zeitpunkt erst 48 Jahre alt war, war nach nationalsozialistischen Rassekategorien und durch eine ­rassistische Gesetzgebung ein entrechteter „Jude“ geworden. Die Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz gestand Beamten jüdischen Glaubens oder jüdischer ­Herkunft, sofern sie im Ersten Weltkrieg Frontsoldaten gewesen waren, den Weiter­bezug ihrer Dienstbezüge zu. Morwitz’ Einsatz als freiwilliger Kranken­pfleger wurde, da er Frontkämpferauszeichnungen erhalten hatte, als eine solche Tätigkeit anerkannt.19 Noch vor den Massenpogromen gegen die jüdische Bevölkerung (8.– 13. November 1938) verließ Ernst Morwitz im Oktober 1938 Deutschland. Mithilfe einer Vortragseinladung der Duke University in North Carolina hatte er ein Besuchervisum für die USA erhalten.20 Gemäß einem Schreiben des Berliner Kammergerichtspräsidenten bat der „in den Ruhestand getretene Kammergerichtsrat Dr. Israel Ernst Morwitz“21 am 19. Januar 1939 „um die

18 Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz. Vom 14. November 1935, § 4, in: Reichsgesetzblatt Teil I, 1935, Nr. 125, 14. November 1935, S. 1333. 19 In der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz hieß es: Sofern diese Beamten „an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft haben, erhalten sie bis zur Erreichung der Altersgrenze als Ruhegehalt die vollen zuletzt bezogenen ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge“. Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz, §  4, S. 1333. Vgl. BAB, Sign. R 3001/68802, Personalakte Morwitz (wie Anm. 8), Bl. 29– 30. 20 Vgl. Ernst Morwitz an Wilhelm Stein am 27. November 1938 (Poststempeldatierung), StGA. Die Einladung war durch den früheren Hausarzt Stefan Georges, Walter Kempner, der bereits in den USA lebte, eingefädelt worden, vgl. Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 280. 21 Die zusätzlichen Vornamen „Israel“ bzw. „Sara“ hatten Bürger und Bürgerinnen mit jüdischer Religionszugehörigkeit oder jüdischer Herkunft seit 1. Januar 1939 zu führen, um für sämtliche Institutionen und Behörden im nationalsozialistischen Staat unmittelbar als Teil der jüdischen Bevölkerung nach den rassistischen Kriterien des NSStaats identifizierbar zu sein.

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Genehmigung zur Verlegung seines Wohnsitzes nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika“.22 Mit der durch die NS-Behörden erteilten Genehmigung, nicht ohne eine vorauslaufende Überprüfung von Ernst Morwitz durch die Gestapo, ob politische Bedenken gegen eine Auswanderung vorlagen, wurden Morwitz’ Versorgungsbezüge auf ein „Sonderkonto Versorgungsbezüge“ einer inländischen Devisenbank überwiesen,23 auf das Morwitz aber aus dem Ausland vermutlich keinen Zugriff hatte. Die Genehmigung der Verlegung des Wohnsitzes wurde bis zum Ablauf des Jahres 1940 erteilt und in einem weiteren Schreiben, wie auch die Zahlung der Versorgungsbezüge, bis Ende Dezember 1942 verlängert.24 Darüber hinaus scheinen keine weitere Genehmigung und keine weiteren Zahlungen auf das Sonderkonto mehr erfolgt zu sein, die Akte endet mit diesem Schreiben, welches das Datum des 23. Januar 1941 trägt. Mit dem 1. September 1939 hatte der Zweite Weltkrieg begonnen, im Dezember 1941 hatten die USA Japan den Krieg erklärt, das mit Japan verbündete Deutsche Reich erklärte am 11. Dezember 1941 seinerseits den USA den Krieg. Ernst Morwitz hatte damit endgültig jede Aussicht auf Erhalt seiner Versorgungsbezüge verloren. In den USA lernte er rasch und konzen­ triert Englisch und konnte ab April 1939 an der School of Religion der Duke University in Durham (North Carolina) unentgeltlich Deutsch, Griechisch und antike Religion unterrichten. Bis 1944 besaß er kein regelmäßiges berufliches Einkommen (wohl aber eine finanzielle Unterstützung durch Freunde) und keine feste Anstellung und verfügte zudem nur über ein dreimonatlich verlängertes Visitor-Visum. Ab 1942 begann er an der University of North Carolina in Chapel Hill zu arbeiten, zunächst als Sprachlehrer, ab 1949 als Special Lecturer im German Department. 1947 wurde er US-amerikanischer Staatsbürger. 1952 ernannte die Bundesrepublik Deutschland Ernst Morwitz rückwirkend ab 1940 zum Senatspräsidenten des Kammergerichts. Nachdem er 1956 die Lehrtätigkeit aufgegeben hatte, zog er 1957 nach New York; seit den 1950er Jahren begann er auch wieder, in den Sommermonaten Europa zu besuchen. Er starb 1971 im schweizerischen Muralto.25

22 Schreiben des Kammergerichtspräsidenten an den Reichsminister der Justiz vom 15. März 1939, BAB, Sign. R 3001/68802, Personalakte Morwitz (wie Anm. 8), Bl. 33. 23 Der Reichsminister der Justiz an den Kammergerichtspräsidenten am 24. März 1939, BAB, Sign. R 3001/68802, Personalakte Morwitz (wie Anm. 8), Bl. 33R, Bl. 34. 24 Der Reichsminister der Justiz an den Kammergerichtspräsidenten am 23. Januar 1941, BAB, Sign. R 3001/68802, Personalakte Morwitz (wie Anm. 8), Bl. 36. 25 Zu Ernst Morwitz’ Leben und Wirken in den USA zwischen 1939 und 1971 vgl. Carola Groppe: Deutscher Beamter, jüdischer Emigrant. Der Kammergerichtsrat Dr. Ernst Morwitz, in: Gert Mattenklott/Michael Philipp/Julius H. Schoeps (Hrsg.): „Verkannte brüder“? Stefan George und das deutsch-jüdische Bürgertum zwischen Jahrhundert-

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Ernst Morwitz’ Biographie hatte als die eines Mitglieds der deutschen bürgerlichen Klassen begonnen: Er war der Sohn eines Kaufmanns und dessen Frau, hatte Rechtswissenschaft studiert und war ein hochangesehener deutscher Richter geworden. Seine jüdische Religionszugehörigkeit26 bewirkte dann in der rassistischen Diktatur des NS-Staats, dass dieser ihn im Alter von 48 Jahren aus dem Staatsdienst entfernte und vollständig entrechtete. Mit Glück und der Hilfe von Freunden wurde aus dem früheren deutschen Staatsbürger ein Emigrant mit Wohnsitz in den Vereinigten Staaten, der dem nationalsozialistischen Terrorregime und seiner Ermordung entkommen war, und 1947 schließlich ein Staatsbürger der USA. Ernst Morwitz’ Leben zerfiel dadurch in zwei große Abschnitte: Nach mehr als dreißig in Berlin verbrachten Lebensjahren verschlug es ihn nach Amerika, wo er weitere dreißig Jahre seines Lebens verbrachte. Anders als frühere Mitglieder des George-Kreises und ihm Nahestehende wie Ernst Kantorowicz, Erich von Kahler oder Arthur Salz, die im US-amerikanischen Exil als Professoren an Universitäten lehrten, konnte er aber seine Lebensform und seinen sozialen Status als hoher deutscher Richter nicht aufrechterhalten. An den österreichischen Diplomaten und Dichter Leopold von Andrian (1875–1951), der nach Brasilien emigriert war, schrieb Ernst Morwitz 1944 in englischer Sprache:

wende und Emigration, Hildesheim/Zürich/New York 2001, S. 85–100, hier S. 93  ff.; Raulff, Kreis ohne Meister (wie Anm. 20), S. 275–295, sowie Ernst Morwitz, Briefe an Wilhelm Stein, 17. Mai 1939; 23. August 1939; 26. Dezember 1939, StGA, und Ernst Morwitz an Karl Wolfskehl am 12. Januar 1941, in: „Du bist allein, entrückt, gemieden  …“ Karl Wolfskehls Briefwechsel aus Neuseeland 1938–1948, Bd. 1. Hrsg. von Cornelia Blasberg, Darmstadt 1988, S. 389. 26 Sein Personalbogen beim Kammergericht weist Ernst Morwitz 1920 mit dem Religionsbekenntnis „jüdisch“ aus (BAB, Sign. R 3001/68802, Personalakte Morwitz (wie Anm. 8), Bl. ohne Zählung). Noch 1931 wird Morwitz im Jüdischen Adressbuch für Groß-Berlin geführt, ist also nicht aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten. Vgl. Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin, Ausgabe 1931/32, Berlin 1931, S. 286 (Digitalisat der Digitalen Landesbibliothek Berlin, abrufbar als Permalink unter URN: https:// nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:109-1-2414417, Abruf 6. 12. 2018). Er selbst nennt dies in einer Selbstbeschreibung in seinen unveröffentlichten Aufzeichnungen sein „Verharren im Judentum“ (BB). Weitere Rückschlüsse lässt dies allerdings nicht zu. Im Unterschied zu vielen anderen Kreismitgliedern blieb die Verehrung Georges für Ernst Morwitz (hierin am ehesten mit Personen im Kreis wie dem ebenfalls aus einer jüdischen Familien stammenden Nationalökonom Julius Landmann (1877–1931) vergleichbar) ein abgeschlossener, von anderen Bereichen getrennter Teil seines privaten Lebens. So thematisiert auch kein einziger Brief an George oder befreundete Kreismitglieder jüdische Fragen oder seine jüdische Herkunft.

Einleitung 15 „I suppose that you, as a diplomat, are a trained jurist as I myself am. But there is no demand for the teaching of European jurisprudence here. The only possibility is the teaching of languages and this field is very crowded now with people who are relatively young and have American diplomas or certificates. […] one cannot make a living from lecturing alone. […] even after five years, I myself have no steady or assured position and this gives me the inner justification of telling you openly what I think.“27

An Wilhelm Stein hatte Ernst Morwitz 1938 nach seiner Ankunft in New York geschrieben: „Was mit mir wird, ist ganz dunkel, aber ich freue mich, der Quälerei entgangen zu sein, die mich sicherlich auch erfasst hätte (schon wegen der hohen Pension) und alles wird mir leichter werden, weil ich mich aussen und innen völlig frei fühle.“28 Frei fühlte sich Morwitz von dem Druck und der existentiellen Not und Angst, welche das NS-Regime erzeugt hatte, frei wohl auch von den Intrigen und Machtstrategien, die im George-Kreis bereits in den 1920er Jahren eingesetzt hatten und von den Diadochenkämpfen, die nach Georges Tod 1933 begonnen hatten. Aber so wenig Ernst Morwitz sich zu Lebzeiten Georges in die Deutungspolitik der Kreisfiliationen eingemischt hatte, so deutlich formulierte er am Lebensende des Dichters und dann noch einmal zu Beginn der 1960er Jahre seine Sicht der Dinge. Diese war, wie im Folgenden gezeigt wird, radikal individualistisch.

Stellungnahmen: Georges Werk in Morwitz’ Deutung Motiviert durch die Spannungen im Kreis, hatte Morwitz offenbar bereits 1922 den Plan gefasst (vgl. Br. 341), seine Interpretation der Lyrik Georges vorzulegen. Zur Ausführung kam diese aber erst kurz vor Georges Tod. Sein Buch mit dem programmatischen Titel Die Dichtung Stefan Georges (1934) war eine Stellungnahme: Während Friedrich Wolters in seiner 1930 erschienenen Hagiografie, Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Leben und Werk Georges eng verknüpfte und seinem Werk mit dem gewählten Titel zuschrieb, eine umfassende deutsche Geistesgeschichte zu bieten, reduzierte Morwitz seine Darstellung auf eine knappe, chronologisch kommentierende Interpretation der Gedichtbände und die Person Georges auf den großen Lyriker. So wie für Morwitz stets die individuelle Beziehung zu George im Vordergrund seines Selbstverständnisses im George-Kreis gestanden hatte, sollte sein Buch vor allem eine Hilfestel27 Ernst Morwitz an Leopold von Andrian (Briefkopie), 17. März 1944, StGA. 28 Ernst Morwitz an Wilhelm Stein am 27.  November 1938 (Poststempeldatierung), StGA.

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lung zur individuellen Erschließung der Lyrik durch die Rezipientinnen und Rezipienten darstellen. 1923 hatte er Vergleichbares über einen Zögling geschrieben: „Ich habe ihm den Umkreis gezeigt, jetzt muss er selbst für den füllenden Inhalt sorgen.“ (Br. 360) In Morwitz’ Buch existiert kein Hinweis auf die deutsche Gesellschaft und den deutschen Staat seiner Zeit oder auf den George-Kreis. Für bedeutsam hielt er in einer öffentlichen Darstellung nur die Gedichte und ihre verschiedenen Bedeutungsebenen, die er zudem in philosophisch-literarische Traditionen und Kontexte stellte. Dichtung, so lautete Morwitz’ Botschaft, ist ein autonomes Feld. Sie erzeugt wirklichen Sinn und Bedeutung nur für diejenigen, die sich ganz auf sie einlassen und sie nicht funktionalisieren. So verzichtete Morwitz auch im Kapitel über den Stern des Bundes (1914), dessen Gedichte so augenfällig den Kreis als eine ihrer Bezugs- und Adressatenebenen anklingen lassen,29 auf jeden Kreis-Verweis und stellte lediglich eine Verbindung zum Siebenten Ring (1907) her. Auf diese Weise betonte Morwitz die Geschlossenheit der Dichtung Georges. Ihre Entwicklung erschien als innere Notwendigkeit, nicht als Initiation kultureller oder sozialer Bewegungen oder als Reaktion auf zeitgenössische Entwicklungen. Nur der Maximin-Mythos blieb als Gründungsmythos des Kreises in Morwitz’ Interpretation des Siebenten Rings eigentümlich mehrdeutig. Der mit sechzehn Jahren verstorbene Maximilian Kronberger (1888–1904), Vorbild der Maximin-Figur, und der literarische Maximin als ‚Herr der Wende‘ werden in Morwitz’ Darstellung wiederholt zu einer Figur verbunden.30 Auf diese Weise schrieb sich Morwitz ein in den kreisinternen Zusammenhang von Jugend, Erziehung und Bildung einerseits und der Inspiration des Dichters durch den schönen Jüngeren andererseits. Angesichts der politischen Entwicklungen in Deutschland in der Spätphase der Weimarer Republik und der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war Morwitz’ Darstellung auch eine Möglichkeit, sich gegen Georges politische Vereinnahmung und gegen in die Politik übergreifende Deutungen Georges, wie sie andere Kreismitglieder vornahmen, zu verwahren. Sein

29 Die „Vorrede“ zum Stern des Bundes (hinzugefügt erst in der Gesamtausgabe der Werke 1928) formulierte, dass das Werk zunächst nur für die „freunde des engern bezirks“ gedacht gewesen sei, angesichts der „sich überstürzenden welt-ereignisse“ aber der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei. George, Der Stern des Bundes (Sämtliche Werke (künftig: SW, vgl. Siglen- und Kurztitelverzeichnis) VIII), o. S. Die Vorrede ließ den Kreis, allerdings erst gegen Ende der 1920er Jahre, deutlich anklingen. Zuvor, zwischen 1914 und 1928, hatten die Leserinnen und Leser den Gedichtband ohne diese Hinweise rezipiert. Vgl. dazu den Kommentar von Ute Oelmann in SW VIII, S. 117–124 sowie die von ihr erarbeiteten Varianten und Erläuterungen, S. 127  ff. 30 Vgl. Ernst Morwitz: Die Dichtung Stefan Georges, Berlin 1934, S. 87  ff.

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Buch war gedacht zur literarisch-ästhetischen Bildung und zur Erziehung von Kreis-Zöglingen, es war kein programmatisches ‚Kreis-Buch‘. Gleichzeitig zeigt der Text im Rückzug auf Gedicht-Paraphrase und knappe Kommentierung Morwitz’ Hilflosigkeit angesichts der politischen Entwicklung und des sichtbaren Zerfalls des Kreises in antagonistische Gruppen und Einzelpersonen. Diesem Geschehen konnte oder wollte Morwitz nichts entgegenstellen als die Beschwörung eines autonomen Reiches der Kunst, welches Konflikte in gelingenden Bildungsprozessen der Rezipientinnen und Rezipienten aufheben und lösen sollte. Auch Morwitz’ späterer Kommentar (Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, 1960) war keine erinnernde Kreisgeschichte wie die Darstellungen von Edgar Salin (Um Stefan George, 1948), Robert Boehringer (Mein Bild von Stefan George, 1951) oder Kurt Hildebrandt (Erinnerungen an Stefan George, 1965), sondern war wie die Deutung von 1934 eine Anleitung zur Rezeption der Gedichte, die Morwitz erneut in chronologischer Erscheinungsfolge der Gedichtbände kommentierte. Allerdings wurden in dem Kommentar nun Personenbezüge hergestellt und Anlässe benannt und die biographischen Kontexte erklärend herangezogen. Die Gedichte erhielten nun ein Bedingungsgefüge: Stefan George und seine Biographie. Morwitz’ frühe Deutung und seinen späten Werk-Kommentar verbindet aber, dass beide Male die ‚Staats‘-Idee in Bezug auf den Kreis konsequent verweigert wurde. George war nirgends ein Staatsmann und Führer, er war einfach ein großer Dichter, und er wurde im Kommentar-Band von 1960 eine erkennbar individuelle Person. Ebenso wie in Morwitz’ Interpretation von 1934 bleibt aber die Dichtung weiterhin ein autonomes Feld, nicht unberührt von den Ereignissen der Geschichte, aber sie umformend zu dichterischen Erlebnissen. Den Maximin-Zyklus im Siebenten Ring deutete Morwitz nun nicht mehr polyvalent. ‚Maximin‘ wird zum subjektiven Erlebnis eines Dichters, der aus dem Erlebnis eine neue Kunstwelt erschafft: „Den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem schaffenden Dichter und dem organisierenden Religionsstifter hat er [George] niemals verkannt.“31 Morwitz zog dadurch eine deutliche Grenze zwischen der Dichtung und der Inanspruchnahme des Maximin-Erlebnisses als Gründungsmythos für ein neues geistiges oder politisches Reich, wie ihn Friedrich Wolters formuliert hatte. Noch deutlicher als 1934 wird im Kommentar von 1960 die Autonomie der Kunst herausgestellt und diese Haltung gleichzeitig  – durch Einbezug von Äußerungen Georges und persönlichen Erlebnissen – als diejenige Georges nahegelegt. Die Verbindlichkeit 31 Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, Düsseldorf/München 2. Aufl. 1969 (Erstaufl. 1960), S. 270.

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einer ‚staatlichen Verkündigung‘, wie andere Kreismitglieder insbesondere Georges Spätwerk interpretierten, wird aufgelöst zugunsten eines vielschichtigen dichterischen Deutungsangebots für individuelle Rezipientinnen und Rezipienten.

Freundschaft, Liebe und Geduld: Ernst Morwitz’ Beziehung zu Stefan George Die radikale Individualisierung, die Morwitz’ George-Deutungen prägte, war auch das Ergebnis ihrer Beziehung. Ernst Morwitz und Stefan George kommunizierten auf eine Weise miteinander, die von keiner anderen Freundschaft Georges überliefert ist. Das lässt sich bereits an kleinen äußeren Zeichen ablesen: Während Morwitz’ Briefe (wie auch die Friedrich Gundolfs an Stefan George) in Kurrentschrift mit annähernd regulärer Groß- und Kleinschreibung verfasst sind, und beide zudem recht bald die vertrauliche Du-Anrede gegenüber George benutzten, schrieb beispielsweise Friedrich Wolters seine Briefe stets in ‚staatlicher‘ Stefan George-Schrift und benutzte zeitlebens das formelle ‚Sie‘ als Anrede des ‚Meisters‘, wobei angesichts von Wolters’ Eifer in der Arbeit für Meister und Kreis wohl davon auszugehen ist, dass es George war, der eine vertrauliche Du-Anrede nicht zugelassen hatte.32 Die Geschichte der persönlichen Beziehung zwischen Stefan George und Ernst Morwitz und ihre Bedeutung für George und den Kreis, bislang nur in einzelnen Facetten aus der Forschungsliteratur bekannt, ist mit der vorliegenden Edition ihres gesamten Briefwechsels jetzt erstmals vollständig nachzulesen. Die Briefe sprechen an vielen Stellen eine Sprache der Freundschaft und der Liebe. Durch die Briefe werden neue, andere Facetten der Persönlichkeit Georges sichtbar als der distanzierte Ästhet und der Meister im Kreis, insbesondere ist dies in den Briefen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg der

32 Die enge Beziehung Stefan Georges zu Friedrich Gundolf und deren Geschichte ist der interessierten Öffentlichkeit nicht zuletzt durch ihren publizierten Briefwechsel bekannt, von der engen Vertrautheit der Vorkriegszeit über die Krisen der 1920er Jahre bis zur endgültigen Trennung 1926. Auch die staatlich-steile Beziehung zu Friedrich Wolters ist durch dessen 1998 publizierten Briefwechsel mit George detailreich belegt. Vgl. Stefan George – Friedrich Gundolf, Briefwechsel. Hrsg. von Robert Boehringer und Georg Peter Landmann, München/Düsseldorf 1962; Stefan George  – Friedrich Wolters, Briefwechsel 1904–1930. Mit einer Einleitung hrsg. von Michael Philipp, Amsterdam 1998. Zur Geschichte und Bedeutung von Friedrich Wolters und Friedrich Gundolf im George-Kreis vgl. Groppe, Die Macht der Bildung (wie Anm. 5), S. 213  ff., S. 290  ff.

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Fall. George zeigt sich zugänglich, liebevoll, verletzlich und stets um den jüngeren Freund bemüht. Aber Ernst Morwitz wurde auch rasch eingebunden in ein Netzwerk aus Liebesbeziehungen, in denen er seinen ihm zugewiesenen Platz einnehmen musste, wollte er seine Beziehung zu George nicht aufs Spiel setzen. Und er begann bald eine eigene Kreistätigkeit als Erzieher zu entwickeln. Für Morwitz wurde die Selbstwahrnehmung als enger Vertrauter eines bereits berühmten Dichters und als Teil einer die Bildung erneuernden Dichtergemeinschaft aber bereits in dem Moment krisenhaft, in dem neben Personen wie Friedrich Gundolf und Robert Boehringer, die in ihrer Haltung zu Autonomie und selbstständiger Lebensführung ihm an die Seite zu stellen sind, der Niederschönhausener Akademikerzirkel um Friedrich Wolters, Kurt Hildebrandt und Berthold Vallentin die bis dato recht heterogene Gemeinschaft aus gleichaltrigen „Blätter“-Dichtern und jüngeren George-Freunden maßgeblich zu beeinflussen und schließlich unter Mitwirkung Georges sukzessive in eine Meister-Jünger-Gefolgschaft umzustrukturieren begann. 1908, in der Phase langsamer Annäherung der Niederschönhausener sowie der Studenten der „Academia urbana“33 an George, schrieb Friedrich Gundolf mit achtundzwanzig Jahren hellsichtig an Hanna Wolfskehl, die Bedeutungszunahme der ‚schönen Jugend‘ im entstehenden George-Kreis registrierend: „[…] nur bin ich leider! nicht mehr 18 Jahre alt, und an mehreren Stellen meiner Seele hat sich etwas Vollbart angesetzt, seit ich so nah an die leidigen dreissiger Mannhaftigkeitsjahre herangerückt bin. Rings umher wimmelt es bereits von Jüngeren […].“34 Aus dem Kreis um die Blätter für die Kunst waren nach der Jahrhundertwende nur Karl Wolfskehl und Carl August Klein in Georges engerer Umgebung verblieben und Friedrich Gundolf als altersmäßig jüngster Freund. Um 1905 kamen dann Robert Boehringer und Ernst Morwitz dazu, beide entwickelten wie Gundolf eine jeweils enge freundschaftliche, aber in­di­viduelle Bindung an George. Es war Friedrich Wolters, der den bis dahin locker verbundenen Kreis aus jüngeren Freunden  – aufbauend auf der Kernzelle des 33 Das war eine locker verbundene „Vortragsgemeinschaft mit Studenten und jungen Gelehrten“ unter dem Ehrenvorsitz des Berliner Historikers Kurt Breysig. Man verstand sich dort „wissenschaftskritisch als Gegengewicht zum Universitätsbetrieb. In einem angemieteten Saal versammelten sich einmal im Monat bis zu zweihundert Studenten und Dozenten zu Vorträgen und Diskussionen“. Groppe, Die Macht der Bildung (wie Anm. 5), S. 225. 34 Friedrich Gundolf an Hanna Wolfskehl am 15. Juli 1908, in: Karl und Hanna Wolfskehl. Briefwechsel mit Friedrich Gundolf 1899–1931. Hrsg. von Karlhans Kluncker, Bd. 2, Amsterdam 1977, S. 62  f.

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Niederschönhausener Kreises – durch seine Schriften und deren Akzeptanz durch George zu einem ideellen Jüngerkreis verband; eine Konzeption, die unter den Freunden Georges nicht unwidersprochen blieb und sich erst in der jüngeren Generation, mit Max Kommerell, den Brüdern Walter und ­Johann Anton, Walter Elze, Rudolf Fahrner, den Brüdern von Stauffenberg u.  a. wirklich durchsetzte. Eine Idealisierung soldatischer Härte und Askese und aktionistische Vorstellungen von Mission, Kampf und Tat begannen ab der Mitte der 1920er Jahre auch die Idee des ‚schönen Lebens‘ im Zeichen der Kunst und der Bildung beiseite zu schieben. Morwitz, Gundolf, Boehringer, Edgar Salin, Kurt Singer, die Ehepaare Julius und Edith Landmann und Karl und Hanna Wolfskehl, die für ein individualisiertes Ideal einstanden, also für ein Bildungsangebot an Einzelne, welches Georges Lyrik für sie darstellte und durch die Kreisschriften vermittelt werden sollte, verloren an Einfluss und Bedeutung gegenüber einer Enkelgeneration, die von neuen Ideen geprägt wurde. Aus gleichberechtigten Einzelpersonen mit Bezug auf George wurde unter dem Einfluss von Wolters und durch die neue, allerdings durch Morwitz implementierte Instanz des Erziehers in den 1920er Jahren schließlich eine Jugendgemeinschaft mit einer relativ einheitlichen Deutung der Georgeschen Sendung geformt. Innerhalb dieses Kreisgeschehens entwickelten sich der Briefwechsel und die Beziehungsgeschichte zwischen Ernst Morwitz und Stefan George. Anders als Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters sah es Morwitz bis zum Beginn der 1930er Jahre nicht als seine Aufgabe an, eine eigene Auslegung der Georgeschen ‚Lehre‘ zu publizieren oder sich um die Missionierung größerer Gruppen von Jugendlichen zu bemühen, sondern sah seine Bestimmung im Kreis darin, einzelne Jugendliche auf den Dichter hin zu erziehen, ihnen eine Anleitung zum ‚schönen Leben‘ zu geben. Seine erste Deutung der Gedichte hatte er 1934 in diesem Sinne „Den jüngeren Freunden Silvio · Bernhard und Sven“ gewidmet. Zu Ernst Morwitz’ Zöglingen, die er im Sinne des George-Kreises erzog, gehörten in der Folgezeit die Brüder Bernhard und Woldemar von Uxkull-Gyllenband (1899–1918 und 1898–1939), Adalbert Cohrs (1897–1918), Sven Erik Bergh (1912–2008), Silvio Markees (1908– 1991), Ottmar Hollmann (1915–2005) und die Brüder Bernhard und Dietrich von Bothmer (1912–1993 und 1918–2009). „Herr! Ich ehre Sie, ich ehre Ihre Werke, ich ehr’ die Dichter, die auch Sie verehren. Sie sind mein Vorbild, Sie und Meister Verhaeren.“ Mit diesen Worten beginnt der Briefwechsel zwischen Ernst Morwitz und dem Dichter Stefan George im August 1905. Im Alter von 17 Jahren hatte sich Ernst Morwitz, in Berlin wohnhafter Primaner des Königlichen Kaiserin Augusta-Gymnasiums

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im benachbarten Charlottenburg,35 an den schon berühmten und von ihm verehrten Lyriker gewandt und um ein Urteil („Sein Sie ein gerechter und gestrenger Richter.“, Br. 1) über seine Gedichte gebeten. Der Briefwechsel endet von Seiten Ernst Morwitz’ mit einem Geburtstagsbrief an Stefan George vom 11. Juli 1933: „Zu diesem Tag wünsche ich eine Reihe von heiteren Jahren! In jeder Alterstufe sieht wohl jeder die Dinge des Lebens immer von neuem verändert. Wenn ich versichere, dass ich vieles anders, mehr unter dem Zwang des Lebendigen stehend – sehe, so weiss ich wohl, dass das Vergangene vorüber ist, und es widerstrebt mir sinnlose Betrachtungen darüber anzustellen, ob es noch schöner und reicher hätte sein können als es war.“ (Br. 572)

Es folgt noch ein Schreiben, das Frank Mehnert, ein enger Vertrauter Georges in dessen letzten Jahren, in Georges Auftrag im November 1933 an Ernst Morwitz schickte, um Steuerangelegenheiten Georges zu besprechen und um sich für die Zusendung von Morwitz’ Buch Die Dichtung Stefan Georges zu bedanken, dessen Korrekturfahnen George noch angesehen und redigiert hatte. Das Buch war die einzige Stellungnahme des ansonsten zu den Dingen des Kreises und Georges öffentlich wie intern eisern schweigenden Juristen, es war seine Sicht auf George und dessen Werk, welcher George mit dem Signet der Blätter für die Kunst im Bondi-Verlag zudem sein Placet erteilt hatte. Das letzte Dokument des Briefwechsels ist ein Telegramm Robert Boehringers am 1. Dezember 1933, durch das er Ernst Morwitz über Georges erneute schwere Erkrankung unterrichtete. Drei Tage später, am 4. Dezember, starb George. In Ernst Morwitz’ vorausgehend zitiertem letzten Brief an den Dichter vom 11. Juli 1933 wird eine Entfremdung thematisiert, die mit Beginn der 1920er Jahre zwischen ihnen eingetreten und nicht wieder beseitigt worden war. Der schmerzliche Verlust, den dies für Ernst Morwitz bedeutete, wird in dem Brief ebenso deutlich wie sein Sich-Fügen in eine Konstellation, die offenbar Georges Wunsch und Wille gewesen war. 28 Jahre lang währte der Briefwechsel zwischen Ernst Morwitz und Stefan George, der im Verlauf der 1920er Jahre immer stärker zu einem Briefwechsel zwischen jüngeren Vertrauten Georges  – als Briefschreiber im Auftrag des Meisters  – auf der einen Seite und Ernst Morwitz auf der anderen Seite wurde. So wurde aus einer tiefen Freundschaft und Liebesbeziehung, parallel zur Veränderung des

35 Vgl. zu der Schule exemplarisch: Kgl. Kaiserin Augusta-Gymnasium: XXXII. Jahresbericht, erstattet vom Direktor Dr.  Ferdinand Schultz, Charlottenburg 1901. Latein wurde wie an allen preußischen altsprachlichen Gymnasien ab der Sexta unterrichtet, Griechisch ab Untertertia, beides bis zum Abitur. Für Morwitz’ Bildungskosmos sollte dies bedeutsam werden.

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George-Kreises von einem Freundschaftsbund aus Schülern, Studenten und Künstlern zum ‚Staat‘ mit dem ‚Meister‘ George als dessen charismatischem Zentrum, in den 1920er Jahren ein ‚staatliches‘ Verhältnis. Andere, jüngere Kreismitglieder traten in die unmittelbare Nähe Georges und in die Mitte des Kreises, und es ist dabei aus keiner Quelle mehr präzise auszumachen, wie stark dies ein durch George initiierter und gesteuerter Prozess war oder wie sehr hier Gruppen von Jugendlichen und älteren Kreismentoren selbstständig die Initiative ergriffen und sich – gestützt durch die Jugendmythen in Georges Lyrik – des Dichters bemächtigten. Um seine Position als charismatische Mitte des Kreises aufrechtzuerhalten, war es für George eigentlich von entscheidender Bedeutung, dass er nicht jederzeit für die Kreismitglieder verfügbar war, sondern jeweils autonom entschied, wann diese ihm begegnen durften. Je kränker er jedoch ab der Mitte der 1920er Jahre wurde, umso weniger gelang ihm diese Aufrechterhaltung seiner Autonomie. Er war mehr und mehr angewiesen auf die Hilfe und Unterstützung von Freunden, und die jüngeren im Kreis wie Max Kommerell, die Brüder Johann und Walter Anton, Frank Mehnert und die drei Brüder von Stauffenberg nutzten die Gelegenheit. Politische und ästhetische Oppositionen brachen deshalb ab der Mitte der 1920er Jahre in aller Schärfe auf. Dass es sich hierbei auch um weltanschauliche Konflikte handelte, die an Generationszusammenhänge gebunden waren und bei den Jüngeren vielfach mit anti-bürgerlichen und anti-demokratischen Gesellschafts- und Staatsutopien sowie zum Teil völkisch-rassistischen Überzeugungen einher gingen, hatte nicht nur Edith Landmann (1877–1951) im Raum des Kreises sensibel bemerkt und 1926 nach ihrer Erinnerung George vorgetragen.36 Ins­ besondere waren es die voluminösen Monografien der jüngeren Generation, beispielsweise Ernst Kantorowicz’ Kaiser Friedrich der Zweite (1927) und Max Kommerells Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (1928), in denen solche Übergänge sichtbar wurden. Texte wie diese, begleitet durch Friedrich Wolters’ konservativ-revolutionäre Vorträge37 in den 1920er Jahren und schließlich seine monumental überhöhte Geschichtsschreibung in Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890 (1930), griffen in Sujet und Argumentation in das Feld der Politik aus und operierten mit einer diffusen Verbindung von Politik und Literatur, Ästhetik und Handeln. Durch die konzeptionelle Amalgamierung ästhetisch-intellektueller und politisch-gesellschaftlicher Entwicklungen verschwammen die 36 Vgl. Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf/München 1963, S. 158. 37 Vgl. Friedrich Wolters: Vier Reden über das Vaterland, Berlin 1927.

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Grenzen zwischen einem neuen ‚Reich der Bildung‘ und einem neuen politischen Reich in den 1920er Jahren im George-Kreis, besonders unter den Jüngeren, immer stärker. Die eigene Bildungsgemeinschaft wurde dadurch potentiell zur Herrscherelite, die neue Platonische Akademie, als die sich der George-Kreis selbst beschrieb, zur Schule möglicher künftiger kultureller und politischer Führer. Für Ernst Morwitz war der durch die jüngeren Akteure im Kreis bewirkte Verlust seiner Nähe zu George eine zutiefst schmerzende Erfahrung. Er ertrug sie und fand neue Aufgaben im Namen Georges, der ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre immer stärker hinter der meisterlichen Pose verschwand und von einem ‚Staat‘ aus jungen Männern abgeschirmt wurde, die gegenüber Ernst Morwitz und anderen älteren Kreismitgliedern wie eine Phalanx auftraten. In der Beziehung zwischen Ernst Morwitz und Stefan George ist diese Entwicklung ablesbar an der sporadischer werdenden Korrespondenz. Aus den Jahren 1928–1933 sind insgesamt nur noch unter hundert Briefe erhalten (vgl. Br.  480–577), während aus früheren Jahren weitaus größere Briefkonvolute vorhanden sind; von Ernst Morwitz selbst stammen in dieser Zeit nur noch etwas mehr als dreißig Briefe und Karten, wenige davon sind noch privaten Inhalts, vielmehr drehen sie sich um Fragen von Verträgen, Erb- und Steuerangelegenheiten.

Freundschaft und Liebe, Fürsorge und Ignoranz: Stefan Georges Beziehung zu Ernst Morwitz Die Briefe, die Stefan George von 1905 bis zum Beginn der 1920er Jahre überwiegend eigenhändig an Ernst Morwitz richtete, waren hingegen von ganz anderer Natur gewesen. Hier zeigte sich in den ersten Briefen zunächst der Dichter. Die Jugendgedichte des Berliner Gymnasiasten, den wie viele bürgerliche Jugendliche auf den Gymnasien und Universitäten des Kaiserreichs eine euphorische Literaturrezeption insbesondere jüngerer, avantgardistischer Dichter wie George oder Hofmannsthal und eigene Versuche als Lyriker ausgezeichnet hatten,38 beantwortete George mit Ernst und beratender Wertschätzung (vgl. Br. 1–8). Ernst Morwitz seinerseits trug in seinem ersten Brief alle konstituierenden Elemente zusammen, die ihn als bürgerlichen Jugendlichen des Kaiserreichs zu George trieben: Dichterverehrung, Schönheitskult, elitäre Abgrenzung von der Masse, Jugendeuphorie und S­ uche 38 Vgl. zu bürgerlicher Jugend und Literatur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik Groppe, Die Macht der Bildung (wie Anm. 5), S. 334  ff.

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nach neuer Gemeinschaft. George hatte auf Morwitz’ ersten Brief ermunternd und positiv reagiert, so dass dieser sich ermutigt fühlte, weitere Gedichte an George zu senden. Bereits in seinem zweiten Brief an George gebrauchte Morwitz die Anrede „Mein Meister“, obwohl aus Georges erstem Brief weder eine solche Aufforderung noch eine Haltung des Dichters hervorgeht, die diese Anrede nahegelegt hätte und eine Begegnung noch nicht stattgefunden hatte. Vielmehr platzierte sich Morwitz offenbar selbstständig als „Schüler zum Meister“ (Br. 3). George adressierte ihn als „lieber Dichter“ (Br. 4), danach mit Vor- und Nachnamen; Morwitz dagegen hielt sich an die „Meister“-­Anrede, bis er im Dezember 1906 ebenfalls zur Anrede Georges mit Vor- und Nachnamen wechselte. Diese Anrede wurde ab Dezember 1907 durchbrochen von Anreden wie „Lieber/liebster Meister“, „Mein geliebter Meister“ oder einfach „Liebster“. Bis zum Tod Georges am 4. Dezember 1933 benutzte Morwitz gegenüber George solche Anreden der Nähe. George redete ihn zunehmend mit „Lieber/liebster Ernst“ an und im März 1908 auch einmal mit Du, kontinuierlich tat er dies aber erst ab Oktober 1910 (vgl. Br. 33, Br. 45  ff.). Morwitz gebrauchte die Du-Anrede ebenfalls erst ab ­Dezember 1910 (vgl. Br. 49). Bis in den Dezember 1905 beschränkte sich der Kontakt zunächst auf die Übersendung von Gedichten von Seiten Ernst Morwitz’. Nach dem ersten persönlichen Treffen der beiden Briefschreiber im Berliner Atelier Melchior Lechters am 9. Dezember 1905, bei dem Morwitz einer genauen Prüfung von Person, sozialem Status und beabsichtigtem beruflichen Werdegang unterzogen wurde (vgl. Br.  6, Anm.  4), begann Morwitz, kleinere Aufträge für George zu erledigen, beispielsweise Korrekturen von Herausgaben und Literaturrecherchen in Bibliotheken (vgl. Br. 11, Br. 17) und begann sich auch in biographischen Krisen und Entscheidungsfragen an den neunzehn Jahre älteren George zu wenden (vgl. Br. 8). Für Ernst Morwitz wurde der ältere Dichter – wie etwa zur gleichen Zeit auch für die Mitglieder des Niederschönhausener Kreises um Friedrich ­Wolters und Berthold Vallentin – nach und nach zu einer Leitfigur, die nicht nur seine Dichtungen beurteilte, sondern auch seine Lebensplanung beeinflusste und die von ihm in schwierigen Phasen als Entscheidungsinstanz angerufen wurde: „Ich war mit Berlin so unzufrieden, dass ich mich am Tage des Semesterschlusses nach irgend einer Gelegenheit umsah, aus den gewohnten Gleisen zu kommen. […] Für mich bleibt nur die Wahl zwischen Heidelberg und München uebrig. Sie rieten mir im vorigen Herbste sehr – nach Muenchen zu gehen. Dann jetzt im Winter hielten Sie Heidelberg fuer geeigneter. Ich wollte Sie noch einmal um Ihren Rat bitten.“ (Br. 18)

So entstand aus eigener dichterischer Tätigkeit und einer emphatischen Rezeption der Dichtung Georges unter dessen Anleitung allmählich ein Identitätskonzept, das ein Leben für die Dichtung – eigene Gedichte, Begegnungen

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mit George, später auch Dichtungen mit seinen Schülern – zur sinnstiftenden Mitte des Daseins erhob. Wie bedeutsam Morwitz’ Bindung an George nach und nach für ihn wurde, zeigt ein Brief aus dem Jahr 1909: „Ich schulde Ihnen so viel Dank, dass es menschlichen Kraeften nicht möglich ist, diese Last abzutragen. Sie haben mir ein leeres Leben ausgefuellt, mich zu einem anderen Wesen umgestaltet. […] In Ihnen fand ich mein Mass.“ (Br. 37)39 Ab 1907 begann George, mit Hilfe von Ernst Morwitz einen Kreis von Jugendlichen außerhalb des Kreises um Friedrich Wolters und Berthold Vallentin um sich zu bilden, eventuell durch diesen Kreis motiviert, den er 1906 kennengelernt hatte. Bereits zu Beginn des Jahres 1907 ist die Rede davon, dass Ernst Morwitz einen Jugendlichen, Curt Arnold Rosenthal, zu George einbestellt (vgl. Br. 17). In diesen Jahren, zwischen 1905 und 1907, entstand die Grundfiguration des eigentlichen George-Kreises, die emotionale Nahbeziehung eines Älteren zu jüngeren Männern, eingebettet in eine Gemeinschaft stiftende und Weltanschauung vermittelnde Rezeption der Lyrik Georges. Gestützt wurde die Kreiskonstitution durch Georges Privat-Publikation Maximin. Ein Gedenkbuch (1906) und durch den Maximin-Mythos im Siebenten Ring (1907). Die Beziehung zwischen Morwitz und George wurde in ihrer Entstehungszeit damit unmittelbar eingebunden in ein wachsendes Briefund Beziehungsnetz, das sich um George herum organisierte, schließlich eine eigene Dynamik und Sozialgestalt als George-Kreis gewann und innerhalb dessen es vielen Mitgliedern im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gelang, sich als Professoren an den deutschen Universitäten zu platzieren. Ein Großteil der geistigen und lebenspraktischen Bedeutung des George-Kreises in der Kultur-, Wissenschafts- und Bildungslandschaft des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik verdankt sich der Tatsache, dass es die Georgeaner verstanden hatten, die Universitäten als Transmitter ihrer Vorstellungen und Ideen einzusetzen und als Rekrutierungsmilieu potentieller Kreisaspiranten zu nutzen. Bereits im Dezember 1907 formulierte Ernst Morwitz sein Bedürfnis nach einem Zusammensein mit George mithilfe von Bildern körperlicher Nähe: „Jetzt kann mir nicht so die Kraft mangeln wie frueher. Sie sind in meiner Naehe  – koerperhaft, so vollgesogen fuehle ich mich. Ich bin bei Ihnen!“

39 Am ehesten vergleichbar ist die enge Beziehung zwischen Morwitz und George mit derjenigen zwischen George und Friedrich Gundolf. Wie im Falle von Gundolf im Siebenten Ring gestaltete George die Beziehung zu Morwitz in einer Folge von Gedichten im Stern des Bundes. George unterstrich in diesen Gedichten an Morwitz zugleich dessen Bedeutung für den entstehenden Kreis: „Die uns nur eignet: dein und meine runde / Sie sollst du füllen und wir sind erfüllt .  .“ George, Der Stern des Bundes (SW VIII), S. 57.

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(Br. 25) Auch wenn Ernst Morwitz hier in passivischen Formulierungen eine sehnsuchtsbehaftete Körperlichkeit beschwor, so ist daraus nicht auf ein asymmetrisches Verhältnis zu schließen, denn gleichzeitig hieß es im Brief: „Ich verfolge Sie und glaube Ihre Schritte zu hoeren.“ Dass hier ein erotisches Begehren anklingt, lässt sich kaum bestreiten. Allerdings stand einer klaren Formulierung dieses Begehrens der Paragraph 175 des zum 1. Januar 1872 für das gesamte Kaiserreich in Kraft getretenen Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich entgegen, der „widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird“, mit Gefängnis bestrafte; „auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden“.40 Dass Stefan George selbst Männer begehrte und liebte und dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch sexuell auslebte, ist in der Forschungsliteratur inzwischen nicht mehr umstritten.41 Auch nicht, dass die Mehrzahl seiner Liebesgedichte eine mann-männliche Liebe und Erotik und später, insbesondere im Stern des Bundes, eine pädagogisch gewendete Homoerotik zum Thema hat. Bislang ist jedoch die aktiv-gestaltende, in manchen Beziehungen auch psychisch gewaltförmige Kraft durchweg auf Seiten Stefan Georges verortet worden. Der Briefwechsel zwischen Ernst Morwitz und Stefan George spricht eine andere Sprache, nämlich die einer erotischen, höchstwahrscheinlich auch sexuellen Beziehung, in der Machtverhältnisse und Abhängigkeiten der beiden beteiligten Personen deutlich ambivalenter strukturiert waren als in der Forschung zum George-Kreis und seinen Strukturen oft angenommen. Dazu tritt im Briefwechsel zwischen Morwitz und George allerdings bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein höchst problematischer Aspekt, der in Verständnis und Begrifflichkeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik nur unscharf von praktizierter Homosexualität zwischen erwachsenen Männern unterschieden wurde: das homosexuelle Begehren und möglicherweise die sexualisierte Gewalt42 gegenüber männlichen Jugend40 Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871, in Kraft getreten am 1. Januar 1872, § 175, S. 142. Handausgabe mit Erläuterungen von Friedrich ­Oskar von Schwarze, 2. verb. und verm. Aufl. Leipzig 1876 (Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek, abrufbar als Permalink unter http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de: bvb:12-bsb11332548-2, Abruf 3. 4. 2019). 41 Vgl. dazu die Biographien von Thomas Karlauf und Kai Kauffmann. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007; Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014. 42 Die Herausgeberinnen haben sich in diesem Zusammenhang für den Begriff der ‚sexualisierten Gewalt‘ entschieden, weil er, ohne der Sexualität ein generelles Strukturmoment von Gewalt zuzuschreiben (wie dies Begrifflichkeiten wie sexuelle Gewalt oder Sexualgewalt nahelegen könnten), Macht- und Gewaltausübung gegenüber Minderjährigen in ihrer sexualisierten Form beschreibt. Mit Gewalt wird dabei nicht nur die

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lichen.43 Im Briefwechsel werden pädagogische Beziehungen sichtbar, welche unlösbar mit dem Prinzip des Eros, also mit einer auch körperlich motivierten Attraktion und Liebe zum Zögling, verknüpft waren.

Denkräume: Eros als Kulturphilosophie Dass das Schöne zugleich Ausdruck des eigentlich Humanen sei, war im George-Kreis eine zentrale Überzeugung und blieb es bis zu Georges Tod. Damit einher ging die Zurückweisung bürgerlicher, im Kreis als ‚gewöhnlich‘ und ‚uneingeweiht‘ abgewerteter Moralvorstellungen, wie sie in den genannten Paragraphen des Strafgesetzbuchs des Kaiserreichs, die auch in der Weimarer Republik weitergalten, niedergelegt waren. Eine Abwehr wurde im George-Kreis aber auch gegenüber der Emanzipationsbewegung der Homosexuellen entwickelt. Sowohl dem staatlichen Strafgesetzbuch als auch der Homosexuellenbewegung hielten Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters als Autoren der Einleitung des dritten Jahrbuchs für die geistige Bewegung vor, die Kulturbedeutung mann-männlicher Beziehungen nicht zu erfassen: „Wir fragen nicht danach ob des Schillerschen Don Carlos hingabe an Posa, des Goetheschen Ferdinand an Egmont […] irgend etwas zu tun hat mit einem hexenhammerischen gesetzesabschnitt oder einer läppischen medizinischen einreihung: vielmehr haben wir immer geglaubt in diesen beziehungen ein wesentlich bildendes der ganzen Anwendung körperlicher Gewalt bezeichnet, sondern Eingriffe in die sexuelle Unversehrtheit Minderjähriger jeglicher Art. Vgl. zur Begrifflichkeit Retkowski, Alexandra/ Treibel, Angelika/Tuider, Elisabeth: Einleitung: Pädagogische Kontexte und Sexualisierte Gewalt, in: dies. (Hrsg.): Handbuch Sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte. Theorie, Forschung, Praxis, Weinheim 2018, S. 15–30, hier S. 22  f. 43 § 175 richtete sich dezidiert gegen einen Sexualverkehr „zwischen Personen männlichen Geschlechts“; homosexueller Verkehr zwischen Frauen wurde im § 175 nicht erwähnt. Ein zeitgenössischer Rechtskommentar aus den 1870er Jahren vermerkte, dass es unklar bleibe, ob im § 175 der gleichgeschlechtliche Sexualverkehr unter Männern generell gemeint sei oder ob der Paragraph auf „Päderastie“ ziele. Vgl. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (wie Anm. 40), Kommentar zu § 175, S. 142, Zitate ebd. In der Rechtsprechung des Kaiserreichs wurde männliche Homosexualität zwischen Erwachsenen jedoch strafrechtlich verurteilt. § 174 des Strafgesetzbuchs stellte darüber hinaus „unzüchtige Handlungen“ von Erziehern und Fürsorgepersonen mit ihren „minderjährigen Schülern oder Zöglingen“ beiderlei Geschlechts (d.  h. unterhalb des bis 1876 bestehenden gesetzlichen Mündigkeitsalters von 25  Jahren, danach von 21  Jahren) mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus unter Strafe. Vgl. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (wie Anm. 40), S. 140. Für den sexuellen Verkehr sowie unzüchtige Handlungen jeder Art mit mänlichen oder weiblichen Minderjährigen unter 14 Jahren sah der § 176 des Strafgesetzbuchs darüber hinaus eine Zuchthausstrafe von bis zu zehn Jahren vor. Vgl. ebd., § 176, S. 142  f.

28 Einleitung deutschen kultur zu finden. Ohne diesen Eros halten wir jede erziehung für blosses geschäft oder geschwätz und damit jeden weg zu höherer kultur für versperrt. […] Es ist auch nicht ein moralisches vorurteil was heute noch die menschen gegen diese freundschaft empört, ihnen ist gleich unverständlich, im tiefsten grund widerlich die liebe des Dante zu Beatrice wie des Shakespeare zu seinem freund: es ist die abneigung des amerikanischen, pathoslos gewordenen menschen gegen jede form der heroisierten liebe. Dass wir nichts zu tun haben mit jenen keineswegs erfreulichen leuten die um die aufhebung gewisser strafbestimmungen wimmern, geht schon daraus hervor dass gerade aus solchen kreisen die widerlichsten angriffe gegen uns erfolgt sind.“44

Die Einordnung der Homosexualität als rein körperlich-triebhaftes Geschehen durch die medizinische Forschung wurde im Text mit der Bedeutung mann-männlicher Liebe für Erziehung, Bildung und Kultur konfrontiert. Diese bedürften alle eines nicht näher definierten Eros. Als „heroisierte liebe“ bezeichnet wurden in dem Text aber sowohl die mann-männliche Freundschaft als auch die Liebe zwischen zwei Männern sowie die zwischen Männern und Frauen, sofern sie nach Maßgabe des Kreises bestimmten Kriterien genügten. Das Zitat enthält bei genauer Hinsicht keine dezidierte Stellungnahme gegen Homosexualität, sondern wehrt die unmittelbare Gleichsetzung einer als kulturstiftend interpretierten und heroisierten mann-männlichen Liebe mit Homosexualität ab. Gleichwohl wird in dem Zitat deutlich, dass sich die Kreismitglieder des prekären Verhältnisses von bürgerlicher Sexualmoral, der Emanzipationsbewegung der Homosexuellen, den Straftatbeständen des Reichsstrafgesetzbuchs und einer rein homosozialen und geistig wie erotisch begründeten Dichter- und Erziehungsgemeinschaft bewusst waren. Das Theorem vom Schönen als dem Humanen eröffnete den Mitgliedern des George-Kreises und George selbst die Auswahl als schön klassifizierter männlicher Jugendlicher, vereinzelt auch Kinder, für die Erziehung im Kreis unter der Maßgabe, dass die Schönheit der Gestalt zugleich auf eine innere ‚Substanz‘ verwies. ‚Substanz‘ war in den Texten der Georgeaner grundsätzlich keine metaphysische Größe, sondern das Ergebnis historischer Entwicklung und der in ihr erfolgten Entfaltung der Kultur, deren Qualität sich an der Existenz großer Menschen, den Trägern der Substanz, erwies. Diese schöpferische, die Epochen prägende Substanz war nach Auffassung Georges und der Kreismitglieder in der modernen Gesellschaft zwar bedroht, sollte aber durch die eigene Kulturbewegung und die Kreisorganisation um den Dichter gerettet werden können: „Wir glauben wohl dass jezt noch reste von alten substanzen erhalten sind die man noch nicht abwirtschaften konnte.“45 Wiedererweckung und Erhaltung der Substanz wurde für den George-Kreis zu 44 Gundolf/Wolters, Einleitung der Herausgeber (wie Anm. 4), S. VIf. 45 Gundolf/Wolters, Einleitung der Herausgeber (wie Anm. 4), S. VIII.

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einer wegweisenden Aufgabe für die Zukunft. Die ‚Substanz‘ war somit historisch gebunden, wurde in der Kategorie des ‚schönen Leibes‘ letzten ­Endes aber doch metaphysisch aufgeladen. Denn der schöne Leib war gleichsam ewiger und einem griechisch-antiken Ideal nachgebildeter Ausdruck vollkommener und sichtbarer Harmonie zwischen Körper und Geist. An dieser Harmonie sollten die schöpferische Kraft und die Entwicklungsfähigkeit der Kreis­aspiranten erkennbar sein, welcher durch Erziehung und Bildung nur noch zu ihrem vollendeten Ausdruck verholfen werden musste. Der schöne Leib wurde dadurch auch zum schöpferischen Impuls und zugleich zum Inhalt des dichterischen Werks. Im Stern des Bundes heißt es: „Ein leib der schön ist wirkt in meinem blut / Geist der ich bin umfängt ihn mit ent­ zücken: / So wird er neu im werk von geist und blut / So wird er mein und dauernd ein ent­zücken.“46 Der schöne Leib wurde zur Zielsetzung der Erziehung der Jugend im Sinne einer Anleitung zur anmutigen Bewegung und Gebärde und zur eigenen dichterischen Tätigkeit, sowohl der Jugendlichen als auch Georges. Dichtung und Erziehung erweisen sich in den Publikationen des George-Kreises als aus den gleichen Voraussetzungen und Erlebnissen hervorgegangen und werden miteinander auch in engste Beziehung gesetzt. Erziehung bedeutete Erziehung zur dichterisch-kultischen Mitte, wie sie im Dichter und in seinem Werk realisiert war. Die Gestaltung eines neuen Reichs der Kunst und der Bildung wurde nach Maßgabe Georges und der Kreismitglieder ermöglicht durch den Eros als Erziehungsprinzip; die Erziehung wiederum wurde bedingt durch die liebende Anschauung des schönen Leibes. Der pädagogische Eros war im GeorgeKreis zudem mehrfach konnotiert: Er beschreibt nicht nur das erzieherische Ethos des Dichters, der das geschaute Wissen an die liebenden und verehrenden Jünglinge weitervermitteln will, sondern auch die Zuneigung der Jünglinge zueinander als „liebesring“47 um eine kultische Mitte und die Liebe zu den Ideen und zu ihrem Verkünder, dem Dichter.48 Friedrich Gundolf hat die im Kreis entwickelte Idee der Jugend 1920 suggestiv-pathetisch verkündet:

46 George, Der Stern des Bundes (SW VIII), S. 78. 47 Vgl. „Aus diesem liebesring dem nichts entfalle / Holt kraft sich jeder neue Tempeleis / Und seine eigne – grössre – schiesst in alle / Und flutet wieder rückwärts in den kreis.“ George, Der Stern des Bundes (SW VIII), S. 101. 48 Vgl. zum Zusammenhang von Substanz und Eros als gedanklichen Kategorien im George-Kreis Groppe, Die Macht der Bildung (wie Anm. 5), S. 412  ff.

30 Einleitung „Deutsche Jugend […] ist eine Weltkraft, von der Jugend aller anderen Völker unterschieden, eine geistig sinnliche Urform des Menschtums derengleichen seit dem griechischen Jüngling, seit dem Tod Alexanders auf Erden nimmer erschienen ist. Nur der Grieche und der Deutsche haben das Menschtum als Jünglinge erfüllt, auf der Stufe des vollendeten Blühens, des erwachenden Geistes und des schönen Leibes. Nur bei diesen Völkern ist Jugend nicht bloß Naturzustand, sondern Geist=lage. […] Griechische Jugend hat den Leib vergottet. Deutsche Jugend kann den Gott verleiben: denn nur ihr Geist kennt noch dies kosmische Heimweh, das sich in Zwecken und in Stoffen nicht beruhigt.“49

Weil das deutsche Wesen an sich gestaltlos sei, so beschrieb es 1918 der dem Kreis damals nahestehende Germanist Ernst Bertram, benötige es Bildung. Sie bedeutete ihm „Begrenzung“, im Sinne einer dauerhaften Übereinstimmung von äußerer Haltung und Gestik mit inneren Einstellungen und Denkformen. Der ‚schöne Leib‘ war in dieser Hinsicht Teil und Ausdruck eines gelingenden Bildungsprozesses. Bildung, so fasste es Bertram, ist Ordnung, die gegen das Chaos steht: „Deswegen ist Bildung, Erziehung eine ‚Idee der Mitte‘ bei allen deutschen Führern;“50 Die Bildung der Jugend zu ihrer Vollendung wird zum Auftrag an die Gemeinschaft und zu einer zumindest die Kultur verändernden Sendung. Problematisch wurde diese Theorie in ihrer Übertragung auf die Erziehung im Kreis, in der einerseits die in Frage kommenden Jugendlichen den kaum rationalisierbaren Auswahlkriterien entsprechen sollten und andererseits die ideellen Ziele erzieherisch umgesetzt werden sollten. In der Praxis reduzierte sich der hohe Anspruch an den schönen Leib in der Regel auf eine körperliche Schönheit nach antikem Vorbild, und die Schönheit des Geistes wurde überwiegend mit der Kenntnis der Lyrik Georges und der Fähigkeit zur Gedichtrezitation, mit Bildungswissen und bildungsbürgerlicher oder adliger Herkunft gleichgesetzt. So verwies Ernst Morwitz in seinen Briefen an George wiederholt auf die soziale Herkunft möglicher Kreisaspiranten (vgl. z.  B. Br. 148, Br. 160). Da der George-Kreis für die Außenwelt eine rein männliche Generationsund Bildungsgemeinschaft darstellen wollte, obwohl Frauen in der konkreten Kreispraxis nicht nur an dessen Peripherie eine wichtige Rolle spielten,51 war 49 Friedrich Gundolf: George, Berlin 1920, S. 205  f. 50 Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie (1918). Berlin 4. Aufl. 1920, S. 73, S. 78. 51 Vgl. dokumentarisch und analytisch eindrücklich den Band Frauen um Stefan George. Hrsg. von Ute Oelmann/Ulrich Raulff, Göttingen 2010. Frauen wie Hanna Wolfskehl, Edith Landmann, Erika Wolters, Clotilde Schlayer und andere waren für George mehr als nur Randfiguren seines Kreises. Mit ihnen diskutierte er und bezog sie in seine Lebensführung ein: Er wohnte bei und mit ihnen, ließ sie gemeinsam mit den Männern

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die Definition der mann-männlichen Beziehungen für die innere Praxis von ebenso großer Bedeutung wie die äußere Abgrenzung von Homosexualität und der Emanzipationsbewegung der Homosexuellen. Dass viele Kreismitglieder der älteren Kreisgeneration vor oder während ihrer Kreiszugehörigkeit Ehen eingingen, stellte für den Kreis daher kein grundsätzliches Problem dar. Für Friedrich Wolters, Berthold Vallentin, Kurt Hildebrandt und viele andere im Kreis war die Eheschließung, auch aus Sicht Georges, durchaus keine ‚Staatssache‘, während sie im Falle Friedrich Gundolfs 1926 zwar auslösendes Moment der Trennung von George und Kreis gewesen war, die ­eigentlichen Ursachen jedoch weit tiefer gelegen und sich bereits über Jahre angebahnt hatten.52 Für die homosoziale Struktur des George-Kreises waren die heterosexuellen Beziehungen der Kreismitglieder letztlich unmaßgeblich. Sie gehörten aus Sicht des Kreises einer anderen Sphäre an. Grundsätzlich galt für alle Kreismitglieder eine Trennung von Privatsphäre und ‚Staatssphäre‘. Die sexuelle Realisierung blieb Privatsache, gleichgültig mit welcher sexuellen Orientierung sie verbunden war. Gleichzeitig boten die Idealisierung und Pädagogisierung der mann-männlichen Erotik in Georges Gedichten und in vielen Kreistexten die Möglichkeit, homosexuelle Orientierungen, aber auch pädosexuelle Neigungen zu männlichen Kindern und Jugendlichen in einen ideellen Zusammenhang zu stellen und dadurch bürgerliche Moralvorstellungen der Zeit, im zweiten Fall auch ethische Grenzen, leichter überschreiten, d.  h. ein mögliches sexuelles Begehren unter Umständen auch ausleben zu können. Hier konnten die Kreisideen zu Erziehung und Bildung als Kontext der Rechtfertigung eingesetzt werden.

Literatur und Sexualität Doch die Kunst ist ein autonomes Feld. Theodor W. Adorno hatte in seiner Abhandlung über George im Grundsatz festgehalten: „Die pompöse Frage: Wie geht das weiter, wohin führt es, […] gereicht der Kunst nur zum Gedichte rezitieren und Teil kreisinterner Veranstaltungen sein. Nicht zuletzt übernahmen sie auch Organisationsaufgaben für George hinsichtlich des Kreises, wie beispielsweise Erika Wolters in Marburg für den Schülerkreis um ihren Mann Friedrich Wolters, den sie aktiv mitgestaltete und zu welchem sie parallel einen eigenen Kreis junger Frauen um sich versammelte. 52 George hatte um 1910 auf eine Ehe Gundolfs mit Fine Sobotka (1889–1959) gehofft, die er schätzte. 1912 heiratete sie stattdessen Erich von Kahler (1885–1970), der dem George-Kreis ebenfalls nahestand. Zudem hatten sich weltanschauliche Differenzen und persönliche Entfremdungen zwischen Gundolf und George eingestellt.

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Unheil.“53 George entwarf in seinen Gedichten, beginnend mit dem Zyklus Algabal (1892), immer wieder aufs Neue radikal amoralische Szenarien und Handlungsabfolgen. Im Siebenten Ring (1907) gestaltete er in dem Gedicht Empfängnis eine Überwältigungsszene, die auch als sado-masochistischer Sexualakt gelesen werden kann: „Da du erst verhundertfältigt / Meinen blick in jener stunde: / Hat dein sturm mich überwältigt. // Hilflos griff er den beschwornen · / Wälzte ihn in finstre schrunde · / Den zu andrem licht gebornen // Riss er dann auf hohe schroffen .  . / […] // Dass kein laut mehr in mir poche / Anders wie der dir gemässe: / Presse mich in deinem joche · // Schliess mich ein in wolkigem bausche · / Nimm und weih mich zum gefässe! / Fülle mich: ich lieg und lausche!“54

Das Gedicht lässt sich als gewalttätiger körperlicher Akt lesen wie es ebenso auch als Entrückung des Dichters in eine andere Welt und als Empfängnis eines esoterischen Wissens interpretiert werden kann. Es kann darüber hinaus als die Beziehung eines Wissenden zu einem Schüler und als dessen liebende Unterwerfung unter eine überwältigende Belehrung aufgefasst werden.55 53 Theodor W. Adorno: George, in: ders., Noten zur Literatur = Gesammelte Schriften Bd. 11, Frankfurt a. M. 1974, S. 523–535, hier S. 523. Schärfer argumentiert Karlauf, der den Stern des Bundes als „ungeheuerlichen Versuch, die Päderastie mit pädagogischem Eifer zur höchsten geistigen Daseinsform zu erklären“, liest. Karlauf interpretiert den Stern des Bundes nicht primär als Kunstwerk, sondern als in Verse gegossenen Lehrtext für eine elitäre Gemeinschaft: „Dichten war für George in den Jahren nach Veröffentlichung des Siebenten Rings zunehmend zu einer pädagogischen Aufgabe geworden.“ Karlauf, Stefan George (wie Anm. 41), S. 394, S. 389. Dennoch bleibt der Stern des Bundes ein Gedichtband, und die Jugendbewegung rezitierte Gedichte daraus zu Lebzeiten Georges an ihren Lagerfeuern mit eigener weltanschaulicher Deutung ebenso wie viele andere Weltanschauungsgemeinschaften. Selbst die lyrische Fassung bündischer Rituale und Praktiken wie in den folgenden Gedichtzeilen aus dem Stern des Bundes: „Wer je die flamme umschritt / Bleibe der flamme trabant!“, konnten Leserinnen und Leser alternativ auch als romantisch-unbedingten Liebesschwur interpretieren. Kein Rezipient und keine Rezipientin konnte gezwungen werden, das Gesamtkonzept des Sterns des Bundes nachzuvollziehen, sondern Gedichte konnten individuell gedeutet, in einer Bricolage verse- oder gedichtweise in neue Zusammenhänge jenseits der Ursprungsidee des Autors gesetzt und mit Gedichten anderer Autoren verbunden werden. Die große semantische Offenheit der Lyrik Georges förderte vermutlich unterschiedliche Praktiken. Gleichermaßen konnte der Stern des Bundes vor diesem Hintergrund als Verführungsliteratur dienen wie dies im Castrum Peregrini Wolfgang Frommels in Amsterdam der Fall war, ebenso wie dies aber auch durch andere Literatur möglich war. 54 George, Der Siebente Ring (SW VI/VII), S. 128. 55 Verben wie „überwältigen“, „reißen“, „erglühen“, „zermalmen“, „zucken“, „verschwenden“, „nehmen“ und „füllen“ eröffnen, da sie im Gedicht an keinen bestimmten Kontext gebunden werden, unterschiedliche Bezugnahmen. Kontextualisierung und konkrete Deutung hingen vom jeweiligen Leser- und Leserinnenkreis ab. Marita Keil-

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Doch die Literatur, wie die Malerei, kann prinzipiell so verstörend sexuell und in Bildern der Gewalt darstellen wie sie will; problematisch wird dies erst, wenn der Kunst eine bestimmte Funktion in einem Handlungszusammenhang zugeschrieben wird, wenn sie beispielsweise zum Teil einer pädagogischen Praxis wird, in der ihre Aussagen vereindeutigt und zum Vorbild von Beziehungen gemacht werden. Aber die Schuld trifft nicht die Kunst, also nicht die Gedichte des Siebenten Rings und des Sterns des Bundes, auch nicht deren Schöpfer in seiner Rolle als Dichter,56 sondern diejenigen, die mit ihnen jenseits des künstlerischen Feldes operieren. Denn eine Autonomie wie die Kunst kann die Pädagogik für sich eben nicht reklamieren und damit auch nicht der Erzieher George und seine Mit-Erzieher im Kreis. Pädagogik ist grundlegend eingebettet in eine verantwortliche Beziehung eines oder einer Älteren zu einer jüngeren, meist minderjährigen Person. Das Theorem des Schönen als des Humanen konnte fatalerweise im George-Kreis auch so gedeutet werden, dass das als schön Definierte (der schöne Leib, die schöne Geste, die schöne Handlung) sich als das Humane selbst rechtfertigen ließ, also über eine ethisch begründete Verantwortung hinweggehen durfte.

Beziehungsentwicklung im Kontext von Jugendverklärung und Pädagogik Ab 1907 begann Ernst Morwitz an George Liebesbriefe zu schreiben (vgl. Br. 25 und passim). Am 18. Januar 1908 schrieb er: „Ich ich bin maechtig und gluecklich in meinem Gefuehl fuer Sie.“ (Br. 30) Bereits 1906 hatte Ernst Morwitz die Brüder Woldemar und Bernhard von Uxkull-Gyllenband (geboren 1898 und 1899) kennengelernt, sie waren ihm aufgrund ihres schönen Äußeren auf der Straße und im Berliner Tiergarten aufgefallen,57 und George und er hatten 1907 Fotografien der erst neun- und achtjährigen Jungen im son-Lauritz verweist in diesem Zusammenhang auf die Rezeptionsseite, d.  h. auf die „Frage des Erwartungs- und Assoziationshorizonts“. Marita Keilson-Lauritz: Von der Liebe die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges, Berlin 1987, S. 43. 56 Daran ändert nichts, dass George mit dem Siebenten Ring (1907) konkrete Ansprüche an Leserinnen und Leser in Gedichtform zu stellen begann, in ihnen Leitbilder des „schönen lebens“ im Zeichen der Kunst, Wissenschaft und Bildung formulierte und seine Forderungen durch lyrische „Du“- und „Wir“-Ansprachen verstärkte. Auch dies verblieb im Feld der Kunst und konnte auf unterschiedlichste Weise interpretiert und adaptiert werden. 57 Da sich Morwitz’ damalige Wohnung in der Kulmbacherstr. 6 nur wenige hundert ­Meter entfernt von der Uxkullschen Wohnung in der Fürther Straße befand, ist es

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Berliner Tiergarten gemacht. In Ernst Morwitz’ Briefen wurde ab 1907 die Auswahl und Erziehung von Jugendlichen ein zunehmend wichtiges Thema, welches für seine Tätigkeit und Identität im Kreis um George schließlich bestimmend werden sollte. Georges Briefe sprechen dagegen zunächst überwiegend von der Beziehung der beiden Briefschreiber zueinander; und wenn sich Morwitz’ Briefe vor dem Ersten Weltkrieg durch offene Liebesbezeugungen auszeichneten, so waren Georges Briefe, als die des deutlich Älteren, durch eine Bemühung um Balance bestimmt, die beratend, tröstend und bestärkend die Stimmungsschwankungen und die Unsicherheit in der Selbstinterpretation des Jüngeren auffangen und ausgleichen sollte (vgl. Br. 33, Br. 52, Br. 55). In deutlicher Abgrenzung zur Entstehung der Dichter-Figur als eines Sehers und Gestalters neuer Reiche im Siebenten Ring (1907) ist in Georges Briefen an Morwitz ein beinahe bürgerliches Lebensmodell der Balance erkennbar, in dem der Einzelne für eine möglichst widerspruchsfreie Koexistenz und Integration der Felder der Lebensführung in einem individuellen Lebensentwurf verantwortlich war: Beruf, Familie, Freundschaften u.v.m. sollten miteinander ausbalanciert werden. Dieser bürgerliche Lebensentwurf mit seinem Postulat eines selbstbestimmten, durch Bildung ermöglichten Vollzugs, sollte, so lassen sich viele Briefe Georges an Morwitz lesen, unter den Bedingungen der Moderne ein neues sinnstiftendes Zentrum finden können. Dies waren die Dichtung und in der Kreispraxis die Person Georges als ‚Gestalt‘; nicht als Zwang, sondern als selbstgewählte Bindung, durch welche die Felder der Lebensführung neu geordnet und gedeutet werden konnten. Ohne dass dies bereits in Kreistexten ausformuliert worden wäre, agierte George in seinen Briefen an Morwitz im Sinne einer Ausbalancierung der Lebenspraxis des Jüngeren. Im Dezember 1910 ging Ernst Morwitz’ Anrede gegenüber Stefan George in ein vertrauliches Du über: „Mein geliebter Meister: Ich kann es nicht fassen, dass Du nicht mehr in dieser Stadt bist. Ich suchte mich den ganzen Tag durch Arbeit zu betaeuben, aber der Schmerz der Trennung ist groesser.“ (Br. 49) Inwieweit mit dieser Veränderung neben einer Liebesbeziehung auch eine sexuelle Beziehung zwischen dem inzwischen dreiundzwanzigjährigen Morwitz und dem zweiundvierzigjährigen George einherging, sagen die Briefe nicht eindeutig aus. Es ist sehr wahrscheinlich, bleibt aber spekulativ. Dass die Briefsprache beider Schreiber emotionaler und intimer wurde und die Briefe körperliches Verlangen zum Thema hatten, zeigt sich allerdings am Ende des Jahres 1910 deutlich: ­ öglich, dass die Beziehung zwischen Ernst Morwitz und den Uxkulls zunächst als m ­Zufallsbekanntschaft auf der Straße begann.

Einleitung 35 „O wuesstest Du, wie mein Leben jetzt so ganz anders ⸢ist als⸣ frueher. Ich fuehle mich fest auf meinen Beinen stehen und es ist mir eine groessere Freude die Dinge klar und bestehend zu sehen als traumhaft verwoben. Dein Gedicht, dessen Sendung mich sehr, sehr froh macht, verstehe ich und liebe ich wahrhaft wie es niemand sonst tun wird, denn es ist jetzt so zwischen uns, dass Du dies dichten ⸢darfst⸣ und ich es mit Freude anschaun darf.58 […] Mein Meister, wenn ich all dies Geschriebene ansehe, kann ich mir nicht denken, dass es etwas anderes enthaelt als eine einzige grosse Beteuerung, wie ich Dich liebe! So will es Dein Ernst“. (Br. 54)

Und George schrieb zur selben Zeit: „Lieber! höre! Wir sind kaum erst getrennt und schon hab ich Dir ein neues zu sagen für Dich von äusserstem werten .  . Ich muss es ⸢mit⸣ dir teilen drum komm bald in die arme Deines St.  Wann?“ (Br. 55, vgl. Br. 123) Ab 1910 sind auch Stefan Georges Briefe deutlich durch Liebesbekundungen und den Wunsch nach körperlicher Nähe bestimmt: „Immer mehr bist Du an mich gebunden und ich an Dich und ich freue mich schon der stunde wo ich Dich wieder in meinen armen halte.“ (Br. 67, vgl. Br. 70) Die Anrede „Seele“ wird ab 1912 in Georges Briefen zu einer vertrauten Nah-Bezeichnung von Ernst Morwitz. Bemerkenswert ist, dass die Beziehung der beiden auch durch die Anwesenheit von Morwitz’ Mutter, die diesen auf Urlaubsreisen begleitete und mit ihm in derselben ­Wohnung in Berlin lebte (vgl. Br. 77, Br. 78), nicht gestört wurde, vielmehr versorgten sie und Morwitz’ Halbschwestern George mit Päckchensendungen. Stefan George hatte in diesem wie auch in vielen anderen Fällen, zum Beispiel bei den Familien Landmann und Gundelfinger (der seit 1910 verwitweten Mutter der Brüder Friedrich und Ernst Gundolf), nichts gegen einen Familienanschluss einzuwenden; vielmehr lebte er häufig im Familienkreis seiner Schüler und Freunde. Die Briefe zwischen Ernst Morwitz und Stefan George vor dem Ersten Weltkrieg beschreiben eine Liebesbeziehung zunehmend gleichrangiger Briefschreiber; das körperliche Verlangen wird in ihnen wiederholt angedeutet, ohne allerdings unmissverständlich zu werden. Die Briefe Stefan Georges

58 Es könnte sich um eines von zwei Gedichten handeln, die später von George in den Stern des Bundes aufgenommen wurden und die sich als Beilage der Korrespondenz bei Morwitz erhalten haben: „Wenn meine lippen sich an deine drängen“ und „Da ich mit allen fibern an dir hänge“ (SW VIII, S. 56 u. S. 63). Die betonte Körperlichkeit in den Gedichten lässt die Annahme zu, dass Morwitz sich mit seinen Zeilen zu einer begonnenen sexuellen Beziehung zu George äußerte. Vgl. den gesamten Brief 54 mit den dortigen Anmerkungen der Herausgeberinnen im Briefwechsel sowie den Nachsatz zu Brief 56, in dem Morwitz bemerkt, dass „eigentlich“ er eines der Gedichte „haette machen muessen“, womit er sich, bezogen auf den Inhalt der Gedichte, möglicherweise den aktiven Part in der Beziehung zuschreiben wollte.

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nehmen in Zahl und Länge in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gegenüber der Zeit vor 1910 ganz erheblich zu. Gleichzeitig begann George mit Morwitz ein briefliches Gespräch über die Schönheit junger Männer und männlicher Jugendlicher und knüpfte Beziehungsnetze im Kreis (vgl. Br. 88), wohingegen dieses Thema vorher, bezogen auf die Brüder von Uxkull, mehr von Morwitz als von George aktiv angesprochen worden war. „Knaben-auslese“ (Br. 88) wurde zwischen den beiden nun zu einem zunehmend wichtigen Thema (vgl. Br. 123, Br. 138). Bis zum Ersten Weltkrieg konzentrierte sich die Erziehungstätigkeit für Ernst Morwitz zunächst auf die Brüder von Uxkull, danach erstreckte sie sich auch auf weitere mögliche Kreiskandidaten. Prüfaufgaben bezüglich jugendlicher Kreisaspiranten hatte Morwitz aber seit Beginn seiner Beziehung zu George wahrgenommen. Jugend und Pädagogik wurden im weiteren Verlauf die großen Themen ihrer Beziehung. Stefan George selbst begann nach 1910 Fragen der Auswahl möglicher Kreisaspiranten und die Stadien ihrer Persönlichkeitsentwicklung in Briefen an Morwitz zwar zu diskutieren, befasste sich aber in der R ­ egel erst mit den Jugendlichen und jungen Männern, wenn diese Oberstufenschüler oder Studenten waren (vgl. Br. 145). Große Teile des Briefwechsels der letzten vier Jahre vor dem Ersten Weltkrieg drehen sich um die Auswahl und die Einbindung „‚neuer‘ menschen“ (Br. 110) in den Kreis. Hierbei wurde den Kreismitgliedern abverlangt, dass sie Georges Begeisterung für die ‚Neuen‘ teilten und gemeinsam mit ihm an deren Integration in den Kreis arbeiteten (vgl. Br. 138). Angesichts der Liebe von Ernst Morwitz zu Stefan George waren Sätze Georges wie dieser über den Kunsthistoriker und Bildhauer ­Ludwig Thormaehlen (1889–1956) eine harte Lektion: „Ach Ernst dass es solche menschen giebt wo nichts fehlt und dass man sie in den armen hält!!“ (Br. 110) Von Beginn an wurde Ernst Morwitz verdeutlicht, dass er nicht ‚der Einzige‘ war, dem Stefan Georges Zuneigung, Liebe und körperliche Nähe g­ ehörten. Einer der ersten Briefe an Ernst Morwitz stammt dann auch im Auftrag Georges von Friedrich Gundolf (vgl. Br. 9). Konnte der Aspirant seine Einordnung in einen Kreis von Gleichaltrigen und Gleichrangigen und das ständige Hinzutreten und die Prüfung weiterer ‚Neuer‘ akzeptieren, so war ein langfristiges Verbleiben im Kreis möglich. Damit wurde aber von Beginn an auch eine Autorität Georges und eine Beziehungshierarchie implementiert, welche die Entscheidungen über Charakter, Intensität und Aufgaben der Beziehung in seine, Georges, Hände legte. Gleichzeitig aber, das zeigt die Beziehung zwischen Morwitz und George deutlich, besaßen die Kreismitglieder große Entscheidungsspielräume, dem Kreis eine ihnen gemäße Interpretations- und Handlungsebene hinzuzufügen: Gundolf und viele andere mit der Wissenschaft, Wolters mit der Politik, Morwitz mit der Erziehung. Die

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Entstehung und die Geschichte des George-Kreises waren ein Interaktionsgeschehen, er entwickelte sich nicht aus einer zielgerichteten Programmatik des ‚Meisters‘ George, sondern entfaltete sich aus dem Zusammenwirken vieler Personen, ihrer Biographien und Wirkungsabsichten. So war es Ernst Morwitz, der, beginnend mit den Brüdern von Uxkull-Gyllenband, die Erziehung auch von Kindern im Kreis initiierte, während George erst ab dem Jugendalter, überwiegend aber erst im jungen Erwachsenenalter wirkliches Interesse an möglichen Kreisaspiranten entwickelte.59 Die Briefe vor dem Ersten Weltkrieg beschreiben in diesem Zusammenhang eine ­Erziehungstätigkeit von Seiten Ernst Morwitz’ und eine beobachtende, abwartende Haltung Georges. Morwitz schrieb: „Die Kinder sind hier. Da ihre Versetzung in der Schule zweifelhaft ist und ihnen mit dem Kadettenhaus gedroht wird, muss ich mit ihnen viel Griechisch arbeiten. Sie entwickeln sich gut, so dass ich noch immer Hoffnungen habe. Sie sind den ganzen Tag bei mir.“ (Br. 89) Morwitz suchte wegen der schlechten schulischen Leistungen der Brüder – vermutlich gemeinsam mit den Eltern – schließlich die König­liche Klosterschule in Ilfeld aus, ein Internat,60 und nahm damit entscheidenden Einfluss auf die schulische Laufbahn.61 Die Bezeichnung „Kinder“, die sowohl Morwitz als auch George für die Brüder von Uxkull-Gyllenband wählten, beschreibt Morwitz’ Selbstverständnis als ein den Eltern an die Seite gestellter Erzieher und Mentor sowie die enge Beziehung, die sich zwischen Zöglingen

59 Maximilian Kronberger war 14 Jahre alt, als ihn Stefan George 1902 in München kennenlernte, Percy Gothein war ebenfalls 14 Jahre alt, als George ihn 1910 in Heidelberg auf der Straße sah, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine älteren Zwillingsbrüder Alexander und Berthold waren 16 bzw. 18 Jahre alt, als sie George 1923 kennenlernten. Auch hier ging die Einschätzung früher jugendlicher Schönheit dem Interesse an der Substanz voraus beziehungsweise bedingte in Georges Vorstellung deren Möglichkeit. Ein einziger Brief Georges an Morwitz, aus dem Dezember 1915, spricht von Kindern und ihren geistigen Möglichkeiten (vgl. Br. 230). Intellektuelle Gesprächspartner und interessante Persönlichkeiten wurden die jungen Männer für George letztlich erst, wenn sie mindestens Oberstufenschüler waren, besser noch einige Semester studiert hatten (vgl. Br. 198, Br. 453). Im Falle von Maximilian Kronberger blieb George in seinen Briefen bis zu dessen frühem Tod 1904 bei einem distanzierten Sie. 60 Ilfeld war eine Königliche Klosterschule mit langer Tradition (gegründet 1567). Das evangelisch-landesherrliche Internat besaß nur eine gymnasiale Oberstufe von Untertertia bis Oberprima und hatte 1910 eine Schülerzahl von rund 100 Alumnen. Vgl. Ulrich Herrmann/Detlef K. Müller: Regionale Differenzierung und gesamtstaatliche Systembildung. Preußen und seine Provinzen  – Deutsches Reich und seine Staaten, 1800–1945 = Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte Bd.  II, Höhere und mittlere Schulen, 2. Teil, Göttingen 2003, S. 52  f. 61 Vgl. „Wichtig ist die Wirkung auf Ilfeld. Uebermorgen wird mich ein Primaner von dort besuchen.“ Ernst Morwitz an Stefan George am 27. Dezember 1911 (Br. 89).

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und Mentor anbahnte; eine Entwicklung, welche bei der Mutter, Gräfin Lucy von Uxkull-Gyllenband, trotz ihres Einverständnisses Befremden auslöste. Um zu erfahren, auf welche Inhalte sich ihre Söhne mehr und mehr einließen, bat sie Morwitz 1910 um die Gedichtbände Georges (vgl. Br. 54). In der Folgezeit wurden die Vorbehalte der Mutter jedoch offenbar ausgeräumt; Morwitz wurde zu einem Berater und engen Vertrauten der ­Eltern (vgl. Br. 111). Durch die von den Erziehern vermittelte Selbsteinschätzung als Aspiranten eines im Entstehen begriffenen ‚Geheimen Deutschlands‘,62 die enge Beziehung zum Erzieher und zu weiteren Zöglingen sowie die ehrfurchtsvoll erwartete und erlebte Begegnung mit George entstand in der Lebenswelt der Jugendlichen eine vom Alltag abgegrenzte Sphäre. Innerhalb dieser Sphäre vollzog sich die eigentliche Kreiserziehung und erhielt aus den skizzierten Elementen ihre Bedeutung für die einzelnen Jugendlichen. Noch unterstrichen wurde die Außeralltäglichkeit durch die Tendenz, den jüngeren Kreismitgliedern, teils auch den Älteren, durch Namensgebung eine eigene Kreisidentität zu verleihen. So hieß Ernst Morwitz im Kreis der ‚grosse Ernst‘, im Unterschied zum mittleren Ernst (Ernst Glöckner) und zum kleinen Ernst (Ernst Gundolf), Ernst Kantorowicz wurde nach seinen Initialen ‚Eka‘ genannt, Johann Anton ‚der Prinz‘, Walter Anton ‚der Löwe‘, Silvio Markees ‚Simba‘, Max Kommerell ‚Maxim‘, ‚Puck‘ oder ‚das Kleinste‘ und die Stauffenberg-Zwillinge Berthold und Alexander ‚Adjib‘ und ‚Offa‘. Mitglied des Kreises zu werden sollte eine Initiation sein, eine Aufnahme in die Gemeinschaft der verehrend Erkennenden, die vorausgehende Identitäten (als Sohn, Freund, Schüler, Student, Wissenschaftler usw.) in einer höheren Identität als Georgeaner im dreifachen Sinne ‚aufhob‘ (als je eigenständige Identitäten auflöste, als Elemente bewahrte und zugleich in eine höherwertige Identität überführte) und der ein kreisinterner Erziehungsprozess durch ältere Kreismitglieder und George folgte. Dies war, wie es Edith Landmann 1933 in ihrem Aufruf An die deutschen Juden, die zum geheimen Deutschland hielten, rückblickend fasste, das sich an jedem Kreismitglied vollziehende „Wunder der Verwandlung“.63 Für Ernst Morwitz und für viele weitere 62 Die Begrifflichkeit ‚Geheimes Deutschland‘ besaß im George-Kreis drei Bedeutungsebenen: Erstens die ‚heimliche Herrschaft‘ der Dichter und Denker über die Bildung und die Identität der deutschen Nation, zweitens die Selbstbeschreibung des George-Kreises als gegenwärtige geistige Akademie im erstgenannten Sinne und drittens die Herrschaft der Dichter und Denker durch alle historischen Epochen hindurch mit der Aufnahme und Fortsetzung ihrer ‚Sendung‘ im Kreis. 63 Edith Landmann: An die deutschen Juden, die zum geheimen Deutschland hielten (1933), zit. nach Groppe, Die Macht der Bildung (wie Anm. 5), S. 671. Zur Argumentation des Aufrufs vgl. ebd., S. 670–672.

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Kreismitglieder entstand durch die Kreismitgliedschaft ein sinnerzeugender Sozialisationskontext, durch welchen sie ihr Leben und ihre Rollen als Berufstätige, Freunde, Familienväter u.v.  a. langfristig strukturieren und interpretieren konnten. Die Intensität, mit der dies geschah, war unterschiedlich: Sie reichte von einer Organisation des gesamten Lebens im Kontext Georges und des Kreises über eine Integration der Begegnungen und Freundschaften mit George und weiteren Kreismitgliedern als einen eigenen Teilbereich in eine ansonsten davon unabhängige Lebensführung bis zu nur gelegentlichen Bezugnahmen und Begegnungen. Einen Eskapismus in der Lebensführung, wie ihn viele Weltanschauungsgemeinschaften im Kaiserreich und der Weimarer Republik mit Siedlungsund Kommuneprojekten oder wie ihn die Reformpädagogik mit Internatsschulen in ländlicher Abgeschiedenheit praktizierten, gab es im George-Kreis nicht. Statt eines geschlossenen sozialen Raums existierten kleinere und größere Zeitfenster der Begegnung und des kurzzeitigen Zusammenlebens mit George, der sowohl in seinem Elternhaus in Bingen als auch wochenweise bei Hanna und Karl Wolfskehl in München, bei Friedrich Gundolf in Heidelberg, bei Erika und Friedrich Wolters in Marburg und später in Kiel oder bei der Familie Landmann in der Schweiz und später ebenfalls in Kiel lebte und für die Ferien mit Freunden (z.  T. gemeinsam mit deren Familien) gemeinsam verreiste. Weitere Treffpunkte waren die Ateliers Melchior Lechters und Ludwig Thormaehlens und später Alexander Zschokkes. Vielfach trafen die Kreismitglieder George nur zu kurzen Begegnungen am Tag oder zu einer Abendgesellschaft. Der George-Kreis war dementsprechend weniger ein Lebenszusammenhang als ein Briefnetzwerk sowie eine Denkform und Lebenshaltung, die sich jedes Kreismitglied auf seine Weise und in unterschiedlicher Intensität zu eigen machte. Aus einer Künstlergemeinschaft um die Blätter für die Kunst war bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein Kreis aus angehenden Universitätsprofessoren, höheren Beamten und akademischen Freiberuflern geworden, deren Leben nicht allein durch die Dichtung und die Begegnungen mit George bestimmt wurde, sondern ebenso sehr durch Forschung, Lehre und Universitätsangelegenheiten aller Art, durch die Tätigkeit als Richter oder durch das Führen einer Anwaltskanzlei oder einer Arztpraxis, d.  h. durch bürgerliche Berufsarbeit und die mit ihr verbundene Alltagsorganisation. Da die Treffen mit George selten waren und oft Wochen oder Monate vergingen, bis man sich wiedersah, war die Integration Georges bzw. dessen Lyrik eine Aufgabe jeder einzelnen Person und damit auch ihrer Deutungshoheit. George lehnte jede Interpretation seiner Gedichte im Sinne einer Konkretisierung ihrer Aussagen ohnehin ab. Auf diese Weise kamen die unterschiedlichen Auslegungen zustande, für die Friedrich Gundolf, Friedrich Wolters und Ernst Morwitz ex-

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emplarisch stehen,64 und von denen George keiner den Vorzug gab. Auch die ‚tathafte‘, männerbündisch-politische Auslegung Georges durch die j­üngeren Kreismitglieder, welche erst nach der Jahrhundertwende geboren worden ­waren, war eine von diesen ausgehende Interpretationsleistung. Diese Jüngeren gehörten zu demjenigen Teil der jungen Alterskohorten der Weimarer Republik, welcher auf den neuen Staat mit deutlicher Ablehnung reagierte und unklare, gleichwohl radikale bündische bis völkische Konzepte einer Neugestaltung von Staat und Gesellschaft entwickelte. In der Theorie sollte dagegen die Orientierung an George und seinen ­Gedichten und an einem durch ihn und die Kreismitglieder entwickelten Bildungskanon die Persönlichkeitsentwicklung ständig begleiten und dadurch eine Lebensführung der Balance zwischen allen Lebensbereichen sichern. Es ging George und den Kreismitgliedern letztlich nicht um die Aufhebung bürgerlicher Lebenspraktiken, sondern, aller verbalen Anti-Bürgerlichkeit zum Trotz, um deren reflexive Restitution. Das Erreichen des Abiturs, eines Universitätsabschlusses sowie später eines erfolgreichen Berufseintritts und einer entsprechenden bürgerlichen Karriere waren Teilziele der Kreiserziehung und der Kreisexistenz, durch die zwar zwischen einem Leben im Kreis und der bürgerlichen Existenz unterschieden wurde, beides aber aufeinander bezogen wurde. So hatte George Morwitz frühzeitig zu einer juristischen Karriere geraten, und der Erfolg der Kreiserziehung wurde von Ernst Morwitz im Fall seiner eigenen Zöglinge auch am Erreichen bürgerlicher Qualifikationsziele (Abitur, Studienabschluss, Berufseintritt) gemessen.

Ermöglichungsstrukturen: Pädophilie, Pädagogik und sexualisierte Gewalt Wie Ernst Morwitz aber seine Zöglinge auswählte und wie George diese und weitere für den Kreis einschätzte, erfüllte den Tatbestand der Pädophilie. Es war der schöne Knabenkörper, der die Auswahl anleitete oder bei NichtGefallen zur Ablehnung führte (vgl. Ernst Morwitz’ Br. 148).65 Sehr deutlich 64 Vgl. Groppe, Die Macht der Bildung (wie Anm. 5), S. 213  ff., S. 290  ff., S. 412  ff. 65 Die Herausgeberinnen haben sich für den Begriff der Pädophilie entschieden, weil er als Differenzbegriff zu sexualisierter Gewalt und zu pädosexuellem Begehren hilfreich ist. Es existieren in der Forschung Überlegungen, den Begriff der Pädophilie ganz durch den der Pädosexualität zu ersetzen, um deutlich zu machen, dass in Pädophilie ein sexuelles Verlangen grundsätzlich eingelassen ist. Eine solche Verbindung galt aber nicht für den George-Kreis insgesamt, sondern für einzelne Personen in ihm. Daher scheint es im Falle des George-Kreises angemessener, die Begriffe differenziert zu verwenden. Zur

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wird die kindliche und jugendliche körperliche Schönheit als Auswahlkriterium in einem Brief von Morwitz aus dem Jahr 1913 ex negativo benannt (vgl. Br. 148) und nochmals im Jahr 1925: „Hier beim Schwimmen gibt es viele gute Körper, doch sind sie alle roh  – die durchgeistigende Ehrfurcht fehlt. Selbst die so im Schwange befindlichen Leibesübungen werden nicht mit Innerlichkeit betrieben, sondern ‚auf Akkord‘.“ (Br. 411) So hatte Morwitz nicht nur die Brüder von Uxkull im Alter von erst sieben bzw. sechs Jahren auf der Straße aufgrund ihrer kindlichen Schönheit angesprochen, sondern auch seinen späteren Zögling Silvio Markees (1908–1991) 1920 als Zwölfjährigen beim Schlittschuhlaufen auf einer Eisbahn in Berlin erst beobachtet und daraufhin angeredet. Wichtig war es in der Folgezeit in jedem Fall, die „licentia familiae“ zu erhalten, wie Morwitz es nannte. Im April 1922 schrieb er über Silvio Markees und dessen Vater: „[…] wir sind sehr viel zusammen und er beginnt sich ohne diesen Verkehr zu langweilen. Neulich suchte mich sein Vater nach Anmeldung auf, die Sache verlief sehr angenehm, ich habe licentiam familiae. Also jetzt – abwarten .  . was herauskommt, ist noch nicht abzusehen.“ (Br. 341) Mit welch willkürlichen und esoterischen Kriterien bei der körperlichen Beurteilung von Jugendlichen verfahren wurde, zeigt ein Brief von Ernst Morwitz aus dem Ersten Weltkrieg von der belgischen Front: „Die S.  S. hier kenne ich jetzt ziemlich genau, in einer Vorstadt bei den Aalhäusern hatte ich zwei entdeckt, die ein Bild Flanderns komprimiert gegeben hätten: der eine wallonisch dunkel in Haar und Haut aber mit dem sonderbar spitzen langen Schädel, der andere flämisch rund und rosig und hellhaarig  – aber beide mit dem belgischen Übel: den zu wachen, traumlosen, wenn auch formal sehr schönen Augen. Das scheint mir der Kern zu sein: diese zukunftslos offenen Augen. Stets bin ich von neuem über die Formen und Farben entzückt, aber die Seele fehlt in diesem Nord-Südgemisch.“ (Br. 199, vgl. auch Georges Br. 180)

Ernst Morwitz und vor allem die durch ihn und andere Ältere wie den klassischen Philologen Albrecht von Blumenthal (1889–1945) erzogene jüngere Kreisgeneration der um 1900 Geborenen: Max Kommerell, die Brüder von Stauffenberg, Ernst Kantorowicz, die Brüder von Uxkull u. a., aber auch George selbst (nicht jedoch Wolters oder Gundolf) bedienten sich zudem der Abkürzung S. oder S.  S. in der Bedeutung von „Süßer“, „Süße“ oder auch „sehr süß“, um die Erscheinung eines in Frage kommenden Jugendlichen Begriffsdiskussion bezüglich Pädosexualität vgl. Meike Sophia Baader: Der Diskurs um Pädosexualität und die Erziehungs-, Sozial- und Sexualwissenschaften der 1970er bis 1990er Jahre, in: Retkowski et al., Handbuch Sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte (wie Anm. 42), S. 70–80.

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oder aber um aus Sicht der Jugendlichen deren gleichaltrigen Freunde im Kreis („sein S.“) mit deutlich homoerotischer Aufladung zu beschreiben. Gemeint war damit sowohl die äußerliche Erscheinung als auch die Gesamtpräsentation des Bezeichneten: vertretene Meinungen, dichterische Sensibilität, Präsentation in Gesprächen, körperliche Haltung und Gestik. Mit der Bezeichnung ‚Süßer‘ wurde jedoch nicht zwingend auch eine sexuelle Orientierung des Bezeichneten beschrieben. Alexander von Stauffenberg benutzte den Begriff 1927 beispielsweise, um die Verbindung von wissenschaftlicher Arbeit, Gemeinschaft und ‚geistigem Staat‘ zu beschreiben: „Andere Süsse · nebenbei bücher schreibend · examina machend · kreiren dauernd Süsse oder raten u. taten für den Staat. Meine taten · wobei vom Staate kaum die rede sein kann · erstrecken sich neben wenigen leidlichen versen auf ein paar periodische arbeitsanfälle.“66 Die Abkürzung S. oder S.  S. konnte in den Briefen auch die Bedeutung von ‚Staatsstützen‘ besitzen. Die mögliche Doppelbedeutung ist in Bezug auf die männerbündisch-homoerotische Grundstruktur des Kreises aufschlussreich genug. So sah sich Friedrich Gundolf bereits 1910 gegenüber der Berliner Malerin und Freundin Georges Sabine Lepsius veranlasst, zur Problematik von Pädophilie und Sexualität Stellung zu nehmen und tat das in einer ironischen, das Problem minimierenden Weise: „Abermals und abermals: weder unsre ‚Frauenfrage‘ noch unsre ‚Jünglingsliebe‘ hat mit Sexuellem, Emancipation, Mutterschutz, Eulenburg, § 175 usw. irgendwas zu schaffen, sondern ist ein Bemühen um die Erhaltung und Weckung weltschaffender, kosmischer Kräfte […] Alles was heute darüber verteidigend oder beschuldigend geschwatzt wird, ist […] ungefähr so nah an den Gegenstand herankommend, wie wenn eine Wäscherin, ein Seifenfabrikant oder ein Stiefelputzer sich über Kants Kritik der reinen Vernunft äusserten, weil sie darin Fragen der Reinlichkeit angeschnitten fühlten […]. Genau soviel hat die ‚Liebe‘ von der wir reden mit Sexualität zu tun.“67

66 Alexander von Stauffenberg an Stefan George am 28. Januar 1927, StGA. Albrecht von Blumenthal schrieb über einen möglichen Aspiranten, nachdem er dessen körperliche Erscheinung beschrieben und ihn für den Kreis für untauglich befunden hatte: „[…] aus seiner art über die Shakespearesonette zu sprechen ging hervor dass er lieber mit männlichen als mit weiblichen wesen unzucht treibt: jedoch tat ich als ob ich seine zarten anspielungen nicht verstünde .  .“ Albrecht von Blumenthal an Stefan George am 1. Mai 1928, StGA. Die sexuelle Orientierung der Kreisaspiranten und -mitglieder war für eine mögliche Kreismitgliedschaft nicht entscheidend, wohl aber eine Sensibilität für die im Kreis betonte Kulturbedeutung mann-männlicher Gemeinschaft. 67 Friedrich Gundolf an Sabine Lepsius, 3. August 1910, in: Gundolf Briefe. Neue Folge. Hrsg. von Lothar Helbing/Claus Victor Bock, Amsterdam 1965 (= Castrum Peregrini Heft 66–68), S. 66  f.

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War die Auswahl von Kindern und Jugendlichen homoerotisch und pädophil motiviert, so enthalten die Briefe dennoch keine konkreten Hinweise auf eine entsprechende sexuelle Praxis. Es muss ungeklärt bleiben, ob die Zuneigung zu als schön klassifizierten männlichen Heranwachsenden im Kreis und durch George zur sexualisierten Gewalt gegenüber diesen wurde oder nicht. Wenn George im Mai 1913 an Morwitz schrieb, dieser sei ihm „am ähnlichsten nicht durch die art sondern durch dass [sic] maass der Gefahr!“ (Br. 145), so mag damit auch angedeutet werden, dass beide zwar ein starkes, gleichgeschlechtliches erotisches Begehren verband, sich dieses bei George aber auf in der Regel bereits erwachsene junge Männer richtete, bei Morwitz hingegen auch auf Kinder und Jugendliche. Dass hier ein Problem bestand, wird an vielen Briefstellen deutlich. Ob dieses Problem in Gründen des Strafrechts oder in ethischen Erwägungen von George und Morwitz gesehen wurde, lässt sich nicht sagen. Ernst Morwitz berichtete George im Februar 1918 über seine Gespräche mit einem Zögling: „Über die Gefahren der ‚Süsslichkeit‘ und des ‚trockenen Wahnsinns‘ ward viel gesprochen – er denkt sehr richtig und naturmässig einfach hierüber.“ (Br. 285, vgl. Br. 283) Wird mit dem Begriff der „Süsslichkeit“ die Gefahr homoerotischer Überhöhung von Freundschaften bis hin zur homosexuellen Praxis benannt, so bezeichnet ein „trockener Wahnsinn“ die Überschätzung der eigenen intellektuellen Fähigkeiten ohne schöpferische Inspiration durch Freundschaft und Liebe. In diesem Zusammenhang heißt es bei Morwitz in einem Brief aus dem Februar 1918 über einen in Augenschein genommenen Jugendlichen: „Er ist anständig, aber zweifelsohne protestantisch trocken wahnsinnig, und kommt für uns nicht anders als ein Mitläufer in Frage.“ (Br. 283) Kompliziert wurde dieses Konzept dadurch, dass der schöne Leib – zumindest der Idee nach – grundlegende Voraussetzung und zugleich anzustrebendes Ziel der Bildung war. Deshalb sollte den Zöglingen, wie aus dem Briefwechsel zwischen Morwitz und George mehrfach hervorgeht, die Differenz zwischen Schönheit, Erotik und Pädagogik auf der einen Seite und der eigenen, davon zu trennenden sexuellen Praxis auf der anderen Seite ver­ mittelt werden. So machte Morwitz George 1912 auf Thomas Manns Der Tod in Venedig aufmerksam und hielt die Novelle nicht nur für „besonders unverschaemt, da ganz ernst gemeint“ (Br. 127), sondern wollte den Verfasser und seine Novelle gleich „totgeschlagen“ sehen, offenbar weil das pädosexuelle Begehren in der Novelle eben nicht mehr sublimiert und aufgehoben wurde in Pädagogik. Gleichwohl waren die pädagogischen Bestrebungen im Kreis auch ansonsten nicht harmlos. Die Auszeichnung von Jugendlichen aufgrund ihrer körperlichen Vorzüge und ihrer ‚Haltung‘ (zumeist auflösbar in bürgerliche oder

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adlige Herkunft und entsprechendes Bildungswissen), ihre Fotografie und das Zirkulieren dieser Fotografien im Kreis schuf ein mit der Kreis­erziehung oft konfligierendes, ambivalentes Selbstverständnis der Jugendlichen zwischen kreisintern verlangter Ein- und Unterordnung und einem Bewusstsein der Auserwähltheit (vgl. Georges Brief im Dezember 1916, Br. 255). Die Beschreibungen in den Briefen spiegeln eine groteske Idealisierung der Jugendlichen („Göttersöhne“, Br.  193, Br.  287) und eine seltsame Überschätzung ihrer dichterischen Leistungen im Kreis, welche zugleich die Bedeutung der eigenen ‚Sendung‘ indizierten (vgl. Br. 313). So schrieb George 1927 an Morwitz über einen Kreisaspiranten: „L. E. ich muss Dir berichten: H ist nun endlich so weit dass ER mit spazieren zu gehn geruht. Da hab ich ihn flüchtig gesehn .  . hübsch fast zu hübsch .  . etwas das ideal der L. v. Hofmann=Jünglinge ∙ ganz dunkelbraun und dabei milch= und blut=haut ∙ militärisch halb und halb volksig ∙ vollständig ungeistig ∙ eher technisch angeregt – und dabei vollgymnaser … sein leitspruch: ‚Ich geh keinen menschen was an‘…! Du würdest ihn unter hunderten herausfinden .  .“ (Br. 453)

Und Erwachsene wie Morwitz, immerhin hoher preußischer Staatsbeamter, waren sich nicht zu schade, schönen Jugendlichen durch die Straßen Berlins und auf Schlittschuhbahnen zu folgen (vgl. Br.  160, Br.  181, Br.  373, Br. 377). Die schwärmerische Bewunderung ihrer körperlichen Vorzüge und die daran geknüpfte hohe Erwartung an ihre geistige ‚Substanz‘ konnten zudem bei manchem Jugendlichen zu Überwältigung und Überforderung führen. Wo gelingende Pädagogik, hier aus Sicht der Erzieher die Hinführung und Eingliederung in den Kreis, zu einer existentiellen Frage für die Erzieher wurde, konnte zudem auch deren Selbstwertgefühl fragil werden. Das betraf auch George selbst. Trennungen vom Kreis wie die Gundolfs 1926 und diejenige Kommerells 1930 waren Lebenskrisen nicht nur für diese selbst, sondern auch für George. Sie waren das Ergebnis gescheiterter Beziehungen und Erziehungsbemühungen. Im Ersten Weltkrieg schrieb Morwitz an George einen langen Brief über seinen Besuch eines katholischen Alumnats in Belgien (vgl. Br.  214). Neben den ‚leiblichen‘ Fragen wird hier am Ende des Briefs noch einmal pointiert deutlich, wie stark der Eros für Morwitz pädagogisch konstitutiv war: „Zu erwähnen bleibt noch, dass ich dem Prior zum Abschied einen fürchterlichen Hieb versetzte, indem ich sagte, dass die Griechen die einzigen Erzieher gewesen seien. Er verstand mich.“ Die katholische Internatserziehung und die pädagogische Expertise des Internatsleiters werden abgewertet. Das Zitat zieht zudem im Unterschied zu anderen Briefen keine klare Grenze zwischen sexueller Praxis mit Kindern und Jugendlichen und Erzie-

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hung.68 Und auch Georges Aussagen bleiben an manchen Stellen in der Schwebe. So urteilte er 1924 über den offen homosexuell lebenden Percy Gothein, einen zu diesem Zeitpunkt achtundzwanzigjährigen Mann mit einer sich für George nicht erfüllenden Kreisaspiranz: „Die art wie P. in seinen briefen gewisse παιδ-dinge behandelt ∙ halte ich für ganz und gar gefährlich. […] Ich will das wort nicht abnutzen ∙ aber auch hier müsst’ ich sagen: es fehlt der sinn fürs Schickliche. Nimm dies nicht zu leicht. Hier liegt eine P’sche lebensgefahr. Ihm fehlt noch ⸢zum erziehen⸣ das nötigste: die zucht.“ (Br. 376)69

Kann man hier interpretieren, dass zur Erziehung die Selbstversagung des Sexualakts gehört, so wird in anderen Briefen angedeutet, dass Begehren auch in Form einer ‚Zeugung‘ zum Ausdruck kommen kann, allerdings bezieht sich 68 In seinen späteren Aufzeichnungen schrieb Morwitz zu den Themen Homosexualität und Pädosexualität: „Wie sinnlos der Vorwurf der Homosexualität, der dem ‚Kreis‘ gemacht wird, ist, zeigt die Tatsache, dass Lechter an Folgen einer Syphilis gestorben ist, die er sich – wie StG sagte – durch die wie ein Rosetti ⸢Bild⸣ aussehende Engländerin Dorothy geholt hätte, und dass Wolfskehl, wie er mir selbst sagte, an Strikturen ⸢nach⸣ einer in der Jugend geholten Gonorrhoe litt, und dass Frauen wie die Gräfin Reventlow und Elli Gundolf-Salomon innerhalb des ‚Kreises‘ als eine Art moderner Hetären ihre sexuelle Befriedigung fanden. – Eine ganz verschiedene Frage ist, ob die Geschlechtsorgane des Mannes nicht noch die andere Bedeutung, wie es bei den Griechen des archaischen Zeitalters ⸢und bei Sokrates der Fall war⸣ haben, nämlich die der Übertragung einer bestimmten Geistesart, die aber nur auf Wesen eines jugendlichen Alters möglich ist, in dem jene ⸢Wesen⸣ noch keine ⸢sexuellen⸣ Verbindungen oder Bindungen zu Frauen, also vor Betätigung solcher persönlicher Sinnlichkeit, gehabt haben. Tatsächlich haben sich fast alle der St. G. Nahestehenden später verheiratet, wenn sie nicht vor dem Heiratsalter gestorben sind.“ (BB) In diesen rückblickenden Aufzeichnungen werden Erziehung und Enkulturation allerdings auf eine Weise ‚hellenisiert‘, dass sie einen Geschlechtsakt mit Kindern und Jugendlichen einschließen können. Auch hier fehlt ein Beweis für dessen historischen Vollzug, eine Rechtfertigungsstrategie und Legitimation enthält diese Äußerung aber zweifelsfrei. 69 Ernst Morwitz nimmt in seinen Erinnerungen eine negative Beurteilung Percy Gotheins vor. So hält er in seinem Briefbuch später fest: „Ich glaube, dass Percys seltsames Verhalten auf den Kopfschuss im ersten Weltkrieg zurückzuführen ist, von dem er niemals völlig genas. Von der Natur mit ungeheurer Kraft ausgestattet, beschlief er alles, was ihm in den Weg kam, und das mag zu seinem Ruin beigetragen haben.“ (BB) In diesem Zitat zeigt sich auch eine bestimmte Haltung zur Sexualität, die deren freies und häufiges Ausleben problematisierte. Zudem zeigt sich im Briefbuch bei Morwitz eine Ehefeindlichkeit, die er mit erinnerten George-Aussprüchen wie diesem zu unterstreichen und zu rechtfertigen sucht: „St. G’s Bild für verheiratete Männer: ‚Sie laufen auf Befehl ihrer Frau wie Hundelchen auf zwei Beinen bettelnd um den Tisch herum.‘ (Gundolf, Robert Boehringer).“ (BB) Dass sich Ernst Morwitz’ eigene Erotik und Körperästhetik auf männliche Kinder und Jugendliche und auf erwachsene Männer bezog, belegen viele Stellen in seinem Briefbuch.

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die Briefstelle auf einen jungen Erwachsenen und bleibt mehrdeutig. George schrieb im Mai 1914 über den zweiundzwanzigjährigen Hans Brasch (1892– 1950) an Ernst Morwitz, mit dem Brasch in Berlin befreundet gewesen war: „Ich war am meer bei Genua drei bis vier tage mit ihm zusammen: mir wurde dabei klar dass er anständig + sauber ist + dass man auch an den ‚Leichten‘ seine freude haben kann aber dies war die wichtigste erkenntnis: die nächste zeugung ist nur gestattet bei irgend einer gleichheit des schwere=verhältnisses! Ich durfte nicht“. (Br. 167)

Was diese Zeugung bei dem jungen Mann hätte bewirken sollen und was sie umfasst hätte, ob eine geistige ‚Einweihung‘ oder auch eine körperliche Bezie­hung, bleibt offen. Einen Beleg für eine sexuelle Praxis bietet der Brief nicht; vielmehr verweist er auf eine antikisierende Denkform, welche die Dimensionen Körper und Geist ideell verband. So kann aus dem Briefwechsel zwischen George und Morwitz auch keine sexualisierte Gewalt gegenüber Jugendlichen belegt werden. Gleichwohl gibt es in den Briefen wiederholt Zwischentöne und Andeutungen (vgl. Georges Briefe im Mai 1914 und im März 1915, Br.  168, Br.  198; Morwitz’ Briefe im Februar 1918, Br.  283, Br. 285, Kommerells Brief vom März 1924, Br. 377), welche die Körperlichkeit im Umgang mit Jugendlichen unverkennbar betonen, ohne dass Klarheit über die Reichweite solcher Aussagen gewonnen werden könnte. George und Morwitz arbeiteten vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend gleichberechtigt an der Erziehung von Jugendlichen, welche im Kontext der vorausgehend erörterten Problematik zu bewerten ist. Erfahrungen und Einschätzungen wurden in den Briefen berichtet und unterschiedliche Beurteilungen von Kreiskandidaten diskutiert. Beide Schreiber und ihre Briefe waren zugleich Teil eines Briefnetzes innerhalb des Kreises, durch das Aufenthaltsorte, Befinden, Tätigkeiten und Begegnungen mit anderen Kreismitgliedern beständig ausgetauscht und bewertet wurden. Dabei war es nicht nur Morwitz, der Bericht erstattete, sondern gleichermaßen auch George. Hierarchien sind in den Briefen der Schreibenden kurz vor dem Ersten Weltkrieg kaum noch auszumachen. Morwitz hatte sich als Erzieher im Kreis und für den Kreis eine eigene, von George geschätzte Aufgabe und Expertise erarbeitet.

Der Erste Weltkrieg: Existentielle Nöte, Deutungsversuche und der Tod zweier Jugendlicher Der Erste Weltkrieg gab der Beziehung zwischen Morwitz und George keine grundlegend andere Richtung. Anders als im Briefwechsel zwischen Wolters und George, in dem der Krieg und seine Deutung, insbesondere von Wolters’

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Seite, eine wichtige Rolle spielen, war die Kriegskorrespondenz zwischen Morwitz und George durch Kontinuität zur Vorkriegszeit geprägt. Die Entdeckung, Erziehung und die – angeleitete oder selbstständige – Entwicklung Jugendlicher blieben die wichtigsten Themen. Trotz Morwitz’ freiwilliger Meldung als Krankenpfleger zum Roten Kreuz, wodurch er der Einberufung zur Infanterie entging, und seines Einsatzes ab Januar 1915 fand er Zeit, regelmäßig und umfangreich über Zöglinge und Kreismitglieder zu berichten, ebenso wie Stefan George ihm wiederum ausführlich schrieb. Im März 1917 hatte George auf einen Brief von Friedrich Wolters von der Front, in dem dieser die Bedeutung des Krieges für die geistige Bewegung Georges betont hatte, in einem in seinem Auftrag geschriebenen Brief folgendermaßen durch Ernst Glöckner antworten lassen: „Aufrecht zu erhalten bleibt dass Ihr fast alle die unmittelbare bedeutung des kriegs im anfang überschätzt habt. In dem rast ein altes jahrhundert sich zu end. Ein neues wird vielleicht durch ihn vorgestossen: aber das ist nicht durch das innere wesen des krieges wie heut alle ‚geister von draussen‘ noch meinen.“70 Im Februar 1918 schloss George in einem von Gundolf in seinem Auftrag geschriebenen Brief die Diskussion mit Wolters mit dem Hinweis auf die notwendige Geschlossenheit des Kreises ab: „Auch ist der schluss nicht richtig dass nach solchem sieg und solcher niederlage das Geistige Reich die ganze welt zum feind habe. Das Geistige Reich hatte und hat mit und ohne sieg die ganze welt zum feind.“71 Deutlich ist diesem Brief die Abwehr Georges gegenüber jedem Integrationsversuch der ‚geistigen Bewegung‘ in politische Zusammenhänge zu entnehmen. Auch Morwitz hatte 1915 zunächst auf ein äußeres Eingreifen zugunsten der Bestrebungen des Kreises gesetzt: „Ob die russische Bewegung übergreift? Mir scheint dass solche Ströme nicht zu hemmen sind, am wenigsten von so undämonischen Menschen wie den unseren. Der Zusammenbruch der herrschenden Kasten wäre vielleicht als Radikal-Abkürzungsmittel wünschenswert, wenn man auch das ersetzende Positive ⸢noch⸣ nicht erblicken kann – meinst Du nicht auch?“ (Br. 283)

Noch im Juli 1918 versuchte Morwitz, entgegen den eigenen Erfahrungen an der Front, dem technologischen Massenkrieg irgendeinen kreisadäquaten Sinn zu verleihen:

70 Ernst Glöckner an Friedrich Wolters am 14. März 1917, in: Stefan George – Friedrich Wolters. Briefwechsel 1904–1930 (wie Anm. 32), S. 133. 71 Stefan George an Friedrich Wolters am 4.  November 1918, in: Stefan George  – ­Friedrich Wolters. Briefwechsel 1904–1930 (wie Anm. 32), S. 147. Der Brief wurde von ­Friedrich Gundolf geschrieben und von Stefan George unterzeichnet. Vgl. ebd., S. 317.

48 Einleitung „Dieser Krieg hat nur Sinn, wenn er solange dauert bis dass auch im innern der Völker das morsche vernichtet, die Klassen verwechselt werden und die Kraft des einzelnen über die maschinelle Organisation triumphiert. Das wird immer klarer. Dich wird man brauchen in Deutschland – Geliebter!“ (Br. 298) Aber kurz vor Kriegsende, im Oktober 1918, schrieb er dann an George: „Ein Ende – gleichgültig welches!“ (Br. 306)

Mit dem Selbstmord Bernhard von Uxkull-Gyllenbands (1899–1918) und seines Freundes Adalbert Cohrs (1897–1918), welche gemeinsam Schüler im Ilfelder Internat gewesen waren, war wenige Monate zuvor, Ende Juli 1918, der Krieg mit Wucht in die Beziehung zwischen Morwitz und George eingebrochen. Noch 1918 – Bernhard von Uxkull und Adalbert Cohrs waren seit 1917 bzw. seit 1915 Soldaten72 – hatte es mehrere Treffen des eng verbundenen Freundespaares mit George gegeben. Als im Juli 1918 (Bernhard von Uxkull war nach einem Lazarettaufenthalt im Offizierserholungsheim in Schierke im Harz zur Kur, und Adalbert Cohrs erholte sich dort von einer Diphterie-Erkrankung) ein neuer Fronteinsatz beider bevorstand, begingen sie, traumatisiert von den Kriegserfahrungen und verängstigt angesichts eines anstehenden Fronteinsatzes, nach einem Desertionsversuch mit anschließender Verhaftung beide Selbstmord. Im Frühjahr des Jahres 1918 hatte Bernhard von Uxkull einen Gedichtzyklus, Sternwandel betitelt, verfasst. Stefan George, dem Adalbert Cohrs den Gedichtzyklus seines Freundes im Juni des Jahres zugeschickt hatte, war wie Ernst Morwitz vom Tod der beiden Jugendlichen tief erschüttert. Doch ein Treffen zur Aussprache und gegenseitigen Unterstützung in dieser schweren Situation war aufgrund des Kriegseinsatzes von Ernst Morwitz nicht möglich  – eine schwierige Lage für ihn, der sich gegenüber George als Erzieher Bernhard von Uxkulls unter Rechtfertigungsdruck fühlte (vgl. Br. 294, Br. 295). An Ludwig Thormaehlen schrieb er im August 1918: „Nun zur Meinung des M über mich! […] Ganz irrig ist seine Ansicht, dass es mir lieb wäre die Besprechung hinauszuschieben. Im Gegenteil: ich weiss von vorn herein, dass ich ein sehr sehr unglückliches Jahr haben ⸢werde⸣, wenn ich ihn vor der Abreise nicht sehen kann! Ich bin aber innerlich jetzt schon so stumpf und gleichgültig durch den Verlust B’s, dass ich kaum Schmerz empfinden kann und es mir selbst unerheblich scheint, wie es mir in Zukunft geht. […] Ich habe d. M.

72 Adalbert Cohrs war seit dem Sommer 1915 als Feldartillerist an der Westfront und 1916 im Stellungskrieg bei Verdun und bei den verlustreichen Schlachten an der Somme eingesetzt gewesen. Bernhard von Uxkull hatte dagegen zwar eine soldatische Ausbildung als Feldartillerist erhalten, aber keine Fronterfahrungen gemacht. Zu beiden Personen und zu den Ereignissen vgl. Eckhart Grünewald: Art. Cohrs, Adalbert und Art. Uxkull-Gyllenband, Bernhard von, in: George-Handbuch Bd.  3 (wie Anm.  2), S. 1322–1324, S. 1719–1723.

Einleitung 49 gedrängt, sich ⸢zu⸣ entscheiden ob er von B die besten Sachen drucken lassen will – Ich habe vielleicht Grund zur Annahme, dass es anderenfalls an irgend einer scheusslichen Stelle geschehen könnte. Sprechen Sie bitte mit dem M. vorsichtig darüber.“ (Br. 304)

Der Gedichtzyklus Sternwandel erschien 1919 anonym in der 11./12. Folge der Blätter für die Kunst. George ließ in derselben Folge ein Zwiegespräch Victor · Adalbert erscheinen, das die Beweggründe der Freunde zum Freitod dichterisch gestaltete:73 Victor und Adalbert erscheinen als bis in den Tod einander liebendes und treues Freundespaar, gestaltet nach dem Vorbild der antiken Dioskuren. So trat neben den Maximin-Mythos in den 1920er Jahren im Kreis der neue Mythos des Sternwandel-Dichters. Die Verklärung des tragischen Tods der beiden jungen Soldaten, des älteren, wenn auch erst einundzwanzigjährigen Offiziers und des neunzehnjährigen Offiziersanwärters, zu einem kreisinternen Mythos führte in der Folgezeit dazu, dass binäre Freundschaftsbindungen Jugendlicher im Kreis eine ideell kaum noch zu überbietende und zugleich eine grundlegend lebenspraktische Bedeutung erhielten.74 Freundespaare wie Johann Anton und Max Kommerell, Woldemar von Uxkull und Ernst Kantorowicz, Alexander von Stauffenberg und Woldemar von Uxkull, das Brüderpaar von Bothmer oder Claus von Stauffenberg und Max Kommerell, die während des Studiums auch zeitweise zusammen wohnten, wurden zu einem weiteren Fundament des Kreises, mit dem – durch einen kreisinternen Mentor betreut  – auch eine gegenseitige Erziehung einsetzen sollte. 1925 schrieb Ernst Morwitz an George: „Die neuere Form der Erziehung ist Coeducation, durch die zu Erziehenden untereinander – bei ganz jungen Wesen wohl die einzige Möglichkeit jetzt.“ (Br. 397, vgl. Br. 374) Die Morwitzsche ‚Coeducation‘ in den jugendlichen Lebensgemeinschaften war aber auch Anlass zu intensiver gegenseitiger Beobachtung, Diagnose und – implizit – Kontrolle, über die George nicht selten auch schriftlich berichtet wurde. Innerhalb dieser Gemeinschaften war George – durch die Produktion von Gedichten, durch gemeinschaftliches Lesen und durch Gespräche – zudem imaginär präsent. So kamen in den Jahren um den Ersten Weltkrieg mehrere Strukturprinzipien zusammen: Die individuelle Begegnung der Kreismitglieder mit George, das Treffen größerer Kreisgemeinschaften, meist unter Anwesenheit Georges,

73 Vgl. George, Das Neue Reich (SW IX), S. 94  ff. 74 Vgl. zur Freundschaft als neuem Strukturelement zwischen Jüngeren im Kreis Hans-Norbert Fügen: Der George-Kreis in der ‚dritten Generation‘, in: Wolfgang Rothe (Hrsg.): Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik, Stuttgart 1974, S. 334–358, hier S. 336  ff., sowie Groppe, Die Macht der Bildung (wie Anm. 5), S. 467ff.

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an bestimmten Kreisorten wie Heidelberg, Marburg, Kiel und Berlin, binäre Freundschaftsbeziehungen Gleichaltriger untereinander und schließlich Erzieher-Zöglings-Figurationen eines älteren Erziehers mit einzelnen Jugendlichen oder Jugendgruppen. Ohne diese unterschiedlichen Sozialbeziehungen hätte der Kreis nach innen wohl nur schwer stabilisiert werden können und wäre nach außen, als Kreis, d.  h. als besondere soziale Formation und nicht nur als individuelle, auf George bezogene Jüngerschaft, wenig glaubwürdig gewesen. Die mythische Überhöhung und homoerotische Aufladung der Jünglingsfreundschaften durch den Kreis (vgl. Br.  453, Br.  458)75 konnte auch in Friedenszeiten eine derartig starke Idealisierung der Beziehung erzeugen, dass Störungen des harmonischen Verhältnisses von Kreis und Freundschaft dramatisch endeten wie im Falle von Johann Anton, der sich nach der Trennung seines Freundes Max Kommerell vom Kreis im Februar 1931 das Leben nahm.76 Gleichzeitig konnte die Bindung an einen gleichaltrigen Freund das oft komplizierte Verhältnis zu George und zu einem kreisinternen Mentor auffangen, Identitätsunsicherheiten ausbalancieren und eine Stütze in schwierigen Lebenslagen sein. Wie im George-Kreis häufig, waren die meist zu Zeiten des Studiums bestehenden Lebensgemeinschaften jedoch nicht nur kleine ‚George-Kreise‘, sondern auch Arbeits- und vor allem Bildungsgemeinschaften. Die innerkreisliche Leistungsanforderung drückte sich dabei nicht nur in der Anforderung regelmäßiger Gedichtproduktion aus, sondern auch im Erreichen des Abiturs, eines Universitätsabschlusses sowie im erfolgreichen Berufseintritt und einer entsprechenden Berufskarriere. Alle jugendlichen 75 Typisch für die Jünglingsfreundschaften im Kreis sind die schwärmerischen Briefe, die Jugendliche und junge Erwachsene aneinander richteten, wie hier im Fall von Claus von Stauffenberg an Max Kommerell: „Geliebter! Meine gedanken sind stets um Dich – […] Ich sinne viel wie es Dir gehen mag, ob Du Dich wieder ganz erholt hast? […] Daß Du mein Maxim zu meiner Liebe und Bewunderung noch eine besondere Verehrung zum Dichter der neuen Gespräche [Kommerells Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt von 1929] geweckt hast, magst Du mir zu gestehen heute erlauben, und verzeihen die ungeschickte huldigung Deines Dich ersehnenden Claus.“ Claus von Stauffenberg an Max Kommerell im März 1930, zit. nach Max Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, aus dem Nachlass hrsg. von Inge Jens, Olten/Freiburg i. Br. 1967, S. 177  f. Solche Briefe beschrieben nicht nur intensive emotionale Bindungen, sondern waren auch Bestandteil kreisinterner symbolischer Interaktionsformen, die nicht zwingend auf Liebesverhältnisse und sexuelle Orientierungen verwiesen, sondern ebenso elitäre Vergemeinschaftung anzeigten und Außeralltäglichkeit konstituierten. Vgl. Günter Baumann: Medien und Medialität, in: George-Handbuch Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 683–712, hier S. 687  f. In ähnlich gefühlsbetonter Sprache schrieb beispielsweise auch Friedrich Hölderlin um 1800 an seinen Freund Isaac Sinclair. 76 Vgl. zu diesem Problemkreis Fügen, Der George-Kreis in der ‚dritten Generation‘ (wie Anm. 74), S. 345.

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Kreismitglieder schrieben daher regelmäßig Rechenschaftsberichte an George über ihre Lebensführung, ihre Studienerfolge und ihr Lektürepensum und übersandten ihre Gedichte. Gegenüber diesen sich zwischen 1905 und der Mitte der 1920er Jahre entfaltenden Kreisstrukturen, die in der Korrespondenz zwischen Morwitz und George eine beständige Rolle spielten, bleibt der Weltkrieg in ihren Briefen auffallend unterbelichtet. Obwohl George seit Januar 1915 von Morwitz über dessen Kriegserfahrungen und das abstumpfende Grauen des Kriegsalltags unterrichtet worden war, blieben seine Antworten so gut wie ohne Bezug dazu. Morwitz befand sich vom Januar 1915 bis zum Kriegsende als Krankenpfleger an der Front. Nur ein einziges Mal nahm George, im November 1915, zu Morwitz’ Berichten in grundsätzlicher Weise Stellung: „Heut nach so langer zeit wo man selbst einen überblick ⸢auch im einzelnen⸣ hat gewinnen können muss man allerdings sagen wenn kein wunder kommt – kein weitres – so kann dieser krieg noch endlos dauern und das allerschlimmste: ausser den heerführern (die übrigens jeden tag nach neuen ereignissen und verhältnissen umordnen müssen) versteht keiner seine sache .  . ⸢sonst⸣ – alles geschwätz: es ist noch voriges jahrhundert und dient für heut nicht mehr. Keiner weiss was getan werden muss und was soll daraus werden!!! Für uns alle geduld! viel geduld!“ (Br. 226)

Doch was sollte Ernst Morwitz diesen Aussagen entnehmen? Hieß es, im Krieg zu verharren, bis das „vorige jahrhundert“ symbolisch mit dem Krieg zu Ende ging? Auf was sollte gehofft werden? Diese Diskussion wurde in ihrem Briefwechsel nicht weitergeführt; vielmehr konzentrierte sich George in seinen Briefen auf seinen Kreis und insbesondere auf eine pädagogische Berichterstattung über die jüngeren Kreismitglieder. Erziehungsziele und -strategien wurden überlegt und Morwitz, auch zu dessen Beurteilung, vorgetragen (vgl. Br. 255, Br. 265). Der Weltkrieg trat dahinter wie hier in einem Brief aus dem Dezember 1916 als weniger bedeutend zurück: „Ach liebe Seele dass so etwas in unsrer welt möglich war ist das nicht wichtiger als das bischen Krieg hunger + tod?“ (Br. 255) Noch deutlicher werden die Ignoranz und das Desinteresse Georges gegenüber den existenziellen Bedrohungen der Kreismitglieder an der Front in folgender Äußerung aus dem Januar 1915: „Von vielen wissenswerten einzelheiten aus dem Feld werd ich Dir noch berichten. Wir erhalten sehr viel nachrichten. Der meiste kam von jenem Heyer (ein herrlicher lausbub!) der acht tage urlaub bekam wegen einer kleinen verwundung .  .  .  . Dass man einen wirklichen preussischen leutnant küsst – steht damit nicht die welt schon auf dem kopf!!!“ (Br. 188)

Morwitz verschonte George nach anfänglichen Berichten daher weitgehend mit Erfahrungsberichten aus dem Krieg. Dieser tritt aus manchen Briefen Georges nur noch wie Kulisse und Kostüm hervor, hier im Oktober 1917:

52 Einleitung „Eines abends als seinen schweren waffenrock auszog und in einem graugrünen wollhemd dasass + ich ihm damit es ihn am hals nicht friere eine meiner schleifen umwickelte: da sah er aus wie ein S. S – aus dem volk. Denk – jener feine fadengrade B!“ (Br. 273)

In diesem Brief war es die von George als anziehend wahrgenommene Differenz von Uniform und Körperlichkeit des gerade Achtzehnjährigen, welche angesichts von dessen Lage, nämlich sich in der Ausbildung für den Fronteinsatz zu befinden, ignorant und selbstbezogen anmutet. Georges Äußerungen zum Krieg bleiben in seinen Briefen an Morwitz kurz, wenig empathisch und zeugen von geringem Verständnis für die lebensbedrohliche Lage der Kreismitglieder als Soldaten im Krieg  – ein Verhalten, das Ernst Morwitz vor­ sichtig kritisierte (vgl. Br. 282, Br. 302, Br. 304).

Nachkriegszeit: Konkurrenzen und Entfremdungen Die Nachkriegskorrespondenz zwischen Morwitz und George war zunächst gekennzeichnet durch den Versuch, die Kreisentwicklung nach den Kriegserfahrungen und -ereignissen wieder zu normalisieren. Morwitz schrieb über eigene Gedichte, über neue Kreispublikationen, insbesondere die schließlich letzte Folge der Blätter für die Kunst (1919), und über die Persönlichkeitsentwicklung und die Dichtungen verschiedener Jugendlicher im Kreis wie Woldemar von Uxkull und Erich Boehringer; ebenso antwortete George. Dazu trat der oftmals kritische Austausch über die geistige und körperliche Entwicklung jüngerer Männer, die dem Kreis nahestanden oder ihm nahegestanden hatten. Die Wiederaufnahme der Korrespondenzthematiken der Vorkriegszeit, verbunden mit dem Versenden von Gedichten und Übersetzungen, erhielt einen Riss, als 1922 Max Kommerell (1902–1944) in den ‚engern bezirk‘ des Kreises trat. Bereits im Januar 1921 ist in den Briefen eine Beziehungsveränderung zwischen Morwitz und George festzustellen: George bat Morwitz erstmals in Steuerfragen um Rat (vgl. Br.  329–332). Mag es in diesem Fall noch eine Bitte um Beratung und Unterstützung unter engen Freunden gewesen sein, so wurde das Feld der Rechtsberatung in der Zukunft immer wichtiger. Dar­ über hinaus verlief die Persönlichkeitsentwicklung Woldemar von Uxkulls nicht zu Georges Zufriedenheit, und er hielt dies Morwitz in einem Brief im Oktober 1921 als dessen Mitschuld vor (vgl. Br. 339). Aufschlussreich ist an diesem Brief, dass hier, sehr bürgerlich, von George insbesondere der Mangel an konzentrierter Arbeit und methodischer, zielorientierter Lebensführung an Woldemar von Uxkull kritisiert wurde. ­Bildung bedeutete für George und im George-Kreis generell vor allem Selbstverantwortung, Disziplin und insbeson-

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dere die eigenständig ausbalancierte Integration der Felder der Lebensführung (vgl. Br. 402). Wer das nicht konnte wie Percy Gothein (1896–1944), der an den Ansprüchen einer wissenschaftlichen Karriere scheiterte und zudem seine Homosexualität offen auslebte, verfiel dem Verdikt Georges: „Der P. lebt verstrickt in einer täuschungswelt .  . Was er will dazu reicht es nicht ∙ und gefahr ist sehr gross: dass hier zum ­erstenmal ein Näherer zum zauberlehrling wird ∙ d. h zur fratze meiner person.“ (Br. 404)77 In den 1920er Jahren nahm die Vorstellung einer politisch bedeutsamen Sendung Georges, nicht zuletzt durch den Einfluss von Friedrich Wolters und der von ihm betreuten jungen Männer,78 in den Kreisdebatten wachsenden Raum ein, auch wenn im Kreis um Wolters niemals endgültig geklärt wurde, ob der imaginierte Georgesche Staat nun eine geistige oder eine politische Elite hervorbringen sollte. In dieser Zeit brachen schließlich auch die Gegensätze zwischen einer individuellen Erziehung männlicher Jugendlicher zum Reich der Dichtung und zu einer erneuerten Lebenspraxis, wie sie Morwitz vorschwebte, und einer politisierbaren Reichsvision, wie sie Wolters entwickelt hatte, im Kreis in aller Schärfe auf. Im Briefwechsel zwischen Morwitz und George kann dies abgelesen werden an der unterschiedlichen Verwendung des Begriffes „Staat“. Dessen Häufigkeit nahm in den Briefen nach dem Ersten Weltkrieg exorbitant zu. George hatte bereits 1913 und während des Ersten Weltkriegs einige Male von seinem ‚Staat‘ gesprochen (vgl. Br. 145, Br. 155, Br. 168, Br. 183); Morwitz tat dies erst 1915 (vgl. Br. 231) und setzte den Begriff insgesamt sparsamer ein. Morwitz gebrauchte die Abkürzung „S.  S.“ zudem überwiegend als Umschreibung von ‚süß‘. Rund drei Viertel der rund achtzig Staatsnennungen finden sich im Briefwechsel erst nach dem Ersten Weltkrieg, und dies überwiegend von Seiten Georges und Max Kommerells. Dieser verfasste ab 1922 in wachsendem Maß die Briefe an Morwitz im Auftrag Georges, aber er schrieb auch in einer eigenen Diktion, die sich von derjenigen in Georges eigenhändigen Briefen unterschied. Regelrecht

77 Zu Percy Gothein vgl. Stefan Schlak: Art. Percy Gothein, in: George-Handbuch Bd. 3 (wie Anm. 2), S. 1387–1390. 78 Mit Max Kommerell (geb. 1902), Johann Anton (geb. 1900) und dessen Bruder Walter (geb. 1903), Söhne eines angesehenen, an der Universität Halle lehrenden Psychiaters, Ewald Volhard (geb. 1900), Walter Elze (geb. 1891) und Rudolf Fahrner (geb. 1903) entstand zu Beginn der 1920er Jahre der ‚Marburger Kreis‘ um Wolters als eine für die weitere Entwicklung des George-Kreises bedeutsame Kreisfiliation. Vgl. dazu auch den Brief Georges an Ernst Morwitz vom 27. April 1922 (Br. 343): „Das Kleinste [Max Kommerell] hat mir angekündigt dass es ein zettelchen für Dich schicken will. […] Die neue Trias [d. s. Max Kommerell, Johann Anton und Ewald Volhard] hat das S=problem recht verschoben .  .“

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exzessiv wird der Staatsbegriff in dem nicht übermäßig langen, von Frank Mehnert geschriebenen Brief vom 4. August 1927 verwendet, in dem dieser insgesamt acht Mal vorkommt (vgl. Br. 467). George und Kommerell unterzeichneten einen Brief vom 9. August 1927 auch ganz unironisch mit „Herzlich Der Staat“ (Br. 468). Während die Korrespondenz aus der Zeit vor 1914, aus dem Ersten Weltkrieg und aus den beginnenden 1920er Jahren stark durch Ich-Botschaften und -befindlichkeiten Georges geprägt gewesen waren, so verschwand die Person Georges nun zunehmend hinter dem ‚Meister‘. Das zeigt sich sowohl symbolisch als auch interaktionistisch und thematisch: Briefe wurden nun auch mit „D. M.“ (Der Meister) statt „St“ für „Stefan“ oder „St G“ unterzeichnet, sie wurden von anderen für George geschrieben, und sie veränderten sich in den Themenschwerpunkten. Aus Briefen über Pädagogik, Bildung, Dichtung, Liebe und Jugend wurden zunehmend Briefe über Publikationsund Verlagsfragen (vgl. Br. 349–353) und über staatliche Projekte und Ziele. Pointiert deutlich wird dies in einem Brief, geschrieben von Max Kommerell im Auftrag Georges, vom 25. Juli 1926: „Nun ist es mir auch klar geworden wie ich Dir den begriff des staatlichen klar machen kann: die jungen menschen die Dich angehn (Silvio) gehen Dich nur an bis zu einem gewissen alter: bis dahin sind sie nicht mündig und machen durch familie ∙ schule u. s. w. gebunden keinen selbständigen schritt hinaus. Sobald sie aber den 1. schritt hinaus machen ∙ müssen sie staatlich werden ∙ sonst o weh!“ (Br. 429)

Das bedeutete letztlich, dass Morwitz zwar eine erzieherische Vorarbeit leisten konnte und sollte, die eigentliche Bildung zum ‚Staat‘ sich aber im Rahmen größerer Gruppen, in der Kreispraxis zum Beispiel in Lebensgemeinschaften junger Männer, vollziehen sollte. Damit war Morwitz’ Erziehung in ihrer Bedeutung durch George stark reduziert und seine Interpretation der Georgeschen ‚Sendung‘ als individuell zu realisierendes Angebot einer Lebensführung im Zeichen der Dichtung und des Dichters grundsätzlich in Frage gestellt worden. Morwitz antwortete, einen Versuch des Ausgleichs unternehmend: „Du hast Recht mit der Erwägung, dass ich mich um meine Menschen nur bis zur Mündigkeit verantwortlich sorge. Darüber hinaus reichen mir Kraft und Können nicht und ich fürchte, ihnen nichts Ausfüllendes bieten zu können, es sei denn dass die Überleitung in Dein Reich glückt. Da ich aber in so frühem Alter wirke, baue ich ein Fundament, das – wie ich hoffe – eine Entwicklung wie die G’s [Gundolfs] von vornherein unmöglich macht […].“ (Br. 430)

Offenbar durch Max Kommerell erhielt Morwitz um 1923 auch einen Kreisnamen: „Schwarze Wonne“ (Br. 359). Dabei hatte sich die Anrede Georges gegenüber Morwitz bis dato dadurch ausgezeichnet, dass er ihn mit seinem

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Vornamen und mit dem Kosenamen „Seele“, aber nicht mit einem Kreisnamen (höchstens mit der „große Ernst“) angesprochen hatte, was in Georges eigenhändig geschriebenen Briefen auch so blieb. Aber es trat etwas Symbolisches daneben: Morwitz wurde durch die neue Benennung in ein von ihm unabhängiges Kreisgeschehen eingeordnet. In Georges eigenhändigen Briefen beginnen nun statt Erziehungsfragen die Krankheitsfragen sowie Verlagsund Steuerangelegenheiten zu dominieren, während die Berichte über jüngere Kreismitglieder an das Ende der Briefe treten und kurz ausfallen (vgl. Br. 408, Br. 413). In der Länge zunehmend sind dagegen Morwitz’ Briefe, von denen sich manche als Verteidigungsschriften (vgl. Br. 378) gegenüber meisterlichen Vorwürfen lesen lassen, die sich auch in einer Distanz nehmenden Sprache Georges abzeichnen: „Ich bin nicht ungeneigt ∙ zu einer besprechung nach B. [Berlin] zu kommen.“ (Br. 379) ‚Staatliche‘ Aufträge an Morwitz im Sinne von Auskünften über gute Ärzte (vgl. Br. 379, Br. 381) ersetzten von Seiten Georges immer stärker die vertrauten Gespräche über Erziehung und jüngere Kreismitglieder. Zudem schaltete sich nun ein deutlich Jüngerer, Max Kommerell, mit Ratschlägen und mit Interpretationen der Ziele und Strategien des Kreises ein, zum Beispiel bezüglich des von Friedrich Wolters geplanten und schließlich realisierten Lesebuchprojekts für höhere Schulen (vgl. Br. 391).79 Die wachsende Distanz zwischen George und Morwitz drückte sich auch darin aus, dass Morwitz’ Berichte über die Entwicklung seiner Zöglinge in den Briefen Georges und auch Kommerells nur noch verhaltene Resonanz hervorriefen (vgl. Br. 440–445). So hielt Morwitz zwar unverdrossen daran fest, über Silvio Markees, Bernhard von Bothmer und weitere Zöglinge zu berichten und durfte diese George auch vorstellen, aber eine konkrete Kreisaspiranz oder gar eine Integration in die Jünglingskreise um George kamen nicht zustande.

Fragen des Rechts und der Politik 1924 erließ George eine Letztwillige Verfügung, in welcher Ernst Morwitz, der Jurist, als Universalerbe eingesetzt wurde (vgl. Dokument 386). In wachsendem Maß wurde Morwitz Georges juristischer Berater und wurde von ihm mehrfach als Bote offizieller Nachrichten an staatliche Behörden und Kulturorganisationen eingesetzt, wie 1925 in der Absage an die Preußische Akademie der Künste (vgl. Br.  402), die Georges Mitgliedschaft angefragt

79 Vgl. Friedrich Wolters: Der Deutsche. Ein Lesewerk, Vier Teile, Breslau 1925–1927.

56 Einleitung

hatte. Schließlich wurde Morwitz der juristische Fachberater für die Einrichtung einer Stiftung (vgl. Br.  431  ff.) zur Verwaltung und Fortführung von Georges Werk, ein Plan, der bis 1932 im Briefwechsel zwischen George und Morwitz diskutiert wurde und schließlich wieder fallen gelassen wurde (vgl. Br. 534) – nach einer Reihe von Intrigen, in die auch Max Kommerell sowie dessen Freund Johann Anton verwickelt waren. Ziel dieser Intrigen war die Einsetzung eines Stiftungsrats, der aus Robert Boehringer, Max Kommerell und Johann Anton bestehen sollte, ohne Einbezug des hochqualifizierten Kammergerichtsrats Dr. Ernst Morwitz. Im März 1932 wurde schließlich Robert Boehringer allein anstelle von Morwitz als Universalerbe Georges mit einem neuen Testament eingesetzt. Ernst Morwitz war über alles informiert, auch über die Einsetzung Robert Boehringers als Erben und Berthold von Stauffenbergs als dessen Nacherben. Er tadelte und protestierte nicht, sondern beriet sachlich und mit juristischem Fachwissen (vgl. Br. 533, Br. 537  ff.). Nur ein einziges Mal trat der Kammergerichtsrat Dr. Ernst Morwitz persönlich als Vertreter und Freund Stefan Georges an die Öffentlichkeit. Im Mai 1933, nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, das Morwitz als deutschen Staatsbürger jüdischer Herkunft scharf diskriminierte,80 hatte sich der preußische Kultusminister durch den Oberregierungsrat Dr. Kurt Zierold an Morwitz gewandt, um Georges mög­ liche Mitgliedschaft in der nun durch die Nationalsozialisten in ihrem Sinne von unliebsamen Mitgliedern ‚bereinigten‘ Deutschen Akademie der Dichtung in der Preußischen Akademie der Künste auszuloten: „Er wollte Fühlung nehmen, ob Du irgend wie an der – umzugruppierenden oder gleichzuschaltenden – Dichterakademie teilnehmen würdest.“ (Br. 565) Morwitz legte George das Angebot zur Entscheidung vor und beschrieb detailliert die Möglichkeiten und diversen Ehrenbezeugungen, die das NS-Regime möglicherweise für ihn vorsehen könnte. Mit keinem Wort erwähnte Morwitz die judenfeindliche Gesetzgebung und Politik, die aus ihm nun in erster Linie einen „Nichtarier“ gemacht hatten. George, der die Mitgliedschaft in der Dichterakademie ablehnte, hielt in seiner Antwort recht verletzend fest, dass Morwitz für das „Positive“ der Bewegung „unter den gegebenen umständen nicht geeignet“ sei, „das rechte wort zu finden“ (Br. 566). Und die „ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung leugne“ er, George, „durchaus nicht ab“:

80 Vgl. dazu die Ausführungen in dieser Einleitung im Abschnitt „Ernst Morwitz: Eine Berliner Biographie“.

Einleitung 57 „ .  . das märchen vom abseit stehn hat mich das ganze leben begleitet ∙ es gilt nur fürs unbewaffnete auge. Die gesetze des geistigen und des politischen sind gewiss sehr verschieden – wo sie sich treffen und wo geist herabsteigt zum allgemeingut das ist ein äusserst verwickelter vorgang.“ (ebd.)

Ernst Morwitz überbrachte die von George vorgegebene Textpassage, in der dieser die Ahnherrschaft der neuen Bewegung nicht geleugnet hatte, in „wortgetreuer abschrift“ (Br. 567, vgl. Br. 569) dem Oberregierungsrat Dr. Zierold. Manche haben in der Tatsache, dass mit Ernst Morwitz der Überbringer der Botschaft ein deutscher Staatsbürger jüdischer Herkunft war, eine Stellungnahme Georges gegen das NS-Regime sehen wollen. Aber der absagende Brief formulierte nichts, was nicht in viele Richtungen ausdeutbar gewesen wäre. George enthielt sich wie in der Vergangenheit jeder politischen Konkretisierung seiner Ziele, hatte aber im obigen Brief an Morwitz vom Mai 1933 diesen und dessen persönliche Lage zugleich zu einem randständigen Problem erklärt. Bereits anlässlich der Auseinandersetzung um die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die ‚geistige Bewegung‘ hatte George an Friedrich Wolters schreiben lassen, „dass ausserstaatliche dinge unter uns keinen streit hervorrufen dürften“.81 So gab die Zugehörigkeit zum Kreis auch keine Richtung in politischen Fragen vor, auch wenn sich die Haltung vieler Kreismitglieder im Verlauf der Weimarer Republik in das rechte Parteienspektrum verschob. Hatte die offene Semantik der Gedichte und Kreistexte im Kaiserreich und in der Weimarer Republik gerade einen Teil seiner großen Faszination für unterschiedlichste Gruppen und insbesondere für die bürgerliche und adlige Jugend ausgemacht, so wurde diese innerhalb des George-Kreises angesichts der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu einer Hypothek. Für den Kreis hätte es zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft insbesondere um die Lage der jüdischen Kreismitglieder gehen müssen und um eine klare politische Stellungnahme. An dem Anspruch, eine verschworene Freundes­ gemeinschaft zu sein, scheiterte der Kreis 1933 auf fundamentale Weise. Im Denken Georges und der Kreismitglieder hatte ein Lebensmodell der Balance zu führen immer die selbst gewählte Freiheit der Person zur Bindung, nicht von Bindung bedeutet. Solche Überzeugungen, die sich im Briefwechsel zwischen Ernst Morwitz und Stefan George vielfach finden, mögen dazu beigetragen haben, dass Morwitz, trotz seiner zunehmenden Randstellung im Kreis, seine Bindung an George niemals aufgab. Aber vom Kreis, gar vom Staat, ist in seinem letzten Brief vom 11. Juli 1933 an George nicht mehr die Rede. Vielmehr vom individuellen Lebenssinn, den Georges Werk und Person 81 Stefan George an Friedrich Wolters am 4. November 1918, in: Stefan George – Friedrich Wolters. Briefwechsel 1904–1930 (wie Anm. 32), S. 147.

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ihm gestiftet hatten und der Bestand hatte ganz ohne den Kreis (Br. 572): „Ich wünsche nichts anders, als dass Du da bist, solang ich zu leben habe, denn alles bekommt für mich einen Sinn, wenn Du – sei es von mir auch noch so fern – im Leben bist.“ Carola Groppe, Ute Oelmann

Zur Edition Die vorliegende Edition gibt sämtliche Briefe, Karten, Sendungen jeglicher Art von Stefan George und Ernst Morwitz wieder, die den Herausgeberinnen im Stefan George Archiv Stuttgart und in der New York Public Library zugänglich waren. Sie werden hier zum ersten Mal und als zusammenhängender Briefwechsel ediert. Dazu gehören zahlreiche Auftragsbriefe Georges, seien es Diktate, Briefe in fremder Hand oder auch im eigenen Namen des Schreibers verfasste und versandte, einzelne Briefe anderer Absender sowohl an George wie auch an Morwitz, die sich in den jeweiligen Korrespondenz­beständen befinden, sowie Dokumente unterschiedlicher Art, die als Briefbeilagen erhalten geblieben sind und überliefert wurden. Gedichte, die noch heute Teil einer Briefsendung sind, werden an Ort und Stelle wiedergegeben, Gedichte Georges und von ihm übersandte anderer Autoren, die von den Briefen getrennt wurden, sind in einem Textanhang beigefügt. Solche die Morwitz George zuschickte, stehen, wenn möglich, chronologisch eingeordnet oder sind als Teil des Briefes wiedergegeben. In nicht wenigen Fällen sind durch Abtrennung von den Briefen an und von George titellose Texte nicht mehr in ihrer Chronologie, Autorschaft und Schreibhand feststellbar gewesen. Es wurde versucht, den Leserinnen und Lesern eine gewisse räumliche Vorstellung von der Anlage der Briefe zu vermitteln, indem Anreden, Datierungen und Schlussformeln sowie Absätze so genau wie möglich wiedergegeben werden. Georges und anderer Schreiber Wechsel zwischen eigengeprägter Stilschrift, sogenannter StG-Schrift, und Kurrentschriften konnte weder reproduziert noch Dokument für Dokument angegeben werden. Besondere Auffälligkeiten werden in den Anmerkungen benannt. Das Nachwort (vgl. S. 593  ff.) nimmt zusammenfassend zu Schreibweisen und Interpunktionen Stellung. Selbstverständlich wurde auf die Normierung von Schreibungen und Zeichensetzung verzichtet. Eigenarten der Schreibung Georges wie „jezt“ oder „wol“ sowie die weitgehende Kleinschreibung werden auch von den meisten Auftragsschreibern Georges übernommen; Morwitz aber passt sich solchen Gewohnheiten nicht an, verwendet aber seinerseits bis Brief 148 (20. 6. 1913) für Umlaute ein hochgesetztes „e“ über dem entsprechenden Vokal. Dies wird als „ae / oe / ue“ wiedergegeben. Vor allem in Briehttps://doi.org/10.1515/9783110617740-002

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Zur Edition

fen Georges fehlende Umlautzeichen wurden ebenso ergänzt wie fehlende i-Punkte. Unleserliches wurde nach Menge der Buchstaben durch x, xx etc. markiert, Fragwürdiges sowie Fehlerhaftes durch [sic] gekennzeichnet (vgl. hier im Anschluss den Abschnitt „Verwendete Zeichen“). Zahlreiche Briefe Stefan Georges mussten gegen ihre wohl auf Morwitz selbst oder seinen Erben Dietrich von Bothmer zurückgehende Abfolge im heutigen New Yorker Bestand mit einigen Schwierigkeiten neu datiert werden. Häufig fehlen Umschläge mit Poststempeln und erst recht Datierungen auf den Briefen oder Umschlägen. Sie wurden in das Zeitgerüst der weit häufiger datierten Briefe von Ernst Morwitz nach bestem Wissen eingefügt. Hilfreich waren dabei auch weitere Korrespondenzbestände im Stefan George Archiv. Wenn möglich oder nötig werden Datierungen auch in den Anmerkungen zu begründen versucht. Morwitz’ eigene Datierungen, die er in seinem aus den 1950er und 1960er Jahren stammenden Briefbuch („annotated letter book“, ca. 350 S., NYPL) festgehalten hat, sind nicht immer zuverlässig, sodass häufigere Abweichungen vorkamen. Ernst Morwitz hat dieses Briefbuch nach eigener Aussage in den USA angelegt, um die Briefe Stefan Georges an ihn abzuschreiben und zu kommentieren, aber auch, um Porträts von Mitgliedern und Freunden im George-Kreis aus der Erinnerung anzufertigen, Notizen zu Gedichten und Texten Georges und eigene Gedichte festzuhalten sowie um zu anderen Erinnerungstexten aus dem George-Kreis kritisch Stellung zu nehmen. Die Herausgeberinnen haben dieses Briefbuch herangezogen, um Sachinformationen zu gewinnen und um Ereigniszusammenhänge zu rekonstruieren. Dadurch konnten einzelne Personen und Begegnungen, Reisen, Treffpunkte etc. identifiziert werden, die aus den Briefen selbst nicht klar hervorgingen. In diesem Zusammenhang ist neben weiteren Korrespondenzen aus dem Stefan George Archiv auch die vorliegende Forschungsliteratur zur Klärung und Absicherung einbezogen worden, weil Morwitz’ Erinnerungen und Notizen, vermutlich durch den zeitlichen Abstand, nicht wenige sachliche Fehler sowie unvollständige oder einseitige Darstellungen enthalten. Hilfreich war hier insbesondere das dreibändige George-Handbuch: Achim Aurnhammer/Wolfgang Braungart/Stefan Breuer/Ute Oelmann (Hrsg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Berlin/Boston 2012. So eignen sich Morwitz’ erinnernde Beschreibungen von Personen im Kreis um George sowie von George selbst auch nicht zur Analyse von Einstellungen und Selbst- und Weltdeutungen in der in seinen Aufzeichnungen beschriebenen, vergangenen Zeit. Vielmehr sind sie – wie alle Erinnerungen – Standortbestimmung, Rechtfertigung und biographisches Narrativ einer schreibenden Person in ihrer jeweiligen Gegenwart. Die niedergeschriebenen Erinnerungen

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geben allerdings Aufschluss über Morwitz’ Interpretation Georges und des Kreises in den 1950er und 1960er Jahren.82 Diese wird spürbar mitbestimmt von den politischen Entwicklungen im nationalsozialistischen Deutschland nach dem Tod Georges im Jahr 1933, welche die Zerstörung seiner beruf­ lichen, sozialen und privaten Existenz sowie Flucht und Exil zur Folge hatten, und durch seine große Enttäuschung über die völlige Entsolidarisierung der nichtjüdischen Freunde im Kreis ihm und anderen jüdischen Kreismitgliedern gegenüber.

82 Ernst Morwitz’ Briefbuch ist vergleichbar mit Erinnerungen weiterer Kreismitglieder wie Robert Boehringer, Edgar Salin oder Kurt Hildebrandt, welche alle nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Erinnerungen an George und den Kreis vorlegten und damit Deutungen vorgaben, welche in der Forschung erst in den letzten beiden Jahrzehnten durch verstärkte Archivarbeit differenziert und auch korrigiert werden konnten. Wie für verehrende Erinnerungsliteratur und eine entsprechende Biographik innerhalb und außerhalb des George-Kreises nicht unüblich, operiert auch Ernst Morwitz in seinen Aufzeichnungen mit irritierend wörtlichen Zitaten Georges. Vgl. Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George. 2 Bde., Düsseldorf/München 2. erg. Aufl. 1967 (1. Aufl. 1951). Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, Düsseldorf/München 2. erg. Aufl. 1954 (1. Aufl. 1948). Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965.

Verwendete Zeichen [  ]

Sämtliche Herausgebertexte

Ergänzungen verschiedenster Art wie Aufschlüsselung von Personen­ namen, die durch Initialen oder Decknamen bezeichnet sind, zu Daten, Schreibhänden etc. [sic] Fehlerhaftes, Fragwürdiges x, xx Unleserliche Buchstaben, Silben oder Wörter x, xx Durchgestrichene unleserliche Buchstaben, Silben oder Wörter abc Von den Briefschreibern durchgestrichene Buchstaben, Silben oder Wörter ⸢ ⸣ Einfügungen der Briefschreiber in Brieftexte oder Textbeilagen während oder kurz nach dem Schreibprozess

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Danksagung Dieses Projekt hätte nicht durchgeführt werden können ohne die großzügige mäzenatische Projektförderung, für die wir an allererster Stelle dankbar sind. Weiterhin geht unser Dank an die Stefan George Stiftung als Auftraggeberin und Eigentümerin der Briefe von Ernst Morwitz und last but not least an die Manuscripts and Archives Division der New York Public Library, in deren Bestand sich heute die Briefe und zugehörigen Manuskripte Georges sowie das Briefbuch („letter book“) von Ernst Morwitz befinden. Während mehrerer Arbeitsaufenthalte in den historischen Räumlichkeiten wurden wir freundlich aufgenommen und aufs Beste von den Mitarbeitern betreut. Unser besonderer Dank gilt dabei William Stingone, dem damaligen Direktor der Manuscripts and Archives Division, der die Digitalisierung der Handschriften in der NYPL möglich machte und damit eine wichtige Arbeitsgrundlage zur Verfügung stellte. Ganz persönlich sei Dr. Maik Bozza, Leiter des Stefan George Archivs, sowie Dr. Hansjörg Kowark, 2018 verstorbener Leitender Direktor der Württembergischen Landesbibliothek, für vielerlei Hilfestellung gedankt. Ute Oelmann, Carola Groppe

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Briefwechsel

Briefwechsel 1905 67

1.  EM an StG

Poststempel Charlottenburg, 24. 8. 19051 Brief mit Umschlag nach Bingen Am XXIII. des Augustus anni 1905 Berlin Lützow Ufer 30.

Herr! Ich ehre Sie, ich ehre Ihre Werke, ich ehr’ die Dichter, die auch Sie verehren. Sie sind mein Vorbild, Sie und Meister Verhaeren.2 Ich bewundere die Schönheit und sie berauscht mich zu ihrem Kult. – – – – – Ich bin noch jung, so jung, daß die Menschen spotten. „Sturm und Drang murmeln sie, die Menge, und laßen mich einsam. Zu Ihnen allein habe ich Vertrauen; so schreibe ich. Vielleicht verstehen Sie das Fühlen meiner Seele. Sein Sie ein gerechter und gestrenger Richter. Ich hoffe auf Sie. Ernst Morwitz

Leid Die Sonne sank in bunter Farbenpracht Vom hellrot bis zum Purpurschwarz der Nacht, Und auf den See fiel ihr letzter Strahl. Erzitternd beben die Kolben des Rohres Und aus dem dunkel-feuchten Grund des Moores Erheben sich Nebel. –

1 Ernst Morwitz wohnte seit seinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr in Danzig, sondern in Berlin in der Familie eines Lehrers. Er hatte vom Berliner Prozess des Ludwig Klages gegen Stefan George in der Zeitung gelesen und dabei erfahren, dass George, dessen Teppich des Lebens er kannte und bewunderte, 1905 in Bingen lebte, Ermög­ lichung seines ersten Briefes an George (BB). 2 Émile Verhaeren (1855–1916), belgischer, französisch schreibender Dichter, dessen ­Gedichte George schätzte, teilweise abschrieb und übersetzte. In einem Brief vom ­Januar 1896 dankte George für ein Widmungsexemplar von Les villes tentaculaires vom 6. 12. 1895, das seine eigenen Bücher von ihm ergänze, und hoffte auf ein baldiges Gespräch in Brüssel. Verhaeren schickte ihm noch die Neuerscheinungen Les Aubes (30. 1. 1898) und Le Cloitre (1900), und George veröffentlichte 1905 drei Übersetzungen im ersten Band von Zeitgenössische Dichter (Berlin 1905), der Übertragungen aus dem Eng­lischen, Dänischen, Holländischen und aus dem Französischen Verhaerens enthielt. https://doi.org/10.1515/9783110617740-005

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Ein klagend Stimmgewirr tönt mir entgegen Eintönig, schmeichelnd, wie der Fall des Regen Denn eine traurig-süße Stimme spricht: Einst war es Tag, doch ist des Segens Licht Farblos verblichen, und die Wiederkehr Währt tausend trübe Jahre, gar noch mehr. Dann kam die Nacht, die lange, lange Nacht Es hat ihr wolkenschweres Haupt gebracht Den Menschen Unheil, einsam tiefe Not, Wie das Gorgonenhaupt, das einst gebot Zu Stein zu werden jeder Creatur. Doch jenes Milde des Gorgonenhauptes, Das nur durch seine starre Schönheit wirkt Hat jene Nacht nicht an sich; nein! sie birgt In ihrem faltig wallenden Gewand Des ewigen Verhängnis qualmend Brand, Der alles, alles in dem Raum umfangen. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – So sang die Stimme; so die Laute klangen. Und schaudernd stand ich da, um mich war’s still Von grauen Nebelarmen eng umpfangen [sic] Und da ich eben mich ermannen will, Den süßen Laut noch einmal einzufangen, Fällt mir des neuen Mondes erster Schein Im friedlich, weißen Licht, Das tausendfach im Spiegelbild sich bricht, Auf jene Wasser, jene Nebel rein, Und ruhig hielt ich, ruhig wie erstarrt. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Die Nacht verging – – Des Frühlichts rosenroter Himmelssaum Weckt mich aus meinem Traum, Die Sonne stieg in frischverklärter Pracht, Auf leisen Schwingen wich die Dämmerung sacht. Es wurde hell, jubelnd hob sich ein Tag. Die Funken glühten auf der Gräser Tau Und es verraucht des Nebels düsterer Rau.

Briefwechsel 1905

Briefwechsel 1905 69

Und kann vor dieses neuen Tages Licht Die ew’ge Freude nur bestehn? Ich glaub’ es nicht, doch hoffend will ich spähn.    

2.  StG an EM Poststempel Frankfurt-Karlsruhe, 30. 8. 1905 Brief mit Umschlag (Blättermarke Urnensignet) nach Berlin W. Bingen august 1905 Herrn Ernst Morwitz Ich danke Ihnen für Ihren brief und die darin ausgesprochenen gesinnungen. Ihr gedicht habe ich mit anteil gelesen und darin manche schöne wendung gefunden. Auf eine so wenig umfangreiche probe hin aber ein urteil zu fällen ist mir nicht möglich. Es würde mich freuen wenn Sie mir weitere verse (am besten aus verschiednen zeitabschnitten) senden wollen In freundlicher geneigtheit Stefan George

3.  EM an StG

Poststempel Charlottenburg, 12. 9. 1905 Brief mit Umschlag nach Bingen Berlin W. d. 12. IX. 1905 Lützow-Ufer 30

Mein Meister! Ich freute mich ob Ihres Briefes, daß Sie mich einer Antwort würdig hielten. Sie gaben mir die Erlaubnis, Ihnen Verse zu senden. Ich bin nicht produktiv. Nur in den Gefühlen seltner Stimmungen sehe ich ein Gedicht reifen. Dann steht es vollendet vor mir. Nicht kann ich mit fester Absicht dichten, die Verse müssen von selbst entstehen und fließen. Hier gebe ich Ihnen einige! Und ich habe die Hoffnung, daß Sie mir gestatten werden, zu Ihnen wie Schüler zum Meister aufzublicken. Ernst Morwitz

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I Einladung. (Nachdichtung nach Baudelaire) Mein Kind, du mein Glück, Uns gab das Geschick, Dort unten vereint zu wandeln, Die Ruhe zu ehren Dem Tode nicht wehren Im innig verbundnen Handeln. Der Himmel bedeckt Die Sonne versteckt Und ich von dem Reize trunken, Der geheimnisvoll, tief In den Augen dir schlief, In die deine Seele versunken. Seltsames Gerät Verschnörkelt, gedreht Soll schmücken die schwüle Gruft Und fremde Blüten Die duftend glühten In weihrauchschwangerer Luft. Mit spiegelnden Decken, Mit silbernen Becken. Der Saal sei seltsam erbaut; Auf daß ich höre Verborgne Chöre Im zarten Märchenlaut. Mit dunklen Masten Die Schiffe rasten Nie sind sie lange gesellt. Ihr Lied tötet dir Die kleinste Begier Sie kommen vom Ende der Welt Die Nacht stieg herab Die Sonne ins Grab

Briefwechsel 1905

Briefwechsel 1905 71

Verhüllt lag Wasser und Land. Nachtblumendüfte Durchzogen die Lüfte Ein heißes Leuchten entstand. –– II Ich singe dunklen Worten früher Meister, Die kühl in mondumwobner Bläue strahlen, Still wie ein Flug der gliederschönen Geister Weltferner Zeiten nahes Abbild malen Sie singen, locken, klagen und entsagen Beten im Suchen zu einander auf Vereinen sich im rätselhaften Wagen Und steigen sinkend im Gestirnen Lauf. III Vermummt in graue Schleier sinkt die Sonne Ein blutges Scheinen schwingt am Himmelsrand Still flüchtig wie ein Glanz erloschner Augen, Die nicht zum Lachen nicht zum Weinen taugen, Denen ein Glaube an das Leben schwand Wenn hinter ihren dicht verglasten Fenstern Die Seelen willig still gefangen trauern, Zeigt mir ihr müdes Ringen mit dem Sterben Wie sie das Dunkel zu durchdringen werben Wie sie anprallen an des Denkens Mauern Ihr Fühlen trägt sie über alle Schranken Sie hören Welten singen, Lüfte klingen Im Unglück glücklich, aber doch verlassen Da traumlos ihnen Freud und Leid verblassen Da sie allein in tiefste Tiefen dringen. Sie sehen ruhig die Geschicke nahen, Die dunklen Mächte, denen sie sich beugen Und deren Reigen sie nicht stören wollen Wie Stern zu Stern, Sonnen von Sonnen rollen, Im engen Kreise ewig neues zeugen. ––  ––

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Briefwechsel 1905

4.  StG an EM Poststempel Berlin, 28. 10. 1905 Brief mit Umschlag (Blättermarke Urnensignet) nach Berlin W. Atelier Lechter Kleist-Str: 3 lieber Dichter: durch vielfache Reisen wurde mein dank für Ihre lezte gedichtsendung verzögert. Die beiden kleineren (von denen ich erwarte dass sie keine übertragungen sind) haben mir sehr gefallen: die umdichtung aus Baudelaire erscheint mir als allzufreie auslegung.3 Ich würde mich freuen von Ihnen weiter zu hören und bleibe in freundlicher gesinnung  Ihr St. George Berlin october 1905

5.  EM an StG Poststempel Charlottenburg, 20. 11. 1905 Brief mit Umschlag nach Bingen, weitergesandt nach Berlin W. Berlin 20. 11. 05 W. Lützow Ufer 30 Meister! Ich danke Ihnen für den Brief und das darin ausgesprochene Urteil. Die beiden kleineren Gedichte waren eigene Verse. – Wieder sind einige Strophen entstanden. Ich schreibe sie auf – eigene Verse und eine Nachdichtung nach Horaz, im Original reizte mich die Klangwirkung. In Verehrung Ihr Ernst Morwitz.

3 Georges eigener Übertragungsstil war auf größtmögliche Wörtlichkeit bei gleichzeitiger Erhaltung von Reimstruktur und – wenn möglich – Metrum ausgerichtet.

Briefwechsel 1905 73

Gebet an Faunus (nach Horaz) Faunus, Verehrer raschfüßiger Nymphen, Segnend zieh ein in mein sonnenbestrahltes Land Eilst du zurück, so verleih gütigen Schutz Den kleinen Lämmchen. Wenn Neujahr dir ein zartes Böckchen schenkt Krüge voll Wein des Venusbuhlen warten, Wenn dein hehrer Altar quillt von Wohlgeruch Sieh gnädig herab! Munter springt der Bock auf würzigem Anger Wenn zu dir der Dezembermond sich wendet. Festlich streckt sich im Feld das käuende Vieh Und Jung und Alt. Still irret der Wolf zwischen hüpfenden Lämmern Der Wald streut dir sein herbstlich buntes Laub Stolz schlägt der Pflüger die trotzigen Schollen Stampft sie im Dreitakt.

Terzinen Mir dünkt, mein Leben ist ein schwarzer Felsen Auf dessen Gipfel ich als Kind gestanden Als nach der Lust die Traurigkeiten schwanden. Als ich noch bat: Herr, lass aus tausend Hälsen Die Seeligkeiten in die Welt mich schreien! Als ich die Sonne sah vom hohen Felsen. Da wollte ich mich ihr zum Priester weihen Und ihre Segensquellen tief ergründen, Die Promethiden ihre Leuchte leihen.

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Ich wollte Menschen ziehn aus dunklen Gründen Ich suchte sie aus Thales-Not zu tragen, Aus jenen finstren, blauen Schatten-Schlünden In lichten Höhen, die in Wolken ragen. Doch immer tiefer ist mein Fuß geglitten Und sonnenmüde flogen meine Klagen Zu ihnen, Geiern gleich, die lang gestritten.

Gespräch. Lichtung im Walde – Abendhimmel.– Ein Mann hockt unter den Blumen.– Eine Frau tritt aus dem Waldessaum. Die Frau Harrst du, Geliebter, schon in bangen Ängsten Lauschst du dem Rauschen in den hohen Zweigen, Die Abendwinde küssen, deren Dunkel Schatten-Gestalten trauervoll entsteigen. Horchst du bewegt dem Klange meiner Schritte Hoffst daß ich still dem Erdengrund entsteige Und in der Lichtung, in der Farren Mitte Im Dämmerschein zum Gruß die Hände neige. Der Mann. Ich harre dein und deiner Schritte Klingen Schien da du fern warst, durch den Wald zu dringen. Stark wie die süßen, zarten Atemdüfte Von Blumen, die in Nächten sich entfalten, Die tief verborgen unter hohen alten Steineichen quillen, Zaubersäfte halten, Berauschte mich das Tönen stiller Lüfte, Hieß meine Seele aus dem Körper gleiten, In blaue Meere ferner Traumwelt schreiten. Ich fühlte mich im Dämmer dunkler Tiefen, Wo purpurrote Muschelbetten leuchten, Wo in dem Moose, in dem grünen, feuchten Absonderliche Wesen ruhten, liefen.

Briefwechsel 1905

Briefwechsel 1905 75

Goldglänzend wie sich Stern von Sternen teilen, In stillen Augen kühles Leuchten tragend, Irren sie fort, wollen im Tanze weilen – Als stumme Zeugen führend und entsagend. In letzten Tropfen sickerten die Lichte Des bunten Tages durch die grünen Decken. Durch dichte Schleier schienen die Gesichte Im Taumel bald zu locken bald zu schrecken Und in dem leisen Flimmern kleiner Wogen Fühlte ich deiner Glieder heißes Schwellen. Und Leib an Leib – von süßer Lust gezogen, Schritten wir glühend durch die küllen [sic] Wellen. [Es ist dunkler geworden. – Mann und Weib dicht an einander gepreßt, lauschen den verhallenden Worten. Ein leises Klingen – wie Chöre – scheint von den Blättern der Bäume herüber zu dringen.] Chöre Wir suchten das Glück; Wir fanden es nicht. Wir sahen die ragenden Masten. Wir kehrten zurück, Wir banden es nicht. Und Traurigkeit lag in dem Rasten. Wir verloren das Glück, Wir suchten es nicht, Uns wurde das Leben zum Traume – Zur Erde zurück –   Wir folgten ihm nicht; Fern schwimmt es am Himmelssaume. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – [Sie haben verzückt gelauscht – immer enger umschlungen. Nach langem spricht das Weib.

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Du mein Geliebter, oft in meinem Innern Vernahm ich dieses wunderbare Rauschen. An stille Sehnsucht schien es zu erinnern, Ich mußte wie verborgnen Quellen lauschen. Denn aus dem heiligsten, dem tiefsten Fühlen Tauchten des Sehnens nie verschollne Lieder, Zogen mit ihrem Klang, dem reinen, kühlen Von Glückesträumen mich zur Erde nieder. Ein dunkles Ahnen stand zu meinem Scheitel. Ein stilles Schmerzen, nie geklärtes Sehnen Krallte sich tief in meines Haares Strähnen. Und Fliehen oder Bleiben schienen eitel. Und mitten in der Lust war Bitterkeit. Was in mir jauchzte, war dem Tod geweiht. Der Mann Mein Weib, der Welten tiefste Einsamkeit Hab ich geschaut und auch ertragen lernen. Doch was sich uns zum dunklen Schicksal reiht, Half mir die Lust zum Leben nur erwärmen. Denn erst was grinsend Hohn dem Geiste lacht Gestaltete die Welt, des Lebens Pracht.– Wenn warme Freuden-Ströme mich umtobten Ich jubelnd eintrat in des Daseins Ringe Und da ich sah, daß sie Verstehen lobten, Kam mir die Lust, daß ich das Leben zwinge. Und ich genoß in vollen, durstgen Zügen, Was mir der Frühling, mir die Sommer boten, Und nahm des Gottes-Zaubers holde Lügen Für starke Flammen, die uns immer lohten. Und hingestreckt auf lichten Blütenbeeten Hab ich mich gierig an den Quell gebogen; Wenn starke Winde Tropfen auch versprühten, So hab ich ihren süßen Duft gesogen.

Briefwechsel 1905

Briefwechsel 1905/1906 77

Denn Glück und Schönheit lebten mir im Sehen Sie leuchteten aus Werden und Vergehen.

6.  StG an EM Poststempel Berlin W, 8. 12. 1905 Brief mit Umschlag (Blättermarke Urnensignet) nach Berlin W. Atelier Lechter Kleiststr: 3 Herrn E. Morwitz Ihre lezten gedichte las ich mit teilnahme. Sie bergen eine nicht geringe begabung – aber auch manche gefahr. Vielleicht benutzen Sie die noch kurze zeit meines aufenthalts hier und kommen eine weile in meine sprechstunde (sonnabend 4–6). In freundlicher gesinnung·4 St. George

7.  EM an StG

Poststempel Freiburg, 18. 6. 1906 Brief mit Umschlag nach Bingen

Gebet an einen Helfer. Wir Armen, deren Seelen ein Gemenge Aus Kindlichkeit und früh empfundner Schwäche, Flehen zu Einem, daß Er Fesseln breche, Den Weg uns weise starr mit Herrscher-Strenge.

4 Nach Morwitz’ eigener Darstellung sah er George zum ersten Mal im Atelier Melchior Lechters am Tag darauf, 9. 12. 1905. Er wurde bei dem einstündigen Besuch einem „genauen Verhör“ unterworfen. Nach seiner Abstammung und Berufswahl befragt, gab Morwitz an, dass er beidseitig von jüdischer Abstammung sei, was StG befriedigt habe, da er nur etwas gegen „Mischlinge“ einzuwenden habe. Er bekam das „Jean Paul-Stundenbuch“ zur Erinnerung geschenkt (BB).

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Briefwechsel 1906

Denn Seine Härte kann uns nur erretten Aus langem Zweifel und aus Denkens-Nöten. Nur seine Hand kann Grames-Falten glätten Und Stirnen kühlen, die die Fieber röten. – Die letzte Hoffnung früh bedrohtem Leben, Ein hoher Gott mit königlicher Stärke Greift Er mit fester Hand in unser Weben Und seinem Winke folgen wir im Werke. Um uns wird Licht! Ein leichtes Sich-Entschweben Verkündet strahlend unsres Gottes Stärke. Psyche. Ich wandelte von einem Traum umfangen, Daß all mein Schaffen schwach und rasch zerronnen. Und sieh! In dieser Not und diesem Bangen Gab eine Hoffnung rätselhafte Wonnen: Ein Gott erschien mir und in mir erklangen Die hohen Töne von dem Lauf der Sonnen, Die sich entfernten, zu einander schwangen Und sich vereinten zu erneuten Wonnen. Mir dünkt: so ich und meine Seele rangen, Daß wir im Fliehen niemals ganz entronnen Uns wieder einten, mit einander sangen, Im Spiel uns trennten zu erneuten Wonnen.

Briefwechsel 1906 79

8.  StG an EM

Poststempel Cöln-Frankfurt, 19. 6. 1906 Brief mit Umschlag nach Freiburg im Breisgau

Bingen im juni 1906 Lieber Ernst Morwitz: als Sie mir Ihre ersten verse einsandten war es eine schillernde gespaltenheit die mich zu antworten reizte. Ich sagte Ihnen dann in Berlin dass ich auf das einzelne einer gedichtsendung nur selten eingehen könne ∙ bat aber um weitere – bis ich einmal den augenblick des eingreifens für gekommen erachtete. Vielleicht hätte sich schon an Ihr „Gespräch“ vom anfang des jahres manche bemerkung knüpfen lassen – doch ich wartete ab. Ihr brief aber und Ihre neuen zeilen von gestern5 erwecken vorerst meine menschliche teilnahme da Sie darin einen peinlichen zustand von angst und schwankung bekennen. Mich ehrt Ihr vertrauen und ich werde Ihnen gern mit meinem rat beistehen wenn Sie mich näher unterrichten. Vielleicht giebt es sich dass ich Sie auf dem weg nach der Schweiz6 einmal sehe – oder dass Sie auf einer heimreise hier vorbeikommen. In freundlicher gesinnung Ihr Stefan George

9.  FG an EM

Juni 1906 Visitenkarte ohne Umschlag

Dr. Friedrich Gundelfinger Der Meister bittet Sie heute Abend nach dem Essen ihn zu besuchen.

5 Der Brief vom 18. 6. 1906 befindet sich nicht unter den überlieferten Briefen im StGA. 6 Morwitz studierte im ersten Semester Jura in Freiburg, wo er George traf, der ihn mit Friedrich Gundolf bekannt machte. Von Freiburg aus fuhr George in die Schweiz, wo er bei Friedrich Gundolf in Schaffhausen zu Besuch weilte. Von dort bricht George ­Anfang Juli zu einem längeren Sommeraufenthalt in den Schweizer Bergen auf. Nach ­eigener ­ ingen zu Erinnerung war Morwitz im Frühjahr 1906 zum ersten Mal bei George in B Besuch (BB).

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10.  FG an EM

Briefwechsel 1906

Juni 1906 Briefkarte ohne Umschlag

2 Uhr Kafféhaus z. Kopf7

11.  FG an EM

Oktober 1906 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst Morwitz: Wollen Sie bitte um 5 Uhr heute nachmittag herüber kommen, da der Meister Sie für einen dringlichen Auftrag bedarf.8 Ihr Gundolf Dienstag

12.  EM an StG

Ankunftspoststempel Grunewald, 17. 10. 1906 Brief mit Umschlag nach Berlin-Grunewald, bei Dr. Georg Bondi

7 Laut Niederschrift von Ernst Morwitz befand sich das Lokal in Freiburg im Breisgau (BB). 8 Morwitz erinnert, dass er in diesem Herbst während des Berliner Aufenthaltes von George den Auftrag bekam, vormittags in Lechters Atelier bei der Durchsicht einer älteren Übersetzung des Thomas a Kempis zu helfen (BB). Es handelte sich um die Vier Bücher der Nachfolge Christi in der Übersetzung von Joseph von Görres. Ein Exemplar der Ausgabe von 1884 (Leipzig: Dürr) mit handschriftlichen Notizen befindet sich im StGA. Die überarbeitete Fassung erschien erst 1922, ohne Nennung des Bearbeiters, als Privatdruck der Einhorn-Presse bei von Holten in Berlin „mit Symbolen von Melchior Lechter“.

Briefwechsel 1906 81

Seestadt (Danzig) Ueber die Kanaele schallen Leise Lieder zu den Bruecken. Graue Regentropfen fallen, Auf dem Wasser tanzen Muecken. Strenge, alte Haeuser starren. Rings am Bord die Schiffe liegen, Die der Wunderwelten harren, Sich im Traume seelig wiegen. – – – – – – – – – – – – – – – Folge mir bis zu der Stelle, Wo sich Fluß und Meer vereinen Und in schaumgekroenter Welle Jauchzend hinzusterben scheinen. Fuerchte nicht die glatten Steine, Dicht vom gruenen Moos bezogen. Lege deine Hand in meine: Komm! ich fuehr dich durch die Wogen.

Auf ein Gespraech. Und manchmal scheint es Sehnsucht, manchmal Schrecken, Die dich zu nur geahnten Taten draengen; Willst du des Lebens starre Urkraft wecken Mit neuen, fast zerrissen schrillen Klaengen. Wie manchmal aus gespannten Nerven zittern Die wehen Schreie wild verhaltner Schwaechen, Scheint aus dem harten Werk ein Gold zu flittern. Es glimmt nur trueb, rollt in verglasten Baechen:

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Briefwechsel 1906

Doch dieser Unterstrom zwingt unser Staunen. Du kennst ihn nicht und kannst ihn niemals geben. Weil ein Verzichten in dem feinen Raunen, Haßt du ihn fast und nennst ihn niemals „Leben“ Und heißt du ihn ein leichtes Spiel der Launen: Dein Schoenstes liegt in dem gebrochnen Streben.

An der See (Nach Stephen Phillips) Gedenkst du noch – gedenkst du, wie wir beide Vereint am Felsen-Strande wandelten. Du kamst vom Bade in dem Ocean; Feucht war dein Haar vom salzgen Naß des Meeres Und in dem lauen Winde schritten wir Fern von der Menschen Stimmen und Gedanken Und saßen dann – erinnerst du dich noch – Beim alten Boot im scharfen Ruch des Teers. Wildschaeumend schlug die See am Felsen an. In unserm Ohr das sueße Wehn der Nacht – Das Athmen von geheimnisvollen Orten – Versenkte uns in Schlaf und Jugendtraeume. So reich an Freuden sanken wir zusammen In sueßer Naehe. Meine Augen fuehlten Den Duft von deinem feuchten, scharzen Haar. – Wir dachten nicht, die Worte mußten fliehen Und zitternd fiel dein Haupt an meinen Busen. – – Im linden Winde sank der Sonnenball. Seerosen bluehten auf in deinen Wangen Geroetet von dem kuehlen Windeshauch – Wie Kinderlippen, wenn man sie gekueßt, Unschuldig wie die See, rein wie die Luefte. – Und meine Seele senkte sich in dich. Der Mond stieg auf, das Meer schob sich heran. Wir richteten uns auf. Wie ruhig war Die tiefe Einsamkeit, der Trauer-Ton

Briefwechsel 1906 83

Der Abend-matten See! In unsrer Seele War sueße Stille, wie in unsern Gliedern. Entlang am Ocean, der leuchtete, Entlang am dunklen Feld im wachen Traum, Nicht hastig gingen wir! Vom Himmel zogen Die Wolkenschleier und ein neues Glimmen Lag ueber Land und See. Der feuchte Abend Stroemte den dunklen Duft des Schlafes aus – Die ungeheure Sueße stillen Todes. – So kehrten wir zurueck, stille Begleiter, Im Zoegern, langsam. Und der Mondesschatten Lag auf dem strahlend-hellen Weg zur Stadt.

Umrahmung Ganz aufrecht stand Sie auf dem gruenen Grunde Ich sah die blauen Augen Haerte spruehen, Den starren Zug am wunderschweren Munde. – Rings schien der Plan im Mittagsstrahl zu gluehen. – Sie beugte sich und hielt in Ihren Haenden Die roten Flechten – wild vom Licht durchzogen. Mir war, als ob die Sonnen tanzend staenden, Die Bahn verließen in den Gluten-Wogen. Sie richtete sich auf. Ein kurzes Lachen – Sich niemals gebend, niemals ganz verloren – Hieß meine Seele aus dem Traum erwachen. Ganz aufrecht schritt Sie zu den Garten-Toren.

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13.  EM an StG

Briefwechsel 1906

Poststempel Berlin, 15. 11. 1906 Brief mit Umschlag nach Berlin W., bei Melchior Lechter, nachgesandt nach Jena9

Berlin Am 15. XI. 1906 Luetzow-Ufer 30. Hochverehrter Herr George: Ich sende Ihnen hier einige Verse aus den letzten Tagen. Mit ergebenem Gruss Ihr Ernst Morwitz.

Grauer Abend. Als sich der Tag im grauen See verfing Hofften wir lauschend in verhüllte Weiten. Dass das Erlebte nicht so von uns ging Wie Stauden, die am Weg der Hand entgleiten. Wir suchten – still versunken – nach dem Ring Der uns des Lebens Wunderkreis umschliesse; Im Abbild, das dem Wechsellauf entging, Mit starker Weihe steigend um uns fliesse. Qualvoller Kampf, der kein Verzichten litt, Uns haerten sollte und nur Schwaeche brachte: Da rasch verblasst von dem gesuchten Schritt, Das Leben nur im Traum zum Bild erwachte.10 Verkuendung. Nur weil er noch an zuviel Schwerem trug, Hielt er sich fern von jedem lauten Hasten: Der Tage Wechsel war ihm stark genug, Der leichten Schoenheit Fliehen – nicht ihr Rasten.

9 Der Brief wurde umadressiert an „Prof. Rosenthal, Jena in Thüringen.“ George hatte schon im Dezember 1905 auf Einladung von Rudolf Eucken in Jena gelesen und im Haus von Eduard und Clara Rosenthal gewohnt. 10 In dieser Gedichthandschrift verwendet Morwitz zum ersten Mal in Anlehnung an Georges Praxis „ss“ statt „ß“ auch nach langen Vokalen.

Briefwechsel 1906 85

Und da er ahnte, dass die (starke) grosse Quelle In seinem Innern noch an Felsen schlug, Hielten ihn Traeume mehr als Mittagshelle, Ein Schattenspiel mehr als der gleiche Flug. Aus dunkler Nacht enthüllten sich die Steige Ihm, der im Schreiten rastlos vorwaerts glitt. Genoss er wissend niemals bis zur Neige, Schwebte der Hauch verblasster Freuden mit.

Ewige Flucht. Jahre, die spaet erst im sinkenden Zuge sich neigen, So wie der Tag im farbigen Leuchten verging, Wenn sein blaeuliches Licht in den herbstlichverdorrten Zweigen Und in dem mondhellen Grau der Seen sich fing: – – Wechselnd nur duerfen wir mildernde Schoenheit gewahren: Sterngefunkel, das herrlich ersteht und verglueht; Sengende Gluten des strahlenden Mittags erfahren, Weil uns der Abend doch loesende Frische sprueht: Spaetes Geniessen im ewigen, klanglosen Schreiten, Lockendes Gleiten, Versinken in Traum und Spiel! Trauriger Hoffnung den Blick auf verschwimmenden Weiten Wuenschten wir uns zurueck von dem naechtlichen Ziel.

14.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 25. 12. 1906 Brief mit Umschlag nach Bingen

Berlin: Am 25. Dez. 1906. Luetzow-Ufer 30. Lieber Stefan George: Ich sende Ihnen dies Gedicht zu Ihrem Namenstage. Nehmen Sie es bitte als Zeichen eines treuen Willens. Ich hab es geschrieben, um mich von qualvoller Verfolgung, die mir lange Zeit Rodins „L’âge d’airain“ bereitete, zu befreien.11 11 Ein Gedicht von Ernst Morwitz mit dem Titel „L’âge d’airain“ erschien in der 8. Folge der BfdK 1909 ohne Verfassernamen (S. 147); die Handschrift liegt den Briefen nicht mehr bei, ist im StGA nicht überliefert.

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Briefwechsel 1906

Aus Berlin, von mir wuesste ich nichts Besonderes. Sie werden wohl schon vom Vortrage des Herrn von Hofmannsthal gehoert haben. Er gab in wundervollen, toenenden Worten, Vergleichen eine grosse Umschreibung des „Dichters“.12 Selten schien er seine eigene Seele zu beruehren: es war ein grazioeser Tanz. Mit Gruessen in das neue Jahr Ihr Ernst Morwitz.

15.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 3. 1. 1907 Brief mit Umschlag nach Bingen

Lieber Stefan George: Da ich soeben im „Maximin“13 gelesen, fuehlte ich einen Drang: Ihnen zu schreiben. Sie werden – hoff ich – verzeihen! – Gestern spaet am Abend las ich die Vorrede14 und dann nach einer unruhvollen Nacht heut frueh im herrlichen Sonnenschein und unter der seidenmatten Blaeue eines Fruehlingshimmels. Ich musste ueber das Buch auf den blitzenden Kanal starren, auf das fahlgruene Gras der Boeschung, das durch die Zeit des Frostes noch seine Farbe behalten hatte, auf die Steine und den schmutzig weissen Schnee, der dem Wetter getrotzt. Die Tautropfen fielen von den Baeumen, nach dem sie sich auf ihrem Lauf durch die Zweige gesaettigt hatten, und der Fluss fing sie auf und trug sie weiter und schien angeschwollen durch die ungeheure Last. Aber er woelbte sich freudig – der Ruecken eines Ueberirdischen, der laechelnd den Schwachen, Beladenen ihre

12 Hugo von Hofmannsthal befand sich im Dezember 1906 auf eine Vortragsreise von München über Frankfurt und Göttingen nach Berlin. Die Rede stand unter dem Titel Der Dichter und diese Zeit. Erstdruck: Die Neue Rundschau, 18. Jg. 3. H., März 1907. 13 Maximin. Ein Gedenkbuch. Hrsg. von Stefan George war in den allerletzten Dezembertagen 1906 fertiggestellt und zuerst nahen Freunden überreicht oder zugesandt worden. Es erschien Ende 1906 als Privatdruck im Verlag der Blätter für die Kunst ausgestattet von Melchior Lechter in 200 Exemplaren. 14 Georges „Vorrede zu Maximin“ erschien für eine größere, wenngleich noch immer eingeschränkte Leserschaft in der 8. Folge der Blätter für die Kunst (1908/09) zusammen mit „Nachträge zu Maximin“ und ausgewählten Gedichten Maximilian Kronbergers im Jahr 1910 (S.  28–33). Darin war zu lesen: „Der vorliegende abdruck ist nur als beigabe zur neunten folge für die mitglieder des engeren kreises gedacht.“ (S. 156) Zuvor aber war sie von George schon in den dritten Auswahlband der Blätter für die Kunst 1904–1909 aufgenommen worden, zusammen mit ersten Übertragungen von Shakespeare-Sonetten Georges. Später (1925) nahm George die „Vorrede“ in die zweite erweiterte Auflage von Tage und Taten auf.

Briefwechsel 1907 87

Sorgen nimmt. So sind sie aufgenommen und weitergefuehrt und sie gleiten unter den Blumen des Ufers fort und werden im sanften Zuge gelaeutert. Diese Leiden, an denen wir verzweifeln und voller Scham am Tage nicht zu ruehren wagen, fliessen in den einen grossen See und bieten uns das Bad der Erloesungen. Schamhaft und doch der eignen Kraft bewusst, die quaelt, dann erst heilt mit milder Haerte. Die nur geschaffen ist, um zu heilen und zu erloesen und um jenen einen grossen Strahl hervorleuchten zu lassen, der ewig ist wie der Urquell. Ihr treu ergebner Ernst Morwitz 3. I. 1906 [sic]

16.  StG an EM Poststempel Berlin W, 30. 1. 1907 Brief mit Umschlag (Blättermarke Urnensignet) nach Berlin W. Mittwoch Lieber Ernst wollen Sie viertel nach fünf in meiner pension (Bayreuther 27 II)15 nach mir fragen?  Ihr St.G.

17.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 2. 2. 1907 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Berlin 2. 2. 1907 Luetzow Ufer 30. Lieber Stefan George: Ich bin so stark erkaeltet, (neben anderen Leiden: heiser) dass ich das Zimmer traurig nicht verlassen kann. Wenigstens will ich mit meinen Gedanken bei Ihnen sein, deshalb die in der Eile abgeschriebenen Gedichte aus der letzten Zeit.16 Das Verzichten fällt mir sehr schwer und ich seh es als Schicksal nach einem allzu froh genossenen Glueck an. 15 Die Pension Blasig lag gegenüber einer Gasanstalt, laut Morwitz scherzhaft benannt „Gegenüber den Göttinnen des Gases“ (BB). 16 Unter den zahlreichen Gedichthandschriften von Ernst Morwitz, die das StGA bewahrt, befindet sich z.  B. ein Dialog in Versen „Der sterbende Adonis“, datiert Januar 1907.

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Briefwechsel 1907

Den jungen Rosenthal17 hab ich durch einen Brief auf Sonntag um vier einhalb zu Ihnen bestellt. In der Bibliothek war wenig oder nichts auszurichten: Willamowitz [sic] hat keine Metrik verfasst. Nur „Textgeschichte der griechischen Lyriker“ und „Textgeschichte der griechischen Bukoliker“. Ein griechisches Lesebuch wurde von ihm herausgegeben. Ich erinnere mich aber, dass es hauptsächlich Stellen aus den beruehmten Prosaïkern enthält; es ist für den Schulgebrauch bestimmt.18 Den Aufsatz in den preussischen Jahrbuechern hab ich bisher nicht lesen koennen. Sie waren in der Lesehalle immer in anderen Haenden.19 Sollten Sie irgend einen Auftrag fuer mich haben, so schreiben Sie vielleicht. Montag – denk ich – werde ich bei Ihnen anklopfen duerfen. Es ist zu aergerlich, dass mich jetzt eine Erkaeltung betroffen hat und ich Ihnen, mein Meister, dies hier nur muehsam mit der Feder mitteilen kann, was mir – trotz seiner Nichtigkeit – herrlich und wundervolles Ereignis gewesen waere bei Rede und Widerrede. Ihr treu ergebener Ernst Morwitz

18.  EM an StG

Poststempel Posen, 10. 3. 1907 Brief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl

z. Z. Posen Am 10. 3. 1907 Lieber Stefan George: Ich war mit Berlin so unzufrieden, dass ich mich am Tage des Semesterschlusses nach irgend einer Gelegenheit umsah, aus den gewohnten Gleisen zu kommen. So wurde ich fuer etwa acht Tage hierher nach dem Osten verschlagen und ich willigte ein, da es immerhin eine „Reise“

17 Gemeint ist Curt Arnold Rosenthal. Der Sohn von Clara und Eduard Rosenthal studierte in Cambridge und Paris und fiel schon Ende Oktober 1914 im Ersten Weltkrieg. Vgl. auch Br. 114 vom 2. 7. 1912, in welchem von beginnendem Wahnsinn bei ihm die Rede ist. 18 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die Textgeschichte der griechischen Lyriker, Berlin 1900. Ders.: Die Textgeschichte der griechischen Bukoliker, Berlin 1906. Ders.: Griechisches Lesebuch. 2 Halb-Bde., Berlin 1902. 19 Möglicherweise handelt es sich um Preußische Jahrbücher 125, 1906. Darin befand sich ein Aufsatz von Wilhelm Georg Becker unter dem Titel „G. Brandes, Die Literatur“ auf den Seiten 541–549. Ein Exemplar hat sich im Nachlass Georges im StGA erhalten.

Briefwechsel 1907 89

ist – gleichviel wohin. Ich sitze also jetzt in Posen, freue mich ueber die Polen und spinne den ganzen Tag Plaene, um sie am Abend vergnuegt wieder umzustossen. Am Morgen ueberdenke ich alles und komme ebenso dumm zum Abend zurueck – wie ich zum Morgen gewandert war. Es bleibt nur ein Trost: Im Sommer muss es anders werden. Von allen Vornahmen ist und bleibt nur die eine fest: Die erste Station im Fruehling wird Bingen sein. Ich hoffe, Sie sind um den 15 April schon wieder dort. Von Bingen aus will ich dann nach dem Studienorte reisen. Sie kennen wohl durch Mira Klein20 den Plan, in Genf zu studieren. Es war mehr ein Spiel der Gedanken als ein im Bereich der Wirklichkeit liegender Plan: Für mich bleibt nur die Wahl zwischen Heidelberg oder Muenchen uebrig. Sie rieten mir im vorigen Herbste sehr – nach Muenchen zu gehen. Dann jetzt im Winter hielten Sie Heidelberg fuer geeigneter. Ich wollte Sie noch einmal um Ihren Rat bitten. Denn es ist mir eingefallen, dass ich noch nie in Muenchen und Tirol gewesen bin, waehrend ich den Schwarzwald ziemlich gut zu kennen glaube. Sie werden also verzeihen, wenn ich Sie wieder um Rat bitte. Jedenfalls freue ich mich ungeheuer auf das Feststehende: auf den Aufenthalt in Bingen. Und ich gedenke, wenn nichts dazwischen kommt, ungefaehr um den 10 April von Berlin abzureisen. Vielleicht dass ich noch ein oder zwei Tage in Weimar bleibe. Ich sende Ihnen mit diesem Brief einige Gedichte aus der letzten Zeit.21 Weniger weil ich glaubte, sie verdienten, zu Ihnen zu gelangen, als um Ihnen ein Zeichen meines treuen Gedenkens zu geben. Ihr Ernst Morwitz Adresse: Berlin Geisbergstr. 11.

20 Mira Klein (1886–1977/78), Tochter von Georg Bondis Ehefrau Eva aus deren erster Ehe mit dem Bildhauer Max Klein, ab 1909 verheiratet mit Kurt Koffka. Die spätere Stieftochter Bondis studierte 1906 in Heidelberg Germanistik, wo Morwitz sie kennen lernte; 1910 promovierte sie in München über Jean Paul und trat 1934 in den Verlag ein. Morwitz lernte durch sie auch Georg Bondi kennen und wurde Gast in dessen Haus im Grunewald, Herbertstraße 15 (BB). 21 Die Gedichte sind im Nachlass Georges (StGA) nicht zu identifizieren.

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19.  EM an StG

Briefwechsel 1907

Poststempel Heidelberg, 20. 4. 1907 Brief mit Umschlag nach Bingen

Sonnabend Lieber Stefan George: So wohne ich denn endlich in Heidelberg! Bisher war das Wetter schlecht, aber eine nette Wohnung hat mich diese kleine Stoerung leicht vergessen machen. Meine Fenster gehen direkt auf den Neckar, die Landhaeuser der Professoren und Englaender und auf die ansteigenden Berge des Odenwaldes. Keine Strasse trennt mich von dem Fluss – nur ein Inselchen, auf dem Waesche gebleicht wird, macht den Anblick noch etwas ungewöhnlicher.– Meine Collegien fangen erst Ende des Monats an. Ich sehne mich auch nicht nach der Juristerei, zu der ich hoffentlich noch zur Zeit kommen werde. Auf der Hinreise war ich einen Tag in Weimar bei herrlichem Wetter. Das schoenste Erlebnis schien mir der Weg nach Tiefurt. Ich wollte mich mit dem jungen Rosenthal dort treffen. Er haelt sich aber augenblicklich in Biaritz auf. Ich richte diesen Brief nach Bingen und hoffe  – er wird Sie erreichen. Mit vielen Gruessen Ihr Ernst Morwitz Heidelberg Obere Neckarstr 9 bei Gassert

20.  StG an EM Poststempel Bingen, 22. 4. 1907 Brief mit Umschlag (Blättermarke Urnensignet) nach Heidelberg22 Bingen den 22. April 1907 Lieber Ernst Morwitz: aus Ihrem ersten brief entnahm ich Ihren dringenden wunsch mich aufzusuchen sobald Sie in diese gegend kämen. Ihr zweiter brief bestätigt Ihre ankunft und enthält den dringenden wunsch nur sehr versteckt. Wenn Sie mich

22 Auf der Rückseite des Umschlags befinden sich Notizen von Georges Hand, und zwar Zugverbindungen zwischen Heidelberg und Bingen inclusive der Umsteigeorte in Darmstadt und Mainz sowie der Zeiten. George war sein Leben lang ein guter und genauer Kenner von Kursbüchern.

Briefwechsel 1907 91

also noch vor meiner mutmasslichen reise am 1. Mai treffen wollen beeilen Sie sich. Sowohl Donnerstag wie Freitag bin ich für jede stunde zu der Sie sich ansagen für Sie bereit. Bedenken Sie noch dass man zu mir nicht zum „bilderzerbrechen“ kommt sondern eher zum gegenteil.23 In herzlicher Gesinnung            St. George

21.  EM an StG

Poststempel Heidelberg, 14. 5. 1907 Brief mit Umschlag nach Bingen24 Heidelberg. 14. 5. 07 Obere Neckarstr 9

Lieber Stefan George: Mit vielem Dank sende ich Ihnen den Fuehrer durch Holland zurueck. Ich hoffe bestimmt auf der Heimreise dorthin zu kommen. Pfingsten werde ich wohl mit einem Freunde in Suedbaden, vielleicht Tirol verleben und es ist nicht ausgeschlossen, dass ich auf einige Tage nach Muen­ chen fahre. Ich moechte Sie im Juni wieder einmal aufsuchen, wenn Sie fuer mich Zeit haben. Dann werde ich Ihnen eine Nachricht geben. Mit ergebenem Gruss Ihr Ernst Morwitz

22.  FG an EM

Poststempel Cöln-Frankfurt Bahnpost, 29. 6. 1907 Postkarte nach Heidelberg

Lieber Ernst: Ich komme ⸢morgen⸣ (Sonntag) mutmasslich gegen Abend nach Heidelberg (vielleicht kommt St.G. mit) und wäre froh Sie anzutreffen. Wenn

23 Nach Morwitz’ Erinnerung sah er George Ostern 1907 in Bingen. Die Zeitangabe muss wohl korrigiert werden zu April 1907, da Ostern in jenem Jahr schon am 31. 3. war. 24 Auf der Rückseite des Umschlags befinden sich schwer lesbare Bleistftnotizen von Stefan Georges Hand.

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Briefwechsel 1907

Sie ausgehen, hinterlegen Sie auf jeden Fall, wo Sie sind und wann Sie zurückkommen.25 Herzlichst Ihr F. Gundolf.

23.  EM an StG

Poststempel Heidelberg, 16. 6. 1907 Brief mit Umschlag nach Bingen

Heidelberg. 16. Juni 9. Obere Neckarstr 9 Lieber Stefan George: Ich hatte mich sehr gefreut, Sie noch einmal in Bingen aufzusuchen. Aber Friedrich Gundolf, bei dem ich in dieser Woche einen schoenen Nachmittag verbrachte, erzaehlte mir, sie waeren im Taunus und wuerden vielleicht vor der Sommerreise nicht mehr nach Bingen zurueck­ kehren. Doch hab ich noch Hoffnung, dass ich Sie dort vielleicht erreichen kann oder – was herrlich waere – dass Sie in Heidelberg Halt machten! Heut vor einem Monat trat ich meine Pfingstreise an. Es sollte nach Holland gehen, aber mein Freund in Muenchen bat mich dringend, mit ihm Pfingsten zu verleben. Wir wollten in Tirol bleiben, das Wetter war trostlos. Und wir entschlossen uns in einer Nacht nach Italien durchzufahren. Schon als der Zug hinter Mestre durch die Lagunen fuhr und wir zum ersten Male die hellen Tuerme Venedigs in der Mittagssonne sahen, ahnten wir die Groesse des nahen Wunders. Muede vom vielen Sehen, der ungewohnten klaren glaenzenden Luft ruhten wir bis zum Abend. Dann betraten wir den Markusplatz: Die Musik, die flackernden blauen Gasflaemmchen, die breiten schwarz-weissen Marmorfaçaden gegen den dunkelblauen, doch matt erhellten Himmel – alles schien unwirklich, fuer die Lust eines Abends heraufgezaubert und so zart als muesste es vor dem Licht des Tages vergehen. Das Meer – die Gondeln! – was wir in den naechsten Tagen erlebten, schien bei der Abfahrt der Inhalt eines rauschenden, minutenlangen Traumes zu sein. Ich wuerde noch viel, viel mehr davon schreiben wollen, aber die Worte drohen zum blossen Gerede zu werden. Verzeihen Sie bitte dies lange Scrip-

25 George kam mit und wohnte laut Morwitz im Hotel Post am Bahnhof (BB). In diesen Tagen fand ein erstes Treffen mit Robert Boehringer statt, der unangemeldet und als Unbekannter in Morwitz’ Zimmer kam, um dort auf StG zu warten (BB).

Briefwechsel 1907 93

tum; es ist mir nun zur Notwendigkeit geworden, Ihnen etwas ⸢selbst⸣ von meinen ⸢nur⸣ kleinen Erlebnissen mitzuteilen. Mit vielen herzlichen Gruessen Ihr Ernst Morwitz.

24.  StG an ML

Poststempel Bingen, 2. 7. 1907 Posteinlieferungsschein26 Paket 1 kg / Einschr / Melchior Lechter

25.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 5. 12. 1907 Brief mit Umschlag nach Bingen

Donnerstag. Mein lieber Meister: Wie haben mich Ihre Worte erfreut! Ich sehne mich nach Ihnen und empfinde mich wieder von allem bedroht, aber es ist Trost und schoen, wenn ich mir Ihren Tag ausmale und Ihre Gestalt und Ihre Stimme wachzurufen glaube. Ich verfolge Sie und glaube Ihre Schritte zu hoeren. Ich sehe Sie in Bingen am Rhein und spuere ihre [sic] Naehe, und meine Hoffnung auf nahes Wiedersehn ist bestaerkt. Jetzt kann mir nicht so die Kraft mangeln wie frueher. Sie sind in meiner Naehe – koerperhaft, so vollgesogen fuehle ich mich. Ich bin bei Ihnen! Ewig Ihr Ernst Von der Feier27 laesst sich nichts schreiben. Besser muendlich. Treuge28 kam am Abend und brachte Waerme und Blut und Festigkeit in den Kreis. 26 Morwitz meint sich zu erinnern, dass die Sendung das Manuskript von Der Siebente Ring umfasste, die er von Heidelberg aus an Lechter schickte (BB), allerdings weist das Dokument den Poststempel Bingen auf. 27 Am 4. Dezember hatte in Lichterfelde unter Anleitung von Berthold Vallentin die „Feier der Huldigung vor dem Siebenten Ring“ in Anwesenheit von Friedrich Wolters, Kurt Hildebrandt, Friedrich und Wilhelm Andreae stattgefunden, an der auch Ernst Morwitz und Lothar Treuge teilnahmen. Eine Einladung war auch an George ergangen, Einladungskarte und pathetischer Begleittext Vallentins haben sich im StGA erhalten. 28 Lothar Treuge (1877–1920), Dichter, seit 1901 mit Melchior Lechter befreundet, mit George seit der Jahrhundertwende bekannt, war ab der 5. Folge Mitarbeiter der Blätter für die Kunst, als solcher auch auf der „Blättertafel“ von 1904 abgebildet. George nahm auch eines seiner Gedichte „An Maximin“ 1906 in das Gedenkbuch auf. Eine

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26.  EM an StG

Briefwechsel 1907

24. 12. 1907 Brief ohne Umschlag

Berlin. Am 24. 12. 1907. Mein lieber Stefan George: Jetzt – in diesen Tagen moechte ich bei Ihnen sein! Ich empfinde nur in solcher Zeit die raeumliche Trennung wirklich schmerzhaft! Fuer gewoehnlich hilft uns der Gedanke an die Groesse des Menschen, den wir lieben, ueber Zeit und Raum fort. Denn ich bin bei Ihnen, Sie sind bei mir und dadurch wird der gemeine Tag und das, was ihn erfuellt, unwirklich und nicht lastend. Ich stelle mir vor, ich waere in Bingen, traete an Ihrem Namenstage29 zur Tuer herein und begoenne mit Ihnen zusammen das neue Jahr. Dann muesste das Glueck kommen, das ich fuer Sie erwuensche, ein wenig menschliches Glueck, das froh macht und in seiner Kuerze ueberdauert. Und wenn ich Sie dann mir gegenueber gesehen habe und langsam zurueckversetzt werde durch die Gedanken, dann empfinde ich die Trennung wohl schwer, aber doch erscheint die Umgebung schoen und lebendig, denn: es war so, es bleibt und wird wieder so sein. Ich bin froh in der Hoffnung, Sie bald wieder hier zu sehen. Und ich wuensche mir darauf den Fruehling herbei, der mich zu Ihnen bringen wird. Ihr Ernst.

27.  EM an StG

26. 12. 1907 Brief ohne Umschlag

Berlin Am 26. XII. 1907. Mein lieber Stefan George: Ihr Brief und Ihre Gaben30 haben mir dies Weihnachtsfest zum ersten Mal wieder so schoen erscheinen lassen wie in meiner fruehesten Jugend. Wie soll ich danken und nur danken koennen, dass Sie so voller Liebe an mich denken! Was Sie mir zum Vorwurf machen, ist gerecht; ich kenne selbst meine Schuld. Aber die Rechtfertigung steht in Ihren Worten, und ⸢ich⸣ brauche sie nicht

berufliche Laufbahn hatte Treuge nach abgebrochenen Studien nicht angestrebt, er arbeitete später als Lehrer und öffentlicher Angestellter und starb früh an Lungentuberkulose. 29 Stephanstag ist in der katholischen Kirche der 26. Dezember. 30 Vielleicht schon die Erstausgabe von Der Siebente Ring, die kurz zuvor erschienen war, mit Widmungsversen für Morwitz, vgl. Anm. 27.

Briefwechsel 1907 95

noch einmal zu wiederholen. Doch ich verspreche Besserung – soweit es an Aufbietung des Selbstzwanges liegt. Seit Sie fort sind, bewege ich mich scheinbar in einer ewig gleichmaessigen Daemmerung, die gerade bunt genug ist, um eine Zeitspanne zu erfuellen. Die jungen Grafen31 habe ich nicht mehr gesehn, doch muessen sie hier sein. Ich kenne nun die Fenster, die zu ihrer Wohnung gehoeren, und war sehr boese, als ich am Heiligabend keinen Baum erblicken konnte. Ist es nicht graesslich zu denken, dass die Eltern solch falsche Aestheten sind! In ihrer Strasse spukt es noch immer von seltsamen Gestalten. Lechter hatte neulich zwei sehr schoene Cartons ausgestellt.32 Er bat mich eine Weihnachtsgabe von ihm an Treuge zu ueberbringen, der sich in der Charité einer Operation unterzogen haette. Ich fand Treuge ziemlich matt und missgestimmt, doch hofft er in einiger Zeit vollstaendig geheilt zu sein. Sonst weiss ich nichts, ausser: dass ich mich ueber die laengerwerdenden Tage freue, mit meinen Gedanken immer bei Ihnen bin und dass die Zeit, bis ich Sie wiedersehen werde, immer rascher vorueberfliegt. Ihr Ernst.

31 Woldemar Graf von Uxkull-Gyllenband (1898–1939) und Bernhard Graf von UxkullGyllenband (1899–1918). Morwitz schreibt (BB): „Im Herbst 1906 sah ich Woldemar und Bernhard Uxkull zum ersten Mal im Tiergarten in Berlin. St. G zog Erkundigungen nach ihrem Namen und ihrer Adresse ein. Wir folgten ihnen bis zu ihrem Wohnhaus […] In einem Eisenwarengeschäft im gleichen Haus erkundete St. G den Namen der Kinder und teilte ihn mir mit.“ Bei der Jahresangabe dürfte es sich um eine Erinnerungstäuschung von Morwitz handeln. 32 Melchior Lechter (1865–1937), Maler, Glaskünstler und Buchgestalter. Er stand seit 1895 in zunehmend freundschaftlichem Kontakt zu George, der in den Jahren ihrer Zusammenarbeit zwischen dem Jahr der Seele und dem Siebenten Ring (1897–1907) am engsten war. Lechters immer stärkere Annäherung an die Theosophie in den Jahren ab 1910 führte auf Seiten Georges zu einer wachsenden Entfremdung, auch verzichtete George ab 1914, dem Erscheinen des nächsten Gedichtbands, Der Stern des Bundes, auf Lechters gestalterische Mitarbeit. Lechter seinerseits hielt George immer die Treue, auch als er sich in Verehrung Rainer Maria Rilke zuwandte. Er blieb auch mit Karl Wolfskehl befreundet, besuchte mit diesem noch 1937 Rilkes Grab in Raron. 1934 hielt er an der Lessing-Hochschule in Berlin eine später im Druck vorgelegte Totengedenkrede: Zum Gedächtnis Stefan Georges, mit einem Nachwort und zehn Symbolen, Berlin 1934.

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28.  EM an StG

Briefwechsel 1907

Poststempel Berlin W, 30. 12. 1907 Brief mit Umschlag nach Bingen

Sonnabend Ich sende – lieber Meister – eine, wenn auch nicht vorzuegliche, Photographie des bronzenen Torsos aus dem Saale des betenden Knaben.33 – Der schoene, nach unten blickende Reliefkopf aus Marmor34 ist bisher weder nachgeformt und ⸢noch⸣ photographiert worden. Doch ist es moeglich, dass es noch im Laufe dieses Jahres geschieht; Mit vielen herzlichen Guessen an Sie und Gundolf. Ihr Ernst. Sonntag. Mein lieber Stefan George: Als ich die Verse, die Ihre Hand fuer mich zu­sam­ men­schrieb,35 zum ersten Male in meinen Fingern spuerte, zitterte ich vor grosser Freude. Und noch jetzt wage ich kaum Ihre Gabe zu beruehren. Nun begleitet mich immer dies Zeichen! Mich moegen diese Verse, die sich stets auf meine Lippen draengen, wiederspiegeln und zu Ihnen bringen: Mit den gedanken ganz in dir seh ich als andre Gemach und stadt und silbrige allee Mir selber fremd bin ich erfuellt von dir und wandre Verzueckt in naechten ueberm blauen schnee.36 Ernst. Montag. Was ich auch denken mag, was ich erhoffe und wuensche, Sie sind mir in allem Ende und Ziel – geliebter Meister! Ihr Ernst.

33 Der „Saal des Betenden Knaben“ befindet sich in der Antikensammlung der Staatlichen Museen in Berlin. Es handelt sich bei dem Betenden Knaben um eine Bronzefigur vom Ende des 4. bis Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. 34 Um welchen Reliefkopf aus Marmor in der Berliner Antikensammlung es sich handelt, konnte nicht ermittelt werden. 35 Unklar, um welche Verse es sich hier handelt. 36 Hier handelt es sich um die erste Strophe von Georges Gedicht „Umschau“, das 1907 im Siebenten Ring als Teil des Zyklus „Gezeiten“ erschien, nicht aber zu den in einer Sammelhandschrift 1902 Friedrich Gundolf gewidmeten Gedichten gehörte (SW VI/ VII, S. 70).

Briefwechsel 1908 97

29.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 6. 1. 1908 Brief mit Umschlag nach Bingen

Am 6. 1. 1908. Lieber Stefan George: Ich war gestern mehrfachen Aufforderungen zufolge in Lichterfelde. Dr. V. 37 erzaehlte, er waere bei Ihnen gewesen, Sie befaenden sich wohl und haetten Gruesse an mich aufgetragen. Ich danke Ihnen aus ganzem Herzen! Auch meine Hoffnung, Sie im Februar wiederzusehn, wird jetzt wieder bestaerkt, da Sie, wie ich hoere, noch an dem Plan festhalten. In Lichterfelde fand ich ausser den Hausgenossen38 nur noch einen Littera39 ten vor, der so unglaublich viel Wissen hatte, dass ich kein Wort mehr ruhig hervorbringen konnte, ohne bodenlose Unkenntnis zu enthuellen. Aber – ich weiss nicht – ich hatte gar kein Schamgefuehl – es kam mir all dies Gnostische und Aegyptische und Koptische so „litterarisch“ vor, dass ich nur mit halbem Ohr hinhoerte und immer wieder nach der Tuer starrte, in der ich damals an Ihrer Seite so freudig wie nie die Verse las. Morgen hoeren meine Ferien auf. Hier sind die Tage sehr schoen wenn auch recht kalt. Immer wenn ⸢ich⸣ an Ihrer Pension40 voruebergehe, denke ich, Sie muessten gerade am Fenster stehn und zu einem Spaziergange herunter

37 Berthold Vallentin (1877–1933) studierte Geschichte bei Kurt Breysig und Gustav Schmoller sowie Jurisprudenz, promovierte und wurde erfolgreicher Jurist. Während der Assessorzeit am Kammergericht in Berlin lernte er sowohl Rudolf Borchardt als auch Wolters, Hildebrandt und die Brüder Andreae kennen. Mit seiner späteren Frau Diana (seit 1908) unternahm er große Reisen. Er nahm als Soldat am Krieg teil und ließ sich danach als Rechtsanwalt und Notar nieder. Mit George und den Woltersfreunden, aber auch mit Robert Boehringer stand er in enger Verbindung, George wohnte zeitweise bei dem gastfreundlichen Ehepaar. Vallentin notierte seine Gespräche mit Stefan George, die schließlich auch im Druck erschienen (Amsterdam 1967). Neben ­Gedichten schrieb der Liebhaber Napoleons eine 1923 erschienene Abhandlung über diesen, der noch weitere Darstellungen wie Napoleon und die Deutschen (1926) und ein Winckelmann-Buch (1931) folgten. Sie wurden von George in die Reihe der wissenschaftlichen Werke im Verlag der Blätter für die Kunst aufgenommen. 38 Hausgenossen Vallentins waren damals in Lichterfelde Friedrich Wolters, Friedrich und Wilhelm Andreae. 39 Es könnte sich um Rudolf Borchardt (1877–1945) handeln, der Dezember / Januar 1908 für vier Wochen in Berlin weilte und wohl auch Berthold Vallentin sah, mit dem es infolge zum Bruch kam, wie aus Borchardts Briefen an Friedrich Wolters vom März und April 1908 hervorgeht. 40 Gemeint ist wohl die Pension Blasig in der Bayreutherstraße 27, wo George mehrfach wohnte.

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Briefwechsel 1908

kommen. Ich bin viel auf dem Eise, schreibe nichts und sehne mich garnicht danach. Sonst lasse ich alles seinen Lauf gehen. Habe auch nicht mehr Furcht vor irgend einer Zukunft oder Begierde, sie zu durchdringen. Nur an Sie denke ich und Sie zu sehn, ist allein meine Sehnsucht. Ewig Ihr Ernst.

30.  EM an StG

18. 1. 1908 Brief ohne Umschlag Sonnabend. 18. I. 08. Berlin.

Lieber Stefan George: Heute ist wieder der Tag, an dem ich gewoehnlich das alte Museum besuche. Wenn ich nun zu den alten Standbildern41 trete, ist es mir, als ob sie auf ihren Stirnen einen besonderen Glanz truegen, um mich an die Stunden zu erinnern, in denen wir sie zusammen bewunderten! Ich ich bin maechtig und gluecklich in meinem Gefuehl fuer Sie. Alles, was nicht das Letzte anruehrt, prallt ab, ohne zu verwunden oder selbst zu erschrecken. Meine Gedanken sind bei Ihnen. Ich arbeite etwas und hoffe auf den Fruehling! Ein griechisches Gedicht „περι λιθων“  – es wird dem Orpheus zugeschrieben  – habe ich gefunden. Sicher­lich stammt es aus der noch vorgeschichtlichen Zeit. Was ich bisher entziffern konnte, ist sehr schoen. Da es kurz ist, werde ich es vielleicht einmal ganz uebersetzen koennen. Ich sende Ihnen viele, viele Gruesse und denke immer an Sie. Ewig Ihr Ernst.

41 In der Antikensammlung der Staatlichen Museen in Berlin; vgl. Anm. 33 und 34 zu Br. 28.

Briefwechsel 1908 99

31.  EM an StG

Poststempel nicht lesbar, 29. 1. 1908 Brief mit Umschlag nach Bingen Berlin 29. I. 08.

Lieber Stefan George: Ich leide darunter, dass ich nicht alles wiedererzaehlen kann, was mir stuendlich begegnet. Jeden Abend stelle ich mir vor, wie schoen es waere, all dies fuer Sie, damit Sie es wuessten, aufzuschreiben und zu sehen und zu pruefen, ob es auch recht war. Ich moechte mich selbst dadurch befreien und beweisen, wie ich in Ihnen lebe und in Ihnen denke! Wenn ich dies, so wie immer, wieder sage, koennten Sie vielleicht nicht die ganze Ewigkeit und Groesse empfinden, die ich hineinzulegen strebe. Aber – glauben Sie mir! – das ist ja die einzige Richtschnur und das einzige Licht und Ziel! Wenn Ihr Bild aufsteigt, empfinde ich jede Groesse doppelt und doppelt schoen. Denn Sie begleiten mich und kennen meine Wege und ich bin ewig mit Ihnen zusammen. Ihr Ernst.

32.  FG an EM

Poststempel Charlottenburg, 11. 3. 1908 Postkarte nach Berlin W.

Lieber Ernst: Wenn Sie morgen nicht den schon ganzen Nachmittag um 7 kommen können, so kommen Sie doch bitte nach dem Abendbrot, da ich den ganzen Abend weg bin. Herzlichst Τ∙Υ∙Χ∙Ω∙42                               Ihr   Gundolf

42 Es könnte das griechische Wort TΎΧΗ / tychae und damit der Ausruf agathae tychae / Ἀγαθὴ Τύχη „Gut Glück“ gemeint sein.

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33.  StG an EM

Briefwechsel 1908

n. d. 30. 3. 190843 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Du batest mich beim abschied auf deine mehrmaligen briefe hin die du damals zu schreiben vor hattest sollte ich nicht ganz stumm bleiben. Nun bist du der Stumme. Ich schätze wol und besonders bei Dir den Lakonismus aber Du treibst ihn zu weit und Du brauchst doch das wenige was Du besitzest durchaus ⸢nicht⸣ dir ab zu erziehen. Schliesslich genügt ja zum ausdruck persönlicher teilnahme auch eine monatliche ansichtskarte oder noch weniger ein eigenhändiger tintenklex. Die einzigen äusseren gelegenheiten (abend beim M.D.K.S.44 und dann die aufführung unsres früheren mit-dichters45) hast du auch nicht wahrgenommen um mir mit mehr Deine gedanken zu beweisen als mit einem hauptsatz und zwei relativsätzen … Nun zum beweis dass ich erfinderischer war habe ich dir diese Abschrift46 angefertigt von der ich weiss dass sie Dir eine ganz besondere freude macht und dann setz ich Dir noch einen schönen fund aus J. P.47 hierher: „O wüsstet ihr die ihr an unsrer unersättlichkeit verhungert ∙ wie ein kuss ∙ der ein erster und lezter ist ∙ durch das Leben hindurchblüht als die unvergängliche doppelrose der verstummten lippen + glühenden seelen: Ihr würdet längere freuden suchen und finden“. ST∙

43 Die Datierung ergibt sich aus der Annahme, dass mit dem früheren „mit-dichter“ Hugo von Hofmannsthal gemeint ist. Dessen Versdrama Der Tor und der Tod wurde am 30.  März 1908 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin aufgeführt. 44 „M.D.K.S.“ steht für „Meister des Königs Schmerz“. Unter diesem Pseudonym waren 1903 Gedichte Berthold Vallentins als Privatdruck erschienen: Die Lieder des Landenden und von neuer Fahrt. Die Krypte der tieferen Ergiessungen. Die strenge Feier. sowie Sinfonia: dem Andenken des Grafen Oskar Korniss. 45 Hugo von Hofmannsthal, vgl. Anm. 43. 46 Möglicherweise eine Abschrift der Romanze „Prinz Indra“ aus Georges Schulzeit, die sich, von den Briefen getrennt, im Nachlass von Ernst Morwitz befindet; vgl. Textanhang, S. 572  ff. Laut Morwitz (BB) waren es Abschriften von in Georges Besitz befindlichen Gedichten Leopold von Andrians. 47 George zitiert aus Jean Pauls Biographische Belustigungen. Blumen-, Frucht- und Dornenstücke. Diesen Passus hatte er 1900 nicht in die zusammen mit Karl Wolfskehl herausgegebene Anthologie Jean Paul. Ein Stundenbuch für seine Verehrer aufgenommen, wohl aber drei andere Prosastücke aus dem zweiten Teil des Jean Paulschen Werkes. Überliefert ist dieses Zitat hingegen durch fremde Abschrift einer Niederschrift Georges; vgl. NLB, S. 96. In Georges Jean Paul-Ausgabe (Berlin: Gustav Hempel [1879]) findet sich der Passus auf S. 470  f., kurz vor dem aufgenommenen „Gedicht“: „Mein Neujahrswunsch an mich selber“ (S. 472).

Briefwechsel 1908 101

34.  FG an EM

Anfang April 1908 Brief ohne Umschlag nach Berlin

Lieber Ernst: IchStefan48 hätte Ihnen schon geschrieben, doch waren die ersten Tage zu schwankend – auch jetzt kann ich ⸢er⸣ noch nicht genau sagen ob ich ⸢er ⸣ die Reise nach Paris49 schon sobald machen kann; jedenfalls aber erwarte⸢t⸣ ich er Sie in Bingen. Damit nun keine Verfehlungen eintreten, gib⸢t⸣ ich ⸢er⸣ folgenden Rat: Sie möchten erst am Dienstag abreisen und, wie besprochen, am nächsten Tag (Mittwochs 1.19 in Frankfurt eintreffen. Dort geht ⸢ginge⸣ aber erst 3.28 ein für Sie geeigneter Zug nach Bingen. Nachdem Sie nun in Frankfurt gegessen haben, gehen Sie aufs Hauptpostamt und holen dort postlagernd ein Telegramm für sich Sie ab: dieses kündet Ihnen entweder an dass er auch noch am selben Nachmittag in Frankfurt sei, oder Sie fahren auf das Telegramm hin zum Besuch Gundolfs nach Darmstadt und kommen erst Donnerstag um 12 nach Bingen, wo Stefan dann auch von seiner Reise zurück sein wird (Mittwoch Nachmittag ist er auf keinen Fall in Bingen) All diese Klauseln sind misslich, aber bexx obwol leicht verständlich an sich, aber bedingt durch den noch immer wechselnden Gesundheitszustand. Träte in Ihren Absichten eine Ändrung ein, so möchten Sie bitte hierher depeschieren. Bitte das Mskr. des Herrn W.50 mit nach Bingen zu bringen das damals

48 Friedrich Gundolf begann seinen Brief im Auftrag Stefan Georges in der Ich-Form zu schreiben, George als Schreiber sozusagen nur seine Hand leihend, um dann zur ErForm zu wechseln. Beide Möglichkeiten wurden im Kreis für Auftragsbriefe Georges genutzt. 49 George begab sich zusammen mit Ernst Morwitz Ende April 1908 auf seine letzte Parisreise, besuchte Saint-Paul, traf mit André Gide bei Albert Mockel zusammen, zeigte Morwitz Mallarmés früheres Wohnhaus und fuhr mit ihm nach Meudon zu Rodin. An diesen Besuch erinnert vor allem Morwitz’ Gedicht „Der Abend von Meudon“, ein fiktiver Dialog zwischen George und Rodin (BfdK XI/XII, S. 281–284). Von Gide ist in Erinnerung an diese Begegnung eine Personenbeschreibung Georges bekannt geworden, veröffentlicht in Die litterarische Welt, IV /28, vom 13. Juli 1928. 50 Gemeint sein könnte sowohl ein Manuskript Friedrich Wolters’ als auch Walter Wenghöfers. Wolters aber war es, der am 18. März 1908 George mitgeteilt hatte, dass seine Übersetzungen der Minnesänger bei Melchior Lechter liegen (G/FW, S. 69  f.), sodass es plausibel scheint, trotz der distanzierten Formulierung Gundolfs an dieses Manuskript zu denken. Von Walter Wenghöfer (1877–1918) erschien das Einleitungsgedicht zum Zyklus „Die Tage des Endymion“ in der 8. Folge der Blätter für die Kunst, datiert auf 1908/1909, die tatsächlich erst 1910 ausgeliefert wurde (S. 129  f.). Es fand sich aber auch schon in dem Band Eine Auslese der Jahre 1904–1909, der, vorgezogen, 1909 bei Georg Bondi herauskam.

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Briefwechsel 1908

bei Lechter lag, wie bei Herrn Wolff51 ein kleines Etui mit Kette52 abzuholen das dort liegen geblieben ist. Mit den herzlichsten Erinnerungen Auf Wiedersehen i.A.     St. Herzlichst Ihr Gundolf

Also entweder: mittwoch mittag Frankfurt Oder donnerstag mittag Bingen St.

35.  StG an EM

April 1908 Notiz mit Umschlag53

Hotel Beaujolais rue Beaujolais54

51 Laut Morwitz ein Tierbildhauer Wolff, bei welchem George in der Ebereschenallee im Berliner Westend im Frühjahr 1908 neben Gertrud Kantorowicz wohnte. Tatsächlich logierte er dort durch Vermittlung von Gertrud Kantorowicz, mit der er seit 1897 in freundlichem Kontakt stand. 1911 lebte er eine Zeit lang in ihrem Zimmer solange sie abwesend war (BB). 52 Laut Morwitz eine alte goldene Uhrkette Georges aus Familienbesitz (BB). 53 Billet mit Aufschrift „Mr.: Von Moritz“ von der Hand des Sohnes von Albert ­Saint-Paul; Notiz auf der Rückseite „Paris Tischkarte bei Albert Saint-Paul.“ von Morwitz’ Hand (BB). 54 Morwitz erinnert: „In Paris wohnten wir im Hotel Beaujolais, rue Beaujolais, d.  h. im Palais Royale: Mein Zimmer hatte den Blick in den Garten.“ (BB)

Briefwechsel 1909 103

36.  StG an EM Poststempel Rheinsberg, nicht lesbar, September 190955 Brief mit Umschlag (Blättermarke Urnensignet) nach Berlin W. Rheinsberg Villa Hubertus56 l: E: hier ist es sehr schön ∙ besonders schloss und park mit den erinnerungen an Friedrichs jugend .  .57 Ich meine nun Sie sollten Ihrem freund diese gelegenheit nicht verschliessen  · eher raten!58 Er ist mir montag wo V.59 abreist willkommen  ∙ er kann auch einige tage bleiben da platz genug ist  ∙ mitte woche kommen weitere freunde. Der beste ist morgens dreiviertelneun der Dänen-zug. Ich erwarte Ihre antwort. St.G

37.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 27. 11. 1909 Brief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl

Mein lieber Meister. Dies Zeichen kam mir unerwartet schoen! Ich schulde Ihnen so viel Dank, dass es menschlichen Kraeften nicht moeglich ist, diese Last abzutragen. Sie haben mir ein leeres Leben ausgefuellt, mich zu einem

55 Morwitz berichtet von einem „geistigen Zusammenstoss“ mit George während der Parisreise, von der gemeinsamen schweigenden Rückfahrt bis Bingen, wo George ausgestiegen, während er nach Frankfurt weiter gefahren sei. Daraufhin habe ein Jahr lang Schweigen zwischen ihnen geherrscht (BB). Mit dem Brief aus Rheinsberg knüpfte George wieder an, und es gab ein erstes Wiedersehen nach Georges Rückkehr in Berlin. 56 Bekannt ist ein Aufenthalt Georges am angegebenen Ort vom 10.–12. 9. 1909; am 10. 9. schrieb er unter dieser Absenderadresse eine Ansichtskarte an Friedrich Gundolf in Darmstadt (nicht in G/G enthalten). George mochte Rheinsberg durch Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg bekannt geworden sein. Im Sommer 1911 besuchte Kurt Tucholsky von Berlin kommend die ca. 90 km entfernte Stadt mit Schloss, Park und Kirche aus dem 13. Jahrhundert und machte sie mit seiner Erzählung Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte (1912) berühmt. 57 Gemeint ist der preußische Kronprinz Friedrich, der spätere Preußenkönig Friedrich II. (1712–1786), berühmtester Bewohner von Schloss Rheinsberg. 58 Walter Lindenthal, Schulfreund von Morwitz, ist gemeint. Es fand eine Begegnung zwischen ihm und George vor dem 8. 10. 1909 in Berlin statt, denn er bat an diesem Tag George um ein weiteres Treffen. Zuvor habe er erst Zweifel und Fragen klären müssen, will nun aber im persönlichen Gespräch deren Beseitigung suchen (StGA). 59 Wohl Berthold Vallentin, der, mit Diana Rabinovicz verheiratet, 1909 in Charlottenburg lebte und jüngst Vater geworden war.

104

Briefwechsel 1909

anderen Wesen umgestaltet.60 Wie koennte ich hierfuer Dank abmessen. Wenn ich zu verzweifeln drohe, klammere ich mich an Ihr Dasein. In Ihnen fand ich mein Mass. Was aus der Zeit der schwachen Kaempfe gerettet ist, waechst zu so hohem Preis, dass jedes Nennen-wollen Vermessenheit waere. Dies alles danke ich Ihnen  Ihr Ernst. Berl. Sonnab. 27. Nov 1909

Mr.: Stefan George

38.  EM an StG Poststempel Berlin W, 29. 11. 1909 Brief mit Umschlag nach München, bei Herrn Dr. Wolfskehl Berlin 29. Nov. 1909 Lieber Meister: Ich weiss nicht, ob dieser Brief Sie noch in Muenchen erreicht. Jedenfalls will ich es auf gut Glueck versuchen. Bis Sonnabend bleibe ich sicherlich in Berlin, da meine Anstellungssachen61 noch nicht zu Ende gefuehrt sind. Die Abschriften62 fange ich jetzt gerade herzustellen an. Wenn etwas zu besorgen ist, schreiben Sie mir bitte. Mehr habe ich heut nicht auf dem Herzen, als noch dankbare Gruesse für Sie Ihr Ernst.

60 Gedicht Georges; vgl. im Stern des Bundes „Dies ist reich des geistes“ und die Verse 3  f. „Neugestaltet umgeboren / Wird hier jeder:“ (SW VIII, S. 83). 61 Morwitz legte sein erstes juristisches Staatsexamen 1909 in Berlin ab und promovierte schon ein Jahr später in Heidelberg. 1914 bestand er das zweite Staatsexamen. Es dürfte sich also um Papiere handeln, die mit seiner Berufslaufbahn in Zusammenhang stehen. 62 Es ist nicht deutlich, um welche Abschriften es sich handelt.

Briefwechsel 1909/1910 105

39.  EM an StG

Poststempel Portofino, 20. 12. 1909 Postkarte nach Bingen63

Lieber Meister: Einige wundervolle Tage in Portofino. Ich wuenschte, Sie waeren jetzt hier, es ist viel schoener als im Fruehling – Morgen gehen wir vielleicht nach Siena. Viele Gruesse Ihr Ernst M. Portofino Sonntag 19. 12. 09.

40.  EM an StG Poststempel Firenze 30. 12. 1909 Postkarte nach Bingen, nachgesandt nach München, bei Karl Wolfskehl Donnerstag. 30 Dez L.M.S.G. Sind Sie schon am 10 Januar in Muenchen? In dieser Zeit denke ich nach Hause zu reisen und ein oder zwei Tage in Muenchen zu bleiben. Wenn Sie schon dort sein sollten, wuerde ich Sie gern sehen. Viele Gruesse Ihr Ernst M. Florenz Viale Amadei 18 Pension Borgagni.

41.  EM an StG Poststempel Muencheberg, 9. 3. 1910 Brief mit Umschlag nach München, bei Dr. Friedrich Gundelfinger Müncheberg. 9. III 1910 Lieber Meister: Als ich aus Heidelberg zurueckkam, war es gerade die rechte Zeit, um bei dem Begraebnis meines Freundes Richard Lehfeldt64 zugegen zu sein. Ich wusste nicht, dass er krank war, in wenigen Tagen ist er gestorben. Weniger traurig fuer ihn, als fuer mich, da ich weiss, dass ich der einzige Mensch war, den er geliebt hat. 63 Auf der Seite der Adresse sind Zahlenkolonnen mit Bleistift aufgetragen. 64 Laut Morwitz starb Lehfeld als Student der Medizin an einer Sepsis infolge einer Infektion in der pathologischen Anatomie. Er soll ein Vetter von Hans Brasch (vgl. Anm. 193) gewesen sein (BB).

106

Briefwechsel 1910

Hier sitze ich mit meiner Weisheit fest. Wenn ich trauere, scheint es mir Eigen­ liebe und es ist in Wahrheit furchtbar einen Teil von sich selbst, der in einem anderen Menschen reiner und klarer ausgebaut war, so spurlos verloren zu sehen. Was kann Ihnen dieses alles bedeuten, da Sie ihn nicht gekannt haben. Von ihm schreiben, kann ich jetzt nicht, vielleicht einmal erzaehlen! Mir geht es immer weiter stumpf und still. Hier bin ich froh, dass ich allein ⸢bleibe⸣ und mit keinem Menschen zu reden brauche. Es ist ja auch gar keiner da. Von Sonnabend bis Montag bin ich in Berlin.– Vor dieser schlimmen letzten Woche habe ich einige Gedichte gemacht. Ich sende Ihnen heute eines, damit Sie sehen, dass ich Ihrer gedenke und nur deshalb nicht schreibe, weil nichts zu schreiben ist oder nur ⸢von⸣ Ereignissen, die nicht ich nicht auszudruecken vermag. Ihr Ernst.

In euch ist die Erfuellung meiner Macht Geburt und Adel – silberaeugige Bilder Ich schwarzer Krieger, der auf Beute wacht Ihr streut sie achtlos aus dem Bug der Schilder. Wie kann mir Ruhe sein, nach Mord, nach Schlacht Wenn ihr vergeudet, was in Not gesammelt Noch taumelnd treibt mich auf in Feuernacht Ein neuer Wunsch, den eure Lippe stammelt. Und doch beglueckt von Jugend und von Glanz Kann mich die schwerste Pruefung nicht beschwerden Gefahr und Wunde bieten mir zum Kranz Dass unsren Seelen wieder Fluegel werden. E. M.

Briefwechsel 1910 107

42.  EM an StG

Poststempel Müncheberg, 20. 9. 1910 Brief mit Umschlag nach Bingen Muencheberg (Mark) 20 IX 1910

L.St.G. Da ich in Berlin noch nichts von Ihnen gehoert habe und auch nicht annehmen kann, dass Sie schon in Berlin sind, bin ich in Sorge, dass Sie krank sein moechten. Ich bitte Sie deshalb um eine Nachricht. Mit vielen Gruessen Ihr Ernst Morwitz

43.  StG an EM

Herbst 191065 Faltbrief ohne Adresse

Liebster Ernst: in diesen tagen von sonne und eines fast sinnlichen glückes muss ich denken wie Sie die beute von finstren geistern sein könnten – solchen die in jener vorigen nacht Sie erpackten. So möchte ich Sie nicht allein lassen ∙ kommen Sie doch bald zu Ihrem freund!

44.  StG an EM

Herbst 1910 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: könnten Sie nicht schon morgen vormittag um 10 ½ einmal zu Lechter kommen? – sonst wenn dies zu spät kommt um 8 abends St

65 Der undatierte Brief wurde hier eingefügt, da er noch die Sie-Anrede verwendet, aber schon von großer Nähe zeugt. Die kontinuierliche Du-Anrede beginnt mit Georges Brief Nr. 45 vom 10. 10. 1910 (bereits einmal zuvor im März 1908, Brief Nr. 33) und Morwitz’ Brief Nr. 49 vom 7. 12. 1910.  Die Mitteilung ist unter den Originalbriefen aus dem Jahr 1908 abgelegt.

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Briefwechsel 1910

45.  StG an EM

Poststempel Charlottenburg, 10. 10. 1910 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebster Ernst: Hier der aufsatz von dem ich gesprochen habe zur unterhaltung. Sag mir wie es geht und sorg dass du bald wieder heil wirst St.

46.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 11. 10. 1910 Brief mit Umschlag nach Westend (bei Berlin), im Hause des Herrn Bildhauer Wolff Stanzen

Gelobt der Stern – gelobt der Gott der Stunde Die waegendes Geschick dem Stummen spendet Ein Hauch des Lebens hemmt den Frass der Wunde Aus unfruchtbarem Schoss herauf gesendet Ein Hauch aus Deinem lebensgluehen Munde Hat alles Sinnen schoen in Klang gewendet Und aufwaerts reisst Du – auf aus dumpfem Starren Die sich verirrt geglaubt und nicht mehr harren      Vor ihrem Blick verschwimmen schon die Mienen Der Truggestalten die hier drohend ragen Was ausgeglueht, verkohlt, zerflockt erschienen Wie dehnt es sich der Fuelle Last zu tragen Und Geister tauchen aus verborgenen Mienen Und weisen dienend erzdurchschossene Lagen Und laechelnd streust Du auf die brache Erde Das reife Glueck mit segnender Gebaerde.      Die Kirchen streben, nicht mehr tote Mauern Hoch in den Golddunst, wie ihn Fruehe malt Erloest, erstarkt nach langem kaltem Trauern Verschnoerkte Tuerme – herb vom Blau durchstrahlt. Und Leiber draengen starr in frommen Schauern

Briefwechsel 1910 109

Zu Euch empor, die Ihr das Werk befahlt Die Ihr uns Kraft zu neuer Tat gegeben Euch sei der Preis in unserm neuen Leben     Ihr labt, Ihr droht, Ihr laesst [sic] uns fast verzagen. Dass sich die Schwaeche laehmend um uns ballt. Ihr schickt die Stunde und den Ruf zum Wagen Durch eines Führers strahlende Gestalt: Du bist gekroent von Ihnen im Entsagen In Deinem Wahn liegt Deine Allgewalt Um Dich schwingt Leben und an Deiner Seite Bin ich die Welt und spuere Sternenweite.66        

47.  EM an StG

10. 11. 1910 Brief ohne Umschlag Dem Meister

Draengt nun zum Tag im unerhoerten Schwall Ihr – letztes Heil verlorenen Zeiten: Der Gott verleibt wird eure Welt durchschreiten Vom Weib geboren und dem Weib zum Fall. Weltkern gib dein naehrendes Feuer Biete seinem Fuss ein Fruehlingsfeld Sei ihm, Geliebter, als Meister teuer Eh seine Sendung den Traum zerschellt.

66 George nahm das Gedicht 1910 in die 9. Folge der Blätter für die Kunst nach einigen Textänderungen ohne Nennung des Verfassers auf (S. 141  f.). Es beginnt dort: „Verblasster traum! verblasst im rausch der stunde / Die lohnendes geschick dem stummen spendet.“

110

Briefwechsel 1910

Dann hebt er im Zwang des letzten Gesichtes Sprengend die Kraft, die zu unterst ruht Loest sich befluegelt in Ebnen des Lichtes Loest sich gesaettigt in goettliche Hut, Laesst seine Erde wie niemals geminnt Wieder kreisen mit Nebel und Stern Stillt sie als Regen, fruchtet als Wind Opfert sein Feuer dem Glutenkern.67 10. November 1910 Ernst.

48.  EM an StG

ca. 15. 11. 1910 Brief ohne Umschlag

Heidelberger Sonnette Dem Meister im November 1910 Ernst. I Weil jeder Strahl, der heute neu belebt Weil Glut und Glanz am Erntetag verglimmen Weil jeder Schatz, den kuehne Hand ergraebt Im Abendrot zerrinnt, dass wir verstimmen Weil jede Tat, der unser Spott heut galt Uns morgen lockt sie dienend zu vollbringen Im Hellen hoehnt mit herrischer Gestalt Dass wir voll Scham und Zagen in uns dringen

67 Dieses Stefan George gewidmete Gedicht ist erstmals in einer sich der StG-Schrift annähernden Druckschrift geschrieben, allerdings wird noch nicht auf Großschreibung verzichtet. Mit dem „Gott verleibt“ bezieht sich Morwitz auf den von George erdichteten Gott „Maximin“ und zitiert Georges Vers „Den leib vergottet und den gott verleibt“ aus dem Gedicht „Templer“ in Der Siebente Ring (SW VI/VII, S. 52  f.).

Briefwechsel 1910 111

Gib uns Dein Schwert und Deine eine Last Sie sei die einzige Fahne unsern Zuegen Wie Blut und Feuer, goldner Purpurglast Woelbt sie sich rauschend steil zu jungen Fluegen Ein heiliger Taumel haelt uns stark umfasst: Der Glaube, dass nur wir mit Dir sie truegen. II Wir liessen viele, die mit uns gekommen Zurueck an schwellend sommerlichen Planen Wir zogen weiter – schien das Ziel verschwommen Wir liessen uns von Dir – dem Rufer mahnen Die Stroeme uns zuletzt allein Begleiter Verschwanden hinter schilfumbuschter Krumme Herr – von den Bergen war die Sicht befreiter Hilf Du den Mueden, dass die Qual verstumme Ein Mondenstrahl, der durch die Monden schmolz Hat uns oft Zauberbilder auf beschworen Den Silberstrand, das Meer, der Schiffe Stolz Palast und Stadt mit ladend offnen Toren Und wie geblendet Wueste und Geholz Durchmass der Zug in solchen Traum verloren III Jetzt zwingt der Nebel uns in seine Reiche Die Ebne dampft, die Wolken rollen schwerer Wir flehen auf dass heut das Dunkel weiche Nur Du zerblaest es Meister, Herr, Bekehrer Und Du verhuellst Dich – unser Glaube schwindet Du bist nicht, nur ein Trugbild langer Irren W i e Morgentraum und Wachen sich verwindet Kann unsere Seele nicht Dein Sein entwirren Gieb uns das letzte Zeichen Deiner Gnade Hier lass uns ruhen ⸢sterben⸣ wie nach reife n Taten Wir suchten Dich auf fährdevollem Pfade Verloren uns, da wir D e i n All erraten.

112

Briefwechsel 1910

Dass ⸢uns⸣ nicht Treubruch suendig neu belade Gieb uns die Ruhe wie nach reifen Taten.68

49.  EM an StG Poststempel Berlin W, 7. 12. 1910 Brief mit Umschlag nach Darmstadt, bei Herrn Dr. F. Gundelfinger Berlin Mittwoch Mein geliebter Meister: Ich kann es nicht fassen, dass Du nicht mehr in dieser Stadt bist. Ich suchte mich den ganzen Tag durch Arbeit zu betaeuben, aber der Schmerz der Trennung ist groesser. Dass ich Dich bald wieder sehen und mit Dir reden werde, ist einziger Trost69 Dein liebender Ernst.

50.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 10. 12. 1910 Brief mit Umschlag nach Bingen Berlin Sonnabend 10. XII. 10.

Dank fuer die Nachricht, mein Meister. Nur wuenschte ich, dass Du noch hier geblieben waerest, wo Du noch bleiben konntest. Was Du mir am letzten Abend offenbaren wolltest, glaube ich begriffen zu haben. Und ich bin gluecklich, dass die Dinge, wie Du sie fasst, Erloesung bedeuten, einziger Zweck! Ich denke an Dich, wie Du an mich denkst, und bin bei Dir .  . Durch Dich bin ich stark und ueberwinde  Dein Ernst

68 Die durch Sperrdruck wiedergegebenen Wörter sind in der Handschrift durch StGSchrift hervorgehoben. 69 Es handelt sich um den ersten Brief, in welchem Morwitz George mit dem vertrauten „Du“ anspricht.

Briefwechsel 1910 113

51.  StG und FG an EM

Poststempel 12. 12. 1910 Postkarte nach Berlin W.

Lieber Ernst Wir sind einige Tage in Heidelberg, eingedenk frührer Zusammenkünfte von denen Sie untrennbar sind, und senden Ihnen die herzlichsten Grüsse S. G.  F. G 12. 12. 1910

52.  StG an EM

13. 12. 1910 Brief (Blättermarke Urnensignet) ohne Umschlag Bingen Dez 1910

Eben komm ich aus dem Stift70 zurück: einige unwahrscheinliche sonnentage mitten im dezember und mondnächte über den bögen und giebeln … Aber durch das Stift selbst webte etwas verhängnishaftes und erstorbenes. dazu kamen noch unheilsnachrichten ∙ der plötzliche tod von Gundolfs vater71 – und auch für mich neue erschütterungen menschlicher art von denen ich aber nichts hervorbringen kann. Ach Ernst du bist so wenig geeignet den bann einer lippe zu brechen und wenn man von dir etwas will so muss mans

70 Stift Neuburg bei Heidelberg war seit 1908 im Besitz des Freiherrn Alexander von Bernus (1880–1965). Nach philosophischen, literaturgeschichtlichen und medizinischen Studien entstand im Stift und seinen späteren Wohnsitzen ein vielfältiges literarisches Werk, das zunehmend durch seine alchemistischen Tätigkeiten verdrängt wurde. Interessiert an Spiritismus und Okkultismus, schrieb er neben Gedichten auch Mysterienspiele, Erzählungen sowie Essays und Autobiographisches. George, Wolfskehl, F. Gundolf und Lechter waren in den Jahren 1909/10 zeitweise Gäste im Stift, das sogar ein George-Zimmer aufwies. Als George sich 1911 von Bernus abwandte, hatte schon Rudolf Steiner begonnen, diesen Platz und das Zimmer einzunehmen. In Folge gab Bernus zwischen 1916 und 1920 auch die anthroposophisch geprägte Zeitschrift Das Reich heraus. 71 Sigmund Gundelfinger (1846–1910) war Professor für Mathematik am Polytechnikum in Darmstadt. Unheilbar krank, hatte er am 13. 12. seinem Leben ein Ende gesetzt. Gundolf begab sich nach Erhalt der Mitteilung umgehend von Heidelberg nach Darmstadt und unterrichtete Stefan George.

114

Briefwechsel 1910

dir mit übermenschlichen kräften entreissen  … Bei meiner rückkehr dacht ich von Dir ein blatt vorzufinden über den sonntag und über R’s ergehen  … aber nichts  … Dazwischen fand ich für Deinen W. L. (obwol es der junge wahrlich nicht verdient) einige wichtige stellen über seine so vielbesprochene höhere prosa die du ihm mitteilen kannst: im Goethe-Schiller briefwechsel aus dem november 1797 ∙ besonders die G’s über seinen eignen roman „Alles poetische sollte rytmisch behandelt werden ∙ das ist meine überzeugung! und dass man nachundnach eine poetische prosa einführen konnte zeigt dass man den unterschied zwischen prosa und poesie gänzlich aus den augen verlor. Es ist nicht besser u.s.w. (folgt vergleich mit einem sumpf) … Diese mittelgeschlechter sind nur für liebhaber und pfuscher so wie die sümpfe für amfibien …“72 Und so noch weiter Lieber: ich suche ganze seiten mit schriftzügen zu bedecken und nur im gedanken an dich … vielleicht rührt das dein herz voll härte mir mehr zu schreiben als diese kurzen wenn auch guten blockzeilen die bei dir üblich sind. Ich will dir auch noch etwas beilegen was gerade für Dich einen ganz andren hintergrund bekommt als für alle die es aufnehmen werden.73  Dein ST.

53.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 16. 12. 1910 Brief mit Umschlag nach Bingen Berlin. 16. Dezember 1910

Mein lieber Meister: Ich betrauere mit Gundolf den Tod seines Vaters und es tut mir leid, dass Euer Heidelberger Aufenthalt auf diese Weise unterbrochen wurde. Fuer das Schreiben aus Heidelberg, das mir zeigt, wie sehr Du an mich denkst, vielen Dank. Ich glaube oft, Dich zu sehen oder Dich sprechen zu hoeren. Und das Bewusstsein, dass ich in kurzer Zeit bei Dir sein koennte, erleichtert mir die Trennung.

72 Brief Johann Wolfgang Goethes an Friedrich Schiller vom 25. 11. 1797. 73 Um welche Beilage es sich handelt, ist nicht mehr rekonstruierbar.

Briefwechsel 1910 115

Gestern waren Robert74 und ich bei Gardiners75, um Scott76 spielen zu hoeren. An der Tuer traf ich den Vollmoeller77 und wurde ihm vorgestellt. Mit ihm zu sprechen war wegen der Reden, die er fuehrte, und der Begleitung, in der er sich befand, unmöglich. Scott reist heute und bringt Dir viele Gruesse. In Liebe Dein Ernst.

74 Robert Boehringer (1884–1974), späterer Erbe Stefan Georges, hatte 1910 sein ­Studium der Nationalökonomie mit der Promotion abgeschlossen. Sein begleitendes Studium der Kunstgeschichte hatte ihn mit Heinrich Wölfflin bekannt gemacht, und die Freundschaft mit diesem hatte ihn u.  a. bewogen, für zwei Jahre nach Berlin zu ziehen und dort an privaten höheren Mädchenschulen zu unterrichten. Sein enges Freundschafts­ verhältnis mit George hatte 1905 vermittelt durch den Biologen Rudolf Burckhardt in Basel begonnen und endete erst mit Georges Tod im Dezember 1933. Im StGA sind ca. 300 Briefe der Korrespondenz mit George erhalten. 75 Cyril Scott (vgl. Anm. 76) wohnte im Dezember 1910 in Berlin bei dem angesehenen britischen Ägyptologen Alan Gardiner, Bruder des mit Scott befreundeten Komponisten Balfour Gardiner, und dessen Frau Heddie. 76 Cyril Meir Scott (1879–1970), englischer Komponist, der seine Ausbildung weitgehend am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt erhielt, kam 1896 über seinen Mitschüler, den Hofmannsthalfreund Clemens von Franckenstein, in Kontakt mit George. In den Jahren bis 1901 ergaben sich mehrere Begegnungen, und George schrieb 1898 für ihn den kleinen, ursprünglich englisch verfassten, Gedichtzyklus „A Boy who Sang to me of Autumn and Evening“, der in deutscher Fassung unter dem Titel „Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang“ 1900 im Gedichtband Der Teppich des Lebens veröffentlicht wurde (SW V, S. 64  ff.). Scott wiederum hatte zuvor sechs Lieder aus „Sänge eines fahrenden Spielmanns“ (SW III, S. 58  ff.) vertont und sie George bei einem Besuch in Bingen im Mai 1898 vorgespielt und vorgesungen. 1910 weilte Scott nochmals in Berlin und brachte seine Übersetzungen von Gedichten Georges mit. 1931 erschienen in der Neuen Schweizer Rundschau, von Ernst Robert Curtius übersetzt, die George betreffenden Passagen aus Scotts erster Autobiographie My Years of Indiscretion (1924). Seine Ausführungen wurden als skandalös empfunden, da er von des Dichters Homosexualität sprach. 77 Karl Gustav Vollmoeller (1878–1948), klassischer Philologe und promovierter Archäologe, Schriftsteller und homme du monde. Über seinen Vetter, den mit George befreundeten Maler Karl Bauer, nahm er in den späteren 1890er Jahren zu George Kontakt auf, der seine Verse schätzte und schon 1897 erste Gedichte von ihm in die BfdK aufnahm. So bewunderte George auch Vollmoellers Versdrama Catherina Gräfin von Armagnac (1901). Dieser fühlte sich zunehmend von Hofmannsthals Werk und dem Theater angezogen, arbeitete auch ab 1906 mehrfach mit Max Reinhardt zusammen. Schon am 8. Mai 1901 hatte er George, auf einen langen kritischen Brief reagierend, die Mitarbeit an den BfdK aufgekündigt, das Verhältnis zu ihm als gestört bezeichnet.

116

54.  EM an StG

Briefwechsel 1910

Poststempel Berlin W, 18. 12. 1910 Brief mit Umschlag nach Bingen Berlin. Sonntag. 18. Dez. 1909. [sic]

Mein geliebter Meister: Eben als wahre Sonntagsfreude Dein Brief.78 O wuesstest Du – oder Du weisst es – wie wenig dies Herz voll Haerte ist! Ich lebe ja mein ganzes Leben in Dir und wenn ich Dir etwas mitteilen will, scheint es mir zu aeusserlich und zu gering. O wuesstest Du, wie mein Leben jetzt so ganz anders ⸢ist als⸣ frueher. Ich fuehle mich fest auf meinen Beinen stehen und es ist mir eine groessere Freude die Dinge klar und bestehend zu sehen als traumhaft verwoben. Dein Gedicht,79 dessen Sendung mich sehr, sehr froh macht, verstehe ich und liebe ich wahrhaft wie es niemand sonst tun wird, denn es ist jetzt so zwischen uns, dass Du dies dichten ⸢darfst⸣ und ich es mit Freude anschaun darf. Wie gluecklich bin ich, wenn auf diese Weise zwischen uns liegende Raeume und Zeiten ausgefuellt werden, so dass ich Dir leibhaft nahe zu sein glaube. – Robert ist, glaub ich, fast ganz wieder hergestellt. Ich denke ihn heute spaet am Abend bei Vallentin zu treffen. Dienstag kommt er und Hildebrand80 zu mir. Scott hast Du wohl inzwischen gesprochen. Gestern Abend gab ich mir vergebliche Muehe einen Menschen fuer uns zu gewinnen. Fuer die Zeilen fuer Lindenthal81 bin ich Dir sehr dankbar. Es geht ihm in Rathenow garnicht gut. Gestern sah ich meine Kinder.82 Sie denken staendig an Dich und fragen bestaendig, wuerde es der Meister auch so machen? Die Mutter hat mich um Deine Buecher gebeten.83 Die Kinder sagten gestern im Scherz, sie wuerden mich bald vergessen haben. Darauf konnten sie, bis wir uns trennten, nicht 78 Muss sich auf Br. 52 vom 13. 12. 1910 beziehen. 79 Als Beilage zur Korrespondenz haben sich bei Ernst Morwitz zwei Gedichte in Georges Hand erhalten, die hier gemeint sein könnten: „Wenn meine lippen sich an deine drängen“ und „Da ich mit allen fibern an dir hänge“. Beide Texte nahm George in den Gedichtband Der Stern des Bundes auf (SW VIII, S. 56 u. S. 63). Dort sind sämtliche Bezüge zu einzelnen Personen getilgt. Im ersten Gedicht spricht der Liebende, im zweiten der Geliebte. 80 Kurt Hildebrandt, vgl. Anm. 99. 81 Walter Lindenthal, ein Bekannter und Freund von Morwitz. Erhalten sind drei Briefe von ihm an George (1909–1914), vgl. Anm. 58. 82 Gemeint sind die Brüder Woldemar und Bernhard von Uxkull-Gyllenband; vgl. Anm. 31. 83 Mutter der Uxkull-Brüder war Gräfin Lucy von Uxkull, geborene Ahrenfeldt, geschiedene Freifrau von Wangenheim (1861–1926), Schriftstellerin. Sie war Deutsch-Ame-

Briefwechsel 1910 117

mehr froh werden aus Scham und Aerger darueber, dass sie dies gesagt hatten. Ist das nicht schoen? Mein Meister, wenn ich all dies Geschriebene ansehe, kann ich mir nicht denken, dass es etwas anderes enthaelt als eine einzige grosse Beteuerung, wie ich Dich liebe! So will es Dein Ernst

55.  StG an EM

v. d. 25. 12. 1910 Brief (Blättermarke Urnensignet) ohne Umschlag

Ernst liebster: ich schicke Dir hier das versprochene buch84 und zwar weil Du es haben musst … Wenn du hinein blickst so wird sich Dir das licht immer mehr mitteilen von dessen voller helle kein Heutiger ergriffen werden kann. Dann wird sich dein geist so aufrichten dass er auch unsre grossen stunden besser sieht und du wirst schauen wie über die enge unsres eigenen wesens hinaus wir träger eines Geschehens waren – du und ich! – Lieber! höre! Wir sind kaum erst getrennt und schon hab ich Dir ein neues zu sagen für Dich von äusserstem werten .  . Ich muss es ⸢mit⸣ dir teilen drum komm bald in die arme Deines St.  Wann? Ich gehe etwa mittwoch nach Weihn zu G nach D etwa freitag bin ich in M. Bitte V. das ⸢2te⸣ buch abzugeben und ihm sagen dass er bei zeit seine reise entschlüsse mitteilt. Wie geht es mit R’s gesundheit geh ihn öfter trösten. Frag ihn das folgende: ob er in Rom jemand hat (nicht einen geschäftsmann der immer das falsche schickt) der eine widergabe besorgen könnte von einem relief das im Belvedere des Vatican ist Vier gestalten die symbole tragen eine mit verhüllten händen

rikanerin und ihr Vermögen stammte aus den Porzellanfabriken der Familie in den USA und in Deutschland. Sie starb während einer Reise mit Woldemar Uxkull in Perugia. 84 Bei dem „buch“ könnte es sich um die 2. und erweiterte Ausgabe von Deutsche Dichtung III: Das Jahrhundert Goethes handeln, herausgegeben von Karl Wolfskehl und Stefan George. Hier war zum ersten Mal eine späte Hymne Hölderlins publiziert, und zwar „Wie wenn am Feiertage …“ in der Lesart Norbert von Hellingraths (S. 48–50). Noch eher kommen Hellingraths Hölderlins Pindar-Übertragungen infrage, die, ebenfalls 1910, im Verlag der Blätter für die Kunst erschienen.

118

56.  EM an StG

Briefwechsel 1910

Poststempel Berlin W, 25. 12. 1910 Brief mit Umschlag nach Bingen

Berlin 25. Dezember 1910 Mein lieber Meister: ich bin fast beschaemt immer und immer danken zu muessen. Jetzt wieder das Buch!85 Ich dachte gestern daran, wie Du die Gedichte am letzten Abend gelesen hast. Alles wird noch fester und klarer fuer mich werden – durch Dich – das fuehlte ich, als ich die Gedichte frueh des Morgens heute wieder las. Und dann die herrlichen Bilder und vor allem Dein Brief! Und wie soll ich Dir dafür danken, dass Du auch an die Kinder gedacht hast. Ich will ihnen die Karten geben, wenn ich sie sehe, und sie werden sich – hoff ich – sehr freuen. Ich denke bestimmt, Anfang Februar nach Muenchen zu kommen. Es muss gehn und wird deshalb gehn! Heute mittags fahre ich bis Mittwoch nach Posen zu meiner Mutter.86 Es faellt mir schwerer, ihre Wuensche staendig abges abzuschlagen, als diese unliebsame und nutzlose Reise zu unternehmen. Die Bestellungen an Vallentin sind ausgerichtet. Von Robert soll ich Dich gruessen. Es geht ihm nicht gut und ⸢er⸣ nimmt sich taeglich vor, an Dich zu schreiben, aber er kann es dann doch nicht tun. Ich habe hier rechte Sorge um ihn. Seine Gesundheit ist wieder eine gute, doch bedrueckt ihn wohl haeusliches. Heute ist ein Weihnachtsmorgen mit Osterwetter. Ich denke an Deinen letzten Tag in Berlin, so schoen ist es heute hier. Wie sehne ich mich danach, bald bei Dir zu sein! Sonst heute nichts mehr ausser vielen Gruessen. immer und immer Dein Ernst. Das Gedicht, das Du mir letzthin sandtest,87 muss ich taeglich lesen, es laesst mich nicht los, und es kommt mir vor, als ob ich es ⸢eigentlich⸣ haette machen muessen!

85 Vgl. Anm. 84. 86 Rosalie Morwitz, geb. Aaronsohn (1850–1927). 87 Vgl. Anm. 79.

Briefwechsel 1910/1911 119

57.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 31. 12. 1910 Brief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl

Berlin 31. XII. 1910 Ich bin von der Reise zurueck, mein Meister, und will Dir heute nur dies Zeichen geben. Ich weiss Deine Adresse bei Wolfskehl nicht und da mir der Name „Roemerstrasse“ im Ohr liegt, richte ich dieses Schreiben dorthin. Ob es wohl rechtzeitig ankommen wird, um Dir meine Wuensche fuer ein gutes Jahr bringen zu koennen? Ich bin froh, aus der polnischen Stadt88 mit ihrer fremdartigen und verwirrenden Nuechternheit und ihren Slaven und Juden fort und ⸢wieder⸣ in meinem Berliner Muschelhaus zu sein. Heut frueh habe ich mir als Eingangsfreude den Maximin89 vorgenommen und lange an Dich gedacht. Sei so sicher und zufrieden, wenn Du an mich denkst, wie ich, da ich Dich über alles liebe. Dein Ernst.

58.  EM an StG

undatiert, v. d. 6. 1. 1911 Brief ohne Umschlag

Berlin Achenbachstr. Gelieber Meister: Kaum eine Woche ist vergangen, seit wir uns nicht mehr gesehen haben, und ich spuere neue Sehnsucht und neuen Wunsch Dir nahe zu sein. Es ist nicht gut aufzuschreiben wie schoen die Tage waren – man denkt besser daran und erinnert sich, wenn man sich leibhaft gegenuebersteht – ich will es mir so lang aufsparen wie den Ausdruck meiner Dankbarkeit. Ich habe Dir soviel zu sagen und bedaure immer von neuem, dass ich sowenig sagen kann, dass Du soviel erraten musst. Aber ich verspreche Dir mich auch hierin mit Deiner Hilfe zu bessern. Mein Bein ist heil – also aussen und innen heil! Robert war trueb und voll wuester Gedanken  – das Leiden seiner Schwester ist unheilbar.90 Er haette Dich gern gesprochen.

88 Posen war politisch bis 1919/20 Teil Preußens mit einem hohen Anteil polnischer ­Bürger. 89 Zum Gedenkbuch Maximin vgl. Anm. 13. 90 Robert Boehringers Schwester Emma (1892–1919) war geistig erkrankt. Sie schied 1919 durch Suizid in der Heilanstalt Winnenthal aus dem Leben.

120

Briefwechsel 1911

Der Brief ist unterbrochen durch ein langes Gespräch mit L. . Ich hab ihm auseinandergesetzt, dass unsere Freundschaft nicht in die rechte Form gebracht werden kann, eh er nicht erkennt, dass es noch das einzig wichtige fuer ihn zu lernen gibt, dass er sich selbst nur schlecht kennt, wenn er glaubt, fest, reif und am Ende zu sein, dass er zusehen muss, von dir auf den Weg zum Mittelpunkt gebracht zu werden. Er sah dies alles ein und ging scheinbar ueberzeugt fort. Wird es nutzen? Nimm Gruesse von Deinem Ernst

Schreibe, wenn Du abreist. Ich warte auf den September sehnlich!

59.  EM an StG

6. 1. 1911 Brief ohne Umschlag

Berlin 6. Januar 1911 Mein lieber Meister: Wenn ich nicht durch V. wuesste, dass Du in Muenchen zur Zeit seines Dortseins gesund gewesen bist,91 wuerde ich wegen Deines Schweigens in wachsender Angst sein. Taeglich warte ich auf ein Lebenszeichen und sobald ich ins Zimmer trete sehe ich noch von der Tuer aus zum Schreibtisch, ob dort wohl endlich ein Brief von Dir liegt .  . Deine Bestellungen durch V. haben mich sehr erfreut, aber sie koennen mich nicht ueber Dein Schweigen troesten Du weisst ja, wie ich meine Tage verbringe und dass ich vor mir selbst die Berechtigung meines Lebens darin finde, dass ich den Bund zwischen uns ehre und begreife und meine Kraefte in ihm wachsen fuehle. Schlecht ist die Weisheit, dass Menschen, die Taten denken, sie nicht ausfuehren koennen. Das ist eine Notluege vor sich selbst. Ich weiss heute, dass ich mit Dir zusammen auch die Taten vollenden kann.

91 Berthold Vallentin hatte Ende Dezember George im sogenannten „Kugelzimmer“ im Hause Wolfskehl, München, Römerstraße 16, besucht; vgl. Briefe Vallentins im StGA. Hanna Wolfskehl richtete das sogenannte „Kugelzimmer“ im oberen Stockwerk des Hauses in der Römerstraße 16 ein, dessen Name sich von der dort aufgehängten kugelförmigen Lampe herleitete. Im Kreis wurde das „Kugelzimmer“, in dem George, wenn er in München war, ‚Staat‘ hielt, zu einem stehenden Begriff.

Briefwechsel 1911 121

Ich arbeite viel. Morgen kommt Robert zu mir, er sieht jetzt das Schicksal seiner Schwester mit groesserer Fassung. V. hat mir dein Bild von Bauer92 gegeben. Es ist schlecht und es waere nicht zu wuenschen, dass Du so aussaehest! Die Augen aber hat er gut gemalt und sie sind so wahr, wie auf keinem anderen Bilde. Dein Ernst.

60.  StG an EM

n. d. 6. 1. 191193 Brief (Blättermarke Urnensignet) ohne Umschlag

L∙E∙ so weit ich es aus der ferne beurteilen kann  – würde ich R. raten die amtsstelle anzunehmen. Ganz klar seh ich nicht bei ihm und das ist seine schuld seit den ersten Berliner tagen wo er mit versteckten andeutungen kam es an offenheit fehlen liess über seine umstände .  . ich kann doch nicht erraten was er alles im kopf hat .  .  .  . Teil ihm das unverzüglich mit und sag ihm dass ich mich freuen werde ihn mit dir in München zu sehen. (Er verlangte unverzüglich nachricht säume also nicht ihn aufzutreiben) Herzlich St. M . jänner 1911

92 Von Karl Bauer (1868–1942), Maler und Zeichner, geboren in Stuttgart, gestorben in München, existieren zahlreiche Bildnisse Stefan Georges in verschiedenen Techniken wie auch Fotografien. Er lernte George schon 1891 kennen, und dieser nahm auch Gedichte von ihm in die Blätter für die Kunst auf. Ob es sich hier um die Kohlezeichnung von 1903 handelt, ist nicht sicher festzustellen. 93 Die Datierung ergibt sich aus der Tatsache, dass Boehringer am 6. 1. 1911 George berichtet, er habe eine „amtsstelle“ in Basel abgelehnt (StGA). Es handelte sich wohl um eine Festanstellung als Lehrer. Von eben dieser „amtsstelle“ handelt Georges Brief. Auf der Rückseite des Briefumschlags sind mit Bleistift Orte und Stundenzeiten notiert, vermutlich aus dem Fahrplan der Reichsbahn.

122

61.  StG an EM

Briefwechsel 1911

undatiert, möglicherweise n. d. 6. 1. 191194 Brief ohne Umschlag München bei Wolfskehl Römerstr. 16

Mein Ernst: alle liebe ist tat! so schreib ich Dir dass ich hier gut angelangt bin etwa acht tage bleiben will und Deiner gedenke. Vergiss mir die besprochene abschrift nicht und teile den tags Deiner abreise mit  Dein St

62.  StG an EM

wohl vor dem 14. 01. 1911 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst : wenn es dich quält so will ich die schreibpause unterbrechen. übrigens war V’s botschaft doch mehr als ein lebenszeichen … Es verhält sich so : Ich wollte warten bis wir uns sähen. Ich hatte damals mit all dem was ich dir zu sagen hatte die saiten zu stark nach dir hingespannt  – dann sind sie durch gerissen. Ich warte also in geduld aufs wiedersehn St. Dank für R’s brief – einl. für ihn!95

63.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 14. 01. 1911 Brief mit Umschlag nach München, bei Wolfskehl

Mein lieber Meister: Ich verstehe jetzt Dein Schweigen und bin nicht mehr in Unruhe, selbst wenn ich nichts von Dir hoere. Ich brenne darauf, Dich wiederzusehen. Wann es sein wird, muss sich in diesen Tagen entscheiden.

94 Unsichere Datierung, da Georges Aufenthalt sich in München über viele Wochen erstreckte. 95 Möglicherweise lag eine Einladung an Robert Boehringer dem Brief bei, zusammen mit Morwitz nach München zu Besuch zu kommen.

Briefwechsel 1911 123

Sonst nichts in Berlin. Robert ist am Aufsatz fleissig.96 Ist das Alleinsein in Muenchen97 nicht schwer zu ertragen? Ich fuerchte oft, dass Dich dies quaelt! In Liebe Dein Ernst.

L. St. G. Ich habe Dir diese zwei Briefe von meinen Freunden98 zu uebermitteln. Mit vielen Gruessen Dein Ernst.

64.  StG an EM

n. d. 14. 1. 1911 Brief ohne Umschlag

München Römerstr: 16 Liebster Ernst: Heut morgen musste ich in mich lächeln wie beim vorfinden zweier unerwarteter blumensträusse. Sag den kindern dass mich ihre briefe sehr gefreut hätten und dass ich hoffte sie wiederzusehen. – wenn du heut oder morgen Hildebrandt99 siehst so sag ihm das michr sein besuch sehr gelegen käme – sonst schreib es ihm gleich.  Dein ST.

96 Es dürfte sich um Boehringers Aufsatz für das von Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters herausgegebene zweite Jahrbuch für die geistige Bewegung von 1911 handeln: „Über Hersagen von Gedichten“. Ihm kommt für die Kreispraktik des Gedichtvortrags zentrale Bedeutung zu. 97 Karl Wolfskehl befand sich zu diesem Zeitpunkt noch mit Melchior Lechter auf einer Indienreise. 98 Es liegen keine Briefe mehr bei. Es wird sich um solche der Brüder Bernhard und Woldemar Uxkull gehandelt haben, da George ihnen zuvor Karten geschickt hatte; vgl. Br. 56. Erste Briefe von ihnen an George sind aus dem Jahre 1912 überliefert. 99 Kurt Hildebrandt (1881–1966), in Magdeburg geborener Mediziner und Psychiater, ab 1921 auch Dr. phil. mit einer Arbeit über Nietzsche und Platon. Als Mitglied des Niederschönhauser Kreises um Kurt Breysig, Wolters und Vallentin kam er 1905 erstmals mit George in Kontakt. Seine Schrift Norm und Entartung von 1917 nahm George wie auch Hildebrandts andere Schriften nicht unter die Geistbücher bei Bondi auf, sie erschien zweigeteilt unter den Titel Norm und Entartung des Menschen und Norm und Verfall des Staates 1920 in Dresden. Allein sein Platonbuch erschien unter korrigierender Mitwirkung Georges 1933 mit dem Siegel der Blätter für die Kunst bei Bondi (Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht).

124

Briefwechsel 1911

65.  StG an EM

Januar 1911 Brief (Blättermarke Urnensignet) ohne Umschlag

Liebster Ernst: Hier ist freilich manches anders geworden wenn auch nicht grad einsam da wie du vielleicht weisst – K. W. aus Indien plötzlich zurück gekehrt ist. Ich will Dir nicht zu lebhaft zurufen: „komm!“ sonst findet sich gewiss wieder eine gelegenheit zu verneinen. Hüte mir den Robert gut und sag ihm er möchte was er an neuem stoff für seine arbeit gebracht bekommt ∙ was ja nicht viel sein kann ∙ mir immer mitteilen  .  .  .  .100 Ich umarme euch beide  St. München im jänner 1911

66.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 20. 1. 1911 Brief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl Berlin den 20 Januar 1911 Achenbachstr. 20

Mein lieber Meister: Vielen Dank dafuer, dass Du mir Nachricht – und so unerwartet rasch – gegeben hast. Dass K. W in Muenchen ist,101 hatte ich zu meinem Erstaunen schon von Robert gehoert. Er erzaehlte auch, dass Reinhardt102 den Volmoeller103 zum geschaeft­ lichen Leiter gemacht hat. Heut ist er mit Woelflin104 zusammen. 100 Vgl. Anm. 96. 101 Wolfskehl war auf der Indienreise mit Lechter schwer erkrankt und musste vorzeitig zurückkehren. 102 Max Reinhardt (1873–1943), Schauspieler, seit 1902 Theaterregisseur und Intendant, Begründer der Berliner Reinhardt-Bühnen, Erneuerer der Theaterkunst in vielfacher Hinsicht. 1903 inszenierte er auch Hofmannsthals Elektra, 1911 Karl Gustav Vollmoellers Miracel, wobei letzteres weltweit Beachtung fand. 103 Karl Gustav Vollmoeller (1878–1948), aus reichem Haus stammend, promovierte 1901 in klassischer Philologie und Archäologie, lebte ab 1904 weitgehend im Ausland. Schon als Abiturient suchte er den Kontakt zu George, vermittelt durch seinen Vetter Karl Bauer, und 1897 erschienen die ersten Gedichte von ihm in der vierten Folge der Blätter für die Kunst. Vor allem Vollmoellers neoromantisches Versspiel Catherina Gräfin von Armagnac fand Georges ausdrückliche Bewunderung. Seine Eingriffe in den Text vor einem Teildruck in den Blättern führten zu erster Verstimmung. Vollmoellers weitere schriftstellerische Entwicklung führte zur frühen Trennung im Mai 1901, als er brieflich seine Mitarbeit an den Blättern aufkündigte.

Briefwechsel 1911 125

Von mir nichts neues! Nur viel dumme Arbeit. Die Entscheidung von der meine Reise abhaengt, ist noch nicht gefallen. Ich schreibe lieber nichts naeheres hierueber, damit nicht noch zuletzt etwas dazwischen kommt. Mein Freund L. wird naechstens in Heidelberg promovieren und dann im Freiburg oder Heidelberg dienen – wenn er nicht freikommt. Morgen Abend bin ich mit meinem frueheren Lehrer zusammen, den ich damals auf der Strasse traf – ich erzaehlte Dir davon. Ich habe ihn nochmals getroffen und bin von ihm aufgefordert, ihn zu besuchen. Ich bin begierig zu erfahren, ob er ein Mensch ist. Manchmal gehe ich mit den Kindern aus, sie werden Dir – glaub ich – noch besonders fuer die Karten danken, durch die Du sie ganz gewonnen hast. Bald werde ich Dich sehen. Ich habe immer das Beduerfnis aufzuschreiben, was ich Dir verdanke und wie ich Dir danke fuer Alles! Sei nicht boese, dass es nicht geht! In Liebe Dein Ernst. Hier schreibe ich Dir einen Ausspruch des Demokritos auf, den ich gefunden, dessen Uebertragung ich aber noch nicht nachgeprueft habe: Die Musik ist eine juengere Kunst, denn sie ist nicht aus der Not hervorgegangen, sondern koennte erst bei einem gewissen Ueberfluss entstehen!105 Bei Demokrit, (in den Vorsokratikern bei Diederichs!) finden sich auch sehr merkwuerdige Aussprueche ueber Kinder aus der eigenen Ehe!106 104 Heinrich Wölfflin (1864–1945), Schweizer Kunsthistoriker, 1901 bis 1912 hatte er eine Professur in Berlin inne, anschließend in München und ab 1924 in Zürich. Er war mit dem 20 Jahre jüngeren Robert Boehringer befreundet, der auch 1913 die Bekanntschaft mit George vermittelte. Auch Friedrich Gundolf studierte in Berlin bei Wölfflin, Ernst Glöckner stand mit ihm in Kontakt, und Wölfflin war wiederum Gast im Hause Lepsius in Berlin. Eine nähere Verbindung mit George ist nicht belegt. 105 Als Bestätigung für Georges Einstellung zur Kunst der Musik gedacht, für welchen sie weit hinter den bildenden Künsten, besonders der Plastik, und der Dichtkunst zurückstand. Wolfskehl plagte sich zu diesem Zeitpunkt mit einem Auftragsartikel für das Jahrbuch für die geistige Bewegung, der schließlich im dritten Jahrgang von 1912 (hrsg. von Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters) unter dem Titel „Über den Geist der Musik“ erschien. 106 Der Vorsokratiker Demokrit lebte von 460–370 v. Chr. Morwitz lag wohl die Ausgabe Die Vorsokratiker. In Auswahl übersetzt und herausgegeben von Wilhelm Nestle, Jena 1908 vor. Dort sind auf den Seiten 163–182 162 Fragmente Demokrits zu finden, darunter solche, die die Freundschaft preisen oder solche, die Frauen zum Schweigen auffordern. Morwitz aber bezieht sich auf eine ganze Reihe von Fragmen-

126

67.  StG an EM

Briefwechsel 1911

Poststempel, 12. 2. 1911107 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebster Ernst: ich danke Dir für jeden dieser tage wo nichts getrübt war und Du mir in neuer schönheit erschienen bist.108 Immer mehr bist Du an mich gebunden und ich an Dich und ich freue mich schon der stunde wo ich Dich wieder in meinen armen halte. Grüsse R. Liebster schreib mir doch bald und übe was Du kannst: Hülle den du liebst in deine liebe – ! Du hast es noch nicht nötig Deinen kopf in den schooss eines menschen zu graben – um zu vergessen …

68.  EM an StG

undatiert, wohl Mitte Februar 1911 Brief ohne Umschlag

Mein lieber Meister: Wie freu ich mich, Dich bald hier zu haben! Deinen Brief trag ich noch mit mir herum, um ihn immer von neuem lesen zu koennen! Hilsdorf ist hier.109 Er photographierte die Kinder meiner Schwester110 am Luetzow-Ufer und fand den Jungen recht gut aussehend. Ob ich die Graefin

ten 130–135, darunter 131: „Mir scheint es nicht geboten Kinder zu erzeugen; denn ich sehe im Besitz von Kindern viele und schwere Gefahren, viel Kummer und wenig Erfolg und dies Wenige in dürftigem und geringem Maß.“ (S. 178) 107 Die Ortsangabe ist nicht lesbar, George befand sich zu diesem Zeitpunkt in München. 108 Morwitz hatte George in München besucht und an Lesungen im Kugelzimmer teilgenommen; Robert Boehringer hatte Anfang Februar 1911 den gemeinsamen Besuch in München George angekündigt. 109 Jacob Hilsdorf (1872–1916), Binger Fotograf, der 1897 von seinem Vater Johann Baptist Hilsdorf das Atelier übernahm und ein landesweit bekannter Portraitfotograf wurde. Schon die Familien Hilsdorf und George waren befreundet, George selbst ging über viele Jahre im Haus Hilsdorf ein und aus, und Vater Hilsdorf hatte schon die Georgekinder fotografiert. Sohn Jacob wurde bis zu seinem frühen Tode Hausfotograf Georges und mehrerer Freunde wie Lechter oder Gundolf, er wurde auch nach Heidelberg gerufen, um den jungen Percy Gothein aufzunehmen. Die Portraits Jacob Hilsdorfs haben das Bild des jungen George bis zum Ersten Weltkrieg in der Öffentlichkeit stark geprägt, wie auch jene späten seines Bruders Theodor von 1928. Jacob Hilsdorf ruinierte seine Existenz durch luxuriöse Lebensführung und schied am 11. 1. 1916 durch Suizid aus dem Leben. 110 Morwitz hatte drei Halbschwestern, Helene, verheiratete Casper, Käte, verheiratete Wunderlich und die Mutter von Fritz Heim; vgl. Anm. 525.

Briefwechsel 1911 127

bewegen kann, die Kinder aufnehmen zu lassen, ist noch fraglich. Ein stiller, erbitterter Kampf! Heut kommt Robert zu mir. Sonst nichts von hier – Alle erwarten Dich! Hilsdorf scheint mir ⸢in⸣ einem schlimmen Seelenzustand. Seine rheinische frohe Beweglichkeit ist verschwunden. Er kommt manchmal zu mir und ich troeste ihn, so gut es geht. Er hat jetzt eine Kopie des Bildes von Dir aus dem Stift111, die den anderen weit ueberlegen ist. Ich gruesse dich von Herzen Dein                Ernst.

69.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 23. 2. 1911 Brief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl

Lieber Meister: Die Auftraege Deines Schreibens sind erledigt. Hilsdorf, der bis in die ersten Tage des Maerz hier bleibt, hat an Frau S. geschrieben.112 Bald ist es jetzt Zeit, Dich hier zu erwarten! Ich erwarte Dich sehnlich! Robert gab mir dies schoene Gedicht, um es Dir zu senden. Vallentin hab ich lange nicht gesehen. Sonst nichts. Lindenthal ist in Heidelberg.113 Komme bald. Auf Wiedersehen Dein Ernst.

Ursprung vom geliebten gotte Wirkt in den zerstreuten kindern Dass sie sich am wuchs erkennen Und am lodern ihrer augen.

111 Stift Neuburg bei Heidelberg, vgl. Anm. 70 zu Alexander von Bernus. Mit dem Bild Georges könnte eine Porträtzeichnung Karl Thylmanns von 1909/10 gemeint sein. George war zu Zeiten zusammen mit Thylmann Gast auf Stift Neuburg gewesen (Abzug StGA). Der Kontext macht aber deutlich, dass es sich um eine Georgefotografie handeln muss, möglicherweise die für gewöhnlich auf das Jahr 1910 und Berlin datierte. 112 Möglicherweise Gertrud Simmel, von der eine Portraitaufnahme von J. Hilsdorf überliefert ist. 113 Vgl. Br. 66; Walter Lindenthal ging zur Promotion nach Heidelberg.

128

Briefwechsel 1911

Eilend schlingen sie die arme Um das abbild ihres vaters Küssen seinen atem durstig Von den offnen bruderlippen. Nieder fährt der gott und heilig Furcht sein zug durch die gemarken Samen backt er in die schollen Fruchtbar wird die brache erde.

70.  StG an EM

undatiert, Ende März 1911 Brief ohne Umschlag

Darmstadt Dienstag Liebster Ernst: wenn auch über uns zum diesmaligen zusammensein kein so günstiger stern waltete:114 so gedenk ich doch mancher guter tage und jenes abends bei Dir wo Du mich dann an den wagen begleitetest und unsre hände immer noch verwachsen blieben … Ich hoffe dass es nicht zu lang dauert bis wir uns wiedersehen.– Bis Donnerstag bin ich in D. dann eine woche in Bingen · dann einige tage in Heidelberg dann über Ostern wieder in Bingen. Ich werde dir immer von allen orten schreiben was dich angeht … Deinen brief bekam ich von B. nachgeschickt · dank für das gedicht. Aber sei nicht so traurig Liebster! denk immer dass wir jetzt in dieser zeit zusammen leben und ich dich liebe und du mich! Grüsse alle freunde umarme R. erinnre auch die kleinen U’s an mich! Ganz Dein St.

114 George war in diesem Monat in Berlin zusammen mit Gundolf und Wolters zu sehr mit der Redaktion des zweiten Jahrbuchs für die geistige Bewegung (1911) beschäftigt.

Briefwechsel 1911 129

71.  StG an EM

undatiert, v. d. 14. 5. 1911 Brief ohne Umschlag Heidelberg Schlossberg 49

Liebster: ich habe mich über Deinen brief gefreut und denke dass du jezt nicht mehr dauernd aus dem gleise geworfen werden kannst. Ich bin hier ein paar tage bei Gundolf und hatte schon seit Bingen etwas für Dich: lies doch gleich Herders aufsatz über Plastik (gewöhnl im II Bd der Schriften).115 Da ist viel für Dich drin · ich verlange darüber mehrseitigen bericht von Dir.  Dein St.

72.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 14. 5. 1911 Brief mit Umschlag nach Bingen Sonntag 14. Mai 1911

Mein lieber Meister: Ich habe den Aufsatz von Herder116 jetzt genau gelesen und bewundre am meisten, wie es ihm gelingt, unwiderleglich festzustellen, dass Malerei Traum, erzaehlender Zauber, Repraesentation ist, waehrend Plastik Darstellung und tastbare Wahrheit bedeutet. Dass er zu dieser Feststellung einen neuen Sinn: das tastende Gefuehl einfuehrt, ist nur der Weg und nicht die Hauptsache. Denn es ist nicht moeglich, tastendes Gefuehl vom blossen Sehen zu trennen und man kann fuer den Ausdruck tastendes Gefuehl ebensogut die Worte: koerperliches Schauen setzen. Wenn man also eine Bildsaeule erkennen will, so ist das blosse Sehen natuerlich auch und zwar primaer erforderlich es muss aber getragen sein oder es muss das zur Grundlage haben: das koerperhafte Sehen. Das haben heute die wenigsten und das war nur moeglich in der Offenheit des griechischen Lebens. Daher heute der Vorzug der Malerei; denn sie stellt weniger Anforderungen, entrueckt, romantisiert, passt sich der Geschichte und der Kultur an (man

115 Gemeint ist Johann Gottfried Herders Abhandlung Zur schönen Literatur und Kunst, mit welcher sich Morwitz dann im nächsten Brief befasst. 116 Morwitz zitiert abschließend aus dem 3.  Kapitel von Herders Schrift Zur schönen Literatur und Kunst.

130

Briefwechsel 1911

[kann] Trachten malen, nicht bilden). Die Bildhauerei dagegen draengt in einander, stellt dar und duldet nicht, dass sich der Beschauer traeumend in dieselbe Ebene versetzt. Aus der Notwendigkeit der Vereinheitlichung er­ klaert sich alles, weshalb sie niemals bekleidete Gestalten schafft oder wenn sie es tut, das Kleid als Selbstzweck auffasst oder als absichtliche Verhuellung (Philosophenstatuen), weshalb sie endlich – erst in spaeterer Zeit – das nasse Gewand sozusagen als Reiz oder als Sprengung des Reinplastischen einzufuehren sucht. Wir koennen nicht beistimmen, wenn Herder sagt, dass das blosse tastende Gefuehl zur Erkenntnis der Statue genuege und auch ein Blinder sie geniessen koennte. Erforderlich ist vielmehr, wie er selbst einmal sagt,: das tastende Auge. Er verwirft die eingesetzten silbernen Augen und Lippen eben weil sie sich der fuehlenden Hand nicht kenntlich machen. Wir wissen aber heute, dass sie in der besten Zeit in fast alle Bronzen eingefuegt wurden und sie muessen auf das Auge eine starke, aber natuerlich und nicht ohne Absicht: eine voellig unmalerische Wirkung ausgeuebt haben. Inwieweit auch Marmorwerke bemalt gewesen sind, wissen wir nicht. Bei den alten Holzwerken und den Arbeiten aus weichem Stein ist die Toenung vielleicht notwendig gewesen, weil das Material nicht die schoene Sproede des Marmors hat und zu stofflich wirken koennte. Unuebertrefflich ist, was Herder ueber die Bildung der Haare als Koerper, der Augenbraue als Linie und nicht als gesonderte Striche, endlich ueber die Stellung und Haltung (er sucht offenbar nach dem Wort: Gebaerde) sagt. Dass die Griechen nicht haessliche Koerper gebildet, entspringt nicht der theoretischen Erwaegung, dass solche Koerper haesslich zu betasten waeren, sondern dem Drang, die Bildsaeule in eine andere Ebene zu stellen und nicht das Persoenliche sondern das Typische zu fassen. Daher das Verbot der Ikonischen Statue vor dreimaligem Sieg, denn es handelt sich nicht um den Sieger sondern darum dass das Land noch den Typus des Laeufers und des Wagenlenkers naehrt. Hier ist die Kunst, obwohl sie Selbstzweck ist, ethisch. Da die Bildhauerei ewiges und einfoermiges darstellt und die Fuelle baendigt, ist ihr jeder Schmuck und jede Allegorie, die mit grobem Fingerzeig die Sprache der Statue ueberfluessig machen wuerde, verhasst. Sie taucht zuerst bei alexandrinischen Reliefs auf und gibt hier den Uebergang zur Malerei, die die Dinge flaechenhaft darstellt und eher anregt als zwingt. Das Kolossale ist der Bildhauerei eigentuemlich, weil sie nicht nur durch das schauende Auge sondern durch das tastende Auge erfasst werden muss. Eigentuemlich ist ihr auch – wie Herder ausfuehrt, eine starke Sinnlichkeit, daher Verbot bei den Juden.

Briefwechsel 1911 131

Sie ist der dargestellte beseelte Koerper, aber nicht, wie Herder sagt, die Mittlerin zwischen Koerper und Seele. Weil er diese Trennung voraussetzt, straeubt er sich anzuerkennen, das [sic] das tastende Gefuehl durch das Auge wirken muessen [sic], denn er behandelt  – wenn auch unausgesprochen  – das tastende Gefuehl als Sinn der Seele, das Auge als Sinn des See Koerpers. Desto wunderbarer ist es, dass er solche unermesslichen Aussprueche findet wie diesen: Wehe dem Apollo = dem Herkulesbildner, der nie einen Wuchs Apollo’s umschlang, der eine Brust, einen Ruecken Herkules auch nie im Traum fuehlte. Aus nichts kann wahrlich nichts anderes als nichts werden, und aus dem umfuehlenden Sonnenstrahl nie warme schaffende Hand. Geliebter Meister: Ich habe nun viele Seiten vollgeschrieben und wage nicht sie nochmals durchzulesen, da mir alles dumm und wertlos erscheinen und ich den Brief niemals abschicken wuerde. Dies hab ich fuer Dich getan, sieh also auf die Tat und nicht auf das Erreichte Schreibe mir bald und denk an Deinen Ernst

73.  FG an EM

Poststempel Heidelberg, 19. 5. 1911 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Teurer Ernst! Von Herzen Dank! es ist ein schönes Bild was Sie mir da entgegenhalten117 – ich wollte es wäre ähnlicher: aber vielleicht geht von ihm eine rückwirkende Kraft aus, daß das Bild an der Wirklichkeit arbeitet in dem Geiste dem es entstammt. Also Dank, Hoffnung und Liebe, teurer Ernst. Der Zufall ergibt daß ich eine kleine Staatssache anschließe, eine äußere. Können Sie, wenn Sie Bondi gelegentlich sehen oder besuchen, einmal sondiren, ob er geneigt ist von sich aus in der Kürschener=sache eine Berichtigung zu schicken an den Verlag … Wenn ja, so würde der M. allerdings wünschen, den Wortlaut vorher zu lesen .  . Wenn dieser zu gemässigt wäre, so

117 Laut Morwitz ein Gedicht, das er auf Gundolf gemacht hatte (BB).

132

Briefwechsel 1911

würde er vorziehen selbst eine abzufaßen, da B. als nicht heroischer Mensch wachsweichere Klänge vorzieht.118 Alles Liebe und Treue von Ihrem FGundolf. D∙M∙L∙D∙119 auch Ludwig grüsst.120

74. StG an EM Poststempel Cöln-Frankfurt, 29. 5. 1911 Brief mit Umschlag (Blättermarke Urnensignet) nach Berlin W. Liebster was du über den H aufsatz sagst ist ganz gut – nur glaub ich nicht dass H.  das „schauen“ vernachlässigen wollte sondern nur auf das tasten als das ungeglaubte ∙ neue ∙ hinweisen121… Ich schrieb dir noch ein unveröffentlicht stück ab aus den Sophokles-übertr: von Hölderlin122 was du gelegentlich Hildebrand (natürlich auch Robert ) zeigen kannst Dann fand ich noch für dich besonders in J-Paul: Je älter der bessere mensch wird oder je stiller und frömmer desto mehr hält er das Angeborene für heilig  ∙ nämlich den Sinn und die Kraft: indess sich für die menge das Erworbene  ∙ die fertigkeit + wissenschaft prahlend vordrängt  ∙ weil dieses allgemein ∙ und auch von denen begriffen wird die es nicht haben – jenes aber nicht .  .  .  .  . Die frühen völker wo der mensch mehr war und weniger wurde hatten einen kindlichern bescheidnern sinn für alle gaben des Unendlichen z.  B. für stärke schönheit glück .  .  .  .  .123 Liebster schreib bald wieder. Sieh auch öfter was Robert macht! grüsse alle Freunde! Dein St. 118 In Kürschners Litteraturkalender 1912 war Georges wirklicher Name als „Abeles“ angegeben. George nannte den „nicht heroische[n]“ Georg Bondi ironisch „Cesare“. 119 Handschrift Georges: „Der Meister Liebt Dich“. 120 Handschrift Ludwig Thormaehlens. 121 Vgl. die Ausführungen von Morwitz in dessen Br. 72 an George vom 14. 5. 1911. 122 Hölderlins Übersetzungen von Antigone und Oedipus waren 1805 erschienen. Norbert von Hellingrath aber fand in der Stuttgarter Bibliothek neben den späten Hymnen Hölderlins und den unbekannten Pindar-Übertragungen auch die Handschrift eines unpublizierten frühen Chorliedes aus der Antigone von Sophokles („Viel Gewaltiges gibts. Doch nichts“), das er offensichtlich handschriftlich George zugänglich gemacht hatte. 123 Das lange obige Zitat „Je älter …“ stammt aus Einladungs=zirkulare an ein neues kritisches Unter=Fraisgericht über Philosophen und Dichter von Jean Paul. Den Text konnte George im 2. Bändchen des 17.  Bandes der Sämtlichen Werke von 1841,

Briefwechsel 1911 133

Für Wolters wichtig ist dass sein ⸢unser⸣ wort „Gestalt“ fast schon in dieser anwendung im XVI Cap. der Lehrjahre vorkommt „eh unser wesen eine Gestalt gewinnen kann“124

75.  StG an EM

Poststempel München, 11. 6. 1911 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

München Römerstr. 16 I Liebster Ernst : nun muss ich dir gleich schreiben. die lezten acht tage war ich auf der wanderung auch im geliebten Freiburg ∙ dir zu ehren auch eines abends im empfohlenen St. Valentin.125 mit Gundolf und dem schönen L. 126 Ich blieb dann noch einige tage oben im Schwarzwald127 und die reise nach München wurde durch äussere umstände beschleunigt deren ausführung für dich wenig angehen würde. Vielleicht kehr ich auch noch einmal zurück nach Freiburg eh ich endgiltig in die Schweiz gehe. Liebster lies in der aufzählung äusserer geschehnisse doch etwas von innrer unruhe deren ich mich erst werde entledigen können wenn ich wieder mit dir bin. Wenn du über die möglichkeit deiner sommerreise aufgeklärt bist so lass michs mit allem begleitenden wissen. Am 1 juli ist es noch verhältnismässig leicht eine angenehme unterkunft zu bestellen ∙ dann im weitern juli wirds immer schwerer! Ich denke am 1. festzusitzen. Grüsse den R∙ und denke Deines St. Über die vers-bände hab ich mich sehr gefreut ∙ doch lass mich darüber erst reden wenn wir uns sehen!

e­ rschienen bei G. Reimer in Berlin, finden. Dort steht er vor Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch. Die Werkausgabe befand sich in Georges Besitz. 124 Der gesamte Absatz in Goethes Lehrjahren lautet: „Wie kann man einer Sprache feind seyn? rief Wilhelm aus, der man den größten Theil seiner Bildung schuldig ist, und der wir noch viel schuldig werden müssen, ehe unser Wesen eine Gestalt gewinnen kann.“ Die Rede ist bei Goethe von der französischen Sprache. 125 Laut Morwitz ist der Ort St. Valentin bei Freiburg gemeint (BB). 126 Ludwig Thormaehlen studierte zu diesem Zeitpunkt bei dem Kunsthistoriker Wilhelm Vöge in Freiburg. Zu weiteren biographischen Daten vgl. Anm. 149. 127 In Klosterreichenbach im Schwarzwald.

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76.  EM an StG

Briefwechsel 1911

Poststempel Berlin W, 15. 6. 1911 Brief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl

Berlin 15. Juni 1911 Geliebter Meister: Meine [sic] bekümmert Deine Unruhe! Es gibt Zeiten, in denen man umhergetrieben wird und nicht einmal für einen Augenblick Rast findet! Wenn nichts dazwischen kommt, hoffe ich am 15 Juli in der Schweiz bei Dir zu sein. Ich lebe jetzt in der Vorfreude des Wiedersehens! Von Dir habe ich gelernt, dass man die Gegenwart nur verstehen muss, um dankbar zu sein. Die Tage vergehen aeusserst rasch unter einem Wust von Schreiberarbeiten, die ich fuer einige Wochen taeglich vormittags zu leiden ⸢habe⸣. Mich stoert dies aber nicht und wenn ich abends totmuede schlafen gehe, weiss ich, dass der Tag doch nicht spurlos und taub verstrichen ist. Ich habe in den letzten Wochen nur Robert gesehen, der ungefaehr am 1 Juli von Berlin fortgehen wird. Ob er nach Berlin zurueckkehrt, ist noch zweifelhaft. Mit meinem Freund L. , den ich sehr selten sehe, geht es allmaehlich wieder besser, er ist wieder im Dienst. Mein Militaerjahr werde ich nun doch wohl nicht beim Train128 abdienen, da mir allgemein gesagt wird, dass die unangenehmsten, strafversetzten Offiziere bei diesem Truppenteil sind. Was aber geschehen wird, steht noch nicht fest. Sei recht herzlichen [sic] gegrüsst und schreib mir bald wieder Dein Ernst.

77.  EM an StG

21. 6. 1911 Brief ohne Umschlag

Mittwoch 21. Juni 1911 Mein Meister: Hier geht alles Aeussere scheinbar ruhig und glatt seinen Gang. Wenn wir einmal in Unruhe treiben, so wissen wir, dass schon die naechste Stunde vielleicht uns ins Gleichgewicht zu bringen vermag. So lange dies Gefuehl und diese Erkenntnis stark genug ist, kann uns nichts bedrohen und schwankend machen. Mein Anker und Hafen ist, dass Du lebst und dass ich ohne mein Verdienst das Glueck habe, in Deiner Zeit, in Deiner Nähe zu leben. Wenn mir klar wird, was dies eigentlich bedeutet, schaeme ich mich jedes persoenlichen Leides und komme mir solchen Glueckes unwert vor. 128 Train ist eine französische, aber auch beim deutschen Militär bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebräuchliche Bezeichnung für das Transportwesen.

Briefwechsel 1911 135

Am 15, wenn nichts dazwischen kommt, werde ich Dich endlich wiedersehen!! Teile mir bitte sofort bist ⸢mit⸣, wo Du Aufenthalt nimmst. Meine Mutter geht an jeden Ort, den ich waehle, so dass den schoenen Tagen von dieser Seite nichts entgegen steht. Immer Dein Ernst Robert geht es wohl. Sonntag Abend waren wir alle zusammen bei Hildebrandt!

78.  StG an EM

Poststempel Hohfluh, 3. 12. [sic] 1911129 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Hohfluh bei Meiringen Hôtel Bellevue Also liebster Ernst die lage ist kurz folgende: Ich bin am selben ort wie voriges jahr · schon aus gründen vozuziehen weil Du deiner mutter nicht zumuten kannst in ein ganz ödes bergnest zu ziehen. Es ist grad nah genug an der verbindung und doch weit genug vom getriebe ½ stunde post⸢wagen oder⸣ fahrt von der station Brünig der linie Luzern-Meiringen. Der ⸢beste⸣ zug (15 ½ st Berlin-Luzern (9.45 an L. 3.08) geht durch Bayern-Bodensee. von Luzern aus noch 2 stunden bahnfahrt. *)ab 4.20 an 6.29) An einen ort in der nähe zu gehen wie Du ursprünglich andeutetest halt ich nicht für ratsam ∙ man ist dann immer noch zu weit und hat nicht mehr von einander als wenn man 6 bahnstunden getrennt ist. Ich wohne in einem bauernhaus weil ich es im Hôtel für mich unmöglich finde du könntest da bei mir wohnen wenn du als verwöhntes Et*S*130 nicht den unbequem [sic] scheust. Ich esse im Hôtel was aussergewöhnlich gut ist und wo auch deine mutter die nötige wohnbequemlichkeit hätte. Wegen eines andren hôtels (es giebt hier 4) wag ich keine vorschläge zu machen da ich sie nicht kenne und auch nicht von allen das beste hörte. Also entschliess dich damit ich wohnung bestellen kann. Ab 15ten ist es nur günstiger zufall wenn man noch platz bekommt. Wo wart Ihr damals zusammen? in Interlaken glaub ich? das wäre jedesmal eine volle tagesreise bis man sich träfe!

129 Der Poststempel weist statt der römischen V eine römische X auf, der Brief ist vom 3. 7. 1911. 130 Laut Morwitz eine Abkürzung für „Etagen-Söhnchen“, Georges Bezeichnung für Verwöhntsein, wozu auch das Nehmen von Butter in gekochte Eier gehörte (BB).

136

Briefwechsel 1911

Also schreibe sofort! (Pension alles einbegr. ungef. 7 franken, in der vor+nach­ saison billiger. Also hoffe ich bald auf Dich                                                                                                                                                                                                                St

*) Ich schreibe diese stundenzeiten nur um zu zeigen dass man bei directer ⸢nacht⸣=fahrt schon zum abendessen hier sein kann

79.  StG an EM

Poststempel Hohfluh, 11. 7. 1911 Postkarte nach Berlin W., Express

l∙E∙ ich freue mich dass das ‚Blättermittel‘ verfangen hat ∙ du bist nun vor den Pr*131 einundfür allemal gerettet. Nun zum aufenthalt hier: Mein hôtel ist bereits voll aber ich habe in einem kleinen der nähe 2 sehr hübsche zimmer für 15ten bestellt jedenfalls genügen sie für die ersten tage. Teile mir doch gleich mit wann du kommst und wieviel personen. und von der reise aus auch die ankunftstunde damit ich wagen bestelle. Komm bald! am 31 reise ich nach Basel und bleibe bis 1. abends. von da aus geht es an einen andren ort. warum mündlich. Dein St. Hohfluh 11 / VII

80.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 11. 7. 1911 Brief mit Umschlag nach Hohfluh bei Meiringen132

Dienstag Mein lieber Meister: Gestern beim Baden im Wannsee hat mir eine Muschel 131 Pr* könnte für die „Preußen“ stehen. Invektiven Georges gegen Preußen, Land und Leute, finden sich mehrfach. Näher liegt vielleicht die Aufschlüsselung „Professoren“. Morwitz hatte sich nach der Promotion (1910) für die Richterlaufbahn entschieden, das „Blättermittel“ könnte dann das Erscheinen eines eigenen Gedichtbands im Verlag der Blätter für die Kunst im selben Jahr 1911 meinen. 132 George wohnte mit Ernst Gundolf im Hotel Bellevue in Hohfluh bei Meiringen (Schweiz).

Briefwechsel 1911 137

den Fuss zerschnitten. Ich muss also einige Tage liegen und werde vor Montag kaum reisefaehig sein. Laengere Zeit wird aber, wenn es weiter gut geht, zur Heilung nicht notwendig sein. Die Wunde heilt bisher gut. Ich brenne darauf, Dich zu sehen und habe manches zu erzaehlen! O waere ich erst im Zuge! Diese Missgeschicke sind so dumm und laecherlich, dass man sie ratlos und moeglichst ruhig ertragen muss. Den Tag der Abreise teile ich Dir mit. Nimm bis zum Wiedersehen mit diesem Jammerbrief vorlieb! Dein Ernst.

81.  StG an EM

Poststempel Lauterbrunnen, 18. 7. 1911 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebster Ernst: lass Dir wegen des unfalls keine grauen haare wachsen es geht doch hoffentlich noch alles schön. In Hohfluh wo wenig platz ist war nach dem 15ten mit den leuten überhaupt nicht mehr zu reden. Wir gingen drum in das ganz nahe Lauterbrunner tal. Hier ist eine sehr schöner stiller platz ∙ (Stechelberg) wo auch genügend raum ist. Dann ist das nah gelegne grosse Wengen wo auch für alle ansprüche raum ist. Um keine zeit zu verlieren telegraphier uns also postlagernd Lauterbrunnen wann du kommst. Jezt musst du nämlich nicht nach Luzern sondern über Basel=Interlaken fahren.*) Ich hol dich dann ab ∙ Auf jeden fall aber hast du auch postlagernd Lauterbrunnen eine nachricht von uns mit unsrer genauen adresse Auf wiedersehen Dein ST.

So viel ich sehe ist der von B abgehende mittags 3 uhrzug um 6 ⸢früh⸣ Basel und 12.34 in Lauterbrunnen133

133 George war bekanntermaßen bis ans Ende seines Lebens bestens mit Kursbüchern vertraut, benutzte sie viel und gerne. In Parallele zum Jahrbuch für die geistige Bewegung wurde es im Kreis häufig in diesen Jahren als Fahrbuch für die körperliche Bewegung bezeichnet.

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82.  StG an EM

Briefwechsel 1911

Poststempel München, 25. 8. 1911 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebster Ernst: nach mannichfachen fährlichkeiten (darüber später) komm ich in München an. (Römerstr. 16 I) Noch denk ich in einem fort an die wunderbar ungetrübten tage in St.134 und ich hoffe dass du jezt innen wie aussen heil bleibst .  . Die beil. karte kam noch an dich nach der abreise. Ich bleibe etwa 8 Tage hier. Dein St. München freitag

83.  StG an EM

Poststempel München, 31. 8. 1911 Postkarte nach Berlin W.

L. E· dank für Deinen brief ∙ morgen geh ich für einen tag nach Tölz135 und reise etwa sonntag nach Darmstadt ∙ Bis zum 6ten glaub ich in Bingen zu sein. Dann erfährst du auch genau wann ich wieder nach Berlin komme Dein St. München 30 aug

84.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 5. 9. 1911 Brief mit Umschlag nach Bingen

Dienstag Mein lieber Meister: Ich vermute Dich schon in Bingen und hoffe dass Du nun bald hierher kommst und hier bei mir absteigst.136 –

134 George hielt sich ungefähr seit Anfang Juli zusammen mit Ernst Gundolf zuerst in Hohfluh bei Meiringen und anschließend in Stechelberg bei Lauterbrunnen auf, wohin im August auch Friedrich Gundolf kam. 135 Hanna Wolfskehl und Kinder, zeitweise auch Karl Wolfskehl, verbrachten Juli und August 1911 in Tölz bei einer Frau Dötzer, wo sie George besuchte. 136 Morwitz wohnte zu dieser Zeit in Berlin in der Achenbachstraße 20.

Briefwechsel 1911 139

Nichts Neues. Lechter traf ich einmal auf der Strasse und versprach, ihn am folgenden Abend zu besuchen. Ich fand ihn aber nicht zu haus. Nach einigen Tagen grosser Hitze kommt jetzt der Herbst. Lange Gerichtssitzungen – bei denen ich daran denke, dass du einmal sagtest: dem Vieh ist in seinem Stall am wohlsten. Leider trifft das bei mir nicht mehr immer zu. Doch geht alles gut und nach Wunsch.137 Ich erwarte Dich nun bald! Gruesse! Dein Ernst

85.  StG an EM

Poststempel Cöln-Frankfurt, 9. 9. 1911 Postkarte nach Berlin W.

l. E∙ eben komm ich nach B. und lese Deinen brief. es wird wol noch 8–14 tagen [sic] dauern bis ich nach Berlin komme zuerst muss ich nochmals nach Darmst.138 dann vielleicht noch ein paar tage aufs land hier. Du erhältst zügig nachricht wann ich anlange Dein St.

137 Morwitz’ juristische Laufbahn begann 1911 mit dem Justizreferendiat, am 24. Juli 1914 wurde er zum Gerichtsassessor ernannt. Sie wurde während seines Einsatzes als freiwilliger Krankenpfleger von 1915–1918 unterbrochen. Morwitz ließ sich dann weiter beurlauben, bis er am 1.  April 1921 als Landrichter eine Stelle bekam und zum Landgerichtsrat ernannt wurde. Ab September 1930 hatte er dann als Kammergerichtsrat und Mitglied des Zivilsenats des Kammergerichts eines der höchsten Richterämter im preußischen Staat inne. Der Senatspräsident bescheinigte ihm „Hervorragende richterliche Begabung, ausgezeichnete Rechtskenntnisse“, er sei „den schwierigsten Sachen gewachsen, schneller und sehr gewissenhafter Arbeiter“, und er bescheinigt „angenehmes Zusammenarbeiten“. Im Zuge des Reichsbürgergesetzes vom 15. September 1935 wurde er in den Ruhestand versetzt (vgl. Groppe, S. 443, Anm.  158 und 159 sowie in der Einleitung zu diesem Briefwechsel die Abschnitte „Ernst Morwitz: Eine Berliner Biographie“ und „Deutscher Staatsbeamter – jüdischer Emigrant“). 138 George hielt sich häufiger in Darmstadt im Haus der verwitweten Mutter von Friedrich und Ernst Gundolf auf, wo sich auch viele Papiere und Originalzeichnungen aus seinem Besitz befanden.

140

86.  EM an StG

Briefwechsel 1911

2. 12. 1911 Brief ohne Umschlag Berlin 2 XII 11

Mein lieber Meister: Ein merkwuerdiges Zusammentreffen: Heut, wo ich mich zum ersten Mal aufraffe um Dir zu schreiben, kommen die Druckbogen gerade an.139 Wuesstest Du, wie langsam mir diese acht Tage vergangen sind, seit mir die beruhigende Gewissheit fehlt, dass ich Dich dann und dann sehen und sprechen kann! In diesem Zustand verkriech ich mich jetzt selbst vor den Freunden, denn ohne Dich mit ihnen zusammen zu sein ertrage ich noch nicht. Wieder einmal ist es so als ob Du alles mitgenommen haettest. Gib mir bald ein Zeichen. Auch der kleine Ernst140 fehlt mir ueberall, das Zusammenleben verwoehnt. Die Druckbogen schick ich Dir, da mir der kleine Ernst sagte, dass Du die Anordnung prüfen wolltest.141 In der Mitte hat er142 vier Gedichte zu einem 139 Es sind die Druckbogen des schmalen Bandes Gedichte von Ernst Morwitz, der noch 1911 in Berlin im Verlag der Blätter für die Kunst erschien (51 S.). 140 Da Differenzierung Not tat, wurde Ernst Morwitz als großer Ernst, Ernst Glöckner als mittlerer und Ernst Gundolf als kleiner Ernst bezeichnet. Ernst Gundolf (1881– 1945), der um ein Jahr jüngere Bruder von Friedrich Gundolf, lebte nach einem kurzen Jurastudium in Berlin bis zu seiner Emigration nach London als Privatgelehrter im Darmstädter Elternhaus, in welchem auch George häufig zu Gast weilte. Nach den Novemberpogromen 1938 wurde er im KZ Buchenwald interniert bis es Freunden gelang, ihn dort auszulösen. Von George und vielen Freunden im Umkreis wurde er hoch geschätzt, nicht zuletzt als Ratgeber bei Publikationen. Die frühe Tuberkulose machte eine reguläre Berufstätigkeit nicht möglich. Über viele Jahre hinweg fertigte er täglich eine Federzeichnung an. Eine Mappe mit Drucken solcher Zeichnungen erschien 1905 als Zeichen von Georges Hochschätzung im Verlag der Blätter für die Kunst. In London, wo er kurz nach Kriegsende starb, lebte er vereinsamt und arm. 141 Die im privaten Verlag der Blätter für die Kunst mit dem sogenannten Urnensignet erscheinenden Bücher standen alle unter der Kontrolle Stefan Georges. Er entschied nicht nur über die Aufnahme in die Reihe, sondern kümmerte sich auch um Inhalt und Erscheinungsform der Bände. Dem ersten Teil der Gedichte von Ernst Morwitz steht ein Widmungsgedicht an die Brüder von Uxkull voran, dem zweiten eines an Stefan George. Die dritte „Widmung“ gilt „ferne[n] Brüder[n]“. 142 Gemeint ist 1911 Otto Erich, der Sohn des Druckers Otto von Holten (1836–1906). Die 1873 in Berlin gegründete Druckerei stand in enger Verbindung mit der Buchkunstbewegung um 1900. Verlage wie Diederichs, Kurt Wolff und Georg Bondi ließen dort drucken. Vor allem aber war Melchior Lechter seit den 1890er Jahren von Holten und der Druckerei eng verbunden. So wurden seit dem Jahr der Seele sämtliche Privatdrucke Georges der Druckerei anvertraut, seit Ende 1901 ließ auch Bondi dort drucken, und George übergab mit der fünften Folge (1901) auch die Blätter für die Kunst an den Berliner Drucker. Melchior Lechter begründete 1909 mit dem Sohn

Briefwechsel 1911 141

verschmolzen, sonst ist alles ziemlich in Ordnung. Nur mein ich, muss auf der ersten Seite der Verlag stehen, da das Buch sonst unglücklich herrenlos aussieht. Dies sind die ersten und wohl einzigen Korrekturbogen, sende sie bitte an mich zurueck. Wann werde ich dich sehen? Die Zeit vergeht zu langsam – für immer Dein Ernst.

87.  StG an EM

n. d. 2. 12. 1911 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: zuerst wegen der korr: es ist alles gut wie du angegeben ⸢siehe andere seite⸣ Das wegbleiben des verlags ⸢im buch⸣ ist nur versehen.* Du gehst am besten zu Holten u. erklärst die ändrung dann braucht es keine neue korrect. (*auf dem einband fällt ⸢er⸣ jedoch weg) Sag zugleich Holten er möge an mich die rechnung schicken und ich wünsche dass er darauf rücksicht nehme dass nur 54 ⸢seiten⸣ sind. Ich denke mir dass 50 ex bei ihm lagern ⸢zu etwaigem verkauf⸣ bleiben und 50 an deine adresse abgehen, die du versendest und meist mit einschreiben des namens schmücken musst. Liste liegt bei. Liebster! hier kurzer reisebericht: wir waren in M∙ bei W∙ der wenig und sehr vernünftig arbeitet und fuhren dann nach Leipzig wo wir das relief ansahen.143 Dies + begleitumstände einmal mündlich. Dann eh ich nach B fuhr war ich kurz in H. wohin ich ende der woche für mehrer [sic] tage gehe. Die fenster auf den berg hatten bei wunder-wetter wieder den alten zauber: man braucht nicht in „fremde lande“ …144 Otto Erich seine Einhornpresse als Imprint des Verlags Otto von Holten. George entwickelte noch mit dem Vater Otto von Holten und Melchior Lechter die sogenannte StG-Type, auf der Akzidenz-Grotesk der Firma Berthold beruhend. Seit 1904 wurden von George autorisierte Werke in dieser Type gesetzt, aber von Holten verwandte sie auch für einige andere Bücher. Erhalten sind mehr als 50 Briefe und Abrechnungen, häufig von der Hand des verantwortlichen Druckers und späteren Prokuristen Carl Link (StGA). 143 Es könnte sich um den monumentalen Gipsabdruck des sogenannten Beutereliefs vom Titusbogen auf dem Forum Romanum in Rom handeln, der sich im 1840 gegründeten, öffentlich zugänglichen Antikenmuseum der Universität Leipzig befand. Morwitz selbst verweist auf einen Abdruck des sogenannten Boston Throns, ein dreiseitiges Relief, das erst 1909 bekannt geworden war (BB). 144 Möglicherweise Selbstzitat: „Freut euch dass nie euch fremdes land geworden / Der weihe land der väter paradies“ („Rom-Fahrer“, SW V, S. 50). Wörter wie „fremd“,

142

Briefwechsel 1911

Das neue von Heidelberg kann ich erst das nächste mal berichten145 Ganz Dein        St.

Seite 18  sich enthüllt zu nennen“146                        ist unklar! was heisst das? S. 25 vermählt : (da es kein fertiger satz ist)

S. 34. (?) Durch eines führers tröstende gestalt (die alte fassung find ich besser)

88.  StG an EM

Poststempel, 26. 12. 1911 Brief mit Umschlag nach Berlin W. Weihnachten 1911

Liebster Ernst: so kam dein buch noch rechtzeitig vor der abreise allen dank! meine meinung weisst du: es ist schön und spricht davon „wann die Saturnstage · die neuen männlichern gekommen sind“ … Besonders gerührt haben mich noch die widmungsverse!147 Auch meine schwester148 dankt dass du sie „fremder“ oder „fremdling“ sind im gesamten Werk Georges von großer Zahl und Bedeutung. 145 Laut Morwitz ist hier die Entdeckung des Knaben Percy Gothein in Heidelberg gemeint (BB). 146 Die Korrekturen beziehen sich auf die Gedichtsammlung von Ernst Morwitz, die noch 1911 erschien. 147 Den „zweiten Teil“ der Gedichte leitet die „Widmung S. G.“ ein. Sie lautet: „Dir dem täter dem befreier / Ist dies lied nur schwacher dank. / Leihe mir zur heldenfeier / Einen ton von Deinem klang.“ (S. 22) 148 Anna Maria Ottilie George (1866–1938), die ältere Schwester und Vertraute Georges, die unverheiratet in Bingen neben der Mutter das Haus führte, Vater und Mutter bis 1907 bzw. 1913 pflegte und mit mehreren Freunden Georges vertraut war, die den Bruder in Bingen besuchten oder Reisegefährten der Geschwister waren. George widmete ihr 1898 nach dem Bruch mit Ida Auerbach die erste öffentliche Ausgabe von Das Jahr der Seele: „Anna Maria Ottilie / Der tröstenden Beschirmerin / Auf manchem meiner Pfade / MDCCCXCVII“. Auch in späteren Jahren, als sie in Königstein wohnte und das Binger Haus vermietet war, besuchte er sie häufiger dort.

Briefwechsel 1911 143

bedacht .  . Morgen geh ich über Darmstadt nach München und schreibe dir bald von dort aus. Ich hatte meine festtage voraus: L· 149 war bei mir. Ach Ernst man könnte manchmal weinen im gedanken was es doch für menschen heut giebt – trotz der zeit! Er ist so wundervoll ∙ seine schönheit schadet ihm nicht ∙ ich würde euch in Berlin und dir besonders wünschen dass Du ihn näher kennen lerntest! Ich kann gar nicht ausdrücken wie schön er war! – Hab ich recht verstanden dass eines deiner bücher für ihn ist? .  .  .  . Hier schick ich noch etwas besonderes für dich ∙ ein beweis dafür dass wir nicht aus rückschaulichkeit in die früheren zeiten eine bessere knaben-auslese verlegen. Und das war der guten einer nicht einmal der besten) Anselm Feuerbach mit 15 jahren von ihm selber gemalt!*)150 Was ich „traum“ nenne: ist das nicht ⸢in⸣ diesem edlen wenn auch etwas weichen gesicht? Was hätte der vollbracht mit der weihe! Liebster grüsse alle freunde besonders den Robert . Ich habe noch eine wichtige „geistige“ nachricht ∙ aber nicht fürs papier! Ganz Dein St. *) Es wurde eben grad aufgefunden ∙ heb mir das blättchen gut auf!

89.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 27. 12. 1911 Brief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl Berlin 27. XII. 11

Geliebter Meister: Diesen Brief sollst Du in Muenchen bei Deiner Ankunft vorfinden. Ich bin gluecklich, dass L. so ist und so 149 Ludwig Thormaehlen (1889–1956) hatte 1909 während eines Studiensemesters in Berlin Stefan George kennen gelernt und ihn 1910/1911 häufig in München besucht, wo er sein Studium der Kunstgeschichte fortsetzte. In den folgenden Jahren intensivierte sich die Beziehung zu George ebenso wie eine enge Freundschaft mit Ernst Morwitz begann. 1914 schuf der künstlerische Laie das erste, noch holzgeschnitzte Bildnis Georges in der fast leeren Wohnung von Morwitz und George. Seine späteren eigenen Ateliers wurden zu Begegnungsräumen der Freunde und zur Arbeitsstätte Georges. Vor allem Lesungen fanden dort im unbürgerlichen Ambiente statt. 150 Das Selbstbildnis des deutschen Malers Amselm Feuerbach (1829–1880) von 1844 befindet sich im Schlesischen Museum der bildenden Künste in Wroclaw. 1857 ging Feuerbach nach Rom und wurde Mitglied des dortigen Deutschen Kunstvereins; ab 1860 schuf er mehrere Bildnisse seiner Geliebten Nanna.

144

Briefwechsel 1911

wird, denn der Gedanke an einen solchen Kommenden haelt alle aufrecht und ⸢dann⸣ ist keine Sorge um die Zukunft, solange ⸢wenn⸣ noch solche Menschen leben. Das Grauen vor der Zukunft, das mich manchmal hart packt in der Nacht, ist persoenlich und belanglos. So lange wir die Kraft ⸢haben⸣ den selbst gesetzten Zielen nachzugehen, gleichgueltig ob Sie sichtbar oder verhuellt sind, ist auch unser Dasein wichtig und fruchtbringend. Jede Erhebung laesst uns standhafter werden und entschaedigt uns reich. O Meister wieviel muss man gelernt haben, welche gluecklichen Voraussetzungen muessen erfuellt sein, damit man sicher und stark die Schwankungen ueberwindet! Nur die eine Kraft ist uns notwendig: bis zum Ende die Stunden der Not zu ertragen, nicht vor ihnen zu fliehen, dann hat jeder Tag mit einem Sieg sein Ende. Wie schoen ist der Feuerbach, was mag in diesem Kopf damals vorgegangen sein? Schade dass er so glatt wurde. Ein Buch war fuer L. Du hast es ihm – hoff ich – gegeben, wenn nicht soll er es sogleich bekommen. Die Kinder sind hier. Da ihre Versetzung in der Schule zweifelhaft ist und ihnen mit dem Kadettenhaus gedroht wird, muss ich mit ihnen viel Griechisch arbeiten. Sie entwickeln sich gut sodass ich noch immer Hoffnungen habe. Sie sind den ganzen Tag bei mir. Wichtig ist die Wirkung auf Ilfeld.151 Uebermorgen wird mich ein Primaner von dort besuchen. Robert liegt zur Heilung den ganzen Tag. Viel besser geht es ihm bisher aber nicht. Ich bin froh, dass er sich wenigstens einmal ausruht. Sei von Herzen gegruesst von Deinem Ernst. H v. H. sucht in einem Aufsatz im „Pan“ sein Schaffen zu rechtfertigen.152 Wichtig! V. 153 hat eine Pantomime fuer fromme Englaender geschrieben, der Text klingt von ihm aus wie Blasphemie. Der Aeschylus Uebersetzer154 war bei Val. . Er sieht sehr unbedeutend aus und hat auf uns alle keinen sonderlichen Eindruck gemacht. 151 Ilfeld war eine 1567 gegründete königliche Klosterschule, ein evangelisch-landesherrliches Internat für Schüler der Oberstufe. 152 Im 1.  Jahrgang des Pan, Nr.  18, war ein Brief Hofmannthals an Cassirer vom 7. 7. 1911 abgedruckt, der auf Tagebuchauszüge Flauberts in zwei vorangegangenen Nummern des Pan Bezug nahm. 153 Karl Gustav Vollmoeller veröffentlichte in Berlin 1912 (Bote & Bock) das Textbuch zu Das Wunder. The Miracle. Große Pantomime in zwei Akten und einem Zwischenspiel, Musik Engelbert Humperdinck. Regie führte Max Reinhardt. 154 Entweder ist hier von Albrecht von Blumenthal (1889–1945) die Rede oder von Hans von Sassen. Blumenthal studierte von 1909 bis 1911 Klassische Philologie in Berlin und später in Halle. Er war am 9. November 1911 brieflich mit George in Kontakt getreten. Als Aeschylos-Übersetzer trat er allerdings erst 1920 mit einer als Handschrift

Briefwechsel 1911 145

90.  StG an EM

Poststempel München, 27. 12. 1911 Postkarte nach Berlin W.

L E: ich bin wieder in M (Römerstr 16 I) und sende euch herzl. erinnerungen. Hast Du kein buch an K. W. geschickt. Er hatte es noch nicht. Dein St.

91.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 31. 12. 1911 Brief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl

Mittwoch Mein geliebter Meister Gleich heute muss ich Dir danken fuer die wundervollen Tage.155 Ich laufe hier wie im Traum umher und es ist mir als ob ich in eine andere Welt gehorte [sic], in der die alltaegliche Sorge aufhoert und aus der heraus man mit Sicherheit und freudiger Ruhe auf die Unteren blickt. Was hast Du aus mir gemacht! Wenn ich bei Dir bin, kann ich Dir nicht danken und muss stumm bleiben und verschweigen, was Du mir bist. Diese Tage sind wirklich gewesen, so wahrhaftig dass jeder Traum vor ihrer Macht verblasst. Denk an sie und an mich, an Deinen Ernst. Diese Bilder hat mein Schueler im Schwarzwald von mir gemacht.156 Gieb mir bald ein Zeichen.

gedruckten Übertragung des Prometheus hervor. Er vermittelte über Maria Fehling 1923 den Kontakt der Grafen von Stauffenberg zu Stefan George. Unter seinen wissenschaftlichen Werken waren die Griechischen Vorbilder von 1921 am stärksten von George und der Kreiswissenschaft geprägt. Hans von Sassen hatte George 1908 und 1909 zwei Hefte mit eigenen Gedichten geschickt; er könnte der in Br. 95 auf Nachfrage von George genannte „Herr von S“ sein, ein Verfasser guter Übersetzungen. 155 Der 31. 12. 11 (Poststempel) war ein Sonntag, Morwitz jedoch gibt Mittwoch als Schreibtag an. Unklar ist auch, wo er zuvor mit George zusammen gekommen war; infrage kämen nur Bingen und München. 156 Hier kann wohl nur Woldemar von Uxkull gemeint sein, den Morwitz neben Schule und Eltern seit 1906 zusammen mit dem jüngeren Bruder Bernhard unterrichtete und erzog.

146

92.  StG an EM

Briefwechsel 1912

Poststempel München, 4. 1. 1912 Postkarte nach Berlin W.

L∙E∙dank für die V: dafür etwas an leben. Heute hab ich zum erstenm ∙ den kleinen pr. genau gesehen.157 Er ging ein ganzes stück die Ludwigstr. vor mir her mit irgendwas von erzieherin. Er war sofort zu erkennen. Er ist in natur frischer und frecher ∙ auf den bildern bedeutender und schwermütiger.158 Seine stimme ist sehr lieb: alles sehr hübsch.  Denke recht D. M. der immer um dich in sorge ist dass du n. g. g. w.159 Dein St. Was ist mit Vall. den wir um neujahr erwarteten.

93.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 8. 1. 1912 Brief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl Berlin 8. I. 12

Geliebter Meister: Den Herrn v. S.160 hat Schmalenbach161 zuerst zu Val. gebracht. Robert und ich waren damals dort. Darauf ist er je einmal bei Wolters, Thiersch162 und Hildebrandt gewesen. Ich habe 157 Der kleine Prinz ist der 1901 geborene und schon 1914 verstorbene Erbprinz von Bayern, Luitpold Maximilian Ludwig Karl. 158 Im StGA befinden sich eine Aufnahme des Fotografen Franz Grainer von Luitpold Maximilian Ludwig Karl Erbprinz von Bayern aus Georges Besitz sowie drei weitere Fotografien des Erbprinzen aus dem Jahr 1910 im erweiterten Bestand. 159 Mögliche Auflösung von „n. g. g. w.“= „nicht genug geliebt wirst“, laut Morwitz „nicht genug gebissen wirst“ (BB), wobei Biese=Bisse Küsse meinen. 160 Hier könnte von Hans von Sassen die Rede sein, Dichter und Altphilologe, vgl. Anm. 154. 161 Hermann Schmalenbach (1885–1950), Philosoph, gehörte seit 1910 in Berlin zum weiteren Autorenkreis des Jahrbuchs für die geistige Bewegung (Gundolf, Wolters, Hildebrandt, Vallentin). Er verfasste für das geplante vierte Jahrbuch seinen Aufsatz Die Gebilde des Begriffs, der von George abgelehnt wurde. Die Beziehung zu George und dem Kreis endete mit dem Ersten Weltkrieg. Doch ist die Bedeutung Georges und des Kreises für Schmalenbachs wichtige Schrift aus dem Jahr 1922 Die soziologische Kategorie des Bundes nicht zu unterschätzen. 162 Paul Thiersch (1879–1928), Architekt, zeitweise Assistent von Peter Behrens, 1909/10 von Bruno Paul in Berlin, wo er sich in der Folge selbstständig machte. Durch seinen Schwager Kurt Hildebrandt kam er in Verbindung mit Stefan George (1909) und zuvor schon mit Freunden wie Vallentin und Wolters. In seiner Berliner Atelier-

Briefwechsel 1912 147

ihn nur bei Val. gesehen. Er sieht sehr harmlos und unbedeutend aus: Schneiderlein des deutschen Maerchens. Ich sprach gestern Val., Wolters und Hildebrandt. Sie versichern, dass er nichts wesentliches gehoert haben kann. Er hat bei allen selbst vorgelesen und hat niemand anderes lesen hoeren. Das Gespraech ist ueberall um seine griechischen Sachen gegangen. So auch bei Val., wo Robert und ich nur kurze ⸢Zeit⸣ mit ihm zusammen im Zimmer waren, da Robert liegen wollte und das Gespraech stockend und langweilig war. Gesehen hat er wohl ziemlich Alle, erfahren aber sicherlich nichts. Ich habe Gundolf’s Auftrag ausgerichtet. Ich bin fuer Deine Karte dankbar. Mit Robert wollte ich bei Jahresanfang allein zusammen sein, leider konnte er durch einen Zufall im letzten Moment nicht. Die Kinder sind wieder fort.163 Ich bin einmal mit ihnen im alten Museum gewesen und dies hat so gezuendet, dass der Aeltere am naechsten Morgen in aller Fruehe zu mir ⸢kam⸣ und mich bat, ihm nochmals zu erzaehlen, was ich ihm im Museum erzaehlt hatte. Robert geht es noch immer nicht gut. Der Arzt sagt, es sei nicht ernstlich schlimm und unveraendert, jedenfalls hat er Schmerzen. Mir geht’s gut, unpersoenlich und klar und vor allem froh und zufrieden, wenn ich an Dich denke  Sei von mir viele Male gegruesst Dein Ernst. Gruesse an Gundolf, wenn er noch dort ist, Wolfskehl Dank fuer den Brief! Zwei Fragen wegen des Buches: 1) Soll ich es der Gräfin U. schicken? 2) Was ist an Holten zu zahlen.164

wohnung kamen sie zu Lesungen zusammen, so zu einer chorischen Aufführung von Georges Weihespiel Die Aufnahme in den Orden. 1910 und 1911 erschienen Beiträge von Thiersch im Jahrbuch für die geistige Bewegung. 1915 wurde Thiersch zum Direktor der Handwerkerschule in Halle berufen, die er zu einer Kunstgewerbeschule von Rang erweitern konnte. Seine Tochter Gemma wurde dort zur Emailkünstlerin ausgebildet. 1927 heiratete sie den Witwer Friedrich Wolters. 163 Woldemar und Bernhard von Uxkull waren in das Internat Ilfeld zurückgekehrt. 164 Die Fragen betreffen Morwitz’ Gedichtsammlung, die als Privatdruck im Verlag der Blätter für die Kunst erschien und bei von Holten gedruckt wurde. George soll entscheiden, ob Morwitz das Buch der Gräfin von Uxkull schicken soll; vgl. Georges Anwort vom 8. 1. 1912 (Br. 94).

148

94.  StG an EM

Briefwechsel 1912

Poststempel München, n. d. 8. 1. 1912 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebster Ernst∙ nur dies kurze meist geschäftliche: Der Gräfin würde ich vorläufig das buch nicht schicken. Später ergiebt sich vielleicht gelegenheit. Wegen der Zahlung bei H. hat es zeit bis herbst wenn ich die gesamt-rechnung von ihnen wegen aller blätter=dinge erhalte. Aber dies ist wichtiger: es waltet bei Holten ein misverständnis wegen des verkaufs Deines buches ∙ er meint es solle überhaupt nicht verkauft werden. Geh also möglichst sofort zu ihm und richte ihm genau aus wie folgt: Du hättest mit mir bestimmt dass das buch allerdings in erster linie zum senden an Deine freunde gedruckt wäre, dass ⸢es⸣ aber vom verkauf nicht ausgeschlossen sein solle: So hat z.  B. der buchhändler Calvary165 danach gefragt – dem H. die mitteilung machen solle ∙ dass dem C. von den restlichen exempl. abgeben könne (Ladenpreis 4.50. buchhändlerpreis 3.00) nur bar nicht commission). –– Hat Derleth166 dir geschrieben? Er hat es indirect behauptet. Scheint sich zu schmeicheln dass ⸢er⸣ dich zur katholischen kirche (das wäre grad an der zeit!) bekehren könne!!!! Sonst alles gut hier D∙ M∙ L ∙ D∙ S ∙167

Von diesem Robert hab ich seit meinem weggang kein wort –!!

*frage auch von mir aus bei H. wie sich der verkauf des III jahrb. bis jezt gestaltet.168

165 S. Calvary und Comp. Buchhandlung und Antiquariat in Berlin. 166 Ludwig Derleth (1870–1948), Vertreter eines militanten Christentums, Verfasser der Proklamationen, in denen ein „Christus imperator maximus“ einen zivilisationskritischen Krieg gegen die Moderne führt. Seit ca.1900 stand Derleth in Kontakt zum Umkreis von Karl Wolfskehl, Alfred Schuler, i.  e. den sogenannten Münchner Kosmikern. Durch sie lernte er 1902 auch George kennen, der Texte von ihm in die Blätter für die Kunst aufnahm (1902–1910). Auch nach dem Zerfall der Kosmikerrunde blieb er in Kontakt mit George und dieser widmete ihm das Gedicht „An Derleth“ im Siebenten Ring (SW VI/VII, S. 172), in welchem er den „unerbittliche[n] verlanger“ nach seiner Liebeskraft fragt. Freundschaftlich verbunden fühlte sich George auch Anna Maria Derleth (1874–1955), die in München in enger Verbindung mit dem Bruder lebte. Morwitz erinnert sich, dass George ihm auf der Ludwigstraße in München Ludwig Derleth vorgestellt und mit ihm zusammen die Schwester Derleths in der Wohnung gegenüber der Liebfrauenkirche besucht habe (BB). 167 Die Buchstaben stehen für: „Der Meister liebt die Seele“ oder für „Der Meister liebt dich sehr“. 168 Gemeint ist der dritte Jahrgang des Jahrbuchs für die geistige Bewegung von 1912.

Briefwechsel 1912 149

95.  EM an FG Poststempel Heidelberg, 16. 1. 1912 Brief mit Umschlag von Gundolfs Hand an George nach München, bei Dr. Karl Wolfskehl169 Berlin 15. 1 12 Lieber Gundolf: Der Herr v. S. hat hier nichts erfahren, nicht einmal lesen hoeren. Schmalenbach brachte ihn zu Val. , wo ich ihn einige Minuten sah. Er sieht sehr harmlos, belanglos aus und ist ansteckend langweilig und duenn als Person. Die guten Uebersetzungen traut man ihm jedenfalls nicht zu. Ich habe noch einen Monat lang viel beim Staatsanwalt zu arbeiten, dann wirds besser. Dem Meister habe ich ueber den v. S. berichtet. Robert ist leider noch immer nicht ganz gesund. Viele Gruesse auch Ihrem Bruder und Salzens170 Ihr Ernst Morwitz. Passen Sie einmal auf, ob Sie naechstens mein Buch bei Herrn Weiss im Fenster sehen.171 Wenn Sie einmal ein Urteil hoeren sollten, schreiben Sie mir bitte.

96.  StG an EM

Poststempel München, 23. 1. 1912 Postkarte nach Berlin W.

l. E: dank für den langen brief. Als nachricht dass K. W. vorige nacht wieder nach Paris ist und dass ich vielleicht bald auf einige tage nach B* komme (leider nur wegen eines geistigen wenn auch wichtigen NOVUMS .  .) – Dieser tage hat mir auch der kleine B. U. eine nachricht geschickt mit der frage ob ich Ostern in B 172 sich auch nach Gund∙ erkundigt. Ich glaube dass es noch etwas 169 Friedrich Gundolf schickte in neuem Umschlag Morwitz’ Brief an ihn an Stefan George nach München weiter. 170 Arthur Salz (1881–1963), Nationalökonom, habilitierte sich 1909 in Heidelberg bei Alfred Weber. Der enge Freund Friedrich Gundolfs (seit ca. 1900) war zeitweise auch George näher verbunden, der zu Zeiten sogar bei ihm in Heidelberg wohnte; er heiratete am 2. 4. 1912 Sophie Kantorowicz, später meist Soscha genannt, eine Schwester von Ernst Kantorowicz. 171 Die akademische Buchhandlung Weiss in Heidelberg. 172 Der Brief Bernhard von Uxkulls an George trägt den Poststempel 17. 1. 1912 (StGA).

150

Briefwechsel 1912

verfrüht ist wenn ich selber schreibe. Es genügt wol der ausdruck meiner freude durch deine vermittlung.                                                                         Viel herzliches allen freunden und Dir ST Von Rob∙ immer noch keine eigensilbe *) ist sehr unsicher

97.  StG an EM

Poststempel München, 25. 1. 1912 Postkarte nach Berlin W.

Mach dich freitag abend auf eine nachricht oder mich selbst gefasst   St. München donnerst ∙

98.  StG an EM

Poststempel München, 11. 2. 1912 Postkarte nach Berlin W.

Nach seinen raschen fahrten · (1 tag in K wo mich L in empfang nahm.) ist der M∙ wieder wolbehalten im K*-zimmer angekommen173 und kündet dies zur beruhigung d. J. an.174 Bitte lass bald etwas von Dir hören und von Robert ! Herzlich St. Ist bei B–i alles bestellt worden? München montag

173 Zum sogenannten „Kugelzimmer“ vgl. Anm. 91 zu Br. 59. 174 Wohl aufzulösen als ‚der Jüngeren‘. Gemeint sind u.  a. die Uxkulls. George war nach dem eiskalten Aufenthalt mit Morwitz und Walter Wenghöfer (1877–1918) in Tangermünde gut in München angekommen, vgl. Morwitz’ Antwort vom 13. 2. 1912 (Br. 99) und Anm. 175.

Briefwechsel 1912 151

99.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 13. 2. 1912 Brief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl Berlin 13. II. 12.

Geliebter Meister: Es ist beruhigend zu hoeren, dass Du heil ohne Tangermuender Folgen175 nach M. gekommen bist. Ich sehe Dich dort richtig von den Wanderungen ausruhen! Wir hier sind nach Deinem Weggang wieder auseinander gestoben und werden uns erst sehen, wenn jeder im Gleichgewicht ist. Der Auftrag bei B–i ist besorgt, er selbst war am Sonnabend noch verreist. Mir kommen die ersten Tage ohne Dich immer etwas schemenhaft vor aber ich hoffe mich bis zum naechsten baldigen Wiedersehn gut zu halten. Die res domesticae haben auch wieder einmal den ihnen vorteilhaften ereignislosen Abschluss genommen, man muss sich hueten unnuetz zu viel Kraft bei solchen Vorfaellen zu vergeuden, sie sind „gespenstisch“ und deshalb „berechenbar“. Dich bitt ich jetzt um die „Aufgabe“, ueber die wir leider nicht mehr sprechen konnten. Vielleicht ueberschaetz ich meine Kraft aber ich sehne mich nach einer Probe. Wie war der L ? Robert und ich wuenschten ihn bald einmal zu sehen! Gruesse an den kleinen Ernst und von ganzem Herzen an Dich Dein Ernst

100.  StG an EM Poststempel, 11. 3. 1912 Brief (Blättermarke Urnensignet) mit Umschlag nach Berlin W. Ernst geliebtes herz ich habe auf Deinen brief so lang geschwiegen weil inzwischen teils mich dumpfmachende dinge kamen teils das los zweier mir naher menschen mir viel zu denken gab. Jener A. den du leztes mal mit mir sahest176 175 Morwitz und George hatten eine Fahrt nach Tangermünde unternommen, wohl um Walter Wenghöfer zu treffen. So berichtet Morwitz in seinem späteren Kommentar, wenn auch mit irrtümlicher Datierung auf 1909/10. George habe sich wegen des Frostes und Windes geweigert, das Gasthaus zu verlassen; es sei für ihn zu kalt, um Spaziergänge zu unternehmen. (BB) 176 Es muss sich wohl um Albrecht von Blumenthal (1889–1945) handeln, der sich im Novermber 1911 zum ersten Mal brieflich an George gewandt hatte, seit Februar 1912 von George bei Wolters und den Lichterfeldern eingeführt worden war. Als

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Briefwechsel 1912

ist in einem zwiespalt der mit der verblassung wenn nicht vernichtung seines ganzen daseins enden kann  … Und auch Gund. hier macht mir rechte sorge ∙ ich bin die tage hier bei ihm und so geht es ja schon besser: seine kraft „wegzukommen“ ist eben grösser.177 Geliebter was nun dich angeht wenn du von der „aufgabe“ sprichst178 so weisst Du dass man wol so redet aber dass das so wenig wie andres grosse plötzlich und auf bestellung kommt. Das muss sich finden  Ich bedaure dass jezt wo du so viel zeit hast ich nicht mehr mit Dir zusammen sein kann. was wir uns sind sagen sogar in dem höchst erschwerenden Berlin diese und jene abende deren auch du dich erinnern wirst. Mir fällt ein dass du dich doch wenigstens einmal unterrichten kannst wer das ist der den anständigen brief jüngst geschrieben. Vorläufig wünsch ich nicht dass Du dich darauf beziehst ∙ aber Du könntest wenigstens einmal nachforschen wer es etwa ist: er heisst Serz (ist das nicht polnisch?) und wohnt Auguststraße 47 (ziemlich wüste gegend ich glaube bei leuten nicht bei familie sodass über abkunft wenig zu erforschen sein wird. Immerhin probier es.179 Die folgende 6–8 tage bin ich noch bei Gundel Schlossberg 49. Erinnere die freunde an mich besonders Robert. Dein St.

101.  StG an EM Poststempel Bingen, 1. 4. 1912 Brief (Blättermarke Urnensignet) mit Umschlag nach Berlin W. Liebster Ernst: Eins muss sicher sein dass Du in diesem monat mit mir zusammentriffst. Wegen Holland würd ich jezt eher raten die reise unabhängig von mir zu machen. (vorher? nachher? je nachdem –– Und dann mit mir hier in B. oder in der nähe zu weilen wo wir zweifellos mehr von einander

katastrophisch wurde wohl die Tatsache angesehen, dass sich Blumenthal an ein in England gegebenes Eheversprechen und damit an die sechs Jahre ältere Engländerin Alice Hainsworth gebunden sah, die er in Folge am 3. 6. 1912 heiratete (BB). Nach eigener Darstellung hatte die Begegnung mit George eine tiefgreifende Wandlung bewirkt (Blumenthal an StG, 27. 5. 1912, StGA). 177 Friedrich Gundolf versuchte wohl, sich von Fine Sobotka zu lösen, die er liebte und – wie auch sein Freund Erich von Kahler – umwarb. Sie heiratete schließlich letzteren am 21. 11. 1912. 178 Vgl. Ernst Morwitz’ vorangehenden Brief vom 13. 2. 1912. 179 Laut Morwitz war an der angegebenen Adresse keine Information über den Briefschreiber zu erhalten (BB).

Briefwechsel 1912 153

haben als wenn Du im Haag bist + ich anderswo. Schreib mir also nur wann Du nach Bingen bezw. Frankfurt kommst damit ich für Dich da bin: ich habe auch an Königstein Co/Frankfurt gedacht wo ich schon oft im frühjahr mich aufgehalten .  .  .  . Holland bietet dies jahr für mich einige schwierigkeiten180 die ich Dir näher auseinander legen werde: Grüsse die U’s wenn sie da sind und sag bald dass + wann Du kommst. Ap. 12∙                      St. Ich dachte so 15ten od 16ten ?

102.  StG an EM

v. d. 1. 4. 1912 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst Was für dinge dies jahr! Das jähe end deines schwagers lag schon in der luft als du das lezte mal so verstört zu mir kamst!181 Ach Ernst ­einige dinge sehen noch nicht so tröstlich aus wie Du hoffst. Mit dem C. A. K. sind sehr böse geschicke …182 davon später. Das andre all ist auch noch keines wegs gelöst.* –– Um Ostern muss eine möglichkeit gefunden werden dass wir

180 Es dürfte sich um die Verschlechterung seines Verhältnisses zu Albert Verwey handeln. Im Sommer 1910 hatte Verwey zwei Tage in Bingen im Gespräch mit George verbracht. Die heftigen Diskussionen zeigten diametral entgegengesetzte Positionen bezüglich Kunst, Dichtung und Zeitgeist, Holland und Deutschland, sodass schon damals Verwey innerlich Abschied von George nahm. 181 Morwitz’ Schwager oder Neffe Eugen Heim war durch Selbsttötung aus dem Leben geschieden. 182 C. A. K. steht für Carl August Klein (1967–1952). Er besuchte dasselbe Darmstädter Gymnasium wie George, mit dem er sich aber erst während gemeinsamer Berliner Studiensemester 1889 befreundete. Als offizieller Herausgeber der Blätter für die Kunst (1892–1919) nicht entlohnt, versuchte er sich in mehreren Berufen, so als Lehrer, Rezitator, Schauspieler. Seit 1921 lebte er nachweislich mit seiner 1904 geehelichten Frau Mathilde in Hamburg, meist wohl in prekären Verhältnissen. Klein war über Jahre hinweg – zumindest bis 1904 – Georges engster Mitarbeiter und Propagator, er handelte und schrieb in dessen Auftrag, sich ergeben Georges Ansprüchen unterwerfend. Von all dem geben zahlreiche Zeugnisse, darunter allein mehr als 200 Briefe an George, Auskunft (StGA). 1935 erschienen im Verlag der Rabenpresse seine Erinnerungen unter dem Titel Die Sendung Stefan Georges. Dort veröffentlichte er neben zwei Aufnahmen von sich mit George auch drei Faksimile von an ihn gerichteten Briefen Georges.

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Briefwechsel 1912

uns sehen. Hoffentlich kann ich wird es mit Holland. Genau kann ich freilich noch nichts bestimmen! Wann kommen Deine J–s ?183 Wegen S. hättest Du einfach das studverz. nach sehen können das wohnung und herkunftsort enthält · vielleicht hat er schon semesterschluss gemacht ….184 Herzlichst St. *Der arme A. war gestern bei mir … Ach dass er ein jahr zu spät zu mir kam! Das verhängnis ist nicht mehr abzuhalten.185 Nun noch eine schererei lächerlicher art: eine unterlass-klage  · von den rechtsanwälten jenes ungezogenen jungen in D. wurd ich aufgefordert ein von ihm zum zweck einer widmungsunterschreibung unverlangt eingesandtes bild (reprod: des Stöving bilds) zurückzusenden.186 Tatbestand: die von ihm früher schon einmal gesandten bücher zum gleichen zweck (wobei er schon das erste mal unverschämt wurde) schickte ich an ­seinen vater zurück, ein sehr angesehener mann in D. Dann kam eine rolle ∙ (alles ohne vorherige anfrage) nach kaum weiteren 6 monaten mit der gleichen bitte. Damals schickte ich die rolle wieder an seinen vater auf dessen ausdrückliche bitte … Dann xxxx ⸢erklärte⸣ der bengel er habe noch einmal das Stoevingsche bild zum gleichen zweck geschickt – das wahrscheinlich (es war im vorjahr) im ofen liegt187 – auf das ich nichts mehr tat worauf er unverschämte briefe sandte  … und nun seine aufforderung durch die rechtsanwälte. Also irgend etwas müssen die doch wol klagbares finden, sonst hätten sie es nicht angenommen. Also frage a) auf was können sie klagen, da herausgabe unmöglich b) was ist im fall der annahme der klage der weg? c) wird klage erhoben eh ich darüber befragt bin d) muss ich selber zum termin oder muss ich rechtsanwalt nehmen? Wo? auf keinen fall kann ich dem lausbuben gegenüber stehen. Wird auf die blosse ⸢einseitige⸣ feststellung des klägers hin die klage erhoben? Motiv des J : Mich zu belästigen

183 Gemeint sind die Brüder Bernhard und Woldemar von Uxkull. 184 Vgl. Br. 100 vom 11. 3. 1912. Darin forderte George Morwitz auf, sich nach einem jungen Mann namens Serz zu erkundigen. 185 Vgl. ebenfalls Br. 100 vom 11. 3. 1912. 186 Der Darmstädter Wilhelm Walther hatte zuletzt am 15. 2. 1912 George mit gerichtlichen Schritten gedroht, falls er nicht umgehend die Reproduktion der Kohlezeichnung von Curt Stoeving aus dem Jahr 1897 an ihn zurückschicke (StGA). 187 Laut Morwitz benutzte George gerne unerwünschte Papiere, um die Öfen zu heizen (BB).

Briefwechsel 1912 155

Bis jezt hab ⸢ist⸣ nur das geschehn dass ich den anwälten schreiben liess: xxxxxxxxxxx

Ich wüsste nicht was etwaige unverlangte sendungen irgendwelches herrn mich irgendwie angingen.

103.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 9. 4. 1912 Brief mit Umschlag nach Bingen

9. IV 12. L. M.  Ich habe solang nicht geschrieben, da ich noch Nachrichten aus Holland abwarten wollte. Ich bin jedoch jetzt entschlossen, die Holland-Reise aufzugeben, vielleicht koennen wir sie zu einer anderen Zeit gemeinsam unternehmen. Zuerst moechte ich zu Dir nach Bingen kommen, von dort koen­nen wir ja ins Gebirge gehen – wenn Du Lust hast. Ich werde 10–14 Tage frei sein. Abzureisen gedenk ich am 20 April so dass ich Sonntag den 21 IV in Bingen waere Die Jungens sind hier, ich soll Dir Gruesse von Ihnen bestellen Alles andere muendlich. Den genauen Tag meiner Ankunft schreibe ich noch. Herzlichst Dein Ernst. Eben kam Vallentin und erzaehlte, dass Du doch die Reise nach Holland noch nicht ganz aufgegeben haettest. Du plantest aber auch eine Reise nach Heidelberg oder Darmstadt. Schreibe bitte darueber. Ich richte mich ganz nach Dir. Wenn wir nach Holland reisen sollten, werde ich nicht bei meinen Verwandten wohnen, dort ist zur Zeit kein Platz. Jedoch waere mir lieber, wir reisten jetzt nicht nach Holland. Eben bin ich bei E. M. u. da er gerade an Sie schrieb so grüße ich Sie. Ich will mich ebenfalls für die Grüße bedanken. W. Uxkull Vielen Dank für die Grüße. Mit herzlichem Gruß B. Uxkull. Ich komme noch mit einem Bittgesuch: E M. nennt mich immer „Spatz“, vielleicht könnten Sie es ihm verbieten. W U.

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104.  StG an EM

Briefwechsel 1912

Poststempel Bingen, 7. 5. 1912 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

188 Eben aus Darmst zurück … dieser brief kam noch – mit herzl. gedenken Dein St. Was macht die S – e ? Wie war es in I ? D ∙ M ∙ L ∙ D ∙ S ∙189

Einen brief von V. in der Übertrag-sache ⸢mit ihm persönl erledig⸣ von der Du

105.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 8. 5. 1912 Brief mit Umschlag nach Bingen Berlin 8. Mai 1912

Geliebter Meister: Die Trennung von Dir fiel mir sehr schwer, denn ich bekomme jetzt ein furchtbares Gefuehl fuer den Ablauf der Zeit.190 Aber Deine Worte, von dem was war und was ist, haben mir geholfen und, kaum von Dir entfernt, spinne ich Plaene fuer ein neues baldiges Zusammensein. Du stattest mich jedesmal mit neuer Lebenskraft aus und ich habe nur Furcht, nicht die Hoffnungen erfuellen zu koennen, die Du auf mich setzt. Wie wundervoll waren diese Tage, wie gluecklich bin ich, wenn ich an Dich denke. Von Dank spreche ich schon garnicht mehr! Auch Ilfeld191 war unglaublich schoen. Es scheint mir am schoensten von allen Harzorten zu liegen – am besten ist es wohl mit Koenigstein zu vergleichen. Ein Dorf – das einzige grosse Gebaeude ist das Internat. Die Schueler – zum groessten Teil deutscher Adel  – sehen fuerchterlich und hoffnungslos 188 Adressiert ist der Umschlag an „Herrn Ernst Morwitz / bei Herrn Stefan George / Bingen /am Rhein“. 189 Steht für „Der Meister liebt die Seele“ oder „Der Meister liebt dich sehr“. 190 George hatte Ende April einige Zeit mit Morwitz und Thormaehlen in Königstein im Taunus verbracht. 191 Internatsort im Harz, wo sich Morwitz mehrfach zum Besuch der Brüder von Uxkull aufhielt; auch George verbrachte später dort mehrere Tage mit den Brüdern.

Briefwechsel 1912 157

aus. Aber die U’s sind ein Wunder. Am Sonnabend kamen sie Nachmittags zu mir, jeder brachte seinen Primaner mit und es war ruehrend, diese zwei Paare neben einander zu sehen. Der W. ist wegen seiner Tiefe und Ernsthaftigkeit unglaublich  Noch immer setze ich alle Hoffnungen auf ihn – denn als wir allein am Sonntag den Weg auf den Brocken machten – hat er wieder die unglaublichsten Sachen gesagt. Ich habe auch gemerkt, dass er keineswegs meinen Gegensatz verkoerpert  – sondern mir beinahe zu gleich ist. Wie es auch werden mag, schon das was ich hierbei getan habe ist eine Erfuellung – denn es ist eine wirkliche Tat – auf die Folgen kommt es nicht mehr viel an. Der Harz war noch kalt, das Obst bluehte erst – aber Ilfeld wuerde auch Dir sehr gut gefallen. Der Wald ist ebenso nah wie in Koenigstein und das Gebirge schliesst den Ort ein, laesst nur ein kleines Stueck ⸢Ebene⸣ frei, ueber der man am Abend den Kyfhaeuser sieht.192 Der Ort war voellig menschenleer, das kleine Hotel sehr gut. Der Director der Anstalt ist sehr liebenswuerdig, aber dumm. Gelernt wird dort scheinbar wenig, aber die Kinder fuehlen sich gluecklich und wachsen in der wundervollen Luft. Wenn ich heut unterginge, waere vielleicht schon meine Aufgabe erfuellt – mein einziger Wunsch waere dann, dass Du die Kinder im Auge behieltest. Von den Freunden habe ich noch keinen gesehen. Die Ankunft in Berlin war schauderhaft – ich glaubte ersticken zu muessen – so schlecht schien mir die Luft hier noch nie. Dir wuensche ich guten Fortgang der Arbeit. Bald hoffe ich verschiedenes schicken zu koennen. Mein Herz haengt an Dir Dein Ernst Dank fuer den Brief – schreibe bald wieder einmal!

192 In einer Höhle des Kyffhäuser Gebirges südöstlich vom Harz schläft der Sage nach Kaiser Friedrich I. Barbarossa mit seinen Getreuen. Eines Tages soll er erwachen, um das Reich zu retten. Diese Mythe war selbstverständlich Schreiber und Adressat bestens bekannt.

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106.  EM an StG

Briefwechsel 1912

12. 5. 1912 Brief ohne Umschlag 12. V 12

Diesen Montagsgruss geliebter Meister – Ich wachse noch von der Nahrung dieser Tage bei Dir: Wann wird diese raeumliche Trennung – diese hemmende Sehnsucht – wieder aufgehoben sein? Zu Hause ist alles ruhig und glatt. Robert sah ich gestern – es scheint ihm ganz gut zu gehen, er ist auch innerlich ziemlich zufrieden. Heute werde ich zu Vall. gehen. Der Hans B. 193 war in Paris bei Rodin.194 Nach vieler Muehe ist er vorgelassen worden. R. hat ihn – wie er sagt – mit einem Geierblick ein einzigesmal angesehn, dann darueber geklagt dass er trotz seines Alters noch so viel zu arbeiten habe. Nach Meudon lasse er jetzt keinen Menschen mehr – er sei zu alt. Dann aber sei er sichtlich befriedigt gewesen, als der Hans kein Anliegen an ihn hatte, und habe ihn aufgefordert, ihn auf dem Heimwege zu begleiten. Unterwegs staendige Klagen ueber zu viel Arbeit. Der Freund L. arbeitet – liest wenigstens viele Buecher. Ob etwas dabei herauskommen wird, erscheint bei der Laenge der schon verstrichenen Zeit zweifelhaft. Dein Dich liebender Ernst Gruesse an Gundolf, dem ich bald schreibe, auch an den Ludwig , von dem Robert und ich begeistert sind und fuer dessen Naehe in den schoenen Tagen ich Dir noch immer Dank schulde. Er verkoerpert einen Reichtum, an dessen Dasein man nicht glauben wuerde, wenn er nicht lebte Immer der alte

193 Hans Brasch (1892–1950) studierte 1912 in Berlin Maschinenbau und war seit 1910 mit Ernst Morwitz befreundet. Er promovierte und habilitierte sich in seinem Fach und wurde schließlich Professor an der Technischen Hochschule in Berlin. Jüdischer Herkunft, emigrierte er schon 1933 über England nach Alexandria und schließlich 1939 nach Melbourne. George, mit dem er mehrmals auch längere Zeit verbachte, so 1914 in Camogli, schilderte er als Menschen, den „ganz einfache, warme und schlichte luft“ umgeben habe und „ganz klar nüchterne, fast harte umgebung und stimmung“ (vgl. Anm. 339). Nach dem Ersten Weltkrieg kühlte das Verhältnis ab, und er sah nach seinem Weggang aus Berlin im Jahr 1921 George nie wieder. Verbunden blieb er aber auch nach seiner Emigration mit Robert Boehringer, Kurt Singer und Karl Wolfskehl. 194 Zu Rodin vgl. Anm. 49 über Georges Besuch im Jahr 1908.

Briefwechsel 1912 159

107.  StG an EM

Poststempel Heidelberg, 22. 5. 1912 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebster ich habe mich sehr über Deinen lezten brief gefreut und wünsche dass alles mit I* sich so schön wie du hoffst erfüllen möge. Hüte dich nur jezt schon zu viel hinein zu sehen das „eigentliche“ kann nämlich naturgemäss jezt noch gar nicht gesehen werden … Und doch das bis jezt erreichte ist schon viel .  . Über die wundervollen tage in meiner gegend mit Dir hab ich noch nachgedacht und das frische frühlingshafte dieser zeit wirkt noch woltätig nach. Mir fiel noch etwas ein ein langes gespräch betreffend wo ich bei erwähnung „der fehlenden glieder einer kette“ bedenkend abbrach. Ich wage auch jezt noch nicht damit heraus am wenigsten gern auf papier ∙ aber du wirst aus dem angedeuteten selber weiterkommen: 1) Der anfang aller kultur (inbegr [sic] ∙ kunst) ist der HEROS ∙ (möglichkeit seiner entstehung) 2) Die erhaltung des lebens (der formierten natur wie in den Blättern steht) geschieht nicht durchs natürliche „gehen lassen“ ∙ sondern durch MAGIE ZWEITES STÜCK Seele dieser brief wurde schon in B. abgefasst dann mit nach Heidelberg genommen wo ich vorl. noch bei Gund wohne  ∙ in diesen tagen aber die sehr schönen neuen räume in der stadt bei Sz beziehe.195 Du wirst ein wunder sehen  ∙ wenn Du einmal kommst. Neues Hauptlager. Von dem vielen was ich inzwischen fragen wollte nur dies: ob Du den neu-erschienenen band philol. von Nietzsche gelesen hast.196 Robert findet darin eine grosse stoffansammlung für lesen und Rhytmus. Ein zweites: Ob du deinen j–s nicht den Plutarch schenken sollst ∙ da der eine doch für geschichte sinn hat.197 Was meinst Du? Denn so deutlich ist nirgendswo in einem hist. werk grösse zu spüren. Hier leg ich für euch zwei bilder bei  Hilsd. hat von diesen in der hohen zeit Münchens gemachten aufnahmen gute abzüge gefertigt. Das eine im „Häuschen“ am schreibtisch für Robert ∙ das zweite für dich wegen des

195 Arthur Salz bezog damals mit seiner Frau eine Wohnung in der Karlstraße  2; vgl. Anm. 170. 196 1912 erschien Elisabeth Förster-Nietzsches Der junge Nietzsche bei Kröner in Leipzig. Robert Boehringer war damals vor allem mit seinen Studien zum „Hersagen“ von Gedichten beschäftigt. Sein Aufsatz zum Thema war aber schon 1911 im zweiten Jahrgang des Jahrbuchs für die geistige Bewegung gedruckt worden. 197 Von den Brüdern von Uxkull war wahrscheinlich schon damals der spätere Althistoriker Woldemar der geschichtsaffine.

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Briefwechsel 1912

unsäglich schönen kopfes198 … Ach Seele wer das für Ihn schönste gesehen hat dem haben die Götter das grösste geschenk gegeben!! Ganz Dein St. Heidelb. Sonntag. Zum arbeiten bin ich bereits in der neuen wohnung.

108.  EM an StG Poststempel Berlin W, 26. 5. 1912 Brief mit Umschlag nach Heidelberg, bei Dr. Friedrich Gundolf Pfingsten 1912 Geliebter Meister: Ich bin sehr stolz, dass Du mich dieses wundervollen Bildes wuerdig haeltst.199 Von dem Einzigen, was wichtig ist, glaube ich immer mehr zu verstehen, nicht durch Denken allein sondern auch durch das Auge. „Weise ist wer von Natur weiss“ fand ich neulich im Pindar!200 Wir haben die

198 Wohl der Binger Fotograf Jacob Hilsdorf und nicht der Münchner Theodor Hilsdorf (1868–1944), von welchem nur späte Aufnahmen Georges (1928) überliefert sind. Das erwähnte Foto „am schreibtisch“ ist bis heute nicht bekannt geworden. Mit dem „Häuschen“ wiederum wird jenes Haus im Garten gemeint sein, in welchem George zu Zeiten der Begegnungen mit Maximilian Kronberger (1888–1904) mehrfach wohnte (Dependance der Pension Fürmann in Schwabing) und von dem Kronberger in seinem Tagebuch einen Grundriss überliefert hat (StGA). Dieser Kontext lässt vermuten, dass es sich bei der zweiten Aufnahme um eines der bekannten Fotos von Maximilian Kronberger handelt, die in der „hohen zeit Münchens“, die Tage und Wochen zwischen der ersten Begegnung Georges mit ihm im Februar 1902 und dessen Tod am 15.  April 1904, gemacht worden waren. George hatte Maximilian Kron­ berger auf der Straße angesprochen. Kronberger selbst berichtet davon: „Vor einiger Zeit habe ich die Bekanntschaft mit dem Dichter Stefan George gemacht. […] dieser Herr fand meinen Kopf so interessant, dass er ihn erst zeichnen wollte, dann ließ er mich fotografieren.“ (Brief an Oskar Dietrich, 6. 6. 1902, MKG, S. 13). ­Fotograf war wohl der in München ansässige Richard Ferdinand Schmitz, und Hilsdorf hatte ­weitere Abzüge gefertigt. 199 Wohl das fotografische Bildnis Maximilian Kronbergers, das George im Brief geschickt hatte. 200 Dass Morwitz in der Lage war, Pindar in der Originalsprache zu lesen, ist als sicher anzunehmen, da er in Danzig und Charlottenburg altsprachliche Gymnasien besucht hatte. In der neunten Folge der Blätter für die Kunst von 1910 konnte er zudem

Briefwechsel 1912 161

Luft fuer den Heros zu schaffen, du hast ihn zu weihen – da faengt die Kette an und jener Lebenskreis, der sich von allen heut bestehenden unterscheidet! Ich lese viel griechische Geschichte und fange an, die Tatsachen zu behalten. Dazu nahm ich die Nekyia von Dieterich.201 Ein schönes Buch – aber fuer uns ist die Jenseitsreligion der Griechen sehr unwichtig. Erstens war sie nicht dem Volk eingeboren  – sondern ist bezeichnender Weise von Unteritalien nach Griechenland gekommen und entsprach schon einer „religioesen Sehnsucht der Zeit“. Die Mysterien in der Urform koennen sich nicht auf sie bezogen haben. Gerade der Volksglaube sucht die Erfuellung im Diesseits – das hat die Griechen so gross gemacht. Der Jenseitsglaube ist Zersetzungserscheinung – Plato sucht zu retten, indem er den Jenseitsglauben an den alten, volkstuemlichen Kult anknuepft, um ihn konkret und sichtbar zu machen. Bei Plato waere also – wie ich immer fester glaube – eine Verbindung der beiden ganz entgegengesetzten Kulte zu finden – eine Verbindung von Seele und Leib, die nicht mehr wie das urspruengliche Griechentum (die Heroensagen!) auf dieser Erde besteht sondern im Jenseits – also Christentum.202 Robert ist verreist. Die Kinder sind hier – den Plutarch203 habe ich ihnen schon vor einem Jahr geschenkt. Es ist sehr schwer, aus ihnen klug zu werden. Auf Stunden der reinsten Freude folgen fuerchterliche Depressionen. Werde ich stark genug um alle die Gegeneinfluesse zu ueberwinden? Soll ich zu Bondi ins Buero gehen? – sonst werde ich ihn kaum sehen, da ich nicht mehr eingeladen werde.

­ indarübertragungen Hölderlins, von Norbert von Hellingrath eingeleitet, kennen P lernen. Vgl. auch Br.  89, in dem Morwitz von seiner Griechisch-Nachhilfe für die Brüder von Uxkull berichtet. 201 Der klassische Philologe und Religionswissenschaftler Albrecht Dieterich (1866– 1908) lehrte von 1903 bis zu seinem Tode in Heidelberg. Sein Buch Nekyia. Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalypse war 1893 in Leipzig erschienen. 202 In dieser Zeit begann die intensive und breite Beschäftigung mit Platon im Kreis um George. Als erstes Ergebnis erschien 1914 Heinrich Friedemanns Studie Platon. Seine Gestalt im Verlag der Blätter für die Kunst. Schriften von Edgar Salin, Kurt Singer und Kurt Hildebrandt folgten, ebenso Übersetzungen und Robert Boehringers Studien über Platon-Bildnisse. 203 Unter Georges nachgelassenen Büchern befindet sich das dritte Bändchen der Reclamausgabe von Plutarchs Vergleichende Lebensbeschreibungen, neu übersetzt von Johann F. S. Kaltwasser [1887], aber auch ein Band Moralische Schriften einer Metzlerschen Werkausgabe von 1860. Woldemar von Uxkull promovierte noch 1927 über Plutarch und die griechische Biographie. Studien zu Plutarchischen Lebensbeschreibungen des fünften Jahrhunderts. Morwitz’ Erziehung hatte daran vermutlich mitgewirkt.

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Briefwechsel 1912

Wer weiss, was der Sommer bringt. Ich freue mich, dass es Dir im neuen Heidelberger Quartier wohl ist.204 Steht in dem Nietzsche205 Wichtiges – oder nur Stoff fuer Robert? Viele Gruesse an Gundolf und Ludwig . Alles Gute fuer Dich und guten Fortgang der Arbeit  Dein Ernst.

109.  EM an StG

8. 6. 1912 Brief ohne Umschlag

Berlin 8. Juni 1912 Liebster Meister: Es ist seit einigen Tagen laehmend heiss hier und ich muss mich zwingen in die dicken griechischen Philologenbuecher, die vor mir aufgestapelt sind, hineinzusehen. Dafuer weiss ich jetzt aber, dass auch sie keine Quelle verborgener Weisheit sind, und dass man die Griechen auch ohne die spaerlichen Zitate zu kennen gut begreifen kann. Es ist sehr schoen, dass man sowenig philologisch festes weiss – alles sind Vermutungen – denn „kleine Zuege“ haben die Griechen zum Glueck nicht aufgezeichnet und die von den Gelehrten unsrer Zeit so geliebte Zurueckfuehrung der Sage auf „Menschliches“ ist nur dann moeglich und ergiebig wenn die Zurueckfuehrenden menschlich ebenso gross sind wie jene die die Sagen schufen. Wie niedrig aber die Griechenphilologen – bis auf wenige aeltere (O. Mueller z.  B.)206 denken, sieht man am besten aus ihren kritisierenden Nebensaetzen, in denen sie die ihnen unverstaendlichen Seiten der Griechen beklagen zu muessen glauben. Der Entwicklung der griechischen Geschichte stehen sie alle hilflos gegenueber – denn seit der Roemerzeit kennzeichnet sich jede Geschichte als einheitliches Streben nach aeusserer Ausbreitung und diese Tendenz laesst sich leicht als Disposition fuer dicke Buecher verwenden, bei den Griechen aber kann man nicht so leicht auf den Mittelpunkt kommen – deshalb die Flickbuecher, denn – wie gesagt – sie wissen und ahnen vom eigentlichen nichts.

204 Der Brief ist noch adressiert an die Unterkunft Friedrich Gundolfs, die Pension Neuer am Schlossberg 49. 205 Vgl. Anm. 196. 206 Dieser „aeltere“ könnte Karl Otfried Müller (1797–1840) sein. Von ihm lagen u.  a. zwei umfangreiche Publikationen vor, die Morwitz zu Rate gezogen haben könnte: Geschichte der griechischen Literatur bis auf das Zeitalter Alexanders, 2  Bände, Breslau 1841 und Geschichten hellenischer Stämme und Städte, 3  Bände, Breslau 1820–1840.

Briefwechsel 1912 163

Kurz: das Lesen auf diesem Gebiet gibt hoechstens Bestaetigungen, niemals neues Wissen und ich bedaure nicht mehr, nicht beim alte Philologie gelernt zu haben. Hiermit schliesse ich diese gelehrte Auseinandersetzung. Wichtiger und schoener ist, dass der Wenghoefer207, waehrend ich bei Dir war, mich hier in Berlin aufgesucht hat. Da er sich sonst nirgends hat sehen lassen, bin ich sehr stolz. Ich schicke Dir auch heut den Aufsatz zurueck.208 Die Gesinnung ist aller Achtung wert und die Naivitaet entzueckend. Fuer den Sommer suche ich alles in die rechte Bahn zu bringen. Genaueres mag ich aber nicht schreiben bis etwas feststeht. Ich hoffe bestimmt, dass Du die Sommerreise voellig nach getaner Arbeit wirst antreten koennen. Von mir habe ich nichts hinzuzufuegen ausser dass ich Dich liebe, an Dich denke und und [sic] Dich von ganzem Herzen gruesse Dein Ernst. Gruesse an Gundolf. Neulich schrieb ich in schwerer Arbeit Vallentins DanteRezension ab. Was soll damit geschehn?209 Bitte schreib mir recht bald.

110.  StG an EM

Poststempel Heidelberg 12. 6. 1912 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebster Ernst: ich habe dir noch für Deinen langen Pfingstbrief zu danken und ich beginne mit dem schönsten: Ludwig war wieder acht tage bei mir und jedes neue mal muss ich ihn mehr lieben und bewundern. Für uns ist er so sehr wichtig da es unser erster nicht „durchaus dichteri-

207 George war zuletzt zusammen mit Walter Wenghöfer (1877–1918) und Ernst Morwitz zu einem Kurzaufenthalt in Tangermünde gewesen. Wenghöfer lebte in Magdeburg. Er hatte in Jena 1907 mit einer Arbeit über Jean Paul promoviert, blieb jedoch bis an sein selbst gesetztes Lebensende 1918 ohne bürgerlichen Beruf. George widmete ihm Verse im Siebenten Ring, emphatisch an den Dichter Wenghöfer gerichtet („Einem Dichter“, SW VI/VII, S. 172). 208 Sachverhalt unbekannt. 209 Eine Rezension der Dante-Übertragungen Georges von Berthold Vallentin ist nicht überliefert. 1910 war in den Grenzboten ein Aufsatz Vallentins zur „Übersetzungskunst der Gegenwart“ erschienen (69/1910, 12, S. 552–555), der George als Übersetzer vor allem von William Shakespeare pries.

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Briefwechsel 1912

scher“ mensch ist210 – und doch ein im höchsten sinn Ergriffener .  . So klug ist er ist ∙ ist er einfach und selbstverständlich und nimmt sich und giebt (bei aller verehrung!) so jungenhaft zugreifend wie es seine natur verlangt … Ach Ernst dass es solche menschen giebt wo nichts fehlt und dass man sie in den armen hält!! Beim nächsten mal hab ich Dir von einer reihe „neuer“ menschen zu sprechen teils schüler Gundolfs teils solche ⸢die⸣ wegen mir herkamen.211 Nichts erster art – aber doch auch nicht unwichtig … Einen schatten von trauer warf auch der jüngst ermordete student · er war doch dem bild wie der beschreibung nach sehr schön ∙ für dich vielleicht zu weich aber äusserst zugehörig und merkwürdig – und das hat 10 schritte von Gund. entfernt gewohnt + wurde nie gesichtet!! Ludwig II v. Baiern ähnlich.212 Gestern kam auch nach langem zwischenraum der kleine Blonde mir wieder vor augen.213 Freudig und frech sprang er beim baden auf mich zu und legte sich zu mir! Nachmittags besuchte er mich dann in meiner wohnung und brachte eine [sic] grossen aus seinem garten geschnittenen rosenstrauss mit. Fehlt auch das erwartete: man muss ihn doch gern haben. Der besprochene band enthält nur als bemerkenswertes die kapitel über Ryth. vielleicht nimmt sich R∙ daher viel stoff wenn er es versteht – sehr viel anknüpfungen an musik – doch scheint mir das endergebnis sehr wenig zufriedenstellend: es war so kann aber auch so gewesen sein! Auf R’s anfrage wegen der Schweiz kann ich noch nichts bestimmtes mitteilen · er soll nur ganz unabhängig seinen freunden zusagen – und uns dann wenn wir festsitzen besuchen! Was ist genau wenn Du kommst Dein ankunftstermin? Ich hoffe doch sehr auf einen gemeinschaftl. sommerzusammensein. Wegen Bondi nahm ich als selbstverständl an dass Du ihn einmal aufsuchst wenn Du ihm nicht so begegnest ∙ nur nimm Dir dann Gundolfs brief vor dass du nicht aus eignen gemütstiefen sondern nach genauer weisung dich des auftrags entledigst. …

210 Die Formulierung bezeichnet nicht Menschen mit dichterischer Begabung, sondern, auch laut Morwitz, Menschen im „Besitz von Traumfähigkeit“ (BB). 211 George besuchte während dieses Sommersemesters 1912 häufig die Vorlesungen Friedrich Gundolfs in Heidelberg, lernte dort Schüler und Kollegen von ihm genauer kennen, darunter Ernst Robert Curtius, Friedrich Sieburg oder Dieter Bassermann. Letzterer entzog sich Georges ausdrücklichem Interesse und wurde prominenter RilkeForscher. 212 Sachverhalt unbekannt. 213 Es könnte Percy Gothein im Heidelberger Neckarbad gemeint sein, der allerdings weniger „klein“ als 16 Jahre jung war.

Briefwechsel 1912 165

Ich dacht etwa bis ende Juni in H. zu bleiben  ∙ dann einige tage München dann Schweiz ∙ Eben erhalt ich noch vorm zukleben Deinen zweiten brief. Die gelehrten untersuchungen werden viel stoff zu schönen reden geben … die hauptsache ist aber dass d. M dich liebt + küsst Dein St. Heidelberg im juni.     Karlstrasse 2 Für R noch wichtig in Schlegel fragmenten (ed. Minor) No 380: Vorlesen + Declamieren !!

111.  EM an StG

20. 6. 1912 Brief ohne Umschlag

Berlin 20. Juni 1912 Geliebter Meister: Bei Euch in Heidelberg muss es jetzt herrlich sein – schon wenn ich an das Bad denke, werde ich neidisch. Dazu der Ludwig , der das Bild einer reinen und verheissenden Jugend ist und den jeder lieben und bewundern muss! Von einem der neuen Menschen zeigte mir Wolters neulich Gedichte, die gar nicht uebel waren. Die Auftraege an Robert , der sich besser fuehlt, sind ausgerichtet. Von Bondi sende ich den Entwurf eines Schreibens ein. Kleine Aenderungen will er zulassen. Er bittet aber, ihm genau die Auflage und den Verleger des Kuerschner mitzuteilen und vor allem sofort Bescheid zu geben, da er Ende der nächsten Woche nach Skandinavien reist und nach seiner Rueckkehr die neue Auflage des Kuerschner schon gedruckt waere.214 Ich hoffe, dass meine Schweizer Reise moeglich wird. Aus verschiedenen Gruenden, die ich Dir erzaehlen werde, kann ich aber erst von 1 August bis 1 September reisen. Das Genauere hierueber schreib ich noch. Du bist doch den August ueber in der Schweiz? Sonst reise ich natuerlich nicht! Mit den griechischen Buechern bin ich bald am Ende. Wissender bin ich dadurch nicht geworden. 214 Kürschners deutscher Literaturkalender auf das Jahr 1912 enthält einen kurzen Eintrag zu Stefan George. Dort sind alle bislang erschienenen Werke aufgeführt, aber es steht auch, eingeklammert, „eigtl. Heinr. Abeles“. Möglicherweise sollte dieser unsinnnige Zusatz gelöscht werden.

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Briefwechsel 1912

Die Hauptsache ist dass man von d. M. geliebt wird und ihn liebt Dein Ernst Der W. U. hat eine roemische Geschichte angefangen, mit der Erklaerung, die griechische sei noch zu schwierig. Mit dem Vater hatte ich ein gutes Gespraech in der Reitbahn. Freund L. schreibt nun trotz des vielen Studierens doch nichts. Er ist viel stumpfer geworden. Es freut mich sehr, dass der kleine Heidelberger noch zugehoerig ist.215 Von der Studentensache, die Du erwaehntest, hat hier niemand etwas gehoert. Ist die Arbeit vollendet?

112.  StG an EM

v. d. 29. 6. 1912 Brief mit Umschlag (Blättermarke Urnensignet)

Teuerster Ernst : ich hatte wie Du siehst schon einen brief für dich fertig dessen rissstück216  ich zur bestätigung beilege. Ich war durch den besuch unsres „Neuen“ ziemlich erschüttert – erwarte mir für die nächsten jahre das beste von ihm.217 D. M. war erfreut dass er es in Deiner gunst so weit gebracht hat dass du ihn mit rauch-ware beschenkst … (Sie war sehr gut!) Ernst liebster! ich schreibe Dir bald mit mehr vernunft. Dein St. Morgen bin ich noch in Heidelberg dann voraussichtlich wieder Bingen. Ich kann es kaum erwarten bis ich Dich wieder spreche.

Sollte man nur in der fülle kommen nicht in der bedrängnis. So überreicht er dir heute in der hoffnung dass bald besseres kommt ein „Flammendes Herz“.218 215 Vgl. Anm. 213. 216 Laut Morwitz schrieb George häufiger Briefe und ließ sie ein zwei Tage liegen, um sie bei der Relektüre zu korrigieren, zu fragmentieren oder unverändert abzuschicken (BB). 217 Es könnte hier Percy Gothein gemeint sein. 218 Dem Brief liegt neben dem „rissstück“ des Vorgängerbriefes eine mitsamt Stengel getrocknete Blüte bei, das „Flammende Herz“.

Briefwechsel 1912 167

113.  StG an EM

Poststempel München, 29. 6. 1912 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Seele ich bin wieder in München wo freundespflichten mich vorläufig noch an der abreise nach der Schweiz hindern. Seele nimm Dich in acht: es ist für uns alle ein glut-jahr! Ludwig ist in Strassburg und wird kaum abkommen können  .  . Mit diesem Herrlichen war ich auf einem pflichtgang den auch Du einmal mit mir antreten musst: Der besuch eines Heldengrabes in T. 219 auf eine heraufdringende stimme hin: „Daran an diesem Ideale dieser verjüngten Gottheit erkennen die wenigen sich ∙ und eins sind sie ∙ denn es ist eins in ihnen · und von diesen ∙ diesen beginnt das Zweite Lebensalter der Welt … Die Liebe gebar die welt ∙ die Freundschaft wird sie wiedergebären … O dann ihr Künftigen ∙ ihr neuen Dioskuren, dann weilt ein wenig wenn ihr vorüber kommt ∙ dort wo Hyperion schläft, weilt ahnend über des vergessnen mannes asche und sprecht: er wäre wie unser einer ∙ wär er jezt da! .  .  .  .“ Diese worte sagten wir über seinem grabe – Sind die nicht das ungeheuerlichste? .  .  .  .  .  .220 Seele ich denke dass ich in etwa 8 tagen mit dem kleinen Ernst in die Schweiz gehe. Ich dachte auch den Karl mitzunehmen der in einem durchaus bedenklichen zustand ist … Ich bin allein mit ihm hier, und möchte ihn ungern ⸢ganz⸣ allein lassen. ich sage Dir noch wo wir hingehen. Ich hoffe sehr dass auch Du kommst ∙ und Robert auch. Du fragst: IST DIE ARBEIT FERTIG?“ liebster misgönne nicht dass ich die ganze zeit mehr lebte als arbeitete und im ernste: einige der kreise kann ich nicht abschliessen weil ich lebendig noch zu sehr in ihnen hänge. Aber langsam schreitet es doch vor.         Erinnere mich bei allen! Dein St.

219 Das Grab Friedrich Hölderlins auf dem Tübinger Stadtfriedhof. 220 George zitiert aus Hölderlins Hyperion Worte der Diotima (Hell. II, S.  165). Verkürzt und an bedeutender Stelle verändert, zitiert er eben diese Rede in seinem dreiteiligen Gedicht „Hyperion“ Teil III (SW IX, S. 11–14): „MIT DIESEN KOMMT DAS ZWEITE ALTER ∙ LIEBE / GEBAR DIE WELT ∙ LIEBE GEBIERT SIE NEU.“

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114.  EM an StG

Briefwechsel 1912

2. 7. 1912 Brief ohne Umschlag

Berlin 2. Juli 1912 Geisbergstr. 11. Mein lieber Meister: Herzlichen Dank fuer Dein Schreiben. Die Worte sind unerhoert und so prophetisch, dass man schaudern muss. Ich habe es auch wieder sehr noetig mit Dir zusammen zu sein. Die Reise sichere ich so gut es geht. Fraglich scheint mir noch, ob meine Mutter mitkommt oder ob ich allein reise, Termin: 1 August. Es waere schoen, wenn Wolfskehl mitreiste. Gern wuerde auch ich ihn etwas naeher kennen lernen. Ich bin jetzt endgueltig militaerfrei. Seit dem 1 Juli wohne ich Geisbergstr 11 und habe die Achenbachstr. aufgeben muessen. Das ist die hoffentliche letzte und nicht lang dauernde Folge jenes Confliktes, der mir schon so viel zu schaffen gemacht hat. Muendlich mehr darueber! Eine sehr betruebende Nachricht: Durch Dritte habe ich erfahren, dass der kleine R. 221 in Jena auf dem Wege ist, wahnsinnig zu werden. Er kann keine Menschen sehen und legt sich tagelang ins Bett. Dazu kommt, dass die Eltern seine Nase haben operieren lassen, um sein Aussehn zu verchristlichen und er jetzt staen­ dig unter dieser fremden Nase leiden soll. Ist nicht etwas zu tun? Er tut mir unsaeglich leid! Verschiedenemal habe ich einen Brief angefangen, fuerchte aber, die Sache vielleicht zu verschlimmern. Bitte denke doch darueber nach, es ist entsetzlich. Ich bin froh, dass der Ludwig so herrlich ist. Wahrhaftig, es ist besser, Du arbeitest vorlaeufig nicht und lebst mit dem Lebendigen! Gruesse von Vallentins und Robert . Diana 222 reist heut nach Soden an der Werra, dann spaeter in die Schweiz und hofft Dich dort zu sehen.

221 Vgl. Anm. 17. 222 Diana Vallentin, geb. Feiga Rabinovicz (1877–1933), seit 1908 mit Berthold Val­ lentin verheiratet, war zuvor unter verschiedenen Künstlernamen wie Diana Tassis oder Fanny Ritter als Schauspielerin tätig. Bei Aufführungen im Lichterfelder Kreis sowie später an anderen Orten übte sie mit den Freunden Georges die Sprechrollen ein. Seit ihrer Verehelichung 1908 war George häufig Gast in ihrem Hause, wo eine Zeit lang auch Lesungen stattfanden, bei denen sie ebenso wie Erika Schwartzkopff, die spätere Frau Wolters, noch aktiv teilnehmen konnten. In späteren Jahren war George manchmal monatelang Gast im Spremberger oder Berliner Haus des Ehepaars Vallentin. Ihren einzigen Sohn nannte das Ehepaar „Stefan“. Noch in Minusio bewahrte George dem Paar ein freundliches Angedenken. Vallentins Aufzeichnungen der Gespräche mit Stefan George (1902–1931) vermitteln ein lebhaftes Bild seines

Briefwechsel 1912 169

Von Robert wirst Du selbst hoeren. Heut kommen die Kinder nach Berlin. Ich weiss aber nicht ob ich sie sprechen werde, da sie vielleicht schon morgen ins Bad (Schweiz?) reisen. Ewig Dein Ernst.

Euch die ihr liebt ist dieses Lied geweiht! Euch die Weisheit aus der Liebe schoepft Euch die bald Sterne kuehn vom Himmel holen Bald sterbensmatt im Abendmeer vergehn Euch ruf ich auf – zum Abschied selbst bereit Und doch noch einmal an das Licht geworfen! Wer traegt so stolz so frei wie ihr das Haupt: Was ihr in Traeumen suchtet lebt hier unten So nah und ⸢so⸣ schoen nach eurem Bild gestaltet! Nehmt eure Gueter, widmet sie dem Erben Der nach euch kommt und groesser wird als ihr! Gleich Blitzen flammt ihr auf bestimmt zu zuenden. Ihr schlaft noch einig mit der heiligen Erde Versponnen unberuehrt von Jagd und Jahr. Nur Liebe voller Jubel voller Trauer Treibt euch zur Sonne wach mit klarem Auge Und ploetzlich schaut ihr in ein Zauberland Wie durch zerteilte Nebel hoch vom Bergjoch. Qualvolle Fragen: wohin fuehrt der Weg? Verlassen uns nicht morgen schon die Liebsten Und sind sie wert uns restlos hinzunehmen? Wir Toren! mahnt nicht oft ⸢doch⸣ der Gott in uns: Dass ihr noch leiden koennt ist euer Heil Und was ihr liebt, ist gut und gleicht euch immer.

Verhältnisses zu dem Ehepaar. Kurz vor dem Tod ihres seit 1932 durch einen Schlaganfall gelähmten Mannes nahm sie sich, von der Pflege ermattet und vom Judenhass verfolgt, das Leben.

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115.  StG an EM

Briefwechsel 1912

Poststempel Isenfluh, 10. 7. 1912 Postkarte nach Berlin W.

L. E: wir sind nicht in St∙ sondern in dem nah gelegnen Isenfluh. Es ist etwas unzugänglicher aber deshalb auch ‚abseitiger‘ in jeder beziehung. Wie schad dass wir dich nicht bald erwarten dürfen – wie’s am 1. aug aussieht und ob wir dann noch dort sind steht noch in frage. Was macht R. und die V’s?* .  . Ich freue mich sehr dass Du von den Pr. losgekommen ∙223 wegen des kleinen R. weiss ich keinen rat ∙ so leid es mir tut.224 Früher war ihm vielleicht zu helfen gewesen Dank für das ged. Ich schreibe bald mehr  Dein St

*)würde mich sehr freuen wenn sie sich meldeten.

116.  EM an StG

13. 7. 1912 Brief ohne Umschlag Berlin den 13 Juli 1912 Geisbergstr 11

Geliebter Meister: Ihr seid nun wohlbehalten in der Schweiz und habt hoffentlich nicht so sehr unter der Hitze zu leiden wie wir. Meine Reise ist – hoff ich – jetzt gesichert. Meine Mutter reist mit meiner Schwester voraussichtlich an die See. Am 1. August denk ich bei Dir zu sein .  . Der Ort ist mir gleichgueltig, nur musst Du mir rechtzeitig Nachricht geben wohin ich kommen soll. Robert ist bald zwei Wochen fort, er scheint am Rhein genesen zu sein. Val. reist morgen zur Diana nach Soden an der Werra, sie wollen dann etwas spaeter in die Schweiz zu Dir und nach Fetan. Ist Wolfskehl mit Dir? Die Kinder sind in der Schweiz, irgendwo in der Gegend von Luzern.

223 Bezieht sich auf Morwitz’ Ankündigung, dass er endgültig vom Militärdienst befreit sei. „Pr.“ steht wiederum für Preußen. 224 Vgl. den voranstehenden Brief von Ernst Morwitz sowie Anm. 17.

Briefwechsel 1912 171

Gruesse den schoenen Ernst225 und sag ihm bitte, dass ich fuer die Nachricht ueber den Bachofen danke – ich hab ihn aber schon gelesen.226 Ich weiss vielleicht eine neue berliner Wohnungsmoeglichkeit fuer Dich. In grosser Liebe Dein Ernst

Das Wunder des Colorado (Ein Zimmer mit grossen Sesseln, in der Mitte ein Tisch. Darum sitzen viele Leute und spielen Karten) Matador: Colorado du verlierst! Colorado: Matador du gewinnst! Corno: Immer geheime Gespraeche! Colorado: Spiel doch, du bist an der Reihe (Corno sieht schnell auf die Karten, spielt und verliert.) Colorado: Das kommt wenn man andre Leute und nicht das Spiel verfolgt. Corno: Matador bitte spiele, lass doch Colorado in Friede. Colorado: Corno, du Tor, aber sieh, ich bin an der Reihe (Er spielt und gewinnt) Corno: Teufel Colorado: Tor Matador: Sehr richtig! Colorado, ich moechte lieber der Teufel als ein Dummkopf sein Corno: Ihr beide steht euch immer bei. Colorado: Du sprichst dein Urteil selbst ueber dich. Doch ich will dir etwas erklaeren, wenn das Spiel zu Ende ist. Corno: Ist Matador auch mit? Colorado: Nein Matador: Du darfst allein mit Colorado sein. (Das Spiel ging zu Ende, alle verlassen den Saal ausser Corno und Colorado.) Colorado: Corno hoere, gestehe du bist ein Tor! Corno: Warum? Colorado: Nicht Tor, doch ein Mensch ohne Freund. 225 Hier muss Ernst Gundolf gemeint sein, mit welchem sich George in der Schweiz befand. Ernst Glöckner (1885–1934) begegnete George erst im April 1913. 226 Johann Jakob Bachofens Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur von 1861 war vor allem während der Münchner Kosmikerzeiten von nicht zu überschätzender Bedeutung, in erster Linie für Karl Wolfskehl, Alfred Schuler und Ludwig Klages. Aber auch Friedrich Gundolf verfasste ein Langgedicht Kurzer Abriss des Mutterrechts für Anfänger (StGA).

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Briefwechsel 1912

Corno: Ja Colorado: Du stehst allein, dann aergerst du dich, wenn zwei zusammen sind – doch nein, nicht aergern sondern es erscheint dir unheimlich. Corno: Vielleicht Colorado: Warum, sage es selbst, erscheint dir das unheimlich oder aergerlich? Corno: Ich kann es nicht sagen Colorado: Es ist nur Neid, aber auch noch ein Gefuehl hast du: zwei vermoe­ gen mehr als einer, also Selbstsucht. Wenn sie mit einander sprechen, willst du wissen, was sie sagen, also Neugierde. Alle diese Gefuehle sind die eines Toren, eines Dummen, glaubst du es? Corno: (verschaemt): Ja Colorado: So bessere dich und suche einen Freund. W. U.227

117. StG an EM

Poststempel Isenfluh, 19. 7. 1912 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

L. E: mit Isenfluh ist es so: es hat den vorteil dass wir ⸢in⸣ einem chalet beim hotel das nur 3 zimmer hat für uns allein wohnen ∙ ich mit den Gundölfen.* Jeder der noch kommt muss ins hotel. Dass wir hier bleiben hängt davon ab ob wir am 1. august noch platz finden für weitere gäste ∙ (denn das zweite vom ersten ziemlich abgelegne gasthaus ist jezt schon voll.) Die zufahrt ist nicht so leicht wie damals in St. Von Lauterbrunnen geht nur ein reitweg hierher ∙  fahren kann man nicht. Wenn also deine Mutter doch absicht hat mit dir zu kommen ∙ so musst du ihr diese schwierigkeit vorstellen. Auch sind die wege sehr rauh. Dafür freilich auch grosse vorteile … Ernst’s Mutter und freundin228 kommen morgen. K.  W. kommt nur auf einige tage. Er geht mit seinem bruder229 der leidend ist nach Wengen. Wenn also auch Vallentins kommen wollen ∙ so müssen sie sich beeilen. Wenn Du am 1. aug. kommt [sic] wird dir auf jeden fall ein zimmer: du bist ja wenig empfindlich. Der Curtius230 war auch 2 tage hier. Er ist mit seiner familie in Mürren.   Jezt kennst du die ganze Ballade des äusseren lebens.231 Wegen des „innern“ schreibe ich nichts da du das bald von mir hören wirst. Das oben war nötig zum vollen überschauen der lage *Der grosse Gund. trifft am 1. aug. ein Ludwig schreibt bedauernd dass er kaum abkommen kann ∙ arbeit und reise in Frankreich …232

118.  EM an StG

v. d. 31. 8. 1912 Brief ohne Umschlag Berlin Montag

Geliebter Meister: Du kannst Dir denken, dass nach einer Reihe solcher Tage diese Stadt und ihre Menschen besonders laehmend und stumpf wirken mues­sen. Aufruettelnd aus den Erinnerungen wirkte Dein lieber Brief heut frueh. Diese Zeit war so schoen, dass ich auf eine besonders schlimme Zeit selbst als Ausgleich der Goetter gefasst waere! Nach M. kann man hier kaum mehr leben. Alle Menschen – Alter ist gleichgueltig – haben die Zuege von greisenhaften Moepsen. Freund W. L. ist 229 Eduard Wolfskehl (1874–1943), studierter Bauingenieur, seit 1898 Regierungsbauführer, verheiratet mit Marie Spohr-Braunfels, Vater von vier Kindern. Er kam am 12. 6. 1943 im KZ Frankfurt-Heddenheim zu Tode. 230 Der 1912 in Erlangen lehrende Archäologe Ludwig Curtius (1874–1954), den George aus München kannte, oder der Romanist Ernst Robert Curtius (1886–1956), der noch vor seiner Habilitation in Bonn stand, aber schon 1907 im Salon der Sabine Lepsius George kennen gelernt hatte. Ganz besonders war er Friedrich Gundolf verbunden, der auch seine spätere Berufung nach Heidelberg betrieb. Laut Morwitz der mit seinen Eltern reisende Ernst Robert Curtius (BB). 231 George zitiert hier den Titel eines Gedichtes von Hugo von Hofmannsthal. Die „Ballade des äusseren Lebens“ erschien im Januar 1896 im 1. Heft der 3. Folge der Blätter für die Kunst (S. 12). 232 Thormaehlen war für seine Dissertation romanische Kirchen fotografierend in Burgund unterwegs.

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Briefwechsel 1912

leider unveraendert und hat Mitleid mit „guetigen“ Leuten, die krank sind. Die Florentinerin hab ich noch ⸢nicht⸣ gesprochen. Sie hat aber W. L. erzaehlt, dass B. seinen Sohn sehr geliebt habe und hat die Pruegelgeschichte widerrufen. Wir halten dies fuer eine Luege.233 Dagegen soll B , wenn sie zu Salzens oder in Gundolfs Vorlesungen gehn wollte, Wutanfaelle bekommen und das Tor abgeschlossen haben, so dass ein Aufenthalt dort unmoeglich sei. Jeden Abend wurde Calderon gelesen.234 – Von W. U. fand ich einen fuer seine Verhaeltnisse sehr traurigen Brief vor, da der ihm vertraute Primaner abgegangen ist. Ich bin in diesen Tagen fast garnicht ausgegangen und habe noch keinen der Freunde gesehn. Die Figur des Derl. wirkt nach.235 Ich zaehle schon wieder die Tage bis zum Oktober. Unsere schoenen Zweiteilungen236 bedruecken mich nicht mehr. Sie sind richtig und falsch – wie manns [sic] nimmt – und man braucht sie nicht gerade unbedingt zum Leben. Hier schick ich Dir die Zeichnung von einem griechischen Spiegel, die mir der Hans sehr getreu gemacht hat – sie soll Dir bei der Arbeit helfen.237 Von ganzem Herzen und mit vielen Gruessen an Gundolfs Dein Ernst.

233 Die „Florentinerin“ ist nicht identifiziert, möglicherweise eine Dame namens Wiskowatoff. Alexander von Bernus, damals Herr auf Stift Neuburg bei Heidelberg, verlor am 12. 8. 1912 seinen Sohn Alexander Walther, genannt Alwar (1903–1912), durch einen Unfall auf eben jenem Stift; er hatte sich beim Spiel stranguliert. 234 Pedro Calderon de la Barca (1600–1681), spanischer Dichter, von den deutschen Romantikern geschätzt und übersetzt, so Das große Welttheater von Joseph von Eichendorff, später bearbeitet von Hugo von Hofmannsthal. Weitere in deutscher Übersetzung bis heute bekannte Werke sind Das Leben ein Traum und Dame Kobold. Beide Stücke übertrug Hugo von Hofmannsthal, mit ersterem begann er schon 1901. 235 Zu Ludwig Derleth vgl. Anm. 166. 236 Vgl. Georges Ausführungen dazu im Brief vom 31. 8. 1912. 237 Die Zeichnung, von Hans Brasch hergestellt, ist nicht bekannt, auch nicht, wozu sie dienen sollte.

Briefwechsel 1912 175

119.  StG an EM

Poststempel Darmstadt 31. 8. 1912 Brief mit 2 Umschlägen nach Berlin W.238

Darmstadt samstag. Kurz ein bericht nachdem die S∙e239 weg war. zuerst grosse einsamkeit dann aber warmes wetter und auch sonst ein glanz-tag an fünden! nur mit schmerzen hab ich mich von M. losgerissen. eine immer gleich einzige stadt. Von Walter kam flüchtiger aber dringlicher brief doch bald auch seiner zu gedenken. von Ludwig eine botschaft anfangend: lieber Ernst (der süsse!) jedoch für mich bestimmt und in seinen vielfachen reisen durch französische dörfer all die zeit entschuldigung für sein schweigen suchend. Als nachtrag noch zu unsren klugen zwei-teilungen dass wir eine wichtigste vergassen nämlich in solche die trennung von geist und leib noch gar nicht recht machen (erleben) können und solche bei denen sie schon sehr fortgeschritten ist. Versteht die seele mich? wichtig auch für sie .  .  .  . Das p.240 ist fertig und aussergewöhnlich schön geworden. Du bekommst es aber erst im september. Eine gelegenheit ein ding geben zu können bietet sich alle jubeljahre nur einmal Ich traf hier Gundel an – den Ernst erwarten wir den abend – Herzliche erinnerungen an alle freunde.  Dein St.

Dank für brief mit der zeichnung Anbei eine gabe Gundels

238 Ein Umschlag mit der Handschrift Friedrich Gundolfs trägt keinen Poststempel, auf der Rückseite aber eine Notiz von Georges Hand. Dabei liegt ein weiterer Umschlag von Georges Hand beschriftet, mit Poststempel. 239 George spricht in diesen Briefen häufig Morwitz mit „Seele“ an. So auch hier. Morwitz hatte George in München besucht. 240 „p“ steht wohl für Petschaft, d.  h. es handelt sich um den Prägestempel des von George gezeichneten, in München hergestellten Siegels, für das sich Morwitz im Folgebrief bedankt.

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Briefwechsel 1912

120.  EM an StG Poststempel Berlin W, 15. 9. 1912 Brief mit Umschlag nach Darmstadt, bei Dr. Friedrich Gundelfinger Berlin Sonntag Liebster Meister: Vielen Dank fuer das so schoen geratene Siegel – ich wuen­ schte nur, es gaebe bald etwas das ich Dir eingesiegelt schicken koennte! ­Ueber Gundolf’s Wuensche und das Buch hab ich mich sehr gefreut241 – auch ihm meinen Dank! Dem fuer mich begonnenen zweiten Vierteljahrhundert stehe ich mit grossem Verantwortungsgefuehl gegenueber. Solang ich Dich nah weiss, wird alles gut. – Als ich neulich mit der Wiskowatoff242 und L. in der Stadt war, traf ich Lechter. Er war heiter, aber mit dem Herzen scheint’s schlimm zu sein. Waehrend der ganzen Wagnersaison war er in Bayr. nachher drei Wochen in Orb. Auf seine dringende Aufforderung werde ich ihn heute abend besuchen. Aus Heidelberg hat die Wiskow. erzaehlt, dass B. sein Sohn „brutalisiert“ oder wie sich verbesserte „dominiert“ habe, um aus ihm einen Schlossherren zu machen.243 Die Tochter der W. habe deshalb nach dem Tode des Jungen gemeint, dies sei vielleicht besser als das Leben mit dem Vater. Ausserdem hat die W. acht Tage vorher die ganze Sache im Traum gesehn, man kann daraus auf die Verhaeltnisse schliessen.244 Sonst sah ich nur Val . Sehnlich erwarte ich Dich! – ist der Ankunftstag schon bestimmt? Von Robert hab ich bisher nichts gehoert.245 In Liebe Dein Ernst. Heut rief mir ein kleines Maedchen auf der Strasse nach: „Du bist ein Poet!“ Gruesse an Ernst Gundolf

241 Friedrich Gundolf hatte Morwitz zum Geburtstag (13. 9.) gratuliert und ihm den jüngst erschienenen Band seiner Shakespeare-Ausgabe geschenkt. 242 Es ist nicht feststellbar, um wen es sich bei der Genannten handelt. Bekannt ist dagegen Paul von Wiskowatoff (1842–1905), der russische Verfasser einer Humanistenbiographie. 243 Vgl. Anm. 233. 244 Okkultismus und Hellseherei waren damals unter Bernus auf Stift Neuburg an der Tagesordnung. George, der dort 1909 bis Dezember 1910, wie auch Wolfskehl, häufiger Gast gewesen war, hatte sich 1912 schon zurückgezogen; allein Melchior Lechter weilte noch mehrfach dort. 245 Boehringer verbrachte Juli/August in Fetan / Graubünden in der Schweiz.

Briefwechsel 1912 177

121.  EM an StG Poststempel Berlin W, 23. 9. 1912 Brief mit Umschlag nach Darmstadt, bei Friedrich Gundolf, weitergesandt nach Bingen Berlin 23 September 1911 [sic] M. L. M. Ich war nun bei Lechter und wurde sehr freundlich – wenn auch etwas misstrauisch aufgenommen. Er bereitet aber – es kommt mir fast wie ein Verrat vor, dies zu schreiben, da er mir die Dinge gezeigt hat und ich ihm unmöglich meine ⸢ehrliche⸣ Meinung dazu sagen konnte – eine neue Fuerchterlichkeit vor. Er las mir von einigen gedruckten Bogen, ohne sie mir in die Hand zu geben, etwas vor. Es ist wirrer Mysticismus gemischt mit unglaublichen Banalitaeten. Schon Ueberschriften werden Dir genuegen: Moses ueber Republik und Monarchie! Auch Verse sind dabei, die er selbst nicht fuer gut haelt, ein Vers besteht manchmal aus einem einzigen zusammengesetzten Wort. Was wirklich darin steht ist unsagbar platt. Es wird glaub ich 600 Seiten stark, soll auf mystischem Wege empfangen sein und es soll noch viele Manuscripte dieser Art geben.246 Er hat – wie er sagt – jetzt keinen Menschen hier. Tr. hatte ihn noch nicht besucht. Sein Herzleiden scheint ernsthaft schlimm zu sein. Sonst hab ich niemand gesehn. Du kommst doch um den 1. herum, ich warte mit Schmerzen! Robert ist in Basel und will um den 7. hier hier sein. Geht der Shak. gut weiter?247 Ich arbeite ziemlich fleissig, es geht mir im Allgemeinbefinden ganz gut und ich hoffe, dass Du diesmal nicht viel Muehe mit mir haben wirst. Mit herzlichen Gruessen auch an die Gundolfs248 und besonderen Beteuerungen fuer Dich Dein Ernst

246 Dieses Buchprojekt Lechters wurde nicht verwirklicht. 247 Friedrich Gundolf war seit 1908 auf Anregung von Georg Bondi mit der Neuübersetzung und Überarbeitung sämtlicher Stücke William Shakespeares befasst. George nahm zu Zeiten an dieser Arbeit teil, übertrug vor allem lyrische Einlagen. 248 Morwitz nahm an, dass sich George noch im Darmstädter Haus der Gundolfs am Grünen Weg aufhielt (BB).

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Briefwechsel 1912

122.  EM an StG Poststempel Berlin W, 17. 11. 1912 Brief mit Umschlag nach Darmstadt, bei Dr. Friedrich Gundolf, nachgesandt nach Heidelberg, bei Dr. A. Salz Sonntag Mein lieber Meister: Erst gestern hoerte ich von Robert , dass Gundolf in Darmstadt sei. Daraus schliesse ich, dass auch Du nicht weit von dort Dich aufhaeltst, und will Dir nach langer Zeit ein Lebenszeichen zu geben versuchen. Hier hat sich nichts ereignet – die Tage sind mir seit Deiner Abreise sehr lang geworden. Nur Robert hab ich einmal gesehn – sonst niemand. Robert sieht leider nicht mehr so gut aus, ich glaube, dass er nicht mehr lange Zeit in Berlin bleiben wird. Er wird wohl Weihnachten nach Basel fahren und Dich aufsuchen  Mir faellt es schwer zu denken, dass ich Dich erst im Fruehjahr wiedersehen soll. Meine Arbeiten erledige ich mit einer mich selbst bedrueckenden Gleichgueltigkeit und Schlaffheit. Ich entschuldige mich vor mir damit, dass ich der Jahreszeit die Schuld gebe. – In H’s Hoelderlinausgabe sind grosse Teile einer bisher wohl unbekannten Aiasuebersetzung.249 Ich wuensche dem Shps. und Deiner eignen Arbeit einen guten Fortgang und hoffe bald von Dir zu hoeren. Mit Gruessen an die Gundolf’s  Dein etwas elegischer Ernst.

123.  StG an EM

Poststempel Heidelberg, 19. 11. 1912 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Ich empfing der tage einen leidlich anständigen brief mit mässigen versen eines Jungen aus Charlottenburg der über die güte seiner producte bescheid wissen wollte. Ich liess ihm schreiben aus dem vorliegenden wäre nichts zu

249 Norbert von Hellingrath veröffentlichte im 5. Band seiner Ausgabe Hölderlin. Sämt­ liche Werke. Übersetzungen und Briefe 1800–1806, der 1913 bei Georg Müller (München und Leipzig) erschien, zum ersten Mal Bruchstücke einer Übersetzung „Aus dem Ajax des Sophokles“ nach der Homburger Handschrift (S. 263–267).

Briefwechsel 1912 179

entnehmen + habe ihn an Dich verweisen lassen. Ob er sich darauf bei dir meldet ∙ weiss ich nicht. verloren ist jedenfalls nichts wenn er „nichts“ ist.250 Schreib bald wieder etwas ∙ denn es ist damit für Dich viel geschehen wenn Du fortgesezt zusammenhang spürst: Wirklich wichtig auf der welt ist nur dass Du d. M ∙ l ∙   und er Dich.251 *

Zweites blatt  .  . ich will dies noch vollschreiben da ich eben Deinen brief erhalte  .  . Gedulde Dich. Dass unser diesmaliges Berlin einen sprung bekam – erklär ich Dir später  .  . Ich denke bis anf. Dezember hierzubleiben. weit weg kann ich nicht da die regelmässig eintreffenden druckbögen ein zusammenkommen wenn auch nur stundenweises mit Gundel bedingen .  . Fast ­sicher ist dass ich schon 26/27 dez ∙ nach München fahre … Sag das auch R ∙   Ich lese im eben ersch: III Bd.: Phil: von N angereizt durch „Einführung in die Platon. Dial.“252 Es steht aber kaum was drin .  . nur wichtig wie N sich in P. spiegelt.

Seele was machst Du ohne mich? Die ganzen tage waren so mit arbeit gefüllt – dass ich kaum was andres dachte. Nun ist der T ∙ und damit auch der Bd IX fertig ∙253 das hätten wir so schnell in Berlin nicht erreicht. Ich habe heut (morgens war noch arbeit) D. verlassen und bin für die nächsten tage in Heidelberg (bei S∙ Karl Strasse 2∙) Berlin ist vorläufig noch ausser sicht ’s [sic] könnte aber doch noch … Grüss die freunde: Dein St.

250 Möglicherweise Helmuth von Krause, dessen Bruder laut Morwitz mit Albrecht von Blumenthal befreundet war (BB). 251 Abkürzung für: „Du den Meister liebst und er Dich“. 252 Gemeint ist wohl Friedrich Nietzsches Einführung in die Platonischen Dialoge. Damals hatte in Georges Umkreis die intensive Beschäftigung mit Platon begonnen, vgl. auch das Ende 1914 im Verlag der Blätter für die Kunst erscheinende Werk Heinrich Friedemanns Platon. Seine Gestalt. 253 Es kann sich nur um den Bd. IX von Friedrich Gundolfs Shakespeare in deutscher Sprache handeln, an welchem George zeitenweise mitgearbeitet hatte. Der Band enthielt die Überarbeitungen von Hamlet und Macbeth sowie Gundolfs Neuübersetzung von King Lear. Gundolf hatte ein Freisemester genommen, um mit der Ausgabe voranzukommen. „T“ könnte sich auf Shakespeares Timon von Athen beziehen. Der Text stand dann aber in Bd. VIII und erschien 1913.

180

Briefwechsel 1912

124.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 24. 11. 1912 leerer Umschlag nach Heidelberg, bei Dr. Salz

125.  StG an EM

v. d. 4. 12. 1912 Brief ohne Umschlag

Darmstadt ∙ mittwoch Nur dies ankunfts und liebeszeichen mein Ernst. morgen geh ich nach Bingen und hoffe dort bald ein wort von Dir zu finden  Dein St. G.

126.  StG an EM Poststempel Bingen, 4. 12. 1912 Brief mit Umschlag (Blättermarke Urnensignet) nach Berlin W. L. E: ich bin eben wieder nach Bingen gekommen und muss Dir gleich bericht erstatten. L∙ war in Heidelberg bei mir und war liebenswerter wie je – und denk Dir! hatte bereits den schicklichen vorwand für seine reise nach Berlin gefunden (für anf∙ dezemb ) als er hörte ich sei bereits in seiner nähe. Kurz vor weihnacht kommt er hier vorbei und um die fastnacht d∙ nächsten jahres hofft er uns alle in München zu treffen … (ich reise 26/27 dez∙ nach M. ) soviel die äusseren zeiten! – sehr erstaunt hat mich in Deinem brief zu hören dass man solche bücher wie D. G254 nach Ilfeld schmuggelt – wer? Ernst ich glaube das nächste jahr muss auf den W. ein schweres geschütz abgefeuert werden – ich hab den satz schon im kopf den ich ihm sagen werde – – – Mit dem kleinen P∙ in H geben sich die ­eltern alle erdenkliche mühe den rest von dem was war zu tilgen.255  –  – Schreib bald Deinem St.

254 Laut Morwitz Oscar Wildes Roman The Picture of Dorian Gray (BB). 255 Eberhard (1853–1923) und Marie Luise (1863–1931) Gothein standen George unterschiedlich kritisch gegenüber. Während Marie Luise durchaus in dessen Bann geriet, sprach Eberhard Gothein schon am 12. 2. 1913 in einem Brief an seine Frau von George und Gundolf, die es eigentlich nicht nötig hätten, „heilsverkündende Sektenhäupter“ zu sein (Gothein, S. 428).

Briefwechsel 1912 181

127.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 5. 12. 1912 Brief mit Umschlag nach Bingen

Donnerstag Mein lieber Meister: Es ist nicht genug zu bewundern, dass L. so ist und so wird! Gerade weil er von Noeten manchmal be­draengt ist und doch so die Haltung behaelt, ist noch garnicht abzusehn, was er noch alles offenbaren kann. Ich hoffe noch immer, dass Du ihn nach Berlin mitbringst. Schade dass P. in H. solch Ende nimmt. –256 Von hier nichts. H’s Verlobung ist Tatsache – er besuchte mich neulich mit Braut; sie ist nicht sehr belangvoll und aehnelt der frueheren etwas.257 Dagegen finde ich sein eben erschienenes Buch nach Uebersetzung und Einleitung meisterhaft. Die Uebersetzung ist fluessig aber nicht glatt und in der Vorrede stehen vorzuegliche Sachen in unanfechtbarer Form.258 R. hab ich sehr lange nicht gesehn.

256 Percy Gothein (1896–1944), Sohn des Heidelberger Professors für Nationalökonomie Eberhard Gothein und Marie Luise Gotheins. George hatte die Gestalt des vierzehnjährigen Knaben 1910 auf der Straße bewundert, Friedrich Gundolf hatte die Bekanntschaft mit den Eltern vermittelt, Hilsdorf den Knaben im Elternhaus fotografiert. In den Jahren darauf gab es mehrere Begegnungen mit George sowie Besuche Gotheins in Bingen. Die Briefe belegen schon früh Störungen der ungleichen Beziehung, die erst einmal mit einem Entlassungsgedicht Georges, später im Neuen Reich veröffentlicht (SW XVIII, S. 78), beendet wurde. Beim Pfingsttreffen 1919 in Heidelberg gehörte Gothein dann wieder zu den vielversprechenden Jüngsten des Kreises. Seiner autobiographischen Niederschrift Opus Petri, als Kreis-Erziehungsschrift gedacht und von Morwitz befördert, verweigerte George das Blätter-Signet, worauf sie als ganze ungedruckt blieb. 1923 kam es zum endgültigen Bruch mit George, der vor allem Gotheins Prosyletenmacherei ablehnte. Gothein gehörte später zu den Gründungsvätern der Amsterdamer Gemeinschaft Castrum Peregrini um Wolfgang Frommel und blieb Morwitz verbunden. Er wurde im Dezember 1944 im KZ Neuengamme ermordet. 257 Kurt Hildebrandt verlobte sich mit Sophie Hedwig Reinhardt (geb. 1887), Tochter von Karl Reinhardt, die er am 15. 3. 1913 heiratete. Es kann sich jedoch nicht um eine Tochter des Altphilologen Karl Ludwig Reinhardt handeln, einem WilamowitzSchüler, 1886 geboren, sondern um eine Schwester, Tochter des gleichnamigen Vaters Karl Reinhardt. 258 Erschienen war soeben bei Meiner in Leipzig Hildebrandts Übersetzung von Platons Gastmahl. Ein Exemplar des Buches mit einer Widmung Hildebrandts befindet sich unter den nachgelassenen Büchern Stefan Georges (StGA). Die Widmung lautet: „An Stefan George / Dem knaben schon war Platons lächeln teuer / Im dunkel schimmer in der suche mut / Erst spät fühlt ich den hauch von Deinem Feuer / Nun erst brennt Plato mir in echter glut.“

182

Briefwechsel 1912

Wie das Buch nach Ilf. kommt, weiss ich selbst nicht. Ueber Deinen Plan bin ich sehr froh. – Bei mir hat sich niemand gemeldet. – Sonst geht’s verhaeltnismaessig gleichmaessig. Meine Gedanken sind bei Dir in Bingen und wenn ich meine sogenannte Arbeit erledige stelle ich mir vor, wie viel wichtiger es waere Dich beim Spaziergang zu begleiten. Gruesse den L. und die Gundolfs, Dich selbst liebe ich Dein Ernst Von Tr. sind zwei Buecher angekuendigt, er legte eine Karte mit Gruessen bei259

Man sagt, Hildebr. sei durch die Erik. mit einem Frl. Reinhardt verlobt worden. Geruecht – grosse Heimlichkeit – bitte Stillschweigen! Ein Racheakt – hinter Vall. Ruecken!260 Hauptmann liest schauderhaft schauspielerisch – selbst Gedichte. Ein Bild seines Sohnes – in Wahrheit sehr garstig – lege ich ein. In der Fischer’ Zeitschrift (Oktr. Novrb.) eine Novelle eines Muenchener Herrn – vielleicht siehst Du einmal hinein – muesste totgeschlagen werden – besonders unverschaemt, da ganz ernst gemeint261

128.  StG an EM

Poststempel Bingen unlesbar, n. d. 7. 12. 1912 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

l E: Euer doppelbrief262 hat mich sehr erfreut: es ist sogar sehr nötig dass ich R noch einmal sehe eh er nach Basel reist: es ist fast sicher dass ich am 15ten in Bingen bin ∙ wenn nicht so bekommt er beizeit nach259 Von Lothar Treuge erschienen 1912 sowohl Ars Peregrina als auch Aus den Erlebnissen eines Lieblings der Grazien in Berlin bei Otto von Holten mit je einem Schmuckelement Melchior Lechters auf dem Titelblatt, jedoch nicht im Verlag der Blätter für die Kunst. 260 Vgl. Anm. 222. Erika Schwartzkopff (1886–1925), Cousine Kurt Hildebrandts, ab 1915 mit Friedrich Wolters verheiratet. Die Geschichtsstudentin (1910–1912), berufstätige Frau und spätere Professorengattin war ab 1910 eigenständiges Mitglied des Lichterfelder Kreises und stand George seither über viele Jahre hinweg nahe, betreute ihn in Bad Wildungen und beherbergte ihn in Marburg und Kiel bis zu ihrem frühen Tod 1925. 261 Gemeint ist Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig, welche 1912 in Heft 10 des 23. Jahrgangs von Die Neue Rundschau erschien. 262 George reagiert auf einen Brief von Morwitz und Robert Boehringer, letzterem liegt ein Umschlag bei mit Poststempel vom 7. 12. 1912.

Briefwechsel 1912 183

richt. Seinen adepten263 aber den ich gern erwarte soll er mit nach B bringen.* Eigens wegen eines j. nach F. zu fahren halt ich für eine starke Zumutung! Zumal doch in Berlin reichlichst und bequemst zeit zu einer vorstellung war …((U-ung betreffend füg ich zu dass des R∙s andienungen (offerten) gewöhnl. ⸢gleichbedeutend u.⸣ schlimmer sind als U-gen )) … Liebster Ernst ∙ aber ⸢es⸣ ist eine wirklich bedeutungsvolle sache unterwegs – weshalb ich auch noch nicht so gewiss über meine nächste zeit verfügen kann. Es giebt noch wunder: es drängt mich zu erzählen ∙ doch zu schreiben wag ich nichts. Dein St. *)Erwarte sie sonnt vorm : 10 uhr ∙ teile dies unverzügl. Rob∙ mit. Er soll noch bestimmt seine ankunft melden. – Das Buch mag er sich hier holen!

129.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 20. 12. 1912 Brief mit Umschlag nach Bingen

Freitag Geliebter Meister: Ich bin noch ganz wirr von der Ueberraschung dieser Tage! Kaum bist Du fort – so scheint es mir dass ich alles was ich sagen wollte, noch nicht gesagt habe. Aber was geschehen ist, ist genug um dankbar und froh zu sein. Dass dies noch moeglich ist, gibt alle Zuversicht und erhaelt fuer lange. Niemals verlaesst mich das Bewusstsein, dass Du da bist, der alles noch wahrer und fruchtbarer sieht, dass meine Gefahren gegen die Deinen klein und leicht sind und dass bei Dir fuer immer mein Platz ist. Dein Ernst

130.  StG an EM

n. d. 20. 12. 1912 Brief ohne Umschlag (Blättermarke Urnensignet)

liebster Ernst: ich bin glücklich dass auch in Dir diese tage so nachwirken. aber danke nicht mir sondern den Göttern: wieviel muss immer zusammen kommen bis es eine Höhe wird! … Nun bist du auch davon durchdrungen

263 Boehringer hatte in seinem Brief an George vom 7. 12. 1912 ein Treffen in Frankfurt vorgeschlagen und den jungen Mann als zwar „weich“, aber doch vielleicht ansehenswert bezeichnet (StGA).

184

Briefwechsel 1912/1913

dass Du Mir viel bist ∙ du zeigst dich der stunde wert und der ereignisse in deren mitte du steckst. Bei Deiner jugend musst du noch

131.  StG an EM

Poststempel Bingen, 25. 12. 1912 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Etwas schöneres geliebte Seele wüsst ich jezt nicht für dich zu finden – als diese neue H=hymne (sie wird erst in einem jahr veröffentlicht.264 — Morgen also Darmst übermorgen München Dein St. Was macht W?265

132.  StG an EM

vermut1ich 1. 1. 1913 Brief ohne Umschlag

Seele die sache die Du darstellst ist für einen menschen so wichtig dass ich Dir sofort erwiedre. Dass bei Ilf. nichts gutes herauskommt bedarf keiner erörterung .  . Es hätte ⸢wol⸣ etwas gutes wenn du W. viel in der nähe hast – aber seele seele bedenke Berlin! es giebt kar [sic] keinen scheusslicheren platz für ein kind! das ist so ziemlich das schlimmste was man wünschen kann. – Und in einem ort der nur einige oder eine Bahnstunde entfernt ist kannst Du mit nötigem opfer dasselbe oder fast dasselbe! Diese LIEBE darf nie blind machen! … So viel darüber … sehr gefreut hat mich der H. B. aufsatz ⸢Hoffentlich ist er frei von publicazionslust⸣: viel davon ist aus guten Büchern oder Deinen worten .  . aber ich glaube dennoch den H. haben wir unterschäzt. Ich hätte ihn doch einigemal sehen sollen: leztes kann man ihm zwar nicht geben aber

264 Es handelt sich um eine eigenhändige Abschrift Georges von Hölderlins später Hymne „Noch eins ist aber zu sagen ∙ denn …“ in der Lesart Norbert von Hellingraths. Die Handschrift liegt noch heute vom Brief getrennt der Korrespondenz bei; vgl. den Textanhang zum Briefwechsel, S. 569  f. 265 Vermutlich Woldemar von Uxkull.

Briefwechsel 1913 185

mit vorleztem ist doch sehr zu helfen266 … Ich habe hier ziemlich [sic] wirren vorgefunden. Das 13267 scheint dafür vorbestimmt. Schreib bald wieder ∙ schliesslich lernen wir auch noch schreiben München sonntag. Dein St

Karl ist bis 2 jan. in Darmstadt: so hause ich hier allein .  .  .  .  . Was noch sehr zu bedenken ist: in dem kleiner=städtischen bürger=gymnasium sind fast nur jungens die arbeiten müssen. Der nichts=tuer ist dort (im gegensatz zu Berlin oder einer freiheits=schule) kein heros sondern das allgemein geächtete mxxxx sujet! ––– S. L. M. U. L.268

133.  StG an EM

v. d. 27. 1. 1913269 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: zugleich ein wenig erfreuliches + ein sehr erfreuliches. Anfang des febr. werden wir uns wahrscheinlich in M. nicht sehen da ich mit Gund. ausgemacht habe zur ausnutzung seiner zeit sehr früh den weg nach Italien zu nehmen. Auch käme bei der sehr kurz bemessenen zeit in M doch nicht viel heraus. – Dafür aber hoff ich im frühjahr wenn Gund. wieder sein colleg beginnt auf sehr ausgiebiges zusammensein  – in Banz z.  B. möglicherweise auch einige wochen Berlin! Viel herzliches an Alle (teil es auch Vallentins mit + Wolters) Nächste woche empfängst Du bestimmte nachricht!!

266 Laut Morwitz (BB) war Brasch ein Vetter von seinem ehemaligem Schulkollegen Richard Lehfeld; vgl. Anm. 64. 267 Georges Dictum kann mit dem Volksaberglauben zusammenhängen, dass das Jahr 1913 wegen der schlecht beleumundeten Zahl 13 nichts Gutes bringen kann. 268 Abkürzung für „Seele liebe den Meister und Ludwig“. 269 An diesem Tag schrieb Friedrich Gundolf an Ernst Bertram, dass er „eben“ nach Italien aufbreche (DLA).

186

134.  StG an EM

Briefwechsel 1913

Poststempel München, 6. 2. 1913 Postkarte nach Berlin W.

L. E. ich war schon auf dem weg nach It. als eine nachricht meiner schwester mich abhielt mich weiter zu entfernen da meine mutter sehr krank ist. So wart ich in M. den Verlauf ab … Bitte den freunden mitzuteilen dass die versamml. im Februar auf keinen fall stattfindet …  Bald mehr herzlich Dein St.

135.  StG an EM

ca. 11. 2. 1913270 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst  Endlich komm ich dazu nach meiner Münchner nachricht das erste kurze wort aus Italien zu schicken. Nachdem ein beruhigendes wort meiner schwester über den zustand meiner mutter eingelaufen war reiste ich sofort mit Gundolf über Verona nach Florenz. Wir hatten trotz des Februar eine reihe fast nur sonniger tage und seit wir in Rom weilen begleitet uns frisches sonniges wetter. – – Liebster seit unsrer lezten begegnung ist manches vorgefallen .  . du hast mir einen vorfrühling in süditalien gewünscht ∙ ich könnt ihn leicht haben. Aber gestern sagt ich zu G: wenn Italien kein seelenzustand ist so ist es blosse Baedekerei271  .  .  .  . Ich habe Dir viel zu erzählen wenn wir uns im frühjahr treffen. .  . Der stärkste eindruck bis jezt war des G’s staunen und glück  Dein St. Rom im februar: Schreibe vorläufig: ferma in posta Roma

270 Datiert nach Friedrich Gundolfs Brief an Morwitz aus Rom vom 11. 2. 1913 (G/G, S. 249). 271 George schätzte Reiseführer; so befindet sich im StGA unter anderen ein kleiner Romreiseführer Georges mit Anstreichungen und Notizen von seinem ersten längeren Romaufenthalt im März 1898. Aber auch Originalbaedeker aus seinem Besitz sind erhalten.

Briefwechsel 1913 187

136.  StG an EM

Poststempel Napoli, 21. 3. 1913 Brief mit Umschlag nach Berlin W. Neapel am donnerstag

Liebster Ernst: Nachdem ich einige zeit allein in der umgebung von Neapel272 war um meine gedanken zu sammeln traf ich mich wieder mit Gundel der mir zugleich deinen brief brachte. Ob wir noch bis Sizilien kommen weiss ich nicht  – es ist auch gleichgültiger als du meinst. Die bereicherung bei mir geschah nicht durch sehenswürdigkeiten (eher noch durch ihre widerholte [sic] ⸢schau⸣ (vergleichend mit schau der früheren). Am stärksten hielt sich Paestum das auch von keinem sizilien übertroffen wird. Das wichtigste aber ist die ausfegung des gehirns · das messen mit einem südlicheren auge. Ernst! davon ist sehr viel zu sagen. Im april komm ich zurück + hoffe Dich dann bald zu treffen. Schreib wenn nötig nach Bingen  · Grüsse Alle.  St.

137.  StG an EM

Poststempel München, 1. 4. 1913 Postkarte nach Berlin W.

München (bei W∙ Römerstraße 16) liebster Ernst: eben komm ich aus Italien zurück und wann und wo sehen wir uns? Ich bin übervoll –– Dein St.

272 George war allein nach Paestum und Neapel gefahren, Gundolf in Rom zurücklassend. Neapel blieb der südlichste Ort in Italien, den George je erreichte. Laut Morwitz erzählte er nach seiner Rückkehr viel von einem „volkser Cyrillo“ und einem Schüler Mario aus Neapel (BB). Letzerer könnte das Vorbild für den Knaben in dem zweiten Gedicht von „An die Kinder des Meeres“ gewesen sein (SW IX, S. 17).

188

138.  StG an EM

Briefwechsel 1913

Poststempel München, 7. 4. 1913 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

liebster Ernst: kaum war ich aus dem südlichen paradies zurück ­beginnen in dem land der bestimmung heftige erschütterungen. Ich wollte Dir gleich schreiben aber die innre und äussre unruhe war zu gross .  . Ein neuer Mensch –  ! und nicht nur ein bild sondern wirklich zwar schon lange gesichtet aber nie bis zu diesen tagen gesprochen: er ist vornehm ⸢sehr arisch⸣ blond und schön nicht mehr ganz jung er hat schon seine prüfungen hinter sich ∙ aber ganz zugehörig ∙ einer gleich zum mitnehmen: erst als alles so weit war hab ich ihn gefragt wie er heisse … Ernst es geschehen immer wieder wunder: du wirst deine grosse freude haben. Was dunkel und schmerzhaft ist: davon red ich jezt nicht – aber dies Ereignis ist so selten + für uns alle so bedeutungsvoll dass Du es sofort erfahren musst und am schönen + herrlichen=daran teilhaben … Und auch ein Ernst! –273 Eben bekomm ich Deinen brief. Ich hoffe bestimmt dass ich dich ende april treffe vielleicht Banz vielleicht Heidelberg (Königstein?) Sag davon den andren noch nichts in Berlin. Nur Robert frage wie es mit ihm ist. – Vor der abreise – ⸢aus M.⸣ über die nächsten wochen schreib ich bald Ich vertraue dass er mitkommt …

139.  LTh an EM

Poststempel Heidelberg, 16. 4. 1913 Postkarte nach Berlin

Lieber Ernst ∙ Der Meister ist seit gestern hier ∙ ich war aus Freiburg herüber gekommen. Der Meister wird Ihnen in den nächsten Tagen schreiben ∙ wenn 273 Es handelt sich um den Philologen und Kunsthistoriker Ernst Glöckner (1885–1934), den Freund und Geliebten Ernst Bertrams. George hatte Glöckner am 3. April 1913 zum ersten Mal vor Ernst Bertrams Haustüre angesprochen und es war in der Wohnung zu einer vielleicht auch sexuellen Überwältigung des Achtundzwanzigjährigen gekommen, die die Zukunft Glöckners über Jahre stark bestimmte. Zeugnis geben nicht nur die Korrespondenz mit George im StGA, sondern vor allem Glöckners Tagebuch sowie seine Briefe an Ernst Bertram; vgl. Ernst Glöckner: Begegnung mit Stefan George. Auszüge aus Briefen und Tagebüchern 1913–1934, Heidelberg 1972. Früh nierenkrank, war er nie berufstätig, erledigte in den Jahren bis 1923 immer wieder Schreib- und Sammelarbeiten für George und schuf eine große Zahl kalligrafischer Arbeiten ganz eigener Prägung (StGA). Stark antisemitisch – er fürchtete schon 1913 George sei ein Jude – und von Ernst Bertram zunehmend gegen George beeinflusst, endete die zu Zeiten enge persönliche Beziehung nach 1923.

Briefwechsel 1913 189

Sie es vorher tun ∙ so möchten Sie es für die nächste Woche noch zum Schlossberg (Pension Neuer). Wir gedenken hier Ihrer oft.  Bis Ostern war ich in Trier sehr in der Arbeit. Vielleicht bringt der Spätsommer ein Wiedersehen. Mit herzlichem Gruss   Ihr Ludwig Thm [sic] Heidelberg 15. April 1913.

140.  StG an EM

Poststempel Heidelberg, 18. 4. 1913 Postkarte nach Berlin W.

l: E die karte von L. wirst du wol inzwischen bekommen haben  – er ist jezt wieder nach Strassburg. Dein brief nach D ist auch in meinen händen ∙ genaue angaben über die reise sind aber noch nicht möglich  – da mehrere köpfe mehrere sinne. Am 30. apr. xxx ⸢etwa⸣ ist der Tag eröffnet: bis 24/25 spätestens schreib ich das Wo274 Dein St.

141.  StG an EM

Poststempel Heidelberg, 20. 4. 1913 Postkarte nach Berlin W.

Es sind wieder neue versternungen .  .  .  .275 L ∙ Ernst .  . teile mir doch bitte sofort mit wie lange im mai sich deine reise ausdehnen kann … R ∙ schreibt dass er nur Pfingsten 11/12 einige tage hat. Bitte um zufügung seiner genauen nummer! Herzlichst        Dein Auf bald!        St. H / sonntag

274 Die Großschreibung verweist auf die Bedeutung des Tages; gemeint ist ein größeres Freundestreffen an noch unbestimmtem Ort. 275 ‚Versternt‘ wurden in der Antike Helden wie die Dioskuren, indem sie als Sternbild an den Himmel versetzt wurden.

190

Briefwechsel 1913

142.  StG an EM Poststempel Heidelberg, 22. 4. 1913 Brief mit Umschlag (Blättermarke Urnensignet) nach Berlin W. Also Ernst: die sache ist so: am 30 kannst du abreisen (ob du bei Banz ⸢z.  B.⸣ noch ankommst desselb. tags ist sache der Preussen) und bis zum 5tn ∙ bin ich natürlich mit Dir gern zusammen. Das andre ist aber dies: es könnten umstände eintreten dass ich in den doch allerwelt freien Pfingst tagen (2–3 tage) ich drauf bestehen muss dass Du dann nochmals kommst. Das war der grund der anfrage. Du kannst jezt auch Vall. fragen ob er im falle an Pf. meinem ruf folgen kann. dieser Wolters ∙ weiter geht der nicht .  .  .  .  . Jezt weisst Du alles von mir aus. Schreib sofort Dein St. Bester schreib mir nur (ohne Hinterlist m. jur. )276 es ist doch nicht erfindl. wenn es sich um ferienehmen handelte dass die an + für sich freien Pfingsttage nicht einbezogen wurden !!!!

143.  StG an EM

v. d. 28. 4. 1913 Brief ohne Umschlag Ab freitag wieder Heidelb Schlossberg 49

Nachdem ich Deinen brief erhielt Seele fuhr ich zu Gundel herüber – der wol jeden tag in H erwartet wurde aber wegen hartnäckiger Influenza mit herzbeschwerden vom arzt immer abgehalten wurde zu reisen. Am montag erst hofft er ihn so weit zu bringen. Also Liebster uns angehend mein ich dass wir um ein halbdutzend reisestunden nicht markten sollten – besonders wenn du mir ansinnst dass ich dich noch einmal nach Berlin begleite. Nimm nun Deinen urlaub zum 30ten und fahre! damit wir 2 einige tage zusammen sind was wir beide ersehnen! Wenn Banz unser treffpunkt wird so ist das kaum erheblicher wie eine reise zu einem entlegnen vorort! Wenn wir dann alle zu Pfingsten zusammentreffen so wird der anlass so wichtig sein dass du jede fahrt machen kannst wie die andren auch. ––.  Für jeden andren ort ist keine fahr=richtung anzugeben nötig: für Banz je276 George bedurfte zwar häufiger und in zunehmendem Maße juristischer Hilfe, war aber grundsätzlich Rechtsvertretern gegenüber misstrauisch.

Briefwechsel 1913 191

doch dis [sic] zu bemerken: Der mittagszug 1 45 ab B fährt direkt nach Lichtenfels, ist dort um 8 und fährt gleich weiter nach Staffelstein von wo 35 minuten zu fuss. Da müsste ich dich abholen weil nachts nicht allein zu finden! Beim nacht-zug ab 10.45 B ist man 4 in Hof ⸢(mit umsteigen)⸣ morgens 6 in Lichtenfels ∙ doch geht stundenlang nichts weiter. man giebt also sein gepäck nach Staffelstein auf. (von wo es im furage wagen277 nach dem Schloss abgeholt wird. Von L∙  eine stunde etwa der weg tags nicht zu verfehlen obwol schwerer278               

144.  StG an EM

Poststempel Heidelberg, 28. 4. 1913 Postkarte nach Berlin W.

l: E ich hoffe dass ichs euch jezt allen recht gemacht habe – ich erwarte Dich also am 1. früh in Banz. Sollte was andres in lezter minute entschieden werden – erhälst Du 30ten früh eine nachricht. E III279 kommt auch. Herzl auf wiedersehn St H / 28. apr.

145.  StG an EM

n. d. 11. 5. 1913 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: Ich kann Dir keine grossen hoffnungen machen: Berlin ist ziemlich aufgegeben und erst der herbst wird uns wieder zusammenführen … dies jahr befasst schon so viele reisen und ausser meiner aufgabe vorerst ein wenig wachend um Gundolf zu sein stehen noch einige kleine staatliche ausflüge in der nähe auf dem plan eh die Schweiz in ihr recht tritt. (etwa ende 277 Pferdewagen, militärische Bezeichnung. 278 Morwitz traf George tatsächlich am 30. 4. in Banz, wo er bis zum 5. 5. blieb und Glöckner kennen lernte. Dort wohnte George in einem Gasthaus, das sich in einem Flügel des alten Schlosses befand. Ein weiteres Treffen fand dann an Pfingsten 1913 in München statt. 279 Gemeint ist hier Ernst Glöckner, der ab dem 1. Mai einige Tage mit George und dem bislang ihm fremden Ernst Morwitz in Banz verbrachte. Am 6. Mai kamen die Brüder Gundolf, und Glöckner fuhr am 8. Mai nach München zurück.

192

Briefwechsel 1913

juni denk ich). Der m.  E. 280 war die lezten tage in M doch sehr zugehörig: ich habe weniger befürchtungen auch die erste begegnung mit seinem freund war besser verlaufen als wir beide gedacht haben.281 Freilich ein L∙ ist er nicht ∙ über den schreiben oder reden kann ich nur mit rührung und danksagung: die traurige lehre dass Schönheit für uns verzicht bedeutet ist hier durchbrochen: Ernst Ernst dass man hat und geniesst was sonst nur teilweis oder sehnen war! was wollen wir mehr? dies sind die neuen menschen in denen der neue Eros lebendig ist .  .  .  .  . und dabei brauchen wir nicht einmal abzuschwächen indem wir von „einem genialen sonderfall“ reden. Grad heut schreibt er mir über dies lezte München und euch die er liebt .  .  .  . R + E + L282 Deinen W. angehend war es mir leid dass ich ihn nicht einmal sah. Aber da du selber so unverhüllt siehst brauchst Du meine augen nicht · mein entscheid über seinen wert könnte auch erst fallen wenn er das sechzehnte jahr erreicht! Robert sage dass er meine frage nicht als „inquisition“ auffassen soll (wie der ton seines briefes es zu befürchten schien) Ich fragte über diese frau283 weil ich zu wissen glaube dass eine in M. lebende menschenhyäne sie als durchgangspfad zu einem raub benützen will .  .  .  .  .  . in diesem fall R. selber der zwar nicht geraubt werden kann aber schon beschnüffelt … Über seinen schützling traue ich mehr Deinem bericht als z.  B. dem Vallentins! Grüsse alle freunde wenn du sie siehst. Lieber Ernst auch ich hatte das gefühl dass unser beider zusammensein diesmal nicht so ergiebig war · Du warst zum allgemeinen leben beidesmal gekommen nicht so sehr

280 Ernst Glöckner wurde auch als „der mittlere Ernst“ bezeichnet in Absetzung vom „grossen Ernst“ Morwitz und dem „kleinen Ernst“ Gundolf. 281 Gemeint ist Ernst Bertram (1884–1957), Germanist; er promovierte 1907 in Bonn über Adalbert Stifter, habilitierte sich mit seiner Nietzsche-Monographie (Nietzsche. Versuch einer Mythologie), die 1918 im Verlag der Blätter für die Kunst erschien. 1906 hatte er in Bonn Ernst Glöckner kennengelernt, dem er bis zu dessen Tod 1934 eng verbunden blieb. George lernte Bertram schon 1909 kennen, und er nahm Gedichte von diesem ab der 9. Folge in die Blätter für die Kunst auf. Bertrams Verbindungen zum Insel-Verlag und zu Thomas Mann waren für George von Übel, schon kurz nach Erscheinen des Nietzschebuches kam es zum Bruch mit George. Als Lehrstuhlinhaber in Köln nahm er am 10. 5. 1933 an der Bücherverbrennung teil und setzte Georges „Drei Gesänge“ unmittelbar mit dem ‚Dritten Reich‘ in Verbindung. Der Antisemit wurde 1946 von den Briten entlassen und 1950 emeritiert. 282 Die Initialen stehen für Robert Boehringer, Ernst Morwitz und Ludwig Thormaehlen. Sie hatten zusammen mit George, den Gundolfs, Vallentin und Wolters am 11. 5. 1913 an einem Symposium im Münchner Kugelzimmer teilgenommen. 283 Vgl. Anm. 286 und die dort in ähnlichem Zusammenhang erwähnte Frau Peringer.

Briefwechsel 1913 193

zum besonderen mit mir!284 und doch bist Du durch nichts zu ersetzen du mir nötig ∙ mir am ähnlichsten nicht durch die art sondern durch dass [sic] maass der Gefahr!  Dein St. Heidelberg     sonntag   mai     1913

146.  StG an EM

Poststempel München, 19. 5. 1913 Postkarte nach Berlin W.

l. E die feiertage sind vorüber.285 wer die kraft hatte konnte sich viel holen ∙∙ wer augen hatte konnte viel sehen … nun beginnt wieder die arbeit .  . mit E steht alles noch am gleichen punkt  – der entscheid fällt wenn ich ihn in sechs monaten wiedersehe – Ich bleibe noch bis mittwoch in M. und gehe dann zu G nach Heidelberg. Dort erwart ich auch Deine nachrichten – sowie die Roberts . sag ihm dass ich von ihm genausten bericht erwarte was eine Frau Pertinger von ihm wollte oder er von ihr die ihn anrief als er schon fort war … warum sie überhaupt von seiner anwesenheit wusste u. s. w.286

147.  StG an EM Poststempel Heidelberg, 14. 6. 1913 Brief mit Umschlag (Blättermarke Urnensignet) nach Berlin W. Nun Ernst: Dein blasses stückchen papier zeugt von keiner besonders hoch strebenden lebensflamme! ich hatte auf meinen damaligen langen brief mehr erwartet. Heut wollt ich Dir nur sagen dass ich wieder einmal Einen der sich 284 George bezieht sich auf die zurückliegenden Treffen mit Freunden in Banz und München. 285 An Pfingsten fand in München, im Kugelzimmer der Römerstraße, ein größeres Treffen statt, zu dem neben Wolfskehl, Morwitz und Glöckner auch Wolters, Vallentin, die Brüder Gundolf und Robert Boehringer kamen. 286 Laut Morwitz eine Frau Peringer, Tochter des Archäologen Heinrich Brunn, später eine Gönnerin von Ludwig Derleth (BB). Glöckner wiederum schreibt in seinem Tagebuch über eine Begegnung mit ihr, die er als des Münchner Mathematikers Hermann Brunns Schwester und Frau Major von Peringer bezeichnet (9. 6. 1916): „Sie weiß von vielen Dingen aus der Geheimlehre von sich aus. Ein weiblicher George.“ Vgl. Ernst Glöckner: Begegnung mit Stefan George. Aus Briefen und Tagebüchern 1913–1934, Heidelberg 1972, S. 90.

194

Briefwechsel 1913

an mich gewandt zuerst an Dich gewiesen .  . es scheint aber dass dies den j – s nicht genügt … Ich wusste zufällig dass dieser der sehr anständig schrieb – anständig wenn auch garstig ist …287 Von hier ist als freudiges zu melden dass der P. hier wieder sehr schön geworden ist .  . von einer neuen schönheit – was immer ein versprechen bedeutet .  . auch das verständnis ist jezt angebahnt und er beschäftigt mich dauernd. Es tauchen in ihm auch nun bedeutsame ähnlichkeiten auf sodass er wieder hoffnungen erweckt288 .  . Als er einmal länger unter wasser geblieben war hatte er beim liegen am land ⸢zum koloss⸣ etwas „bleicheres“ „innerlicheres“ was ihm so gut stand dass ich ihn gleich hätte abbilden mögen. Weniger gutes ist über F. S. 289 zu melden. Er prahlt bewusst oder unbewusst + von jeder neuen seite wo er gehaust hat erfährt man übles. Seine verse sind dauernd gut aber nicht mehr so gefüllt: er merkt dass man sich von ihm zurück zieht und gefällt sich darob in schwermut geberden. Der erfolg bleibt abzuwarten ob ihn das wirklich erzieht. Gundel ist sehr fleissig∙  es geht ihm wieder gut. Sein colleg ist recht voll ich war einmal drin: als zuhörer was man so verlangen kann. Der kleine Ernst schreibt selten kommt aber alle acht tage zu besuch von D. nach H. Wir haben bis jezt ausgemacht ende d. monats in die Schweiz zu fahren. Vorher möcht ich noch zu L∙ nach Freiburg. Der ort in der Schweiz ist noch nicht bestimmt. Du bekommst aber mitteilung. Der mittlere E∙ schreibt wol etwas nach trauernd .  . ist aber gefasst + männlich. Er ist doch gut!    Viel liebes von den Gundölfen  Dein    St. George. Heidelberg                   Schlossberg 49

287 Wohl der in Morwitz’ Antwortbrief erwähnte Helmuth von Krause; vgl. Anm. 290. 288 Vermutet und erwünscht war eine gewisse Ähnlichkeit mit dem 1904 jung verstorbenen Maximilian Kronberger. 289 Friedrich Sieburg (1893–1964), Schriftsteller, studierte ab 1911 in Heidelberg, u.  a. bei Friedrich Gundolf. Noch als Schüler hatte er 1910 George erste Gedichte gesandt, worauf er auch in Bingen empfangen wurde. Briefe an George liegen nur aus den Jahren 1910 bis Dezember 1912 im StGA vor. Neben Friedrich Gundolf suchte er die Freundschaft zu Edgar Salin und Norbert von Hellingrath. Letzterer berichtet in Briefen an seine Braut Imma von Bothmershof von betrügerischem Handeln Sieburgs, das zu dessen Flucht aus Heidelberg führte (Hs, WLB). Ein verehrendes Verhältnis zu George bewahrte er bis ans Ende seines Lebens.

Briefwechsel 1913 195

148.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 20. 6. 1913 Brief mit Umschlag nach Heidelberg, Pension Neuer

Freitag. Mein lieber Meister: Eben war der von Dir geschickte Hellmuth von Krause bei mir.290 Es ist leider nichts. Ein kleiner Mensch mit stark gebogenem Rücken, Blindschleichenkopf, Stupsnase – sehr neugierig – und grossen Brillengläsern. Ist etwa 20 Jahre alt, studiert Sanskrit und wollte Dich sehen um aus Deiner Geste Klarheit über Deine Lehre zu bekommen. Kennt Sieburg, Wolfskehl, Steinens und auch den Blumenthal – mit diesem sogar befreundet! Ich glaube, sein Vater ist eben geadelt worden. Der körperliche Zustand ist jedenfalls unterdurchschnittlich. Geistig: zunächst Tadel der Jahrbücher – ich erwiderte, dass Kampf sich nicht für jeden passe – unbedingt zu glauben sei jedenfalls das Vorwort zum dritten Band.291 Er verteidigte die Russen – ich sagte, Du glaubtest nur nicht, dass sie uns heute helfen könnten.292 Darauf sagte er, dass er die Gedichte der Blätter ausser Deinen nicht liebe – denn er liebe nur „kultische Gedichte“. Das religiöse und priesterliche sei ihm an Dir das Anziehende und darauf darüber sei er noch nicht im klaren. Ich sagte, dass Du ihm darüber wohl selbst keine Auskunft geben würdest und auch nicht könntest. In der Form, in der dies gesagt werden dürfte, stände es in den Gedichten. Ein „religiöses Erlebnis“ pflegtest Du nicht mitzuteilen – die Ausstrahlungen hätte er ja vor sich – mit dem Moment, wo man sein innerstes lehren konnte (unmittelbar) sei es nichts mehr wert. Er war offenbar unbefriedigt; ich halte Neugierde für ein wesentliches von ihm verbunden mit einer ⸢der⸣ religiösen Sehnsucht ⸢der Zeit⸣, die ihn auch zum indischen getrieben hat (Er hat Lechter bereits einmal

290 Helmuth von Krause, Sohn des Politikers und Juristen Paul von Krause. Er hatte sich mit Brief vom 19. 6. 1913 an George gewandt, in der Hoffnung „berufen“ zu sein. Er sei „zum Glauben bereit“ und erwarte von George „Stärke und Reinheit“. Weitere Korrespondenz mit oder von ihm ist im StGA nicht vorhanden. Er war wohl ein Bruder von Peter Otto Max von Krause, mit welchem Albrecht von Blumenthal zwischen 1907 und 1909 eng befreundet war. 291 Es handelt sich um die „Einleitung der Herausgeber“ im dritten Jahrgang des Jahrbuchs für die geistige Bewegung von 1912. Herausgeber der drei Jahrgänge waren Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters. Unter Schlagwörtern wie „Pessimismus“, „Geringschätzung der Wissenschaft“ oder „Verachtung des Weibes“ waren knappe Stellungnahmen des Kreises zu finden, eine Art apodiktischer Normen- und Werte­ kanon für die Anhänger. 292 Vgl. Georges berühmten Vers „Doch diesmal kommt von Osten nicht das licht“ („Der Krieg“, SW IX, S. 26).

196

Briefwechsel 1913

besucht)293 Darauf las ich ihm noch einige Gedichte von Gundolf und Wenghöfer vor um ihm zu zeigen, dass es doch gute Gedichte in den Bl. gebe und dass auch im Wenghöfer etwas „kultisches“ sei, ohne das kein Gedicht geraten könnte. Als wir soweit waren, klingelten xxx ⸢kam⸣ Wolters ⸢zum [sic] meinem großen Erstaunen zu mir⸣ unvermutet. Wir sprachen noch einige Minuten über indische Sachen und er erzählte, dass ihm durch das rythmische Lesen einige indische Texte verständlich gewesen geworden seien und er auf diese Art das Indische bearbeiten wollte. Dann ging er fort – ich bat ihn mich wieder zu besuchen Ich halte ihn für anständig – aber unkünstlerisch ⸢sehr substanzlos⸣ und sehr garstig ⸢und ohne angebornes Wissen⸣ Immer Dein Ernst. Verzeih die miserable Schrift, es ist dunkel und spät und der Brief soll fort.

149.  StG an EM

Poststempel Heidelberg, 27. 6. 1913 Brief mit Umschlag (Blättermarke Urnensignet) nach Berlin W.

Seele als ich Deinen bericht über H∙ K∙ las stand dieser mensch so deutlich gemalt vor mir dass ich ihn gar nicht mehr zu sehen brauche – und der ausdruck war so bildlich lebhaft und anregend dass ich am liebsten mich auf die bahn gesezt hätte um dich – kurz zu sprechen! zu b umarmen Ich habe Dir auch noch für den vorigen brief zu danken ∙ und die liebevolle sendung · ich glaube sehr in Deinem sinn gehandelt zu zu haben indem ich sie mit P. teilte der (aber ohne meine anregung) seine ersten versuche seit einigen wochen bestanden hatte .  .  .  .  . Er ist ein ganz neuer gegenstand für verwicklungen + entwicklungen und ich bin auf das nächste mal und besonders das nächste jahr sehr gespannt. Morgen wollte ich zu L∙ nach F. ich muss aber hier noch zwei tage warten. Bald bekommst du weitres zu hören

293 Lechter hatte 1912 einen Bericht seiner Indienreise von 1910 in einem opulenten Druck der Einhornpresse als Tagebuch der indischen Reise veröffentlicht. Seine Verehrung für Madame Helena Blavatsky und sein Interesse an der Theosophie – er trat 1910 in die Theosophische Gesellschaft ein – hatten ihn nach Indien geführt.

Briefwechsel 1913 197

Hast Du jezt Robert schützling genau angesehen?294 Hatte Wolters eine bestimmte absicht bei seinem besuch? Was ist Deine meinung darüber: Du weisst doch an welchem buch er eben sinnt ·295 würdest Du es für ratsam halten ihm einen einblick in jenes frühwerk zu gestatten das Du allein besitzest????296 (Übrigens muss ich hier zufügen dass ich damals vergass zu sagen als mir der raub gewisser handschriftlicher blätter vorgeworfen wurde:297 dass dies ein vollwertiger loskauf war .  .  .  .) Ernst liebster nach vollendung deiner leidigen prüfungen ist doch das erste dass Du einmal Heidelberg besuchst. Hier wimmelt’s. Ich möchte am liebsten gar nicht fort … wenn ich nur hier die Schweiz abdienen könnte!! auf bald weitere nachrichten   Dein St. Eine frühere frage anlangend: Ende mai war bereits das buch ganz fertig298 – es handelt sich jezt höchstens noch um einige übergehungen lesungsverschiedenheiten u.  dgl. die art der veröffentlichungen steht in mir noch nicht fest

294 Boehringer hatte am 7. 12. 1912 George brieflich aus Berlin berichtet, er fahre mit einem jungen Mann heim, der zwar „weich“ sei, den man aber dennoch anschauen sollte. Ob es sich dabei um den im Brief Georges an Morwitz Erwähnten handelt, ist unsicher, wie auch der Name der Person. 295 Damals begann Wolters, Georges Wunsch folgend, mit der Planung und Arbeit an einer Geschichte der Blätter für die Kunst, die schließlich erst 1930 bei Bondi in Berlin erschien. 296 George schenkte Morwitz eine eigenhändige Handschrift seines Jugendwerks „Prinz Indra“, die sich im Nachlass von Ernst Morwitz auch erhalten hat (vgl. Textanhang, S. 572  ff.). Als Boehringer 1934 den Schlussband der Gesamt-Ausgabe Georges zu­ sammenstellte, wurde das Frühwerk aufgenommen und zum ersten Mal gedruckt, obwohl keine Anweisung Georges vorlag. 297 Es kann sich nur um den von Ludwig Klages angestrengten Prozess gegen Friedrich Gundolf und die Blätter für die Kunst handeln wegen eines unbefugten Abdrucks von Versen Klages’, die George handschriftlich vorgelegen hatten. 298 George spricht von seinem Gedichtband Der Stern des Bundes, der schließlich als öffentliche Ausgabe am 2. 2. 1914 erschien, nachdem Ende November 1913 eine Vor­ ausgabe auf Japanpapier in zehn Exemplaren ohne Titel und Verlagsangabe für die engsten Freunde hergestellt worden war. Dementsprechend stand in der Einleitung des Gedichtbandes in der Ausgabe von 1928 zu lesen: „der Stern des Bundes war zuerst gedacht für die freunde des engern bezirks und nur die erwägung dass ein verborgen-halten von einmal ausgesprochenem heut kaum mehr möglich ist hat die öffentlichkeit vorgezogen als den sichersten schutz.“

198

Briefwechsel 1913

150.  StG an EM Poststempel Curaglia, 7 .7. 1913 Brief (Blättermarke Urnensignet) mit Umschlag nach Berlin W. Lieber Ernst: ich wollte dir nur kurz mitteilen wo wir sind ∙ wenigstens für die nächsten wochen und bitte dich die nachricht auch an Robert weiterzugeben. Es ist recht schön hier – nur war das vorige jahr mit seiner reichen abwechslung in J*299 um vieles besser. Ludwig ist durch sein examen in F∙300 Gundel durch sein amt in H∙ bis zum 1. august festgehalten – ob sie dann noch kommen und ob hierher ist nicht sicher. Wo geht Robert hin? … Nur der kleine E∙ mit seinem Platon in den händchen leistet gesellschaft.301 Von einer weitergabe jenes gedichts an W. will ich jezt selber nichts mehr wissen. Ich muss ihm zwar viel geheimes material zur verfügung stellen – aber du hast recht – solche dinge sind nicht für seinen plan erforderlich …302 Von den bildern die ich von P∙ gemacht leg ich dir eins bei – einige sind ganz ungewöhnlich schön.303 Von Freiburg sind einige nicht unwichtige dinge zu berichten .  . viele begeisterte ∙ sie wollten als sie meine anwesenheit witterten einen fackelzug bringen!!! aber welche stufe ∙ welche stufe! die bären taugen grad so wenig wie die hirnarier = und = nichtarier!!304 Schreib bald Deinem St. Hôtel Lukmanier Curaglia bei Disentis

299 Die Initiale dürfte für die „Jüngeren“ stehen. 300 Thormaehlens Promotion in Kunstgeschichte an der Freiburger Universität. Der Titel seiner Arbeit lautet: Der Ostchor des Trierer Domes. Ein Kapitel aus der Architekturgeschichte der ehemaligen Kirchenprovinz Trier im 12. Jahundert. 301 Ernst Gundolf hält wohl eine Platon-Ausgabe in den Händen. Zwar schrieb er eine Abhandlung über George und die Alten, die selbstverständlich auch Platon erwähnt, aber ein eigener Beitrag von ihm über Platon liegt nicht vor. Seinem von George hochgelobten Aufsatz Die Philosophie Henri Bergsons stellte er ein Motto aus Platons Phaidros voran. 302 George bezieht sich auf den Plan von Friedrich Wolters, in seinem Auftrag eine Geschichte Georges und der Blätter für die Kunst zu schreiben. Das Projekt fand erst 1930 seinen Abschluss in der bei Bondi verlegten Monographie: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930. 303 Nicht die Hilsdorf-Aufnahmen des Vierzehnjährigen, sondern neue Aufnahmen Stefan Georges. 304 George bezeichnete mehrfach den jungen Gothein als „bären“ und verwendet die Be­ zeich­nung hier für einen Typus von Freiburger Studenten, sodann gab es unter ihnen seiner Meinung nach betont intellektuelle „hirnarier“ und „nichtarier“, also Juden.

Briefwechsel 1913 199

151.  StG an EM Poststempel München, 25. 7. 1913 Postkarte nach Alt-Hartmannsdorf bei Spreenhagen (Mark) München freitag l∙E∙ infolge des anhaltenden schlechten wetters bin ich etwas früher von Cur∙ abgefahren ∙ und bin für die nächsten 8 tage in München. Wohin ich am 1. august mit Gund∙ gehe ist noch unsicher. Dein [sic] brief bekam ich grad vor der abreise∙ dank für die auskünfte. Ich schreibe bald mehr. W. ist in Tölz .  . meine adr. durch Herrn O. Mayer ∙ Römerstr 16.   Dein St.

152.  LTh und StG an EM Poststempel München, 13. 8. 1913 Postkarte nach Berlin W., weitergesandt nach Alt-Hartmannsdorf

Lieber Ernst ∙ Seit Montag bin ich hier in München der Meister bleibt bis Ende der Woche und geht dann nach Darmstadt. Mit meinem Examen bin ich doch noch im Juli und ganz gut zurechtgekommen. Wir gedenken Ihrer oft hier zusammen.           Ludwig

Gundel ist nach Augsburg + kommt zugleich mit mir nach D. . Auf wiedersehen im September

                    München 13. August 1913

153.  EM an FG

Poststempel Berlin W, 31. 8. 1913 Postkarte nach Darmstadt Berlin Sonntag

Lieber Gundolf: Ihre Reisepläne sind sehr glücklich. Am 4. und 5. September werden die Möbel meiner Schwester aus der Geisbergstrasse fortgeschafft, so dass der M. dann nicht mehr durch den Umzug gestört wird. – Sie kommen

200

Briefwechsel 1913

doch hoffentlich auch recht bald! Frau Lorenzen kommt erst Mitte der Woche nach hause305 – falls Sie bei ihr nicht unterkommen (ich glaube es aber nicht) und wegen zu grosser Entfernung nicht Roberts Zimmer nehmen wollen, finden wir auch überall in der Nähe ein Unterkommen, da fast in jedem Haus hier Zimmer leer stehen. Ich erwarte noch bestimmte Nachrichten über Ihrer beider Ankunft und wünsche dem Macb306 ein ⸢rasches⸣ gutes Ende. Grüsse für Alle Ihr Ernst Morwitz

154.  EM, LTh und EG an StG

Poststempel Berlin W, 14. 11. 1913 Brief mit Umschlag nach Bingen Berlin Freitag

Lieber Meister: Es tut mir sehr leid, dass die Influenza noch anhält. Wir hoffen alle in der nächsten Woche Dich gesund hier zu haben. Hier wird von uns allen richtig gearbeitet – sogar vom „freien Künstler!“ an den Platobriefen!307 und wir [sic] auch recht stolz darauf. Abends lesen wir oft. Zum Schluss eine Szene die sich gestern Nacht in der Achenbachstrasse abspielte und die Dich vielleicht erheitert. Um 4 Uhr morgens hört der kleine Ernst aus dem Bett heraus, wie sich jemand an seinem Fenster zu schaffen macht. Kurz entschlossen fragt er zurück „Na?“ Als darauf alles still war, ging Ernst zum Fenster und sah eine Diebsgestalt am Eingang des Hauses, darauf fragte er: „Na was soll denn das?“ und legte sich, als keine Antwort erfolgte, wieder schlafen. Um 7 Uhr wurde er durch ein gelles Geschrei der Lorenzen aufgeweckt. Sie hatte den Dieb in ihrem Zimmer am Schreibtisch (!) sich zu schaffen machend ertappt. Als sie aufschrie, sagte der Dieb in ruhigem sachlichen und höflichen

305 Frau Lorenzen war die Hauswirtin oder Hausbesitzerin in der Achenbachstraße; vgl. Br. 114. 306 Die Abkürzung steht für Macbeth. Gundolf war 1913 mit der Übersetzung von Shakespeares Macbeth beschäftigt, der als Teil von Bd. IX der Ausgabe Shakespeare in deutscher Sprache 1914 bei Georg Bondi erschien. 307 Vermutlich ist Ernst Gundolf gemeint, der „freie künstler“. Von ihm ist keine Übersetzung der Platon-Briefe überliefert. Mit einer solchen war damals Wilhelm Andreae beschäftigt, der schon am 22. 6. 1913 auf Anraten von Wolters George solche Übersetzungen geschickt hatte. Seit der gemeinsamen Schulzeit in Magdeburg war Andreae mit Thormaehlen bekannt, welcher wiederum die Bekanntschaft mit Ernst Gundolf vermittelte; vgl. Anm. 309.

Briefwechsel 1913 201

Ton zur Lorenzen: „Was wollen Sie denn?“ und verliess vor ihren Augen das Zimmer durchs Fenster. Dein Ernst Teurer Meister Ernsts Berliner Epos ist noch dahin zu erklären dass ich den Dieb sich allerdings entfernen sah – er war also nicht etwa die ganzen 3 Stunden da sondern kam später wieder. Gestern war ich noch einmal bei Holten und erfuhr dass die letzten Bogen im Druck seien. Morgen wird vielleicht schon ein Probeband hierher geschickt werden den ich sofort weiterschicke sobald Sie es wünschen. Die letzten Angaben waren wohl unzweideutig. Nur über die Art des Bindens und des Umschlags hatte Link allerlei Zweifel und schickt deshalb diesen ersten Band als Muster. Ich würde sehr hoffen dass Ihr Befinden es ermöglicht ihn hier selbst in Empfang zu nehmen.308 Staatliches gibt es nicht von Bedeutung. Eine Auseinandersetzung mit Andreae309 ist glücklich von statten gegangen. Von Robert kam heut eine Karte worin er schrieb dass er wieder in Ingelheim310 sei aber noch nicht in Bingen gewesen was er doch wohl wünscht. In Treue Ihr E. II Lieber Meister ∙ Wir erwarten Dich sehr nächste woche und waren etwas bedrückt ∙ dass es Dir doch nicht so gut ging ∙ aber übereile Deine abreise nicht sonst musst Du hier wieder liegen. Ich sehe schon ich werde so ziemlich bis Weihnachten hier bleiben. Ich bin reichlich faul ∙ in der stadt war ich nur zweimal und in meinen sonderangelegenheiten ist noch nichts unternommen 308 Es kann sich nur um einen Probeband für die ersten 10 Exemplare von Der Stern des Bundes handeln, die George für die nächsten Freunde auf Japanpapier drucken und in Pergament binden ließ. 309 Wilhelm Andreae (1888–1962), Magdeburger Schulfreund von Ludwig Thormaehlen. Über Andreae hatte Thormaehlen 1908 Anschluss an den Lichterfelder Kreis um Wolters und Vallentin gefunden und schließlich 1909 dort George kennengelernt. Als Kaufmann ausgebildet, studierte Wilhelm Andreae vor und nach dem Krieg Philosophie und promovierte 1921 mit einer Arbeit Platons Philosophie in seinen Briefen, habilitierte sich und führte – dem Faschismus zugeneigt – ein wechselreiches Leben als Hochschullehrer in Österreich und Deutschland. Mit George stand Andreae nur in den Jahren 1907–1913 in direktem, wenn auch sporadischem Kontakt. 310 Robert Boehringer war mit dem Firmeninhaber Ernst Boehringer von C.H. Boehringer Ingelheim nah verwandt. Er leitete während der Kriegsjahre diese Firma in Ingelheim.

202

Briefwechsel 1913

nur an Vöge verfasste ich eine denkschrift (der erste brief an ihn seit meiner prüfung)311 und erwarte zunächst eine antwort von ihm. Bei den alten ­freunden war ich aber überall herum. Gleich am donnerstag bei Andreae ∙ den ich wenig auch nicht zu seinem besonderen Besseren verändert fand. Die ­situation war etwas merkwürdig da er mit dem scherzenden ton anfing ∙ mit dem wir uns vor 3 ½ jahren getrennt hatten und Vallentin ihm offenbar grüsse von mir inzwischen nicht ausgerichtet hatte .  . Er war aber vorgestern mit dem kleinen Ernst bei mir der Platonbriefe halber und gefiel diesem indess ∙ der ihn noch nicht kannte gar nicht so ungut.312 Auch bei Wolters und Hildebrandt war ich einen nachmittag ∙ gestern abend mit dem kleinen E. bei Thiersch ∙ wohin sich auch Schmalenbach eingeladen hatte ∙ den ich übrigens vom Ansehen schon gut kannte ∙ er mich allerdings nicht. Vallentin wird von Samstag bis Dienstag hier sein mit der Diana. Herzlich Dein Ludwig.

155.  StG an EM

v. d. 31. 12. 1913 Brief ohne Umschlag München Römerstrasse 16 I

Lieber Ernst: eben komm ich in M∙ an und schreibe sofort wegen des dringendsten der herbestellung des Hans . Dein Brief hat mich wieder stutzig gemacht indem du schriebst dass du in seiner haltung etwas vermisst hättest. Kannst du es noch deutlicher sagen? Sein brief an mich kürzlich war sehr lieb aber auch sehr leicht. Was rätst du zu tun? Gieb ihm jedenfalls das beiligende blatt … Nun wegen der bilder: das einzige das abgegeben werden kann ist die mitgesandte vergrösserung  · sie ist in dieser form auch ohne aufziehen verwendbar und ich bitte dich nach anständiger umhüllung und verpackung sie sofort an Th zu tragen oder zu schicken. Diesen bitte ich mit folgenden worten (am besten auf visitenkarte) sie zu posten. Ich erlaube mir Ihnen eine der photographien zu senden. Da es mir auf eine

311 Im Sommersemester 1913 promovierte Thormaehlen bei Wilhelm Vöge in Freiburg mit einer Arbeit über den Ostchor des Trierer Domes. Nach seiner Promotion ging er nach Berlin und wurde 1914 dort Mitarbeiter von Ludwig Justi am National­ museum. 312 Vgl. Anm. 309.

Briefwechsel 1913 203

spezielle bildwirkung ankam so kann sie sich mit den üblichen porträts nicht messen ∙ giebt aber die haltung recht gut wieder. ergebenst u. s. w. (je nach wunsch) –313 Nun noch über euer verhalten und euren eifer! die art wie Du und L∙ die sache verlangsamt habt indem sich einer auf den andren verliess hat mich nicht sehr erbaut. Ich muss ja auch immer (auch im kleinsten) den kopf zusammenhalten Bei menschen die ihr leben lang hart am rand wandeln ist das unerlässlich. Ich bitte so ganz ungewöhnlich selten meine freunde um einen gefallen dass ich wenn ich hier ein versagen oder auch nur ein stocken merke es sehr empfinde (grad im kleinen und kleinsten) und mir dann eine weile die ganze freundschaft hinfällig ja komisch vorkommt. Mit dieser meiner nun lang bekannten beschaffenheit ist sehr zu rechnen. Nachdem ich heut nur äusserliches anführte ∙ red ich nächstens vom innerlichen. Herzlich  St. Blatt II ∙ Das beifolgende gewähre dir noch einen einblick ins staatliche getriebe. Bestelle zu einer gelegenen stunde den E∙ Berger Roscherstr: 9∙)314 und teil ihm mit dass ich damals durch meine jähe abreise ihn nicht mehr sehen konnte · und dass ich nach der rückkehr nur wenige tage geblieben wäre. Dabei fragst Du ihn folgendes was ich in einem brief nicht behandeln möchte: Ich hätte vorgehabt seinen freund Blumenthal mir in München zu bestellen, mache es aber davon abhängig dass wxx ⸢ich⸣ erst weiss mit welchen leuten er hier in M∙*) gesellschaftlich verkehrt: ob er ⸢(Berger)⸣ davon etwas wüsste! – – Ich habe nämlich bestimmte verdächte! Dann bitt ich dich noch möglich genau in der erinnrung zu forschen ∙ ob Hans damals als der die büsten bei dir sah schon den Gundolfschen vortrag gelesen hat.

313 Die Rede ist von den Fotografien, die Thormaehlen von den Brüdern Troschel in Thierschs Atelier aufgenommen hatte. Eines von ihnen sollte nun mit dem vorgegebenen Text Georges an den Vater der Knaben, Ernst Troschel, geschickt werden. 314 Erich Berger (1887–1960), Philologe und Lehrer, emigrierte 1939 in die USA. Er stand seit seiner ersten Begegnung mit George in Berlin mit diesem in lockerem Kontakt, vermittelte 1911 Albrecht von Blumenthal die Bekanntschaft mit George, wahrte selbst aber immer eine gewisse Distanz; das hierarchisch anmutende Jüngertum blieb ihm fremd. 1925 nahm er im Auftrag Georges die Erweiterung des Namensverzeichnisses in der 4. Auflage von Georges Dante-Übertragungen vor.

204

Briefwechsel 1913

*Dass er mit dem ganz scheusslichen! von K∙ intim ist weisst Du315

156.  EM an StG

31. 12. 1913 Brief ohne Umschlag

31 XII. 13 Vor allem ein reiches Jahr, lieber Meister! Die Bilder habe ich mit dem Text an Th. gesandt, da ich ihn nicht zu hause traf. Ich hatte wegen des Hans keine besonderen Befürchtungen nur dass er mir etwas zu rauh und zu leicht erscheint. Trauen kann man ihm aber auf jeden Fall, nur empfinde ich wenn ich ihn sehe diesen Geburtsmangel, für den er nichts kann, der ihn aber nicht ganz sich entwickeln lässt, recht schmerzlich316 Aussehn und Haltung ist sogar besser geworden – er hat sogar einige Linien zwischen Mund und Stirn. Als er die Büsten317 sah, hatte er bereits Gundolfs Aufsatz gelesen318 – ich weiss es genau, da er davon erzählte und ich ihn noch nicht kannte. Mit dem Abschicken der Bilder nach Magdeburg habe ich nur dem Wunsche L’s nachkommen wollen. Ich rechnete darauf, dass er sie sofort an Dich senden würde. Mit H. ist schwer zu reden. Für seine Zuverlässigkeit stehe ich ein – nur weiss ich nicht, ob die Wirkung gross genug bei solch einem Menschen sein kann! Mir geht es schwankend. Die Kinder sind hier. Dazwischen kommen bisweilen sehr unangenehme Domestika, die mich zu überwältigen

315 Laut Morwitz war Blumenthal in den Jahren 1907–1909 zuvor in Oxford mit Peter Otto Max von Krause, einem Bruder des Helmuth von Krause, zusammen (BB). 316 Worauf sich Morwitz hier bezieht, ist fraglich. Die soziale Herkunft kann kaum gemeint sein, da der Vater promovierter Jurist und Richter war. So muss man annehmen, dass der Jude Morwitz sich auf die jüdische Mutter (geb. Emanuel) Braschs bezieht. 317 Ende 1913 befanden sich die ersten von Ludwig Thormaehlen geschnitzten Büsten von Ernst Morwitz und Stefan George in einem provisorischen Atelier in der Geisbergstraße, der damaligen Wohnung von Ernst Morwitz. 318 Gundolfs Aufsatz Stefan George in unserer Zeit war gegen Ende 1913 bei Weiss in Heidelberg als dreißigseitige Broschur erschienen.

Briefwechsel 1914 205

drohen – doch hoff ich auf das neue Jahr, ich arbeite ziemlich viel wenn auch ohne Gedanken. Den Berger bestelle ich und werde ihn nach allem fragen. Dein Ernst.

157.  StG an EM

1. 1. 1914 Brief (Bruchstück) ohne Umschlag

helligkeit und blutwärme · adel und schönheit ist da ist kein mensch mehr da ist der wirkliche gott – aber alles was wir so in den lezten jahren gesehen haben reicht nicht an diese unbeschreibliche wenn auch zweideutige vollkommenheit. Das schmerzliche bleibt dass nicht der äussere zwang sondern das innere nötigen uns von ihm vielleicht auf immer trennen wird. –––– Eben gerade bekomm ich Deinen brief. Dank für die bestellungen – hoffentlich ist kein missverständnis: denn du sagtest du hättest „die“ bilder an Thiersch geschickt*) es sollte doch nur eins.319 Wegen Hans will ich es wagen · er soll einmal 2 tage herüberkommen · aber ⸢ich⸣ teile ihm noch genau die zeit mit: vielleicht ist der fasching die geeignetste zeit. Schreiben kann er wann er will + etwas zu fragen hat. Hier geht das leben seinen bekannten Münchner gang. Alles herzliche + gute fürs neue jahr! Auch für W + B . München · neujahrstag Römerstrasse 16 I

*Dein stil ist zuweilen gar zu lakonisch. Hast Du im Westend abgegeben?

319 Vgl. den voranstehenden Brief von Morwitz an George vom 31. 12. 1913.

206

Briefwechsel 1914

158.  StG an EM

München

n. d. 2. 1. 1914 Brief ohne Umschlag januar ∙ 1914

An Woldemar und Bernhard: ich war über Eure briefe sehr erfreut und sende Euch gleich eine antwort damit Ihr sie noch in Berlin leset. Die gedichte finde ich beide sehr gut320 – solang Ihr noch gedichte macht kann noch alles aus euch werden: ich glaube dass jeder weg zu irgend einer geistigen höhe wenigstens damit beginnen muss. – Wegen Wilde kann ich von dem einst gesagten nichts zurücknehmen ∙ ich gebe zu dass er neben dem blos verführenden zuweilen schönheit und wissen enthält ∙ aber es ist schönheit und wissen zweiter hand .  .321 Könnt Ihr denn soviel englisch um ihn gut zu verstehn? … Zu Bernhards satz muss ich sagen dass über richtigkeit von sätzen (zumal aus dem zusammenhang heraus) schwer geurteilt werden kann ∙ jedenfalls ist richtig dass der dichter der um ihn lebenden menschheit richtung geben kann dass er aber ein geringer dichter ist wenn er von dieser seine richtung empfängt …322 Ich folge Euch auch im neuen jahr mit grösster teilnahme Euer freund                   St. George

Liebster Ernst: gib Deinen freunden dies blatt und heb es dann für sie auf ∙ es in ihren händen zu lassen solang sie noch zur schule gehn ∙ scheint mir nicht angebracht.

159.  StG an EM

Poststempel München, 20. 1. 1914 Postkarte nach Berlin W.

l∙ E: ich erfahre eben von dritten dass der L∙ wieder in Berlin war oder ist. Warum sagt er davon nichts. Über Deinen lezten brief 320 Woldemar von Uxkulls Brief an George vom 2. 1. 1914 enthielt sein Gedicht „Aus wolken, aus den dunklen  …“, Bernhard von Uxkull fügte seinem Brief an George sein Gedicht „Die Welt“ ein (StGA). 321 Woldemar von Uxkull hatte sich auf Prosagedichte Oscar Wildes bezogen, darunter „Der Lehrer der Weisheit“. 322 Bernhard von Uxkulls Satz lautet: „Der Dichter gibt der Menschheit eine Richtung, die Menscheit gibt dem Dichter viele.“ (StGA)

Briefwechsel 1914 207

ist viel zu sagen doch wenig zu schreiben. Hier nur arbeit und dinge von denen ich Dir bald zu erzählen hoffe .  .  .  . Sonst scherereien die gar nicht zu mir passen ∙ deren art Du nur allzugut auch kennst .  .  .  . Den S∙ an M. P∙323 hast Du seitdem nicht mehr gesehen … Rob∙ war kürzlich auf 2 tage hier … Bald hörst Du mehr ∙ was macht H. Der A∙B∙ macht mir schwere sorgen.324 Das tier v∙ K∙ war nicht mehr bei Dir?325 es war in B∙      Herzlichst ∙ St.

160.  EM an StG

Poststempel Berlin C, 25. 1. 1914 Brief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl

Berlin 25. I 14 Lieber Meister: Dass L. hier ist, hast Du inzwischen von ihm gehört. Ich bin selten mit ihm zusammen, da ich den ganzen Tag alle Energie auf die Arbeiten verwenden muss. Es ist sehr ärgerlich, dass Du nicht von diesen äussern Wirren verschont bleibst – denn sie verbrauchen oft mehr Kraft als innere Angelegenheiten. H. T. hab ich trotz vieler Bemühungen weder auf den Eisbahnen noch an seiner Strasse (gestern) wiedergesehen – ich werde es weiter versuchen.326 Ich sprach Thiersch, der alte T. hat auf das Bild nicht geantwortet.327 Wir waren bei Wolters und 323 Die Abkürzungen stehen für der „Süße am Magdeburger Platz“, und gemeint ist Hans Troschel, vgl. Anm. 326. 324 Albrecht von Blumenthal war nach seiner altphilologischen Promotion 1913 in Halle nach München zur Habilitation bei Otto Crusius gewechselt, welche in der Folge scheiterte. 325 Helmuth von Krause, vgl. Anm. 290. 326 Hans Troschel (1899–1979), geboren in Berlin, später Maler, Graphiker und Kunsterzieher, verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Danzig und in China. Zu Beginn des Jahres 1914 befand sich H. Troschel noch in England, um dort die Sprache zu lernen. Erst gegen Ende 1914 kehrte er nach Berlin zurück und wurde in der Folge vom Vater, der in Belgien als Leutnant der Landwehr stationiert war, dorthin mitgenommen. Er verrichtete in Gent und Brüssel Ordonnanzdienste. Vater Ernst Troschel starb schon 1915, Hans Troschel, nach einem Leben im italienischen und albanischen Exil (bis 1956) nach Deutschland zurückgekehrt, lebte auf einer Insel im Oldenburger Land, wo er achtzigjährig starb. 327 George hatte den Vater Ernst Troschel, Regierungsbaumeister, durch die Vermittlung von Paul Thiersch, einem Kollegen, 1912 um die Erlaubnis einer Fotografie des dreizehnjährigen Hans Troschel und dessen Bruder gebeten; dieses Foto nahm Thormaehlen in Paul Thierschs Berliner Atelier auf; Abzüge des Fotos befinden sich heute im StGA.

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Briefwechsel 1914

haben aus dem neuen Buch gelesen.328 Inzwischen war auch der Fähnrich aus Neisse329 bei mir, den Vortrag in der Kriegschule über Dich habe ein gewisser Wagner aus Büdesheim gehalten.330 Ich habe den Fähnrich für Ostern, wo er nach Düsseldorf zurückkommt, an Ludwig empfohlen. (Er ist beschränkt aber anständig und gutwillig und bringt vielleicht bessere.) Jetzt hat er ⸢dem⸣ Ludwig bereits einen sehr rührenden Brief mit genauer Biographie ge­ schrieben! H. B. sehe ich nicht, sondern spreche ihn nur von Zeit zu Zeit telephonisch. Den v. K. habe ich der Verabredung zuwider nicht mehr zu mir bestellt, deshalb hab ich ihn seit dem Sommer nicht mehr gesehen. Ich hatte Wolters von dem Fähnrich erzählt, da er mir von allen möglichen Menschen gesprochen hatte. Als ich darauf am Abend zu ihm kam, fragten sofort Vall. und Andreä ⸢äusserst interessiert⸣ nach dem Fähnrich! (Menschenfang!) Gestern bei einem Referendar zufällig ein interessantes Zusammenkommen mit einem verkommenden ⸢„künstlerischen“⸣ 18jährigen Ministersohn, dem ich meine Meinung gesagt habe – er ist degeneriert und nichts für uns! Aber die Abstammung ist wichtig: Vater – von Achenbach, Mutter – Pringsheim!331 Schreibe bald Deinem Ernst.

328 Das neue Buch ist Georges Gedichtband Der Stern des Bundes. Auch Wolters hatte ein Vorausexemplar von George erhalten. Es befindet sich heute im StGA, vgl. Anm. 308. 329 Nicht identifiziert. 330 Der „Wagner aus Büdesheim“ war Georg Wagner, ein ehemaliger Binger Mitschüler Stefan Georges. 331 Paula Pringsheim (geb. 1869, 1944 nach Theresienstadt verschleppt und getötet), Tochter des jüdischen Bankiers Hugo Pringsheim, heiratete den Juristen Heinrich von Achenbach (1863–1933), der ab 1910 als Ministerialrat im preußischen Kultusministerium arbeitete. Sie hatten zwei Söhne, Gyso (geb. 1892) und Ado (geb. 1896), sowie eine Tochter. Die Altersangabe läßt darauf schließen, dass es sich hier um den jüngeren Sohn Ado handelt.

Briefwechsel 1914 209

161.  EM an StG

9. 2. 1914332 Brief mit Umschlag nach Bingen Berlin Freitag

Mein lieber Meister: Urteilst Du wirklich so hart über die Zeit in Berlin? Hier kann ich nur zu meiner Verteidigung sagen, dass ich mich bemüht habe, die Kräfte, die gewiss gegen meinen Willen in mir das Gleichgewicht zu stören drohten, niederzuhalten. So kam ⸢es⸣, dass die Entladung sich bei mir in der Freude am losgebundenen In-den-Tag leben äusserte. Ich weiss, dass dies nicht das erstrebenswerte ist – aber, egoistisch gesprochen, mich hat es vor so vielem schlimmen diesmal bewahrt, dass ich zufrieden ⸢sein⸣ muss. Nur die Furcht hatte und habe ich, dass Du mit diesen Motiven, selbst wenn Du sie anerkennst, Dich nicht begnügen kannst und etwas Dich noch in der Erinnerung quält! Ich brauche Dich nicht an andere Stunden zu erinnern, die auch waren. Nur bitte ich Dich, obwohl ich mich nicht gern auf Dinge ausserhalb meines Willens als Entschuldigung berufe, die Dämonen, die mich packten, als die Wurzel zu sehen. Ich bin wieder sicher geworden durch Dich und schon jetzt scheint es mir eine Ewigkeit, seit ich Dich nicht sprechen gehört habe. So gut es geht arbeite ich mit Gleichmut und gehe wenig aus. L. ist in Magdeburg, sieht Weng. öfters und kommt am Sonntag bis Montag zurück Er bleibt stets gleichmässig und schön – vielleicht das beste was man von einem Menschen sagen kann. Ich denke stets an Dich Dein Ernst.

162.  StG an EM

etwa 10. 2. 1914 Brief (Blättermarke Urnensignet) ohne Umschlag

Lieber Ernst: Ich will sehen dass ich mit der ⸢fragl.⸣ sache so zu end komme .  . sonst ruf ich Dich an … Was Du über H ∙ T ∙ schreibst ist betrüblich ∙ aber für Dich hat es ja nicht tief gesessen und du kannst leicht verwinden ∙ zumal du so reichlich zu arbeiten hast. Ich komme hier auch nicht so schnell los ∙ trotz der gemeinsamen tätigkeit mit Gundolf geht es

332 Datiert nach einem Brief Thormaehlens an George vom 12. 2. 1914, in welchem er von seinem Besuch bei Wenghöfer in Magdeburg berichtet (StGA).

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Briefwechsel 1914

erstaunlich langsam vorwärts …333 H mit L∙ zusammen bringen halt ich vorläufig nicht für gut  · da es für den armen H. wieder einen schweren kampf geben kann … Wenn W∙ L∙ etwas schreiben will so kann man ihn nicht abhalten da du dann jede aufsicht verlierst …* Vielleicht lässt er dich erst hineinsehen – ohne dass Du vorher ihn gespeist – geradezu gespeist – hast … Wegen der E. ist nur zu warnen ∙ ich will es vor Wolters nicht schriftlich ∙ doch kannst du es in meinem auftrag: sie spioniert ⸢+schwazt allerwegen⸣! Ihren mann ∙ ein kerl! und sehr bedenklich hat L∙ch∙ leider Bei W∙ eingeführt.334 Ach E! vorsicht ist immer not ∙ hüt auch Du deinen mund ∙ was du damals selbst erzähltest belehrt dich ohne mein zutun … Herzlich Dein St.

⸢kan [sic] ich noch nicht nach B. kommen brauchst Du niemand zu sagen damit die furcht den Wald hütet!⸣ Hast du deiner kleinen Mira aufsatz gelesen?335

333 Friedrich Gundolf und Stefan George arbeiteten an der Shakespeare-Ausgabe, Band IX Hamlet Macbeth König Lear, einer Revision des Schlegelschen Textes, und an zwei Neuübersetzungen Gundolfs. Der Band erschien noch 1914. 334 Bei den Erwähnten handelt es sich um Eva Müller und ihren Mann, den Wiener Maler Willy Müller-Hofmann (1885–1948). Dieser war neben Melchior Lechter mit Jacob Wassermann, Rudolf Alexander Schröder und Hugo von Hofmannsthal befreundet. Am 9. 2. 1914 schrieb Friedrich Gundolf im Auftrag Georges an Friedrich Wolters: „Vorläufig ergeht nur von Staatswegen Mahnung zur Vorsicht gegenüber einem gewissen M, Mann von Frau E M, da er mit Gesindel liiert ist. Vor allem ist vor jeder Introduktion zu warnen.“ (G/W, S.  96) Noch 1931 schickte Müller-Hofmann mit einem Begleitbrief zwei Abschriften von Briefen Hofmannsthals an George, in welchen dieser von George handelte (StGA). 335 Ein Aufsatz von Mira Koffka, Tochter von Georg Bondis Ehefrau Eva aus deren erster Ehe mit dem Bildhauer Max Klein, ist nicht bekannt. Sie hatte 1910 über Jean Paul promoviert.

Briefwechsel 1914 211

163.  StG an EM

Ende Februar 1914 Brief ohne Umschlag

l. Ernst: in den lezten tagen des februar geh ich aus Heidelberg weg und nach München ∙ ein paar tage bleib ich dort – wohin dann – werd ich noch schreiben. Bitte den Hans sogleich zu verständigen dass er sich für die ersten tage des März bereit hält nach M zu kommen.*) gib mir seine genaue adresse – und weise ihn an wie er in der R∙ strasse das tor geöffnet bekommt ∙ Grüsse Ludwig Dein SG. *ich bestelle ihn dann von mir aus!

164.  StG an EM

Poststempel Genua, 24. 3. 1914 Postkarte nach Berlin W.

aus W’s stadt336 Dir und ihm viel Liebes! Rückkehr noch unbestimmt.  St. Genua märz 1914

165.  EM an StG

Anfang April 1914337 Brief ohne Umschlag

Sonnabend Mein lieber Meister: Bei dieser guten – mich in grosse Freude setzenden Gelegenheit will ich Dir Grüsse senden und alles Gute wünschen. Meine erste Arbeit ist nach sechs mühsamen Wochen beendet. Bis zum 15. April hoffe ich Ruhe zu haben und erwarte Dich noch immer hier. Ende der Woche ziehe ich nach der Kulmbacherstr. 6 ptr. zu Förster. Aus Ilfeld die gute Nachricht, dass

336 Woldemar von Uxkull wurde in Bogliasco bei Genua geboren. 337 George befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in Italien, und Morwitz stand vor dem Umzug in die Kulmbacherstraße 6 in Berlin.

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Briefwechsel 1914

beide Sekundaner geworden sind  – augenblicklich ist der Bruder dort und greift – fürchte ich – etwas in meine Arbeit ein.338 Ich träume stets vom Hafen in Genua und von den Gartenanlagen über der Stadt,339 wo Du vielleicht gerade gehst und siehst und denkst. Dein Ernst.

166.  StG an EM

v. d. 12. 4. 1914340 Brief mit Umschlag aus Italien

Liebster: Hab ich damals zu viel versprochen? In dieser Hymne an die meer=kinder dürftest Du zweie wol erkennen! am meisten den Macht-rühmlichen (walte=mari)341 Wann ich zurückkomme ist noch nicht sicher B ∙ kommt jezt wol kaum mehr in betracht Hans gab mir damals in Genua eure briefe – dank Dir und Ludwig! Du erhältst bald durch Gundolf weitre nachrichten –

Einst mir verehrt und gastlich ∙ dann gemieden Vergelten nun die viel-gesichtigen wogen Die lange scheu? dass sie die sinne lenken Mitläufer sind dies ganze stück der fahrt? Du der in öden strassen ∙ quälend glück Vor uns erschienst ∙ als wunder zu verstehn Kamst von den Buchten wie der Nächste Liebste ∙ Wo wälder bis ans wasser ziehn ∙ wo früher 338 Ein weiterer Bruder der beiden Uxkulls, die sich in Ilfeld befanden, ist nicht bekannt. 339 George weilte in den Monaten März und April längere Zeit in Italien, in Genua, Camogli, Livorno etc. und zwar in der Gesellschaft von Karl Wolfskehl und besucht von Hans Brasch. Von diesem gemeinsamen Aufenthalt in Camogli erzählt Brasch sehr lebendig in seinen „Erinnerungen an Stefan George“ (Hans Brasch: Bewahrte Heimat. Hrsg. von Georg Peter Landmann, Düsseldorf/München 1970, S. 36  f.). 340 Ostern 1914 war am 12./13.  April und zu diesem Zeitpunkt war George wieder in München. 341 Das erste der drei Gedichte „An die Kinder des Meeres“ war auf Hans Troschel und Danzig bezogen, wo auch Morwitz geboren worden war, das zweite auf einen unbekannten schwarzhaarigen Jungen in Neapel, das dritte auf Woldemar von Uxkull und Genua, mit dessen Vornamen George hier spielt.

Briefwechsel 1914 213

Goldperlen trieben unerforschter welt. Und um die nördlich harte stirne spielt Und in dem kühlen aug ∙ ein schattenquell ∙ Zuckt dir entrücktester verbotner traum Weil ein geschick dein kinderhaupt gewiegt In schwanker schiffsnacht und im fabel-land. Sorglosen gangs schleppst du geheime kette Entziehst dich uns und giebst nur frohes hoffen Dass das geweihte blut der Licht-gehaarten Noch pulst in süss-unsinnigen verschwenden. Seefahrend heil und sucht des abenteuers Reisst dich ∙ den heftigen zauber frommer tage∙ Aus unsren augen auf das fernste meer. * Hier prangt die fülle: lacht der Ewigen milde Am frühlingstrande ihrer wahl .  . nur rauch Des bergs verrät gewaltig innre feuer … Du zögling dieser erd – entflammt und hold – Tritt vor der güldnen alter erzgebild Des Himmelsboten angeflehte füsse Und zeig dich ohne scham im ufertempel! Was fragt und wünscht vor dir der sinn?. er kniet .  . Und dennoch wie der Herr von tod und leben Ziehst du die seele nach an feinem faden Und schreckst mit langer schwarzer wimper wink So oft du kommst .  .  .  .  . Wie fahl ist diesser morgen – Sind streifen in der wölbung lichtem blau? Flecken von schwarz im tiefen fluten-blau? Gefährlich grollen unterm orgel-ton? Umwebt ein flor von heimatlichem weh Küsten der Lust und des Vergessens? .  . Nie!  .  . Noch blieb der selbe sonnen-prunk ∙ der glanz Der luft ∙ des opfertages reine stille .  . Nur das Du heute etwas trüber schautest Entstellt das hohe gott-bewohnte meer. * Ersehnter kömmling der an unsrer tür Oft uns zu kurzem gang im herbstwind lud

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Briefwechsel 1914

Dess fragend wort und sanftmetallnes lachen Trost war der winternacht .  . der lang gehegt Nun vor uns stehst geschmeidig frank und schön Auf der erblühten lippe heiliger ekel Und liebliche begier des götter sohns. Auch du bist unterm wellenlied geboren – An dem gestad des segens wo kein frohn Der emsigen not bedrückt bedrückt und noch kein hauch Der steten wollust lasse schlummer bringt. Am weiss-umsäumten stufigen vorgebirg Schaut durch des ölbaums silbriges gezack Bewegte grüne flut und blankes segel Und nachts am felsen dröhnt der ernste sang Des ewigen Triebs vereint der ewigen qual Nachdem unwissend freuden du gespendet Versippter uns durch der gemeinschaft brauch – Wirst bald du fahren · unsrer hut entzogen∙ Macht-rühmlicher! aus deinem edlen hafen In welches neue land auf welch ein meer?342

167.  StG an EM

Anfang Mai 1914 Brief ohne Umschlag D. donnerstag

liebster Ernst : ich wusste dass du den empfangstag dieser sendung als einen des sieges empfinden würdest: ich gönne ihn Dir! hierzu ist mündlich noch recht viel zuzufügen. Leider kann ich jezt nicht mehr nach B∙ zu Dir kommen. Ich hätt es früher leichter tun können auch wegen Ludwigs aber dessen sehnsucht nach mir schien mir damals zu papieren: mehr ernsthaft gesagt bei Deiner ständigen beschäftigung und bei Ludwigs geringerem bedarf meiner person – musste der grössere bedarf ­andrer menschen vorgehen! – Über W∙s Gedichte war ich aufs freudigste erstaunt  · wie alle junge wesen greift er natürlich 342 George veröffentlichte die drei Gedichte unter dem Titel „An die Kinder des Meeres“ in den Blättern für die Kunst X 1914 und später 1928 in Das Neue Reich (SW IX, S. 16  ff.).

Briefwechsel 1914 215

bald zu weit bald zu kurz ∙ aber ich glaube die zeit meines eingreifens auch auf diesem gebiet rückt langsam näher. – Einstweilen dank du ihm für mich! Von jezt ab bis 15ten mai bin ich in D oder H :also leicht auch für Dich zu erreichen — jedenfalls aber bitt ich Dich jezt schon zu überlegen wie es sommer + herbst werden wird damit ganz sicher auch dies jahr ein längeres zusammensein ermöglicht wird. – Von Italien werd ich Dir auch viel erzählen … Soweit will ich vorwegnehmen. Es war diesmal einsamer + fruchtbarer + und vor allem hat auch hier wieder ein erlebnis das immer rätselvoller das immer nach deutung strebender + manchmal unentwirrbar scheinendes erfreulich von neuem gelichtet!! Auch wegen des Hans hast du ein recht etwas vorweg zu erfahren. Ich war am meer bei Genua drei bis vier tage mit ihm zusammen: mir wurde dabei klar dass er anständig + sauber ist + dass man auch an den ‚Leichten‘ seine freude haben kann343 aber dies war die wichtigste erkenntnis: die nächste zeugung ist nur gestattet bei irgend einer gleichheit des schwere=verhältnisses! Ich durfte nicht

Jezt weisst Du alles  Dein St.  Küsse den L∙ Grüsse an R∙

168.  StG an EM

31. 5. 1914 Brief ohne Umschlag München Pfingsten 14.

Seele: auch ich bedaure dies lange fernsein – ich sehe zwar die wichtigkeit deines ganzen bemühens in diesem jahr nicht ein – ich weiss nur dass unsre mensch art eine begonnene sache durchführen muss … Ich sah in Heidelberg den L∙ der mir wieder von neuem gefiel + den ich in B. gut aufgehoben glaube.344 Jezt bin in M. Wolters ist auch ge343 George verbrachte mehrere Tage mit Brasch in Camogli; vgl. Anm.  339. Morwitz hatte in seinem Brief an George vom 31. 12. 1913 (Br. 156) Brasch als „zu leicht“ erklärt. 344 Josef Liegle (1893–1945) klassischer Philologe, studierte mit Unterbrechungen von 1912 bis 1922 in Heidelberg, u.  a. auch bei Friedrich Gundolf, und war mit dessen Heidelberger Kreisen befreundet. Er promovierte dort mit einer Arbeit Untersuchungen zu den platonischen Lebensformen. 1913/14 war er Lateinlehrer der Söhne Edith

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Briefwechsel 1914

kommen ∙ Vallentin war auf einen sprung hier. Gundel ist bei der F∙ in Wolfratshausen345 und kommt morgen herüber. Von Robert fortgeseztem kranksein bin ich garnicht erbaut. Hier muss eine besondere eigenwilligkeit äussrer art geschadet haben – leider hab ich ⸢den⸣ nicht gesehen. Das ganze Ingelh. mit seiner inneren unmöglichkeit hat damals nur ein auge vorausgeschaut!346 – Es freut mich dass du die beiden U’s gut aussehend fandest. Ich wusste das lezte mal in B∙ dass von dem knaben Woldi endgiltig ⸢abschied⸣ genommen ist – das gab mir die rührung – vor den nun beginnenden wirklichen geschicken des Menschen. Wirst Du ihn im sommer vor Deiner Abreise nochmals sehen? Bist du dann schon verreist? .  . Das lezte Heidelberg war sehr wichtig wegen meines P. Er hat einen teufel in sich aber andrer art als die bis jezt bekannten. Es ist schad dass Du ihn dies mal nicht gesehen hast .  . ob er später noch so schön ist kann niemand wissen. Er ist jezt achtzehn geworden und einerseits noch (trotz aller gescheitheit + gewecktheit) ein wahres kind .  . er versicherts auch + ich glaub ihm. Gegenüber ihm ist Woldi ein raffinierter aesthetischer an allen dingen wenigstens geistig geschmeckt habender Weltmann (sic!). Das ganz unerwartete der lezten wochen (stoff für eine ganze broschüre!) war dass er sich nach dem langen sträuben hingiebt soweit ein kind dies kann + und ich könnte mich glücklich schätzen. du wirst auch fragen: „was willst Du denn eigentlich noch?“ .  .  .  . Wenn ich die kämpfe mit einem wolbekannten

Landmanns und von 1922 bis 1927 bei Georg Picht im Birklehof, in den dreißiger Jahren Professor für antike Numismatik in Berlin. Über Robert Boehringer und die Landmanns kam er 1914 mit George in Kontakt, der seine Übersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen sowie seine Griechischstudien schätzte. Diese Schätzung führte zur Finanzierung der letzten Heidelberger Studienjahre durch Freunde wie den Nationalökonom Julius Landmann (1877–1931). 345 Fine von Kahler, geb. Sobotka (1889–1959). In Wien geboren, studierte sie Medizin, hörte später Vorlesungen bei Friedrich Gundolf, heiratete den wohlhabenden Kulturphilosophen Erich von Kahler. Als Juden verfolgt, zog sie mit ihrem Mann 1935 in die Schweiz und 1938 in die USA, wo sie nach der Scheidung von Kahler (1941) im Jahre 1959 starb. George schätzte die junge Frau sehr, förderte ihre Beziehung zu Friedrich Gundolf, der sie ebenfalls sehr verehrte und liebte. Sie aber entschied sich für eine Ehe mit dessen Freund Erich von Kahler. Erhellend ist der Briefwechsel zwischen den Männerfreunden, aber auch die umfangreichen Korrespondenzen zwischen Fine und den beiden Männern. Ein weiteres enges Verhältnis bestand zwischen Ernst Kantorowicz und ihr. Ihre Briefe an George aus den zwanziger Jahren belegen ihre fortwährende Sorge um Friedrich Gundolf (StGA). 346 In Ingelheim befand und befindet sich die Firma C. H. Boehringer, die Robert Boehringer ab 1914 für fünf Jahre leitete.

Briefwechsel 1914 217

schwarzen jungen347 bedenke der wirklich hässlich war + erst durch die küsse vor denen er sich sträubte wider willen schön geworden war –– ein kampf ums leibliche –: so ist hier un⸢be⸣greiflicherweise der kampf ein geistiger. Das ist schwer zu erklären hier liegen verwicklungen vor aus denen ich das ende noch nicht absehe  … Jezt hast Du wenigstens an einem eck die schweigens hülle gelüftet bekommen ∙ vielleicht weht dich aus diesen zeilen eine ganz fremde luft an die Dir bedeutsam ist. – In staats dingen348 ist manches was ich missbillige .  . auch hatt ich nicht gern dass du diesen verschwazten M.349 gesehen hast · es ist aber kein grosses unglück .  . andres ist schlimmer! Schreib bald wieder ein wort! damit du siehst dass es neben der ganz scheinhaften welt Deiner akten auch noch eine wirklichkeit giebt .  .  .  .   Dein St.. Von Friedemanns Plato bin ich aufs äusserste ergriffen. Das hätte ich nie gedacht! wo hat der das nur her – Das ist wieder ein schritt vorwärts. Mach dass Du im „starken Jahr 14 noch genug übrig behältst!

169.  EM an StG

2. 6. 1914350 Brief ohne Umschlag Pfingsten 1914

Mein lieber Meister: Ich kann den Sonntag nicht vorbeigehen lassen ohne Dir zu schreiben. Wie ich lebe, wirst Du von L. und Wolt. gehört haben. Vor zwei Tagen habe ich Clausurarbeiten geschrieben, so dass jetzt nur noch die mündliche Prüfung für Juli bevor steht.

347 Möglicherweise ist mit dem „wohlbekannten schwarzen jungen“ der angesprochene Ernst Morwitz selbst gemeint. 348 George hat die von Wolters eingeführte Bezeichnung „staat“ für die Freundeskreise um ihn übernommen. 349 Mit „M“ ist laut Morwitz der Dichter August Meyer-Oehler (1881–1920) gemeint, den er bei seinem Freund Lindenthal getroffen hatte (BB). Der Österreicher war Mitarbeiter der Blätter für die Kunst gewesen, George hatte seinen Gedichtzyklus „Feste der Epheben“ sogleich 1897 aufgenommen und 1904 erschien „Pharos der Feigengarten“ in den Blättern. Nach 1901 gab es wohl keinen persönlichen Kontakt mehr zu George. 350 Pfingsten war 1914 am 31. Mai und 1. Juni (Pfingstmontag). Daher kann der Brief erst am Dienstag abgegangen sein.

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Briefwechsel 1914

Jetzt sind die Kinder hier. W. ist ebenso lang, wie ich bin, geworden. Sein Zustand scheint recht gut. Hoffentlich gelingt mir, sie in diesen 4 Tagen wenigstens einmal ganz zu fassen. Von den Berliner Vorgängen wirst Du gehört haben. Den Wiener M.351 lernte ich bei Lindenthal kennen. Er ist sehr schlau und von einer mir nicht angenehmen inneren Feigheit. Er läuft hier zu sämtlichen Litteraten, die als „kluge Männer“ gelten  Von dem Sieburg erzählte er, dass dieser den Hofmannsthal um den Druck von Gedichten im Inselverlag gebeten habe. Hofmannsthal traue ihm aber nicht.352 Seit Jahren zum ersten Mal war ich jetzt am 1. Mai nicht bei Dir. Das ist mir sehr schwer gefallen und nur damit zu rechtfertigen, dass es eine ungeheure Kraftaufwendung nötig ist, um den Kram vielleicht zum Ende zu bringen. Steh mir mit Deinen Gedanken bei!  Dein Ernst

170.  EM an StG

14. 6. 1914 Brief ohne Umschlag 14. Juni 1914

Mein lieber Meister: von Widerwärtigkeiten geplagt kann ich mich heut erst zum Schreiben entschliessen. Dein Brief hat mir über eine Reihe öder Tage fortgeholfen. Dass P. sich so entwickelt, ist vielleicht das freudigste Ereignis der letzten Jahre und Du hast wirklich allen Grund zufrieden zu sein, ich möchte ihn gern recht bald sehen. Dieser Tage erwarte ich Ludwig , der mir viel von Dir erzählen muss, er hat mir schon einen grossen Brief geschrieben. H. B sprach ich zwei mal es liegt nicht an meiner Unruhe, dass ich augenblicklich ein Zusammensein mit ihm nicht recht ertrage und seine Art, an der gerade ich Schuld trage, als nicht recht für ihn passend empfinde. Mehrere Gänge nach dem Magd. Platz zeigten mir nur den grösseren T. , er sieht vulgär aber gut aus und ist sehr blond geworden, H. T. war bisher nicht sichtbar, ich forsche weiter.353

351 Vgl. Anm. 349. 352 Hofmannsthals Gesammelte Gedichte waren 1911 im Inselverlag erschienen. Das Gerücht konnte nicht belegt werden. 353 Ernst Troschel war der ältere Bruder von Hans Troschel, er wurde 1912 ebenfalls fotografiert, obwohl das Interesse Georges von vornherein auf Hans Troschel gerichtet

Briefwechsel 1914 219

Was Du über W. U schriebst, ist leider nur allzu richtig  – aber ich hoffe auch immer, dass ⸢für⸣ seine Gattung die äusserste Bewusstheit geradezu notwendig ist. Damit Du meinen guten Willen [sic], schreibe ich Dir ein Gedicht von ihm auf – ich habe selbst trotz Mühen nichts fertig gebracht .  . Dein Ernst.

Wir gingen über tote sandige Flächen Und trugen Wasser mit in ehernen Schalen Da stiegen unsres Durstes bittre Qualen: Wir fingen an vom Lebenstrunk zu zechen Und da wir bald von Einem Trank genährt Den Leib im heissen Sande ruhen liessen Begannen unsre Seelen neu zu spriessen Wir sprachen bald die Herzen zugekehrt. Und wir gedachten nicht des ewig gelben Sandes Die Seelen nährten lang noch die verdorrten Kehlen Einander wollten wir das Heiligste uns stehlen: Der Mensch macht erst die Fülle eines Landes.

171.  StG an EM

v. d. 20. 7. 1914 Brief ohne Umschlag

Seele danke dem L∙ für seinen schönen brief. Ich hatte sein haus vergessen sonst hätt ich selber geschrieben  … Ich freue mich  … vorläufig sind wir hier im Bernischen in einem kleinen ort – wissen aber noch nicht ob wir hier bleiben. Herzlichst                   S∙ G. Adr: S. G. Saanenmöser (Bern)

war. Ernst Troschel meldete sich 1914 freiwillig zum Kriegseinsatz und wurde Fähnrich. Mit „blond“ wurde weniger die Haarfarbe bezeichnet als ein ganz bestimmter Typus, der nicht nur positiv konnotiert war.

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172.  EM an StG

Briefwechsel 1914

Poststempel Berlin W, 20. 7. 1914 Brief mit Umschlag nach Saanenmöser (Bern), Schweiz Montag Culmbacherstraße 6

Liebster Meister: Ich habe nicht an Dich direkt geschrieben, da ich Deinen Aufenthaltsort nicht kannte.354 Meine äussere Sache ist nun glücklich zu Ende gebracht, und es fragt sich jetzt nur noch um den weiteren Weg. Ich will Dir folgendes vorschlagen: Ende September oder Anfang Oktober will ich nach Heidelberg kommen und dort den Winter verbringen. Doch bin ich auch zu allem anderen bereit, was Du für gut hältst und vorschlägst. Die Italienreise wird dann vielleicht im Frühjahr möglich. Für Herbst und Winter aber möcht ich vor allem aus Berlin fort, damit ich zu Dir komme und den Familienschutt von mir wälze. Was ich sozusagen „werden“ soll, ist mir qualvoll ungewiss, darüber muss ich vor allem mit Dir sprechen. Augenblicklich hab ich Weltjammer, denn ich habe jetzt die freie Bestimmung über mich wiedererlangt und soll handeln – vorher dagegen wurde ich geschoben! Sonst manches neue: L ist in Leipzig, kommt morgen zurück. W. U. ist in guter Zeit – und macht, wie ich glaube, recht schöne Gedichte. Gestern war ein Primaner aus Ilf. , der Sohn des dortigen Superintendenten und Lutherforschers, zu mir gekommen – ein Freund des B. und von beiden bearbeitet.355 Er sieht recht gut aus, und ich habe allerlei Hoffnungen. Jedenfalls wird Gundolf einen guten Schüler in ihm haben!

354 Der 20. 7. 1914 war ein Montag, Datierungsangabe in Brief und Poststempel stimmen überein. Morwitz muss im Laufe des Tages noch Georges Aufenthaltsort erfahren haben, da der Brief in Widerspruch zu seinem ersten Passus direkt an George in Saanenmöser adressiert ist. 355 Adalbert Cohrs (1897–29. 7. 1918) war der Sohn des Superintendenten der Grafschaft Hohnstein in Ilfeld, Ferdinand Eduard Theodor Cohrs. Er besuchte von 1910 bis zum Abitur im Juni 1915 die Klosterschule in Ilfeld. Cohrs zog nach dem Abitur sogleich als Freiwilliger in den Krieg, wurde als Leutnant der Reserve 1917 wegen eines Nervenzusammenbruchs in ein Lazarett und 1918 wegen einer Diphterieerkrankung in ein Erholungsheim in Schierke eingewiesen. Einem für Anfang August drohenden Einsatz an der Front entzog er sich zusammen mit Bernhard von Uxkull durch Fahnenflucht. An der Grenze nach Holland wurden sie am 28. 7. verhaftet und schieden durch Suizid am 28. 7. (Bernhard von Uxkull) und 29. 7. aus dem Leben. Georges Urteil über Cohrs war nach einem ersten Treffen im Januar 1917 sehr positiv ausgefallen, für Cohrs selbst war die Begegnung lebensverändernd. George stand in den Jahren 1917/1918 in engem Kontakt mit dem Freundespaar, konnte aber dessen

Briefwechsel 1914 221

Kommst Du vielleicht Anfang September hierher, reisen wir zusammen nach H ? Denk bitte über und an mich, grüsse alle von Deinem Ernst.

173.  StG an EM

n. d. 20. 7. 1914356 Brief (Blättermarke Urnensignet) ohne Umschlag

Liebster Ernst: aus Deinem brief verlautet etwas müdheit und du sprichst kein wort über Deinen nächsten aufenthalt ∙ ist da ein dunkler punkt? Was nun den sept. angeht so vergissest Du beides  · 1. dass nämlich weder G (noch sonst jemand) vor anfang des semesters in Heidelberg ist d.  h. frühestens mitte october. 2. dass wenn ich alle die dinge die für dies jahr geplant sind erscheinen lassen will – ich sehr früh dies jahr nach Berlin muss (oder nähe) sagen wir erste hälfte des sept. und dass diese arbeiten geraume zeit in anspruch nehmen.357 Bitte Ludwig zu fragen was er für die nächste zeit für reisen vorhat und ihm zu sagen dass unter umständen die Schweiz schon ende juli aufhören kann. Ich dachte daran noch längere zeit in München zu bleiben ∙ ende august dagegen etwa nach Darmstadt zu kommen … Sein traum dass ich einige tage in Heidelberg gewesen wäre und auch Robert gesehen hätte – war eine tatsache .  .  .  .  . Von München habe ich sehr wichtige dinge zu berichten: sie hängen auch mit dem zusammen was Du als nächste aussicht ins leben träumst.*) Eine sache die dich noch angeht will ich nun doch schreiben obwohl ich sie auch lieber gesagt hätte: W. L. hat nun den endgiltigen Brief geschrieben: d.  h. er ist jezt wirklich gekommen (nach der voraussage!) .  .  Worauf ich ihm sofort erwiederte dass ich gleich wenn ich nach Berlin käme ⸢mit⸣ ihm sprechen würde.358 tragisches Ende nicht verhindern. Literarisch ist es in dem Dialoggedicht „Victor * Adalbert“ als Opfertod der Freunde verarbeitet (SW IX, S. 94  ff.). 356 George antwortet auf Morwitz’ Brief vom 20. 7. 1914 und bezieht sich unter anderem auf denjenigen von Walter Lindenthal an ihn vom 14. 7. 1914. 357 Gegen Ende 1914 erschienen die umfangreiche 10. Folge der Blätter für die Kunst (BfdK X) und Friedemanns Platon. Der Plan eines weiteren Jahrbuchs hingegen zerschlug sich. 358 Walter Lindenthal, Freund von Ernst Morwitz, wohnhaft in Berlin, schrieb in diesem letzten überlieferten Brief an George, wenn er nicht zu ihm gehören würde, dann

222

Briefwechsel 1914

Es drängt mich sehr über das wichtigste allgemein geschehnis der lezten Jahre (das ich dir bereits andeutete) zu sprechen auch die sache mit Robert ist in ein andres stadium getreten … es ist ein treiben und drängen im staat – wundre dich also nicht wenn Du auch etwas davon spürst St. Wann werd ich W. U. einmal wieder sehen? jedenfalls muss die begegnung nicht jahrelang hinausgeschoben werden und etwas plan und voraussicht lohnt sich in allen dingen.

*) Da ist auch ein buch als symptom wichtig an dem wir nicht vorübergehen ∙ wichtige ⸢dürfen⸣ – über Jugendkultur – so dumm der schreiber ist!359

174.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 26. 7. 1914 Brief mit Umschlag nach Saanenmöser (Bern), Schweiz

Sonntag Liebster Meister: meine müde Stimmung hat eine natürliche Auslösung gefunden in einem kräftigen Fieber – jetzt bin ich fast wieder hergestellt. – Mein nächster Aufenthalt ist in Berlin. Ich ermögliche mir auf diese Weise die Heidelberger Zeit. Doch will ich noch nichts festes bestimmen sondern warten bis Du in Berlin bist und ich alles besser besprechen kann. – Die Nachricht über W. L. hat mich in grosses Erstaunen gesetzt – ich wusste von diesen Vorgängen nichts und war seltener mit ihm zusammen als jemals zuvor. Wegen des W. U dachte ich an die Oktoberferien  – aber ich weiss nicht, ob er nicht nach Oesterreich reist. Wenn die Begegnung in Berlin nicht möglich sein sollte, könnte man ihn wohl einmal nach Nordhausen bestellen, wenn Du gerade

fehle ihm die Luft zum Atmen. Er könne so nicht leben, könne George nicht zwingen, sich aber auch nicht durch „Hass“ befreien. Er bittet nochmals, an George als an das „Unverlierbare“ denken zu dürfen (StGA). 359 Es handelt sich um das Buch Schule und Jugendkultur von Gustav Wyneken, das 1914 bei Eugen Diederichs erschien. Gustav Wyneken unterrichtete in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, die Elisabeth Salomon von 1907 bis 1909 besuchte. Ihr Vater erwirkte dessen Entlassung mittels Veröffentlichung der Korrespondenz zwischen seiner Tochter und Wyneken. Die Dichtung Georges spielte für Wyneken und die Schulgemeinde eine wichtige Rolle. Morwitz wiederum sah sich als berufener Erzieher der Jugend um George.

Briefwechsel 1914 223

durchreist (?) Er wird Dir Gedichte schicken. Gerade jetzt hat er aus Binz360 einen Klage­brief geschrieben. Ich weiss von dem Primaner Dinge über Ilf. , die ich nur erzählen kann und die Dich äusserst interessieren werden. Auf die Münchener Neuigkeiten bin ich sehr begierig, das Buch werde ich mir besorgen.361 – Simmel hat mir unter dem Stadtbahnbogen in der Friedrichstrasse ein langes Kolleg über seine Wirkung in Strassburg gehalten, er betonte seine – im Gegensatz zu Dir – auf das Weiterbringen der Gesamtheit gerichtete Tätigkeit und war rührend.362 Ich warte wie alles wird. Komme doch nur möglichst früh in diesem Jahr nach Berlin!  Dein Ernst Ludwig wird selbst schreiben.

175.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 10. 8. 1914363 Postkarte nach Saanenmöser (Bern), Schweiz 9. August 1914

L. M. Ich erfuhr eben durch Frl. Schwartzkopff364 Deinen Aufenthalt. Ludwig , dessen Militärverhältnisse noch nicht erledigt waren, stellt 360 Binz ist ein Seebad auf der Insel Rügen. 361 Vgl. Anm. 359. 362 George war dem Philosophen Georg Simmel (1858–1918) 1897 zum ersten Mal im Haus des Malerpaares Lepsius begegnet. Es entwickelte sich schnell eine freundschaftliche Verbindung, die sowohl Gertrud Simmel als auch Friedrich Gundolf und Gertrud Kantorowicz einschloss. Simmel wurde um die Jahrhundertwende einer der wichtigsten Propagatoren Georges durch Vorlesungen und Aufsätze wie Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung von 1898 oder seine Rezension von Der Siebente Ring von 1909. Die persönliche Beziehung lockerte sich spätestens ab 1910, endgültig mit Simmels Berufung auf eine ordentliche Professur in Straßburg im Jahr 1913. Nach Morwitz’ eigener Darstellung reagierte George auf den brieflichen Bericht über die Begegnung mit dem Spruch „Der Weisheitslehrer“, der im November 1914 in der 10. Folge der Blätter für die Kunst zu lesen stand; vgl. EM, S. 468 und SW IX, S. 87. 363 Erster Brief nach der Kriegserklärung Deutschlands an Russland am 1. August. 364 Erika Schwartzkopff (1886–1925), ab 1915 Ehefrau von Friedrich Wolters, besuchte eine höhere Töchterschule, studierte zwei Jahre lang Geschichte. 1910 traf sie bei Lesungen im Lichterfelder Kreis auf George, den sie in den folgenden Jahren nicht nur häufig sah, sondern auch versorgte. Seit 1911 unterhielt sie eine Liebesbeziehung zu Wolters und wurde nach der Eheschließung während des Krieges und bis zur ­Berufung von Wolters an die Marburger Universität auch zur Familienernährerin als kaufmännische Leiterin einer Seifenfabrik. Ihr Haus stand vor allem in den Jahren 1920 bis 1925, ihrem plötzlichen Tod, Schülern, Freunden und George jederzeit

224

Briefwechsel 1914

sich in Düsseldorf. Ich selbst gehöre zum Landsturm, habe mich jedoch beim Kriegsgericht zur Verfügung gestellt. Hans Brasch steht in Bonn. Friedemann zieht mit.365 Ob Ludwig ⸢an⸣ genommen ist, weiss ich nicht. Vor allem hoff ich, dass Du recht bald in München sein wirst. Es ist schauderhaft jetzt untätig in Berlin sein zu müssen. Robert , der zum Landsturm gehört, soll in Spremberg sein. Gib bald Nachricht Dein Ernst Absender Assessor Dr. Morwitz, Berlin W, Culmbacher Strasse 6.

176.  EM an StG

n. d. 9. 8. 1914 Brief ohne Umschlag

Mein lieber Meister: Ich hoffe bestimmt, dass Du diesen Brief in München erhalten wirst  – ob meine nach der Schweiz gerichteten Karten angekommen sind weiss ich nicht, deshalb wiederhole ich das wichtigste aus Ihnen [sic]: von uns hier sind Soldaten der Hans B Friedemann – beide sind aber noch in Deutschland, kommen aber in den nächsten Tagen nach Belgien oder Frankreich. Wolters bewirbt sich durch seinen Prinzen um irgendeinen Posten.366 Ich bin an vielen Stellen für das Kriegsgericht vorgemerkt, glaube aber nicht, dass ich dort ankommen werde. Von Vallentin und Robert aus Spremberg wirst Du bessere Nachrichten haben als ich. Walter

offen. Auch betreute sie George während dessen Klinik- und Erholungsaufenthalten in Bad Wildungen 1920 und 1922. Sie hatte am 5. 8. 1914 Saanenmöser und George verlassen. 365 Heinrich Friedemann (1888–1915), Philologe, Philosoph und Historiker, stand seit 1911 mit George und Gundolf in Verbindung. Ende 1914 erschien seine Studie Platon. Seine Gestalt im Verlag der Blätter für die Kunst. Entstanden war sie schon unter dem Eindruck der Jahrbücher für die geistige Bewegung und dem Einfluss Georges. Er fiel 1915 drei Monate nach seinem 27. Geburtstag in der Winterschlacht in Masuren. Seine Platonstudie wurde kreisintern zu einem der meist geschätzten Bände in der Reihe der Geistbücher. 366 Wolters diente in den Jahren 1907/1908 als Mentor des preußischen Prinzen August Wilhelm (1887–1949), dessen staatswissenschaftliche Dissertation er für ein angemessenes Honorar mitverfasste. Dokumentiert ist dieses Verhältnis im Nachlass von Friedrich Wolters im StGA.

Briefwechsel 1914 225

,367 Hildebrandt und ich gehören zum Landsturm, der vielleicht bei großen Verlusten auch noch aufgeboten wird, Thiersch ist völlig ausgemustert. Lindenthal hatte sich zum roten Kreuz gemeldet, scheint aber wieder davon abzukommen und sieht sich in Gedanken als Kriegsfreiwilligen. ­Ludwig scheint verstimmt darüber, dass er in Cöln für untauglich befunden worden ist. Wir waren hier in einem regelrechten Taumel, nur Vallentin scheint wütend darüber, dass nach seiner Meinung die Bürger jetzt wieder Berechtigung vor sich selbst haben. Trotzdem war die Einigkeit und der Furor diesmal wirklich zu spüren und dass dies noch möglich ist, ist wunderbar und zeigt die grosse schlafende Kraft. Nur wünschte ich, dass der Sieg nicht zu leicht würde  – aber dies wohl durch die Art des Krieges ausgeschlossen. Jedenfalls hält man es hier in Berlin kaum aus. Ich bin Richter in Schöneberg und komme mir bei dieser an sich schon lachhaften Tätigkeit so masslos komisch vor, dass ich als der jüngste der Beteiligten allen immer wieder ins Gesicht lachen muss. Nur die Bitte habe ich, dass Du recht bald herkommst. Ich glaube auch, dass Ludwig in den nächsten Tagen nach Berlin kommen wird. W. u B sind in Ilfeld. Wenghöfer möchte sich gern betätigen. Gib mir bitte nur ein Zeichen ob Du diesen Brief erhalten hast. Dein Ernst

Tod des Prinzen L368  –– ebenso schlimm oder schlimmer vielleicht für die Zukunft wie als Krieg

177.  StG an EM

undatiert, n. d. 25. 9. 1914 Brief ohne Umschlag (Blättermarke Urnensignet)

l. E: Alles war aufs schönste gerichtet und ich wartete umsonst .  . auch von Dir kam keinerlei aufklärung. Nun ist der 15te vorbei und ich reise morgen – 367 Zu Walter Wenghöfer vgl. auch Anm. 207. Seinen Kriegseinsatz betreffend, schreibt er am 3. 8. 1914 an Hanna Wolfskehl: „Leider bin ich nicht mal im Landsturm und habe auch hier das Schicksal des Zuhausebleiben Müssens.“ Er überlege, sich als Krankenpfleger zu melden, fürchte aber, es, ähnlich wie Nietzsche, nicht durchzustehen (StGA). 368 Friedrich Gundolf hatte am 30. 8. 1914 George vom Tod des Erbprinzen Luitpold von Bayern, Sohn des Kronprinzen Rupprecht von Bayern, des Siegers von Metz (21. 8. 1914), unterrichtet (G/G, S. 258).

226

Briefwechsel 1914

zunächst nach Mainz369 ∙ dann Darmstadt – Heidelberg … Übrigens kannst du deinen J’s sagen dass diese nachlässigkeit Jlange nachgerechnet wird ∙ sie hat vielleicht noch ein nachspiel … Pcy war mehrmals hier ∙ ist ziemlich unverändert .  . Berlin aber scheint mir wie ausgestorben ∙ auch Ludwig steht nicht zu erwarten ∙ J.  L. verlässt gleichfalls eben die stadt. Heut war ich schon mehrmals dem weinen nah: Albrecht ist seit 25. sept. vermisst ∙ war in der Champagne ∙ was braucht man noch weiter zu wissen! .  .  .  .  . Gestern nahm ich abschied von Deiner mutter. Sie hat mehrmals mich hier freundlichst versorgt .  . auch sah ich dabei Deine zweite schwester …370 Halte Dich weiter gut. ich hätte erwarte [sic] dass auf Deine nachricht vorige woche wo du von einem unwolsein sprachst schneller eine weitere gefolgt wäre .  . Dein ST. G. Berlin freitag abend

178.  StG an EM

Poststempel Spremberg, 29. 9. 1914 Postkarte nach Berlin W.

Seele schreib bald was wie s dir geht ∙ ich weiss noch nicht wann ich komme ∙ die arbeit geht gut fort. Seh ich dich sonntag? Der „nachklang“ ist so gut dass er von mir sein könnte nur an zwei stellen musst ich – gewiss mit deiner billigung – leicht drüber hinfahren371 Herzlich St Der Brief den H. geschrieben ist nobel weit über den sonstigen H. hinaus.372

369 Robert Boehringer wohnte während der Kriegsjahre auf dem Kästrich in Mainz, als er in Ingelheim die Firma C. H. Boehringer leitete. In dieser Wohnung hielt sich Stefan George mehrmals über längere Zeit auf. 370 George wohnte in der Wohnung von Morwitz, Kulmbacher Straße 6. 371 Es handelt sich um das Gedicht „Nachklang“ von Ernst Morwitz, das George als viertes Gedicht an seine drei Gedichte „An die Kinder des Meeres“ anschloss und 1928 in Das Neue Reich als eigenes Gedicht veröffentlichte (SW IX, S. 19  f.). 372 Im StGA liegt ein Brief von Hans Brasch an George vom 23. 9. 1914, in welchem Brasch u.  a. mitteilt, dass er als Freiwilliger bei den Husaren diene und sich sowohl vor einer Niederlage als auch vor einem Sieg Deutschlands fürchte.

Briefwechsel 1914 227

: Was heisst? Verronnen fast + schon von wiederkehr ???373

179.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 20. 10. 1914 Postkarte nach Berlin W, bei Frau H. Lorenzen

Welch frohen Wechsel brachte dieses Jahr: Endymion ∙ der Schläfer ∙ ward erweckt Von einer Liebe die wie Rührung war! So sitzt er jetzt gelehnt an seinen Speer Mit schlaffen Armen auf dem Marmorrund Und seine Augen blicken feucht und schwer Und die Locken schatten licht auf Wang und Mund. Sein fuss dess silber oft den Mond erschreckt Rührt an des guten Hundes zotteligem Haar Und auf dem Knie spielt suchend ausgestreckt Die rostige Hand mit lässiger Begehr. Er weint und lächelt unter Tränen wund Dies Trotzen aber – seine einzige wehr – Gibt den Erwählten fromm sein Sehnen kund. W. W.374

373 George fragt nach der Bedeutung von Vers 39 in Morwitz’ Gedicht „Nachklang“. Er nahm später den Vers in leicht geänderter Fassung („Verronnen fast und schon in wiederkehr .  .“) in das von ihm als eigener Text publizierte Gedicht auf. 374 Die Initialen weisen auf Walter Wenghöfer als Verfasser hin. Das Gedicht fand keinen Eingang in die Blätter für die Kunst.

228

180.  FG und StG an EM

Briefwechsel 1914

wohl 9. 11. 1914 Brief (Blättermarke Urnensignet) ohne Umschlag

d. M. bittet alle anfragen u. besorgungen nicht in der bekannten lässigen Weise, sondern schnellstens zu erledigen. Antwort wegen des Zitats ist auch noch nicht eingetroffen. Bitte Holten anzuweisen sofort nach Andrucken ein Probeexemplar hierher zu senden.375

Liebster Ernst: ich kam am sonntag früh gut an und sah am nachmittag den P. in Mannheim · zurselben stunde erhielt er die nachricht dass er heut montag ausrückt. Ich habe in dieser kasernen gegend + stube und vor diesem menschen doch die ganze schwere der ereignisse mehr empfunden als bei den andren die ich aus meinem arm entliess. P. ist äusserlich ein richtigerer soldat als die andren: aber trotz der vergröberung und der einwickelung dies gesicht gehört einer andren menschensorte an ∙ einer höheren ∙ und er hat was der noch so gute gewöhnliche soldat nicht hat ∙ er hat die schönen traumaugen! es ist etwas was mich doch mit bangen erfüllte als ich abschied nahm. Er giebt sehr gut seine ansichten wieder wie er sieht dass er jezt in den krieg musste – wie er jezt an gar nichts andres denken dürfte – aber das macht er sich zwanghaft doch nur vor: sein blick sagt dass er innerlich gar nicht so gefestigt ist und noch ganz andres denkt!! Ernst Ernst auch die „Blonden“ ist kein eindeutiger begriff. Bei P. ist noch andres ∙ er ist roh auf der einen seite gefühlsmässig ja-sam [sic] auf der anderen – die kontraste sind anders vermengt. Ich weiss dass sie – jene – nicht fertig werden dass sie unterliegen – dass wir die überlegenen sind aber Ernst! hier sizt ein Dämon von dem ich nicht weiss ob wir ihn zwingen dürfen und können: Der P. ist mehr eine Macht als alles was du kennst von jungens! Mein leben mit ihm ist sinnbild uralten kampfes!! Ich sehe jezt erst wie friedlich diese Berliner tage waren  – und bin in der stimmung sehr gedrückt ∙ in den nächsten tagen muss ich einmal nach Heidel375 Wahrscheinlich ist ein Probeexemplar von Friedemanns Platon-Buch gemeint. Auf den Text dieser Studie ist auch die voranstehende Frage nach dem „Zitat“ in Gundolfs Notiz bezogen. Es geht um ein Zitat aus Platons Ion 534, B in Friedemanns Kapitel „Der Kult und die Kunst“ (S. 136), von diesem übersetzt unter Zuhilfenahme des von George geprägten Kompositums „denkerstörung“ in dem Eingangsgedicht „Weihe“ der Hymnen von 1890. Das Zitat lautet: „Denn ein leichtes wesen ist ein dichter und geflügelt und heilig und eher kann er nicht dichten als bis er begeistert und bewusstlos geworden ist und fern der denkerstörung.“

Briefwechsel 1914 229

berg denn P. hat mir aufgetragen dass ich manchmal zu seiner mutter gehen möchte376  … sie bewahrte damals in Mannheim nur mühsam ihre fassung und ich kann nicht an diese frau mit den vier söhnen denken ohne erschüttert zu werden. Gundolf I + II grüssen. Küsse den Ludwig an den ich viel denke. Dein St.

181.  EM an StG

n. d. 12. 11. 1914 Brief ohne Umschlag

Sonntag Lieber Meister: Täglich schöpfe ich Sahne von den fetten Blättern377 und ich lege mich abends kaum zu Bett ohne nochmals die Gedichte des S.  S. gelesen zu haben –378 Dein Brief hat mich aufs äusserste ergriffen, ich sehe alles vor mir und verstehe was Du über den ewigen Kampf schreibst. Ich habe doch die Hoffnung, dass gerade er heil zurückkehrt. Ich wollte noch über die Begegnung mit H. T berichten. Ich wartete am Mittwoch bei sehr schlechtem Wetter sehr lange, bis er kam um Obst zu holen. Ich trat ihm entgegen, fragte wie es in der Schule ginge. Er sei nicht in der Schule, sei vor wenigen Tagen aus England zurück gekehrt, dort habe er bei Freunden die Sprache lernen wollen, in welche Schule er jetzt wieder gehen würde, wisse er noch nicht. Ich fragte nach dem Bruder, der sei 376 Marie Luise Gothein (1863–1931), Ehefrau des Heidelberger Kulturhistorikers Eberhard Gothein, verfasste Biographien englischer Dichter und eine noch heute bekannte Geschichte der Gartenkunst. George stand seit 1910 mit ihr in freundlicher Beziehung, nicht zuletzt die Sorge um den Sohn Percy teilend. Schon zu Kriegsbeginn, am 21. 8. 1914, war einer ihrer vier Söhne gefallen. 377 Am 12. November 1914 erschien die 10. Folge der Blätter für die Kunst ohne Namensnennung der jeweiligen Autoren in einem Band. 378 Die 10. Folge enthielt Gedichte von Saladin Schmitt (1883–1951), einem entfernten Verwandten Georges mütterlicherseits, mit dem George seit 1905 in Kontakt stand. Schmitts Gedichte wurden von George und später auch im Kreis geschätzt. Sie stammten ausnahmslos aus den Jahren 1905 bis 1909, später schrieb Schmitt keine Gedichte mehr. George sah ihn mehrfach, zuletzt noch auf Bitten Ernst Bertrams, mit welchem Schmitt befreundet war, 1910 in Köln, und Schmitt besuchte ihn in Bingen. Das erste der Gedichte in der 10. Folge: „David des Buonarotti“ trug ihm den Kreisnamen „David-Dichter“ ein. Streitpunkt und Grund für die zunehmende Entfremdung war Schmitts Begeisterung für das Theater, dem auch sein gesamtes späteres Leben gewidmet war, lange Zeit als sehr erfolgreicher Intendant des Bochumer Schauspielhauses.

230

Briefwechsel 1914

Fähnrich. Als ich nach den Bildern fragte, meinte er sie hätten ihm und den Eltern sehr gefallen.379 Damit waren wir fast vor seinem Hause angelangt, ich liess mich dem Vater empfehlen und wünschte baldiges Wiedersehen. Er war sehr befangen, sah mich kaum an und in Pausen schossen Blutwellen in sein Gesicht. Als ich fortging – sah ich mich um: er war über und über rot. Die Formen seines Gesichtes sind noch fester und klassischer geworden, doch fehlen die Höhlungen, die ihm das schillernde gaben. Er hatte eine starke Erinnerung an das Frühere – aber sein Geist, der sicher gar nicht schwach ist, schläft auf eine sonderbare animalische Art – wohl nie durch Geist und Herz erweckbar! Seine Sprache war früher eher geistiger, seine Augen sind wohl wissend, sehen aber nicht in den anderen hinein. Erstaunt war er nicht. – Noch eine schlimme Botschaft jetzt: der Ro. aus Jena soll gefallen sein!380 Von W. aus Ilf. hatte ich einen wirklich ergriffenen Brief – die Wirkung scheint sehr gross. Gestern kamen Bogen von Friedem. , ich schicke sie an Dich und Wolters.381 Einen Brief von Rob. , der wieder in Mainz ist, lege ich bei Ich bin bei Dir        Dein Ernst.

182.  EM an StG Poststempel Berlin W, 18. 11. 1914 Brief mit Umschlag nach Darmstadt, bei Dr. Friedrich Gundolf Liebster Meister: Als armseligen Dank für Deinen Brief nimm heute dies eben entstandene Gedicht, aus dem Du das heutige Erlebnis nur allzu leicht herauslesen wirst! Über das Erlebnis selbst werde ich noch ausführlich berichten. Das Impr. ist für sämtliche Bögen erteilt, heute oder morgen wird alles fertig! Ist meine Karte nicht angekommen. Ich schickte die Correkturen nur mit, weil sie gerade hier lagen!

379 George hatte Thormaehlen gebeten, mit Erlaubnis der Eltern Fotos von den Brüdern Troschel im Atelier von Paul Thiersch zu machen. Sowohl Thormaehlen als auch Thiersch waren mit dem Vater Ernst Troschel bekannt. 380 Zu Rosenthal vgl. Anm. 17. 381 Vgl. Anm. 365.

Briefwechsel 1914 231

Die Lorenzenschen Bogen sollen folgen  – ich habe sie schon  – ebenso wie Dein Siegel – bei mir.382 Grüsse an Alle  Dein Ernst. Mittwoch.

183.  StG an EM

n. d. 18. 11. 1914 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: die Blätterfolge ist eingetroffen und alles so wie ich es gewünscht habe. Auch dein gedicht hat mich gefreut – leider mehr des halbverstandnen erlebnisses willen als weil ich es durchweg billigte. Jene von uns oft so gelobte „direct“=heit oder wirklichkeit genügt auch nicht allein zum gedicht: das kunst=werden ist ein neuer vorgang. Aber ich bin sehr zufrieden dass du als dichter wie staatswächter auf dem posten bist ∙ liebster ich muss dich glaub ich überhaupt viel mehr stacheln und in diesen bewegten zeiten darf ich einerseits Dir nicht zu viel ruhe lassen — andrerseits müssen wir die diesmal ungebührlich früh getrennten uns in verbindung setzen durch das gehasste + geschmähte schreiben es ist jezt nötiges übel … Gundolf wurde durch die X F. etwas von seinen kriegerischen betrachtungen abgezogen er lobt + bewundert in einem fort rät an den Namenlosen herum  – + möchte um jeden preis den jungen dichter David u. a ausfindig machen ∙ auch das übermässig gescheite kleine E-chen rät noch herum lobt krittelt + lobt .  .  .  .  .  .  . Gundolf war mit mir in Heidelberg er hat 70 zuhörer (freilich auch viel -rinnen  aber ist zufrieden. Heidelberg ist sehr schön so aber recht verödet + von allen städten die ich inzwischen sah merkt man dort am meisten von der veränderten lage ∙ überhaupt kommt einem hier viel mehr viel „directer“ der krieg zum bewusstsein als in Berlin. Rührend ist wie alle Jungens des G. vom feld fast regelmässig an ihn schreiben. Es giebt mehr wieder „wie es so zugeht“ als alle zeitungs blätter. Besonders ein leutnant schreibt an seine schwester ganz wundervoll anschauliche briefe … aber leider darf man sie nicht weitergeben weil viele

382 Im Hause Achenbachstraße bei der Hauswirtin Frau Lorenzen hatten sich wohl Georges Siegel, ein Sankt Georg, und Korrekturbogen befunden.

232

Briefwechsel 1914

„arcana“ darin stehen die sich zur veröffentlichung nicht eignen. Erzählen werd ich dir später manches daraus …383 Dies ist eine Entdeckung des G. von der zu wissen auch Dir sehr angenehm sein wird + die nach dem krieg ins staatliche bereich tritt: Bester adel in persönlichen verbindungen mit sogenannten „höchsten kreisen“ und sehr wichtig für nachrichten über den geistigkeitsgrad dieser schichten von dem man sonst wenig hört oder nur durch hören=sagen.384 Ich glaube dass ich jezt mit diesen vier seiten reichlich meine schuldigkeit getan habe … Morgens ist Shakespeare – mittags gang + unterhaltung. Lechter ist seit 5 tagen da + reist morgen. Bitte auch Ludwig zu küssen + schreibend zu beeinflussen *)  Dein St.

*) er möge als brief die „Nassenheider“ reste hierher schicken.385 Damit sie nicht trocken werden

184.  EM an StG Poststempel Charlottenburg, 18. 11. 1914 Brief mit Umschlag nach Darmstadt, bei Dr. Friedrich Gundolf Busstag Lieber Meister: Du wirst inzwischen Ludwig’s und meinen Brief erhalten haben. Heute, als ich gerade mit Ludwig einen Gang machen wollte, kam uns unerwartet Robert nachgelaufen. Er sieht sehr wohl aus, ist für seinen Onkel ⸢hier⸣, wir sehen ihn vielleicht nicht mehr. Er sah die Blätter zum ersten Mal und war sehr erstaunt besonders über die David-Gedichte. Der kleine E. scheint mir in dem Dezembergedicht Wenghöfers Nachfolge angetreten zu haben!386 Es ist kindlich und raffiniert zugleich und gehört zu meinem eisernen Bestand. Von W. aus Ilf. erhalte ich alle paar Tage kleine Ergebenheits- und Zugehörigkeitsbeweise in einer merkwürdig un383 Laut Morwitz könnte es sich um einen Leutnant von Haeften handeln. Seine Schwester habe auf Bitte des Bruders dessen Briefe an Friedrich Gundolf gesandt (BB). 384 Es könnte sich um einen Bruder von Marie Josephe von Hoesch handeln, mit welcher Friedrich Gundolf in Heidelberg freundschaftliche Beziehungen unterhielt. 385 Von einer Firma in Nassenheide bezog laut Morwitz die Gräfin von Uxkull ihre Zigaretten, und diese hatte sie George wohl als Bezugsquelle für Tabak empfohlen (BB). 386 In der 10. Folge standen sechs Gedichte Ernst Gundolfs unter der Überschrift „Gedichte“ (S. 141–145), darunter das „Dezember“ überschriebene Gedicht (S. 144).

Briefwechsel 1914 233

schwanken Schrift. Die Wirkung des letzten Gespräches muss sehr gross gewesen sein – hoffen wir, dass sie anhält. Kann mir der Gundolf vielleicht den Hölderlin Sonderdruck verschaffen?387 Hildebrandt hat sein Exemplar zurück verlangt und ich vermisse das Buch sehr. Andreä hat bereits aufgehört Soldat zu spielen. Sonntag abends waren Ludwig und ich allein bei Thiersch. Wir lasen abwechselnd fast die ganzen Blätter – ich habe L. noch niemals so gut lesen hören. Das Zusammensein verlief sehr gut. Sei nun recht von Herzen gegrüsst Dein Ernst. Grüsse den Gundolfs! Sag doch dem kleinen E., dass heimtückische Leute ihm die David-gedichte zutrauten!

185.  EM an StG

30. 11. 1914 Brief ohne Umschlag

Berlin 30 XI 1914. lieber Meister: Hier hat sich wenig ereignet. Man schwatzt viel vom Krieg. Ziemlich sicher scheint es dass die Deutschen ein Mittel haben Schiffe zur Explosion zu bringen  – dadurch sollen ausser den bekannten drei weitere englische Kriegsschiffe untergegangen sein, deren Verlust noch geheim gehalten wird. H. B. ist noch immer in Bonn. Von H. T. war nichts mehr zu sehen, vorgestern nachts um 1  Uhr sah ich den Vater vorm Haus. Aus Ilf. dauern die Ergebenheitsadressen an. Die Grf. hatte mich zu einer Besprechung wegen der Buben geladen, in der ich ihr wüste Wahrheiten gesagt habe – das wichtigere ⸢aber⸣ ist, dass ich mir den Vater, der dabei war, wohl ziemlich 387 Norbert von Hellingrath hatte 100 Exemplare des vierten und wichtigsten Bandes seiner Hölderlinausgabe Gedichte Hölderlins 1800–1806 mit den neu aufgefundenen Gedichten ohne philologischen Apparat drucken lassen und sie an Freunde und Familie verteilt. Morwitz war nicht bedacht worden. Eine in Hellingraths Nachlass überlieferte Liste der Empfänger weist George als Nr. 1 aus, weitere Exemplare gingen an Friedrich Gundolf, Friedrich Wolters, Ludwig Klages, Karl Wolfskehl und Albert Verwey, aber auch an Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke (WLB).

234

Briefwechsel 1914

gewonnen habe: „wir wünschten beide die Zerstörung französischer Bauten, damit die sog. Barbaren einmal wirkliche Barbaren wären.“ Das schien er von einem „Künstler“ nicht erwartet zu haben. Heut kommt der kleine Sal,388 der so rührend schreibt, dass ich ihn nicht länger hinhalten kann. Zu haus gibt es mancherlei Ärgerliches, gegen das ich mit Mühe und List anzukämpfen versuchen muss. Es ist widerlich, dass man nie am Ende damit ist. Hier send ich Dir noch Wenghöfer Portrait,389 als Ergänzung des Endymion-gedichtes und zu meiner Befreiung von einem gewissen Stil gemacht, – vielleicht bereitet es Euch Vergnügen. Doch hab ich auch etwas Gutes fertig – aber erst für Weihnachten. Alles Gute Dein treuer Ernst. Bildnis Am Abend schleichst du schon aus dem Gemach Seltsamer Fremdling – biegst um öden Wall Zum Strom wo sich die Sonne blutend brach Und starrst wie fiebernd in den schwarzen Schwall. Der frohe Gruss der Wandrer lässt dich stumm Als fürchtest du der eignen Stimme Schweben. Doch fragt dich wer ∙ so drehst Du drohend um Den Feind zu messen und den Dolch zu heben. Um deine Schläfe quere Risse steigen Wie Eichen die verwittern sturm-umfasst. Die dunklen Riefen deiner Augen zeigen Dass du gelitten und geweint viel hast.

388 Gemeint sein könnte Ludwig Salinger (1892–1915), ein Sohn von Leo Salinger (1858–1942) und Gertrud Kalischer-Sieburg, einer Schwester von Edith Landmann. Die jüdische Familie lebte damals in Berlin. Der Sohn Ludwig fiel am 26. Januar 1915 in Frankreich. 389 Wohl das folgende Gedicht von Morwitz mit dem Titel „Bildnis“.

Briefwechsel 1914 235

186.  EM an StG Poststempel Berlin W, 7. 12. 1914 Brief mit Umschlag nach Darmstadt, bei Dr. Friedrich Gundolf Montag Liebster Meister: Der Landsturm ist hier ⸢schon⸣ bis zum Jahrgang 1889 bereits eingerufen. Die Leute wurden (d.  h. 90 von 100!) ohne weitere Untersuchung in die Infantrie gesteckt. Um dies zu vermeiden, habe ich mich zum Roten Kreuz gemeldet, was mich wohl befreien würde. Noch kann ich zurücktreten. Deshalb bitte umgehend Nachricht ob Du mein Tun billigst! Dein Ernst

Die Einberufung meines Jahrgangs erfolgt spätestens Anfang Januar. Wenn sie geschehen ist, kann ich nicht mehr freiwillig zum Roten Kreuz!

187.  EM an StG

31. 12. 1914 Brief ohne Umschlag

31. XII 14 Mein lieber Meister: Ich hatte deswegen zu den Gedichten nichts geschrieben, weil ich Dich durch ein dickes Gedicht-paket zum 26. überraschen wollte.390 Mit meinem Plan wirst Du etwas ausgesöhnter sein wenn Du die näheren Umstände erfährst. Ich gehe am 11. Januar in in [sic] am Tiergarten gelegenes Krankenhaus und lerne dort vier Wochen praktisch. Etwa am 1 Februar ist dann meine Ausbildung fertig und ich habe mich zu entscheiden, ob ich in die Etappen gehe, Heimatsdienst in Berlin tue oder die ganze Sache aufgebe! Auf diese Weise warte ich zunächst ab, wie die Lage am 1 Februar ist. Falls ich überhaupt Lust verspüren sollte in die Etappen zu gehen, werde ich es vor Frühlingsanfang nicht tun, da ich ja bis dahin und überhaupt so lange wie ich es will Heimatsdienst tun kann. Ich bin ferner, selbst wenn ich mich entschliessen sollte, ins Feld zu gehen, nur drei Monate gebunden. Leicht ist der Dienst selbst in der Ausbildungszeit nicht von 8 – 8 mit zwei Stunden Pause, aber dies liegt mir mehr in meinem Alter als mich vom Infanterieunteroffizier kuranzen zu lassen, wie es jetzt gerade mit einem 32jährigen Bekannten

390 Dem 26. 12. kam als „Stephanstag“ besondere Bedeutung im Kreis um George zu.

236

Briefwechsel 1914

von mir geschieht. Die Lage wäre nicht nur peinlich sondern lächerlich. Der Landsturm wird noch im Januar eingezogen. Das ist geschäftliches fürs neue Jahr  Ich fürchte mich nicht vor ihm, da ich mich vor dem Tode nicht fürchte aber lebendig ruinieren kann ich mich jetzt nicht mehr lassen. Nun wichtigeres: Der Student aus Halle391 fragte nur, wo die Blätter erscheinen, er hat sofort Antwort bekommen. Bisher war W. U. allein hier da B. sich krank fühlte und sich rebellisch weigerte, nach Hause ⸢zu⸣ kommen. Er will es erzwingen aus dem Kloster genommen zu werden – ich sah ihn gestern kurz an der Bahn – er sieht sehr leidend und geistig aus und ist sehr gross geworden. Seine Gedichte hatte ich für Dich abgeschrieben. Es sind vielleicht die letzten Ferien und ich mache ungeheure Anstrengungen alles hineinzupressen doch ich glaube ich [sic] sie sind soweit um ohne mein Zutun „ihre Form zu erfüllen“ und ich hoffe, dass Du sie nie ganz aus den Augen lassen wirst. H. T. war trotz Bemühungen nicht zu sehen. Sonst hier nichts zu entdecken. Wolters kam neulich in Uniform zum Abschied, er schien ernst und zufrieden zu sein. Am Sonntag wollte ich zu Wenghöfer nach Magdeburg, was ich schon solange versprochen habe. Aber er war krank und auch ich fühlte mich nicht wohl. Wieder einmal kam der Hans oder sein Schatte durch Berlin und das Zusammensein drückte mich nieder. Dem Ludwig geht es gut, er arbeitet viel für sich, wir sehn uns fast täglich392 Nun, mein Meister, wünsche ich ein gutes Jahr wie man es so unter Bürgern tut aber mit reineren und tieferen Gefühlen. Uns kann nichts überraschen was kommt, da wir immer gewappnet sind, das ist unsre Stärke. Vor allem aber wünsche ich dass P. G gut aus dem Kriege kommt,393 auf uns andere kommt es nicht mehr an, da wir die vollste Zeit unsres Lebens doch gut gefüllt hinter uns haben. Auf immer Dein Ernst. 391 Am 19. 11. 1914 hatte sich Herrmann Nobbe aus Halle an George gewandt und sich als zugehörig erklärt. Er war an Ernst Morwitz verwiesen worden, der sich mit ihm in Verbindung setzte. Dies berichtet Nobbe in einem zweiten Brief vom 14. 12. an George, in welchem er u.  a. bittet, diesem seine Gedichte vorlegen zu dürfen (StGA). 392 Thormaehlen teilte George am 24. 12. mit, dass er am 7. 1. 1915 zur Musterung müsse. 393 Percy Gothein hatte sich nach dem Abitur sogleich als Kriegsfreiwilliger beim Infanterie-Regiment 110 in Mannheim gemeldet. Am 15. Juni 1915 erlitt er einen Kopfschuss in Galizien.

Briefwechsel 1915 237

188.  StG an EM

7. 1. 1915 Brief ohne Umschlag

liebster Ernst: ich kenne alle Deine gründe in Deiner sache: nur glaub ich dass Du nicht richtig voraussiehst: aber meinet wegen! es ist auch so nicht schlimm. Zu Weihnachten wollt ich Dir dein buch besorgen ∙ aber Du nimmst es jezt ebenso gern.394 Es folgt mit diesem brief. Auch sonst hab ich Deine ungeistige betätigung mit erfrischenden nachrichten zu würzen. In einem wol versiegelten packet von dessen bestehen ich nichts mehr ahnte fand ich ausser einem sechsstrofigen W.-W (noch ungedruckten!) noch eine reihe von mir ganz entfallenen des David-dichters ∙ merkwürdig wie der hinter uns steht und doch am wenigsten von uns weiss! Auch eins höchst seltsam ähnelt so einem Stern=gedicht dass es danach gemacht scheint und doch liegt das neu=entdeckte drei jahre zurück!395 sind da nicht noch dunklere zusammenhänge? Dieses sowol als weitere seltsame (auch ein monolog) zeig ich Dir gelegentlich ∙ das schönste leg ich in abschrift bei.396 Zeig und sag dies auch L ­ udwig   .  . Dann geb ich auch noch das ganz einzige bild des P∙ weniger wegen der person ∙ wer weiss ob sie sich noch ganz deckt ∙ sondern Ernst! zur Lehre: worauf wir sehen müssen wenn wir suchen. Betracht es in diesem sinn oft und genau: worin das göttliche liegt. Ein dreiklang von kraft ∙ adel und traum –! Das ist das eigentliche! – Umarme den Ludwig und sagt nicht – dass ich euch nicht genügend … beachte .  . Im märz dacht ich noch einmal nach Berlin zu kommen ∙ was den sommer wird – darüber zu bestimmen wird immer fraglicher. München 7 januar 1915                     St. Von vielen wissenswerten einzelheiten aus dem Feld werd ich Dir noch berichten. Wir erhalten sehr viel nachrichten. Der meiste kam von jenem Heyer

394 Die Sonderausgabe von Hellingraths viertem Hölderlin-Band mit den Gedichten 1800–1806, vgl. Anm. 387. 395 Die Gedichte Saladin Schmitts stammten sämtlich aus der Zeit vor 1909; erste sieben Gedichte hatte George 1914 in BfdK X abgedruckt, die jetzt wieder aufgefundenen veröffentlichte er 1919 in BfdK XI/XII. 396 Das von George abgeschriebene Gedicht Saladin Schmitts befindet sich noch heute, von den Briefen getrennt und ohne Angabe des Verfassers, im Nachlass von Morwitz. Es handelt sich um das Gedicht „So seltsam ist dass wir davon nicht sprechen“ (BfdK XI/XII, S. 227), vgl. Textanhang, S. 571  f.

238

Briefwechsel 1915

(ein herrlicher lausbub!)397 der acht tage urlaub bekam wegen einer kleinen verwundung .  .  .  . Dass man einen wirklichen preussischen leutnant küsst – steht damit nicht die welt schon auf dem kopf!!!

189.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 13. 1. 1915 Brief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl

11. I  1915. Liebster Meister: Brief und Gaben überzeugen mich, dass Du mein Vorhaben – heute beginnt die praktische 4wöchentliche Ausbildung – wenigstens nicht für ganz unmöglich hältst. Das Gedicht ist der Sinnlichkeit der sparsam gesetzten Bilder und des geheimen Inhaltes sehr schön398, das Bild ist ein geradezu wundervolles Monument399 und das Hölderlin Buch hatte ich schon sehr vermisst.400 Der kleine Bernhard ist noch hier um sich zu erholen ich gewinne ihn von Tag zu Tag lieber, er wird öfters zu Ludwig gehen wenn ich zu tun habe. Wir freuen uns, dass Du wenigstens planst im Maerz hierher zu kommen – ich hoffe bestimmt im Maerz hier zu sein. Ludwigs Zukunft wird sich am 18. Januar entscheiden. Er wird seines Herzens wegen wohl nicht genommen werden, jetzt arbeitet er fieberhaft und lernt mit jedem Tage mehr dazu. Gestern waren Thierschens401 und ich bei Ludwig zusammen und haben gelesen. Hildebrand soll auch jetzt auf Urlaub und Wolters fährt viel herum. Val-

397 Gustav Richard Heyer (1890–1968), Arzt. Von ihm ist ein Brief an George vom 5. 8. 1914 überliefert, in welchem er sich zu George bekennt: er sendet einen letzten Gruß an denjenigen, für den er auszieht, um sich für das Vaterland zu opfern oder sich zu stählen für einen anderen „heiligen Krieg“. (StGA) 398 Es handelt sich um die ihm von George übersandte Abschrift des Gedichtes von Saladin Schmitt (Br. 188). 399 Das im vorangegangen Brief Georges erwähnte Foto von Percy Gothein. Bekannt sind das Foto des Vierzehnjährigen von 1910, aufgenommen im Auftrag Georges im Hause Gothein, sowie spätere aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. 400 Morwitz erhielt ein Exemplar der Sonderausgabe von Norbert von Hellingraths viertem Band der Sämtlichen Werke Hölderlins: Gedichte 1800–1806, der 1914 in 100 Exemplaren gedruckt worden war. Vgl. Anm. 387. 401 Paul Thiersch war verheiratet mit Fanny, einer Schwester von Kurt Hildebrandt, vgl. Anm. 162.

Briefwechsel 1915 239

lentin, den du wohl selbst gesprochen hast, macht alle Augenblicke mühelose und gute Gedichte.402 Sehen muss ich Dich im Frühjahr auf jeden Fall! Es muss ermöglicht werden, selbst wenn Du nicht kommen solltest. Vorläufig aber rechnen wir bestimmt mit Deinem Kommen Dein Dich liebender Ernst. Der Brief ist liegen geblieben. Inzwischen habe ich eine Halsentzündung bekommen, die aber schon im Heilen ist.

190.  StG an EM

16. 1. 1915 Brief ohne Umschlag M∙ 16 jan 15

liebter [sic] Ernst: hier in München war der anfang nicht ganz erfreulich · zwischen manchen kleineren geschehnissen die des schreibens nicht wert sind. Das wetter auch ganz aus den fugen: bald war es wolkenbruchartiges strömen dann wieder tage wie im frühling warm + sonnig + die landschaft vor und in der stadt ganz italienisch: hier ist doch die einzige deutsche stadt die mit ihren plätzen ausblicken und türmen von geistigem licht bestrahlt wird. Ich war nah daran vor einer woche euch in Berlin zu überraschen. K∙ W∙ ist aus familien=gründen noch immer in Darmstadt und das haus war durch bauliche änderungen bis zu diesen tagen etwas ­unbehaglich  … Hätt ich gewusst dass der süsse noch in Berlin wäre403 so wäre jene staatliche neben=handlung als ausschlagendes gewicht in die wagschale gefallen .  .  .  .  . Einen sehr merkwürdigen aufsatz des kleinen Einsilbers Nohl404 von dem ich einmal erzählte war am 31. dez in der socialen „Neuen Zeitung“ in Zürich: Deutschland und der St. d. B.405 Hat einer von euch davon gehört? … Ludwig soll auch wieder etwas hören lassen.

402 Überliefert ist eine frühe kritische Reaktion Georges auf Gedichte Berthold Vallentins vom 17. 5. 1904, Dunkelheit und Wirrheit beklagend (StGA). 403 Morwitz hatte zuvor berichtet, dass Woldemar von Uxkull sich noch in Berlin befinde. 404 Laut Morwitz waren George „monosylable“ Leute immer verdächtig (BB). 405 Am 31. 12. 1914 war in der Neuen Zürcher Zeitung und schweizerischem Handelsblatte, Fernausgabe der von George genannte Artikel „Deutschland und der Stern des Bundes“ von Johannes Nohl erschienen. Nohl (1882–1963), Bohemien und freier Schriftsteller, lebte eine Zeit lang in der Künstlerkolonie auf dem Monte Verità. In einem Brief an George vom 20. 5. 1913 bekannte er sich zum Einfluss Georges auf

240

Briefwechsel 1915

Auf meinem tische schlagen 4 sehr bekannte augen die augen nieder                                                                                                                    Herzlich Euer  St∙G. Dein lezter brief war etwas „un-geheizt“ ∙ so muss ich geheizter schreiben.

191.  EM und BU an StG Poststempel Berlin W, 19. 1. 1915 Brief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl 19. I. 15 Lieber Meister: Dein Brief hat mich erfreut und ich bedaure aufs äusserste, dass du nicht vorige Woche hierher gekommen bist. Meinen Dienst, der durchaus nicht anstrengend ist, habe ich im Krankenhaus angetreten und, Dir ein Zeichen von meiner üppigen Lebensweise zu geben, zeichne ich auf, dass jetzt nach dem Abendessen der Freitag abreisende, mir sehr liebe Benno bei mir ist und wir hier an Dich dort denken. Dein Ernst 19.I.15. Lieber Stefan George: Auf die Nachricht hin, daß Sie vorige Woche vielleicht kämen, habe ich mich sehr gefreut und bedaure ebensosehr, daß Sie ferngeblieben sind. Ich hoffe, daß Ihnen meine letzten Gedichte gefallen haben und bitte Sie um Vergebung, daß ich sie nicht selbst abgeschrieben habe; ich wurde daran verhindert, weil ich damals krank in Ilfeld lag. Ihr herzlich ergebener Bernhard.

192.  StG an EM

Poststempel München, 28. [?] 1. 1915 Postkarte nach Berlin W.

Seele du hast wieder einmal einen schönen triumf erlitten. In dem langen aufsatz Verweys über die X (voll einseitigkeiten aber doch sehr bemerkenswert) wird das George’sche „Nachklänge“ besonders belobt. Der dichter der „Sonnette“ bekommt zwar sein bescheidneres teil ∙ das lezte der Reihe ist immerhin ganz abgedruckt.406 – Hälst Du für gut wenn ich jezt dem Bernh. sein Leben (StGA). Sein Bruder Herman Nohl (1879–1960) war Dilthey-Schüler und ab 1919 Professor für Pädagogik in Göttingen. 406 In der Zeitschrift De Beweging vom Oktober 1914 fand sich eine Besprechung der 10. Folge der Blätter für die Kunst von Albert Verwey. Verfasser der „Sonnette“ war

Briefwechsel 1915 241

auf seine gedichte persönlich antworte? schon wegen des eindrucks auf den andren München jan 15                 St∙ G

193.  EM an StG Poststempel Charlottenburg, 1. 2. 1915 Feldpost, Brief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl Berlin. 1. II 15 Liebster Meister: Der Verwey-Triumf hat mich sehr erfreut! Ich schrieb Dir noch nicht, dass ich den Aufsatz vom Nohl407 gelesen habe und wirklich gut finde. Zwei Anekdoten aus dem Geheimleben des Meisters M. L. sollen folgen: 1) im Hause Salinger*408 äusserte er, als die Tochter erklärte, sie unterrichte im Kriegskindergarten, die Frage, ob sie denie Kindern St. G.’sche Gedichte lesen lehrte! 2) Bei U’s in der Fürtherstr. erzählte ein Herr von Sachs, dass bei einem Abschiedsessen, das Reinhardt409 beim Verlassen seines alten Hauses am Kupfergraben gegeben habe, unter anderen berühmten Persönlichkeiten der Maler M. L. zugegen gewesen sei. Dies hörte Bernhard als Tischgespräch bei einer Gesellschaft!!!! Es wäre sehr schön wenn Du nach Ilf. einige Worte schreiben wolltest! B. ist absolut verlässlich und auch für seine Ordnungsliebe kann ich bürgen. Diese äemulatio würde sicher sehr wirksam sein – das jesuitische Erziehungsmittel hat sich bei nicht ganz verlorenen Objekten ja immer bewährt.

wiederum Ernst Morwitz. Ohne Verfassernamen fanden sich „Zwölf Sonette“ neben anderen Gedichten von Morwitz in dieser umfangreichen Nummer. 407 Von Johannes Nohl stand in der Neuen Zürcher Zeitung vom 31. 12. 1914 ein Artikel „Deutschland und der Stern des Bundes“. 408 Vgl. Anm. 388; einzige Tochter Leo Salingers war die zwanzigjährige Lotte. 409 Es könnte sich um den Theaterregisseur und -intendanten Max Reinhardt (1873– 1943) handeln, der tatsächlich seit 1911 in dem berühmten Magnushaus am Kupfergraben 7 in Berlin wohnte, das er aber nicht vor 1921 wieder verließ. Es bestanden zwar freundschaftliche Beziehungen zu Hugo von Hofmannsthal, dessen Elektra er schon 1903 am Kleinen Theater in Berlin aufgeführt hatte, und zu Karl Gustav Vollmoeller, nicht aber zu Stefan George. Eine Einladung Melchior Lechters durch Reinhardt erscheint durchaus plausibel.

242

Briefwechsel 1915

Hildebrandt sprach ich, gern ginge ich im Dienst zu ihm,410 da Heidelberg dann leicht erreichbar wäre. Ob es sich machen lassen wird, kann ich noch nicht sagen. Von H.  B. soll ich grüssen, er schrieb aus Mecheln als Begleiter einer Kolonne, er war 3 Tage auf Urlaub in Antwerpen.411 Noch alles Gute von Deinem Ernst. Falls ich im März in die Etappe muss, könnte ich Dich vielleicht noch in den letzten Tagen des Februar sehen. Am 10. März sind die Göttersöhne zur Einsegnung auf 2–3 Tage in Berlin, ich hoffe dringend, dass Du sie dann siehst!

*) ein Sohn ist bei Verdun gefallen

194.  StG an EM

n. d. 1. 2. 1915[?] Brief (Blättermarke Urnensignet) ohne Umschlag

Liebster Ernst: ich hielt es für das beste den brief an B. durch Dich an ihn gelangen zu lassen … nun zur hauptsache. Kannst Du nicht jezt schon wissen wann Du etwa von Berlin wegkommst – denn danach muss ich mich einrichten  · vielleicht schon in den lezten februar=tagen nach Berlin kommen. Dieser ganze besuch in B · vergiss das nicht · hängt in erster linie von Deiner anwesenheit ab  … Lezthin bist du auch in deiner körperlichkeit (nicht geistigkeit) in der vorzeit entdeckt worden · eine ganz unbekannte sizilianische statue ziemlich früh  .  . alles war  · alles kehret wieder · sogar Du. Für mich eine grosse beruhigung – da körper nicht nur sehnsucht sondern Wesen ist .  .  .  .  .  .  . Dem Ludwig danke für seinen mehr ausführlichen als siegfrohen brief412 Herzlich Euer                     StG

410 Kurt Hildebrandt leistete seinen ärztlichen Dienst während des Ersten Weltkriegs im Lazarett Saarbrücken. 411 Hans Brasch kam als Kriegsfreiwilliger zu den Husaren. Wie er George am 1. März 1915 schrieb, führte ihn ein Kommando vier Wochen lang durch Belgien (StGA). 412 Am 21. 1. 1915 hatte Thormaehlen George von seiner Musterung und deren Ergebnis berichtet. Er war für tauglich erklärt worden und zwar für den „landsturm ohne waffe“. Am 22. 3. 1915 schreibt er dann, dass er seine Einberufung erhalten habe und noch am selben Tag einrücken müsse (StGA).

Briefwechsel 1915 243

195.  StG an EM

Poststempel München, 16. 2. 1915 Postkarte nach Berlin W.

l∙ E∙ auf deine lakonische nachricht erwartete ich heut einen brief. Du sprachst damals von ende februar. Ob ich sofort abreisen kann weiss ich noch nicht: auch käme wenig heraus wenn (wie Du schriebst) du auch diese lezten tagen von morgens bis abends zu tun hast  Herzlichst    St ∙G München dienstag

196.  StG an EM

Poststempel München, 19. 2. 1915 Postkarte nach Berlin W.

l E: alle nachrichten erhalten – ich hoffe dass ich am sonntag abend bei Dir bin.   Auf wiedersehn    St G München freitag

197.  EM an StG

Feldpoststempel, 13. 3. 1915 Feldpostbrief nach München, bei Karl Wolfskehl Sonnabend Gent.

L. M: Ich bin und bleibe voraussichtlich hier in Gent, nicht im Lazarett, sondern auf dem Bahnhof. Die Arbeit ist minimal: 12 Stunden Dienst und 24 Stunden Ruhe! Ich wohne zusammen mit einem Studenten in einem ­guten Zimmer das Essen ist gut, nur nachts ist es kalt und an das kalte ⸢nasse⸣ Wetter muss man sich gewöhnen. Die Stadt ist wundervoll, ich gehe ständig spazieren und denke nach, es sind wahre Ferientage. Was nun die S.  S.413 anlangt, so ist zu bemerken, dass die Vlamen nicht uninteressant sind. Recht 413 Mit S.  S. werden die nach den Kreismaßstäben „süßen“ oder „sehr süßen“ Jugendlichen bezeichnet, manchmal auch deren vertrauteste Freunde („sein S.“), oder die Dopplung steht einfach für den Plural; zugleich kann die Abkürzung aber kreisintern auch für „Staatsstützen“ stehen.

244

Briefwechsel 1915

hübsch und trotz Rubenscher Rundheit nicht ungeistig und mit freiem schönen Gang. Es ist natürlich ziemlich unmöglich die Typen ⸢zu⸣ unterscheiden zu lernen, wenn man nur sieht und nicht redet, aber es ist hier einfach schön zu sehen  – merkwürdig wie sinnlich diese Schönheit der Menschen in der stets nebligen Stadt wirkt. So sind sie all! Meine Empfehlung habe ich bisher nicht gebrauchen können, da der Delegierte bis Ende März beurlaubt ist. Diesen Posten verdanke ich reinem Zufall. Einen Freund des Hans traf [sic] plötzlich nachts auf dem Bahnsteig. Wolfskehl hoffe ich bald hier als Infanteristen zu sehen414 – grüsse ihn, sei selbst von Herzen gegrüsst Dein E.

198.  StG an EM

16. 3. 1915 Brief (Blättermarke Urnensignet) ohne Umschlag München dienstag

liebster Ernst: heut empfing ich Deinen ersten brief ∙ ich bin erfreut darüber und hoffe dass Dir auch weiterhin alles nach wunsch geht. Ludwig hatte schon mittelbar nachricht von Dir sodass ich von Deiner guten ankunft verständigt war Am sonntag früh kam ich nämlich wieder in München an. In die einförmigkeit Deines dortigen lebens will ich noch kurzen bericht über die lezten tage in B. schicken. Gleich am morgen nach Deiner ausfahrt kamen W u B ins Atelier wo L∙ an der büste arbeitete.415 Sie sagten dass sie donnerstag abend kommen könnten ∙ hatten sich sehr nett und korrekt hergerichtet. Am donnerstag früh waren sie aber schon in aller frühe wieder da „nur um zu sagen dass es auf den abend

414 Karl Wolfskehl, der extrem fehlsichtig war, hatte im August 1914 voll Begeisterung an George geschrieben, dass auch er versuche, zum Heer zu kommen (G/KW, S. 715). Stattdessen begann eine lange Krankheitsperiode. Erst am 31. 12. 1916 kündigte er George an, dass er im Januar eine „Civildienstgerechte ehrenamtliche Stellung in Berlin“ antrete (G/KW, S. 746). 415 Ludwig Thormaehlen war Kunsthistoriker und wurde als Laie zum wichtigsten Hersteller von Büsten, Köpfen und Ganzkörperdarstellungen der diversen Freunde Georges und von diesem selbst. Schon im Oktober 1913 hatte er einen Kopf Georges aus Lindenholz geschnitzt, nun war er mit einem Bildnis von Woldemar von Uxkull beschäftigt.

Briefwechsel 1915 245

vielleicht etwas später würde“ An diesem denkwürdigen abend kamen sie dann und zuerst wurde W. wegen seiner „respektlosigkeit“ ausgescholten. Er heuchelte sehr stark benahm sich aber dann ausgezeichnet – Dazu kam ein (allerdings nur mündlich berichtbares) ernstes gespräch. Ich weiss jezt genau wie es mit ziel + richte des W. steht · und wie + und bis zu welchem grad er nur zu packen ist .  .  .  . Hingegen B – a!! da bin ich allen lobes voll  Er sah sehr gesund aus und war auch recht hübsch so dass ich bald dein schicksal teilre [sic]! – Ich wäre gerne ihm zu lieb noch vierzehn tage geblieben … doch fürchte ich er ist noch zu sehr kind um dies gewicht zu tragen ∙ er verstand mich vollkommen + war selig als ich ihm sagte dass in 1–2 jahren das eigentliche + schöne auch mit ihm begänne. Er verzehrt sich für solche jugend fast schon zu stark im gefühlsmässigen + man muss xxxxxxx xxx [Papierschaden] bewegen … Der grosse heuchler hatte inzwischen den L∙ zu bezaubern gesucht + und gleich sich wieder am folgenden morgen angesagt „um ein kapitel geschichte vorzulesen.“ Das tat er während L∙ an der büste arbeitete. Anfangs war W. sehr verlegen mich da zu finden, dann fand er sich schnell + paradierte + brillierte mit seinen historischen kenntnissen um seinen wert zu zeigen + L∙ zu charmieren. Nach dem bruder gefragt sagte er etwas spöttisch „der sizt zu haus + spielt klavier“ .  . So weit S.  S.416 Suzu wird nächste woche eingezogen – ich gehe dann [sic] Darmstadt oder Heidelberg – Schreib bald wieder ⸢(an Gundolf Darmstadt⸣ + halte dich dauernd gut  von Herzen  St∙G∙

199.  EM an StG

Feldpoststempel, 22. 3. 1915 Feldpostbrief mit Umschlag nach Darmstadt, Adresse Ernst Gundelfinger Gent Montag

Liebster Meister: eben kam Dein Brief, sowohl die Tatsache des Schreibens war in der hiesigen Eintönigkeit eine grosse Freude als auch besonders der Inhalt mit dem Bericht über W. und B. . Dass ich die Beiden vor der Abreise noch gesehen habe, war auch für mich noch schön und beruhigend. – Das Leben hier verläuft gleich-

416 S.  S. hier im Sinne der Erscheinung und des Verhaltens von Jugendlichen, welche dem von George und Morwitz bevorzugten Typus zugehörten.

246

Briefwechsel 1915

mässig faul bisher und fast genussüchtig. Zu arbeiten ist sehr wenig, immer herumstehen auf dem Bahnhof – heute mache ich mit dem Krankenzug eine kleine Rundfahrt über Brügge  – Roulers. An einem Sonntag sah ich beim Militärkonzert – Vater Troschel! – so klein sind die Kreise! Die S.  S. hier kenne ich jetzt ziemlich genau, in einer Vorstadt bei den Aalhäusern hatte ich zwei entdeckt, die ein Bild Flanderns komprimiert gegeben hätten: der eine wallonisch dunkel in Haar und Haut aber mit dem sonderbar spitzen langen Schädel, der andere flämisch rund und rosig und hellhaarig – aber beide mit dem belgischen Übel: den zu wachen, traumlosen, wenn auch formal sehr schönen Augen. Das scheint mir der Kern zu sein: diese zukunftslos offenen Augen. Stets bin ich von neuem über die Formen und Farben entzückt, aber die Seele fehlt in diesem Nord-Südgemisch. Wegen Gundolf rechne ich bestimmt damit, dass er nochmals untersucht und nach Hause gesandt wird – das geschieht fast regelmässig. Ich bitte ihn, mir zu schreiben wie es ihm gegangen ist. Jeder Brief ist ein Lichtblick. Immer Dein Ernst

Ich möchte gern die Jesuitenanstalten hier inspizieren, bisher war alles leider vergeblich!

Welches Buch von Eekhout sollte ich lesen?417

Offenbar falsch adressiert! Treulich grüssend  E.  G.

417 Joris Eeckhout (1887–1951), Priester (Weihe 1910) und flämischer Schriftsteller. 1914 war von ihm „Verrijzenis“ erschienen, (deutsch: „Auferstehung“).

Briefwechsel 1915 247

Flandern.418 Ein Garten Gottes wahrhaft ist dies Land! Hier steigen Pappeln neben blanken Flüssen Hier rollen Wiesen in die Silberweite Voll blendend grünem Glanz und welche Fülle Der goldnen und der bunten Frühlingsblumen! Und Nebel steigt ⸢sinkt⸣ durch den die Sonne blutet Schliesst schlanke Kirchen, giebeltrotzige Häuser Wie wilde Ritter in den Harnisch ein. Die Orgeln klagen müden Seelen gleich Im Jubeln noch und feiernd raunen Prieser Beim Kerzenflimmer Sprüche sich ins Ohr. O Land der Fülle, unverhüllter Lust Wie brünstig liebten deine Meister dich Und deinen Frauen gaben sie den Schmelz Der rötlich flaumigen Pfirsichen, Ton der Pflaume ∙ Saft der lebendig schäumt und überkocht Der blond und süss im starken Licht erstarrt. Hier wachsen Knaben noch im freien Gang Und reiner Beuge lichtgelockten Hauptes Und ihre Jugend ist so reich verziert Wie deine Blumen, Land der Lust! Doch trägst du Früchte nicht wie unser Reich Hier giesst kein Herbst die Glut in herben Trauben Die Blüten sterben eh der Sommer kommt Und deine Kinder blicken reif und wach In ihnen schläft kein Traum, ihr klares Auge Bewahrt dein Bild nur treu im feuchten Blau Kein Ahnen künftger Tat beschwert die Frohen All ihre Schönheit stirbt bei Frühjahrsende Wie deine Blumen, mittagliches Land.

418 Das Gedicht erschien 1919 in der 11. und 12. Folge der Blätter für die Kunst, S. 187, mit leicht verändertem Wortlaut. Seine ideologische Tendenz entspricht genau den Aussagen des Briefes, dem es beilag. Die Hoffnungen, die es in die deutsche Jugend und in Deutschlands Zukunft setzt, waren weit verbreitet.

248

200.  StG an EM

Briefwechsel 1915

Ende März / Anfang April 1915 Brief ohne Umschlag

Liebster ∙ Da ich viel an euch Dich und Ludwig denke so freut mich jedes wort von Euch ∙ besonders wenn Du noch zeugnisse Deiner tätigkeit beilegst. Das bild des Siedlers vom Elbestrand giebt ihn gut wieder.419 Danke dem L∙ für seine T=sendung420 ∙ ich habe damals nur um den rest diesen bitten lassen ∙ um ihn nicht vertrocknen zu lassen ∙ wir sind hier reichlich versorgt und ihr braucht euch nicht zu bemühen .  . doch war mir die inanspruchnahme des Andreae421 nicht angenehm. Ich hätte auch L noch besonders geschrieben weiss aber nicht ob der den rechten gebrauch von solchem schreiben macht. Am sonntag sah ich Robert zum erstenmal nach der reise wieder ∙ wir fanden ihn all ganz besonders wol. Sein ganzes problem ist die „nahrung“. K∙ W∙ hielt es auch in M. nicht mehr aus „er platzte wenn er sich nicht über Blätter ergösse.“ Er war sehr in stimmung und begeisterung über den band und konnte erst nach einigen tagen sich wieder trennen. – Schicken die S.  S. von I∙ auch gedichte?422 Sie fallen mir oft in meinen gedanken ein + und es ist ein grosser gewinn dass man weiss dass sie sind … Die arbeit geht langsam aber stetig vorwärts – abschweifungen sind hier ganz ausgeschlossen …423 – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Percy schreibt aus dem feld halb dreist halb elegisch zu tun hat er vorläufig fast gar nichts∙  er steht bei Roye wo herum jezt alles zu stehn scheint.424 Gundels jungens425 hingegen sind immer gleich heiter und erzählen die seltsamsten abenteuer. .  . Ich hörte hier von einem gespräch das ⸢einer bei⸣ 419 In Magdeburg an der Elbe siedelte Walter Wenghöfer. Es mag sich um das Gedicht „Bildnis“ von Morwitz handeln oder aber um ein Foto. 420 Kann sowohl Tabak- als auch Tee-Sendung bedeuten. 421 Eine freundschaftliche Verbindung Georges zu Wilhelm Andreae bestand seit 1913 nicht mehr. 422 Bernhard und Woldemar von Uxkull befanden sich noch bis Ostern 1916 in der Königlichen Internatsschule Ilfeld im Harz. 423 George weilte wohl in Heidelberg und saß zusammen mit Friedrich Gundolf an den Shakespeare-Übersetzungen und -Überarbeitungen. 424 Gotheins Brief an George vom 8. 2. 1915 trägt den Absendeort Fresnoy les Roye (StGA). 425 Heidelberger Schüler und Freunde von Friedrich Gundolf, die sich freiwillig zum Heeresdienst gemeldet hatten und schon einberufen waren, wie auch Norbert von Hellingrath, Wolfgang und Gustav Richard Heyer.

Briefwechsel 1915 249

Rodin gehabt hatte (der jezt in England weilt)426 das einzige „blätter“=mässige und daher vernünftige was ein Ausländer gelegentlich des Krieges gesagt. Der ist doch wirklich klug! Bitte: Sieh doch einmal nach: es soll in einem B. T abgedruckt gewesen sein in den lezten tagen ∙ oder hat Ludwig es bereits gesammelt?427

201.  EM an StG Feldpoststempel, 6. 4. 1915 Feldpostbrief nach Darmstadt, bei Frau Prof. Gundelfinger Gent 2 Ostertag 1915 Liebster Meister: Über Dein Schreiben hab ich mich sehr gefreut, man erwartet hier sehnsüchtig die Post (jeden Nachmittag um 5). Von Ludwig hatte ich eine Karte, er hofft, es auszuhalten – ich hoffe, dass er es nicht aushalten wird, denn die Sache ist doch recht ernst. Friedemanns Fall ist entsetzlich, er war innerlich noch so unerschöpft, dass man nicht an dies Ende glauben kann!428 Hans Br. liegt im Schützengraben und hat eine ziemlich bestürzte Karte geschrieben – er liegt bei Perthes. Den Vater Tr. 429 konnte ich nicht ansprechen, da er mit anderen Offizieren zusammen ging  – seither hab ich ihn nicht mehr gesehen und denke nun auch jeden Tag um die Mittagszeit was der Entglittene wohl machen mag. – Dass ich in den nächsten Tage [sic] nach Roulers komme, hab ich wohl schon geschrieben. Meine Adresse ändert sich nur insofern als an Stelle von „Gent“ allgemeiner „Flandern“ zu schreiben ist. Ich wohne jetzt hier in einem verlassenen Hause und lerne hierdurch zum ersten Mal den Krieg kennen, denn die Angst der fliehenden Belgier muss

426 George hatte 1908 zusammen mit Ernst Morwitz Auguste Rodin in Meudon besucht. 427 Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl hatten sich 1914 „blätter“=mässig zum Krieg und den Zerstörungen durch die Deutschen in Leuven und Reims auf öffentliche Briefe von Romain Rolland hin ebenso öffentlich geäussert. Es kann sich aber kaum um eine Verwechslung von Rodin und Rolland handeln, da die Äusserungen von Rolland gerade nicht mit den Stellungnahmen aus dem George-Kreis übereinstimmten. Einen Nachweis im Berliner Tageblatt konnte schon Morwitz nicht finden. 428 Heinrich Friedemann war am 21 .2. 1915, drei Monate vor seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag, in der Winterschlacht in Masuren gefallen. 429 Vgl. Anm. 379.

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Briefwechsel 1915

unbeschreiblich gewesen sein, wie aus dem Durcheinander der Sachen zu schliessen ist. Ich brenne in meinem gelb- und lachsfarbenen Rokokosälen elektrisches Licht und „speise“ in einem Esszimmer mit Oberlicht und Wintergarten! Die deutschen Soldaten wirken hier unter dem Volk durch die Wucht ihrer Erscheinung wie barbarische Eroberer – es ist kaum zu glauben, wie kindlich naif [sic] diese Soldaten selbst noch in ihrer manchmal durchbrechenden Roheit sind. Mir geht es bisher weiter gut, mit den sogenannten Kameraden komme ich recht gut aus. Mein Empfehlungsschreiben hab ich ohne besondere Wünsche zu äussern für jeden Fall abgegeben. Ganz gern würde ich einmal für die längere Zeit in Brügge430 stationiert ⸢sein⸣ – fraglich ist aber, ob ich das durchsetze. Die Michelangelo Madonna scheint von den Engländern mitgenommen zu sein!431 Von Woldi hatte ich einen Brief, in dem er recht geschickt sich darüber beklagt, dass ich Dir seine Kritik gezeigt hätte! Benna schrieb, dass er die Zeit zwischen Oster- und Pfingstferien zur endgültigen Erholung nach Nauheim gehen würde. Der Cohrs scheint in den Osterferien bei U’s zu sein! Wenghöfer schreibt mir rührend oft! Sage mir auch, wie’s Percy geht und ob Gundolf tatsächlich fort ist und denke an Deinen Ernst

202.  EM an StG Feldpoststempel ohne Datum, n. d. 8. 4. 1915 Feldpostbrief nach Darmstadt, bei Frau Prof. Gundelfinger Gent, in der Nachtwache vom 7. zum 8. April 1915 Mehr als alle Zeilen flüstert Dieses kleine Bild zu Dir:432

430 Ernst Morwitz schrieb einen Gedichtzyklus „Belgische Städte“, der 1919 in der letzten Ausgabe der Blätter für die Kunst erschien. Darin befindet sich sowohl ein Gedicht „Gent“ als auch „Brügge“ (BfdK XI/XII, S. 192 u. S. 189). Das Gedicht beginnt: „Am ersten tag da er die stadt betrat / Lag sie im blauen gold des sommers da“ und endet mit Bezug auf eine bekannte Zeichnung von Fernand Khnopff „Eine tote Stadt“ (B II/3 Beilage): „Eh er die toten wasser schimmern sieht / Drängt er zurück bedrückt von falber pracht / Und salzhauch lockt der ihn zum meer hin zieht / Wo er sich reinigt ∙ wo sein aug erwacht.“ 431 Sachverhalt nicht geklärt. 432 Ein Bild liegt dem Brief nicht mehr bei.

Briefwechsel 1915 251

Bin ⸢ich⸣ auch vom Gram umdüstert Ist Dein Herz doch laut in mir! Ja ∙ mein Sinnen zu vergolden Dient mir unsrer Tage Zier Und so ruf ich all die holden Süssen – nun so fern von mir! Brauch Dein Bild in mir nicht wecken Bin Dein Schössling, Deine Frucht Völkernot kann mich nicht schrecken Mich der nur Dich einen sucht.

T. M. Wolfskehls gehn heute (die Kinder) und Hanna Montag fort. Sonst nichts Neues. Auf baldiges Wiedersehn D D.433

203.  StG an EM

n. d. 8. 4. 1915 Brief ohne Umschlag

Liebster: Ernst: ich bekomme bild und gedicht heut am sonntag in Mainz ∙ bei Robert . Die lezten tage fa der woche war ich in Königstein bei der Schwester. Gundolf war in der Kaserne wurde aber vorläufig wieder heimgeschickt. – Heut sonntag Nacht geh ich nach Darmstadt zurück. Ich hatte inzwischen grund zu bedauern dass ich über Ostern nicht in Berlin blieb: es war ein versäumnis Vallentin’s Ich hätte so gut zeit ⸢gehabt⸣ mich dort eines menschen anzunehmen ∙ die möglichkeit ist jezt auf lang vorbei – jener schützling aus Spremberg .  .  .  .434

433 Der Brief ging an die Mutter der Gundolf-Brüder, und Friedrich schickte ihn weiter an Stefan George mit der Notiz auf dem Umschlag. Die beiden ineinandergeschriebenen „D D“ stehen für „Dein Dolf“. 434 Der Schützling aus Spremberg war auch Morwitz nicht bekannt (BB).

252

Briefwechsel 1915

Ebenso hätt ich dann die S.  S. der Fürther noch sehen können.435 Seitdem ihr alle weg seid ∙ hätt ich richtige zeit und gelegenheit zu neben=actionen ∙ meine arbeit kann ich überall tun. Brich den regelmässigen verkehr mit den S.  S. nicht ab (du schreibst von B’s plan nach „Nauheim“ ⸢?⸣ zu gehen .  .) und sag auch mir gleich wenn du solches erfährst – damit wir nicht wieder eine entschwundene gelegenheit zu bedauern haben. Ganz Dein ST. G.

204.  EM an StG

Feldpoststempel, 13. 4. 1915 Feldpostbrief mit Umschlag nach Darmstadt, bei Frau Prof. Gundelfinger Roeselare 19. IV 1915

Liebster Meister: Deinen Brief aus Mainz hab ich glücklich erhalten. Von B.’s Nauheimer Reise hab ich bisher nichts mehr gehört, doch geb ich sofort Nachricht! Ich weiss nur durch den Cohrs, dass W. u. B. glücklich nach Obersekunda gekommen sind. Der Cohrs schrieb sehr nett, er will Juni zur Artillerie, ich hielt es für meine Pflicht, ihm abratend meine Beobachtungen über so jugendliche Soldaten mitzuteilen – mehr kann ich nicht tun. Hans Br. ist irgendwo in einem Ardennendorf und es geht gut bisher. Ich bin jetzt im Operationsgebiet, nicht mehr Etappe. Nur deutsche Bären! endlose Kolonnen, täglich feindliche Flieger und man muss sich gerade am Bahnhof, wo ich arbeite, sehr vor den deutschen Schrappnells, die auf die Flieger geschossen werden, in Acht nehmen – während man sich vor den Bomben, die schauderhaft gestern geknallt haben, überhaupt nicht schützen kann. Es ist mir gelungen, mich nach Paschendaele – im feindlichen Feuerbereich – –½ Stunde hinter dem Schützengraben – hineinzuschleichen (einige Zigarren tun viel!). Ich habe nun Soldaten in den Artillerieunterständen gesehen und die deutschen maskierten Batterien. Vielleicht gelingt es mir noch einmal in den Schützengraben selbst zu kommen – dann habe ich alles gesehen und weiss, dass durch diesen Krieg nichts neues in die Welt gekommen ist, wonach Wenghöfer beunruhigt fragte. Das Geknalle wird so gleichgültig und abstumpfend, dass es wirklich kein Heldenmut ist, wenn man in der Geschosslinie in vernichteten 435 Gemeint sind die Brüder Bernhard und Woldemar von Uxkull, deren Eltern in Berlin in der Fürther Straße wohnten. S. S. hier für „Süße“.

Briefwechsel 1915 253

Dörfern spazieren geht. Der Dienst ist bisher recht leicht und lässt viel Zeit. Doch erwartet man Grosses (giftige Gase!). Der Frühling ist da, mit blühenden Obstbäumen denke an Dich Ernst

205.  EM an StG Feldpoststempel 21. 4. 1915 Feldpostkarte nach Darmstadt, bei Frau Prof. Gundelfinger Dienstag 20. IV. 1915 L. M. Eben erhalte ich Nachricht, dass B. U. gestern am 19. IV. nach Nauheim abreisen wollte. – Sobald ich näheres höre, schreibe ich! Alles Gute. Er würde ja leicht dort zu finden sein! E.

206.  StG an EM

n. d. 21. 4. 1915436 Brief ohne Umschlag

liebster Ernst: für die nächsten tage bin ich in H . Zum grossen glück hör ich jezt von Ludwig selbst dass es ihm leidlich geht + und er sich in die lage gefunden hat.437 Seit wochen schwirren nur mittelbare beunruhigende gerüchte. Von B. U. hab ich noch nichts gehört ∙ wie meinst Du das „er liesse sich wol in N leicht fin436 Thormaehlen schrieb am 21. 4. 1915 einen Brief an George aus Hirschberg über seine Lage beim Militär. Auf diesen Brief dürfte George Bezug nehmen. 437 Thormaehlen schreibt: „[…] Nun bin ich einer derjenigen  · denen am meisten zugetraut wird. Seit 10 tagen wohne ich ausserhalb der kaserne und viel verdriessliches fällt dadurch weg. Ich beginne ganz rekrut zu sein · es ist im grunde ein bequemes leben · zu denken oder zu reflektieren gibt es nichts · es verbietet sich von selbst · alles geschieht mechanisch  · man hält sich schadlos durch gesteigerte primitive genussfreude und -fähigkeit des ⸢im⸣ augenblick · die oft recht primitiv und naiver art ist. An den krieg denkt niemand · dafür stellt sich allmählich ein interesse an dem neuen handwerk ein · und unter den anfangs so renitenten leuten beginnt so etwas wie ⸢ein⸣ agon. Die schrecken der wirklichkeit sind einem ferner wie je · dafür tritt eine neugierde ein · wie sich das so und so oft fast komische im spiel geübte nun in wirklichkeit bewähren wird: angriffe · patrouillengänge. An jedem klaren fall und klarer situation beginnt man seine freude zu haben · und ich glaube · man würde es gerecht finden · bei einem verfehlten manöver dass man abgeschossen würde.“ (StGA)

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Briefwechsel 1915

den“? Ich kann ihn doch nicht suchen gehen .  . Ich will Dir nun auch sagen weshalb ich hier eine gewissen dringlichkeit an den tag lege. In Bad N. spukt nämlich (wenn er nicht im feld ist) fast täglich der misliebige + sehr schlaue Uarsch.438 Ich fühle da fast eine gewisse verantwortung … Dich angehend wollt ich dich nochmals dringend zumal im frühjahr davor warnen in den gegenden wo Du bist rohes wasser zu trinken – trotz allen impfungen. Das gesundheitlich nordisch-englische wasserprinzip ist in normalen zeiten + orten gewiss sehr schön – aber jezt kann es zum verhängnis werden. Tausendmal besser halb betrunken sein von wein als nüchtern von wasser! – Dasselbe gilt vom Süden bei langem aufenthalt. Herzlichst St. G.

207.  EM an StG Feldpoststempel, 28. 4. 1915 Feldpostbrief nach Darmstadt, bei Frau Prof. Gundelfinger, nachgesandt nach Heidelberg Roulers 28. IV 1915. Liebster Meister: Dein Brief mit der xxxlichen Einlage hat mich in diesen Tagen äusserster Anstrengung (Yper-Kämpfe!) geradezu aufrecht erhalten. Wir haben viele Verwundete täglich auf unserm Bahnhof, Inder, Neger, Canadier, Schotten, Türken, Canadier kurz eine grosse Menagerie habe ich verpflegt! Jetzt bei den Stürmen ist sogar zu Tage getreten, dass unsere Soldaten wirklich noch nicht kriegsmüde sind. Sie bitten  – nicht nur als Pose  – händeringend hier bleiben zu dürfen um möglichst rasch zur Truppe zurück zu können. Auch sehen sie in diesem Völkergemenge geradzu wundervoll und keimkräftig aus. Dass wir hier mit den Stürmen sehr viel weiter kommen, glaube ich übrigens nicht. H. B. wird anscheinend zum Offizier vorgebildet!!! Von W.  U. hatte ich einen sehr ergebenen Brief. Dein Mainzer Schreiben ist angekommen und Du wirst inzwischen meine Antwort, die sich mit Deinem letzten Brief kreuzte, erhalten haben. B.  U. hat seine Adresse noch nicht geschrieben. Vielleicht kommt sie heut zur Postzeit um 5 Uhr – so lang will ich mit dem Absenden dieses Briefes warten. Heute bin ich nach Tagen und Nächten grosser Arbeit

438 Uarsch ist möglicherweise Will Scheller (1890–1937), Publizist und Schriftsteller.

Briefwechsel 1915 255

wieder im Sonnenschein spazieren gegangen und habe an und über Dich gedacht! Dein durch Dich lebender Ernst Es kam noch keine Nachricht

208.  EM an StG Feldpoststempel, Datum unlesbar[1. 5. 1915] Feldpostbrief nach Darmstadt, bei Frau Prof. Gundelfinger Roulers 30. IV 1915 Lieber Meister: Sonst verbrachte ich den ersten Mai bei Dir  – heute muss ich mich mit den Gedanken an Dich zufrieden geben. Hier ist es Sommer geworden und immer weiter bewache ich meine deutschen und englischen und französischen Gefangenen und ärgere mich über den sinnlosen Hass der deutschen Soldaten gegen die Engländer – ein wirkliches Zeitungsprodukt. Dazwischen kommen herrliche Spaziergänge und das Gefühl einer an Leere grenzenden Ungebundenheit der äusseren Lebensführung. Die Wahl des roten Kreuzes war doch für mich sehr richtig – ich genoss bisher alle Vorteile der Uniform und etwas vom preussischen Drill zu spüren denn wir werden als Soldaten angesehen ohne Soldaten zu sein. Ich fürchte nur für Ludwig  – die Strapazen sind entsetzlich und jeder einzelne schleppt sich solange weiter bis er verwundet wird und Ruhe hat – das sagen selbst Offiziere. Ich wünsche nur, dass er den Dienst nicht aushält. Auch Vallentin schreibt nicht gerade begeistert. Wie ergeht es Percy ? Bennas Adressennachricht hat mich bisher nicht erreicht – ich habe jetzt nochmals deswegen nach Ilfeld geschrieben. – Der Brief ist bis zum ersten Mai liegen geblieben, eben kam Dein Brief. Sei unbesorgt – ich trinke kein Wasser und füge mich sogar vielem Wein. Bald mehr Dein Ernst

Die Arbeit lässt etwas nach!

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209.  EM an EG

Briefwechsel 1915

Feldpoststempel, 4. 5. 1915 Feldpostkarte nach Darmstadt

Roulers 3. Mai 1915 Lieber Ernst : Teilen Sie bitte sofort dem M. mit, dass B. U. in Bad Nauheim, Villa Emmy, Küchlerstr. 5 wohnt. Ich schrieb dies auch nach Heidelberg und schreibe jetzt zur Sicherheit an Sie!  Herzlichst Ihr Ernst.

210.  EM an StG Feldpoststempel, 10. 5. 1915 Feldpostbrief nach Darmstadt, bei Frau Prof. Gundelfinger, nachgesandt Roulers 10. Mai 1915 Liebster Meister: Inzwischen wirst du Benna’s Adresse erhalten und ihn vielleicht schon gesehen haben, wenn ich dies hoffen darf!439 Mir geht es weiter nach Wunsch – ja es ist sogar eine Besserung eingetreten, denn ich habe nach Kämpfen durchgesetzt, dass für mich und meine beiden näheren Bekannten eine Bodenkammer eingeräumt wurde. Du kannst dir denken, welche Annehmlichkeit darin liegt.  – Wie geht’s Percy ? Jetzt ist es Sommer hier und ich verbringe jede freie Stunde auf dem Lande. Die Arbeit lässt etwas nach, so dass man wieder sich auf sich besinnen kann! Von Ludwig höre ich sehr selten, ich hoffe, er wird zum Offizier ausgebildet und deshalb noch lange in Deutschland oder wenigstens hinter der Front bleiben. Wenn er herauskommt, wird es sehr gefährlich, denn zwischen Jägern und Infanteristen besteht kein Unterschied. Ich selbst habe vor, mich für ein weiteres Vierteljahr ⸢hier⸣ beim roten Kreuz zu verpflichten, da meine Zeit am 8. Juni abläuft und man mich sonst zu den Soldaten steckt. Was meinst Du dazu? Hier trinke ich nie Wasser, sondern nur Wein (täglich fast!) und besonders auch Vermouth. 439 George hatte schon vor dem 9. 5. 1915 an Bernhard von Uxkull nach Nauheim geschrieben, denn Uxkull antwortete an diesem Tag, dass er gerne zu George komme, nicht aber wisse wann. Am 16. 5. sagte er dann eine Reise zu George nach Heidelberg ab (StGA).

Briefwechsel 1915 257

Die Engländer sehen gut aus, besonders die Offiziere – Schreibe bald Deinem Ernst.

211.  StG an EM

ca. Mitte Mai 1915 Brief ohne Umschlag

Heidelberg Geisbergstr: 16a             montag Liebster Ernst: danke für die sendung! alles sehr gut. Nun zu den sommerplänen. Es wird dieses jahr sich hierin manche schwierigkeit ergeben. Für jenen ort im Schwarzwald hab ich halb zugesagt – Ich gehe in den ersten juni=tagen dorthin .  .440 Der ort ist noch nicht ganz sicher: 2–3 juni aber denk ich ihn mitteilen zu können. Eine fahrt von da aus nach Berlin ist aber (bei heutigen reiseverhältnissen zumal) ganz ausgeschlossen für mich. Ach Ernst! müssen wir dann wirklich bis zum herbst warten? Meinerseits könnte dies nicht vor september sein .  .  .  . Hier in H∙ war es ziemlich bewegt. Ausser kleineren sternen war zuerst W. Wengh. hier dann Vallentin ∙ der in ausgezeichneter verfassung ist ∙ dann wieder bis jezt noch W. W. der auch ein neues aufblühen erhofft. Ich selbst bin bis 31. des monats hier. Bitte noch an Hans zu bestellen wenn du feldadresse weisst ∙ sonst über Berlin: wie er auf die sinnlosigkeit kommt mir im mai von München aus dort in meine wohnung zu schreiben + mich dort anzutreffen hoffte.441 Seit anderthalb Monaten hatte ich M. verlassen was er doch durch dich oder durch Gundolfs Darmstädter adresse leicht hätte ermitteln können … Ich schreibe bald wieder Dein S. G.

440 Vgl. Br. 212 aus Klosterreichenbach im Schwarzwald. 441 George bezieht sich auf die Dachwohnung in der Münchner Römerstraße 16, über der Wohnung der Familie Wolfskehl gelegen.

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Briefwechsel 1915

212.  EM an StG Poststempel Gent, 23. 5. 1915 Brief mit Umschlag nach Darmstadt, bei Frau Prof. Gundelfinger, nachgesandt nach Königstein im Taunus Sonnabend Roulers 22. Mai 1915 Liebster Meister: Gerade noch bevor ich meine Krankenzugreisen nach Deutschland beginne, kommt Dein Brief. Dass aus der Begegnung mit B. nichts geworden ist, ist für mich sehr schmerzlich – ich hatte so viele Erwartung darauf gehabt und die ganzen Tage daran gedacht. Ob er allein dort ist, weiss ich nicht, er hat an mich in der ganzen Zeit nur zwei belanglose Postkarten geschrieben – jetzt ist er wohl wieder in Berlin. Mit W. werde ich nach Deinem Wunsch verfahren. Von Ludwig höre ich nichts. Ich habe mich jetzt für 3 Monate weiterverpflichtet, weiss aber nicht, ob man uns bei dieser Lage nicht schliesslich doch noch einreiht!  – Hier ist es jetzt ruhiger und voller Sommer, die Zeit verrinnt sehr rasch, am 8. Juni bin ich ein Vierteljahr draussen. Vor Italiens Eingreifen hat man hier keine Angst, da alles vorzüglich vorbereitet sein soll. Dass der Krieg nicht verloren werden kann, scheint schon nach dem was man hier sicher [sic] – fraglich und fast undenkbar scheint mir nur Form und Art des Friedens, den ich trotzdem noch vor Winter-Anfang erwarte. Ich komme auf meinen Reisen zwischen Brügge und Deutschland regelmässig nach Aachen, manchmal auch nach Cöln, Crefeld, leider aber nicht bis zu Dir herunter. Ich darf gar nicht denken, dass aus der Begegnung mit B. nichts geworden ist – ich hatte mir davon alles versprochen. –– Meine Adresse bleibt unverändert, da ich hier immer auf der Durchfahrt die Post erhalte Dein Ernst.

213.  StG an EM

Juni 1915 Brief ohne Umschlag Klosterreichenbach Juni 15

Lieber Ernst: zum teil aus halb=staatlichen nicht sehr schreibenswerten gründen etwas ungehalten zog ich mich wochenlang in die einsamkeit zurück und

Briefwechsel 1915 259

möchte nichts sehen und hören. Es hat mich gefreut dass du im ganzen mit deiner lage zufrieden bist + hoffe es ist weiter so Herzlichst St.

214.  EM an StG Poststempel Brügge, 27. 6. 1915 Feldpostbrief mit Umschlag nach Darmstadt, bei Frau Prof. Gundelfinger, nachgesandt nach Lindenfels / Odenwald 27 VI 1915. Lieber Meister: Ich weiss nicht ob mein Brief Dich nicht in Deinem Zustand stört und ob ich selbst etwa irgend wie an dieser Stimmung schuld bin – dennoch will ich schreiben. Mein Schloss hier – von dessen herrlicher Lage und Einsamkeit ich ja schon berichtete  – gehört nämlich zu einem Leichtkrankenlazarett, das in dem eine Viertelstunde abliegenden Benediktinerkloster St. Andreas bei Lophem eingerichtet ist. Ich erfuhr, dass dieses Benediktinerkloster vielleicht das vornehmste Alumnat Belgiens ist, ging kurz entschlossen hin und rückte dem Prior etwas auf den Leib. Er liess sich sprechen, empfing mich im Garten, musterte mich durch eine dunkelblaue Brille einige Minuten und nahm dann das Glas ab. Seine erste Frage: Sind Sie Katholik? wollen Sie das Kloster sehen? Ich verneinte und fragte ihn nach den Erziehungsgrundsätzen des Kloster [sic]. Er war sehr misstrauisch, verweigerte anfangs die Antwort auf die Frage, ob sie jeden Schüler aufnehmen oder eine geistige Prüfung erfolgt. Dann fasste ich ihn und erklärte [sic], dass es sich nur um etwa 40 Adlige handele, die fast immer aus denselben Familien stammten, dass sie sozusagen gezwungen seien den Nachwuchs aus diesen Familien aufzunehmen, in der Weise aber das unbrauchbare Material abschieben, dass sie bei Jahresende den Untauglichen überhaupt kein Zeugnis geben oder die Schüler veranlassten, selbst nach Hause zu schreiben, dass sie nicht in der Schule folgen könnten! (wie schlau!). Neben diesen 40 Adligen, über deren jetzt zum Lazarett verwandelten Schlafkabinen ich noch die mit offenbarer Freude am Klange voll ausgeschriebenen Namen und Wappen sah, werden noch Unbemittelte aus den Dörfern der Umgebung im Kloster erzogen. Meine Frage ob die Adligen und die Armen zusammen erzogen werden begegnet wieder grossem Misstrauen [sic]. Schliess­ lich wurde mir nach langem Zögern erklärt, dass man sie möglichst getrennt halte, denn die Adligen würden für die grosse Welt erzogen, sie sprechen von Pferden und Schlössern und sie sollen später die Traditionen aufrechterhalten – die Armen hingegen müssen sich verpflichten Priester zu werden und

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Briefwechsel 1915

wenn sie nun später  – was ja doch vorkäme  – nicht Theologen würden  – würden sie durch die Gespräche vom grossen Leben vergiftet und für das „ihnen angemessene niedere Leben unbrauchbar und welt-unzufrieden sein.“ Ich fragte nun, ob Freundschaften unter den Schülern geduldet sein – man sagte mir: ja, wenn die Freundschaft „gutartig“ sei. Man müsse eben seine Schüler kennen. Ich lachte und meinte, ob ⸢wenn⸣ er jeden einzelnen durch die blaue Brille so lange ansehe, müsste er ja schon in wenigen Minuten einen jeden genau kennen. Etwas verblüfft gab er zu, dass er Übung im Erkennen der Menschen habe, er sei bei den Jesuiten erzogen! Dann sprach er sich sehr schlecht über den belgischen Adel aus. Der Adel sei französisch und spielerisch, das flämische Volk habe seine Schönheit aber ihm fehle die Entwicklungskraft der Deutschen, er umschrieb sehr genau das was wir Traumkraft nennen und gab schliesslich zu, dass auch auf seiner Schule bisher noch kein Typus bis zur eignen Höchstgrenze entwickelt worden sei. Von Deutschen sei nur einmal ein Fürst Fürstenberg auf der Schule gewesen, der aber wegen Dummheit nach einem Jahre entfernt worden sei.  – Als ich dies alles mit anderen Kleinigkeiten erfahren hatte, merkte ich dass er wieder unruhiger wurde und hielt es am besten mich zu entfernen. Und als ich dann einige Tage später bei Gewitterschwüle in den Wäldern etwas wild herumlief und irgendwie getrieben nach Menschen suchte, kamen mir plötzlich zwei gut gewachsene junge Leute in blauen Jacken und Kniehosen mit unseren französischen Mützen (!)442 und unverkennbar vornehmen [sic] Gange eng entgegen. Meine Nachforschungen ergaben, dass es Klosterschüler waren und dass die Mönche etwas 10 ihrer Schüler zu sich ins Kloster genommen hatten, während die Alumnatsräume geworden Lazarett geworden sind und zwar ein Lazarett in dem nach der Benediktinerregel nur Männer keine Schwestern zur Pflege zugelassen werden. Zu erwähnen bleibt noch, dass ich dem Prior zum Abschied einen fürchterlichen Hieb versetzte, indem ich sagte, dass die Griechen die einzigen Erzieher gewesen seien. Er verstand mich.443 Jetzt hab ich alles geschrieben was ich auf dem Herzen hatte und hoffe, dass es Dich wenigstens etwas erheitern wird. Mir geht es leidlich – nur treibt es mich nämlich bis zum unerträglichen, dass auch nicht der Schatte eines 442 George und wohl auch einige Freunde trugen mit Vorliebe die echte blaue Baskenmütze. 443 Anspielung auf die erotischen Verhältnisse älterer Lehrer zu ihren jungen Schülern im antiken Griechenland. Laut Morwitz’ Aufzeichnungen hatte dieser „viel Umgang“ mit dem Prior, der in der Stella Matutina der Jesuiten in Feldkirch erzogen worden sei und ihn auf ihren Spaziergängen auch über die Erziehung bei den Jesuiten unterrichtet habe (BB).

Briefwechsel 1915 261

Menschen hier ist. Dann wird die Einsamkeit fürchterlich. Brügge ist nah, ich hatte es mir schöner gedacht. Die Bilder sind ganz schön, sind aber Bilder. Die Michelangelo Madonna ist fort. Schreib mir so bald es geht! Dein Ernst.

3 Ansichtskarten der Abbaye de St. André – Lophem-lez-Bruges444 1) Une des salles d’étude 2) En récréation 3) A la voile

215.  StG an EM

v. d. 1. 8. 1915445 Brief ohne Umschlag Heidelberg Klinik∙d. Prof. Voelcker Kaiserstr. 8

Lieber Ernst: Diese überschrift erklärt Dir gleich das beharrliche schweigen. In Lindenfels *) einem schönen örtchen des Odenwald ∙ hat mich ein wenn auch nicht gefährliches so doch sehr lästiges leiden überrascht (blasenkrampf) und es war ein glück dass ich gleich aus diesem winkel mit spärlicher behandlung nach Darmstadt flüchtete. Aber auch dort war meines bleibens nicht und ich folgte dem rat dorthin zu übersiedeln wo unter aufsicht eines sehr geschickten sonderarztes am ehsten eine heilung erwartet werden kann. Ich habe dabei eine ganze εποπεíα erlebt und bereite mich auf geduldiges festsitzen und liegen vor …446 Dazu kam noch in den lezten zeiten schwere beunruhigung. Percy wurde schon vor wochen bei Jaroslav recht bedenklich am kopf verwundet ∙ es war ein rechtes hangen + bangen bis er einmal in einem deutschen lazaret war und seine mutter ihn besuchen konnte. Die wunde ist gut geheilt aber ⸢es⸣ ist eine sprachstörung zurückgeblieben die ihn nur in silben abgehackt sprechen lässt. Die ärzte meinen etwas liesse sich dies beheben. Am selben tag wo ich hier in die klinik kam kam er ins hiesige

444 Die Ansichtskarten sind im StGA erhalten (vgl. auch Abb. 7 im Abbildungsteil). 445 Friedrich Gundolf schreibt am 1. 8. 1915 an Georg Bondi, George sei in einer Klinik gewesen. 446 Stefan George wurde in Heidelberg von dem Urologen Prof. Voelcker wegen Harnverhaltung behandelt. Ursache waren wohl Blasensteine.

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Briefwechsel 1915

lazaret + Gundel hat ihn bereits besucht ∙ er ist ganz vergnügt aber noch mit den bemeldeten störungen behaftet.447 Da ich selber dazwischen (den lästigen alltäglichen eingriffen) eine stunde ausgehen kann so werd ich ihn bald besuchen … Das dasein ist sonst nicht sehr erfreulich  … Mit grösster teilnahme haben ich Deine schilderung des konvicts + Deines besuchs beim Prior gelesen.448 Das wird viel stoff zu unterhaltungen geben. Ich fand es rührend dass ⸢Du⸣ dich inmitten fremdartiger beschäftigungen an Deine staatspflichten erinnern willst.  Herzlichst ∙ St. G

Was dich in Lindenfels am meisten zu berühren gedient hätte konnte ich Dir bei der schnellen abreise nicht wirkungsvoll genug mitteilen. Ich wohnte Fürtherstrasse 10449

216.  EM an StG

Poststempel Brügge, 3. 8. 1915 Feldpostbrief nach Darmstadt, bei Dr. Gundelfinger 3. August 1915

Liebster Meister: Dein brief, der mich sehr erschreckte, erreichte mich mit Verspätung, da ich von meinem Zuge getrennt für etwa 14 Tage noch weiter in dem Offiziersgenesungsheim Dienst tue. Dein Leiden muss furchtbar schmerzhaft sein und ich habe nur die Hoffnung dass es dort durch den tüchtigen Arzt völlig behoben wird! Dazu kam die schauderhafte Nachricht über Percy ! Der Krieg hat uns jetzt wahrhaftig genügend mitgespielt. Gieb mir bitte Nachricht wie Deiner und Percys Zustand ist, da ich sehr unruhig bin. – Für mich waren die letzten Wochen sehr schwer. Ich habe mich mit meinen sog „Kameraden“ überwerfen müssen, da sie hier gegen die Ärzte auftreten wollten und ich meinem Gewissen nach nicht mittun konnte. Du kannst Dir denken, dass es sehr schwer ist, hier allein sein Recht als „Persönlichkeit“ zu suchen und dass es besonders viel Nachdenken kostet, die rich-

447 Am 19. 6. 1915 schrieb Percy Gothein an Marie Luise Gothein aus einem Hilfslazarett in Dessau (StGA). 448 Vgl. die Schilderungen von Morwitz in dessen Brief vom 27. 6. 1915 (Br. 214). 449 In der Straße dieses Namens wohnte in Berlin die Familie von Uxkull mit den beiden Söhnen.

Briefwechsel 1915 263

tigen Hebel diplomatisch zu finden. Schliesslich ist es mir teilweise gelungen, doch ich ⸢bin⸣ jetzt müde und elend, da es auf die Nerven ging! Ich bleibe etwa 14 Tage noch allein hier und werde dann in einen anderen Zug versetzt, der wenigstens von einem Kunsthistoriker Dr. Käsbach – Ludwigs Vorgänger an der Nationalgalerie und Freund von Lepsius und Frau Schubring!450 – geführt wird und jetzt in Ostende stationiert ist. Viel Lärm um nichts!451 Dass [sic] wäre alles, was hier geschehen ist. Noch immer hoffen wir auf Kriegsende vor dem Winter. Es wäre Zeit – Gib Nachricht Dein Ernst. Grüsse den Gundolfs.

217.  EM an StG Feldpoststempel, 20. 8. 1915 Feldpostbrief nach Darmstadt, bei Frau Prof. Gundelfinger, nachgesandt, Heidelberg, bei Bezner 20. August 1915 Liebster Meister: Glücklich in Ostende nach all den Kämpfen im Zuge von Ludwigs Galerievorgänger ⸢an⸣ gelangt. Meine Adresse ändert sich nur in sofern als jetzt 4 Zug anstelle von 3 Zug zu schreiben ist. Sag dies auch Gundolfs bitte. Von Ludwig kam ein langer Brief, er liegt in erster Linie. Dein Ernst

Mitte oder Ende September hoffe ich Dich in Berlin zu sehen.

450 Gioia Schubring war laut Morwitz eine Freundin sowohl von Robert Boehringer als auch von dem Berliner Kunsthistoriker Ludwig Justi, die George auch einmal Boehringer zuliebe empfing (BB). 451 Walter Käsbach (1879–1961), Kunsthistoriker und Kunstförderer, ab 1907 wissenschaftlicher Hilfsarbeiter bei Hugo von Tschudi an der Nationalgalerie in Berlin, ab 1909 Assistent von Ludwig Justi. Als Freiwilliger leitete er im Ersten Weltkrieg den Sanitätstrupp in Ostende, zu dem dann neben Ernst Morwitz auch der Maler Erich Heckel (1883–1970) gehörte. 1922 konnte er als Direktor des Angermuseums in Erfurt Erich Heckel mit der Ausstattung eines Innenraumes mit flächendeckenden Seccomalereien beauftragen, die bis heute weitgehend erhalten sind. Dargestellt sind dort u.  a. Ernst Morwitz, Ludwig Thormaehlen, Wilhelm Stein und Stefan George.

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218.  StG an EM

Briefwechsel 1915

n. d. 20. 8. 1915 Brief ohne Umschlag

Heidelberg     aug 15 freitag L. E: Deine sendung der Kloster schulliste452 sowie Deine nachrichten erhielt ich und freute mich – besonders darüber dass ich dich im september in Berlin sehen soll. Käm es doch bald dazu: schreib die ungefähre zeit sobald dus weisst … Die langwierige sache in H. hier scheint sich langsam zu bessern ∙ aber immer noch sitz ich hier wiewol nicht mehr in der Klinik – sonntag aber hoff ich bestimmt zum aufbruch nach Darmstadt fertig zu sein ∙ dann – wollens die götter – in anfang nächsten monats Berlin … Manches wollt ich berichten Dir von leiblichen erfahrungen (die auch dich vielleicht später einmal betreffen werden) Ich schieb es bis zur erhofften besprechung auf. Du wirst kaum begreifen wenn ich sage dass diese lästige krankheit fast wie nötig empfunden wurde – – – – – – P geht es andauernd besser ∙ innerlich ist er jedoch der alte geblieben .  .  .  . Herzlichst St.G Robert und den Gundölfen geht es gut. Sie haben sich hier treulich im dienst abgelöst.453

219.  StG an EM

Poststempel Erfurt, 6. 9. 1915 Postkarte nach Berlin W.

L∙ E∙ mit den zügen hatten wir kein glück! so grosse verspätungen dass ich erst in der nacht in B. angekommen wäre454 .  . Ich hoffe morgen früh gegen 12 anzulangen + bitte Dich wenn Du nicht zu haus bist zu hinterlassen wo ich Dich gleich treffe Herzlichst. Auf wiedersehen St. George Erfurt montag

452 Eine Klosterschulliste liegt in der Korrespondenz nicht mehr vor. 453 Dienst war die Hilfe bei der Selbstkathedrisierung. 454 George musste wegen Zugverspätungen in Erfurt übernachten (BB).

Briefwechsel 1915 265

220.  StG an EM

Poststempel Berlin-Halensee, 9. 9. 1915 Postkarte nach Berlin W. 50

l. E  ich vergass gestern in der eile zu sagen dass mir daran läge dich doch auch in der frühe zu sehen (11 oder 11 ½) Komm heraus: bei gutem wetter zu einem spaziergang  Dein St.G Grunewald donnerstag abend455

221.  EM an StG

Feldpoststempel, 23. 9. 1915 Feldpostkarte nach Grunewald-Berlin, bei Dr. Bondi 23 September 1915

Lieber Meister: Eben kam Nachricht, dass die U’s am 1. Oktober nach Berlin kommen. Ich war bei Ensor.456 Gerardy scheint in England zu sein.457 Wenige Päckchen Job hab ich in Brüssel mit Mühe aufgetrieben. Bald mehr Dein E.

455 George verbrachte den September in Berlin, wohnte jetzt bei Georg Bondi im Grunewald, Herbertstraße 15, verbrachte aber häufig die Tage im Atelier Thormaehlens, entweder noch im Pompeianum, Neue Ansbacher Straße, oder möglicherweise schon im späteren Achilleion, Albrecht-Achilles-Straße 3 in Halensee, wo er Morwitz traf, der einen vierzehntägigen Urlaub in Berlin verbringen konnte. 456 Stefan George hatte den Maler James Ensor (1860–1949) schon im Juli 1892 in Tilff, nahe Lüttich, im Hause der Familie Rassenfosse zusammen mit anderen Künstlern und Dichtern kennen gelernt. 457 Mit dem Belgier Paul Gérardy (1870–1933) hatte George in den Jahren 1892 bis 1900 in enger freundschaftlicher Verbindung gestanden; ihm, der auch Mitarbeiter der Blätter für die Kunst war, hatte er 1895 neben Karl Wolfskehl und Wenzeslaus Lieder die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der H ­ ängenden Gärten gewidmet. Schon im Jahr zuvor war andererseits Gérardys Manifest „Geistige Kunst“ in der 2. Folge der Blätter erschienen. Nach der Jahrhundertwende veröffentlichte er vor allem Pamphlete, und mit der Besatzung Belgiens durch die Deutschen emigrierte er nach England.

266

222.  StG an EM

Briefwechsel 1915

ca. Mitte September 1915 Brief (Blättermarke Urnensignet) ohne Umschlag

liebster Ernst: deinen brief mit gedicht las ich mit freude: hoffe dass es jezt trotz der neuen vorgänge Dir in Belgien weiter gut geht.458 Ich säumte in den lezten tagen Dir zu schreiben ∙ weil ich von der allgemeinen lage nicht sehr erbaut war und Dir doch etwas tröstliches schreiben wollte. Heut sieht wieder alles recht vertrauen erweckend aus und ich erwarte vor weihnachten den ersehnten schluss dieser wirren .  .  .  . Von meinem äussern leben nur dies dass ich in den ersten octobertagen wieder in die stadt ziehe. Das atelier ist ganz gut hergerichtet. Du aber schreibe bis auf weiteres in den Grunewald. Gestern besuchte ich Deine mutter wo grad auch Deine schwester mit der schönen tochter an kam.459   Herzlichst ∙   St. Der Genthiner=typ460 taucht jezt öfter hier auf: einer besonders ∙ etwas feiner ∙ aber er verschwand im gedräng der innern Stadt. Miss T. sehe ich zuweilen – ohne alle Folgen .  .  .  .461

223.  EM an StG

Feldpoststempel, 3. 10. 1915 Feldpostbrief nach Berlin-Schöneberg, bei Frau König462

3. October L. M. : Eben höre ich, dass Du bei meiner Mutter gewesen bist! Hoffentlich hat sich B.  U. , dessen Ferien gestern begannen, gemeldet. Ich warte sehnsüchtig auf das Ergebnis. Von W. U. kam ein sehr ergebner Brief. Mir geht es nach Überwindung eines Magenkatarrhs, von dem man in Berlin nichts weiss, ganz gut.

458 Laut Morwitz sind hier Kämpfe an der Yser, einem Grenzfluss zwischen Belgien und Holland, gemeint (BB). Allerdings hatte dort schon im Oktober 1914 die wichtige Yserschlacht getobt. Vielleicht bezieht sich George hier auf den begonnenen Stellungskrieg. 459 Laut Morwitz seine zweitälteste Stiefschwester Helene Casper (BB). Die Tochter erwähnt Morwitz nicht. 460 Hans Troschel wohnte in der Genthiner Straße. Auf ihn bezieht sich George hier. 461 Mit „Miss T.“ soll laut Morwitz die Mutter von Hans Troschel, eine Ärztin, gemeint sein (BB). 462 Vermieterin Thormaehlens in der Neuen Ansbacher Straße, wo sich auch das Atelier Pompeianum befand.

Briefwechsel 1915 267

Ich lege ein Päckchen Job bei. Wohnst Du Nr. 16 oder 18? Das Schicksal des kleinen Ernst beunruhigt mich. Von Hildebrandt 463 hatte ich gute Nachrichten. Schreibe bald Deinem Ernst

224.  StG an EM

3. 10. 1915 Brief ohne Umschlag sonntag

l. Ernst: ich bin bereits seit 1. oct. in der atelier=wohnung ∙ habe aber von Deinen W∙ u. B∙ noch keinerlei nachricht .  . Es war doch ausgemacht dass sie sich hier melden sollten … Am 9ten kommt Percy hierher ∙ ihn erwarte ich sicher noch ∙ sonst ist über dauer des aufenthalts noch nichts bestimmt. Nur wenn Ludwig käme würde ich noch länger bleiben. Von Dir bis jezt nur Eine nachricht. Herzlichst St.

225.  EM an StG

Feldpoststempel, 20. 10. 1915 Feldpostbrief nach Darmstadt, bei Dr. Gundelfinger, nachgesandt nach Heidelberg Mittwoch 20 X

Lieber Meister: Gestern Abend kam Dein Abreise-Brief zusammen mit einem Brief von B. U. an: B. hat Dich Sonnabend den 16 X um 12 Uhr aufgesucht und Du warst um 9 Uhr abgereist ich könnte vor Wut heulen! Die Sache ist die: B. U. war bis 15 X in Plaue bei seiner Tante, wie ich dir Ende voriger Woche in einem Brief, den Du inzwischen erhalten haben wirst, schrieb. Ich erfuhr dies erst am 13 durch einen Brief von B., dem wiederum meine nach Berlin gerichtete Frage, weshalb er sich bei Dir nicht sehen lasse, erst nach Plaue nachgeschickt worden war. B. scheint es nun

463 Zu Kurt Hildebrandt vgl. Anm. 99.

268

Briefwechsel 1915

durch allerlei Ränke möglich gemacht zu haben, dass er noch vom 15 – 18 X, dem Tage des Ferienendes, nach Berlin durfte – wohl um Dich zu sehen! Mir hatte er vorher geschrieben, dass er wohl die ganzen Ferien in Plaue bleiben würde. Nun kam natürlich gestern ein verzweifelter Brief von ihm und auch ⸢ich⸣ bin sehr traurig, denn abgesehen davon, dass für ihn vielleicht sich nicht mehr die Gelegenheit so rasch bietet, betrachte ich dies als einen Streich des Fatums gegen mich selbst, da ich so viel Energie auf dieses Zusammenkommen gewandt und so viel gehofft hatte. W. U ist die ganzen Ferien in Stolberg um Unterricht zu erhalten, und ist überhaupt nicht nach Berlin gekommen. Schliesslich muss ich mein Schweigen erklären: mein Unwohlsein löste sich in eine schauderhafte Halsentzündung auf so dass ich das Bett hüten musste. Erst seit Sonntag geht es mir besser. Bald mehr E

226.  StG an EM

v. d. 29. 11. 1915 Brief ohne Umschlag Geisbergstr 16a Nov. 1915

Lieber Ernst: Ludwig ist plötzlich nach Darmstadt ins lazaret gekommen ∙ nicht verwundet nur wegen herz-unregelmässigkeiten · er selbst behauptet schon wieder gesund zu sein. Du kannst Dir denken wie schwer ich es empfinde Ludwig so nah zu haben und hier eingesperrt zu sein. Ich bin noch sehr behindert bei eintritt von nässe und kälte kein schritt mehr an die luft · es ist manchmal wie im gefängnis … Mit Pey geht es gut ∙ anfang dezember sollte er wieder hinaus ∙ zum glück ist es noch verschoben. Er wechselt übrigens sehr ∙ auch im ‚typus‘∙ und trotzdem er sich den zwanzigen nähert ist er noch nicht eindeutig bestimmt. Er hört kollegien treibt philosophie ist manchmal etwas alt und dann wieder genau der bube von ehdem  .  . Nun zu deiner frage das ende dieser wirren anlangend: Anfangs betrachtete man ganz im allgemeinen nach beispiel aller welt= und lebenszusammenhänge und prophezeite sich und andren aus diesem allgemeinen heraus. Aber Ernst! auch „intuition und inspiration taugen nur etwas in lagen die man beherrscht und völlig sieht. Heut nach so langer zeit wo man selbst einen überblick ⸢auch im einzelnen⸣ hat gewinnen können muss man allerdings sagen wenn kein wunder kommt – kein weitres – so kann dieser krieg noch endlos dauern und das allerschlimmste: ausser den heerführern (die übrigens jeden tag nach neuen ereignissen und

Briefwechsel 1915 269

verhältnissen umordnen müssen) versteht keiner seine sache .  . ⸢sonst⸣ – alles geschwätz: es ist noch voriges jahrhundert und dient für heut nicht mehr. Keiner weiss was getan werden muss und was soll daraus werden!!! Für uns alle geduld! viel geduld! Robert wird auch sehr von seiner Fabrik aufgesaugt. Jedes andre leben wär ihm besser .  . ich denke oft des abendkonzils in der Nassauschen.464 Dein St. G∙

227.  EM an StG Feldpoststempel, 29. 11. 1915 Feldpostbrief nach Darmstadt, bei Frau Prof. Gundelfinger, nachgesandt nach Heidelberg Montag 29 XI 1915 Lieber Meister: Ich habe mich unglaublich über die Nachricht gefreut, dass Ludwig verhältnismässig heil in Darmstadt gelandet ist. Du wirst ihn hoffentlich recht oft sehen – er wird es nötig haben nach solchen Monaten! Hier nichts besonderes. James Ensor bittet Dich, ihm durch mich eine Karte zukommen zu lassen, in der Du ⸢ihm⸣ schreibst, dass Du ihn als Maler schätzest und ihn grüssest. Er will diese Karte zum Beweis für seine deutschfreundliche Gesinnung auf der Kommandatur ⸢hier⸣ zeigen, wenn man ihn jetzt bei der Kupferbeschlagnahme wegen seiner Radierplatten Schwierigkeiten machen sollte. Er ist rührend als Mensch, kann – glaub ich – malerisch sehr viel. Ich besuche ihn alle zwei Wochen etwa. – Plötzlich kam eine Nachricht aus Berlin von W. U : er ist von der Klosterschule aus einem mir noch nicht bekannten Grunde endgültig fort! B. U geht Weihnachten ab. Was jetzt geschehen wird, weiss ich nicht. Ich habe sofort einen Brandbrief gegen militärische Träume geschrieben. Mehr kann ich von hier aus nicht tun! Was wäre zu raten? Grüsse Gundolfs und Robert . Dein Ernst

464 Laut Morwitz bezieht sich George hier auf ein entscheidendes Gespräch in der Wohnung Boehringers in der Nassauischen Straße in Berlin. Damals habe George Boehringer gesagt, dass die Fabrikbeschäftigung für ihn schlecht sein werde (BB). George hatte eine Anstellung als Lehrer in der Schweiz präferiert.

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228.  StG an EM

Briefwechsel 1915

n. d. 29. 11. 1915 Brief ohne Umschlag

l. E ich habe in dieser weise wegen des Ensor den brief abgefasst ∙ es ist besser als ein ad-hoc und helfen wird ihm das sowieso nicht viel .  .  .  . Übrigens gehört er doch etwas zur „Bohème“ – im umgang mit ihm ist daher einige vorsicht anzuraten .  . Das was du übrigens ⸢er⸣ die U’s schreibst deutet auf rechte unordnung hin – doppelt schad dass das zusammentreffen damals misglückt ist       Dein ST

229.  EM an StG

19. 12. 1915 Brief ohne Umschlag

19. XII 1915 Liebster Meister: Zum Namenstage465 diese beiden Gedichte verbunden mit allen Wünschen für das kommende Jahr! Wäre nur erst dieser Krieg zu Ende. Es wird immer komischer – neulich war Ensor verhaftet, weil in einer Dankadresse der Stadt Ostende an Amerika, die er gezeichnet hatte, Schilderung von Kriegsgräuel erblickt wurde. Nur mit Mühe haben wir seinen Freispruch erwirkt.466 Wir sind kürzlich gemustert worden – da die Kriegsverwendungsfähigen in die Armee gesteckt werden sollen – ich bin nur garnisonverwendungsfähig befunden. W. U. schrieb, dass militaria nicht in Frage kommen – wahrscheinlich wird es Dahlem werden – vielleicht ganz günstig wegen Berlins Nähe, die Mutter der beiden hat mir übrigens Weihnachtsgaben gesandt. Das Wetter hier ist nass  – aber warm  – man schwankt stets zwischen Krank- und Gesundsein. Grüsse die Gundölfe , Ludwig (wenn er noch da ist) und Robert recht herzlich von Deinem Ernst.

465 Als Namenstag wurde der 26. 12., der zweite Weihnachts- oder Stephanstag, bezeichnet und von einigen Freunden begangen. 466 Laut Morwitz gab es ein Verfahren vor einem deutschen Kriegsgericht in Ostende gegen James Ensor, bei welchem er, der Jurist, als Verteidiger Ensors auftrat (BB). Dieser war angeklagt, weil seine Zeichnung zur spanisch-amerikanischen Dankadresse für Lebensmittellieferungen an belgische Zivilisten eine „Herabsetzung der deutschen Armé“ bedeuten würde. Er wurde inhaftiert und später freigesprochen. George sandte auf Morwitz’ Wunsch eine briefliche Erklärung zu Gunsten Ensors (vgl. Br. 228).

Briefwechsel 1915 271

230.  StG an EM

n. d. 19. 12. 1915 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: ich danke Dir für den lezten brief mit den 2 gedichten.467 Ich war ziemlich besorgt weil Du auf meine beiden lezten nachrichten keine antwort gabst ∙ es würde sich immer empfehlen den erhalt meiner sendungen mit einem wort anzudeuten ∙ damit ich weiss dass sie an Dich gelangt sind. Nun will ich Dir auch zum jahres-schluss schreiben damit Du ungefähr weisst wie hier alles ausschaut. Ich bin noch in Heidelberg und werde erst ende des jahrs einmal hinüber nach Darmstadt – unter voraussetzung leidlichen wetters – und dann für den rest des winters wie immer nach München … Eine vollständige heilung ist freilich erst in der warmen jahreszeit zu erwarten … Gundolf ist immer noch hier ∙ der kleine Ernst immer noch Darmstadt ∙ kommt zuweilen her. Robert seltener. Ludwig sah ich einen tag vor seiner abreise nach Cöln .  . er ist ganz unverändert ∙ das beste was sich sagen lässt. Percy ist im neuen jahr wieder bedroht. Ludwig erzählte mir auch alle einzelheiten von W’s abgang aus Ilfeld – ist überhaupt wie’s scheint durch B. besser unterrichtet als selbst du und bekommt etwas burschikose briefe von B. Ob du’s so fühlst weiss ich nicht aber ich finde da doch etwas nicht=förderndes eher ungehöriges .  .  .  .  . Ein merkwürdiger stern hat sich im osten gezeigt. Ein 11=jähriger der als rechtes wunderkind schon Dante italienisch liest und alles kann was er anfängt. Ich habe bilder gesehen: nichts unangenehm frühreifes aber ein wirklich bedeutendes kind468 Es ist durchaus kein geist=jüngelchen nach dem bild. Mir wäre sehr wert zu wissen was Du dazu sagst ∙ und ich glaube es wäre eine ganz neue erfahrung ein „bedeutendes Knid“ [sic] hast Du glaub ich niemals gesehen. Und was man auch dagegen sagen mag: damit einer ein bedeutender mann wird muss er doch ein bedeutendes kind voher gewesen sein. Das gilt sicher für die höchsten grade umgekehrt ist es natürlich fraglich ob aus dem bedeutenden kind ein bedeutender mann ⸢auch einmal⸣ wird. Ich werde mir demnächst die bilder besorgen469 .  .  .  .  .  .  . 467 Die Gedichte liegen nicht mehr bei und konnten unter den im StGA erhaltenen Gedichthandschriften nicht identifiziert werden. 468 Um wen es sich 1915 bei diesem bedeutenden Kind im Osten handelt, ist nicht bekannt. Morwitz vermutet, dass es sich um einen von Berthold Vallentin in Spremberg entdeckten Jungen handelt (BB). 469 Laut Morwitz lag dem Brief die von George selbst gefertigte Umrisszeichnung eines Kinderkopfes bei. Die noch zu besorgenden „bilder“ sollen Fotografien des erwähnten Wunderkindes gewesen sein (BB).

272

Briefwechsel 1915

Von Deiner Mutter erhielt ich vor einigen tagen eine weihnachtssendung die mich recht überrascht hat .  .  .  . jedenfalls richte ihr meinen dank aus dass sie meiner gedacht hat Hier schicke ich Dir ein heft470 dass teils unterhalten teils ärgern wird – von dieser ganzen sippe hab ich aus guter quelle jezt viel gehört .  .  .  . schlimmer ⸢ist⸣ was halbgutes als das ganz schlechte – wenn Du aber an einigen stellen lächelst so hat das heft seinen zweck erfüllt: nun schliesse das alte jahr gut und fang mit hoffnung das neue an.     Dein St∙G. Heidelberg mittwoch

231.  EM an StG

26. 12. 1915 Brief ohne Umschlag Zweiter Weihnachtstag 1915

Mein geliebter Meister! Dein grosser Brief kam zur rechten Zeit, denn das entnervende, stets laue und feuchte Wetter und das ständige Lavierenmüssen bringen fürchterliche Misstimmungen. Ich kann mich nicht beklagen über meine äussere Lage, ja es geht mir sogar so gut, dass ich mich vor den anderen, die auch durch den Krieg herausgerissen sind, fast schäme – aber der allgemeine Schwindel, diese Unfähigkeit in Wort und Schrift, diese Aufgeblasenheit einer Klasse, die glaubt, jetzt wieder Berechtigung für jahrzehntelanges Nichtstun erworben zu haben,471 steigen mir manchmal doch zu Kopf, so dass ich aufhören möchte, den sozial-geselligen zu spielen und Windungen um jede Ecke zu machen. Ich will nicht mehr klagen, denn ich habe gewiss kein Recht dazu: aber es ist Zeit dass dieser Spuk bald vorbei geht. – Das Wickersdorfer Heft472 wäre rührend wenn es nicht so anmassend wäre. Aber wir müssen wirklich über diese Missverständnisse über staatliche Erziehung herzlich lachen. Die Bilder zeigen ein Material, dem man wirklich nicht schaden kann: „schöne“ weiche Künstlerkinder, denen vor lauter ver470 Wahrscheinlich einer der Jahresberichte der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. Lehrer wie Gustav Wyneken schätzten George und sein Werk, sahen sich selbst aber in einer gleichrangigen, eigenständigen Position; vgl. Anm. 359 und den Antwortbrief von Morwitz (Br. 231). 471 Möglich, dass Morwitz sich hier auf die häufig noch aus dem Adel stammenden Offiziere bezieht, denen er sich geistig und intellektuell weit überlegen fühlte. 472 Vgl. Anm. 470.

Briefwechsel 1915 273

quollener Innerlichkeit und Weibsgefühl die als Mindestmass zu fordernde Unverfrorenheit der Jungend sogar fehlt. Was du von B’s Briefen an Ludwig schreibst, berührt mich sehr sonderbar, denn seine Briefe an mich haben einen ganz anderen ernsten Ton. Ich glaube, er hat Ludwig sehr in sein Herz geschlossen und sucht dies hinter einer spöttischen Kameradschaftlichkeit, wie sie wohl bei solchen Gelegenheiten in der Schule üblich ist, zu verbergen. Er wird, wenn nicht mehr, ein tüchtiger Kunsthistoriker werden und ist geeignet Ludwigs Schüler hierin zu sein, wie ich manchmal hoffe. Manchmal erhalte ich aber einen Brief von ihm, aus dem ich dann meine alten grösseren Hoffnungen erneuere: vielleicht wird er, wenn er erst innen und aussen freier ist, auch in anderem Sinn von Ludwig lernen. – Beide U.’s sind sehr froh, denn es scheint, als ob sie in ein von der Schule getrenntes Pensionat nach Meldorf in Schleswig Holstein kämen.473 Ich weiss nicht, wo der Ort liegt – hoffentlich an der See (die hilft mir hier oft mit ihrer Weite, wenn mir elend ist). Was du von dem Kinde schreibst, klingt ja ganz unerhört. Ich bin sehr begierig auf das Weitere! Von Ludwig hatte ich Grüsse, von Wenghöfer ein kurzes Zeichen „zwischen Schlachten im Hochdruck“ wie er selbst schreibt. An W. L-thal kann ich mich nicht entschliessen zu schreiben und höre deshalb von ihm nichts. Ernst Gundolf sandte mir ein sehr schönes Gedicht und ein kleines Bild,474 das ich in meinem Zimmer gerade über dem Bett angemacht habe, um etwas vertrautes sehen zu können. Dir wünsche ich für das neue Jahr viele Staatsarbeit – wie unwichtig alles andere ist haben wir jetzt bald in jeder Lebenslage erprobt. Wenn Gundolf irgendwann etwas wichtiges liest, möcht er es schreiben, das Bewusstsein – nicht ganz mechanisiert zu werden – ist oft nötig. Ich hab es bald satt: „Rädchen“ zu sein. Schreib wieder Deinem Ernst.

473 Es dürfte sich um die bekannte Meldorfer Gelehrtenschule im Dithmarschen handeln, die auf eine Lateinschule des 16.  Jahrhunderts zurückgeht. In der Zeit des Ersten Weltkriegs war die Schule ein altsprachliches Gymnasium; vermutlich existierten im Ort Schülerpensionen zur Unterbringung auswärtiger Schüler. 474 Ernst Gundolf zeichnete oder malte angeblich jeden Tag mindestens ein Bild. Überliefert sind neben Aquarellen vor allem zahlreiche Federzeichnungen von menschenlosen Landschaften. 1905 waren 12 Drucke solcher Zeichnungen im Verlag der Blätter für die Kunst erschienen.

274

232.  EM an StG

Briefwechsel 1915/1916

Feldpoststempel, 27. 12. 1915 Feldpostbrief mit Umschlag nach Darmstadt, bei Ernst Gundelfinger

27. XII Ich bin froh, dass ich die Möglichkeit habe, dem Meister durch dieses Bild zum neuen Jahr ein Lächeln zu entlocken. Ernst

233.  EM an StG

wohl vor dem 18. 1. 1916 Briefkarte ohne Umschlag Dienstag Abend

L. M. : Ich bin ⸢soeben⸣ als überflüssig und überflüssig⸢zählig⸣ zu der Mannschaft, die jetzt ins Feld kommt, nicht genommen worden. Wann ich herauskomme, ist unbestimmt, es kann 2 Wochen bis 1 Monat vielleicht dauern – Ich sehe Dich bestimmt! Dein Ernst

234.  StG an EM Poststempel Heidelberg, 10. 1. 1916 Briefkarte (Blättermarke Urnensignet) mit Umschlag an die 4. Armee Darmstadt: sonntag: l∙ E∙ heute nur kurz die mitteilung dass ich Deinen lezten langen brief hier erhalten und dass ich morgen über Heidelberg nach München zu gehen denke .  . Wann ich dort angelangt bin schreib ich Dir. Josef L. hat mich als Urlauber hier besucht ∙ er hat sich sehr gemacht.475 Als antwort auf Dein bild (nichts so besondres meine ich)476 schicke ich Dir hier zwei leichte umrisse einesr sehr hübschen sehr noblen wenn auch vielleicht etwas dünnen 475 Zu Josef Liegle vgl. Anm. 344. 476 Die Fotografie am Strand, die Morwitz George zum Jahresende 1915 geschickt hatte (vgl. Br. 232).

Briefwechsel 1916 275

Darmstädtisch=norddeutschen blüte.477 Der kleine E sagte so griechische ja dorische köpfe kommen bei uns erst vor seit dem sie gewünscht werden SG

Schreibe vorläufig nach Heidelberg Geisbergstr. 16a

235.  StG an EM

18. 1. 1916 Brief ohne Umschlag Römerstr. 16, München 18 jan 16

Liebster Ernst: Auf Deine anfrage was ich für besser halte pfleger oder gericht kann ich von mir aus kaum einen rat geben.478 Deine lage in B. ist mir ganz unübersichtlich  – jedenfalls hör ich dich nicht mehr klagen dass sie unausstehlich ist. Was Deiner als arbeiter am gericht wartet weisst du selber und ich will nicht eigensüchtig das anraten was mir angenehmer ist: dich wieder in erreichbarer nähe zu haben .  .  .  .  . Seit einer woche bin ich in München und es geht bis jezt besser als ich erwartet hatte – bei mässig kalten manchmal sogar schönem wetter. Von den kreismitgliedern hör ich nur erfreuliches: Ludwig demnächst entlassen479 – Robert ohne befürchtung.*480 (was macht Hans? ). Nur das sehr traurige: Hilsdorf hat sich vor einigen Tagen erschossen. Ich hörte seit monaten manches unerfreuliche: dies ende war gegeben: weiber!  – Schreib recht bald wieder besonders wenn Du einen neuen entschluss fassest! Dein St. G. *Wolters hoch zufrieden in Mazedonien481

477 Die Umrisszeichnungen konnten nicht ermittelt werden. 478 Morwitz überlegte, ob er sich als Kriegsrichter zur Verfügung stellen sollte. 479 Thormaehlen kam wegen eines Herzleidens im November 1915 in ein Darmstädter Lazarett, verbrachte später einige Zeit in Köln und teilte George am 20. 4. 1916 seine endgültige Entlassung mit. Er sei nur zu 20 Prozent diensttauglich (StGA). 480 Robert Boehringer leitete in diesen Tagen die Firma C. H. Boehringer in Ingelheim am Rhein. Er wohnte in Mainz auf dem Kästrich, wo George mehrmals längere Zeit zu Gast war. 481 Friedrich Wolters war durch Vermittlung seines Zöglings August Wilhelm von Preußen Mitglied des Kaiserlichen Freiwilligen Automobilkorps und in Mazedonien stationiert.

276

236.  EM und LTh an StG

Briefwechsel 1916

Poststempel Hagen, 16. 2. 1916 Feldpostkarte nach München

Reservelazarett I. Saalbau. Ich bin heute den 16. Februar 1916 auf Urlaub (unerwartet) bis zum 29. Februar gegangen und von Ludwig in Cöln aufgenommen worden; es geht mir gut und ich hoffe recht bald von Dir Nachricht nach der Regensburgerstr 29 hochptr links zu haben Dein Ernst. Heute nacht durch ein Telegramm überrascht begleite ich Ernst ∙ der nicht bleiben wollte ∙ ein Stück des Weges Dein Ludwig

237.  EM an StG

Poststempel Berlin, 17. 2. 1916 Postkarte nach München, bei Karl Wolfskehl

Donnerstag 17. II L. M. : Schon gestern von unterwegs schrieb ich Dir, dass ich unvermutet bis zum 29. II Urlaub bekommen konnte und die Gelegenheit ergriffen habe. Mit Ludwig war ich den halben Tag ­zusammen und fand ihn in sehr guter Fassung. Gib mir bald Nachricht nach ­Regensburgerstr 29 hochptr links. Immer Dein Ernst.

238.  StG an EM

n. d. 17. 2. 1916 Brief ohne Umschlag

lieber Ernst: sehr überraschend kommt mir deine karte dass Du zu urlaub nach Berlin fuhrst. Ich weiss dass lange vorankündigungen unter den umständen nicht möglich ⸢sind⸣ aber auch dein erster urlaub war mir etwa geraume zeit vorher bekannt und ich richtete mich danach. So etwas plötzliches aber wie den jezigen hab ich weder erwartet noch vorgesehen und es ist ganz ausgeschlossen dass ich im februar nach Berlin zu ⸢dir⸣ komme. Da hättest du wahrlich klüger getan mir davon gar nichts mitzuteilen. Ich bin beinah böse … Ich möchte noch bemerken dass Du hierher nichts auf postkarten schreiben sollst – ebenso dem W. W. eine zeitlang nichts schreibst da er alles plappert. Lass dir die freizeit gut bekommen Herzlich St.

Briefwechsel 1916 277

239.  StG an EM

v. d. 16. 3. 1916 Brief ohne Umschlag München im märz 1916

Lieber Ernst: ich empfange Deine erste nachricht nach der rückkunft als ich grade zur abreise nach D und H rüste wo Deine weitren briefe mich hoffentlich bald treffen. Alle nachrichten die verschiednen S anlangend sind nicht beruhigend … Das schöne was man gelebt + genossen hat muss als trost und weitre aussicht uns bleiben. Für W wäre es wirklich schad wenn er nur ein dilettierender junker würde*) … Deine liebe für die Balten übrigens weist einen verdächtigen hang nach dem Osten auf  – und zwar schlimmer als du denkst  – nämlich nach Russland !!! All diese herren wollen keine deutschen sein obwol sie deutsch sprechen + neigen nach der russischen laxheit grenzenlosigkeit schludrigkeit – .  . Ich bin die lezten wochen viel mit dem Mittleren zusammen gewesen den ich ein jahr lang nicht sah + der sehr erfreulich geworden ist  … Meine mehrfachen Anfragen den Hans betreffend blieben unbeantwortet. Dein St

*)ich befürchte dass hier grad im wichtigeren zeitpunkt zu wenig geschehen ist.

240.  EM an StG

Feldpoststempel, 16. 3. 1916 Feldpostbrief nach Darmstadt, bei Dr. F. Gundelfinger

16. III 1916 Lieber Meister: Deinen Münchener Brief hab ich erhalten. Vom Hans B. weiss ich wenig zu sagen, da er mir nur alle Monate eine gleichgültige, stumpfe Karte schreibt. Er war vor mir in Berlin und seine Gesundheit soll gut sein. Von W. U. hatte ich wieder einen devoten Brief – sonst weiss ich über Ihre [sic] Zukunft noch nichts genaueres. Grosse Freude machen mir die Druckbogen des Goethebuchs, es sind manchmal fabelhafte Fünde wie z.  B. die „animalische Logik“ der losen Verknüpfung in den Volksliedern.

278

Briefwechsel 1916

Andere Stellen sind geradezu pomphaft gut wie Goethes Verhältnis zur Magie, und manchmal sieht man dann wieder durch einen Satz den Gundolf so leibhaft durchflitzen, dass man sich laut freuen muss.482 Von mir nichts neues! Gent wird von Tag zu Tag sommerlicher und schöner, gestern traf ich einen Priester mit einer Schule, der mich, als ich sie Revue passieren liess, zu meinem Vergnügen kennerhaft misstrauisch beäugte. Noch eins: Vollmoeller483 sprengt in Berlin aus, er habe Dich für die schauderhafte „Gesellschaft 1914“484 gewonnen, auch Lepsius485 soll dies glauben? Grüsse die Gundolfs, schreibe Deinem     Ernst

241.  EM an StG

Feldpoststempel, 22. 3. 1916 Feldpostbrief nach Darmstadt, bei Dr. F. Gundelfinger, nachgesandt nach Heidelberg

22. III 1916 Liebster Meister: Heut will ich nur kurz von einem Besuch im Atelier des nach England geflohenen Minne berichten.486 Ein winkliges dunkles Haus, 482 Friedrich Gundolfs Goethe, Fine von Kahler gewidmet, erschien 1916 bei Georg Bondi in Berlin mit dem Siegel der wissenschaftlichen Reihe der Blätter für die Kunst und feierte in den folgenden Jahren große Erfolge. 483 Zu Karl Gustav Vollmoeller vgl. Anm. 103. 484 Die Deutsche Gesellschaft 1914 wurde von Karl Gustav Vollmoeller und Richard Dehmel als parteienübergreifender politischer Club gegründet, unterstützt u.  a. von Walther Rathenau. Schon die letzteren beiden Namen hätten eine Verbindung Georges mit dieser Gesellschaft für ihn zu einer Art Skandalon gemacht. 485 Reinhold Lepsius (1857–1922), Maler, Gelehrter, Ästhet, Sohn des berühmten Ägyptologen Carl Richard Lepsius, seit 1892 verheiratet mit der Malerin Sabine Lepsius, geb. Graef (1864–1942). Durch die Vermittlung des Schriftstellers Richard Perls (1874–1898) begann 1896 eine für die Gründung der Berliner Verehrerkreise wichtige freundschaftliche Beziehung zu George, die einerseits in den Leseabenden in Haus und Atelier Lepsius festliche Höhepunkte feierte, andererseits eine – öffentlich weit weniger beachtete – Grundlage in den von beiden Männern hochgeschätzten abendlichen Gesprächen hatte. Sowohl Sabine als auch Reinhold Lepsius schufen jeweils ein George-Porträt, ein fast emblematisch gewordener Holzschnitt von R. Lepsius fand weite Verbreitung. George seinerseits widmete dem Paar das Gedicht „Blaue Stunde“ (SW V, S. 62) sowie „Zum October 1903“ der Freundin „An Sabine“ (SW VI/VII, S.  168). Die Datierung findet sich nur in der handschriftlichen Widmung Georges (StGA). 486 Baron George Minne (1866–1941), bedeutender flämischer Maler, Zeichner und Bildhauer, aus Gent gebürtig, befreundet mit Maeterlinck, gehörte in den 1890er Jahren

Briefwechsel 1916 279

mit einer eigenen Broncegiesserei und lichtlosen Erdgeschossräumen, die zu Ateliers eingerichtet sind. Werke sind wenig da, ganz schön, in den Köpfen sehr vlamisch, aber das Aufwachsen der Körper wird durch verzwirbelte, krampfhaft geschlossene Arme leicht gestört. Er selbst nach einer Photographie ganz weissblond, banal aber mit sonderbaren halb erdhaften, halb verzückten Augen. Er hat 8 Kinder ich sah Bilder, grob vlämische Buben, der älteste im belgischen Heer. Im ganzen ist man eher bedrückt und traurig bei diesem Besuch als bewundernd und dankbar, Ensor scheint der bei weitem stärkere Künstler zu sein. Dann erhielt ich von der Gräfin einen sehr liebenswürdigen Brief, in dem sie sich für die Adresse des berliner Lehrers bedankt, zu dem W. und B. (ohne dass diese es bisher wissen!) nach Ostern bis zur Einschulung im Hohenzollerngymnasium (Schöneberg) kommen sollen. Auch der Papa bedankt sich besonders! Dieser Erfolg ist wirklich komisch – hoffentlich hat er wirklichen Nutzen. Drittens das seltsamste: bei einer Trödlerin fand ich für wenig Geld eine Gemme. Ein blasser roter Karneol, darauf das Urteil des Paris. Paris sitzt, hinter ihm Eros, vor Paris steht Merkur und weist ⸢souverain⸣ auf Minerva, Hera und die wiederum sitzende Aphrodite. Und das Merkwürdigste: über dem Kopf des fast keck schönen Hermes steht klar und deutlich καλός!487 Die Akte sind wundervoll, der Stein ist nach aussen gewölbt, oval, wie ein grosser Fingernagel im Umfang. Ist das nicht toll! Sonst nichts. Hier ist ein Bruder des Nohl,488 ein Dozent aus Jena, als Rekrut aufgetaucht. Grüsse für die Gundolfs Schreib Deinem Ernst.

zur Künstlergruppe um James Ensor und Fernand Khnopff. Zeitweise war er in Paris Schüler von Rodin. 487 Das griechische Wort kalos bedeutet schön, edel, findet sich in Kalokagathia, dem „schönen Leben“, einem Schibboleth des George-Kreises. Die Gemme kaufte Morwitz in Gent bei einer Madame Verhoeven (BB). 488 Johannes Nohl (1882–1963) stand in lockerem Kontakt mit Karl und Hanna Wolfskehl, bekannte sich aber auch in einem Brief vom 20. 5. 1913 zum großen Einfluss von Georges Werk auf sein Leben (StGA). Sein Bruder Herman Nohl (1879–1960), nach dem Krieg Professor für Pädagogik, war 1916 Teil der deutschen Besatzungsarmee in Gent. Vgl. Anm. 405.

280

242.  StG an EM

Briefwechsel 1916

n. d. 22. 3. 1916 Brief ohne Umschlag Heidelberg Geisbergstr: 16a

Lieber Ernst: es war schön was Du mir bei deinem besuch in M.s werkstatt berichtet hast: so kommst Du wenigstens ein wenig in berührung mit dem land das du als eindringling betreten hast … Von der gelobten gemme hättest Du vielleicht einen siegelabdruck beilegen können … Was Du mir über die U’s schreibst möge es wirklich einen g­ uten ausgang nehmen! Bedauerlich dass die j. durch die allgemeinen und durch besondre ⸢umstände⸣ so sich für lange zeit uns entziehen ∙ d.  h. grade jene zeit wo die entscheidende beeinflussung kommen musste! Über W. hab ich viel nachgedacht und dabei folgendes ausgesonnen was zwar nicht viel hilft aber immerhin etwas bedeuten kann – schaden kanns auf keinen fall – wenn Du es für geeignet hälst: „dem W. mitteilen dass ich mich aufs angelegentlichste bei Dir über ihn erkundigt hätte und die befürchtung ausgesprochen hätte dass durch seine ordnungslosigkeiten der lezten zeit er es verschuldet hätte dass ich ihn so lang aus den augen verliere .  .  .  . Während Gundolf hier in der gewohnten weise weiter arbeitet bin ich zuweilen beute trübsinniger betrachtungen – auch Roberts schicksal den ich kaum zu sehen bekomme und der den hals recht in der schlinge hat wirkt in mir beunruhigend. Für diese tage hat sich Ludwig angekündigt ∙ mit dem wenigstens ist alles gut .  .  .  . Kürzlich las ich in einem (von recht belanglosem Berliner zusammengetragenen) buch über ansichten von fabrik=arbeitern u.s.w über kunst= und weltweisheitsdinge da steht von einem „bäckergesellen)?? ein äusserst merkwürdiger satz auf den keiner unsrer professoren kommt: „Alle kultur beginnt dort wo ein mensch von einem grösseren menschen geistig abhängt“.  .  .  . Wo hat er das her? kann das ohne Blätter und jahrbuch einer finden? – Er fährt dann fort „Dies schliesst nicht aus dass der Empfangende später ebenso gross oder noch grösser wird als der Gebende. Nur im augenblick des empfangens muss er kleiner sein weil er sonst nicht empfangen könnte .  .  .  .“ Seltsam! was ähnliches steht nur im Manu von dem eine deutsche übersetzung soviel ich weiss nicht besteht …489 Lass Dir’s weiter gehn wie’s erträglich ist      Dein St ∙ G ∙ 489 Im StGA haben sich Notizen Georges in Abschrift von Ernst Gundolf erhalten, die Georges Interesse an „Manu“, Stammvater der Menschen im Hinduismus, bezeugen;

Briefwechsel 1916 281

243.  EM an StG

Poststempel Neckargemünd, 26. 4. 1916 Feldpostbrief nach Heidelberg, bei Dr. F. Gundelfinger

Erster Ostertag Liebster Meister: Ostermorgen nach der Nachtwache! Die Sonne scheint – ich bin froher als gestern, wo ich an Dich schrieb. Ein Soldat fährt nach Heidelberg, ich gebe diesen Ostergruss rasch mit. Dein Dich liebender Ernst.

244.  StG an EM

vielleicht Anfang Mai 1916 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: ich habe Dein gedicht mit freude gelesen .  . aber Du weisst ich suche immer bei noch so angenehmen sendungen nach einer persönlichen zeile. ⸢Blosse⸣ Worte können freilich nur geplaudert sein – aber auch einen magischen sinn haben .  . Ich lege Dir diese reihen bei · meist um Dir von der stimmung des lezten München einiges zu übermitteln: sie gehören zu I der X Folge .  .490 Gundolf ist noch zu haus. Vallentin zu krankheits=urlaub in Berlin. Jenem jungen aus Jena (gleichfalls ein H. T.!! ) geht es gut in englischer gefangenschaft .  . ich hörte lang nichts · nun kommen nachrichten über Holland dass er sehr gut behandelt wird: er ist nicht soldat · sondern konnte im august nicht mehr herüber  .  .  .    .*) Ich hoffe du hast meinen brief aus Mainz erhalten  Herzlich Dein St. G. *H. B. schreibt enttäuscht + fast angeekelt.

vgl. NLB, S. 92). Morwitz (BB) gibt einen Literturhinweis auf: The sacred books of the East, edited by F. Max Müller, Vol XXV, Oxford Clarendon Press 1886. Darin „The laws of Manu“, S. 57 No 150: “That Brahmana who is the giver of the birth for the sake of the Veda and the teacher of the prescribed duties becomes by law the father of an aged man, even though he himself be a child.” 490 Vom letzten Aufenthalt Georges in München zu Jahresbeginn spricht das erstplazierte der Gedichte Georges in der 10. Folge der Blätter für die Kunst, „Gebet“: „Kam mir erinnrung jener frühlingsstrassen / Lichtfülle in erwartung deines blicks / Und jener abende voll purpurdunkel […]“. Die 10. Folge erschien am 12. 11. 1914.

282

Briefwechsel 1916

Eben grad als ich den brief abschicken will kommt Deine Sendung an G. mit dem Lotsenaufs. (übrigens mir lang bekannt!)491 und dem abdruck der gemme – sehr schön!492

245.  StG an EM

wohl Ende April / Anfang Mai 1916 Brief ohne Umschlag Geisbergstr: 16a Heidelberg

Liebster Ernst: ich hoffe dass Du meinen eingehenden bericht von München noch empfangen hast .  . Darüber erwarte ich noch äusserung von Dir … Mein lauf in lezter zeit war der: Nachdem ich M. am ende d. märz verlassen hätte [sic] blieb ich erst 8 tage in Heidelberg wo ich mit Robert zusammentraf .  . dann 8 tage Darmstadt wo Gundolf auf kurzen urlaub war. Bis zum 15 mai bleib ich hier. Es geht obwol knapp so doch immer erträglich … während ich dies schreibe tobt – so hoff ich die lezte schlacht des krieges … Wenn Du im vorsommer urlaub nimmst so schreib es nur recht bald. Ich bin allem anschein nach um diese zeit irgendwo im Schwarzwald. Herzlichst ∙ S∙ G. Dank für da [sic] papier ∙ auch nur leidlich ∙ aber besser als nichts ∙ es hat überformat … jezt bin ich wieder reich versehen.

491 In der hamburgischen Wochenschrift Der Lotse war 1901 ein Aufsatz von Ludwig Klages über Stefan George erschienen, 1902 von Hermann Ubell: „Neues von Stefan George“. 492 Morwitz hatte in Brief Nr.  241 eine soeben erstandene Gemme beschrieben, und George hatte daraufhin beklagt, dass er keinen Abdruck bekommen habe.

Briefwechsel 1916 283

246.  EM an StG

Feldpoststempel, 30. 4. 1916 Feldpostbrief nach Heidelberg, bei Dr. F. Gundelfinger

30. IV 16 L. M.: Eben lese ich dass der Saladin493 Leiter des deutsch-belgischen Theaters geworden ist. Hältst Du es für richtig, dass ich ihn attaquiere, wenn er einmal nach Gent kommen sollte? Herzlichst Dein Ernst.

247.  StG an EM

wohl Mitte Mai 1916 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: ich danke Dir für das buch der Scriptrize494 etwas muss Sie wo läuten gehört haben ∙ denn aus sich allein hat sie’s nicht : in katholischen kreisen denkt man über diese sachen immer freier. Manches ist recht toll wenn auch süss=kitschig ∙ nur der zweite Teil mit blutrünstigen marterszenen ist geradezu magenumstülpend  .  . Dass die farbe hier mitbestimmend war für deine innre bewegung daran zweifl ich keinen augenblick. A. Kempis hab ich keinen hier .  . ich werde mich erkunden wie die stelle in unsrem text lautet.495 Nun hab ich als gegengabe eine weit wichtigere nachricht  .  . (meisterliche gehen immer auf wirklichkeiten!). Grade erhalte ich einen ganz unerwarteten brief von Woldi 496– der wol der wichtigste ist den er in seinem ganzen dasein geschrieben. Er enthält in fast erschütternder 493 Zu Saladin Schmitt vgl. Anm. 378. 494 Mit der „Scriptrize“ ist laut Morwitz die sehr erfolgreiche katholische Romanschriftstellerin Baronin Enrica von Handel-Mazzetti (1871–1955), eine Verwandte der von Uxkulls, gemeint (BB). Bei dem Buch handelt es sich um Meinrad Helmpergers denkwürdiges Jahr, eine im Jahr 1900 erschienene Erzählung. 495 Eine von George durchgesehene Ausgabe der Görresschen Übersetzung von Thomas a Kempis Die vier Bücher von der Nachfolge Christi erschien von Melchior Lechter ausgestattet erst 1922 bei von Holten als Nummer 4 der Einhornpresse. Georges Bezeichnung eines Textes als „unser“ mag sich auf die Görressche Übersetzung beziehen oder auf die schon vorliegende Überarbeitung. 1906 hatte Morwitz bei der Überarbeitung mitgeholfen. Eine Ausgabe jener Übersetzung aus dem Jahr 1884 mit Änderungen Georges befindet sich im StGA. 496 Ein Brief solch angedeuteten Inhalts hat sich nur vom 16. 12. 1917 in der Korrespondenz Georges erhalten. Darin formuliert Woldemar von Uxkull seine Zweifel, seine Hoffnungen und eigenen Möglichkeiten Georges Sendung betreffend (StGA).

284

Briefwechsel 1916

weise die beschreibung ⸢und das zugeständnis⸣ seines eignen leidens – und die hoffnung ausgesprochen: „es möchte das nächstemal nicht zu spät sein.“ Ein brief ist jedes menschen geheimnis: drum kann ich ihn selbst Dir nicht zeigen ∙ aber an meiner tiefen bewegtheit kannst Du etwa merken was drin steht. !!!!!!! Roberts lage (dem⸢r⸣ nach deiner meinung es gut hat) übersiehst Du falsch ∙ es ist ein beständiges gehetze. Das [sic] ich nach Ostende hätte müssen um Dich aufrecht zu halten so weit ists mit Dir trotz allem unangenehmen noch nicht gekommen. Zu R∙ aber musste ich – weil ich die schwersten bedenken ⸢hatte⸣ dass sein dasein zu einem innren zusammenbruch führte … ich glaube dass jezt ein teil der gefahr vorüber ist .  .  .  .  . Wolters in Wiesbaden noch  – kommt jede woche herüber  – der Mittlere gleich lieb und erfreulich und voll schöner haltung war auch einige tage hier. Ich selbst reise 29/30 nach München ∙ woran ich diesmal fast mit einer gewissen angst denke. Ernst ist nämlich da weiter abwesend. Mit der Schweiz sind für den notfall auch noch verhandlungen angekündigt ∙ Immer Dein S. G.

248.  EM an StG

Feldpoststempel 27. 5. 1916 Feldpostbrief nach Heidelberg, bei Dr. F. Gundelfinger, nachgesandt nach München

27. V. Liebster Meister: Bisher kam keine Antwort von Dir – konnte auch kaum eintreffen. Die Urlaubsmöglichkeiten verdichten sich – ich hoffe dringend dich in der zweiten Junihälfte in Berlin sehen zu können. Schreibe bald, damit ich mehr in der Sache unternehmen kann. Dein Ernst. Es wäre sehr gut, wenn ich Dich im Sommer sehen könnte, mir sehr nötig – man soll keine Möglichkeit vorüber lassen. Ich hoffe auf Deine Zusage – für den Fall, dass ich den Urlaub durchsetze.

Briefwechsel 1916 285

249.  StG an EM

Ende Mai 1916 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: alles kommt in diesen zeiten spät und plötzlich. Selbst wenn ich nach  ⸢bei⸣ meinem ersten plan nach Berlin zu kommen geblieben wäre – um die von Dir angegebene zeit hätt ich doch nicht mehr dort sein können. Es wären jezt um die monatwende ein paar tage gewesen von denen ich mir doch nicht viel versprochen hätte .  .  .  . So bleibt die hoffnung auf den herbst .  .  .  . Ich wollte noch einige tage in den Schwarzwald die kurze frist jezt bis übermorgen in München hatte ich schon im februar zugesagt*  … Reden kann ich Dir fast von gar nichts – jedes geschriebene wort ist mir viel .  .  .  .  . Im juni geh ich in die Schweiz: meinen pass hab ich schon. Mein zustand ist wol befriedigend – doch noch nicht gut. Also warten hoffen –! ST∙ Wie kam übrigens die kunde nach München dass du bei O’s in Hagen warst  – ebenso dass Du mit Ensor „viel verkehrst“? hattest Du’s W. W. mitgeteilt? Schreibe durch Gundolf Geisbergstr 16a bis ich weiteres angebe. München am sonntag Ernst III ist so erfreulich geworden wie nicht einmal du damals zu hoffen wagtest .  .  .  . er ist hier

250.  EM an StG

Feldpoststempel, 6. 6. 1916 Feldpostbrief nach Klosterreichenbach

6. VI 16. Lieber Meister: Dein Brief trifft mich in einer unruhigen Zeit und beunruhigt mich dazu noch über Deinen Zustand. Es ist sehr schlimm für mich, dass ich Dich jetzt nicht sehen kann, doch verstehe ich, dass Du jetzt in die Schweiz gehen musst. Was aus meinem Urlaub wird, liegt noch im Dunkel – jedenfalls rechne ich darauf, Dich noch in diesem Jahr aufzusuchen, falls ich Dich nicht in Berlin sehen kann. Deine Nachricht über den Münchner Ernst setzt mich in Erstaunen und freut mich. –497

497 George hatte Ernst Glöckner im Frühjahr des Jahres häufiger in München getroffen.

286

Briefwechsel 1916

In Hagen war ich mit Ludwig zusammen, indem ich e­ inen Zug übersprang  – jede weitere Einladung hab ich natürlich ⸢sofort⸣ abgelehnt. Der Besuch des Museums498 war die Bedingung, unter der mir mein aesthetischer damaliger Zugführer Dr.  Käsbach (Ludwig’s Vorgänger in der Galerie!) Urlaub verschaffte. Wenghöfer weiss durch mich wenigstens von dem Hagener Museums Besuch und dem Gespräch mit O , das höchstens 15 Minuten dauerte, nichts.499 Wenn dies herum gesprochen wird, kommt es durch Dr.  Käsbach oder Wolfskehls, die mit O’s, wie mir Dr. Käsbach sagte, manchmal zusammen sind. Übrigens haben Ludwig und ich auf O’s Frage, ob wir Dich kennten, nur geantwortet, dass wir Deine Werke bewunderten. Die Mutter von W. W. ist gestorben, er steht mehr als je allein – behandle ihn nicht zu hart! Dein Ernst.

251.  EM an FG

29. 06. 2016 Brief ohne Umschlag

29 VI. Lieber Gundolf: Grosse Freude über das Sonett500, das eben kam. Für den Meister lege ich einen Brief und eine Gedichtabschrift [sic].501 Die Gedichte lesen Sie bitte auch dem Ernst vor und machen Sie ihm und sich eine Abschrift, wenn sie ihnen [sic] gefallen. Der kleinere U ist wundervoll, ich habe die besten Hoffnungen – W. U. ist leider energielos. Wolters sah ich kurz, eh er wieder nach Makedonien von fuhr.502 Ludwig sieht schlecht aus. Auf den Goethe freue ich mich sehr. Alles Gute dem Ernst, dem ich sofort noch selbst schreiben werde.503 Vielleicht seh ich noch Wenghöfer, dem es schlimm zu gehen scheint.504 Mutter grüsst Ihr Ernst

252.  StG an LTh

Poststempel Basel, 31. 8. 1916505 Postkarte nach Berlin W.

l∙ L. es hat mich gefreut dass es Dir wieder leidlich gut geht. Sei nur recht vorsichtig. – Ich bin aus dem gebirg zurück506 und bleibe noch eine weile in Basel. Gegen 15 sept hoff ich in Berlin sein zu können. Du brauchst Dich meinetwegen nicht zu sorgen da ich (wenigstens vorerst) im Grunewald hausen werde.507 Nur möcht ich wissen ob Ernst eine möglichkeit des urlaubs sieht + wann etwa .  . Teile ihm den inhalt der karte mit da ich ihm von hier nach Belgien nicht schreiben kann. Bleiben die jungens vorläufig noch in Berlin? Hoffentlich bald auf wiedersehn Dein 31 aug 16     St∙ George. Basel. Brunngasse 11508

502 Friedrich Wolters war in Mazedonien als Fahrer im Einsatz. 503 Erhalten ist im StGA aus diesem Sommer nur ein Brief von Morwitz an Ernst Gundolf vom 11. 7. 1916. 504 Wenghöfer hatte in Magdeburg in der Nähe seiner Mutter gelebt, die er bis zu ihrem Tod im Mai 1916 gepflegt hatte. Von Depressionen geplagt, setzte er Anfang Oktober 1918 seinem Leben ein Ende. 505 Die Karte befand sich unter den Briefen Georges an Ernst Morwitz (NYPL). 506 George hatte im Juli/August 1916 mehrere Wochen mit dem Ehepaar Julius (1877– 1931) und Edith (1877–1951) Landmann und ihren beiden Söhnen in Klosters in der Schweiz verbracht. Diese wohnten in der Villa Fliana, George aber kam in einem nah gelegenen Knabenpensionat unter. 507 George wohnte dort im Haus von Georg Bondi. 508 Das war im Sommer 1916 die Adresse der Familie Julius und Edith Landmann.

288

253.  EM an StG

Briefwechsel 1916

Feldpoststempel, 12. 10. 1916 Feldpostbrief nach Berlin-Grunewald

12. X 1916 Liebster Meister: Dank für den zweiten Brief. Ich habe nun Hoffnung Dich zu sprechen – ich muss es dringend, ein Jahr ist wieder vorbei! Habe Geduld mit B  – ich habe ihn immer, wenn wir zusammen waren, gebeten, doch nur einmal in einer Zeitspanne die „Maske fallen“ zu lassen und wirklich kam immer ein Augenblick, in dem die Weltmaske fiel. Seine äussere Ruhe soll innere Korrektheit und Sicherheit darstellen – aber die „Maske“ (dies ist ein beliebtes Wort unter uns gewesen) fiel doch in einem Augenblick und er glühte! Also, dass auch dieser Zwang eintreten wird, ohne den nichts möglich ist, hoffe ich! Dein Ernst

254.  EM an StG Feldpoststempel, 20. 12. 1916 Feldpostbrief mit Umschlag nach Mainz, bei Robert Boehringer 20. Dez. 1916 Liebster Meister: Deinen Brief lese ich immer wieder und er stärkt mich durch die Kraft, mit der Du die Ereignisse hinnimst [sic] und ihr Bestes für Dich zu gewinnen suchst. Ich habe Dir zum Namenstage etwas gesandt und hoffe, dass diese aus dem Gegensatz geborene Sache Dir Freude machen wird – weiter soll sie nichts bedeuten.509 Es wird Dich aber wohl etwas später erreichen, da es Umwege über Berlin und Cöln zur sichereren Beförderung machen muss. Von mir ist nichts zu sagen. Ich habe gerade das neue Buch von Meyrink gelesen, es ist ein Schundroman mit ganz wüsten Stellen  – nur ein Glück dass er sehr wichtige Dinge doch nicht weiss und deshalb nicht profanieren kann.510 Seine Betrachtung des Weiblichen und der Zweisamkeit ist zum Glück grundfalsch.

509 Aufklärung darüber geben die folgenden Briefe. Es handelt sich um einen Holzschnitt Erich Heckels mit einem begleitenden Gedicht von Ernst Morwitz. 510 Von Gustav Meyrink (1868–1932) war soeben Das grüne Gesicht bei Kurt Wolff in Leipzig erschienen, ein Schauerroman, der um die Gestalt des Ewigen Juden kreist und viel Übersinnliches enthält.

Briefwechsel 1916 289

Der Cohrs ist krank, wohl überanstrengt, liegt in Berlin im Lazarett, ich bin neugierig, ob er versuchen wird, Dich zu sehen. Von Benna höre ich sehr wenig, er muss viel für die Schule nachholen. Was machen die Gundölfe? Ludwig erzählte mir von seinem Zusammensein mit Robert , er selbst scheint wieder nach manchen Schwankungen obenauf. Nun nochmals Alles Gute fürs neue Jahr Dir und uns allen und die Möglichkeit, bald wieder dort zu stehen, wo es wirksamer und innerlich gegebener ist als in diesem sinnlosen Treiben. Für immer Dein Ernst ’s l. s!

255.  StG an EM

v. d. 28. 12. 1916 Brief ohne Umschlag Mainz freitag

liebster Ernst: ich war ziemlich erfreut dass Dein brief nicht allzu schwermütig klang ∙ was ist zu tun als zu harren? Ich denke dass jedes neue wort Dir einen neuen anstoss giebt – was auch wünschenswerter ist als wenn du meine alten worte zu lang in der tasche trägst. –– Er ist jetzt wieder im Osten + das bild muss erst fertiggestellt werden – wenns nicht gut ist hat es ohnehin keinen zweck es Dir zu schicken. Es waren einige schöne ganz wolkenlose wochen – mir wie ihm zugleich zu gönnen.511 Von Ludwig hörte ich dass er bald hierher kommt  – es scheint er geht zunächst nach Cöln. Er erzählte ganz harmlos im brief dass das trio W+B+C512 ihn überrumpelt hat – ich habe ihn dringend gebeten solche besucher über den kopf weg nicht mehr zu empfangen  – sondern nur solche nach abmachung vorher .  .  .  . B scheint innerlich zu kämpfen + sezt deshalb dem L∙ gegenüber wieder die alte maske auf … Da ist auch ein

511 George verbrachte den Dezember 1916 weitgehend in Mainz bei Robert Boehringer, wo ihn auch Kurt Singer und Ludwig Thormaehlen besuchten. Die Rede von der Rückkehr in den Osten weist auf Friedrich Wolters hin, der sich auf Krankheitsurlaub in Wiesbaden befand, wo George auch einige Tage mit ihm verbrachte. 512 Das Trio bestand aus Woldemar und Bernhard von Uxkull sowie Adalbert Cohrs.

290

Briefwechsel 1916

grundübel: die verwöhntheit mit der einmal aufgeräumt werden muss. Solche teebesuche bei L∙  wo sich über gleichgiltige + literarische dinge unterhalten wird – sind geradezu demoralisierend für den B … Solang der B nicht einsieht dass dies alles auf einer ganz andren stufe vorgeht – verdient er gar nicht dem L∙ mit besuchen auf den hals zu kommen. Den ersten stoss den er in seinem dasein überhaupt empfing – hat er kräftig von mir bekommen – aber die wirkung dieses stosses darf nicht mit samt-prellen hernach gemildert werden. Er muss jezt kommen – entgegenkommen darf man ihm in nichts – sonst ist alles verloren. Er hat noch ein ganzes jahr bedenk + besinnzeit vor sich … und in dieser zeit muss es ihm schlecht gehen … sonst läuft er in 2 jahren genau wie der Woldi weg – wenn auch nicht in ein leichtsinniges junge=herrn=leben so in etwas weit schlimmeres nämlich in die „litteratur“ .  .  .  . So weit dies. Von L∙ hört ich dass sein freund C.513 jezt in Berlin ist + L∙ auch besucht hat .  .  .  . dass er L∙ (den er kaum kennt) angehen wird ihm den weg zu mir zu bahnen glaub ich kaum .  .  .  .  .  . Robert seh ich sehr wenig – er ist nur abends einige stunden zu haben – manchmal ist er aber die ganze woche auf reisen. Bring du die feiertage so gut zu als es die umstände erlauben. Deine sendung erwarte ich mit freuden .  .  .  . Das jahr 17 muss uns sehr gerüstet finden – wie das noch werden soll weiss nur der liebe Gott .  .  .  .  . Und trotzdem es muss so kommen .  .  .  .  .  . –– Die xxxx serie die den S.  S. durch + durch erschüttert hatte (noch heut hab ich meine freude daran) war jene Dir sehr bekannte: Der mittelteil des mittelbuchs des * …514 Ach liebe Seele dass so etwas in unsrer welt möglich war ist das nicht wichtiger als das bischen Krieg hunger + tod? .  .  .  . (Gundel schreibt weiter vergnügt.) Herzlichst Dein S. G. S ∙ L ∙ B ∙ T ∙ S515

513 Gemeint ist Adalbert Cohrs, der Freund von Bernhard von Uxkull, vgl. Anm. 355. 514 Gemeint ist Georges Gedichtband Der Stern des Bundes und darin die Folge der Gedichte von „Wer seines reichtums unwert ihn nicht nützt“ bis „Mir sagt das samenkorn im untren schacht“ (SW VIII, S. 60–69). 515 Als Auflösung gibt Morwitz „Solche Liebe bringt Träumen Stärke“; er berichtet, dass George solche Buchstabenrätsel liebte (BB).

Briefwechsel 1916/1917 291

256.  EM an StG

Feldpoststempel, 28. 12. 1916 Feldpostbrief nach Mainz, bei Robert Boehringer 28. Dezember 1916.

Liebster Meister: Dieses Wort als ersten Gruss im neuen Jahr! Für den lieben Brief danke ich von Herzen – er tat mir not. Über die Besuche von B. bei Ludwig denke ich wie Du – von der Überrumpelung, von der Du schreibst, wusste ich nichts. Mir hat der C. aus Berlin noch nicht ⸢mehr⸣ als eine Karte geschrieben – ich bin begierig, ob er versuchen wird, Dich zu sehen. Meinen Gruss wird Ludwig Dir wohl überbringen. Manchmal hab ich das Gefühl Deiner unmittelbaren Nähe. Alles Gute! Dein  treuer  Ernst, der immer mit Dir ist.

257.  StG an EM

1. 1. 1917 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: Die sendungen kamen an. Vergiss nicht Deiner mutter zu danken die mir über Darmstadt eine kleine leibliche erinnrung zugehen liess … und nun kam auch über Ludwig die rolle mit dem „geistigen“.516 Wie soll ich das nehmen die prosa mit bild oder vielmehr das bild der prosa? .  . Was sind da für welten dazwischen – ein ägyptischer könig in einer jugendstilnische oder Olbrichmöbel517 vorm parthenon .  .  .  . Die hauptsache ist die freude die Du mir machen wolltest und dafür sei bedankt. Ludwig kam übers neujahr von Cöln herüber erzählte manches von Berlin. A.  C. hat ihn doch gebeten zu vermitteln dass er mich

516 Der vierseitige Druck der „Madonna von Ostende“ von Erich Heckel mit dem Begleittext von Ernst Morwitz war George in Br.  254 vom 20. 12. 1916 angekündigt worden. Morwitz reagiert umgehend auf die vernichtende Kritik Georges in seinem Anwortbrief vom 4. 1. 1917 (Br. 258), vgl. Abb. 5 und 6 im Abbildungsteil. 517 Joseph Maria Olbrich (1867–1908), Künstler und Architekt der Wiener Schule, mit dessen Werken und Baustil George vertraut war, da der von George geschätzte Großherzog von Hessen-Darmstadt, Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein (1868–1937), ihn um die Jahrhundertwende zu Planung und Bau der Darmstädter Künstlerkolonie geholt hatte.

292

Briefwechsel 1917

besuchen dürfe … Denn ⸢Nun⸣ Du es für zuträglich hälst so wird es L∙ veranlassen der donnerstag wieder nach Berlin kommt. Von B. kam keine nachricht an mich  – nach L∙’s bericht geht es ihm nicht gut – der muss im neuen jahr seinen kampf allein auskämpfen – zutun lässt sich jezt nichts. Wenn C. käme würdest Du es da für dienlich halten dass ich ihn über B. ausfrage? Lass Du Dich auch im neuen jahr von den äusseren dingen nicht zu sehr schrecken  Dein S∙ G∙ neujahr 17

258.  EM an StG Feldpoststempel, 4. 1. 1917 Feldpostbrief mit Umschlag nach Mainz, bei Robert Boehringer 4. Januar 1917 Liebster Meister: Ich danke Dir für den Neujahrsbrief. Wie Du Dich zu dem Holzschnitt äussern würdest, wusste ich im voraus, ich verfolge aber einen bestimmten Zweck, nämlich H. , den ich menschlich sehr achte, auf eine andere Stufe zu treiben. Schmerzend richtig ist, dass Du die Verse Prosa nennst, gerad der Gedanke der zu grossen Lockerung hindert mich in den letzten Monaten am Arbeiten. Dass A. C. zu Dir kommt, halte ich für gut. Du kannst mit ihm ruhig über B. , den er sehr liebt, reden. Seinen letzten Brief lege ich bei, damit Du seine Geistesart vorher übersehen kannst518  Für seine Anständigkeit glaube ich bürgen zu können. W. U hat heut plötzlich mit wenigen Worten als Beigabe ein Gedicht mit unglaublich gutem Inhalt gesandt – sein Erkenntnisvermögen ist fast schreckenerregend. Bald ich sende ich Dir es. Von hier ist nichts zu sagen. Sei herzlich gegrüsst. In Eile Dein Ernst.

518 Der Brief befindet sich nicht im Stefan George Archiv.

Briefwechsel 1917 293

259.  EM an StG Feldpoststempel, 7. 1. 1917 Feldpostbrief mit Umschlag nach Mainz, bei Robert Boehringer Nachtgebet. In dumpfe Nacht voll Not umspannt von Qualen Lass sänftigend dein frommes Bildnis strahlen. Du liehst dem Knaben ehmals Horn und Speer Er lebt er kämpft er fällt nur dir zur Ehr. Du sahst den Tollen in die Wüste fliehn Doch als er siechte, riefst du gütig ihn, Der sein Gesetz nicht achtend dich verliess Den Pfad verschmähte, den ihm Liebe wies. Dein Auge stählern rollend wie beim Aar Sah ihn vorm Pfeil des Gottes wund und bar, War sanfte Leuchte als das Wunder kam! Er frei sich gab und und freier wiedernahm. Ja dass sein Sehnen nicht ohn Nutz versprüht Hast du mit solcher Kraft ihn angeglüht Dass süsser Traum im Kind von dieser Welt Zu Stoff gerinnt, belebt beseelt sich ihm gesellt. Befehle nun! ich folg wohin es sei Mich kauft nur Blut von meinem Blute frei. Mein Werk begann seit du ganz dein mich nennst Es schliesst wenn du den Erben anerkennst. 7. Januar 1917          E. M.

294

260.  StG an EM

Briefwechsel 1917

v. d. 21. 1. 1917 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: ich bin in Mainz gut angekommen und habe Robert recht erträglich gefunden. Der abschied von Berlin war diesmal recht schwer · besonders von Bhd . Kaum war ich ein paar tage hier als der Sturmwind A. angefahren kam. Er war wie immer herrlich aber bereitete mir durch seine unruhe + durch seine pläne reichliche sorge. Er will alles 519

261.  StG an EM

v. d. 21. 1. 1917 Brief ohne Umschlag Mainz samstag

L. E. Das lezte gedicht hat mir wieder sehr gefallen.520 In meinem urteil über das diptychon hast Du nicht mich richtig verstanden  .  .521 Ich glaube auch dass Du hier durch ein menschliches rechtmässig gefesselt – doch nicht ganz rechtmässig von einer in eine andre seins= und seelen stufe eine brücke zu schlagen suchst. Das geht nimmermehr … Auf Dein letztes – was freilich auch noch meine hoffnungen wieder belebt fielen mir diese regeln ein: Wir stehn an schicksals tor im gleichen bangen: „Nach vielem glück – ist dies noch zu erlangen?“ … Die hoffen mühlos höchstes zu erwerben – Wenn Du die meinst so giebt es keine erben.522 Nun zu C : der brief giebt etwas viel gerede und geschreibe über dinge – ein nicht zu fördernder weiblicher oder literarischer zug … Dass er nicht kam beruht auf einem fehler L∙’s und gab 519 Auch die Abschrift von Ernst Morwitz in BB endet mit diesen letzten Worten ohne Unterschrift. 520 Das am 7. 1. 1917 George übersandte „Nachtgebet“. 521 George bezeichnet die Madonna Heckels mit dem Text von Morwitz als Diptychon. 522 Die Verse finden sich 1928 unter der Überschrift „W: III“ in Georges Das Neue Reich, S.  100 mit einer Änderung in Vers  1: „Wir stehn am schicksalsrand mit gleichem bangen:“; vgl. SW IX, S. 77.

Briefwechsel 1917 295

dem jungen gelegenheit in einer nicht ganz gemässen form sich nutzlos an mich zu wenden .  . Du hättest besser selber die sache eingeleitet und ihm unmittelbar sagen sollen sich mit seinem gesuch an mich zu wenden – zur zeit als es noch in seiner macht stand bei gewährung auch wirklich zu kommen … Schade wer hofft jetzt noch auf „nächste male“!! Dazu war ich durch abwesenheit R’s in Wien die zeit völlig frei … Herzlich S. G.

262.  EM an StG

21. 1. 1917 Brief ohne Umschlag 21. Januar 1917

Liebster Meister: Die „Regel“ Deines letzten Briefes hat mir zur Ausführung eines Versuches geholfen, den ich schon seit Jahren anstellen wollte. Das Ergebnis lege ich bei! –523 Von Ludwig habe ich noch immer nichts gehört. Dass A. C. schon nicht mehr in Deutschland ist, hörte ich erst durch Deinen Brief. Einige Tage vorher hatte ich nach Ilfeld selbst noch die Weisungen geschrieben, da mir Ludwigs Schweigen unerklärlich war. Von A. C. habe ich seit dem Brief, den ich Dir sandte, nichts gehört.524 W. U scheint der Lunge wegen nach Berchtesgaden zu gehen oder schon dort zu sein. Nach meiner vorsichtig kühlen und spottenden Antwort auf seinen Flammenbrief hab ich nichts von ihm gehört. B. muss viel arbeiten, nebenbei scheint er den Fritz zum Dichten veranlasst zu haben.525 Schreibe recht bald Deinem Ernst Vor allem, was machen die Gundölfe?

523 Beilage fehlt. 524 Cohrs hatte am 12. 1. George mitgeteilt, dass ein Zusammentreffen während seines jetzigen Urlaubs nicht mehr möglich sei (StGA). 525 Wohl Morwitz’ Neffe Fritz Heim. Fritz Heim war der Sohn der jüngsten Stiefschwester von Morwitz aus deren erster Ehe. Er starb 1959 in Australien, nachdem er zuerst in China, später in Britisch Nord Borneo Arzt gewesen war (BB).

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263.  StG an EM

Briefwechsel 1917

ca. 15. 2. 1917 Brief ohne Umschlag München samstag

Liebster Ernst: Deinen brief nach Mainz bekam ich hierher von R. nachgesandt. Ich hatte M schon lang (ende januar) verlassen um den gewohnten aufenthalt zu nehmen  – doch musste ich in Darmstadt wie in Heidelberg fast zwei wochen warten weil die kälte in München unerträglich war. Sobald es wärmer wurde (6/7 februar) fuhr ich hierher + hatte die erste woche noch sehr unter der einwirkung der kälte zu leiden. Jezt bin ich wieder ganz gut. Ernst III ist hier ∙ er ist glücklich von allem soldatentum frei – und er hilft mir den aufenthalt sehr erfreulich machen. Die äusseren umstände hier werden jeden Tag aschgrauer. – Von Gundolf wirst Du gehört haben dass er zum Generalstab nach Berlin gekommen ist  – nachdem alle schritte nichts gefruchtet durch äusserst plötzlichen günstigen zufall.526 Gegen schluss war er unglücklicher als er selbst zugab. Der kleine Ernst schreibt wechselnd trüb + weniger trüb ∙ ihm wird wenig zu helfen sein ∙ doch waren die lezten nachrichten von ihm erträglich –527 Eben als ich Deinen brief fortbesorgen will erhalt ich Deine karte. Du scheinst nicht zu wissen dass seit vorigem jahr reisen sich sehr verschlechtert hat. Berlin München 14 stunden mit schnellstem zug (früher knapp 10) Dazu selten geheizt .  . jezt kommt noch bekanntmachung dass auf heizen überhaupt nicht 526 Ab Februar 1917 war Friedrich Gundolf im Berliner Kriegsministerium im Büro von Haeftens tätig. Noch am 20. 1. 1917 teilte er George mit, dass der badische Kultusminister vom badischen Generalkommando die Zusicherung seiner Reklamation für einen „mehr litterar-militär. Posten mit eigner Zeit“ erhalten habe (G/G, S.  300). Am 23. 2. 1917 hatte George durch Wolfskehl erfahren, dass Gundolf über die Verbindung Reinhold Lepsius’ und Walther Rathenaus zu von Haeften versetzt sei. Er machte ihm heftige Vorwürfe. Ein Eingreifen von der Universität aus wäre gekommen und akzeptabel gewesen, „dies mit L  … Rath– halt ich für einen blossen zufall dass es geglückt ist“. Man dürfe nicht „JEDE mögliche hilfe annehmen“ (G/G, S. 300  f.). 527 Ernst Gundolf war am 4. 9. 1916 eingezogen worden und musste als Büroschreiber in Belgien und Nordfrankreich dienen. Am 17. 5. 1917 schrieb er an George, dass seine Position gesichert sei. „Ich glaube also dass es nicht nötig ist zunächst Schritte für mich zu unternehmen. […] Augenblicklich habe ich es fast zu bequem für militärische Verhältnisse.“ (StGA)

Briefwechsel 1917 297

mehr gerechnet werden darf. So sehr es mich freuen würde dich in Berlin zu sehen – bei diesen verhältnissen würde also das wetter = mein befinden im märz so bestimmend sein dass ich heute nichts versprechen kann. Herzlichst ST. G. Römerstr 16  München Nichts auf postkarten schreiben

264.  EM an StG

Feldpoststempel, 25. 2. 1917 Feldpostbrief nach Mainz, bei Robert Boehringer, nachgesandt nach München

25 II 17. Liebster: Meine Karte wirst du erhalten haben. Um nichts unversucht zu lassen, möchte ich umgehend um Nachricht bitten, ob schon am 13. III nach Berlin kommen könntest [sic]. Ich weiss nicht ⸢ob⸣ es glücken wird, für 1 Woche etwa Urlaub zu erkämpfen – Im April aber wird es wegen der zu erwartenden Kämpfe noch unmöglicher werden. Sehn und sprechen müsste ich Dich schon recht dringend. Schreibe sofort – wenn ich an A. C. denke, freue ich mich und lächele.528 Herzlichst Dein Ernst

265.  StG an EM

22. 3. 1917529 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: W war gestern hier und ich will Dir gleich berichten. Ich hab ihn diesmal lang genug und genau besehen. Einen eindruck macht er und als er oben im kugelraum530 stand war doch bei mir 528 Adalbert Cohrs war vor dem 12. 2. 1917 mit George zusammengetroffen und hatte einige Tage mit ihm verbracht. 529 Die Datierung ergibt sich aus dem Datum des Besuchs von Woldemar von Uxkull bei George in München am 21. 3. 1917 und der Zeitangabe im ersten Satz von Georges Brief. 530 Der nach einer kugelförmigen, opalisierenden Milchglaslampe an der Decke benannte Raum über der Wolfskehlschen Wohnung in der Römerstraße. Darin befand sich ein Tisch mit wegklappbaren Füßen, der als Arbeitstisch sowie niedriger Couchtisch für die Symposien diente, von George entworfene Holzbänke und Hocker mit dünnen

298

Briefwechsel 1917

eine bewegung zu spüren: immerhin ein sieg ∙ obwohl ich nicht weiss was da an erinnerungen mitwirkte .  . Er hat seine eigenschaften ist klug und gar nicht mehr unverschämt jedoch das lezte für ihn wagen ist heut nicht mehr möglich. Er selbst giebt obwol er äusserlich schauspielt unbewusst mit grösster deutlichkeit zu erkennen was seine stufe und sein gehalt ist: schon seine form ist danach geprägt. Wenn er sich nicht verzettelt ⸢wird er⸣ eine erfreuliche und staatlich höchst dienende person .  . Er ging sehr stark ergriffen weg (anfangs hatte dieser freche sogar das zittern!) er fühlte dass etwas vorbei sei ∙ dass man sich jezt ausweisen müsse ∙ dass nichts mehr „entgegen gebracht“ wird dass seine hochaufgeschossne figur jezt allein nicht mehr ausreicht. Besonders beim lesen (er las vieles und recht gut) wo er einhakte und wo er kalt blieb zeigte er völlig seine grenze. Er ist kein mensch mit einem schicksal ∙ daher auch keiner des lezten wertes (das ist eher B! ). Den E sah er ohne seinen namen zu wissen ∙ recht gut dass er dabei zu fühlen bekam dass er die person der zweiten ordnung war ∙ nicht mittelpunkt! Ernst war immerhin recht erstaunt über

dieses seltne tier! Herzlichst S. G.

266.  EM an StG

30. 4. 1917 Brief ohne Umschlag 30. April 1917

Liebster Meister: Das Gespräch, das Dein letzt gekommener Brief wiedergab, lässt mich mein Fernsein von München doppelt beklagen. W. scheint sehr ernst geworden zu sein, wie mir ein sachlicher, nicht schauspielspielender Brief zeigt, und Ludwig ist von W’s „elegischem Schimmer“ betroffen, der wohl nicht nur Widerschein des Gewesenen, sondern die Ausstrahlung seines Innersten ist, die in seinen besten Zeiten immer schon zu Tage trat.  – Was äusserlich mit ihm wird, ist unbestimmt, wahrscheinlich wird er eines Tages in die Etappe geholt werden. Auch mich hat Cohrs auf B. so begierig gemacht, dass ich fast hoffte, du würdest schon im Frühjahr einmal nach ihm sehen. stoffüberzogenen Polstern. Auch die dort benutzten Zinnteller und Becher sollen nach Entwürfen von George gefertigt worden sein.

Briefwechsel 1917 299

Ich habe ihn in einem Brief etwas „gezwickt“, weil er kurz und äusserst selten schreibt. Heut am Vorabend des 1. Mai, wo ich so oft bei Dir war, sehne ich mich besonders – ich denke an die Tage am Rhein und im Taunus – o wäre das wieder möglich. Mich tröstet und reisst der „Titan“ öfters empor – und einen wundervollen Satz schreibe ich für Dich ab: „So wohnen und schmelzen die Geister im unsichtbaren Lande zusammen und wenn sich die Leiber im Sichtbaren wieder begegnen, finden die Herzen sich bekannter wieder“531 Über den Urlaub lässt sich nichts bisher sagen – es ist Glückszufall ihn zu bekommen und ⸢ich⸣ wäre gern auch im Schwarzwald mit Dir wenn die Zeit nur langen sollte Ich hätte es not, einmal in Arbeit genommen zu werden wie Robert , denn manchmal packt mich Verzweiflung und wirft mich fast um und noch schlimmer droht Stumpfheit. Die Ode,532 die ich sehnlichst zu hören wünsche, möge ein gutes Vorzeichen sein! Kämst Du vielleicht doch, falls ich Mitte Mai einige Tage gewinnen könnte, nach Berlin? Es ist aber sehr fraglich! Tee werde ich zu erhalten versuchen, er ist kaum zu bekommen (in Brüssel, Gent und Brügge nicht, vielleicht noch in Antwerpen!) Immer Dein gleicher Ernst.

267.  EM an StG

Feldpoststempel ohne Datum, 24. 5. 1917 Feldpostbrief nach Heidelberg

24. V. 17 Mein Lieber: Vielen Dank für den Heidelberger-Brief, der eben kam. Ich glaube nicht vor Herbst Urlaub zu bekommen, sodass wir bis September werden warten müssen. Gehst Du nach der Schweiz? Eben höre ich von B. U , der ebenso wie W. U krank war, dass B. zur Feldartillerie angesetzt ist und nach Pfingsten eingezogen werden soll. Ich bin sehr traurig, dass Du ihn nicht vorher noch sehen sollst. 531 Morwitz zitiert aus Jean Pauls Roman Titan einen Moment, da Albano sich an seinen entfernt weilenden Freund Schoppe erinnert. 532 Fraglich, ob mit „Ode“ schon Georges umfangreiches Gedicht „Der Krieg“ gemeint sein könnte.

300

Briefwechsel 1917

Sie sind schwach infolge der schlechten Ernährung, ich helfe von hier aus, so gut es geht. Herzlich Dein Ernst. Schreibe bald.

An Hans werde ich über Berlin schreiben.

268.  StG an EM

Anfang Juni 1917 Brief ohne Umschlag Klosterreichenbach (Württembg)

Liebster Ernst: ich will Dir heut nur kurz mitteilen dass ich vorläufig hier zu bleiben denke ∙ es ist weniger einsam wie die vorigen jahre: Ludwig ist jezt bei mir: später kommt W. W. Wegen A. C. beunruhige ich mich sehr. Er ist von seinem ruhe=ort an die scheussliche stelle bei Reims gekommen. Was hörst Du von beiden U’s ? Ist B. wirklich eingezogen?*) „Der Krieg“ 12 × 12 ist fertig.533 Ist er es nun auch in wirklichkeit? Wie geht es Dir? Dein S. G. Hier geht das Leben noch sehr leidlich ∙ wie schad dass jezt einer der armen S.  S. es nicht mit geniessen kann um hier wieder aufzufrischen!

269.  EM an StG

11. 7. 1917 Brief ohne Umschlag

11. VII Geliebter Meister: Mitten aus der Arbeit dieser Gruss. Ich habe gestern Abend noch gelesen und gestaunt, wie unglaublich schön Du das Sprödeste 533 Georges Gedicht „Der Krieg“ erschien als Sonderdruck im Juli 1917 bei Georg Bondi in Berlin: acht Seiten gelbliches Papier, schwarzer Druck in gelbem Papierumschlag mit wiederum schwarzem Aufdruck in 3.400 Exemplaren. Eine zweite Auflage folgte schon im September 1917 mit 3.150 Exemplaren. Erich Boehringer (1897–1971), Robert Boehringers jüngster Bruder, soll die 144 Verse Ende Mai 1917 auswendig gelernt und auf diese Weise zu Edith und Julius Landmann nach Basel gebracht haben.

Briefwechsel 1917 301

zusammengeschmolzen hast, und alles enthalten ist, das ist der Krieg, der uns erschüttert. Dass es möglich sei ⸢ist⸣ eine Ablehnung so stark wie ein Preislied zu dichten! Sei gegrüßt  Dein dankbarer E

Der Sturm ist xx bisher geglückt

270.  StG an EM

ca. Ende Juli 1917534 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: Deine briefe über Kl∙R sowie das päckchen hab ich richtig erhalten∙  der dütentab ist schon ganz brauchbar. Bring davon bitte eine portion mit wenn Du nächstes mal auf urlaub kommst. Mit der Schweiz hat es diesmal solche scherereien dass ich nicht glaube dass ich die grenze überschreite. Ich kam aus dem Schwarzwald etwa mitte des monats zurück ∙ sah in Darmstadt den kleinen E∙ der als einziger aus dem krieg vergnügt rund und pausbäckig nach haus kam.535 Hier ist in Heidelberg ist das leben so unbeschreiblich schlecht geworden dass ich nochmals in den (badischen) Schwarzwald zurückkehren möchte. Robert ist daselbst in einem hôtel am Feldberg. Berühmt geht es ihm noch nicht – er lag wochenlang in einem Berliner genesheim536 … Auch ihn hab ich gesehen eh er in den Schwarzwald ging. Von A. C. hat ich vor längerer zeit gute nachrichten.      Herzlichst S. G.

271.  StG an EM

München, 23. 8. 1917 Brief ohne Umschlag

liebster Ernst: Nachdem ich es mit der Schweiz endgiltig aufgegeben hatte ∙ wollte ich mit Robert noch 14  Tage zusammen sein der auf

534 Zur Datierung können zwei Briefe von Robert Boehringer dienen, deren Absendeort der „Feldberg“ ist. Sie datieren auf 27. 7. und 3. 8. 1917. 535 Ernst Gundolf war wegen seines Lungenleidens erst am 4. 9. 1916 als Schreiber eingezogen worden; vgl. Anm. 527. 536 Laut Morwitz das Sanatorium des Magenspezialisten Dr. Rosenheim in Berlin Grunewald (BB).

302

Briefwechsel 1917

dem Feldberg sich erholte. Ich traf ihn in Donaueschingen und er sah noch sehr angegriffen aus. Er hatte wieder das allzu bekannte Robertische misgeschick: aus ungünstigen äusseren gründen musste er selber abraten dass ich ihn auf den Feldberg begleite ∙537 auch schien mitzuwirken dass er sich zu unkräftig fühlte um anders als allein zu sein. So ging ich zu dem berühmten Kloster Beuron in der nähe und komme nun bis ende august nach München. Dies sommer=München erinnert mich lebhaft an jenes von damals mit dir zusammen … Im september bin ich in Berlin wo ich dich endlich zu sehen hoffe. Säume nicht zu lang

da ich nicht weiss wie lang das leben dort überhaupt auszuhalten ist. Deine nachricht erbitte ich an Gundolfs Adresse: Grünerweg 37 Darmstadt. Hoffentlich auf wiedersehen. Dein S G. München 23. aug. 17     Wenn Du schon etwas über urlaubs-möglichkeit weisst so kannst Du nach hierher schreiben Römerstr. 16 I – jedoch bitte ich auf jeden fall um gleichlautende nachricht nach Darmstadt.

272.  StG an EM

Mitte September 1917 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst ∙ Robert sah den B. nur ganz flüchtig da R. wieder abreisen musste und B. erst in der lezten Minute von der Kaserne loskam. Immerhin hat er ihn sehr billigend angesehen. Auch war das ersehnte Zusammentreffen der beiden SS nur von kurzer Dauer  – gleichwohl war die Gruppe die sie bildeten so traumhaft ∙ dass die Anwesenheit des grossen E. herbeigewünscht wurde ∙ aber heimlich war er dabei. D. M. Robert Erich Ludwig Bernhard

537 Robert Boehringers Vater, Adolf Paul Boehringer (1850–1933), verbrachte einen Teil des Aufenthaltes zusammen mit seinem Sohn.

Briefwechsel 1917 303

273.  StG an EM

Poststempel 18. 10. 1917 Brief mit Umschlag Feldpost

Liebster Ernst: dank für den tabak und das reichliche papier. Da sich hier auch noch möglichkeiten aufgetan haben so ist fürs erste gesorgt. Mit B. verbringe ich nun schöne wolkenlose tage nur schade dass er so sehr im dienst steckt und die zeit so knapp bemessen ist538 … Er hat jene beweglichkeit – bewegtheit (die von rührigkeit sehr verschieden ist und buntheit) die ich auch immer als forderung des παν aufstellte im gegensatz zur eindeutigen festgefahrenheit des Woldi der wol immer erfreulicher wird aber doch zu sehr schon eingehängt ist. Eines abends als B seinen schweren waffenrock auszog und in einem graugrünen wollhemd dasass + ich ihm damit es ihn am hals nicht friere eine meiner schleifen umwickelte: da sah er aus wie ein S. S  – aus dem volk. Denk – jener feine fadengrade B! – – Diese möglichkeit ist ein noch weitres versprechen .  . den freunden geht es gut. W. W. ist gegenwärtig wieder hier .  . F. W. noch immer abwartend ∙ ebenfalls. Ich denke am 1. nov abzureisen. Schreibe Dir aber noch vorher .  . eine besondre lust Berlin zu verlassen hab ich nicht .  . Im Westend war ich nun endlich auch ∙ ein saurer gang. Alles verlief jedoch gut. Ich sah auch dort Bilder des gefallenen St. L …539 ach Ernst sind wir jezt verwöhnt!! Ich war sehr enttäuscht. Dein S. G.

538 Bernhard von Uxkull war Fahnenjunker bei der Garde-Feldartillerie in Berlin. 539 Gemeint ist ein letztes Zusammentreffen Georges mit dem Ehepaar Lepsius im Hause seines Verlegers Georg Bondi im Westend nach dem Tod des nach George benannten Sohnes Stefan Lepsius (1897–1917) am 1. April 1917. Sabine Lepsius erinnerte George, als sie mit ihm allein war, an sein ihr einstmals gegebenes Hilfsversprechen. Die Antwort war stumm: „Wir gaben uns zum Abschied schweigend die Hand und sahen uns niemals wieder.“(Sabine Lepisus: Stefan George. Geschichte einer Freundschaft, Berlin 1935, S. 16). Reinhold Lepsius war in den Jahren 1916 bis 1920 mit seinem großformatigen Georgeporträt beschäftigt. Im Zusammenhang mit dieser Arbeit kam es damals zu einer oder mehreren Begegnungen Georges mit dem Maler in dessen Atelier. So schrieb dieser am 29. 10. 1917 aus Charlottenburg an George mit der Bitte, ihn in seinem Atelier zu besuchen, da die fotografischen Platten zerbrochen seien (StGA).

304

Briefwechsel 1917

274.  StG an EM

18. 10. 1917 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: Bei B. fehlt jezt nichts mehr. Er ist der würdige dritte der reihe540 G Berlin=Grunewald

donnerstag nacht

18. X – angekommen 22. X. 17.

275.  EM an StG

31. 10. [1917] Brief ohne Umschlag

31. October Lieber Meister: Ich habe einen guten Tag und Glück gehabt, so dass ich diese zwölf Seegedichte auf einmal gefasst habe.541 Weshalb es mir ein Bedürfnis war, so „äusserlich“ zu dichten, wirst Du ja aus meiner Lage in dieser Zeit Dir leicht erklären können. – Meine Briefe hast Du über Darmstadt hoffentlich erhalten. Ich bin sehr müde vom eiligen Abschreiben, da mir dies keine Ruhe liess. Deshalb nur viele Grüsse Dein Ernst

276.  StG an EM

n. d. 31. 10. 1917 Brief ohne Umschlag

Heidelberg Geisbergstr 16a l∙ E vom lezten Berlin zu reden wäre mit tinte zu weitläufig – nur dies dass nach meinem wegzug vom Grunewald es mir minder gut ging∙ (auch jezt 540 Nach dem Krieg, beim Heidelberger Treffen im Juni 1919, wurden drei Vertreter der jungen Generation den älteren Freunden vorgeführt: Erich Boehringer, Percy Gothein und – nach dem Tod von Bernhard von Uxkull – dessen Bruder Woldemar. 541 Die Gedichte sind im Nachlass Georges im StGA nicht erhalten.

Briefwechsel 1917 305

blieb es nur mässig. Der drohende winter ist ungünstig – so mein ich auch ist besser ich bleibe zunächst hier .  .  .  . Deine „Seegedichte“ haben mich sehr erfreut ∙ besonders wegen der möglichkeit eines dichterischen aufschwungs überhaupt. Sie sind freilich wie du selber schreibst sehr gegenständlich und erinnern etwas an das parnassische vergnügen am abschildern.542 Damit solche werke nicht an holländische kleingemälde erinnern müssen sie von heimlichem zauber übergossen sein (wie z.  B. bei Vermeer stuben wie menschen  gesichter wie stühle alles in einem traumschein oder wie bei Rembrandt von ein teil von jähem magischen licht belebt .  .  .  .543 Ernst ist in D. Robert ständig auf Reisen: war gestern hier. Albrecht ist wieder aufgetaucht als gefangner in Korsika – Otto P∙ ist in Russland gefallen..544 Bleib du weiter aussen fest und innen beim Dichten ∙ Dein St. G.

277.  StG an EM

Mitte November 1917 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: ich zögerte lang mit der antwort auf Deine karte weil mein verbleiben hier von R’s verfügungen abhängt – auf ihn ist die zeit angehend jezt gar kein verlass ∙ jede woche fast eine reise ∙ manchmal mehre [sic] tage – eben kehrt er z.  B. aus der Schweiz heim. Bis weihnacht hoff ich bestimmt in M zu sein ∙ darüber hinaus ist unsicher. Gundel möcht ich hier auch noch abwarten ∙ da er in 14 ta-

542 George bezieht sich auf die französischen Parnassiens. Laut Morwitz handelt es sich um seine flandrischen Gedichte, die George in den Blättern drucken liess; er soll später auch einen besonderen Reiz in diesen holländischen „kleinmeister gemälden“ gesehen haben (BB). 543 Gemälde von Jan Vermeer kannte George u.  a. aus dem Mauritshuis in Den Haag und schätzte sie. Rembrandts Bedeutung diskutierte er schon Jahre zuvor in Gesprächen mit Albert Verwey; vgl. den langen Merkspruch von 1904 zu „Italien und Niederland“ mit dem Untertitel „Stoff-Kunst  Phantasie-Kunst“ (BfdK VII, 1904, S. 8). 544 Der Binger Otto Peil stand zwischen 1904 und 1915 intermittierend in Verbindung mit Stefan George, begegnete ihm auch in Bingen. Er wurde Lehrer an einer Privatschule und Soldat. Seine letzte erhaltene Mitteilung an George kam aus dem Schützengraben „bei Augustowo“ (StGA).

306

Briefwechsel 1917

gen von seiner vortragsreise aus Belgien-Frankreich zurückkehrt.545 Auch der Mittlere möchte auch einmal herkommen .  . doch ist noch zeit dass Du mir weiter über Deine aussicht schreibst ∙ einmal hier vorzusprechen. R. sagte ∙ mild=höhnisch: Das wär ja das erste mal! Heut kommt von Dir eine grosse überraschung: die rolle. Man sieht hier sind die früchte eines bedeutungsvollen jahrs! Sie stürmen sehr triumfierend – diese verse … freilich erkennt nur der Eingeweihte ihre innenbewegung .  . in einem ist sogar mir der „gegenstand“ undeutlich! – Nur so weiter – und so weiter leben in geduld! Dies jahr bringt auch draussen grosse entscheidungen – vielleicht endgiltige! Adalbert ist (der sturmwind) in Berlin auf genesungsurlaub immer noch indess sein regiment bei Cambrai!!546 gelichtet wird Herzlichst ∙ bald weitre nachricht erwartend Dein S. G.

278.  StG an EM

November / Dezember 1917 [oder Febr. 16] Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: Ludwig ist die ganze zeit hier und ich geniesse ihn in seinem unveränderten gleichmass. Robert ist inzwischen wieder unpass gewesen ∙ zeigt sich aber jezt als wiederhergestellt. Plötzlich erschien auch Pcy vor mir der schon glaubte nach monat­ lichem drangsalieren in der genesungstruppe wieder ins feld zu müssen. Er ist vorläufig ganz gesichert. Ich will Dir nicht verhehlen was als ziemlich wichtiges gerücht eben zu mir gelangt:547 Trotz aller gegenteiligen annahmen + wahrscheinlichkeiten stehe dennoch der friede vor ⸢der⸣ tür. So einen triumf-frieden giebt es nicht wie die meisten erwartet – sondern einen verhandlungsfrieden .  .  .  . Was man sel-

545 Mitte Dezember schreibt Friedrich Gundolf aus Tournai an George nach Mainz und berichtet über sein Zusammenteffen mit Simmel und erwähnt zwei weitere Stationen seiner Vortragsreise. Vgl. G/G, S. 311. 546 Bei Cambrai fand die erste große Panzerschlacht des Ersten Weltkriegs vom 20. November bis zum 7. Dezember mit 95.000 Verwundeten und Getöteten statt. Die Ausrufezeichen aber mögen darauf verweisen, dass George den Ort mit Combray verwechselte. Dies könnte auf seine Lektüre des 1913 erschienenen ersten Bandes von Prousts À la recherche du temps perdu hinweisen. 547 Quelle des Gerüchtes könnte Friedrich Gundolf gewesen sein, der Interna über den Krieg durch von Haeften erfuhr, in dessen Büro er in Berlin arbeitete.

Briefwechsel 1918 307

ber wünschen soll weiss man wahrlich nicht! – Das „hernach“ sieht auch in jedem fall böse aus. Bald schreib ich Dir mehr Dein St.

279.  EM an StG

11. 1. 1918 Brief ohne Umschlag

Geliebter Meister: Nun hast Du Adalbert bei Dir und hohe Tage! Ich denk an Euch! Immer mehr kommt es mir vor, als wäre eine neue Provinz des Reiches erschlossen, die noch viele Schätze verbirgt. Dass ich an ihrer Entdeckung beteiligt war, tröstet mich oft und rückt mir mein oft unfruchtbar scheinendes Leben in anderes Licht – Von Bernhard kommen seltene aber volle und freie Briefe. Auf Woldi hoffe ich auch noch immer. Was meinst Du zu Adalberts neuem Fund, selten hat jemand in dieser Jugend so stark den „Traum“ im Auge.548 Von Adalberts Bruder kamen sieben Sonnette.549 Es ist für ihn sehr viel und menschlich bedeutungsvoll, dass er zur der für Dichten nötigen Konzentration gekommen ist. Die Gedichte selbst sind noch etwas wirr, es fehlt mir das „Reale“, sie sind aufgeschönt mit poetischen Bildern. Das beste scheint mir das sechste zu sein, denn es enthält seine eigene Geste am klarsten. Sage dies bitte Adalbert. Ich will versuchen, das Bild eines Matrosen beizulegen,550 das ich aufnehmen liess – ein Beweis welche gute formierende Kraft oft im untersten deutschen Volk steckt. Es handelt sich nur um formales bei diesem Bergmann – seelisch ist hier nichts ausser einer gewissen vornehmen Selbstverständlichkeit. Ich grüss Euch beide                              Ernst. 11. Januar 1918

548 Es könnte sich hier um den Jungen namens Clemens handeln, vgl. Anm. 601. 549 Ferdinand Cohrs (1893–1966), älterer Bruder, wurde evangelischer Pfarrer. Am 21. 1. 1918 bezeichnet Adalbert in einem Brief an George den Bruder als eine „Kraft“, die aber der Lenkung bedürfe (StGA). Gedichte von Ferdinand Cohrs sind im StGA nicht vorhanden. 550 Nicht im Nachlass Georges (StGA) aufzufinden.

308

280.  AC und StG an EM

Briefwechsel 1918

Januar 1918551 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: während meines aufenthalts hatte der Meister vielfach gelegenheit über Dichter und Gedichte zu sprechen und meinte zum beispiel dass wir jüngeren (besonders ich) zu sehr nach löblichen gefühlsgehalten suchten. So selbstverständlich es wäre dass die anlässe bedeutsam genug sein müssten beim wagnis sich verslich auszudrücken so sei doch eben so unerlässlich ein rein dichterisches in bild ∙ kurve ∙ ton .  . Vor einiger zeit hatte d M frühere gedichte des David-dichters wieder hervorgeholt ∙ die in ganz besonderer weise (wenn auch nicht ganz auf der höhe der X. Folge) jenes ingeboren-dichter­ liche offenbaren.552 D M hat bereits Zweien die verse gezeigt und eine abschrift machen lassen ∙ die er auch Seinem Ernst übermitteln wird. Besonders R B war aufs äusserste ergriffen. Eigentlich müssten Alle des kreises die heute noch dichten ∙ diese Gedichte als brevier eine zeit lang bei sich führen. Ihr  A

Liebster Ernst: wir beide haben in diesen tagen im geliebten raum und in den geliebten strassen wandelnd553 viel an Dich gedacht. Dein St. G. Adalbert München im jänner 1918

551 Adalbert Cohrs hielt sich um den 10. Januar 1918 bei George in München auf. 552 Es dürfte sich nochmals um Gedichte Saladin Schmitts handeln, der nach dem Titel eines 1914 in den Blättern veröffentlichten Gedichts „David des Buonarotti“ im Kreis als David-Dichter firmierte und gepriesen wurde. Elf Gedichte, die ebenfalls aus der Zeit vor 1909 stammen, erschienen erst 1919 in der letzten Ausgabe der Blätter für die Kunst, zu einem Zeitpunkt, als George nicht mehr mit Schmitt in Kontakt stand (BfdK XI/XII, S. 225–234). Im StGA befinden sich 15 Briefe Schmitts aus der Zeit zwischen 1905 und 1910 sowie 7 Briefe Georges, eine Abschrift der Gedichte in der 10. bis 12. Folge von Glöckners Hand ist ebenfalls dort aufbewahrt. 553 Gemeint sind die Straßen von München und das sogenannte Kugelzimmer in der Römerstraße 16, in welchem Lesungen, Zusammenkünfte und Gespräche Georges mit Freunden stattfanden.

Briefwechsel 1918 309

281.  EM an StG

Feldpoststempel, 26. 1. 1918 Feldpostbrief nach München, bei Karl Wolfskehl

26. I 18 Liebster: Euer gemeinsamer Brief hat mich entzückt! Schon freu ich mich auf die Gedichte. Inzwischen ein merkwürdiger Briefwechsel mit meinem (damals von Hilsdorf photographierten) Neffen Paul554 – ich glaube er wird gut. Von Adalbert aus Ilfeld kam die Bitte, seinen Bruder aus dem Posener Exil einmal zu Ludwig oder Gundolf zu lassen. Ich antwortete, dass Du entscheiden müsstest – gib bitte Bescheid (Gundolf wäre wohl geeigneter als Ludwig?)    Dein Ernst

282.  EM an StG

Ende Januar 1918 Brief ohne Umschlag

Liebster: Hab Dank für den München-Brief. Ich teile Deine Bedenken über das Zuvielschreiben – aber versetze Dich auch in die phantastische äussere Lage der S.  S. von heute. Entweder sie sind draussen und da bedeutet eine Nachricht die reinste Stärkung und Anstachelung zum Weiterleben die möglich – oder aber sie sind im Inland und spüren jetzt den völligen Zusammenbruch aller Stützpunkte, nie hat sich äussere Religion wie auch der Staats-stall so nichtig gezeigt wie jetzt. Ich denke mir manchmal, dass wir uns tatsächlich in einer Lage jetzt befinden, die die Romantiker sich erträumten – daher das Romantische – zu dem auch das Briefschreiben gehört. Hat es nicht dann schon einen guten Zweck, wenn es Halt gibt und die S.  S. draussen ein bischen [sic] froh und freier macht? Ich bekomme übrigens von A. nur Briefe mit TatsachenNachrichten und B. schreibt leider kaum einmal im Monat! Über innere Dinge könnte ich mich garnicht in Briefen unterhalten – so weit ich sehe, liebt nur A’s Bruder dies und bekommt dann von mir sehr kurze, ihn zur Produktivität mahnende, aber nicht innere Zustände berührende Antworten. W. U. schreibt mir nie!

554 Die Mutter von Ernst Morwitz, Rosalie geb. Aaronsohn aus Lautenburg (1850– 1927), hatte aus ihrer ersten Ehe mehrere Töchter, Morwitz’ Neffe Paul Casper war ein Sohn der ältesten Stiefschwester. Während einer langen Zeitspanne lebte sie nach dem frühen Tod ihres Mannes mit ihrem Sohn Ernst zusammen in Berlin.

310

Briefwechsel 1918

Nun brenne ich aber auf Deinen Bericht von A’s München-Fahrt. Ist er nicht wundervoll und wie gefällt Dir seine Ilfelder Eroberung – ich finde die Bilder unerhört!555 Gestern wieder Beschiessung – es ging uns gut. Als Belohnung kam zu gleicher Zeit Dein lieber Brief. Dein Ernst.

283.  EM an StG

1. 2. 1918 Brief ohne Umschlag Freitag 1. II. 18

Lieber: Dein Sonntag-Brief kam – er hat sich wohl mit meiner Antwort auf A’s letzten Münchener Brief gekreuzt. Ich verstehe Deinen Tadel über die „Leichtflüssigkeit“ ganz. Die 6 Adepten (ich weiss übrigens nur von einem Ilfelder und einem Dresdener) sind wirklich etwas viel und falls irgend Botho-mässige Süsslichkeit556 ist wäre das äusserst schädlich und widerlich. Ich stelle mir A’s Erscheinung eher als praeceptor germanicus, mitreissend durch Wärme und Feuer, vor. Das alles werde ich ihm von mir aus klar zu machen versuchen. – Von Bernhardt noch keine Nachricht. Ob W. U schon im Feld weiss ich nicht. Sehr viele Briefe von A’s Bruder. Er hatte meinen Brief über seine ersten Gedichte für ein Lob gehalten und neue „schönheitsvolle“ Gedichte ohne eigene Geste gemacht. Jetzt hat ihm aber W. U. den Sinn der Briefe erklärt und Ferdinand schämt sich etwas. Er ist anständig, aber zweifelsohne protestantisch trocken wahnsinnig, und kommt für uns nicht anders als ein Mitläufer in Frage. Inzwischen hat er ohne mein Zutun (ich hab von Dir noch nicht Antwort darüber!) Ludwig gesehen – es schadet und nutzt nichts.

555 Identität unbekannt. 556 Morwitz bezieht sich hier auf Botho Graef, einen Bruder von Sabine Lepsius, mit welchem George in den Jahren um 1900 in Verbindung stand. Botho Graef (1857–1917) studierte Klassische Philologie und Archäologie, habilitierte sich bei Ludwig Curtius und wurde 1904 an die Jenaer Universität berufen, wo er bis zu seinem Tode tätig war. Er war neben Georg Simmel auch mit vielen Malern seiner Zeit befreundet und spielte eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben Jenas. Im Berlin der Jahrhundertwende war seine Homosexualität öffentlich bekannt. Bei ihm lernte George sowohl den Dichter Ernst Hardt (1876–1947) als auch Felix Maltz kennen, den er laut Morwitz als „Lustknaben“ der Blätter für die Kunst bezeichnete (BB).

Briefwechsel 1918 311

Dir noch ein merkwürdig schlagendes Wort der Droste: „die rohe Melancholie in den Augen der Leute aus dem Volk.“557 An Hans werde ich wegen des Papiers schreiben. Schreib mir bitte, ob Du im Herbst nach Berlin reist. Ob die russische Bewegung übergreift? Mir scheint dass solche Ströme nicht zu hemmen sind, am wenigsten von so undämonischen Menschen wie den unseren. Der Zusammenbruch der herrschenden Kasten wäre vielleicht als Radikal-Abkürzungsmittel wünschenswert, wenn man auch das ersetzende Positive ⸢noch⸣ nicht erblicken kann – meinst Du nicht auch? Dein Ernst

284.  EM und BU an StG

Feldpoststempel, 3. 2. 1918 Feldpostbrief, ohne Anschrift

3. II 18 Lieber: Gestern kam Nachricht von Bernhardt . Ich reiste sofort und kam heute in dem Ort nahe bei Valenciennes an. Über den Marktplatz gehend sah ich etwas sehr dünnes, unzufrieden aussehendes, kauendes, Primanerhaftes – das ich mit einigem Nachdenken als B. erkannte. Staunen als ich ihn ansprach und nun schon einige Stunden, für die ich kein Königreich gebe! O Liebster, dass das möglich war und möglich ist – muss nun nicht alles möglich werden? Ernst Ein warmer wundervoll blauer Frühlingstag. Ich sitze in seinem Zimmer bis er vom Mittagessen zurückkommt, dann soll er selbst schreiben!

Geliebter Meister Ich hatte den Ernst schon nicht mehr erwartet und freue mich sehr meinen ersten Brief von hier an Dich mit ihm schreiben zu können. – In Berlin sah ich noch meinen Erich,558 und so söhnt das innere Schicksal immer wieder das äußere aus. Stets Dein Bernhard

557 Annette von Droste-Hülshoff, Zitat nicht nachgewiesen. 558 Erich Boehringer (1897–1971), jüngster Bruder Robert Boehringers, bedeutender klassischer Archäologe, in der Wiederaufbauphase von 1954 bis 1960 Präsident des Deutschen Archäologischen Instituts. Nach seinem selbstbestimmten Rücktritt vom Amt reiste er auf den Spuren Alexander des Großen bis ins indische Haiderabat. Da-

312

285.  EM an StG

Briefwechsel 1918

5. 2. 1918 Brief ohne Umschlag

5. II 18 Liebster: Heute der II Teil meines Berichtes: Ich ging also mittags mit B. in Frankreich spazieren und wir feierten den ersten Frühlingstag. Als wir gegen Abend in das Dorf zurückkehrten, ich mich zur Abreise rüstend ernster wurde, rief plötzlich ein Offizier B. auf der Straße an und gab ihm den Befehl, noch abends „dienstlich“ nach Brüssel zu fahren. Wir waren starr. Es war nämlich inzwischen der Vater eines Regimentskameraden von B, der in Brüssel als Hauptmann steht, angekommen und hatte für seinen Sohn und B, bei dem er sich offenbar aus Rücksicht auf den Stand beliebt machen wollte, Urlaub nach Brüssel erbeten. Wir fuhren also alle zusammen nach Brüssel – wir beide sehr froh, der Herr Hauptmann etwas verstimmt, weil B natürlich seine Einladung ausschlug um mit mir zusammen zu wohnen. So verbrachten wir die Nacht und den folgenden Tag ziemlich ungestört in Brüssel, nachdem ich dem Herrn Hauptmann noch so zweideutig für die Ermöglichung meines Zusammenseins mit B. in Brüssel gedankt hatte, dass er wütend erklärte, dies sei nur „indirekt“ geschehen. So hat uns das Schicksal geholfen! Von B ist noch zu sagen, dass er rührender als je – bleich wie ein Schüler fast – und innerlich absolut richtig und selbstverständlich. Über die Gefahren der „Süsslichkeit“ und des „trockenen Wahnsinns“559 ward viel gesprochen – er denkt sehr richtig und naturmässig einfach hierüber. Mir fiel nur auf, dass ihm doch die notwendige Konversation mit seinen Kameraden Mühe macht und abspannend auf ihn wirkt, und er gestand von selbst, dass dies mehr

nach kehrte er zu den Ausgrabungen in Pergamon zurück. George lernte 1915 den Achtzehnjährigen durch das Ehepaar Landmann in Berlin kennen. Fotografien zeigen den jungen Soldaten, dessen Tatkraft und Schönheit George bewunderte, 1917 in Thormaehlens Berliner Werkstatt. 1919 wurde er in Heidelberg den älteren Freunden als Vertreter einer neuen Generation vorgestellt, zu welcher Percy Gothein und Woldemar von Uxkull gehörten. Auf ihn bezieht sich wohl Georges Gedicht „Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg“ (SW IX, S. 31  ff. und die Anmerkungen dazu). Erich Boehringers Beziehung zu George schwächte sich schon in den frühen zwanziger Jahren ab, wie auch seine im StGA aufbewahrten Briefe an George belegen. Dennoch gehörte er 1933 zur kleinen Gruppe der Freunde, die Totenwache für George hielten. Von Uxkull erwähnt Erich Boehringer in einem Brief an George vom 19. 11. 1917 (StGA). 559 Vgl Br. 283 sowie in der Einleitung zu diesem Briefwechsel den Abschnitt „Ermög­ lichungsstrukturen: Pädophilie, Pädagogik und sexualisierte Gewalt“.

Briefwechsel 1918 313

Kraft erfordere als hierfür verbraucht werden dürfe. Woldi betreffend ist ⸢er⸣ voller Hoffnung, der kommt nach Mazedonien wohl. Im ganzen glaube ich dass ich B. aus dem muffigen heraus wieder etwas in seine Form gebracht habe – denn Lippen und Augen sprachen als ich ihn viel verliess    Dein Ernst

286.  EM an StG

11. 2. 1918 Brief ohne Umschlag

11. II. 18. Lieber: Die Abschrift der Gedichte kam, sie duften nach Jungsein und sind an Grazie und innerer Biegsamkeit vollendet! Du hast ganz recht, Bedeutsamkeit des Stoffes tritt vor der Kunst des Flüssigmachens hier ganz zurück. Lass mich sie noch einige Tage geniessen, dann schick ich Dir die Abschrift wieder. – Es kam ein langer Brief der Gräfin : sie ist besorgt um Benna : er habe keine ausgesprochene Neigung zu irgend ­einem Beruf, sei ein schlechter Soldat und süberschätze vielleicht sich und seine Produktion. Ich habe ebenso ausführlich erwidert, er werde jedes Ziel erreichen, das er sich stecken werde, sich und seine Dichtungen überschätze er nicht – wisse er doch, dass „Dichten“ kein Endzweck sei sondern nur Beigabe zu einem erfüllten Leben – im übrigen fände ich nichts so scheusslich wie die jungen Leute, die mit 18 Jahren nur an Titel, Pfründen und Orden dächten, sodass ihr Auge trüb, ihr Denken spitz würde. Man solle nur wünschen, dass er heil aus dem Krieg heraus käme. „Göttersöhne wüssten nie wohin“ – bis ihre Kraft erstarkt sei. – Ich denke, in Deinem Sinn also gehandelt zu haben! Bernhard soll hier von nichts erfahren. Von Ludwig ein langer Brief. Adalberts Bruder hat auf ihn gewirkt wie auf mich – er hat Ludwig böse Depressionen verursacht. Über dies Kapitel hab ich auch Bernhard einen langen Vortrag gehalten.560 Gestern sandte ich Dir ein Stück Seife, so gut ich sie hier bekommen konnte.  Dein  Ernst

560 Zu Ferdinand Cohrs vgl. Anm. 549.

314

Briefwechsel 1918

Jetzt verstehe ich Dein Schreiben über die 6 Seelen.561 Wichtig übrigens, dass Bernhard mir erzählte, dass die Mutter des Ilfelder Adepten Engländerin sei – ob daher das unerhört formal Schöne dieses Gesichtes kommt?562

287.  StG an EM

19. 2. 1918 Brief ohne Umschlag

5. Ich stand am Grabstein, Teurer. Schwere Stufen Bedeckten grau den kalten Tod. Doch kniet, Wo sich der Stein lebendig wölbt, und sieht Ein Kind, noch scheu, das schwarze Kreuz. Es rufen Die zarten Glieder und die kleinen Hände Voll Rosen alles Leben wach: So hab Auch ich gekniet auf meinem eignen Grab Und wecke Leben jetzt – so war die Wende.

Liebster Ernst: ich habe mir euer glückliches Zusammentreffen in B. lebhaft vorgestellt  .  . und B’as worte mit den deinigen zusammen waren für mich hier ein rechtes labsal.563 Nur bitte ihn anzuweisen nicht mehr hierher zu schreiben564 – sondern wenn er den wunsch hat an Dich oder Ludwigs adresse ∙ zugleich kam von lezterem eine mich höchst freuende sendung: B’as neuestes bild ∙ fast mit einem dämonischen zug. Den bescheid den du der gräfin über B. gabst finde ich angemessen doch hätte ich ein so geheimes wort wie „göttersöhne“ vor ihr nicht gebraucht .  . Die abschrift der gedichte hab ich eigens für dich angefertigt – wenn Du sie also noch nicht zurückgesandt hast so behalte sie und sende sie zur aufbewahrung irgend wohin wo Du es für dienlich hälst. Die 561 George hatte offenbar von sechs Adepten des Adalbert Cohrs gesprochen, Morwitz hingegen nur von zweien gewusst, unter anderem von dem im Satz darauf erwähnten „Ilfelder Adepten“. 562 Vgl. Anm. 567 zu Wilhelm von Meister. 563 Es handelt sich hier um Gedichte von Morwitz und Bernhard von Uxkull, die George in einer Rolle zugeschickt worden waren. Es dürfte sich um die „Zwölf Gedichte“ handeln, die in der letzten Blätterfolge XI/XII von 1919 gedruckt wurden. 564 George war in München, wo er sich auch noch bis ca. 18. 3. 1918 aufhielt.

Briefwechsel 1918 315

in Deinem brief angekündigte sendung ist nicht angelangt .  . man sollte jezt garnicht mehr solches wagen – es geht zu viel verloren …565 Von Wi566 hör ich durch L. dass er merkwürdig ergeben ∙ schade dass vor seinem ausrücken ich ihn nicht mehr sehen soll. A. ist noch in Minden – hoffentlich noch geraume zeit. Er schickte neuste bilder seines adepten.567 Die schönheit die du nach früheren bildern so bewundertest ist mir ein wenig zweifelhaft .  . ich fürchte dass der anblick der person selbst dir (wie mir) eine enttäuschung bereiten würde. Dein S. G. München 19. II.

288.  EM und BU an StG

Feldpoststempel, 24. 2. 1918 Feldpostbrief nach München, bei Karl Wolfskehl

24. II 18 Lieber: Ehe noch die grossen Urlaubssperren einsetzen, hab ich das Glück, heute wieder Bernhard in Brüssel zu sehen – wie er so ist, brauch ich nicht erst zu sagen. Auf Deinen Spuren dachten wir an Dich! Jetzt les ich ihm die Gedichte, die ich nach Deinem letzten Brief behalten darf.     Dein   Ernst

Im letzten Brief an Dich, teurer Meister, schrieb ich noch von der Hoffnung des Wiedersehens mit Ernst, die sich jetzt erfüllt hat. Ich fürchte wir werden länger getrennt sein von heut an. – Diese Stadt ist wundervoll mit Ernst darin!          Dein    Bernhard.

565 Die im letzten Brief von Morwitz erwähnten Abschriften von Gedichten Schmitts und die angekündigte Seifensendung. 566 Nicht identifiziert. 567 Nach Morwitz handelt es sich um Wilhelm von Meister, einen jüngeren Schulkameraden von Adalbert Cohrs und Bernhard von Uxkull aus Ilfeld, der möglicherweise ein illegitimer Sohn von Wilhelm II. und der englischen Ehefrau des Landrates von Meister, einem Mitbesitzer der chemischen Werke Meister, Lucius und Brüning war (später Farbwerke Hoechst AG) (BB).

316

Briefwechsel 1918

289.  EM an StG

1. 3. 1918 Brief ohne Umschlag Freitag 1. III.

Liebster: In kleinlichen äusseren Unannehmlichkeiten – die hier oft alles bedeuten – mühsam einen Weg suchend – komm ich erst heut dazu, über den Brüsseler Sonntag zu schreiben. B. hatte die Reise nach Brüssel geradezu „listenreich“ bewerkstelligt, und ich halte es für sehr gut, dass er nun versteht die „Preussen“ mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Sonntag früh erschien er im Hotel – etwas erkältet, aber frischer und viel voller als beim letzten Mal. Vormittags gingen wir auf meisterlichen Spuren, nachmittags Stunden im Zimmer – er an seine Kindheit erinnernd, nur reicher und gelöster auf höherer Stufe. Man könnte alles mit ihm zu Ende führen – er ist mehr als je zu billigen und lieben. Ich las ihm – Deine Zustimmung voraussetzend – die Gedichte des David-Dichters568 vor – er bat sie sich für einige Tage aus. Fester noch als damals scheint sein Plan, die Militärsache aufzustecken und – Litteratur- und Kunstgeschichte zu studieren. Ich warnte vor voreiligen Entscheidungen, erst nach dem Kriege soll er offiziell seine Pläne bekannt machen – ist es so nicht am besten? Wirklich wir sind sogar in ständiger schriftlicher Verbindung. Urlaubspläne sind bis Ende März kaum zu verwirklichen, da eine sehr strenge Sperre besteht. Was dann wird, muss man abwarten, eine Mine habe ich gelegt. Von Hans hab auch ich seit seinem ersten Brief aus Italien keine Nachricht – wahrscheinlich ist er nicht mehr dort, ich werde seiner Mutter schreiben. Du sei gegrüsst von Deinem Ernst

290.  EM an StG

2. 3. 1918 Feldpostbrief ohne Anschrift und Poststempel

2. III 18 Liebster Meister: Hab Dank für den Brief über die Gedichte – nur das 2, 4 und sechste sind von mir, die übrigen vom S.  S.569 – wie Du gemerkt haben

568 Vgl. Anm. 552. 569 Gemeint ist Bernhard von Uxkull.

Briefwechsel 1918 317

wirst. Die Dunkelheit des Vorganges rührt vom Bestreben der hymnischen Pressung her – hier kann ich etwas noch nicht fassen, wie ich es will. Jetzt hab ich nichts gearbeitet – äussere Umstände hatten mich wieder in die den Pr. gegenüber gefährliche Rolle des „Catilina“ gezwungen und das kostete viel Energie!570 – Wenn ich an Adalbert und Bernhard denke, hab ich viel reine Freude. Wenn man so glückhaft ist wie Adalbert, muss jede äussere Tat gelingen. Alle meine Nachrichten – glaub ich – hast Du erhalten. Ich denk an Euch eilig   Dein   Ernst

291.  StG an EM

3. 3. 1918 Brief ohne Umschlag München 3 märz

Liebster Ernst: hier wird es nachgerade so dass man nur mit finten und listen das nackte leben aufrecht erhält  · was es die nächsten monate geben soll ist mir noch dunkel … Ich dachte bis ende ⸢märz⸣ hier zu bleiben ∙ dann Heidelberg oder nähe. Merkt ihr noch nichts davon dass endlich zu einem lezten schlag ausgeholt wird? … Wenns den herbst keine ruhe giebt – so wird überhaupt wenig übrig bleiben von der welt … Durch den erfreulichen Ernst geht es hier noch leidlich mit der stimmung: in einem punkte schwelgen wir gewiss im grössten reichtum. –– Von A. C. erhalt ich regelmässig nachrichten ∙ der andre S. ist sehr stark in Russland in anspruch genommen …571 Mit A ist es xexxss ⸢mehr als⸣ eine sehr erfreuliche tatsache: innerlich ungefährdet ist er aber nicht ∙ zuweilen hemmungslos wahngetrieben dann doch auch ungewöhnlich gescheit und wissend … Von B. schreibt er liebend ∙ doch mit starken beängstigungen. Was Woldi anlangt ∙ so musst Du besser wissen was zu tun ist. Alles was wie verwöhnen aussieht muss jezt vermieden werden. Stehst Du aber wieder in verbindung mit ihm so kannst Du ihn darauf hinweisen dass er zuerst an mich schreiben

570 Morwitz bezieht sich auf die Rolle des römischen Senators Catilina als Verschwörer beim Versuch eines Umsturzes im Jahr 63 v. Chr. George hatte in den 1880er Jahren Ibsens Drama „Catilina“ übersetzt. 571 Unbekannt, welcher der Jüngeren zu diesem Zeitpunkt in Russland kämpfte.

318

Briefwechsel 1918

muss. Darauf erst kann ich ihm die weisung erteilen ob ich ihn hier sehen will Herzlich S. G.

Von jenem gräulichen Dr. W. hab ich noch nichts hier gehört .  .  .  .572

292.  EM an StG

Feldpoststempel, 8. 3. 1918 Feldpostbrief nach München, bei Karl Wolfskehl

8. III 18 Liebster: Eben kam Dein Sonntag-Brief. An Hans Mutter habe ich geschrieben und gebe Dir sogleich Nachricht. Zur Zeit ist grosse Urlaubsperre – vor Ende Maerz Anfang April keine Aussicht!  – ich schreibe sobald ich mehr weiss. Bin sehr erkältet und inmitten unangenehmer innerer Kleinkämpfe!! Denk an Deinen Ernst.

293.  StG an EM

ca. Mitte März 1918 Brief ohne Umschlag München freitag

Liebster Ernst: ich wollte Dir nur mitteilen dass ich noch bis monatsende hier bleibe ∙ dann jedenfalls Heidelberg .  . Nach märz nichts mehr hierhersenden. Ich wollte noch bitten irgend ein zig=papier (gleichviel wenn kein Jb) aufzutreiben) bitte aber zuerst probeheftchen einsenden. Hier geht alles leidlich weiter Herzlichst S. G

572 Laut Morwitz könnte es sich um einen Bekannten von Woldemar von Uxkull handeln, einen Dr. Wolde aus Bremen, der sich an George wenden wollte und der zu dem Bremer literarischen Zirkel um den Dichter Rudolf Alexander Schröder (1878–1962) gehörte (BB).

Briefwechsel 1918 319

Eben fragt W. W. an! er kommt zu mir am mittwoch ∙ ich berichte Dir dann von ihm. G.

294.  EM an StG

19. 3. 1918 Brief ohne Umschlag

19. III 18 Lieber: Ich habe die Freude, Dir heute die sechs Gedichte schicken zu können gleichsam als Willkommen in Berlin. Es besteht schwache Aussicht, dass Bernhard um den 15. IV. doch noch Urlaub bekommt, dann würdest Du ihn sehen – hoff ich. Von Adalbert höre ich eben, dass Woldi von Makedonien sogleich nach dem Elsass transportiert ist – ich zittre für ihn. Von mir nichts. In den äusseren Widerwärtigkeiten hoff ich einen Schritt vorwärts gekommen zu sein. Die Urlaubsperre ist noch immer nicht aufgehoben. Dieser Brief wird wohl auch lange Zeit brauchen – eh er Berlin erreicht. Grüss Ludwig von Deinem Ernst. 573

295.  EM an StG

28. 3. 1918 Feldpostbrief ohne Stempel und Anschrift

Liebster: Dank für Deine erste Berliner Nachricht. B. geht es zum Glück gut – wir müssen dem Schicksal dankbar sein, dass dies gerade jetzt kam.574 Um Woldemar bin ich in Sorge. Hast Du meinen Brief mit den Gedichten erhalten? er fiel in die Sperre! Die Engländer schiessen viel, bisher ging aber alles gut. Denk an Deinen Ernst 28. III 18

573 Um welche sechs Gedichte es sich handelt, ist unklar. 574 Bernhard von Uxkull war an einer Rippenfellentzündung erkrankt, sodass er nicht an der Märzoffensive teilnehmen musste.

320

296.  StG an EM

Briefwechsel 1918

möglicherweise März / April 1918575 Brief ohne Umschlag

Berlin=Grunewald Herbertstr. 15 Liebster Ernst: ich hoffe dass Du bald nachricht von Deinem eintreffen hier schickst. Ich bin in recht grosser erwartung. A. C. hoffe ich hat auch kunde von meinem hiersein bekommen: ich würde sehr wünschen auch ihn endlich einmal wieder zu sehn. Wegen B. bin ich dafür dass man ihn vorläufig ganz in ruhe lässt Herzlichst und hoffentlich auf bald dein S. G.

297.  StG an EM

n. d. 15. 4. 1918 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: ich gab Ludwig den auftrag Dir zu schreiben ∙ nun will ich es auch selbst: ich bin schon in gedanken der abreise ∙ es handelt sich nur darum ob ich zuerst noch einmal zu den innigst einladenden zweien in den Harz soll.576 Am lezten des monats reis ich von Berlin ab. Hoffentlich bekommt G weiter urlaub + ich hab dann ein zusammensein mit ihm im bayrischen gebirg.577 Gab dir Gundel jenen schönen zwischenfall? Er schrieb vor einiger zeit dass er in Oberstdorf einen gar nicht so üblen S. aus Berlin gesehen: nur habe sich noch keine gelegenheit geboten ihn anzureden. Schliesslich stellt sich kurz vor der abreise heraus dass jener S. der neffe Ernst’s578 war!!! Während von A + B fortwährend günstige nachrichten einlaufen bin ich dauernd um Erich besorgt der bei Noyon der grössten

575 George hielt sich in der zweiten Märzhälfte und im April in Berlin auf und wohnte bei Georg Bondi im Grunewald. 576 Adalbert Cohrs und Bernhard von Uxkull befanden sich im Lazarett in Schierke im Harz, wo George nochmals einige Tage mit ihnen verbrachte. 577 George war ab 12. 5. 1918 zu Besuch bei Fine und Erich von Kahler in Wolfratshausen, wo sich auch Friedrich Gundolf befand. 578 Unklar, ob es sich um einen der Neffen von Ernst Glöckner oder um einen Neffen von Ernst Morwitz handelt.

Briefwechsel 1918 321

gefahr ausgesezt ist.579 Auch Wolters jetzige lage ist nicht unbedenklich:580 Bitte schreib doch deinem Hans dass ich leider im Mai von Berlin weg bin (er hat nun endlich geschrieben + seine ankunft im Mai in Berlin angekündigt .  .)581 auch sonst sei es mir schwer ihm jezt schon einen ort zu nennen an dem ich um diese zeit bin. München ist ganz unwahrscheinlich .  .  .  . Ludwig geht es dauernd gut: er ist wieder im „thon“. Was machst Du  Herzlichst S. G. Deine mutter hab ich auch besucht + und fand sie wie immer .  . den Fritz hab ich auch gesehen er hat sich nicht schlecht entwickelt .  .  .  .

298.  EM an StG

11. 7. 1918 Brief ohne Umschlag 11. Juli 1918

Lieber: Ich habe nun seit 2 Monaten nichts von Dir gehört, dennoch hat mich der Contakt, der heimlich besteht, in vielen Schwankungen bewahrt. Für den morgenden Tag582 will ich versichern, wie fest ich an den Erfolg Deiner Taten für das ganze Volk glaube. Die Schar, die heute bei Dir ist, kann nur ein Anfang sein – jedes weitere Jahr, das Du erleben darfst, wird neue Früchte im menschlichen bringen. Lassen wir uns durch die äusseren Ereignisse nicht beirren, selbst wenn wir selbst durch sie dem Untergang nahe kommen, hier erfüllt sich Platons Satz, den Du mir einmal zeigtest: nämliche dass wichtige Ereignisse in der Kunst nie ohne wichtige politische Ereignisse vor sich gehen. Dieser Krieg hat nur Sinn, wenn er solange dauert bis dass auch im innern der Völker das morsche vernichtet, die Klassen verwechselt werden und die Kraft des einzelnen über die maschinelle Organisation triumphiert  Das wird im-

579 Erich Boehringer schrieb am 5. 4. 1918 von der Front an George und sprach vom „Unsinn des Totschlagens“. Im folgenden Juni wurde seine Feuerstellung zerschossen, allein Georges Bild blieb unzerstört (Br. v. 3. 6. 1918, StGA). 580 Wolters war im Frühjahr 1917 schwer an Gelenkrheumatismus erkrankt, wurde aber im Frühjahr 1918 wieder als Soldat in Frankreich eingesetzt. 581 Hans Braschs Brief vom 15. 4. 1918 befindet sich im Stefan George Archiv und dient als Anhaltspunkt für die Datierung. 582 Er bezieht sich auf Georges 50. Geburtstag am 12. Juli 1918.

322

Briefwechsel 1918

mer klarer. Dich wird man brauchen in Deutschland – Geliebter! Dir wünsch ich für das neue schwere Jahr die rechte Kraft.  Dein Ernst.

299.  EM an StG

Feldpoststempel, 5. 8. 1918 Expressfeldpostbrief nach Königstein

5. Aug L. M : Ich habe Hoffnung, um den 10. Aug. auf Urlaub nach Berlin zu kommen und wünsche nichts sehnlicher als Dich zu sehen Dein Ernst

300.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 12. 8. 1918 Expressbrief mit Umschlag nach Königstein

Lieber: Ohne Ahnung von dem Geschehen583 bin ich in Berlin angekommen. Von allen Seiten war ich völlig im Dunkel gelassen, als ob nichts drohe. Ich muss Dich sehen und bitte Dich inständig, wenn Du doch im Herbst nach Berlin kommen wolltest, die Herreise mir zu liebe um einige Tage zu verfrühen. Ich habe bis 7. September Urlaub. Falls Du nicht kommst, gib bitte sogleich Nachricht wo ich – wenn auch nur für kurz – Dich sehen kann. Ich

583 Am 28. 7. war Bernhard von Uxkull und am 29. 7. Adalbert Cohrs nach dem Versuch, ins neutrale Holland zu desertieren, durch Selbsttötung umgekommen, nachdem ihr Fluchtplan verraten worden und sie in Kaldenkirchen militärischen Verhören unterzogen worden waren. Morwitz Darstellung lautet (BB): „Adalbert Cohrs hatte in Kaldenkirchen oder in dem dicht dabei liegenden Dorf Lobberich den Fleischbesorger aufgesucht, um Schleichwege über die Grenze nach Holland zu erkunden. Der Fleischbesorger zeigte ihn an, Adalbert und Bernhard wurden verhaftet, Adalbert weigerte sich, als Offizier seine Revolver abzugeben. Als er zur Vernehmung ging, sah er auf dem Korridor in Kaldenkirchen den Bernhard und steckte ihm einen Revolver zu. Während des Verhörs erschoss sich Adalbert und Bernhard erschoss sich im Korridor, als er Adalberts Schuss hörte. Bernhard starb sofort, während Adalbert mit einem Auge noch ein oder zwei Tage ohne Besinnung lebte.“

Briefwechsel 1918 323

würde dann mich zusammenzuraffen versuchen um die Reise zu Dir möglichst bald zu unternehmen  Dein Ernst Berlin 12. 8. 18 Regensburgerstr. 29. hochparterr

301.  StG an EM

n. d. 12. 8. 1918 Brief ohne Umschlag mittwoch

Liebster Ernst: das grauen ist hereingebrochen  – mehr überrrascht als ich konntest auch Du nicht sein …584 Ich muss nun an Dich denken: je länger Du für Dich allein an der sache würgst desto gefährlicher wird sie für Dich ∙ drum komm bald! Recht darüber zu reden haben nur zwei: Du und ich .  . Für mich ist es nicht (in diesen zeiten!) möglich so plötzlich mich für Berlin einzurichten … im september werd ich es versuchen – doch kann ich für so früh nicht bürgen … ab 15ten d. M.    Dein S. G. bin ich in Darmstadt.

302.  EM an StG Poststempel Berlin W, 21. 8. 1918 Brief mit Umschlag nach Darmstadt, bei Frau Prof. Gundelfinger 21. 8. 18. L. M.: Eben kommt Gundolfs Brief. Ich hatte mit meinem Urlaub alles soweit dies beim Militär in meiner unter⸢ge⸣ordneten Stellung möglich ist für September eingerichtet – durch unvorhersehbare Zufälle wurde ich gezwungen vorher zu fahren oder für unabsehbare Zeit überhaupt zu verzichten. Ich bitte Dich zu bedenken, dass ich als Gemeiner weniger Verfügungsrecht über meinen Leib und die Zeit ⸢habe⸣ als ein Haustier und dass wenn ich noch so gute Vorausberechnungen anzustellen suche, jeder Unteroffizier leicht alles 584 George war wohl schon am 30. 7. oder einen Tag später in Königstein vom Tod der Freunde in Kenntnis gesetzt worden. Die Nachricht brachte Woldemar von Uxkull zu Thormaehlen, dieser übermittelte sie an Friedrich Gundolf, der Georges Aufenthaltsort kannte; Brief oder Telegramm an George sind nicht bekannt.

324

Briefwechsel 1918

durchkreuzen kann – selbst ohne böse Absicht seinerseits! Sobald ich wusste, dass ich sogleich reisen müsste, hab ich Dir Nachricht gegeben. Ebenso ist es mit der verbotenen Fahrt nach Darmstadt. Ich war sicher die Erlaubnis zu bekommen, hörte dann aber hier auf der Kommandantur, dass ⸢gerade jetzt⸣ der Generalquartiermeister derartige Reisen wegen Transportschwierigkeiten auf die bescheinigt dringlichen Fälle beschränkt habe. Ohne Erlaubnis reisen würde mich in meinem unsichern Zustand sehr grossen militärischen Unannehmlichkeiten aussetzen – wie auch Vallentin meint. Nur dann könnte ich kommen, wenn es Gundolf gelänge, einen Grund meiner dringlichen Anwesenheit dort amtlich bescheinigen zu lassen. Dies ist mein einziger Urlaub für ein Jahr; dass er 4 Wochen und nicht mit nur wie üblich 14 Tage dauert ist schon schwer mit viel Energieaufwand errungen. Auf der Rückfahrt wirst Du mich kaum sehen können, da ich ⸢mit⸣ Militärurlauberzug reisen muss, der abgelegene Strecken ⸢fährt⸣, und nicht aussteigen darf. Ich hatte gebeten, dich noch vor dem 7. September zu sehen, da mir dies das kommende Jahr naturgemäss erleichtern würde, wenn ich Dich auch nur einige Stunden sprechen könnte. Doch will ich nicht zureden, dass Du bei den heutigen schwierigen Verhältnissen Deine Pläne deswegen änderst. Über die Rolle Woldemars kann ich nichts sagen. Ludwig hat mir darüber ebensowenig autentisches sagen können wie die Gräfin . Woldemar selbst, den ich zweimal sah, fand ich ergeben und vernünftig Die Tat selbst erscheint mir durch B’s letztes Gedicht für seine Person geklärt.585 Dein Ernst.

585 Bernhard von Uxkulls Gedichtzyklus „Sternwandel“ entstand im Jahr 1918. Das letzte Gedicht „Beschluss“ wiederum endet mit den Versen „Beweinst nicht völkertod und gibst kein haar / Für thron und schwert und stirbst für den geliebten.“ George nahm die zehn Gedichte in die letzte Nummer der Blätter für die Kunst auf (BfdK XI/ XII, S. 267–271).

Briefwechsel 1918 325

303.  EM an StG Poststempel Berlin W, 23. 8. 1918 Eilbrief mit Umschlag nach Darmstadt, bei Frau Prof. Gundelfinger Freitag 23. 8 L. M. Heut war Adalberts Bruder bei mir – er konnte nichts wesentliches sagen – war sehr erstaunt, als ich ihm auseinandersetzte, dass die Tat für B. ein Opfer, keine Notwendigkeit seiner Lage nach gewesen ist. Er hatte tatsächlich geglaubt, dass A. sich geopfert hatte, und wusste nichts von A’s Gebrauch der zerstörenden Medikamente. Im übrigen war er war er [sic] sehr vernünftig, A’s Briefschaften sind unter seiner Verwahrung. Der Fall ist militärisch erledigt, nur versucht er die militärischen Ehren bei der Überführung ⸢der Leiche⸣ für A. als Officier wegen des Gemeindeansehens des Vaters durch ein Attest über Geisteskrankheit des A. zu erwirken. B. und A sind jetzt in ein und demselben Grabe begraben, doch soll B. in die Familiengruft nach Württemberg und A. nach Ilfeld überführt werden. A’s Bruder war sehr ergeben und bat nur die Beziehung zu mir aufrecht erhalten zu dürfen. Sein Verkehr mit Woldemar ist (zum Glück) ganz unterbrochen! Dich bitte ich zu überlegen, ob mir nicht Gundolf kraft seiner Beziehungen irgendeine behördliche Bescheinigung aus Darmstadt senden kann, die meine sofortige Anwesenheit fordert. Dann würde ich reisen dürfen und Dich wenigstens sehen, falls Du nicht herkommst. Das ganze müsste allerdings recht rasch geschehen! Noch eine wichtige Sache: Willst Du Bernhards gute Gedichte aus der letzten Zeit drucken,586 so wäre es wichtig, dass Du mich beauftragst, der Gräfin etwas darüber zu sagen. Ich finde es unausdenkbar, dass sie eines Tages irgendwo anders gedruckt erscheinen könnten! Bitte gib darüber Antwort, solang ich noch hier bin.  Dein  Ernst

586 George nahm in den letzten Blätter-Band, der keine Verfassernamen aufweist, neben dem späten Zyklus „Sternenwandel“ noch eine größere Anzahl von Gedichten Bernhard von Uxkulls auf (BfdK XI/XII, S. 251–272).

326

Briefwechsel 1918

304.  EM an LTh Poststempel Berlin W, 23. 8. 1918 Brief mit Umschlag nach Darmstadt, bei Frau Prof. Gundelfinger Freitag Lieber Ludwig: Ihr Brief vom Donnerstag kam. Gut dass der M. gefasst ist. Hier ist alles in Ordnung, Ferdinand war lange bei mir, die Sache ist erledigt, er sucht nun die militärischen Ehren für A bei der Leichenüberführung vom Corpskommandanten zu erwirken. Er war sehr schlecht orientiert, schob die Schuld auf B und war völlig geschlagen, als ich ihm auseinandersetzte dass A, nicht B die Medikamente benutzte. Nun zur Meinung des M über mich! Er verkennt meine Schwierigkeiten, weiss nicht, dass ich als Gemeiner mir den Urlaub nicht anders legen kann als ich ihn mit Müh und Not bekomme. Ohne bescheinigte Dringlichkeit kann ich nicht aus Berlin fort. Was soll ich da tun – wer wird mir helfen wenn ich ohne Urlaub fahre und dann unterwegs angehalten ⸢und Schwierigkeiten habe und bestraft⸣ werde werde [sic]. Passen Sie auf, wie es dann heissen wird, ich sei alt genug um vorsichtiger zu handeln. Wollen Sie das bitte dem M auseinandersetzen. Ganz irrig ist seine Ansicht, dass es mir lieb wäre die Besprechung hinauszuschieben. Im Gegenteil: ich weiss von vorn herein, dass ich ein sehr sehr unglückliches Jahr haben ⸢werde⸣, wenn ich ihn vor der Abreise nicht sehen kann! Ich bin aber innerlich jetzt schon so stumpf und gleichgültig durch den Verlust B’s, dass ich kaum Schmerz empfinden kann und es mir selbst unerheblich scheint, wie es mir in Zukunft geht. Schreiben Sie mir bitte, wo die letzten photogr. Platten von B. liegen, ich möchte Vergrösserungen machen lassen. Ich habe d. M gedrängt, sich ⸢zu⸣ entscheiden ob er von B die besten Sachen drucken lassen will  – Ich habe vielleicht Grund zur ­Annahme, dass es anderenfalls an irgend einer scheusslichen Stelle geschehen könnte! Sprechen Sie bitte mit dem M. vorsichtig darüber. Ich habe noch die Hoffnung nicht aufgegeben, dass d. M. Anfang September doch kommt, so dass ich ihn wenigstens einen Tag sähe, was schon meine Lage bedeutend bessern würde. Auch Sie hoff ich zu sehen   Ihr Ernst.

Briefwechsel 1918 327

305.  StG an EM

Briefstempel Berlin W, 12. 10. 1918 Feldpostbrief mit Umschlag

Liebster Ernst: was du als nachricht bringst ist allerdings sehr kurz  – ich dachte Dich längst weiter zurück verpflanzt. Hier ist nicht viel neues. Die stimmung ist gedrückt bis zur unwürde  – echt berlinisch. Doch Wir brauchen uns nicht zu bekümmern – unsre saat gedeiht. Mit mir geht es dauernd aufwärts nur zweimal wöchentlich besuche in des arztes wohnung.587 Der Grunewald ist recht herbstlich schön. In den alleen aber fehlst Du – wo ich voriges jahr oft mit Dir ging .  .  Und auch Andre fehlen … aber langsam wird es versöhnlicher .  .588 nur ein besuch im atelier hat mich recht schwermütig gemacht.589 Ich kann wieder denken und arbeiten – das weitre wird sich ergeben … Gundolf geht es wie immer – er spürt nur innerlich mehr als wir alle das drückende der lage. Ludwig ist noch in St. Blasien und wohl. Vallentin sehr gestimmt – aber in einer arbeitshetze von der ich nicht verstehe wie sie Einer der unsren aushält. Robert war nicht sehr gut – bleibt einige wochen wegen seines magens in jenem sanatorium am Roseneck – heut besuchte ich ihn – er war weit besser und heitrer laune Ganz Dein S. G B. freitag

587 George war im September 1918 von Prof. Casper behandelt worden (Steinzertrümmerung in den Nieren) und hatte sich im St. Franziskus Sanatorium, Burggrafenstraße, in Berlin befunden. 588 Bezieht sich auf den Verlust der Freunde Bernhard von Uxkull und Adalbert Cohrs durch Selbsttötung Ende Juli 1918. 589 Gemeint ist wohl das Atelier von Thormaehlen, das Pompeianum, in welchem George zuletzt noch Freunde wie Cohrs, von Uxkull oder Erich Boehringer gesehen hatte.

328

306.  EM an StG

Briefwechsel 1918

Feldpoststempel, 21. 10. 1918 Feldpostbrief nach Grunewald-Berlin, bei Dr. Bondi

20. X 18 L. M: Mit letzter Fahrgelegenheit sind wir aus O. geflohen – jetzt in der Stadt, in der wir 1915 zuerst arbeiteten.590 Ich bin von der vielen Arbeit und dem Elend sehr marode, begreife die Zwangstat der Freunde täglich tiefer! Dein Brief freute mich sehr, besonders, dass Du nun wieder arbeiten kannst. Hier ist alles lastender als je, es ist als seien die Kulissen der 4  Jahre mit einemmal fortgezogen. Der lateinische Satz, den ich Dir neulich schrieb,591 ist der Kern und mit Recht! Ein Ende – gleichgültig welches! Die Post wird weiter mücken, wundere dich nicht, wenn nicht so rasch Nachricht

kommt und grüss die Lieben Dein Ernst

307.  EM an StG

Feldpoststempel, 24. 10. 1918 Feldpostbrief nach Berlin-Grunewald, bei Dr. Bondi

24. X L. M. Wir sind aus G fort, in Richtung Antw. Die Sache geht planmässig bisher. Grüss Alle Dein Ernst

308.  StG an EM

Poststempel München, 18. 12. 1918 Postkarte nach Berlin W.

L∙ E∙ reise ist gut verlaufen · kam kurz nach 1 an. Ludwig hat sich grosses verdienst  durch die (teilhafte) begleitung erworben .  . mein

590 Im Frühjahr 1915 hatte sich Morwitz in Gent befunden. 591 Zitat nicht nachgewiesen, Briefzeuge fehlt.

Briefwechsel 1918 329

süss  …  er möge seine adresse angeben ∙592 damit ich an ihn selber schreiben kann. Ich gedenke des W … Briefe kann er richten an die gew. wohnung 16 I. (doch ohne absendvermerk). Wie sich mein leben hier in M. gestaltet weisen erst die nächsten tage aus.    Dein S. G. Bitte unverzügl. Bondi anzurufen und gute reise zu melden … M. mittwoch

Wolters / Schlesitz / 41 / Steglitz / 516

309.  StG an EM

Poststempel München, 26. 12. 1918 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebste seele: das gewohnte München umfängt mich wieder ∙ ich habe auch schon angefangen zu arbeiten – doch manchmal werden die schatten dieses jahres so drückend dass ich mich kaum davor retten kann .  . jedes bild jeder wieder vorgeholte brief – alles rührt an den wunden und die zeit hat noch nicht viel daran ändern können …593 Dazwischen denk ich viel an W! da ist neben dem wunderbaren doch auch viel schmerz­ liches ∙ hoffentlich gelingt es ihm bald hierher zu kommen! Ich schliesse diesen zettel für ihn ein ∙ gib ihm das blatt … Von Gundel kam brief und gedichtsendung  .  .594 es geht ihm wieder gut ∙ doch fühlt er den druck immer noch nicht weichen und ­bedauert dass der aufflug zu neuen versen noch nicht gewagt werden kann .  .595

592 Damit dürfte Erich Boehringer gemeint sein. 593 George bezieht sich auf den Selbstmord des Freundespaars Bernhard von Uxkull und Adalbert Cohrs Ende Juli 1918. 594 Ein Brief Gundolfs mit einer Gedichtsendung aus diesen Tagen ist nicht überliefert. 595 Gundolf war Im Februar des Jahres 1918 in Berlin an einer schweren Lungenentzündung erkrankt. Ob sich George hier noch auf diese Krankheit und Gesundung bezieht, ist ungewiss, da aus den Monaten August bis Dezember des Jahres keine Briefe Gundolfs an George überliefert sind. Die alten und neuen Gedichte waren für den in Planung befindlichen Blätter-Band gedacht, der 1919 erschien.

330

Briefwechsel 1918

Die Ludoviciana wünsch ich noch einmal hier durchzusehen. Ebenso Vall. lyrica.596 Schliesslich muss ich doch alles nochmals hierher senden lassen .  . Die zusammenstellung der Blätter wird viel zeit erfordern. Ich habe mir ausgedacht dass dies eine gute gelegenheit wäre den Mittleren aus W. kommen zu lassen ∙ das befreit ihn eine zeit lang aus seinem dorf und giebt ihm hier eine nützliche beschäftigung. Geh bitte bald einmal in den Grunewald und frag ob nicht bei den dort hinterlegten leeren blechdosen noch eine verlötete volle geblieben ist .  . die hätte ich gerne hierher geschickt.597 Viel liebes allen freunden besonders L∙ und W∙… Dein S. G. M. / dez 18

310.  EM an StG

20. 12. 1918 Brief ohne Umschlag Freitag 20. XII 18

Liebster: Heut kommt Deine Nachricht von der glücklichen Ankunft, die ich sofort weiter gemeldet habe. Schon Mittwoch berichtete Ludwig (ich glaube: Viktoria Luise Platz 9, Pension Crampe) von der verhältnismässig guten Fahrt bis Leipzig. Der Brief aus Cüstrin kam „unbestellbar“ zurück – nun wird Ludwig seinen Weg versuchen. W. sah ich heut nachmittags zum ersten Mal nach Deiner Abreise – er blüht und macht schöne Gedichte – im übrigen unbeschreibbar s. s ! Gestern abend las ich Paul ein Privatissimum über Bedeutung der Gedichte, er zog – nachdem noch Ludwig kurz hinzu gekommen war – befriedigt nach Hause. Fritz hat weiter seinen Kummer,598 ich tröste soviel Verstand vermag. Val. sagte mir heut, Landmann käme nicht. Von Robert sei längere Zeit keine Nachricht gekommen.

596 Von Ludwig Thormaehlen nahm George drei Gedichte unter dem Gesamttitel „Orpheus, Dionysos, Apollon“ auf, von Berthold Vallentin sowohl eine größere Anzahl von Gedichten wie auch mehrere „Zwiegespräche“. 597 In den Blechdosen befanden sich höchstwahrscheinlich Tabak oder Tee. 598 Fritz Heim, Ernst Morwitz’ Neffe, vgl. Anm. 525.

Briefwechsel 1918 331

Du fehlst D uns – jeder vergräbt sich in Arbeit, um die Stunden hinzubringen und sind zwei zusammen, so reden sie von Dir. Alle aber versuchen zu dichten und Dir wünsch ich Glück zur Arbeit am Ende dieses schweren, wechselvollen und noch nicht ausdeutbaren Jahres Dein Ernst.

311.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 23. 12. 1918 Eilbrief mit Umschlag nach München, bei Karl Wolfskehl Montag 23. XII. 18.

Lieber: Gestern nachmittags meldete sich plötzlich Erich bei Vallentin. Er hoffte Dich noch hier zu finden, sah unglaublich gut und frisch aus und kommt nach den Weihnachtstagen zu Dir. Hier erkundigt er sich bei den Instanzen wegen seines Abiturs, das er nun doch möglichst rasch erledigen will. Er ist bereits für alle Fälle in Stuttgart angemeldet, würde dort aber ein Jahr hindurch Kurse besuchen müssen, weil er nicht das reguläre deutsche Primanerzeugnis besitzt. Falls er das Examen hier durch Beziehungen rascher ablegen kann, will er nach Berlin kommen. Ich habe Dir depeschiert, ob W. und E. sich hier sehen dürfen, was nicht nur W’s innersten Wünschen entspricht sondern wegen der Examensfragen auch nützlich sein könnte. W. blüht weiter, oft kommt er abends zu mir und wir denken an Dich. Zum Ende des Jahres schick ich Dir diese drei Gedichte. Wir sind wunschlos und dürfen gegen das Schicksal nicht allzu undankbar sein denn wer weiss wohin diese verschlungenen Wege noch führen. Ich bin nur der Deine Ernst.

Anrufe I Dein Auge schillert tief umrieft von Schatten Zu langer Jagd nach dir verwandtem Blut. Gestrafft durch Fieber, schütter vor Ermatten Besangst du später Zeiten üppiges Gut.      üppiges] zartes

332

Briefwechsel 1918

Und spürtest unterm Tändeln siecher Lüste Geschminkter Lippen Sehnsucht nach der Paarung. Manch Bildwerk fragtest du, ob keines wüsste Für dich den Richtweg, Heimstatt und die Nahrung. Da jagte eines Nachts zum Uferrund Dich Spätmond schräg enttaucht verdorrten Zweigen: Du lauschtest – hobst die Arme gier und wund ] den arm um gier  und wund Um – stolz⸢jäh⸣ dich tilgend – in die Flut zu steigen. Um] Und II Ich lausch deinem lachen am hüpfenden Quell  deinem] auf dein  ]an springendem Der Maimond mit Sternen umflicht  ] den maiglanz Dein Athem verwirrt mich beim Blättergefäll Wenn rosige Frucht reif bricht. Die Wolke die schweifend den Tagstern bedeckt Umdüstert dein reines Gesicht Und die pfeifende Amsel im Weinlaub versteckt Bist DU – o Seele die spricht. Ich flieh euch Gefilde von Blüten umflockt ] fliehe  ] beflockt Euch Quellen süss ladend im Grund  ] Des waldquells silbriges rund Seit du mir entrückt seit dein Singen nicht lockt Und nie mehr dein schwellender Mund.  ] Nie lockt dein III Der Liebe Dank! denn nicht umsonst verrann Der Tränen trüber Quell: Nun kehrst du ein Und foderst stürmisch dir von meinem Wein! So wächst das spielend kühle Kind zum Mann Der noch in Rausch und Qualen sich bezwingt Und nicht verschleudert was nur einmal bannt. Der Seele Heil! die loh aus netzwerk ringt Das kalter Sinn voreilend ausgespannt.

…] zäher …] stürmend

…] netzen ] Die

Briefwechsel 1918 333

Der Brüder Ende stürzte dein Gebäu Böt eignen Sehnens Kraft nicht Gegenhalt Und schlüg ein Herz dir nicht, das immer neu Der fernen Lieben Liebe widerhallt.599

312.  StG an EM

Poststempel München, 23. 12. 1918 Postkarte nach Berlin W.

L: E: Mit W und E bitte natürlich zu warten bis ich es veranlasse zumal keiner von des andren anwesenheit weiss. Brief eben auch erhalten. Ludwig möge die fertigen blätter an mich senden. Von Vall erwarte ich schön durchgesehene abschriften der vorgesehnen lyr … Ebenso möge W. sein neustes dem erwarteten brief beifügen. Herzliches S. G Allen freunden froher beschluss und anfang des jahres

313.  EM an StG

30. 12. 1918 Brief ohne Umschlag Montag 30. XII 18.

Liebster: Auf den Brief vom 25. XII will ich heut antworten, damit mein Gruss Dich möglichst bald im neuen Jahr erreicht. Mit Erich hatten wir einige schönen Tage – überrascht und entzückt haben mich Gedichte von ihm, die er hersagte, wegen ihrer jugendlich-starren Helligkeit.

599 George nahm Morwitz’ kleinen Zyklus erweitert um ein Gedicht „ ‚Sie müssen sterben‘ riefst du ‚hier und drauss‘ “ in die Blätter für die Kunst von 1919 auf (BfdK XI/ XII, S. 195–197). Das in der Handschrift einleitende Gedicht sowie das letzte sind jeweils um Motti erweitert: „ ‚Sieh diesen gang wo ich viel traurig war / Und oft gewollt du wärst im wandern mit / So enge grenze band das harte jahr / So leere furche fing den steten tritt.‘ / W.  W.“ und „Freund soll dir der fremdling heute / Bruder morgen sein.“ Die Änderungen im Druck gegenüber der Handschrift sind oben verzeichnet.

334

Briefwechsel 1918

Es wäre sehr schön, wenn auch er in den Blättern vertreten sein würde!600 Am 3. I etwa wollte er bei Dir sein. W. heg ich Dir so gut ich nur kann. Er wird immer kindhafter und rührender und auch Ludwig liebt ihn jetzt sehr – heut soll ich vielleicht bei ihm den Clemens601 sehen, der technisch unglaubliche Gedichte gemacht hat. W. hat Aussicht im Januar zu Dir zu kommen. Ludwig wird heute schon einige Manuscripte an Dich schicken, Vall. sagt es für Ende der Woche zu. Bei Vall. sah ich gestern Lechter, der eine merkwürdige Sinnlichkeit bekommt, wie dies vielleicht bei alternden Mystikern immer der Fall gewesen ist. Lebhaft wurde ich an Westend erinnert als ich mit dem jungen Ansorge zusammen kam  – weisst Du noch das Bübchen! jetzt scheusslich übergross und beardsleyhaft.602 Ich glaube, dass es unumgänglich ist, dass Du selbst die Blätter zusammenstellst, denn es hängt alles davon ab dass die einzelnen Teile ausbalanziert sind. Gib Nachricht, wann wir alle die Druckmanuscripte an Dich senden ⸢sollen⸣! Ich war in den Feiertagen sehr fleissig. Mein Manuscript ist fast fertig. Das Abschreiben und Herumbasteln an den Gedichten ist ein trüber Genuss. Ein neues Gedicht auf Friedemann603, das zu den letzt-gesandten gehört, leg ich Dir bei – damit ist mein Pensum vorerst erledigt. Als ich dem Erich Bernhards Gedichte vorlas, fiel mir ein, dass ich ⸢Dich⸣ bitten müsste, doch ja den „Weckruf“ und die „heissen Abende“ mit abzudrucken, sie wirken dichterisch und technisch jedesmal unglaublicher und werden für kommende Zeiten ein Wunder sein.604

600 George nahm keine Gedichte Erich Boehringers in die Blätter für die Kunst auf. 601 Am 16. 12. 1917 hatte Thormaehlen George berichtet, er habe für einen Augenblick Adalbert Cohrs’ „Clemens“ gesehen, den er dann ausführlich als beweglich frechen kleinen „kerl“ beschreibt: „vielleicht ein typus des unerschrockenen und skrupellosen tatmenschen“. Cohrs habe ihn „ganz am zügel“ (StGA). Es steht zu vermuten, dass es sich bei dem hier genannten „Clemens“ aus dem Umfeld von Woldemar von Uxkull und Thormaehlen um eben diesen Knaben oder jungen Mann handelt. 602 Gemeint ist Arnulf Ansorge, einer der Söhne von Conrad Ansorge (1862–1930), Pianist und Komponist, Freund Melchior Lechters. Conrad Ansorge war Zuhörer bei Georges Lesung im Hause Lepsius am 14. 11. 1897, vertonte Gedichte Georges, und dieser besuchte einige seiner Konzerte. Das Ehepaar Ansorge hatte zwei 1893 und 1894 geborene Söhne, Joachim und Arnulf. Der negativen Charakterisierung stehen sehr freundliche Erwähnungen des jungen Arnulf in Briefen von Morwitz an Elli Salomon aus dem frühen Jahr 1919 gegenüber (CPA). 603 Zu Heinrich Friedemann vgl. Anm. 365. 604 George nahm „Weckruf“ und den Zyklus „Heisse Abende“ in BfdK XI/XII, S. 251 und 256–259 auf.

Briefwechsel 1919 335

Noch will ich etwas aus Bernhards Leben aufschreiben was die Kinderfrau erzählte: Als er als Kind in Rom in einer Kirche war, hörte ein Mönch, der ihn sah, mit Beten auf, trat auf ihn zu und hängte ihm einen Rosenkranz um den Hals, als der Mönch nach der Religion des Kindes fragte und die hörte, dass es protestantisch sei, sagte er, er wisse, dass er eine grosse Sünde begehe, aber er schenke ihm ⸢doch⸣ den Rosenkranz! Den Rosenkranz hat heut die Kinderfrau noch! Ist das nicht eine Legende? Dein Ernst Am Mittwoch geh ich zu Bondi und frag wegen der Büchse. Für den Mittleren wäre München sicher eine Erlösung. W. holte ich vorgestern morgens aus dem Bett, um ihm Deinen Zettel zu geben!

314.  EM an StG

10. 1. 1919 Brief ohne Umschlag 10. I 1919

Lieber: Das druckfertige Manuscript, das ich Dir heut sende, ist das einzige aussermenschliche das ich vor Spartakus in Sicherheit bringen möchte!605 Die Unruhen haben uns bisher allzu persönlich nicht berührt. An W. wirst Du grosse Freude ⸢haben⸣ er hat jetzt die drei Hymnen fertig und ich kann – ohne pro domo zu reden – versichern, dass sie ausgezeichnet sind. Am 13. beginnt – falls es ruhig genug ist – W’s Abiturientenkurs im Gymnasium in Friedenau. Er hofft, vom Militär dieser Tage entlassen zu werden. – Frau Bondi606 glaubt, dass eine verlötete Büchse bei ihr steht – ich konnte sie aber noch nicht holen, da Strassenbahnstreik war. Von Ernst Gundolf ganz zufriedene Nachricht. Ich bin neugierig wofür Erich sich entschliesst. Wir haben ihm nochmals geraten, ganz Deiner Meinung zu folgen.607 605 An diesem Januaraufstand waren in Berlin Arbeiter und Spartakisten auf der einen Seite und Regierungstruppen auf der anderen, ergänzt durch Freikorps, beteiligt. Es kam zu Straßensperrungen und mehr als 160 Toten. 606 Eva Bondi (1859–?), Tochter von Hedwig Dohm, Witwe des Bildhauers Max Klein, seit 1912 mit Georg Bondi verheiratet. Sie brachte drei Töchter mit in diese Ehe, die später auch in den Verlag eintraten. 607 George hatte sich wohl für einen Verbleib in Süddeutschland ausgesprochen. Erich Boehringer folgte dem Rat und ging nach Lörrach, nahe Basel, wo er das Abitur ablegte.

336

Briefwechsel 1919

Die Lyrika von Ludwig und Vallentin wirst Du inzwischen erhalten haben. Dein Ernst Entschuldige den Stift – ich hab keine Tinte im Haus!

Über Troschels608 hat auch Ludwig nichts erfahren können!

315.  EM an StG

18. 1. 1919 Brief ohne Umschlag 17. I 19.

L. M. Gestern kam Dein Brief. Ich glaub schon, dass wir die wahren Anführer sind und vor allem auch im innersten untilgbarer als Spartakus! Den Vorwurf bezüglich der Büchsen-Besorgung hab ich verdient – aber ich will die Gründe anführen, ohne dass sie zur Entschuldigung, die doch immer lahm ist, dienen sollen: gleich nach Absendung meines vorigen Briefes hörte ich, dass Frau Dr. Bondi – wohl aus Nervosität – plötzlich für 3 Wochen verreist sei, ohne etwas über die Büchse zu hinterlassen!  – W. gab ich den Zettel. Seine frühe Hymne (über den Meister) haben weder er noch ich – wenn Du sie nicht hast, ist sie verloren.609 Ich erfuhr, dass Bernhards Abiturs-Aufsatz ein Gespräch zwischen einem Anhänger Hölderlins und einem Anhänger St.G’s war – ich werde versuchen, eine Abschrift zu erlangen. Heut leg ich Dir zwei Gedichte bei, das eine hab ich draussen gemacht, aber als zu verräterisch nicht in das Manuscript geschrieben. Das andere stammt von der Gräfin und scheint mir so wichtig, dass Du es kennen musst!

608 Zu Troschels vgl. Anm. 326 und 327. 609 George nahm in die letzte Folge der Blätter für die Kunst 1919 zwar drei längere Gedichte von Woldemar von Uxkull auf, die aber als „Oden“ bezeichnet sind und unter dem Titel „Amobus in Tenebris“ stehen (BfdK XI/XII, S. 273–277).

Briefwechsel 1919 337

Hier Ruhe! Das Kapital sonnt sich in Liebknecht – wohl selbstersehnten – Ende!610 Er war äusserst unsympathisch – aber wenigstens ein Fanatiker und der einzige Täter unter den Communisten-Führern. Hast Du dort genügend Verpflegung jetzt? Allen Freunden geht es ordentlich! Ich halt es auch für naturgemässer, wenn Erich im Süden bleibt.   Dein Ernst. Den Clemens soll ich nach W’s Wunsch erst Ostern sehn! Ludwigs Freund Stein611 gefällt mir sehr  – er hat eine ganz unzersetzte Kraft und Gespanntheit. Ich hoffe noch immer zuversichtlich, dass W’s Eltern verreisen – dann setz ich ihn sofort auf die Bahn. Es liebt d. M. sehr 18.  I.  19        Ernst Die Verse über meinem Wenghöfer-Anruf sind inedita vom Wenghöfer selbst, so dass er auf diese Weise auch äusserlich beteiligt ist!612

610 Morwitz kommentiert die Ermordung des Marxisten und Antimilitaristen Karl Liebknecht am 15. 1. 1919 durch Freikorpsoffiziere. Die hier anklingende Verherrlichung von Tat und Täter, Schlüsselbegriffe im George-Kreis mit steigender Bedeutung, hat einen Ursprung in Georges Gedicht „Der Krieg“ von 1917. 611 Wilhelm Stein (1886–1970), in Bern gebürtiger Kunsthistoriker, arbeitete nach seiner Basler Promotion ab 1918 an den Berliner Staatlichen Museen. Nach Annahme seiner Habilitationsschrift über Roger van der Weyden begann er 1925 seine Lehrtätigkeit an der Universität von Bern, die bis 1956 währte. Seine Freundschaft mit Ludwig Thormaehlen führte 1918 zu einer ersten Begegnung mit George. Unter dessen Einfluss gab er Studien zu Cézanne auf und wandte sich Raffael zu. 1923 erschien seine Raffaelstudie beim Verlag Georg Bondi in der Reihe „Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“ und wurde von der Fachwissenschaft einhellig abgelehnt. Um Stein bildete sich ein Kreis von jüngeren Freunden und Anhängern Stefan Georges, der Künstler wie den Bildhauer und Maler Alexander Zschokke ebenso umfasste wie Michael Stettler, einen der jüngsten Besucher Georges in Minusio. Die Thesen und die Durchführung seiner Raffaelstudie brachten Wilhelm Stein im Kreis um George die Bezeichnung „Neokosmiker“ ein. 612 Gemeint ist das im Druck zweite Gedicht der „Anrufe“: „Dein auge schillert tief umrieft vom schatten“, dem vier Verse Wenghöfers vorangestellt sind.

338

316.  StG an EM

Briefwechsel 1919

Poststempel München, 15. 3. 1919 Brief mit Umschlag nach Berlin W. M. donnerstag

l. E. Dein brief wo Du von Deiner niedergeschlagenheit berichtest enthält einige hinterhälte die ich nicht ganz durchschaue auch dächt mir ein verbergen nicht immer der rechte weg zur heilung und hebung und ein halbgesagtes wirkt dann auf den beteiligten freund um so schlimmer. Wer weiss ob durch die neu geschaffne lage der reise-schwierigkeiten auch wir nicht wieder zum lang verpönten brief=erguss kommen müssen .  . Anfangs klangen Deine worte über W (ebenso Ludwigs berichte) wie heller jubel  – nun scheint doch etwas zu sein an ihm womit Du nicht ganz zufrieden bist …613 Dass die reise nicht ging ist ein schicksal – gewiss! aber Du musst bedenken wie das auf mich eindrückt wenn ich von den vielen stunden höre die du mit W zusammen bist und du diesen nicht veranlassen kannst mir während eines teils dieser stunden ausgiebig zu schreiben .  . Ich fürchte du bist zu nachgebend! … und nicht genug des nächsten augenblicks gedenk! … Du sprichst von W’s seltsamen sommer-plänen ∙ besser wäre gewesen mir wenigstens anzudeuten wohin sie zielen – wenn Du auch keinen einfluss in mancher hinsicht „er fühle sich verlassen“ klingt das nicht etwas skandalös –? auf ihn zu haben glaubst – vielleicht hätte ich ihn … Ich brauche kaum zu erwähnen dass die beiden A + B in diesen monaten auch mit der gleichen heftigkeit in mein leben gestürmt sind. (wenn Du den Bernhard als so unersetzlich empfindest so geht es mir so mit den zweien! In B. war ein zauber den jeder empfand ∙ am meisten der arme A. selber! Vielleicht ist in damals schon in der behandlung der zwei auch von uns etwas versäumt worden – jungen leuten darf man nur sehr vorsichtig autoritäten untergraben! … so klangen schon meine lezten briefe an sie fast wie die eines preussischen vaterländlers!614 Aber was besonders wichtig ist: seit meinem aufenthalt in M ist mir über das verhängnis der beiden ein neues licht aufgegangen! .  .  .  .  .  .  .  .615

613 Vgl. Morwitz’ Brief an George vom 30. 12. 1918 (Br. 313). 614 So hatte George Cohrs geschrieben, dass es „kein Entrinnen giebt“, da es keine „stillen inseln“ mehr gebe (2. 3. 1917, StGA). 615 Möglicherweise ein versteckter Hinweis auf die Niederschrift des Gedichtes „Victor * Adalbert“, das 1928 im Neuen Reich erschien (SW IX, S. 94  ff.).

Briefwechsel 1919 339

Am samstag verlass ich München ∙ erst Darmstadt + dann Heidelberg* möchten es die nächsten zeiten bringen dass wir uns wiedersehen!  Dein S. G. *bei Gundolf Schlossberg 55 Heidelberg Über das schicksal jener büchse hörte ich nichts mehr! mein Gott wie seltenxxx kommt es vor dass man euch um etwas bemüht und das geringe tut ihr nicht einmal!

Arnulf Ansorge / Westend / Nussbaumallee 27

317.  StG an LTh

19. 3. [1919] Brief ohne Umschlag

Lieber Ludwig: beide sendungen kamen an – dank! die erste jedoch störrisch (mit teilen heimatlichen waldes) dass sie kaum zu verwenden ∙ die zweite besser .  .616 Ich bitte achte darauf in den nächsten wochen: es werden bessere und billigere mengen freiwerden. Als ich die eilbestellung schickte schwebte mir jene in ehemaligen zeiten berühmte ludovikische fürsorglichkeit vor: ich vermute⸢te⸣ bei Dir vom ersten her lagernd eine kleine für=alle=fälle=menge!   .  .  . Die gedichte kamen auch und bedürfen auch diesmal noch einer besprechung von einzelheiten  .  . Hier kann ich minder scharf zur arbeit mahnen da ich selber säumig bin ∙ zum teil auch andres ausführte was die Blätter aufgabe zurück treten liess .  . Von euch kamen sehr spärliche berichte „unruhen“ sind nur ein vorgeschütztes ∙ die post hat allemal ganz regelmässig geliefert ∙ die unregelmässigkeit lag bei Euch! .  . Von Wold erhielt ich endlich nach monaten brief und übersetzung ∙ die lezte hat einen grossen atem ∙ man muss ihn mahnen weiter dabei zu bleiben ∙ nur sind viele stellen wo ich nicht weiss wie er ⸢es⸣ gelesen wünscht: für mein ohr fällt manches stück aus dem takt …617 Ihm länger und das nötige zu schreiben ∙ dazu war die unterbrechung zu lang! auch für Ernst gelingt es mir schwer. Das lezte wort der beiden lautete vor monaten so: in aller kürze hofft sich W nach München zu begeben. Dann als ob es selbstverständlich wäre vollkommnes schweigen  – nicht einmal ein wort des bedauerns  … dass jenes unbedingt nötige nicht stattfinden konnte … Diese lücke ist für W ein sehr 616 Es handelt sich um Tabaksendungen. 617 Woldemar von Uxkull schickte am 10. 3. 1919 einen Brief und die Übersetzung eines Chorliedes des Aeschylos an George (StGA).

340

Briefwechsel 1919

grosser verlust – was mindestens Ernst hätte wissen müssen ∙ davon sagt er keine silbe .  . Die entschuldigung der äusseren wirren trifft für’s reisen freilich etwas – fürs schreiben aber garnicht zu .  .  .  . Dabei scheinen Du wie er ⸢es⸣ als ⸢es⸣ natürlich es  anzusehen dass ich nach Berlin komme ∙ als ob die schwierigkeiten von B nach M grösser werde ⸢wären⸣ als von M nach B! Jezt kann man auf dauernde „ruhe“ nicht mehr warten und mitten in der ärgsten unruhe fuhren leute hin und her ( Salz allein 4mal)! .  .  .  .  . Es ist sehr unwahrscheinlich dass ich vor herbst nach B. komme. Am 30ten geh ich über Darmstadt nach Heidelberg ∙ im sommer wol in die berge ∙ – wenn das möglich ist. – Teil jedem von diesem brief das auf ihn sich beziehende mit.618 Dein S. G. München 19 märz

318.  StG an EM

Poststempel München, 28. 3. 1919 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Ernst ∙ es ist gut dass ich jezt deine ganze sammlung hier habe ∙ einige strichelchen hab ich noch berichtet .  . Doch – hoff ich – brauchst Du nicht in grosser sorge zu sein um die weitergreifenden wirren. Vor einigen tagen las mir einer ein gedicht vor und sagte das wäre die vollendete bolschewistische hymne .  . der dichter der einzige richtige Spartakus … Es war der schlusschor des gestalten=kreises im Ring!! – nun! –619 Gib dies blatt dem Woldi  – ich fand seine verse allerdings sehr bedeutend .  .620 ob er noch kommen kann ist eine andre frage – ach warum damals nicht als das kommen noch so leicht war! .  . Die bitte um die büchse erging seit wochen als noch keine ⸢bahnen=⸣behin­ derung war  · schlecht aufgehoben verdirbt sie und ich habe nichts. Aber

618 Thormaehlen erledigte diesen Auftrag dadurch, dass er den Brief Ernst Morwitz übergab, sodass er sich in dessen Nachlass unter den Briefen Georges befindet (StGA). 619 „Lobgesang“ ist das letzte der Gedichte unter dem Zyklentitel „Gestalten“ (SW VI/ VII, S. 87). 620 Möglicherweise die drei Gedichte, die George unter der Überschrift „Ode“ in die letzte Folge der Blätter für die Kunst aufnahm (BfdK XI/XII, S. 273–277).

Briefwechsel 1919 341

solche minima non curat praetor .  .621 dazu ist der Ludwig besser! Dein S. G.

319.  StG an EM

Poststempel Heidelberg, 10. 4. 1919 Brief mit Umschlag nach Berlin W.622

Lieber Ernst: dass hinter Deiner trübnis etwas steckte ist doch wol anzunehmen .  .   dass W. nicht der anlass ist kann mich trösten .  . W. schrieb mir selbst dass er hierher zu kommen gedenkt ∙ von mir ⸢aus⸣ ist nichts innerlich einzuwenden  .  . das äusserliche wonach du fragst liess ich durch Gundolf beschreiben  .  . Sobald entschluss feststeht bitte W. zu veranlassen dies mitzuteilen: wohnungen sind sehr rar ∙ und müssten eigentlich schon jezt (in den ferien) fürs neue semester gemietet werden .  . Von Ludwig hör ich dass er wieder tüchtig arbeitet. Dein S. G. Für Wold: gute ∙ seele! besinn Dich nicht zu lang! Heidelberg mittwoch

621 Um Kleinigkeiten kümmert sich der für das Recht zuständige römische Beamte (Prätor) nicht. Kritik an Morwitz. 622 Auf der Rückseite des Umschlags befinden sich flächendeckende Bleistiftnotizen von Ernst Morwitz’ Hand: „Kabiren u Dioskuren in Samothrake / Kinderopfer Salambo / Flügel Doppel­ geschlechtlichkeit / bei den Engeln, Plato / Anatole France / Michael  … Merkur“. Mehrere Wörter schwer lesbar oder überklebt. Darunter: „Alle Opfertiere vielleicht männlich? Doppelsichtigkeit + Doppelxxxxxxx, Isaak Opfer Stellvertretung dieselbe bei Herodot bei Apis (ist die Stellvertretung afrikanisch) Fichte = doppelgeschlechtlich“.

342

320.  EM an StG

Briefwechsel 1919

5. 5. 1919 Brief ohne Umschlag Montag 5. Mai 1919

Lieber: Endlich kann ich schreiben – heute früh ist Woldemar abgereist! Die letzten Wochen fühlte ich einen latenten Kampf mit dem Uxkullschen Fatum, deshalb musste ich schweigen – war doch in jedem Augenblick der Eintritt unvorhergesehener Schwierigkeiten zu befürchten. Obwohl ich ihn hier nun sehr vermissen werde – schliesslich war die Stunde des täglichen Zusammenseins der einzige Lichtblick – wird alles überwunden durch das Bewusstsein, W jetzt Dir so nah zu wissen. Er wird Dir alles sagen was ich zu sagen hätte – Du wirst mit ihm zufrieden sein. Erinnere ihn, gelegentlich mir zu schreiben – er wird von selbst nicht dran denken. Ludwig ist wie immer im Frühjahr – stark erkältet. Die Bilder, die Du wünschtest, hatte er an Erich gesandt, der aber inzwischen wohl abgereist war. Lepsius soll auf dem Wege des Gesundens sein.623 Am Mittwoch kommt der Ansorge624 nach Heidelberg. Die Freunde hier – ausser Vallentin beruflich –625 seh ich selten. Vom Clemens wird Dir W. erzählen. Ludwig arbeitet am Maximinportrait – doch ist es sehr schwer, nur nach Bildern zu gehn.626 Grüsse dem Gundolf liebend Dein                                                                Ernst Mein Neffe Paul wird – glaub ich – gut!

623 Zu Reinhold Lepsius vgl. Anm. 485. Er war im Frühjahr an einer schweren Rippenfellentzündung erkrankt und nun auf dem Weg zu einer Besserung, die auch seine periodisch auftretende Depression betraf. Danach gelang ihm 1920 die Fertigstellung seines großformatigen George-Porträts. 624 Vgl. Anm. 602; es ist Arnulf Ansorge gemeint, vgl. auch Briefe von Morwitz an Elli Salomon, die sich auf Ansorges Einzug in Heidelberg beziehen (CPA). 625 Morwitz hatte sich nach dem Krieg beurlauben lassen und arbeitete vom 25. Dezember 1918 bis zum 30. Juni 1919 unter anderem für das Anwaltsbüro von Berthold Vallentin. Als freiwilliger Krankenpfleger hatte er keine Bezüge bekommen, und eine Stelle als Richter stand zu dem Zeitpunkt nicht offen (vgl. Groppe, S. 442). 626 Thormaehlen, dilettierender Bildhauer und Kunsthistoriker, schuf eine Statuette ­Maximilian Kronbergers, des mit 16 Jahren 1904 verstorbenen Münchner Gymnasiasten, der von George  – nach dem Tod – in seiner Dichtung als göttlicher Knabe „Maximin“ Gestalt wurde.

Briefwechsel 1919 343

321.  StG an EM

Poststempel Heidelberg, 12. 5. 1919 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: grund eures schweigens ist meist wenn ihr kein ganz reines gewissen habt … W. ist hier gut untergebracht und man braucht seinetwegen keine sorge zu haben .  . Dieser sommer-aufenthalt ist ihm (vom innerlichen abgesehn) sehr zu gönnen .  . Er erklärte dir sofort geschrieben zu haben. Sowohl ich als Gundolf sind von ihm sehr erbaut ∙ er ist ausgezeichnet gut geblieben. Er bekommt langsam einen unerwartet neuen typus ∙ sein oberkopf geht mehr in die breite ∙ das junkerhafte ist fast in ein gelehrten=haftes übergegangen .  . Hoffen wir alles beste … Vom eigensten schweig ich genau wie Du …      Dein S. G. H montag

322.  EM an StG

12. 7. 1919 Brief ohne Umschlag 12. Juli 1919

Lieber: Gerade heut hätte ich Dir gern irgend eine Arbeit geschickt – aber ich habe nichts fertig stellen können. In den letzten Wochen hatte ich viel zu tun, da ich als Hilfsrichter beschäftigt wurde. Ich werde wahrscheinlich die ganzen Ferien hier bleiben – obgleich mich nichts besonders zurück hält. Von Woldi wirst Du wohl mehr hören als ich. Er war wegen seiner Arbeit in Sorge, da er glaubte, dass andere bereits ähnliche Hypothesen aufgestellt haben – ich suchte ihn zu beruhigen, denn in der sog. Wissenschaft ist alles schon einmal in irgendeiner Form gesagt.627 Hier wenig – sehr s.  s.-los ! Der Stein hat eine unglaublich (auch für uns) wichtige Entdeckung gemacht (über Rafael).628 Er

627 Woldemar von Uxkull hatte im Sommersemester 1919 in Heidelberg sein Studium der Alten Geschichte aufgenommen. 628 Dies steht in Zusammenhang mit Wilhelm Steins Studien zu Raffael, die 1923 als einzige kunsthistorische Arbeit in der Reihe Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst bei Georg Bondi erschien, was Georges volle Zustimmung voraussetzte.

344

Briefwechsel 1919

will ein Buch hierüber schreiben. Falls das Buch allgemein genug wird, müsste es bei Bondi erscheinen – denn es ist für die Lösung des „Renaissance­ geheimnisses“ ausschlaggebend. Er geht in die Schweiz. Ich wünschte sehr, er sähe Dich um Dir berichten zu können. Eben bekomme ich etwas, was ich Dir abschreibe der Merkwürdigkeit halber, es ist nicht von mir, nur durch mich gemacht. Vergiss uns nicht ganz im Gebirge629 Dein Ernst Von allen Göttern in des Jahres Reihn So stumm so staunend kamen wir zu beten Nun sind wir in den dritten Kreis getreten Das Jahr ist reif – die Blätter wurden Wein. Sein Mund der leise lachte ward nun streng Nun süss, er lauschte in die feuchte Weite Dann mit den Händen griff er sich zur Seite In einen Busch und teilte das Gehäng. Er ist ein Gott – was unsereiner wähne Drängt ihm aus tiefren zu – er hadert nicht Noch weilet er – sein sterbeklar Gesicht Zweideutig lächelt mit der einen Thräne.

323.  StG an EM

Poststempel Zweisimmen-Lenk, 28. 7. 1919 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebster Ernst: dank für deine verschiednen nachrichten. Mir ging es die zeit über nicht so gut als ich erwartet hatte. Nach den glänzenden tagen in Heidel­ berg630 konnte ein rückschlag nicht ausbleiben .  . die wunde (die manchmal

629 George befand sich im Juli 1919 zusammen mit Edith Landmann in Matten bei Lenk in der Schweiz. 630 In Heidelberg hatte 1919 das berühmte Pfingsttreffen stattgefunden, bei welchem George die drei neuen anerkannten Jüngsten, die den Krieg überlebt hatten, mit der älteren Generation der Freunde zusammenführte: Erich Boehringer, Woldemar Uxkull und Percy Gothein wurden festlich in die Runde von Ernst Morwitz, Ludwig

Briefwechsel 1919 345

nur zu schweigen scheint) ist durchaus nicht geheilt und machte sich nur fühlbarer je näher das unheilvolle juli=ende heranrückte! seit alledem noch kein jahr!  .  .  .  .631 Ich bin seit wochen in einem dörfchen im Bernischen632 ∙ es gemahnt mich oft an unsren gemeinsamen aufenthalt in Stechelberg!633 Äusserlich fehlt hier nichts ∙ die lezten tage bin ich auch körperlich etwas zufriedener .  . ich hoffe die nötige kraft zu sammeln um einen winter in Berlin durchhalten zu können. Bis anfang september hoff ich in der Schweiz bleiben zu können ∙ dann über Darmstadt nach Berlin! Dem Ludwig dank für die bilder ∙ es lassen sich daran viele betrachtungen anknüpfen .  .634 Wenn du mir etwas mitteilen willst ∙ so schicke es über Gundolf. Lass dir den sommer auch wol bekommen so weit es in diesen trostlosen zeiten möglich ist. Dein St. George sonntag ∙ 27 juli 1919

324.  StG an EM

Poststempel Basel, 25. 8. 1919 Postkarte nach Berlin W.

l∙ E∙ als ich grad aus den bergen nach Basel zurückkam erhielt ich eine karte von Woldi der mir seinen aufenthalt in Eibsee mitteilte und davon berichtete dass du krank warst? … Am 1. Sept bin ich wieder in Heidelberg ∙ dann hoffentlich bald Berlin .  . Erwarte in Heidelberg bei Gundel nachricht von Dir Dein S. G. Basel ∙ montag

Thormaehlen, Ernst Glöckner, Friedrich und Ernst Gundolf und Berthold Vallentin eingeführt. 631 George bezieht sich auf den Tod von Adalbert Cohrs und Bernhard Uxkull am 28./29. Juli 1918. 632 Vgl. Anm. 629. 633 George erinnert an seinen Aufenthalt in Stechelberg Juli/August 1911 zusammen mit Ernst Gundolf und Ernst Morwitz. 634 Fotos des Heidelberger Pfingsttreffens, z.  B. das von Robert Boehringer im Tafelteil von MBII, Nr. 142 veröffentlichte.

346

Briefwechsel 1920

Tel Wannsee Erich 43 kleine Seestraße 2 bei Krohn Ludwig Kulmbacherstr 8 bei Kietz

325.  StG an EM

Poststempel Basel, 6. 2. 1920 Postkarte nach Berlin W.

l∙ E∙ reise war wenn auch nicht angenehm so doch erträglich. Gundolf traf ich hier an er war besser in verfassung als ihr glaubtet von W erwart ich nachricht … Sehr seltsam klingt ein märchen von der E∙ die nach einem Besuch bei Wolters (?) sich in die Spree gestürzt hätte dann wieder herausgezogen worden wäre.635 Hältst du das überhaupt für denkbar dass man davon in Berlin gar nichts sollte erfahren haben. Frage auch Vallentin! .  . Vorläufig bleib ich noch hier. Herzliches an Alle S. G Basel ∙ mittwoch

St. George Schaffhauser=Rheinweg 99

326.  StG an EM

Poststempel Heidelberg, 10. 5. 1920 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50, bei Uxkull

Sonnett ∙ geh nach Meuccio dich erkunden Und siehst du ihn ∙ sollst du ihn gleich begrüssen Eil zu ihm hin und wirf dich ihm zu füssen Damit du feiner sitte wirst erfunden.

635 Erika Wolters war damals noch als Leiterin einer Fabrik in Groß-Lichterfelde tätig; von einem Selbstmordversuch zu diesem Zeitpunkt ist sonst nichts bekannt.

Briefwechsel 1920 347

Und wenn er eine weile dich begleite Sei nochmals zu begrüssen ihn beflissen Und darauf lass ihn deine botschaft wissen Doch so dass du zuerst ihn ziehst beiseite Und sprich: „Meuccio! der dich lieb hat sendet Dir hier von seinem teuerstem geschmeide Um deinem guten herzen sich zu nahen!“ Doch lass als erste gabe ihn empfahen Hier diese deine brüder*– sie bescheide Bei ihm zu weilen ∙ niemals rückgewendet.636 *)gemeint die weitren sonnette   die aber nicht erhalten sind.637

Stehr/Jonas Wold 3T444/20 Handschuhheimer Landstr. 23 bei Prof Narrath Modell

so auch nur Prosastil Fanfare

636 Die Übersetzung von „Sonett LXIII“ aus Dantes Rime „Sonetto, se Meuccio t’è mostrato“ entstand vermutlich in den Jahren 1901 bis 1909, der Zeit von Georges intensiver Beschäftigung mit der Übertragung von Gesängen aus der Divina Comedia. Veröffentlicht wurde es mit einiger Textvarianz erst 1934 im Schlussband der Gesamt-Ausgabe, vgl. SW XVIII, S. 140. 637 Diese Anmerkung kann sich nur darauf beziehen, dass keine weiteren Sonette Dantes an Meuzzo Tolomei da Siena, den Adressaten des Jugendsonetts, überliefert sind.

348

Briefwechsel 1920/1921

327.  StG an EM Poststempel zerstört, 1920 Brief mit Umschlag (Blättermarke Urnensignet) nach Berlin W. L. E: die Woldische veröffentlichung638 seh ich doch an mit einem heitren einem nassen auge! – Ich begreife Deine psyche dabei nicht ∙ denn schliesslich hast Du ihn doch verleitet ∙ hinter meinem rücken etwas so wichtiges nach aussen zu tun … ich hätte ja vermutlich meine zustimmung gegeben – nur von 2 dingen hätte ich entschieden bei der arbeit eine andre version durchgesezt. W. sieht jezt selbst ein dass in dieser ganz zweck + sinnlosen heimlichkeit ein kleiner vertrauensbruch liegt. G

Zu IV b2 würde ich die von B. vorgeschlagenen Angaben nicht machen, da die Steuer dann Dich oder evtl sogar Bondi zur Rechnungslegung für dieses Jahr zwingen könnte. Nur 1 ½ %

328.  EB an EM

Poststempel Heidelberg, 3. 1. 1921 Postkarte nach Berlin W. 50

L. E. damit die berliner luft nicht sofort die heidelberger ganz verdrängt639 teilen wir mit dass wir gleich an unsrem ersten ausgangsmorgen auf dem schlossberg den Fr. 640 in gewohnter begleitung und pchritudo [sic] sahen sowie am neckarufer in der gewohnten begleitung und bekleidung mit dem bezeichnenden gelben handschuh an und in höchst ge638 1920 erschien ein Tafelband Archaische Plastik der Griechen mit einem zwölfseitigen Vorwort von Woldemar von Uxkull in Berlin. 639 George hatte den Dezember in Berlin verbracht. 640 Sollten die Buchstaben „Fr.“ für Wolfgang Frommel stehen, der tatsächlich 1921 in Heidelberg u.  a. bei Friedrich Gundolf studierte und dort George aufgefallen sein könnte, so wäre dies die früheste Erwähnung Frommels im Kontext Stefan Georges. Wolfgang Frommel (1902–1986), Sohn des Heidelberger Theologen Otto Frommel, lebenslanger Freund von Percy Gothein, der die vielleicht einzige Begegnung Frommels mit George vermittelte. Frommel wurde von George und seinen nächsten Freunden abgelehnt, mit Ausnahme von Ernst Morwitz, der mit ihm in Kontakt blieb, auch in den Jahren nach dem Krieg, nachdem Frommel in Amsterdam die Zeitschrift Castrum Peregrini gegründet hatte und einen weiten Kreis von Freunden aus halb Europa um sich scharte.

Briefwechsel 1921 349

reizt oder verächtlich blickend auf den viel echteren concurrenten E.641– den bolscho.642 herzlich E.

Bitte dem Fritz643 freundlichen dank für sein paket zu sagen.

329.  StG an EM644

n. d. 17. 1. 1921645 Brief ohne Umschlag

Liebter [sic] Ernst: genauer bericht über die Heidelberger nova folgt demnächst durch Woldi . Würdest du mir heute in der nachstehenden sache behilflich sein? Bondi schickt mir eben das formular zur umsatz-steuer-erklärung. Seinen vorschlag wie ich ausfüllen soll wird er dir unterbreiten ∙ es müsste gleich geschehen da er unter umständen 31 jan. abgeben muss. Was Bondi vorschlägt erregt aus mehreren gründen mein bedenken. Ich würde auch nicht wünschen dass er dem amt gegenüber als mehr bekannt ist als mein zwangsvermieter646 ∙ mit andren worten dass er etwas andeutet über das „woher“ meines einkommens – nur zahl frage a) Würde nun im fall das [sic] Bondi dem amt schreibt dass sein zwangsmieter seit ⸢selbstverständlich⸣ längerem verreist ⸢xxx xxx xxx⸣ ist er die sa-

641 Hier könnte es sich um eine ironische Selbstreferenz Erich Boehringers handeln („E.“). 642 Laut Morwitz ist Heinz Zimmermann gemeint. Laut Morwitz wurde der blonde Heinz Zimmermann „Bolscho“ für Bolschewik genannt (BB). Dieser wurde von Percy Gothein um 1920 umworben, entzog sich aber. Georges Gedicht „Der Tänzer“ (SW IX, S. 84) soll sich auf ihn beziehen. Die Schlussverse (11  f.) lauten: „Er ist die ganze jugend wie sie träumt / Er ist die ganze jugend wie sie lacht.“ Am 24. 1. 1931 schickte er George ein Treugelöbnis mit der Bitte, sein Dasein wieder wahrzunehmen. Er wurde Schüler Edgar Salins. Aus den 1950er bis 1970er Jahren befinden sich Briefe von ihm an Robert Boehringer im StGA. 643 Fritz Heim, Neffe von Ernst Morwitz, vgl. Anm. 525. 644 Die kursiven Textteile geben die Rand- oder Zeilenkommentare von Morwitz wieder. 645 Die Datierung ergibt sich aus der Korrespondenz zwischen Georg Bondi und Stefan George. Am 17. 1. 1921 schickte Bondi George ein Formular für die Umsatzsteuer mit der Bitte, dieses auszufüllen (StGA). 646 Inhaber größerer Wohnungen mussten damals zwangsweise Räume untervermieten, da Wohnungsmangel herrschte. Deswegen wurde das Finanzamt Berlin-Grunewald für Steuersachen Georges zuständig.

350

Briefwechsel 1921

che weiter geleitet hat aber nicht weiss ob sie bis zum festgesezten termin an ihn gelangt – die angelegenheit sich für mich erheblich ungünstiger gestalten? Ich hätte dann zeit gewonnen um mich mit Bondi persönlich zu besprechen eh ich die erklärung abgeben⸢e⸣ … wenn er bestimmte Abwesenheit in Berlin angeben kann, würde B Krankheit (besser als Reise) woran / krank keine Unterlagen frage b) kann ich überhaupt in der umsatzsteuer-erklärung einen betrag angeben der das doppelte der in der lezten einkommen=steuer erklärung deklarierten summe beträgt? damals 5000 Mk. – Die diesmalige Bondiabrechnung hat für mich die ungewöhnlich hohe summe von 11.000 M abgeworfen. Ist es zuträglich sich auf diese vielleicht nur diesmal so hohe summe fest zu legen  kann sich erholt haben, geht viell besser wegen Rüxxxx frage c) hat Bondi die einkommen=steuer=raten fürs lezte jahr bezahlt?* Ich müsste dann bitten mir die quittungen zustellen zu lassen die ich hier bedarf .  . Sie werden sie zusenden Entschuldige diese rein geschäftlichen zeilen und sei herzlich gegrüsst von Deinem S. G. *Eine neue veranlagung für das jahr ist mir nicht zugegangen keine zuge­ gangen 1920 laut Veranlagung 1919 466,10 M + 35,40 Kirchensteuer

330. StG an EM

n. d. 17. 1. 1921 Brief ohne Umschlag H∙ mittwoch

L: E Dank! so ist es recht und wie d∙ M∙ es liebt: auf klargestellte fragen klare antworten: du bekommst einen orden! Bondi möge schreiben wie er es vorschlägt (dass ich auf reisen erkrankt sei etc) oder wie er sonst gut befindet auf dem amt erklären. Ist dann im februar immer noch keine aussicht dass ich nach Berlin komme so fülle ich den bogen in angeratener weise aus. Diesen bescheid kannst du ihm auch durch anruf übermitteln ∙ wenn bequemer für dich! Damit könnte ich zu wesentlichen dingen übergehen .  . Fr ∙ sehen wir öfter ∙ er ist interessierter aber noch immer sehr dumpf. An-

Briefwechsel 1921 351

knüpfung würde vorläufig zu keinen ergebnissen führen. Inzwischen hörte ich vom Prof. dass sein stieglitz verendet ist. Er berichtete es mir mit tränen in den augen. Das tier wurde krank und der „Schwarze“647 gab ihm den rat es mit „butter“ zu füttern … so ging es ein. Percy geht wieder ganz schwermütig herum wegen des bolscho=erlebnisses. Wenn er ihn plötzlich sieht befällt ihn zittern .  . Dies ist das grosse fragezeichen.648 Woldi giebt sich jezt die erdenklichste mühe „liebenswürdig“ zu sein Dein S. G

331.  StG an EM

Poststempel Heidelberg, 26. 1. 1921 leerer Briefumschlag

332.  EM an StG

n. d. 4. 2. [1921649] Brief ohne Umschlag

Dienstag L.  M.: Bondi mahnt mich, Dich an die Umsatzsteuer⸢er⸣klärung bis Ende Februar zu erinnern, da er glaubt, dass eine Geldstrafe zu befürchten sei. Hier nur Examensängste bei Fritz und Paul , die beide aber guten Erfolg haben. Vom 1. III ab habe ich ein Zimmer in der Regensburgerstrasse zwei Etagen höher als meine Mutter gemietet. Val. seh ich sehr selten, er arbeitet jetzt am Nap-Buch fast allein;650 ich glaube, dass es so rascher zu Ende gebracht wird. Breysig ist in seinem „sächsisch-schlesischen Barock“ glücklich bei Carl Hauptmann gelandet und hat Val. die Erbschaftssachen übertragen.651 So etwas thörichtes wie die acht Testamente des Carl Hauptmanns652 gibt es auf der Welt nicht wieder – natürlich ist Breysig von der Jauche begeistert. Bitte darüber zu schweigen. Von Woldi  – dem Beherrscher meines Herzens – hab ich nichts gehört. Ich lege seine neue Familiendevise für das 20. Jahrhundert bei ! Fritz hofft in Würzburg studieren zu dürfen. Er lässt fragen, ob er Dich von dort aus Ende März oder Anfang April in Heidelberg aufsuchen kann darf? Dein Ernst Ludwig arbeitet viel im Atelier. Wie war der Vortrag des Bolscho im Seminar?653

650 1923 erschien Berthold Vallentins umfangreiche Gestaltmonographie Napoleon mit dem Siegel der Blätter für die Kunst bei Georg Bondi in Berlin in einer Auflage von 4 000 Exemplaren. 651 Kurt Breysig (1866–1940), Historiker, promovierte und habilitierte sich in Berlin bei Gustav von Schmoller und wurde dort 1896 zum außerordentlichen Professor ernannt. Die Gründung eines eigenen Seminars in Berlin gelang erst 1923 mit Unterstürzung des Staatssekretärs im Kultusministerium C. H. Becker. Mit George entstand ein persönlicher Kontakt 1899 im Hause von Sabine Lepsius. Breysig vermittelte seine Begeisterung für den Dichter George ab 1902 seinen Schülern, zusammengeschlossen im Niederschönhauser Kreis, dem „freien Bund bauender Forscher“. Diesem gehörten neben seinem Lieblingsschüler Friedrich Wolters u.  a. Berthold Vallentin, Friedrich Andreae und Kurt Hildebrandt an. Nach frühen Meinungsverschiedenheiten zwischen Breysig und George kam es ab 1910 zu einer sich verstärkenden Entfremdung. Erhalten sind im StGA 19 Briefe von Breysig an George aus der Zeit zwischen 1899 und 1916 und ein Briefentwurf Georges von 1900. 652 Carl Hauptmann (1858–1921), Schriftsteller, war der Bruder des Dramatikers Gerhart Hauptmann. Um was es sich bei den „acht Testamenten“ handelte, konnte nicht geklärt werden. 653 Hier muss es sich um einen Vortrag Heinz Zimmermanns in einem Seminar von Edgar Salin oder Friedrich Gundolf handeln.

Briefwechsel 1921 353

333.  StG an EM

Poststempel Bad Wildungen, 9. 6. 1921 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

L∙ E: die reise hierher war fürchterlich: eine hitze wie ich sie noch selten erlebt habe. So war auch dementsprechend ankunft und erste tage ∙ ich glaube der L∙ hat mich ein wenig von Magdeburg wegdisponiert – wäre jemand an der bahn gewesen so wär ich ausgestiegen und nachts weitergefahren ∙ ich bin mir jezt selbst gram ∙ dass ich es trotzdem nicht tat .  .  .  . Erst nach 3 tagen war hier die sonnenglut etwas gemildert – damit ging mir’s auch besser … Wildungen ist jezt sehr voll … gut dass wir es voriges jahr so schön mit den besuchen gehalten haben – jezt ist ⸢wär⸣ aus überfüllung kaum eine möglichkeit einen der freunde entsprechend unterzubringen654 Ludwig bitt ich noch einige weitre der blauen packetchen655 zu senden sowie um eine wirkliche havannah von den Linden656: pr und zwar keine abgelagerte sondern möglichst frische ∙ (dortzuland raucht man sie fast „grün“) ∙ preis bitte mir anzugeben  … Sonst ist im Fürstenhof nur ein verträumter Aljoscha657 der plötzlich ganz roh und tier wird wenn er frisst … G∙ Bitte von meinem Dir übergebenen blatt – sofort bei Holten 1 ∙ p eine probeseite setzen lassen und corr. mit blatt direct an mich senden lassen. Ist etwas zu unleserlich bitte Holten (event brieflich) zu erklären658

654 Schon im Juli / August 1920 hatte sich George zu Kur und Operation in Bad Wildungen aufgehalten, anfangs begleitet von Julius Landmann und betreut von Erika Wolters, besucht wohl von Vallentin, Friedrich Wolters und Ernst Kantorowicz. 655 Sie enthielten Zigarettentabak. Laut Morwitz liebte George am meisten kleinblättrigen gelben Kavalla-Tabak für seine Zigaretten (BB). War dieser nicht erhältlich, so nahm er algerischen caporal ordinaire. Er drehte selbst, am liebsten in Job gommé Papier. 656 Die Berliner Straße Unter den Linden. 657 Der für einen Russen gewählte Name könnte darauf hinweisen, dass George Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow kannte. Dort wird der jüngste der Brüder, der fromme Novize Alexej, Aljoscha genannt. 658 Eine Druckvorlage wohl für eine Seite der Neuauflage der Dante Übertragungen.

354

334.  StG an EM

Briefwechsel 1921

[n. d. 9. 6. 1921]659 Brief ohne Umschlag

L. E Der weise B. hatte sich doch etwas verrechnet: ich stellte ihm den raum als zu knapp dar: er meinte „zu reichlich. Eben sendet Holt die probe des ⸢n=⸣ verzeichnisses und schreibt dass text seite 151 schliesst. ⸢Das verzeichnis braucht 6 seiten: Inhalt mindestens 3.⸣ Die lezte seite zu bedrucken wäre scheusslich. Es muss also zunächst namen= inhaltsverzeichnis d.  h. der schluss des bogensuches gesezt werden: ­Jedenfalls wird das stück Him XXIII „Der adler“ im text ausfallen müssen. – wogegen ich nichts habe. Ein zusammenquetschen am schluss ist das allerschlimmste Bitte also H. zu veranlassen dass er zuerst das verzeichnis sowie den Inhalt sezt: d.  h. die schluss=seiten des buches. ⸢seite 160 bleibt für Druckvermerk⸣ und nur manuscript direct an mich schickt660 Die druckfertigen bogen bitte jedoch auf dessen wunsch zuerst an Bondi zu schicken Vom bogen 97 / 112 hab ich Deine durchsicht noch nicht G An L. umstehend

L. die packe kamen gut an. Dank! mir fehlt preis⸢an⸣gabe ∙ auch der H! Nun musst Du deine tüchtigkeit noch voll erweisen – indem du auch papier besorgst. echtes Job661 bekam ich noch am bahnhof Halensee – es wird es aber in B. überall geben G.

659 Die Datierung ergibt sich aus dem vorausgehenden Brief Georges, der Bitte um Tabak und Havanna-Zigarre. 660 Bei der Diskussion zwischen Autor und Verleger sowie Drucker geht es um die Drucklegung der zweiten erweiterten Ausgabe von Dante. Göttliche Komödie. Übertragungen von Stefan George, die im Juni 1921 erweitert um ein Namensverzeichnis bei Georg Bondi erschien. Der Band wurde bei Otto von Holten laut Druckvermerk „im Juni Neunzehnhundertundeinundzwanzig“ gedruckt. 661 Die Rede ist hier von dem Zigarettenpapier, das George am meisten schätzte. Die zuvor erwähnten „packe“ sind die im vorangehenden Brief Georges erbetenen Tabakpäckchen.

Briefwechsel 1921 355

335.  StG an EM

Poststempel Bad Wildungen, 24. 6. 1921 Postkarte nach Berlin W. 50

l. E. anfang nächster woche reise ich ab – vorerst nach Marburg ∙ bitte also nichts mehr hierhersenden. Der arzt hat nichts dagegen hält es sogar für gut ∙ einmal eine woche auszusetzen ∙ ich bleibe dann abwartend in Marburg (bei Wolters Schwanallee 50) Der Zustand ist jezt ganz leidlich – viel bessres lässt sich vorerst doch nicht erzielen. Herzliches G Holten bitte am besten telephonieren!

336.  StG an EM

v. d. 30. 6. 1921 Brief ohne Umschlag

Bitte hier abtrennen! Die Korrect an Bondi schicken, mit manuscr ∙ (das noch in Deinem besitz sein muss) und dem bemerken dass der bogen von mir aus druckfertig ist. Ich erbitte gleichzeitig von B. einen beleg=bogen von allem bis jezt gesezten. du hast diesmal rechte fehler stehen lassen!      G 662

Selige Beatrice bei D. unlösbar verküpft ⸢vereinigt⸣ die irdische liebe mit der himmlischen Idee Vergil der röm Dichter der die Wiedergeburt ⸢betonung⸣ des Griechischen dem Mittelalter der höchst [sic] repräsentant ⸢darsteller⸣ ⸢Vermittler⸣ der Antike

662 Faksimile in der New York Public Library, den Briefen Georges beigefügt, Sign. 5062313u.

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Briefwechsel 1921

Erde die terra des Ovid auf deren bitte Juppiter den unbedachtsamen lenker des Sonnenwagens zerschmetterte Heliotrope Stein gegen den biss der Schlange663

337.  StG an EM

Poststempel Marburg, 30. 6. 1921 Brief mit Umschlag nach Berlin W. anbei 1. druckfertiger bogen für Bondi664

L∙ E: nun ist alles so weit und Du bist Deiner arbeit ledig. Mit dem namenverzeichnis665 ist wieder ein versehen passiert ∙ jenes blatt auf dem ich zuerst skizzierte und auf dessen rückgabe ich so sehr drang – muss in der druckerei abhanden gekommen sein – oder hast du es an dich genommen? Auf jenem blatt stand nun noch der buchstabe D ∙ der im verzeichniss deshalb vom drucker ausgelassen wurde. Jenes blatt (auf eine alte Dante=decke aufgezeichnet) müsste ich haben. Im N-Verz. musste noch sehr viel verändert werden auf Deine ausstellungen hab ich rücksicht ⸢zuxxx⸣ genommen. Die von Bondi und Dir gleichzeitig gemachten kann ich nicht billigen. Namen verzeichnis heisst verzeichnis der Eigennamen. Was dem Einen selbstverständlich ⸢alles⸣ ist ist es dem andern noch lang nicht. Lethe steht zusammen mit Eunoë (es genügt freilich hinweis bei Eunoë). Ob B. weiss was Eunoë ist bezweifle ich ∙ bei Zeus glaub ich allerdings dass ihr beide wisst wer Zeus ist ∙ aber weder Du noch Er wird wissen was Zeus an der stelle tut. Berliner vorlaut=heiten.

663 Außer dem Stichwort „erde“ wurden alle in die zweite erweiterte Ausgabe von Dante. Göttliche Komödie. Übertragungen von Stefan George (1921) aufgenommen, die Formulierungen zum Teil leicht verändert und erweitert. Als neues Stichtwort wurde stattdessen „Zeus“ gewählt „die oberste gottheit der Griechen ∙ er zerschmetterte auf bitten der Erde ∙ die zu verbrennen droht ∙ den Phaeton ∙ den unbefugten Lenker des Sonnenwagens.“ 664 Es handelt sich um die Korrektur der zweiten erweiterten Auflage von Georges Übertragungen aus Dantes Göttlicher Komödie. 665 Die zweite Auflage der Dante-Übertragungen enthielt zum ersten Mal ein Namensverzeichnis. Von Percy Gothein erarbeitet und viel diskutiert, wurde es für die darauf folgende Ausgabe von 1925 von Erich Berger erweitert und 1932 in die Gesamt-Ausgabe aufgenommen, jeweils ohne Nennung der Verfasser.

Briefwechsel 1921 357

Ich schicke nun nächster tage nach dem noch die corr. des kleinen Ernst an dich ∙ gieb es dann auf dessen wunsch zuerst Bondi nicht an Holten. Die sache mit S – o erfordert lange carenz666 S. G.

338.  StG an EM

Poststempel Königstein, 19. 8. 1921 Postkarte nach Würzburg, an Fritz Heim

Für Ernst: l∙ E∙ in den Taunus würd ich Dir nicht raten zu kommen. Ich selbst gehe nächster tage fort und kehre nochmals kurz zurück. Ich bitte Dich sobald du einen passenden ort in der nähe W’s 667 gefunden mir mitteilung zu machen und zwar gleichzeitig hierher Limburgerstr: 19668 und Darmstadt Grüner Weg 37.669 Hoffentl. auf bald wiedersehn St∙ G Königstein i.T.  mittwoch

666 Morwitz hatte Silvio Markees 1920 auf der Eisbahn an der Emserstraße, Olivaer Platz, in Berlin angesprochen. Er sei als hervorragender Schlittschuhläufer aufgefallen (BB). Silvio Markees (1908–1991), Sohn des Carl Markees, Professor für Violine an der Hochschule für Musik in Berlin, und von Gabriele, Freiin von Stetten. ­Morwitz versuchte in den folgenden Jahren den Halbwüchsigen für den Kreis zu erziehen, brachte ihn auch zusammen mit Bernhard von Bothmer zu George. Trotz zunehmender Entfremdung von George, nicht aber von Morwitz, nahm er an der Bestattung Georges in Minusio teil. 1941 legte er das Schweizer medizinische Staatsexamen ab und war schließlich ab 1955 Extraordinarius für Innere Medizin an der Universität Basel tätig als erfolgreicher Forscher und Arzt. 667 Woldemar von Uxkull studierte zu diesem Zeitpunkt in Heidelberg. 668 Dort lebte seit dem Tod der Mutter (1913) Georges Schwester Anna Maria Ottilie (1866–1938) mit einer Haushaltshilfe bis 1932. Zu diesem Zeitpunkt kehrte sie in das Binger Elternhaus zurück. George hielt sich mehrfach und längere Zeit bei ihr in Königstein auf. 669 Dort befand sich das großzügige Haus der Familie Gundelfinger, in welchem Friedrich Gundolf und auch George häufig zu Besuch weilten, Ernst Gundolf bis zu seiner Emigration nach England lebte. Der Vater, Sigmund Gundelfinger, war 1910 gestorben, die Mutter Amalie Gundelfinger lebte noch bis 1922. Vgl. Anm. 71.

358

Briefwechsel 1921

339.  StG an EM Poststempel Heidelberg, 16. 10. 1921 Brief mit Umschlag (Blättermarke Urnensignet) nach Berlin W. l. E. in Deinem briefchen das Du W. mitgabst lässest Du zu viel von meinem guten willen abhängen. aber wie mein zustand nun einmal ist kann nur von zwang gesprochen werden .  . so lang es sich so verhält ist Heidelberg am bequemsten – wenn bis weihnachten keine solche besserung eintritt dass ich den arzt entbehren kann – so wird diesmal Berlin ganz ausfallen müssen. – Zu viel traust Du auch der unwiderstehlichkeit des überbringers zu und hier sind – wenn aussprache sobald nicht statt hat – einige sehr ernste zeilen nötig. Im täglichen und so engen zusammenleben stellen sich dinge heraus die eher wieder an den frühsten W. gemahnen.670 Manchmal geht seine rücksichtslosigkeit so weit dass ich ihn taglang nicht angucke … unter kameraden wäre es so: dass wenn einer nur ein bischen charakter im leib hätte er dem W. längst den laufpass gegeben hätte. Du magst darüber lachen und es entzückend finden – ich aber würde in ihm das lezte gute verderben wenn ich es so hingehen liesse. Du hast ihn vom kind zum jüngling gemacht ∙ gut – aber dabei kann es nicht lang bleiben … In gewissen dingen mangelt ihm noch jede erziehung. Wenn das so weitergeht giebt es doch nur ein begabter dilettant an dem Du dein amusement hast. Ich will noch gar mehr darüber reden dass er oft ganze tage mit seinem busenfreund671 zusammensizt und schwazt und schwazt und schwazt bis in die nacht .  .  .  . Dabei wird die arbeit versäumt – denn er kommt dann morgens nicht aus dem bett oder sieht übernächtig aus. Er behauptet „er kann nicht allein sein“ Giebt es grössres zugeständnis innerer öde? Er sagt ihr hättet auch ganze [nächte] geplappert ∙ dann muss er dich rückwärts angesteckt haben  .  .  .  . Die objektive meinung aller menschen mit denen er umgeht ist durchaus nicht günstig. Was damals Fritz 672 aus gekränkter liebe sah und sagte trifft so ziemlich überall zu … Sein früher gang in die litteratur ist ihm auch nicht gut bekommen. Kürzlich wollte er wieder hinter meinem rücken – und mit welchem kerl!! ein literarisches schiebergeschäft abschliessen*) – das hab ich noch bei zeit vereitelt – damit kann er sich seine ganze laufbahn verderben … Das wird dir alles zu pessimistisch scheinen ∙

670 George lebte in Heidelberg auf engstem Raum mit Ernst Kantorowicz und Woldemar von Uxkull zusammen. 671 George bezeichnet hier Ernst Kantorowicz als „busenfreund“ von Uxkulls, Kantorowicz seinerseits bezeichnete den Freund Woldi auf einer Postkarte an Wilhelm Stein 1925 als „Tischgenoss’ und Bettgespiel“ (StGA). 672 Der Fritz genannte Neffe von Ernst Morwitz.

Briefwechsel 1922 359

aber Du hast nicht gelegenheit ausser in ganz bestimmten situationen ihn zu beobachten … hier kommen so nach und nach alle situationen einmal vor … Vor allem hab ich noch bei keinem mir nahen menschen solche verlogenheit wahrgenommen!! Hoffentlich wendet sich noch alles zum guten  – so viel steht fest dass das was er hier von mir haben könnte: nicht hat … und dies eine ist schon tief bedauerlich! Vielleicht doch auf wiedersehen Dein S. G L.s brief673 ∙ sehr lange ∙ hab ich bekommen ∙ sagen lässt sich darauf wenig. Vallentin bitte zu sagen dass er mich genau über den stand des buchs unterrichte!674

*wär das zustand gekommen hätt ich ihn nie wieder angeschaut.

340.  StG an EM

Poststempel Marburg, 8. 3. [1922] Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: Ich komme erst heute dazu  ∙ von Marburg einen bericht zu schicken. Der Albrecht hat es sich nicht nehmen lassen mich bis hierher zu begleiten. Er fuhr dann weiter nach Süd-Deutschland. Die ersten tage nach der ankunft waren nicht befriedigend ∙ hernach ging es langsam besser. Ich möchte Dich davon überzeugen ∙ dass die klare geistige luft hier auch ein vorzug ist. Von S. ist hier niemals die rede. Dagegen gibt die schar jüngerer staats-mitglieder ∙ die hier weilt ∙ genügend zu tun. Keiner hat noch das strenge auge des Staats-Inquisitors passiert.675 Jedoch befürchte ich nichts. Wie ist die grosse arbeit weiter gediehen? auch die von SI.?676 Wie ging die letzte begegnung mit dem Schweizerischen Hermann aus? Hat er sei-

673 Ein längerer Brief Thormaehlens an George aus den Wochen vor dem 16. 10. 1921 hat sich nicht im StGA erhalten. 674 Berthold Vallentin arbeitete an seinem Napoleon; das Buch erschien 1923 bei Georg Bondi in der Reihe Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst. 675 Gemeint ist damit Ernst Morwitz, der sich besonders zuständig für die Kreiserziehung fühlte. 676 Hier kann es sich um plastische Arbeiten handeln, die in Berlin im Entstehen waren, aber auch um Wilhelm Steins Raffael-Buch.

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Briefwechsel 1922

nen nächsten wohnort angegeben?677 Was die äussere lage betrifft ∙ stellt sich immer mehr heraus ∙ dass die optimistischen B. T.-auffassungen ein schwerer betrug waren (denke nicht  ∙ dass hier das Deutsch-nationale Marburg spricht).678 Fürs nächste bleibe ich hier und erwarte hier Deine Nachricht. G Wörth-Str 37 Marburg / Lahn bei Professor Wolters.

341.  EM an StG

13. 4. 1922 Brief ohne Umschlag

13. 4. 22. Liebster Meister: Über die hiesigen Geschäfte ist allerlei zu berichten. Simbo ist zur Zeit günstig gesinnt  – wir sind sehr viel zusammen und er beginnt sich ohne diesen Verkehr zu langweiligen. Neulich suchte mich sein Vater nach Anmeldung auf, die Sache verlief sehr angenehm, ich habe licentiam familiae.679 Also jetzt abwarten .  . was herauskommt, ist noch nicht abzusehen. Ich befinde mich in grossen Schwankungen und habe mit mir selbst und ihm viel zu tun. Stein ist beim Diktat der letzten Seiten. Bisher ist alles gleichmässig überraschend und gehaltvoll. An meinem Schriftstück habe ich noch nicht gearbeitet.680 Eine überraschende Wandelung hat sich mit Woldemar vollzogen. Seit das wissenschaftliche Konkubinat ist ihn körperlich und auch geistig an den Rand des Vertrocknens gebracht hat, ist er (wie auch Ludwig kon-

677 Der Schweizer namens Hermann ist nicht ermittelbar. Laut Morwitz könnte es sich um den Schweizer Silvio Markees handeln, der Übername „Hermann“ könnte auf Mörikes geliebten Freund Hermann zurück verweisen (BB). 678 Das deutsch-nationale Marburg repräsentierten u.  a. Friedrich Wolters und Walter Elze, aber auch der Schreiber des Briefes, Max Kommerell, stand ihm nicht fern. „B. T-Auffassungen“: möglicherweise Auffassungen des Berliner Tageblatts. 679 Gemeint ist wohl hier Silvio Markees (1908–1991), vgl. Anm. 666. Sein Vater war Carl Markees, Professor für Violine an der Hochschule für Musik in Berlin, seine Mutter Gabriele, Freiin von Stetten. 680 Es könnte sich schon um Pläne für ein Buch über die Dichtung Stefan Georges handeln, das dann erst Ende 1933 mit der Jahreszahl 1934 erschien.

Briefwechsel 1922 361

statiert!) geradezu zuverlässig, herzlich und anhänglich geworden – Du wirst staunen. Ludwig hat seinen Kopf zu bildhauern begonnen. Die Gräfin Mutter hat trotz harter Bedingungen B’s Kopf bestellt.681 Fritz ist hier. Sein Zustand ist besser als vorher, er hat die AllgemeinSorgen abgelegt. Paul ist in Tübingen. Marburg war wohl trotz allem S. S-los ?682 Die Wirkung der Russen in Genua muss sehr gross ⸢sein⸣. Hast Du von d’Annunzios Übertritt zum Sozialismus gehört – er wird sicher in Genua demonstrieren.683 Nun wünsch ich Dir warmes Wetter zu Ostern und eine reiche Beute auf dem Schlossberg.684 Dein Ernst.

342.  EM an StG Poststempel Charlottenburg, 26. 4. 1922 Brief mit Umschlag nach Heidelberg, bei Professor Gundolf L. M. Steins Buch ist fertig! Er wünscht dringend, es Dir persönlich vorzulesen. Er hat nur noch bis zum 6. Mai Zeit, da er am 8. Mai allein im Museum Dienst tun muss.685 Gib bitte sogleich  – nötigen-telegraphisch  – Nachricht ⸢ob⸣, wo und wann Stein Dich innerhalb dieser Frist aufsuchen kann. Du wirst staunen! Dein 26.  IV.  22           Ernst 681 Das ist Thormaehlens Kopf von Bernhard von Uxkull. 682 In Marburg studierte nun der knapp zwanzigjährige Max Kommerell, der im Frühjahr 1922 schon mit dem 1900 geborenen Johann Anton Freundschaft geschlossen hatte. Ergänzt wurde die Studentengruppe um Wolters durch Ewald Volhard. Wolters schrieb am 16. 4. 1922 an George: „Meister, Der ‚akademos‘ hat hier unter der verderbten bürgerschaft der professoren und studenten die grössten verheerungen angerichtet  · sie fühlen ihr ‚heiligstes‘ bedroht  – die jungen leute seien wie balzende auerhähne gewesen oder wie brautleute umschlungen über die strasse gegangen – und widrigeres deuten sie mit schmierigen mienen an. Ich bin eine ‚gefahr für die jugend‘ geworden […].“ (G/FW, S. 170) 683 Anspielung auf die Verhandlungen zwischen den Russen und Deutschen in der Nähe von Genua, die zum Vertrag von Rapallo zwischen dem Deutschen Reich und Sowiet­ russland am 16. April 1922 führten und damit zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zu Sowietrussland. 684 Gemeint ist wohl noch die Schlossberg-Adresse von Friedrich Gundolf in Heidelberg. 685 Wilhelm Stein war seit dem 12. 10. 1918 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter bei den Berliner Staatlichen Museen angestellt, zuerst im Kupferstichkabinett, ab 1920 in den Gemäldesammlungen.

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343.  StG an EM

Briefwechsel 1922

Poststempel Heidelberg, 27. 4. 1922 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebster Ernst: ich konnte mich noch nicht entschliessen nach B. zu fahren. Zuerst möcht ich nochmals zum kleinen E. nach D . Auch ist der Mittlere in der nähe den ich dringend sehen muss · er hofft in etwa 8 tagen entgrippt zu sein … Ich lege dir hier die finanz=zettel bei mit der vorauszahl=karte weiss ich trotz eifrigsten studierens dieser amts=chineserei nichts anzufangen. Vielleicht ergründest Du es. Bitte bald an das amt abzuschicken ∙ da ich voriges jahr wegen verspätung schwierigkeiten bekam … Hat Dir Erich das Äschyl=manuscript gegeben?686 Hast Du einmal hineingesehen? Albrecht oder sein freund E. 687 wird es bei Dir abholen .  . Sonst hab ich von Dir und dem Berliner staat keine nachrichten. Hier ging es streckenweis ausgezeichnet mit der gesundheit  ∙ dann gab es kleine rückfälle. Das Kleinste hat mir angekündigt dass es ein zettelchen für Dich schicken will. Es ist sehr .  .  .  .  .688 Die neue Trias hat das S=problem recht verschoben .  .689 Erobrung ist jezt der geringste teil der arbeit – erhaltung der grösste. Der äussere staat wird dies jahr ganz zerfaulen … Dein S G

Meldung über die faktische Lage am heutigen Nachmittag. (Sonnabend) Zwischen 3 h 45 und 4 h wird Schlüchtern690 mit Bedeckung von Passauer­ 686 Blumenthal hatte den Prometheus von Aeschylos übersetzt, der, als Handschrift gedruckt, 1920 für die Freunde vorlag. Seitdem arbeitete er an einer Aeschylos-Monographie, die 1924 mit einer Widmung an seine Geliebte, Maria Fehling, erschien. Laut Morwitz handelt es sich um die Übersetzung eines Bekannten von Blumenthal namens von Sassen (BB). 687 Erich Berger, vgl. Anm. 314. 688 Das fehlende Attribut müsste „süß“ lauten. 689 George bezieht sich auf die Freunde Max Kommerells, Johann Anton und Ewald Vol­ hard in Marburg. 690 Gemeint ist hier wohl Hans Krexa, Sohn eines Tierarztes in Schlüchtern, eine Zugbekanntschaft und Entdeckung von Wilhelm Stein in Berlin (BB). Im StGA befindet sich ein einziger Brief von ihm an Stein vom 10. 1. 1923, in welchem auch Alexander Zschokke erwähnt ist, vgl. zu ihm Anm. 802.

Briefwechsel 1922 363

st. durch Geisberg nach Neue Ansbachst. passieren um bei Zahnarzt Hahn gegenüber Ansbacher 18 in feste Stellung zu gehen. Postierung in der Gegend od. Absuchen der Route wäre in Anbetracht wahrscheinlich der Einzigkeit des Augenblicks nicht unerwünscht. Auf veranlassung der Führung gegeben. Z.

344. StG an EM

n. d. 27. 4. 1922 Brief ohne Umschlag

l∙ E: dank für Deinen brief. Ich würde mich sehr freuen St.s buch von ihm selbst überbracht zu bekommen. Doch ist gerade jezt ein [sic] fristsetzung schwer. Sicher ist dass ich von jezt ab noch etwa eine woche in H. bin .  .691 das hernach eignet sich nicht zu einer zusammenkunft mit St .  .  .  .  . Mindest 2 tage vorher muss ich aber wissen wann St. kommt. Hier wie allenthalben ist der betrieb schwierig. Inzwischen sind grosse dinge erreicht die dich staunen machen werde [sic]. Ich kehre grade von einer reise zurück .  .  .  .  .  .  .!692 Aber für alles Grosse geziemt zuerst schweigen wie es in der glanz=zeit der staats=st∙ 693 üblich war und später durchs „leben“ oft lax und lass wurde. Dein St. G Schlossberg 55 (bei Lobstein) da Gundolfs briefe sofort von der post aus diesem nachgesandt werden Er ist noch abwesend.

691 Steins Besuch bei Stefan George fand noch vor Ende des Monats April in Heidelberg in Gundolfs Wohnung Schlossberg 55 statt. 692 George kam von einem Aufenthalt in Marburg in Begleitung Johann Antons über Königsfeld nach Heidelberg. 693 Die Bezeichnung der Jüngeren und jungen Freunde im Kreis um George als „Staatsstützen“ kam nach 1909 mit Friedrich Wolters und seiner Programmschrift Herrschaft und Dienst und dessen Einführung des „Staats“-Begriffes für den „Kreis“ auf. Zugleich ließen sich sowohl die Initiale „S“ als auch ihre Verdopplung „SS“ als Kürzel für dieselben Jungen und Jüngsten verwenden, nun aber in der Bedeutung von „Süßen“ oder „Sehr Süßen“.

364

345. StG an EM

Briefwechsel 1922

Mai / Juni 1922 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst Bitte die zweitausend M bei Bondi abzuholen und Erich zu übergeben St. G.

346. EB an EM

Mai / Juni 1922 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst ∙ ich dachte heut wär kein gericht.  ich bin heut von 5–6 ½ im atelier und komme dann hier nach Ihnen fragen. ich wohne Schöneberger­ ufer32 ∙ Lützow 3547 bei Müller.694 Erich

347.  StG an EM

Poststempel Königstein, 20. 7. 1922 Brief mit Umschlag nach Berlin W. Königstein (Taunus)  Limburgerstr: 19

l. E∙ ich bin vorläufig hier und weiss nicht ob Du bereits in Würzburg bist .  . (wer ist übrigens da alles?) Wenn du bald auf einige tage hierher kommen willst so lass es mich gleich wissen – dann kann ich Dir vielleicht hochwichtiges vorführen. Dein St.

694 Frau Müller war laut Morwitz mit Erich und Robert Boehringer befreundet, heiratete später Clemens Sommer (BB).

Briefwechsel 1922 365

348.  StG an EM

Poststempel Königstein, 25. 7. 1922 Brief mit Umschlag nach Würzburg, Waldhaus

L. E:  das ist ja sehr bedauerlich – meist für Dich! bei meinem zustand ist es ganz unmöglich dass ich nach W. komme – auch könnte dort die für dich so wichtige begegnung nicht stattfinden. Nach Königstein geh ich an einen Ort der von W. noch weiter entfernt ist. Also ­überleg Dir das doch sehr. Freilich ist nächster sonntag (30ten) der lezt mögliche t­ermin ⸢für dein kommen.⸣ – Auch kann ich Dein argument schwer verstehen: das vorigemal bist Du ja auch von W. nach überall hin gefahren und immer ist doch wie Du schreibst der Fritz dort … Dem Woldi bitte für seinen brief zu danken und ihn zu beglückwünschen · ich werde ihm bald schreiben ∙ hier in K würd ich ihn ungern sehen – wie ich überhaupt den ort ungern verallgemeinert sähe. Deiner nachricht baldigst entgegensehend ST Limburgerstr: 19  22. juli

349.  StG an EM

Poststempel Wabern, 13. 9. 1922 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: Bitte W Stein mitzuteilen dass er mich in einem brief ermächtigt mit Bondi den vertrag über seinen Rafael abzuschliessen. Ich glaube er fährt so besser .  . Erich wenn Du ihn siehst bitte zu sagen dass ich gern ihn einige tage hier sehe – desgleichen Ludwig wenn er nicht schon abgereist ist. Dies ist eilig da manuscr. bereits an B. beordert ist. Ist Stein im winter in Berlin damit er dort die correcturen lesen kann? 1) Sind dem Erich damals die gelder übergeben worden695

695 Vgl. Georges Auftrag in Brief Nr. 345.

366

Briefwechsel 1922

2) Genügt ein brief von Frau Friedemann in dem sie mirch erklärt dass sie einverstanden ist wenn ich mit Bondi über die zweite ausgabe des „Plato“ abschliesse696 – um hiernach vor andren „erben“ sicher zu sein 3) ich muss noch einige zeit in Wildungen aushalten – wo es noch nicht viel besser geht – komme dann gleich Berlin Wildungen Hôtel Fürstenhof

350.  StG an EM

Poststempel Bad Wildungen, 17. 9. 1922 Brief mit Umschlag nach Berlin

L.  E. Dein brief hat mich recht enttäuscht und mir die freude an dem R. buch recht genommen. Dass Du zuliessest dass St. der in solchen sachen auch ein kind zu sein scheint den vertrag unterschreibt ohne dass ich ihn gesehen habe konnte ich nicht annehmen ∙ denn hier stehen doch auch meine interessen auf dem spiel und ich werde Dir auch in Berlin erklären wie durch dies voreilige unterschreiben mir nennenswert geschadet worden ist. als ich den kleinen Ernst bat die schleunige übersendung des manuscriptes zu veranlassen konnte ich nicht wissen dass St. in Berlin ist und nahm an dass bei einem einsenden zumal von der Schweiz aus zuviel verzögerung eintrete. es geht gegen jede gepflogenheit dass der Verleger ohne das manuscript auch nur gelesen zu haben den vertrag abschliesst ∙ auch vergehen durch zusendung von probedrucken immer einige tage. dass du den St. ohne weiteres zu Bondi gehen liessest ehe ich die bekanntschaft vermittelt hatte ∙ konnte ich gleichfalls nicht annehmen. mit dieser intempestiven eile mit der B. den vertrag abschloss hat er in erster linie mich überlistet. streng genommen dürfte ich jezt die eigene verlagsmarke dem buch nicht zuteil werden lassen ∙ weil jeder vertrag über eines der mit dieser marke erscheinenden werke erst durch meine gegenzeichnng giltig wird. denn für jedes dieser werke besteht eine jedesmal zu wiederholende vertragsclausel die in diesem fall nicht beigefügt ist. Das Bondische argument ∙ er könne nicht zum drucker schicken eh der vertrag unterschrieben wäre ist hinfällig ∙ denn B. schrieb mir bereits vor acht 696 In einem Brief vom 21. 9. 1922 bestätigte die Witwe Elisabeth Friedemann George, dass sie mit einer zweiten Ausgabe von Friedemanns Platon von 1914 einverstanden sei. Diese zweite Ausgabe erschien erst 1931.

Briefwechsel 1922 367

tagen dass er einstweilen mal dafür für 350 000 Mark papier bestellt hätte. davon genug. Euer wunsch dass ich in aller kürze nach Berlin komme kann leider nicht erfüllt werden ∙ da ich erst in Wildungen mich nochmals einer operation unterziehen muss. D. M. Fürstenhof ∙ 17 ∙ IX ∙ 22

351.  StG an EM

Poststempel Marburg, 2. 10. 1922 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50

Lieber Ernst: du bist ärgerlich in dieser sache  – aber ich bin es auch und habe noch den schaden dazu. Nicht über Dein „geschäftliches“ ungenügen in der angelegenheit war ich erzürnt sondern eher über ein menschliches. Der himmel hätte herunter fallen dürfen und du hättest nie Stein direkt zu Bondi schicken dürfen. Das geht gegen alles seit 20 jahren unserer bekanntschaft erprobten gewohnheiten. Durch dieses einbruchstor ist alles übel gekommen  … Eine bitte um noch ⸢so⸣ schleuniges hingelangen = lassen eines manuscripts rechtfertigt in keiner weise das hinschicken von person zu person (Siehe brief Ludwigs ). Die angaben Bondis stimmen nicht. Alles material bring ich nach Berlin mit und du solltest nicht einem sehr stark interessierten geschäftsmann mehr glauben als mir. Dass ich gesagt oder geschrieben hätte, das buch „müsse vor weihnachten erscheinen“ ist eine B’sche erfindung. Dass du mir die Bondischen worte über den abschluss des vertrags als fait accompli ernsthaft mitteilst statt laut zu lachen begreif ich nicht – da ich an diesem buch bzw dessen herausgabe aufs stärkste beteiligt bin. So hätte ich unbedingt vor abschluss der vertrags befragt werden müssen, ist das durch ein versehen vorläufieilig geschehen, so hätte der vertrag von B. sofort u ­ mgestossen werden müssen und einer verfasst werden müssen, indem sowol seine wie meine interessen gewahrt wurden. Irgend eine form des vor=vertrages hätte ja der ängstliche mann leicht gefunden, um kein schaden zu leiden wenn ⸢er⸣ das manuscript schnell in die druckerei hätte geben wollen. Das war aber nicht zu seinem vorteil. So etwas lachhaftes kann man gar nicht erfinden wie seine worte „leider war der vertrag gerade unterschrieben als ihre wünsche mir zu kamen“. Skandalös aber ist die abpressung des übersetzungs=§! In

368

Briefwechsel 1922

keinem vertrag mit einem mitglied des kreises steht etwas von der Übertragung des rechtes übersetzungen zu veranstalten vom autoren auf den verleger. Es war eine dummheit sondergleichen von Stein dies zu unterschreiben, wie es schon dummheit genug war einen vertrag zu unterschreiben ohne sich copien von ähnlichen vorlegen zu lassen. Dein brief ist fast ganz zur rechtfertigung B’s geschrieben, du vergisst aber ganz dass ich dich über diesen mann in Berlin so sehr bis in die dunklen fäden und fädchen belehrt habe. So erzählte ich dir in einem ähnlichen fall als er den vertrag mit Wolters abschloss ∙ da sagte er: oder wagte: „das geht ja George gar nichts an“. Er kam aber dabei an den „Rechten“. Du darfst nun nicht ungeduldig werden und sagen: „lass mich aus dem spiel und sucht euch einen andren.“ Du bist der einzige in Berlin „der meine hintergründe wie du sagst zur vollen genüge kennt (auch im falle B) und der auch mein und Steins vertrauen besizt.* Man darf nicht das grosse interesse an einem werk verlieren wenn plötzlich mühe damit verbunden ist. Wie denkst du da eigentlich? hätte denn Stein den vertrag unterschrieben wenn du nicht in B. gewesen wärest? Bitte also Stein mitzuteilen ∙ dass ich unbedingt wünsche dass jene punkte (der brief genügt mir mir nicht) in den vertrag als zusatz aufgenommen werden – er muss es erreichen wenn nötig sogar mit obstruction bei der correctur=rückgabe. Damit hoff ich ist die sehr lästige geschichte in ordnung gebracht ∙ soweit das noch möglich Dein S. G Marburg mittwoch

352.  StG an EM

Poststempel Marburg, 4. 10. 1922 Postkarte nach Berlin W. 50

l. E∙ auf Deinen brief hin habe ich mich nun an Stein unmittelbar gewandt und ihn freilich schonend über die nötigen in= und externa aufgeklärt – obwol das für mich äusserst peinlich war ∙ er kann nun sehn wie er sich selbst aus der sache zieht .  .  .  . Freilich kommt als erschwernis hinzu dass ich diesmal so spät nach B. komme – aber die gesundheitsrücksichten sind „höhere gewalt“. Ich gestehe auch dass diesmal meine lust nicht besonders gross ist. Dein S. G Marburg / 4∙ oct.

Briefwechsel 1922 369

353.  StG an EM

Poststempel Marburg, 5. 10. 1922 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50

Lieber Ernst: Du warst durch das wort „dringend“ wie hypnotisiert und weisst dass es bei unsren gepflogenheiten nichts dringendes giebt wenn wichtigeres auf dem spiel steht. Ich muss mindestens darauf bestehen dass du in der sache ganz klar sehen lernst. Als St. zu B. kam ∙ merkte der sofort dass er hier jemanden völlig ahnungslosen gegenüber hatte und brachte darum in solch unanständiger hast seinen vertrag auf [sic] trockne .  . Ihm war nur um seinen augenblicklichen vorteil zu tun ∙ ihm vollkommen genug (ein rücktelegramm erfordert 5–6 stunden auch nachts wo nicht gesetzt und gedruckt wird. Ich allein führte bis dahin alle verhandlungen mit B. wie mit St. und ich wiederhole dass hier eine überrumpelung*  vorliegt ∙ die eine kräftige rüge erfordert. ich tue schon das menschen mögliche wenn ich nicht verlange um hier noch weiter interesse zu zeigen dass der vertrag zerrissen und der wichtigste der §  1 an die spitze gestellt wird. – Davon aber kann ich keineswegs abgehen dass die drei von mir gewünschten punkte als zusatz in den vertrag aufgenommen werden. Wenn das so vollkommen identisch ist mit der abgesandten briefbestätigung warum sträubt man sich dann? Ich will dir nur einen unterschied (von mir aus) sagen: Bei einer nächsten gelegenheit bei einem nächsten contrahenten wird er zur bestätigung wie diese verträge abgeschlossen zu werden pflegen ∙ den St. schen vertrag vorlegen, aber ohne den einschränkenden brief. Dies ist nur eines. Nun das so stark betonte „drucktechnische“! Hier kann ich dir noch weniger recht geben. Bitte sieh dir die abzüge des buches an! Da ist nichts ∙ rein garnichts was es etwa von Bertrams oder Gundolfs buch unterscheide.697 Im gegenteil: das einzige besondre drucktechnische das in betracht gekommen wäre ist dadurch vernachlässigt worden ∙ dass St. direct mit B. verhandelt hat. Du entsinnst dich dass ich plante dein buch698 sowie das von Stein in Blätter=orthographie drucken zu lassen. Da ist nun leider nichts mehr zu ändern! Dass St. dieses mit B. z verhandeln musste um gewisses drucktechnisches durchzusetzen geht durch nichts hervor! Mein „zu spät gekommener“

697 Gemeint sind Ernst Bertrams Studie Nietzsche. Versuch einer Mythologie, erschienen 1918 bei Georg Bondi in der Reihe Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst, sowie Friedrich Gundolfs George, der 1920 in derselben Reihe herausgekommen war. 698 Offensichtlich plante Morwitz schon in den 1920er Jahren einen Kommentar zum Werk Georges.

370

Briefwechsel 1922

brief zeigt deutlich dass ich damals wie heut nach dreissig jahren difficilster drucklegungen der ansicht bin und war: allen anforderungen Steins bezüglich des druckes gerecht zu werden, wenn ich allein mit B. verhandelte.  – Ich muss dich hier zu überzeugen suchen – für alle späteren fälle. Ich bekenne selbst einen fehler. Obwol ich dir oft von meinen ahnungen sprach dass man in geschäfts= besonders vertrags=dingen dem B. sehr auf die finger sehen müsse – hatte ich es unterlassen alle seine verträge mit einem erprobten „einschlägigen“ Juristen durchzugehen. – So entdeckte ich erst kürzlich dass er in einem als gegenleistung zugestandenen passus meines vertrags, mich schlechter stellte als es das gesetz mir gewährt hätte. (Übergang seiner verlags rechte an einen dritten gemäss § so und so nicht ohne weitres, sondern mit zustimmung des autoren …) So noch manches! ich bringe alles nach Berlin mit. – Nun vollends bei einem werk wie dem Rafael das übersetzungsrecht von geschäftsmann zu geschäftsmann zu verhandelnmakeln die beide keinen schimmer haben – das würd ich anfechten als verstossend „gegen die guten sitten“. Im fall des R. also kann ich nichts von den von mir gestellten forderungen abgeben, wenn das buch als serie gehörig bezeichnet wird.    Herzlich S. G. Vergiss ⸢auch⸣ nicht dass gerade die ⸢event.⸣ überlassung des R=werkes an Bondi ein artikel des demnächst von mir mit B. abzuschliessenden

vertrags bildete dessen concept seit monaten in B’s händen ist! Erbitte schleunigst eine zweite bis aufs tüttel uniforme abschrift des vertrags

* ich will das stärkere wort unterdrücken! – 699

699 Dieser Brief dürfte wie auch der vorausgegangene nicht nur von der Hand Kommerells geschrieben, sondern auch von ihm verfasst worden sein, unterscheiden sich Stil und Wortwahl doch deutlich von derjenigen Georges.

Briefwechsel 1922/1923 371

354.  StG an EM

Poststempel Berlin (Ankunft), 22. 10. 1922 Telegramm aus Halle / Saale700 22. 10. 1922, 2 Uhr 15

eintreffe anhalter701 heute 5 uhr 26 = george

355.  StG an EM

n. d. 20. 4. 1923702 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst! D. M. teilt mit, dass er 8 Tage in Würzburg war und heute wieder nach Marburg fährt. Über Gundolf in Berlin703 hätte er gerne etwas erfahren, aber es kam nichts dergleichen. Von Stein erfuhr er, dass Ludwig dort ein Paket in Verwahrung hat. Ist nicht zu hoffen, dass es D M zugestellt wird? Das Fürstliche sah hier in Würzburg zwei Kreisknaben, den einen fünf Minuten, den anderen nur von hinten auf der Strasse. Seine hocherweckte Neugier bittet D M nicht zu befriedigen. NB. Das ganze Mainviertel riss natürlich die Augen auf.

700 In Halle a. d. Saale war der Vater der Brüder Johann und Walter Anton, Gabriel Anton, als Professor für Psychiatrie tätig. 701 Der Anhalter Bahnhof in Berlin. 702 Am 20. April 1923 hatte George von Würzburg, Dreikronenstrasse 11 bei Stengl aus Friedrich Wolters mitgeteilt, dass er gerne umgehend nach Marburg zurückkäme. 703 Gundolf hatte im März 1920 eine Berufung an die Berliner Universität erhalten, war aber von der Fakultät einstimmig abgelehnt worden und hatte schließlich abgesagt. Worauf George sich hier im Jahre 1923 bezieht, ist fraglich. Möglich wäre, dass Gundolf an der Berliner Universität einen öffentlichen Vortrag hielt.

372

356.  StG an EM

Briefwechsel 1923

Poststempel Marburg, 12. 5. 1923 Postkarte

L. E. ich habe eben vom F. A eine neue steuer=formular=masse erhalten (heute 10 mai mit aufford bis 30 apr. rückzusenden.) was soll ich machen? Mir ist doch erinnerlich dass Du ende jan bereits abgesandt hast. Sonst hat B. stets die zahlung übernommen ich weiss nicht ob auch jezt. Entsinnst du dich noch der deklarierten summe? Auch wird St=nummer des vor. jahres verlangt. Herzlich S. G. Es geht jezt etwas besser.

357.  StG an EM

4. 6. [1923] Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: vor einigen tagen erhielt ich ein paket aus der burggrafstr. mit sehr schönen bekleidungsstücken. Als absender vermute ich Dich oder Deine schwester704 ∙ da aber kein begleitender brief beilag oder folgte frage ich an ob ich der empfänger der sachen bin und in welchem sinne. Bei der gelegenheit möchte ich Dir etwas mitteilen was ich schon lang auf dem herzen habe und was ich eigentlich für eine besprechung aufsparen wollte. So wol aus Deinem briefe G. betreffend sowie aus Ludwigs verklausuliertem gemurmel und des kleinen Ernsts kurzen notizen glaubte ich zu entnehmen dass G. damals ziemlich befriedigt und gebilligt aus Berlin schied.705 Mir deuchte dass man ihm von euer aller seite alles zu glatt und zu leicht gemacht hat. Deinen früheren erklärenden trost dass im vorgerückten alter dergleichen begebnisse nicht unverständlich wären hat mich schon damals nicht sehr erbaut. Ich habe gewiss immer nachsicht gehabt mit unausbleiblichen schwächen ∙ wohin wäre ich sonst gekommen? Aber wohin 704 Laut Morwitz kam das Paket von seiner Stiefschwester Käte Wunderlich, die an der angegebenen Adresse wohnte (BB). 705 Es dürfte sich um den Konflikt zwischen George und Gundolf handeln. Letzterer hatte sein Kleist-Buch mit dem allein von George zu vergebenden Blätter-Siegel sowie einer von George nicht genehmigten Widmung an seine spätere Frau Elli Salomon („Elisabeth Salomon zugeeignet“) 1922 bei Bondi erscheinen lassen, in einer Auflage von 8.000 Exemplaren.

Briefwechsel 1923 373

käme andrerseits der staat wenn man schwäche gleichsetzen wollte mit kurz gesagt: schweinerei? Du belobtest einige angehörte seiten eines neuen buches – mag sein!706 Wird das buch schlecht so ist das eine verruchtheit ∙ wird es gut so ist es noch eine grössere verruchtheit. Soweit summarisch meine meinung. Richte allen in B. anwesenden mein freundliches gedenken aus und schreib beizeit wenn Deine ferienpläne deutliche gestalt angenommen haben. Der staat wächst sich in erfreulicher weise weiter aus. Mir selbst geht es abwechselnd gut und schlecht. S. G. Marburg 4. juni ∙ von Erich hör ich seit monaten nichts707

358.  EM an StG

19. 6.1923 Brief ohne Umschlag Berlin 19. 6. 1923.

Lieber Meister: Die Wäsche ist von meiner Schwester für Dich gesandt – ich habe ihr dafür in Deinem Namen gedankt. Für den 15. 7. habe ich für meine Mutter und mich Zimmer bei Füglein, Bad Brückenau bestellt. Dieses Hotel ist gut, das beste ist das Kurhaus, in dem meine Schwester gemietet hat. Kommst Du dorthin oder bist Du vielleicht an einem anderen Ort (Würzburg?) zu treffen. Die Lage des äusseren Staates ist lähmend. Mit Simbo viele Schwierigkeiten, aus dem Grunde im tiefsten wohl weil fraglich ist wie weit er „Künstler“. Eine bittere Wahrheit, da diese Erziehung nur künstleri-

706 Bei Gundolfs neuem Buch könnte es sich um Caesar. Geschichte seines Ruhms handeln, das 1924 bei Georg Bondi in der ersten Auflage mit der Blättermarke erschien. Die zweite Auflage von 1925 trug nur noch Bondis Verlagssignet, ebenso der Nachtrag Caesar im 19. Jahrhundert von 1926. Aber auch die Arbeit an seinem Shakespeare-­ Buch (Shakespeare. Sein Wesen und sein Werk, 2 Bde., Berlin 1928) begann nach eigener Aussage schon 1922. 707 Die Briefe von Erich Boehringer beschränkten sich 1922 und 1923 sowie in den folgenden Jahren auf solche zum Geburtstag Georges am 12. Juli.

374

Briefwechsel 1923

sche d.  h. des Traumes teilhaftige Menschen möglich ist. Hohe Körperlichkeit genügt nicht. Eine besondere Verwöhnung des Gundolf war nicht möglich, denn ich sah ihn drei, höchstens viermal und Du weisst ja, dass er letzten Endes nur zu sich selbst spricht und sich selbst antwortet. Jedenfalls ist er über seinen Schicksalsweg klar. Ihn zu überzeugen dass seine Erlebnisse zufällige, nicht schicksalhafte seien, liegt nicht in meiner Macht. Ludwig arbeitet viel in Amt, Stein ist mitten am Werk über Roger.708 Zschokke ist zu einer Konkurrenz über eine Knabenfigur für eine Basler Volksschule eingeladen und fleissig an der Arbeit.709 Ich allein döse in Gedanken, wie ich den S.  S. schöner ­machen kann; ob es wird, ist sehr dunkel! Grüsse den Staatsstützen. Dein Ernst Von Erich habe ich seit Monaten nichts gehört. Mir ist zu Ohren gekommen, dass der Mann der Dame, bei der er wohnt, unerwartet gestorben sei – doch weiss ich nichts genaues!710

359.  StG an EM

Poststempel Marburg, 26. 6. 1923 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

lieber Ernst: Du bist bekanntlich ein sehr guter jurist ∙ auf sehr zweifelhafte dinge gibst du antwort mit einigen sehr unzweifelhaften. Ich wollte im anschluss an G Dich noch weiter fragen was Du davon hältst bei einer bevorstehenden neuauflage des buches dies ohne die marke bei B. erscheinen zu lassen ∙ d.  h. es aus der serie a­ usscheiden.711 708 Stein war mit seiner Arbeit über die Porträtkunst Rogier van der Weydens befasst, die er 1925 als Habilitationsschrift in Bern einreichte. Sie erschien 1926 unter dem Titel Die Bildnisse von Roger van der Weyden im Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen. 709 Zu Alexander Zschokke vgl. Anm. 802. 710 Einer Aufzeichnung Hermann Gienapps folgend, studierte Erich Boehringer 1923 in Berlin Archäologie. Seine damalige Adresse ist im StGA nicht bekannt.Vgl. Herman Gienapp: Frühe Begegnung  MCMXXIII. In: Erich Boehringer Leben und Wirken. Gesammelt und herausgegeben von Robert Boehringer, Düsseldorf/München 1973. 711 Gundolfs Kleist-Buch war 1922 mit der Widmung für Elli Salomon in Georges Wissenschaftsreihe bei Bondi erschienen und zwar ohne die Genehmigung Georges. Dies war ein Sakrileg gewesen und hatte die Verstörung zwischen George und Gundolf verfestigt.

Briefwechsel 1923 375

Dann frage ich ob Du folgendes in Berlin für mich besorgen kannst: ich wollte die reise zu dem arzt nach Östreich712 doch noch machen ∙ bedarf aber dazu der erneuerung des passes  – ich glaube dass das nur in B. besorgt werden kann (meinem offiziellen wohnort).713 Den alten pass müsste ich dann vorher an Dich schicken. Wegen Deines S möchte ich Dir erwidern dass es sich nicht hier ums eigentlich künstlerische handelt ∙ sondern um das was wir früher einmal das traumhafte nannten.714 Daraus entspringt jeder wert sowol der des Dichters wie des Täters. Das Kl. hat zuweilen eine grosse sehnsucht nach der Schw. W. 715 Hoffentlich gelingt es im Sommer alle wesentlichen zusammenzuführen. D. M. – – – – – – – – Marb. 26. Juni 23. Geheim: das Kl. wird immer s–er . Wi 716 hat mit ungemeinem stolz seinen S hierhergeführt. Er ist gar nicht übel.

712 Ernst Glöckner war bei einem damals berühmten österreichischen Heiler aus Gallspach namens Valentin Zeileis und dessen Sohn Friedrich Georg, einem in Deutschland approbierten Arzt, in Behandlung, und er hatte George geraten, sich dort ebenfalls einer Hochfrequenztherapie zu unterziehen. Die beiden erhaltenen Briefe von F. G. Zeileis (StGA) vom 17. 6. 1923 und 12. 7. 1923 belegen, dass George in direktem Kontakt mit dem Arzt stand, einen Aufenthalt in Gallspach wegen Verschlechterung seines Zustands aber wieder absagte. 713 George war dort als Zwangsmieter Georg Bondis gemeldet. 714 Morwitz berichtet, George habe Markees das „traumhafte“ abgesprochen. Dies Traumhafte oder Tragische sei für George der einzig gültige Maßstab für den Wert jedes Menschen gewesen (BB). 715 „Schwarze Wonne“ als Name für Ernst Morwitz wurde laut Morwitz von Stefan George in Anlehnung an Namensgebungen der Indianer kreiert (BB). 716 Identifizierung fraglich, da Stein selten mit seinem Vornamen Wilhelm genannt wurde.

376

360.  EM an StG

Briefwechsel 1923

29. 6. 1923 Brief ohne Umschlag

29. 6. 23 L. M : Ich rate dringend davon ab, die Marke717 bei G’s Buch für die Neuauflage fortzulassen – dies bedeutet eine Schwächung der Sache nach aussen hin und keine Wirkung auf G. Dagegen wäre es vielleicht gut, G. zu veranlassen, die Widmung in der Neuauflage fortzulassen.718 Widmungen litterarischer Bücher brauchen nur in der Erstauflage stehen! Bezüglich des Passes sprach ich mit Juristen und Bondi, den ich heute traf. Sie alle meinen, dass Du den Antrag persönlich mit Unterschriftsleistung dort stellen musst. Sollten irgend welche Steuerbescheinigungen nötig sein, so wird Dir das dort bei der Polizei gesagt werden und ich kann es hier besorgen. Gib mir bitte genaue Nachricht, was verlangt wird. Auch ich denke viel an das Kl. 719 und bin froh dabei für Dich und für ihn, den ich recht bald nahe zu haben hoffe. Sonntag Nacht reist S. bis zum 1 Oktober in die Schweiz. Solche Cäsuren sind schmerzlich (d.  h. nur für mich einseitig wohl) aber wohl notwendig. Jedenfalls ziehe ich das Fazit dieses Jahres. Ich habe ihm den Umkreis gezeigt, jetzt muss er selbst für den füllenden Inhalt l sorgen. Ein gutes Bild von ihm kann ich noch nicht senden. Dass ich vom 15. VII in Bad Brückenau, Hotel Füglein zu sein hoffe, weiss [sic] Du schon. Gib Nachricht, falls vorher Besorgungen zu machen sind. Ludwig wird dieser Tage schreiben, er will sich für Juli oder August zu Deiner Begleitung zur Verfügung halten. Erich soll in Basel sein, ich habe ihn nicht gesehen. Alles Gute dem Kl. , den zu sehen ich immer begieriger werde.  Dein  Ernst.

717 Diese sogenannte Blättermarke mit der Swastika zeichnete alle Werke der Reihe Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst aus. 718 Vgl. Anm. 705 und 711. Die Widmung für Elli Salomon blieb bis einschließlich dritter Auflage von 1932 erhalten. 719 „Das Kleinste“ war einer der Kosenamen für den jungen Max Kommerell, der auch „Puck“ und „Maxim“ genannt wurde, in späteren Zeiten, nach seiner Trennung von George 1930, auch „Kröte“. Der Name Puck geht auf Shakespeares Sommernachtstraum zurück, benennt die dort im Auftrag des Herzogs Verwirrung zwischen den Liebenden stiftende Figur. Die Kröte wiederum ist zwar ein hässliches, Abscheu erregendes Tier, trägt aber im Märchen einen Diamanten auf der Stirne.

Briefwechsel 1923 377

361.  StG an EM

Poststempel Königsfeld, 28. 7. 1923 Brief mit Umschlag nach Bad Brückenau

Liebste Schwarze Wonne: D. M. lässt mitteilen dass der anfängliche plan  ∙ bei einem längeren aufenthalt in Heidelberg eine zusammenkunft mit Ihnen zu veranstalten ∙ durch eine plötzliche verschlimmerung des zustandes ∙ die wenn auch etwas gemildert anhält ∙ vereitelt worden ist. Deswegen lässt sich auch für den augenblick schwer etwas verabreden. Er bittet um die mitteilung wie lange Sie noch in B. bleiben. D. Kl. möchte mit obiger anrede eine erklärung machen und bittet ihm seine offenherzigkeit nicht zu verübeln. Es heisst übrigens nimmer Puck sondern mit seinem richtigen Staatsnamen: Maxim. Es sehnt sich sehr nach der Schw. W. Die adresse: St. G. auf dem Grenier Königsfeld / Baden 26. Juli 23.

362.  StG an EM

Poststempel Königsfeld, 18. 8. 1923 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50

Lieber Ernst: ich vermute dass du jezt wieder in Berlin bist und wollte dich fragen ob du jezt meinen pass durchs finanz=amt abstempeln und dann mit dem österreichischen visum versehen lassen kannst. Ich würde dir dann den pass eingeschrieben schicken. Wenn es der zustand nur irgend erlaubt will ich die reise zu dem östereichischen arzt doch noch machen. Ich bin immer noch im Schwarzwald und es geht leider immer noch sehr wechselnd … Wer weiss ob man das nächste jahr überhaupt noch solche reisen machen kann.720 Wie geht alles in Berlin? Herzlichst St. G Auf dem Grenier Königsfeld (Bad. Schwarzwald 16 aug 720 Georges Skepsis ist in der politischen Lage von 1923 begründet.

378

363.  StG an EM

Briefwechsel 1923

23. 8. 1923 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: ich danke für Deinen freundlichen brief. Hier ist der pass. Eine besondere eidesstattliche versicherung dass ich kein vermögen habe und mein ganzes Einkommen das aus schriftstellerischer tätigkeit darstellt ist nicht nötig weil diese versicherung bereits mit der abgabe der steuer=erklärung gemacht und unterschrieben ist. Alle steuer=erklärungen sowie die quittungen sind nicht in meiner sondern in Bondi’s händen. Hoffentlich hast du jezt keine besondere last mehr mit der sache .  .  .  . Ob die reise nach Österreich zum arzt bald stattfinden kann – hängt vom jeweiligen befinden ab das immer noch sehr wechselnd ist. Jedenfalls ist es gut wenn ich für alle fälle den pass in händen habe. Das eintreffen in Berlin wird dieses jahr wol nicht so schnell stattfinden können. Herzlich Dein  St. George Königsfeld ∙ 23. aug 23

364.  StG an EM

n. d. 23. 8. 1923 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: endlich bekommst du ausgiebig nachrichten  – obwol noch keine entscheidenden. Ich danke Dir für die schnelle erledigung des passes .  . aber kaum hatte ich ihn und dachte an abreise von Königsfeld als weisung des Österreichers eintraf ∙ die lange reise noch etwas hinauszuschieben bis der zustand sich so weit gebessert hätte dass die strapazen ohne gefahr könnten überwunden werden. Die zeit in K. war nicht ganz schlecht ∙ immerhin aber keine wesentliche erleichterung und der verdacht dass wieder ein grösserer stein sich gebildet war mir immer stärker. Ich fuhr deshalb vorige woche nach Heidelberg und Marburg um es wieder mit Wildungen zu versuchen. Hier wurde eine Röntgenplatte gemacht und mein verdacht bestätigte sich und zwar sass der stein wieder an nämlichen [sic] stelle wie voriges jahr. Es ist mehr als wahrscheinlich dass er voriges jahr nicht richtig herausgenommen wurde. Die platte ging nun nach Wildungen und ich erwarte noch des dortigen arztes nachricht  .  . Dass ob er jezt gleich die operation machen will. Dass er diesmal ganz schafft ∙ hab ich wenig hoffnung und mich

Briefwechsel 1923 379

an einen andren operateur zu wenden scheu ich mich  … So steht es also damit.721 Eh also die operation erledigt ist ∙ kann ich an Berlin nicht denken. Übrigens sagte ich Bondi dass vor ende september sowieso nicht daran zu denken. Seine jährliche abrechnung die längst fällig ist hat er auch nicht geschickt und wartet bis die lumpigen papiere gar nichts mehr sind. In der Schweiz wird die deutsche million für einen groschen verkauft. So geht das schon das dritte jahr und so kann es nicht weiter gehen … Da muss ich dich bald einmal nötig sprechen. Jedenfalls soll er ∙ wenn du ihn siehst ∙ seine abrechnung baldigst hierher schicken. Im innern staat ist soviel höchst bedeutsam neues  ∙ dass ich auch deshalb mit dir sprechen muss. Bei diesem labilen gesundheitszustand kann ich die viele arbeit nicht bewältigen. Eben erhalt ich auch deinen brief mit den Zschokke=bildern. Sie deuten auf ein recht begabtes werk –– aber es fehlt jedes „feuer“ .  .  .  .  . ja ∙ ja!722 Herzlichst St. G. Marburg Wörthstr: 37

365.  StG an EM

30. 9. [1923] Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst : ich bin aus Wildungen zurück. Alles ist leidlich gut gegangen und ich muss mich nur noch hier genügend erholen um eine weitere reise antreten zu können. Eine nachricht auf meinen brief vor Wildungen habe ich nicht. Mit Berlin steht es dies jahr faul. Auf meine wiederholten aufforderungen an Bondi ∙ mir die abrechnung zu schicken ∙ bekam ich heute von ihm nur die vertröstung dass das sehr bald geschehe mit der bemerkung dass die abrechnung keinen praktischen zweck hätte weil seine a konto-zahlung im januar / februar die mir zukommende summe bereits überschritten hätte. Zugleich lag ein scheck bei von 200 millionen als a-conto zahlung fürs näch-

721 Es wurden in Wildungen zwei unblutige Nierensteinzertrümmerungen durch Dr. Rörig vorgenommen, vor der endgültigen schwierigen Operation durch Professor Ringleb im Mai 1924 in Berlin. 722 Es dürfte sich um Fotografien von Zschokke-Werken aus den frühen zwanziger Jahren handeln.

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Briefwechsel 1923

ste geschäftsjahr. Diesen scheck werde ich ihm wieder zurück gehen lassen. Was soll ich mit der schund-zahlg von 5–6 goldmark für die man keine 2 tage leben kann und nicht einmal die hälfte des weges 4. kl. nach Berlin zurücklegen kann. Die a-conto summe januar / febr. betrug 500 000 M ∙ also nach damaligem stand knapp 100 goldmark die nach seinem lezten brief mir nicht einmal ganz zukommen laut abrechng. Ich leugne ∙ dass er vertragsmässig die hälfte des reingewinns damit mir ausgezahlt hat u. bin willens ∙ von einem geschäftsmann nachprüfen zu lassen was hier nicht mit rechten dingen zugeht. So wird der bruch mit Bo. unvermeidlich sein ∙ ich will aber nichts Entscheidendes unternehmen ohne vorher Deinen rat gehört zu haben. Wolters bekam für sein sagenbuch723 vom verleger Hirth in einem jahr mehr ausbezahlt als ich für alle dutzende und dabei ist das Seinige nur ein halbanteil + weil der 2. verfasser die andre hälfte bekam. Mit herzlichen grüssen     D. M. Marb. 30. sept.

366.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 2. 10. 1923 Brief mit Umschlag nach Marburg, bei Professor Wolters

Dienstag L. M : Vor allem meine Freude, dass die Operation in Wildungen wieder geglückt ist. Nun hoffe ich doch auf baldige Ankunft hier! Ich habe Bondi inzwischen hier nicht gesehen. Mir scheint als ob die Hauptschuld an dem für jetzige Verhältnisse nicht passenden Vertrage liegt. Ein Protest wird kaum nützen, denn es ist eine bekannte Tatsache, dass jetzt wegen der zu hohen Indexziffern kein Mensch mehr Bücher kaufen kann und die Büroangestelltenkosten ungeheure Summen verschlingen. Ausserdem sind Geschäftsbücher geduldig, man kann sie einrichten wie man will, sodass eine Nachprüfung durch Sachverständige gar keinen praktischen Erfolg verfolgtspricht. Meines Erachtens bleibt nur übrig, in Güte möglichst rasch einen neuen Vertrag in Goldmarkwährung zu schliessen. Das was verloren ist, wird nicht anders zu retten sein, als dass man es durch Naturalkonsum bei hiesigem Aufenthalt verbraucht. Da er nur die Hälfte des Reingewinnes 723 Friedrich Wolters gab zusammen mit Carl Petersen 1921 Die Heldensagen der germanischen Frühzeit bei Ferdinand Hirt in Breslau heraus. Der erfolgreiche Band gehörte zu der im selben Jahr von Wolters begründeten Reihe Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst.

Briefwechsel 1923 381

bisher zu zahlen hat, ist buchmässig nicht mit Gewalt anzukommen. Der Insel-Verlag z.  B. hat seit Monaten den Bücherverkauf, wie mir der Buchhändler sagte, eingestellt. Dies, bitte ich dich, zu bedenken. Das Nötigste ist ein neuer Vertrag mit vierteljährlichen Vorauszahlungen in Festmark! Hier nichts besonderes. Dieser Tage werde ich Peter sehen, der sich anmeldete.724 Silvio ist zurück und in ausgezeichnetem Zustand. Nach Marburg antwortete ich nicht, um Dich nicht im Misstrauen gegen die Wildungen Ärzte zu bestärken. Gleich Dir ist es nämlich Steins Vater ergangen, der sich nach der Wildungen Operation hier zum zweiten ⸢Mal⸣ wegen neuer Steinbildung operieren lassen musste. Man nahm an, dass die Reste beim ersten Mal nicht richtig beseitigt seien. Doch lässt sich genaues nicht sagen. Herzlichst Dein  E.

367.  StG an EM

n. d. 8. 10. 1923 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Deinen brief der zur allzusehr – versöhnung rät habe ich erhalten. Du verwirrst mir darin 2 punkte die streng auseinander gehalten werden müssen und die B. ⸢vielleicht⸣ gar zu gern durcheinander mischen möchte. Ich lege Dir die Abschrift des Briefes an B. deshalb bei. Das ist auch deshalb gut, weil B. in seiner Not leicht Dich anrufen könnte und Du dann genau Bescheid wissen musst. Berlin ist damit recht in die Ferne gerückt. Wenigstens Berlin im Grunewald.  D. M. Abschrift Herrn Dr. Georg Bondi Berlin Ich habe Ihren zweiten Brief mit der abrechnung mit noch grösserem erstaunen empfangen als Ihre ersten Ausführungen. Es fehlt mir auch die sonst gepflogene Aufstellung über den Absatz sämtlicher exemplare. Aus Ihrem Brief geht hervor, dass als resultat unseres diesjährigen geschäftsgebarens ich noch in Ihrer schuld stehe. Sie haben im Januar–Februar mir eine halbe million à conto gezahlt: auch den damaligen Wert betrachtet eine äusserst geringe summe. Es ist nur teilweise erheblich, dass Sie mir Dezember 22 eine Vertragsänderung vorgeschlagen haben. Diese war mit mehreren ande-

724 Percy Gothein hatte soeben unter dem Titel Opus Petri seine Erinnerungen vorgelegt und wurde seither auch „Peter“ genannt.

382

Briefwechsel 1923

ren punkten verbunden, über die ich noch nicht schlüssig war und ich hatte auch nicht das volle vertrauen, dass, wenn ich mit Ihnen direkt diesen vertrag abschlösse, mir daraus ein nennenswerter nutzen hätte erwachsen können. Das hätte vielleicht nur durch einen von mir beauftragten geschäftsmann ermöglicht werden können. Auch erklärten Sie mir, unabhängig von jeder vertragsänderung, als ich den minimalen gewinn im vergangenen rechnungsjahr (Oktober 22) beanstandete, dass im folgenden sich die zahlen weit günstiger gestalten würden. Genau das gegenteil ist eingetreten. Ich fühle mich in diessem jahr noch stärker benachteiligt als in dem vergangenen jahre. Dass Sie sich auf den Vertrag berufen, den ich nicht abgeändert hatte und den Sie nicht hätten abändern können, hat nur sehr bedingte bedeutung, denn Sie haben, wie aus Ihrem letzten brief hervorgeht aus rechnungstechnischen oder anderen Gründen den Vertrag gar nicht eingehalten oder einhalten können. Die hälfte des reingewinnes ist gar nicht zu ermitteln gewesen, folglich mir auch nicht ausgezahlt worden (höchstens buchmässig) sondern eine weit geringere summe. Nach Ihren eigenen worten lässt sich der reingewinn neuerdings buchmässig so nicht eruieren, dass ich zu meinem rechte komme. Was nun Ihre à conto-Zahlung für 23 betrifft, die ich nicht verlangt habe, so ist sie so gering, dass sie nicht einmal für die reise 4. kl. Frankfurt – Berlin ausgereicht hätte. Fühlen Sie nicht die ganze Lächerlichkeit eines solchen Angebots? Um das Gehässige zu vermeiden, habe ich den Scheck nicht gleich zurückgesandt. Er steht wieder zu Ihrer Verfügung und nur auf Ihre schriftliche Erklärung hin, dass er durch die einnahmen von 23 mindestens gedeckt ist, werde ich ihn einlösen. Ihr angebot von 2 Milliarden kann ich auch nicht ohne weiteres annehmen, denn wer weiss, ob wie im nächsten jahr bei der jetzigen Stockg der Absatz sich gestaltet, so dass ich wieder als resultat ­Ihrer gemeinsamen ge unsrer gemeinsamen geschäftsführung in Ihrer schuld stünde. Das sind unmögliche Verhältnisse. Mögen Sie von Ihrer Seite zur Erklärung sagen, was Sie wollen: soviel steht unumstösslich fest, dass kein Autor in keinem Verlag den ich kenne, auch wenn er sein erstes buch erscheinen liess, sich so ungünstig stellt, wie ich bei Ihnen. Die anderen Verleger haben sich nicht auf noch nicht geänderte Verträge berufen, sondern die schreiende ungerechtigkeit, die in der durchführung des alten lag, nach Kräften gemindert. Ich komme nun zum 2. Punkte, über den ich mich nur mit Widerwillen auslasse, weil er nicht rein Geschäftliches enthält, sondern persönliches damit verbunden ist. Ich habe jahrelange winter in Ihrem haus gelebt, und hatte beim lezten mal Gelegenheit, Ihnen auszusprechen, wie hoch ich diesen Aufenthalt geschätzt habe. Es war bis auf das lezte Mal, wo sich räumliche Einengungen fühlbar machten, eine ungetrübte Zeit freundschaftlichen

Briefwechsel 1923 383

zusammenseins. Abgesehen vom lezten glaubte ich Ihnen zu dienen, wenn ich Ihnen Gelegenheit gebe, meine leistungen, die ich seit jahren für Ihren Verlag erbringe, etwas auszugleichen, für die eine honorierung nicht verlangt wurde und die nicht einmal von Ihnen geleistet werden konnte kann. Ich hat rede nicht einmal von meiner 10jährigen arbeit an Ihrem Shakespeare sondern von den Werken die durch mich unmittelbar Ihrem verl Verlag zugeführt worden sind. Durch all dies glaube ich – rein materiell – meinen Aufenthalt reichlich aufgewogen zu haben. Um zum Schlusse zu kommen: sehe ich keinen Weg als den, das [sic] Sie die wesentlichen Punkte einer Abänderung der Verträge durchmit einem von mir bestimmten Geschäftsmann beraten, was die pekuniäre Seite angeht, und ich hoffe, dass wir so zu einem für beide teile befriedigenden Ausgleich kommen. Hochachtend i. A. von St. G. Marburg 8. Okt. 23.

Das Kl war mit hoch-staatlicher erlaubnis in Italien und ist glücklich zurückgekehrt voll südlicher liebe zur Schw  –W ! Ende der woche muss es wieder in seine freilich nicht ganz so südliche heimat fahren.725 Dem M. geht es (objektiv betrachtet) entschieden besser was aus seiner gnädigeren laune hervorgeht. 726

368.  StG an EM

[Oktober 1923] Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: ich muss dich nochmals um etwas bitten: Ich habe Bondi geschrieben dass zuerst einmal der zahlungsmodus geändert werden muss ∙ damit die grosse ungerechtigkeit die im frühern lag ausgeglichen werden kann. Diese [sic] vorläufig festgesezte punkt der ja auch seine legale gültigkeit hätte  – kann dann später bei einer gesamtrevision des vertrags ordnungsmässig aufgenommen werden sobald ich nach Berlin komme und die nötigen besprechungen mit B. stattgefunden haben. Ich habe gegenwärtig nur dich

725 Gemeint ist Bad Cannstatt bei Stuttgart. 726 Groß- und Kleinschreibung sehr unregelmäßig.

384

Briefwechsel 1923

in Berlin den ich mit dem obengenannten betrauen könnte ∙ so widerwillig ich an sich freunde für geschäftliche dinge heran ziehe: Es bleibt nicht andres übrig … Ich fahre morgen Heidelberg [sic] was vorläufig meine adresse bleibt (Wolfsbrunnenweg 12 II.) Ludwig liess durch Peter sagen er habe mir dringend einige dinge mitzuteilen .  . er möge sich ⸢mit schreiben⸣ beeilen.727 Von der nächstnächsten woche bleibt meine adresse „unbekannt“.728 Der zustand ist manchmal besser ∙ manchmal schlechter Herzlich ∙ S. G. M / freitag

369.  EM an StG

v. d. 1. 11. 1923 Brief ohne Umschlag

Mittwoch L. M : Mit Bondi hab ich nun gesprochen. Er ist bereit, den Zahlungsmodus zu ändern und schlägt vor, dass er vom Umsatz ­Deiner Werke (ohne jeden Abzug d.  h. also von der gesamten Summe, die er beim Verkauf Deiner Werke insgesamt erhält) 15 % für die broschierten und Halbleinenexemplare und bis zum 31. XII 1925 auch 15 % für die Ganzleinen­ exemplare bezahlt. Bezüglich der Ganzleinenexemplare kann er nach ab 1. I. 26 nur 10 % bezahlen, da sein jetziger Vorrat nur bis zu diesem Zeitpunkt reicht und die spätere Neuanfertigung zu teuer wird. Mir erscheint dieser Vorschlag deshalb gerecht, weil Dich auf diesem Wege die Geschäftskonten nichts mehr angehen. Kommission gibt es nicht mehr, Bücher w ­ erden von ihm nur noch fest verkauft. Allerdings geht der Absatz ständig zurück, da die Indexpreise zu hoch sind. Prozente vom Ladenpreis könnten heut nicht mehr (wie früher oft) bewilligt werden, da der Ladenpreis ständig schwankt und ­ msatzes der Verleger nur mit dem Buchhändlerpreis d.  h. dem Erlös seines U rechnen kann. Mir erscheint diese Lösung als Provisorium gerecht – freilich nur als Provisorium bis dahin, wo Du einen Teil erhältst, der Deinen Mü-

727 Aus dem Jahr 1924 ist kein einziger Brief Thormaehlens an George vorhanden, die erhaltene Korrespondenz mit George ist in diesen Jahren insgesamt äußerst reduziert, erst ab 1929 verdichtet sie sich wieder sehr deutlich. 728 George begab sich über Heidelberg nach Basel, wo er meist bei Julius und Edith Landmann und kurze Zeit auch im Hause Oettinger logierte. Sein Aufenthalt dort sollte wohl nicht bekannt werden.

Briefwechsel 1923 385

hen um den Verlag entspricht. In dieser Hinsicht scheint B. zu allem bereit zu sein, es scheint mir dringend erforderlich, dass Du m ­ öglichst bald einen alle Fragen erledigenden neuen Vertrag auf Goldmarkbasis schliesst, denn diese Umsatztantieme allein wird in heutiger Zeit wo eine keineswegs erhebliche Summe sein. Ausserdem will er a conto mit der ⸢seiner⸣ persönlichen Garantie, dass diese Summe du noch durch die Einkünfte des laufenden Jahres gedeckt würde, an Dich 200 Milliarden (die ich wenigstens in mindestens 20 Goldmark mit K Hinweis auf die Kursschwankungen verwandelte) sofort zahlen, falls Du dies wünschst. Er sprach von Einführung des neuen Modus vom 1. I. 24 an, ich bin aber sicher, dass er auch auf solche schon Zahlungsweise schon vom 1. Nov. 1923 an eingehen wird. Für die Zukunft schiene dieser Modus mit einem Goldfixum verbunden das einzig mögliche.

Sonst nichts. Eine angenehme Zeitlage! Ludwig schreibt selbst. Du musst herkommen, damit nicht alles aus den Fugen geht. Gib Nachricht, was geschehen soll. Deinem Ernst

370.  EM an StG

19. 11. 1923 Brief ohne Umschlag nach Bingen Montag 19. XI

L. M. Mit Bondi ist nun die Abrede bezüglich der prozentualen Beteiligung an jedem Band getroffen und zwar wird sie rück­wirkend vom 1. Januar 1923 an geltend – dies ist für Dich günstig. Zahlungen wird er erst leisten, wenn Du sie anforderst. Jedoch bittet er Dich, bestimmt vor Jahresende anzuordnen, wohin die Abrechnungssumme gesandt werden soll, weil für ihn – was durchaus einleuchtend ist – keine Möglichkeit einer ­wertbeständigen Verwahrung besteht. Er fragt ferner, ob er wegen der Umsatzsteuer alles laufen lassen soll. Ich rate dazu, da derart kleine Beträge wohl kaum steuerpflichtig sein werden. Jedoch habe ich trotz vieler Versuche hierüber nichts in Erfahrung zu bringen vermocht, da kein Mensch mit der Steuer für freie Berufe Bescheid weiss. Das äussere Schicksal ist schlimm genug, aber das Neue kommt. Selbst hier beginnen die Glieder hinter Lumpen hervorzuschimmern und der S.  S. ist so, dass ich für ihn – und ich wage sogar für den M. auch – den nur

386

Briefwechsel 1923

den Wunsch habe, dass Du wenn auch noch so kurz nach Berlin kommst, denn das, nur das eine fehlt noch!729 Übrigens erwartet Bondi eine Nachricht über Dein Kommen ⸢in sein Haus⸣, wie er mir sagte. Ich habe selten Wünsche, erfülle ihn mir wenn irgend es geht! Dein Ernst Woldi ist hier, guter Verfassung, geht Monatsende nach England.730 Peter ist für einige Tage in Heidelberg, kehrt dann hierher zurück. Fritz hat einige Examenstationen gut bestanden.

371.  StG an EM

n. d. 19. 11. 1923 Brief ohne Umschlag

l. Ernst ∙ das sind ja sehr freudige nachrichten .  . dass der S. doch noch gedeiht ∙ dank für Deine gedichte ∙ dank auch dem S. für die seinen. Mit dem „rythmus“ geht er noch etwas frei um. – Anschliessend an deine worte wegen Bondi möcht ich dich sehr bitten wenn er noch nicht an W geschickt hat ∙ die summe von R∙Mark 300 an Sanitrat Dr. F. Rörig Bad Wildungen in meinem auftrag zu senden ∙ es ist höchste zeit … Im übrigen geht es „mittel“. Ich hab dir sehr viel neues mitzuteilen ∙ möge dies im frühjahr recht bald sein Herzlichst D. M. Adresse noch Heidelberg.

372.  StG an EM

Dezember 1923 Brief mit Adresse (ohne Poststempel) nach Berlin W. 50

Lieber Ernst: ich danke für die besorgungen bei Bondi .  . ich dachte doch es würde bei euch in Berlin jezt w=beständiges geld gedruckt (!) ? jedenfalls bitte ich B’s zahlung an Wolters zu richten der im dez. wieder in Marburg

729 Es fehlte dem ‚Süßen‘ / der ‚Staatsstütze‘ noch die persönliche Begegnung und Anerkennung Georges. 730 Von Uxkull brach zu einem Studienaufenthalt in London und Oxford auf.

Briefwechsel 1924 387

ist.731 Was man wegen der U=steuer tun soll weiss ich auch nicht … die sonstigen steuern hat B. immer für mich ausgelegt … Und nun zu meiner reise nach Berlin! Ach E! soll man mich jezt nach B. wünschen? Dort ist und war das richtige tollhaus. Ob das die ganz merken die selber drin sitzen? Wegen deiner käm ich gern einmal hin ∙ auch wegen dem sehr erfreulichen berichts [sic] über den s S. Ist er aber wirklich jezt schon genügend vorbereitet? Vor dem februar nächsten jahres ist an B. nicht zu denken ∙ so lang musst Du dich gedulden .  . Das hatte ich bereits schon vor deinem brief der Dora geschrieben. In kurzem werd ich an Dich über meine taten ausführlich schreiben  – bis dahin gilt als anschrift noch Heidelberg von wo aus nachrichten an mich gelangen. Und nun noch wegen des Ludwig=Woldischen plans.732 Nun – ich sehe wie bei allem ähnlichen nicht klar – mögen sie es auf Ihre gefahr hin tun ∙ jedoch Albrecht zuzuziehen wünsch ich auf keinen fall! Herzlichst S. G dez. 23

373.  MK an EM

v. d. 16. 1. 1924 Brief ohne Umschlag

Liebste Schw. W.! Ich habe erlaubnis einige zeilen an Sie beizufügen. Ich habe ununterbrochen und mit vieler sehnsucht an Sie gedacht und auch einmal von der Schw. W. mit guter vorbedeutung und freudiger rückerinnerung geträumt. Ach wann werden sich die Berliner tage erneuern! Wenn keine S s. um den weg sind  ∙ arbeite ich aus verzweiflung (>in sua necessitate diabolus edit moscasBlonden< ist kein eindeutiger begriff.“ 1914 war Percy Gothein gemeint. Mit ‚blond‘ war auch ein Typus gemeint, der nicht nur positiv gedeutet wurde. 742 George schätzte die nicht durch ihn genehmigte Kommunikation zwischen unterschiedlichen Gruppierungen nicht.

390

375.  StG an EM

Briefwechsel 1924

v. d. 15. 3. [1924] Brief ohne Umschlag

Dem grossen E. abzugeben.: L. E. gegen 15 märz hoff ich Dich zu sehen aus keinem erfreulichen anlass … entweder in Halle oder Berlin wird doch die grosse operation gemacht werden müssen ∙ man muss es wagen denn so ist das leben auch nicht mehr recht erträglich. C.  – r 743 wo ich ehmals war kommt aus einem noch mitzuteilenden grund jedoch nicht in betracht Herzlich D. M.

Steglitz Grunewaldstr. 39

376.  StG an EM

Ende März [1924] Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: zweie bitten mich ihre briefe an Dich zu leiten nachdem grade Dein letzter ankam. Die arztsache ist recht verwickelt: einer behauptet das gegenteil des andern. Die von Dir vorgeschlagene bestrahlung wurde inzwischen auch von andern angeraten. Über deren wirkungen wüsste ich gern möglichst viel ⸢auch von der dauer⸣. Ob ich nach Berlin komme ∙ ist immer noch nicht sicher ∙ hoffe aber auf endliche begegnung um Ostern. Inzwischen hat sich wieder manches angesammelt was ich bei Euch dorten missbillige. Des P’s arbeit kenn’ ich nun zum teil und lobe sie gebührlich. Ihr dort aber scheint das lob zu übertreiben. Vor allen dingen hätte man ihn  ∙ der von seiner erstarbeit unbeschreiblich entzückt ist  ∙ mehr auf das Tadelnswerte hinstossen müssen. Ich vermisse die genügende beachtung des Schicklichen. Damit sie veröffentlicht wird ∙ muss erheblich gekürzt und gestrichen werden. – Zweiter punkt: Gelegentlich des besuches von Gu. in Berl. hielt ich es auch nicht für ganz schicklich ∙ unter den vielen themas die es gibt ∙ von meiner person unterhaltungen zu dulden. Der Staatsgrund ist ersichtlich: die ganze fatale macht jener trulle kommt daher

743 George hatte sich im September 1918 in die Klinik des Urologen Casper begeben und war dort operiert worden.

Briefwechsel 1924 391

dass Gu. ihr alles geplappert hat.744 Da er das plappern nicht lassen kann ihr gegenüber ∙ ist das beste: er selber weiss nichts. Vom augenblick ab wo sie nicht mehr mit ⸢solchem⸣ wissen gestopft wird ∙ schrumpft sie zusammen wie ein mess=schweinchen dem die eingeblasene luft entwichen ist.*) – Dritter punkt: Höchst unnötig empfand ich die mitteilung an W. über W. St. und dessen bedrängte äussere lebensumstände. Die anfrage wegen mitarbeit an dem sog. Lesebuch hätte vorher an mich ergehen müssen.745 Nachdem der plan W’s ⸢mir⸣ vorlag den er mit dir zusammen ausdachte ∙ mochte ich nicht mehr nein sagen wegen jener akzentuierung der äusseren umstände die ich bei dieser gelegenheit zum erstenmal vernahm. Wo da der haken liegt  ∙ wirst Du erst bei mündlicher auseinandersetzung recht merken. – Vierter punkt: der ist der heikelste. Die art wie P. in seinen briefen gewisse παιδ-dinge behandelt746 ∙ halte ich für ganz und gar gefährlich. Dass er in dieser leichtfertigeren art der darstellung bei mir auf widerstand stösst ∙ weiss er ∙ so versucht er es eben bei Dir. Ich will das wort nicht abnutzen ∙ aber auch hier müsst’ ich sagen: es fehlt der sinn fürs Schickliche. Nimm dies nicht zu leicht. Hier liegt eine P’sche lebensgefahr.747 Ihm fehlt noch ⸢zum erziehen⸣ das nötigste: die zucht.748 Gewiss bin ich noch die nächsten 8 tage hier. Gesamtzustand ist recht leidlich. D. M. Marburg ende März

744 Bezieht sich auf Elli Salomon; das Wort „trulle“ ist an keiner anderen Stelle bei George belegt. Laut Morwitz wusste George, dass Elli mit mehreren Männern aus seiner Nähe wie Vallentin, Thormaehlen, Wolters und Tankmar von Münchhausen sexuell verkehrte, wie einst die Gräfin Franziska Reventlow in den Schwabinger Kreisen in München (BB). 745 Wolters hatte bei Morwitz angefragt, ob er an seinem Deutschen Lesebuch für den Hirt-Verlag mitarbeiten wolle, Morwitz hatte abgesagt und Wilhelm Stein vorgeschlagen, dessen prekäre finanzielle Lage anführend. Das Werk erschien schließlich in fünf Bänden zwischen 1925 und 1927 unter dem Titel Der Deutsche. Ein Lesebuch, herausgegeben von Friedrich Wolters; vgl. Morwitz’ Rechtfertigung in Brief Nr. 378. 746 Laut Morwitz geht es um Dinge, die ‚das Leben von Jüngeren‘ betreffen, also um ‚paideia‘ (BB). 747 Hier verweist Morwitz in später Zeit auf die Todesumstände von Gothein und hält für sich fest, dass George Recht gehabt habe. Gothein wurde in den Niederlanden von der Gestapo beim Sexualakt mit einem Mann überrascht und festgenommen, im Dezember 1944 im Konzentrationslager Neuengamme ermordet (BB). 748 Der Satz ist eine Ergänzung von der Hand Stefan Georges.

392

Briefwechsel 1924

*)Hier in der ganzen sache war ich nie deiner meinung ∙ das unausweichliche betreffend ∙ ausflüchte gibt es freilich immer … bei allen … aber da liegt nicht der wesentliche punkt!!749

377.  MK an EM

März 1924 Brief ohne Umschlag

Liebste Schwarze Wonne! Zum zeugnis wie häufig und heftig das Kll an Sie denkt ∙ will es in dieser abendstunde seine liebe in schwarze lettern fassen. Es ist ungeheuer lang dass ein damals >Puck< genannter ziemlich oft und nahe mit dem gestrengen Inquisitor in berührung kam und allzu rasch nur seine angst vor ihm einbüsste!750 … Diese zeit hier brachte mich in die g­ eleise zäher lebensprosa – doch endlich ∙ mit dem spät=nahenden frühling darf ich sie an der hand des geliebten Meisters verlassen und befinde mich ganz in andern regionen. Ich geniesse glück auf glück und darf täglich und lange beim M. sein. Und ich beginne mich an hand der frühen blätterbände zum erstenmal ernsthaft (Ihnen gegenüber darf ich dies wort mit einem nebensinn aussprechen!) mit der geburt und dem keimen des Lebens das wir leben dürfen ∙ vertraut zu machen. Es ist die schönste aufgabe die es geben kann. Mit aufregung erfüllte mich die kunde von allen seiten dass eben grosse werke vollendet oder im gange seien. Wie müssen wir jüngern uns zusammenraffen um nicht hinter dem Geleisteten zu verblassen. Mit spannung male ich mir aus was wozu inzwischen das während meines B’er aufenthaltes in angriff genommene werk gediehen sein mag und hoffe ∙ Sie werden mich ∙ wenn sich ein solcher w einmal wiederholen sollte ∙ einer communication ad usum Delphinorum nicht für unwürdig halten!751 .  .  .  . Was aber macht Simbo?752 Die schlittschuhepoche war gewiss ergiebig! … Da ich in bezug auf Sse sehr

749 Ergänzung von der Hand Stefan Georges am unteren Blattrand. 750 Max Kommerell erhielt nach- und nebeneinander mehrere Übernamen, dazu gehörten das Kleinste, Puck, Maxim und später Kröte. 751 Ad usum Delphini meint wörtlich ‚zum Gebrauch des Dauphins‘. So bezeichnete man seit dem 17. Jahrhundert die Bearbeitung klassischer freizügiger erotischer Texte, vor allem auch antiker, mit homosexuellen Inhalten. 752 Gemeint ist Silvio Markees, vgl. Anm. 666.

Briefwechsel 1924 393

conservativ bin753∙ steht der name des prinzen noch vorherrschend auf dem meinem banner.754 Aber das herz ist dennoch weit für viele! Intimeren einblick in das leben des ehemaligen Puck wird dem scharfen auge der Schw. W. ein gedicht=trio geben das ich gerne mitsenden möchte.755 Widerholt [sic] war ich mit Michelagnolos [sic] Sonetten beschäftigt. Ich meine ∙ sie gehören in die grosse liebesreihe und müssen noch einmal durch dichter=geschäftigkeit unsrer ahnenschaft einverleibt werden. Nur ist dies sehr schwer und erfordert einen doppelten ton: etwas von platonischer Schau und Shakespeare=leidenschaft.756 Ein buch das zwar die literatur ∙ geschichte längst hinreichend unter die Werther-nachfühlung eingereiht hat ∙ rührte mich von einer ganz andern seite: im sonst garnicht bedeutenden >Siegwarth< von J.  M. Miller ist in grosser zartheit die liebe zweier unter obhut eines mit=liebenden paters im kloster aufwachsender knaben geschildert757 .  .  .  . ich kenne nur wenig gleich ergreifendes in dieser richtung. Bei einigen stellen war ich fast traurig Sie sie Ihnen nicht zeigen zu können: >Wie handgreiflich!

753 Kommerell bezieht sich wiederum auf das Ausspähen schöner Jünglinge bei sportlichen Aktivitäten, sei es im Winter beim Schlittschuhlaufen oder im Sommer in Badeanstalten. Silvio war ein besonders begabter Schlittschuhläufer. 754 Johann Anton (1900–1931), gebürtiger Österreicher, Sohn eines Professors für Psychiatrie, ab 1905 in Halle a. d. Saale. Er musste als Siebzehnjähriger in den Krieg ziehen, wo sein Zwillingsbruder Karl an seiner Seite tödlich verwundet wurde. Er studierte in Halle und ab 1921 in Marburg Jura und Nationalökonomie. Durch Walter Elze wurde er an Wolters vermittelt, dem er 1924 auch nach Kiel folgte, wo er bei ihm promovierte. Sein Ziel war die Zulassung zum diplomatischen Dienst. Schicksalhaft waren die in Marburg beginnende Liebe zu Kommerell sowie der Einfluss von Wolters und George. Anton tat sich als Dichter hervor, von dem noch 1935 ein Band Dichtungen bei Bondi als Imprint der Blätter für die Kunst erschien. Er freundete sich auch mit anderen Jüngeren im Kreis an, blieb aber aufs stärkste an Kommerell und George gebunden, sodass Kommerells Entfernung von George und dem Kreis Ende der 1920er Jahre für den „Prinz“ Genannten zur Katastrophe wurde. Am 27. 2. 1931 schied er in Freiburg durch Suizid aus dem Leben. Laut Morwitz brachte er sich auch wegen fehlgeschlagener Börsenspekulationen und Geldnöten um (BB). Antons Abschiedsbrief an Kommerell lässt vermuten, dass ihn auch Sorgen um seine eigene geistige Gesundheit umtrieben. 755 Morwitz schrieb ihm übersandte Gedichte Kommerells ab. Die Abschriften haben sich in seinem Briefbuch erhalten (BB). 756 Michelangelos Sämtliche Gedichte italiänisch und deutsch, in einer Übersetzung von Gottlob Regis, erschienen 1842 bei Duncker und Humblot in Berlin; sie befinden sich unter den nachgelassenen Büchern Stefan Georges. Kommerell übertrug eine Reihe von Gedichten und veröffentlichte sie 1931 bei Klostermann in Frankfurt am Main. 757 Der Siegwart-Roman von J. M. Miller von 1776 war zeitgenössisch sehr erfolgreich.

394

Briefwechsel 1924

Trotzdem sie vorwiegend in form der wissenschaft geschehn musste ∙ hat die forwährende beschäftigung mit J. P. mich immer tiefer in ihn geführt und ich glaube ∙ die  wiederauferstehenden Sse seelen sovieler Sse in diesen >gedichten< * ergäben stoff zu unendlichen und schönen gesprächen zwischen der Schw. W. und dem Kll!758 Wenn ich Sie nur bald sehen dürfte … Einstweilen trage dieses blatt unzählige b  .  .  .  .  e zu Ihnen von Ihrem Maxim März 1924.

*Jean Pauls

378.  EM an StG

Ende März 1924 Brief ohne Umschlag Montag Abend

Liebster Meister: Dank für die rasche Nachricht. Von der Bestrahlung sagte Prof. Poll, dass sie in kurzer Zeit bei den von ihm besichtigten Personen die Hindernisse und Schmerzen vollständig beseitigt hätte. Dr. Cerds meinte dazu (ohne etwas näheres über diese von einem besonderen Spezialisten ausgebildete Bestrahlung759 ⸢gesehen zu haben und⸣ zu wissen) dass man ⸢gemeinhin⸣ bei allen Bestrahlungen aufpassen müsse, dass durch die Strahlen nicht das Gewebe verändert werde. Poll sagte, dass dies bei dieser besonderen Art nicht der Fall sei, meinte jedoch dass hierüber genau nur der Spezialist selbst Auskunft geben würde. Bei Bestrahlungen besteht nämlich die Gefahr, dass die Gewebe sich verändern (verhärten) so dass bei Misslingen der Bestrahlung eine spätere Operation wegen der Gewebeveränderung nicht mehr möglich ist. Morgen will ich Poll zu erreichen versuchen, fürchte aber, das er über bis Ostern – wie ganz Berlin – in Italien ist.

758 Die Bezeichnung von erzählender Prosa Jean Pauls als „gedichte“ adelt sie im Umfeld Georges. Er hatte 1900 in der zusammen mit Karl Wolfskehl herausgegebenen Anthologie unter dem Titel Jean Paul. Ein Stundenbuch für seine Verehrer Passagen aus Romanen Jean Pauls zu Prosagedichten montiert, verdichtet und somit in seinem Sinne veredelt. 759 Es ging um eine vorgeschlagene Röntgenbestrahlung.

Briefwechsel 1924 395

Die Hauptfreude ist mir, Dich Ostern zu treffen. Richte es bitte so ein, dass ich am 1. Ostertag – wenn nichts dazwischen kommt – kommen kann, da ich bis Donnerstag dann frei bin. Zu den anderen Punkten des Brief [sic] will ich etwas sagen, wenn ich auch weiss, dass diese Rechtfertigungen kaum Geltung finden werden. P’s Buch habe ich sehr gelobt und finde es nach wie vor ausgezeichnet. Mir ist nicht bekannt entgangen, dass in den theoretischen Stellen Wiederholungen, vielfachleicht sogar Kindlichkeiten enthalten sind. Trotzdem glaubte ich dies nicht zu sehr ihm gegenüber betonen zu dürfen um den Fluss nicht zu stören. Schon die Familienumstände, unter denen er arbeitete waren sehr ungünstig, sodass mir vor allem not schien, ihm die Lust und den Fluss der Arbeit zu erhalten. Streichen ist hier gewiss nicht schwer. Es handelt sich nicht um ein Werk von vielen, die er schreiben wird – sondern meinem Gefühl nach um ein ⸢sein⸣ einziges, einmaliges Dokument, für dessen Zustandekommen sein Gedächtnis und sein geistiges Auge möglichst gestärkt werden mussten. Eine ganz andere Frage, die ausserhalb meiner Beurteilungskraft liegt, ist die: ob und wann das Werk nach Deinem Willen gedruckt werden darf. Mir kam es nur darauf an, dass es vollendet wäre! Wenn Du das Schickliche an den Briefen vermisst, so verstehe ich dies, im Werk aber – soweit ich es bis gegen Ende des zweiten Teils kenne – wüsste ich keine Stelle, die für uns oder einen Aussenstehende [sic] nicht angängig erschiene. Hiermit meine ich nicht die Frage, ob es an der Zeit ist, so tiefe Erlebnisse überhaupt schon in der offeneren Form der Prosa zu publizieren. Gundolf habe ich zweimal ⸢dreimal etwa⸣ gesehen und zwar nur in Gesellschaft. Soweit mir erinnerlich, habe ich von Dir nichts gesagt, als dass ich Deinen Aufenthaltsort nicht kennte. Gespräche über seinen Zustand und sein Verhältnis zu Dir sind völlig fruchtlos, er kennt alle Einwendungen und doch gelten sie ihm nichts. Deshalb schrieb ich Dir nicht mehr über ihn. Die Klette, zu der er jetzt nach Italien reist,760 hängt an ihm, er ist bis ins Phy760 Gemeint ist Elisabeth Salomon (1893–1958), ab 1926 mit Friedrich Gundolf verheiratet. Seit 1923 arbeitete sie in Rom als Korrespondentin und Übersetzerin. Die bei Alfred Weber promovierte Volkswirtin hatte zwei Jahre lang die Freie Schulgemeinde Wickersdorf besucht und war auch darüber hinaus mit Gustav Wyneken in Kontakt geblieben. Gundolf lernte sie 1914 kennen, und im Herbst 1915 begann eine heftige Liebesbeziehung. Während des Krieges in Berlin sorgte sie nicht nur für den schwer erkrankten Geliebten, sondern umsorgte auch Stefan George, den sie häufig sah und von dem sie zunächst sehr geschätzt wurde. Georges Einstellung zu ihr veränderte sich bald danach, nicht zuletzt durch Intrigen und böse Nachrede von Thormaehlen und anderen in Georges Umkreis. Dort firmierte sie schließlich unter dem verächtlichen Decknamen „hure“. George habe sie als Verführerin gesehen, die Gundolfs Sinnlichkeit ausnutzte, der wie ein Hündchen ihr gefolgt sei (BB). Nach der Heirat mit

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Briefwechsel 1924

sische (nicht zu seinem Vorteil) verändert und hält sich an sein neues Buch um eine Lebensnotwendigkeit zu haben. Dabei ⸢über⸣sieht er sein Schicksal ebenso ⸢systematisch⸣ wie das seiner Helden, ohne sich daraus erretten zu können. Ich schreibe dies nur um Dir zu beweisen, dass überhaupt keine innere Möglichkeit war, über Dich zu sprechen. Der Fall Stein: Vor Jahren habe ich Wolters gesagt, dass man ein Lesebuch für Knaben machen müsse. Jetzt eines Tages erhielt ich von Marburg einen Brief des Inhaltes, dass er auf meinen früheren Plan zurückkomme, meinen Rat wünsche und, da er einen Mitarbeiter brauche, meine Meinung über Steins Geeignetsein wissen wolle. Dass Stein unbeschäftigt ist, wusste er von einem ⸢früheren⸣ Aufenthalt in Berlin, der vor der Lesebuchsache liegt. Damals hatte er mich besucht und ich hatte ihm erzählt, dass Stein in geradezu niederträchtiger Weise um seinen Museumsposten, der übrigens ⸢immer⸣ unentgeltlich war, gebracht worden war. Die Lage ⸢Steins⸣ war damals hier schwierig, da Stein infolge innerer Beschäftigungslosigkeit, wie mir schien – wovon ich aber natürlich Wolters nichts erzählte – in Gefahr geistiger Zerrüttung war. (Von pekunärer Not glaube ich nichts gesgt zu haben) Die Erinnerung hieran trieb wohl Wolters zur Anfrage an mich über Steins Mitarbeiterschaft. Ich erwiderte, dass ich Stein für geeignet hielte, dass Du aber erst Erlaubnis geben müsstest, und sagte zu Stein noch nichts. Jetzt erst als Wolters Deine Erlaubnis mitteilte, habe ich Stein den Brief von Wolters gesandt. Falls Du irgend welche Bedenken hast, gib einen Wink. Stein wird sofort unter irgend einem Vorwand die Mitarbeiterschaft ablehnen. Die äusseren Umstände spielen für Stein keine ⸢wichtige⸣ Rolle, so dass diese Rücksicht entfällt – es handelt sich nur um eine Beschäftigungsnotwendigkeit, da Stein Gegendruck braucht um sich entfalten zu können. Sein Zustand im Winter war so kompliziert, dass ich ihn meiden musste. Nun der wichtigste Punkt: Peters Briefe. Ich gebe zu, dass sie ausschweifend sind und mir eine Freude bereiten, über die ich vielleicht die Gefahr für ihn ⸢selbst⸣ nicht beachtet habe. Ich sah in ihnen eine Entladung neben der Ballung des Buches. Soweit er hier in Berlin in Lebensdingen befangen war (Fall Billy761) habe ich sehr gewarnt und gebremst! Seinen Freund Wolfgang

Gundolf zogen sich die meisten Georgetreuen ganz von dem Ehepaar zurück. Nach Gundolfs Tod an Georges Geburtstag 1931 emigrierte sie 1933 nach England, wo sie 1958 weitgehend isoliert verstarb. 761 Billy meint William Hilsley (1911–2003), ursprünglich Wilhelm Hildesheimer, geboren in London; er lebte 1923 mit seiner Mutter Frieda in Berlin. Als Zwölfjähriger lernte er Wolfgang Frommel kennen, der ihm einen Aufenthalt in dem Privatinternat Schloss Salem am Bodensee von 1924–1929 durch Beziehungen ermöglichte. Über

Briefwechsel 1924 397

habe ich nicht gesehen.762 Da Du mit Recht eine Unschicklichkeit im offenen Nennen der Petroiden Affekte siehst, werde ich ihn zu mässigen versuchen. Nun habe ich alles ausgepackt, was schreibbar ist. Der Rest muss gesagt werden. Noch erwähnen will ich, dass Poll nach wie vor dringend ⸢wenigstens⸣ eine Consultation des Prof. Rumpel ⸢vor der Entscheidung⸣ anrät, der der beste Spezialist des Landes sein soll. Wie gern ich Dich hier hätte weisst Du. Es ist wegen des Sil , dessen Zeit – er wird 17 – heranrückt: Die Entwicklung ist jetzt eine andere ⸢wie⸣ früher, das früher schwierige ist jetzt fast selbstverständlich, die Schwere sitzt wo anders, muss wo anders bestärkt werden, das tut auch dem Sil. not, der seinerseits schon mit H. W., jenem woldemaroïden Prinzen,763 alle Hände voll zu tun hat. Übrigens hörte ich, dass Bondi Ostern nach Italien wollte. Das Haus wäre dann leer! Einen Brief für den Kl. sende ich dieser Tage an Dich, gib bald Nachricht Deinem Ernst

379.  StG an EM

Poststempel Marburg, 2. 4. 1924 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50

Lieber Ernst: Ich danke für Deine nachrichten. Ich bin nicht ungeneigt ∙ zu einer besprechung nach B. zu kommen. Nur muss ich vorher wissen ob die kleine operation die auf jeden fall nötig ist (es hat sich nämlich wieder ein stein gebildet) in B. ebensowohl wie etwa in Wildungen ausgeführt werden könnte ∙ wenn die grosse operation nicht unternommen würde. Zweitens bitte ich mir mitzuteilen ob Du selbst oder urteilsfähige bekannte etwas von Ringleb als operateur gehört hast. Um richtige urteile über gefährlichkeit oder tunlichkeit der röntgenbehandlung zu erhalten  ∙ müsste man sich an jemand wenden der objectiv darüber urteilen kann da jeder bewusst oder unbewusst seine prozedur für empfehlenswert hält. Nur ist auch eine schwierigkeit wenn Bondi Ostern nach Italien geht. Wäre es da nicht doch ratsamer die kleine stein=operation wieder in Wild.

Jahrzehnte war er einer von Frommels Lieblingen. Er studierte in Berlin Musik, emigrierte 1935 nach den Niederlanden, wo er auch starb. 762 Zu Wolfgang Frommel vgl. Anm. 640. 763 Wohl der erwähnte ‚Süße‘ des Silvio Markees namens Horst, wenngleich hier der Nachname mit „W“ beginnt; vgl. Anm. 740.

398

Briefwechsel 1924

vornehmen zu lassen bei der man wol in einigen tagen wieder ausgehen kann ∙ deren nachbehandlung immerhin auch einige wochen in anspruch nähme die man dann in W. verbringen könnte. All die andern schwebenden dinge können mündlich behandelt werden ∙ nur im fall St. möcht’ ich bemerken dass hier nicht sowol an eine hilfebringung an St. gedacht war als an eine sehr erwünschte anknüpfung. Als ich die angelegenheit vorgestellt erhielt ∙ war es so als ob mit Dir bereits alles ausgemacht gewesen wäre – ich konnte also nur ja sagen. Herzlichst D. M. 2. Apr. für den fall dass B – i nach Italien reist müsste wol auch vorgesorgt werden dass in Berl. ein entsprechender betrag für mich greifbar ist.

380.  G.B. an EM

Poststempel Charlottenburg, 3. 4. 1924 Postkarte nach Berlin W. 50764

Herrn Dr. Ernst Morwitz, Berlin. lieber Herr Doktor! Neulich sagte man mir auf dem Finanzamt, dass St. G. seine Einkommensteuer (Vorauszahlung für das 1. Quartal 1924) bis zum 10. ds. Mts. zahlen müsse. Was soll ich tun? Da eine Erklärung beizufügen ist, muss sich St. G. wohl selbst äussern. Da ich seine Adresse nicht habe, muss ich mich an Sie wenden. Mit herzlichen Grüssen Ihr ergebener Georg Bondi Grunewald, 2. 4. 24

764 Die Karte befindet sich kommentarlos unter den Briefen von George an Ernst Morwitz, vgl. aber Br. 382.

Briefwechsel 1924 399

381.  EM an StG

n. d. 3. 4. 1924 Brief ohne Umschlag

Sonntag L. M: Ich sprach eben wieder mit Poll. Die in Frage kommenden Ärzte sind erst am 1 Mai wieder in Berlin. Die Roentgen-Behandlung besteht in ein oder zwei Sitzungen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen (ohne Klinikaufenthalt), dann könntest Du wieder fortreisen und nach 4 bis 6 Wochen müsste evtl. noch eine einmalige Bestrahlung vorgenommen werden. Er rät dringend, um den 1 Mai zu kommen, da jeder Eingriff (welcher Art er auch sei) bei schlechtem Gesamtbefinden und zu langem Abwarten nur mehr Schwierigkeiten macht. Er hält Dein langes Zögern für ganz verfehlt! Bondi reist am 24.  April auf 4  – 5  Wochen nach Italien. Was soll mit der Steuer geschehen? Hier gebe ich die Grundzüge der Abrechnung, die Bondi vorschlägt. Sie ist schwierig, weil Du einerseits Prozente von jedem Buch nach Absatz erhalten sollst, andererseits in der Zeit vom 1. I 23 – 31. XII. 23 der Valutastand fast täglich ein anderer war, so dass man zu einem Generalausgleich schreiten müsse. Du hast bisher (nach dem Kurse der Zahlungstage berechnet) 429 Rentenmark ⸢schon⸣ erhalten. Ohne Berücksichtigung der notwendigen Aufwertung (d.  h. also rein buchmässig!) stehen Dir noch zu 132 M. Diese Summe will Bondi auf 1000 Rentenmark aufwerten, die Dir somit ⸢noch⸣ zu zahlen wären. Ich bitte Dich dringend, in den letzten Apriltagen zu der Consultation zu kommen, Du machst Dir durch Zögern nur neue Leiden und Schwierigkeiten, und es ist für mich ungewiss, ob ich den jetzt zu jeder Hilfe bereiten Poll, der eine Amerikareise plant, so lange halten kann. Dein Ernst

400

382.  StG an EM

Briefwechsel 1924

v. d. 14. 4. 1924 Brief ohne Umschlag

L. E. ich bin mit allem was Du mit B. verabredet hast einverstanden. Von weiteren zahlungen seinerseits möchte ich vorläufig absehen. Vorläufig ist leider keine möglichkeit nach Berlin zu kommen. In kurzem bekommst du vertraulichen bericht über meine pläne und taten. Jezt sieht es ja schön in Deutschland aus! Erinnre Dich was ich anfangs des jahres schrieb! Auch an alles was ich Dir vor. winter sagte. Herzlich D. M.

383.  StG und MK an EM

Poststempel unlesbar, v. d. 19. 4. 1924 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50

L. E: ich danke Dir sehr für die auskünfte. Es wird also kaum etwas anderes übrig bleiben als Berlin ∙ und das binnen kurzem. Was aber soll ich mit der B’i-schen karte anfangen: mit der erklärung wo ich mich selber äussern müsste da ich hier aller grundlagen entbehre?765 Herzlichst D. M. wenden! Liebster Ernst: Ich bin froh ∙ in der grossen freude über Ihren brief gleich danken zu können! Die hoffnung auf baldiges wiedersehn die Sie aussprechen ∙ möge sich bald erfüllen … das Kl hat jezt schon sein herz voll dafür. Es ist sehr erfreut über den glücklichen aufstieg des S-o der die andere ‚literarische‘ geburt etwas zurückgedrängt zu haben scheint … seinen orakelhaften sinnspruch habe ich prinzlicher hoheit sogleich unterbreitet  – sie schien zwar durchaus getroffen ∙ aber schmerzlos … Wir spannen gemeinsam mit d. M. das Thema weiter und einigten uns ∙ nachdem bemerkt wurde dass ein b … der Schw W. allerdings die goldsubstanz eines erlauchten hauptes völlig verdunkeln könnte wie das Eintauchen des grossen Nikolas766 ∙ schliesslich darauf: „mit dem braun=werden ist es so: w man wird’s wenn man genügend wird“… Dies ist lakonisch wahr und jeder der es aus erfahrung bejahen kann · preise sein 765 Vgl. Br. 380. 766 Anspielung auf einige Verse in Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter, dort in Die schwarzen Buben: „Da kam der große Nikolas / Mit seinem großen Tintenfass/ […] / Bis über’n Kopf ins Tintenfass / Tunkt sie der große Nikolas“.

Briefwechsel 1924 401

glück. Noch besser freilich ist’s wenn man schwarz geboren wird – „solche haben gut reden“ versetzte der prinz. Hoffentlich führt der nun endlich beginnende frühling Sie mir oder mich Ihnen nahe … inzwischen bin ich in liebe Ihr  Mm Eine Jean=Paul schrift die geeigneter wäre als der „Titan“ wüsste ich kaum  …  .  . Die unsichtbare Loge ist zum anfangen minder geeignet und der Hesperus wird leicht abgelehnt oder langweilig gefunden von Knaben. Vielleicht vermag nach dem T. die „Levana“ das interesse des S-o zu erregen. Von sonstigem empfehle ich einstweilen A. v. Arnims „Kronenwächter“ lebhaft!

384.  StG an EM

14. 4. 1924 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: ich danke Dir für die auskunft Deines briefes und teile Dir die gründe meines zögerns mit. Erst durch Deinen letzten brief wurde mir ganz klar dass Du meintest ∙ ich führe zur besprechung nach Berlin um dann zurückzufahren und wiederzukommen. Bei den beschwerden die das reisen mir macht ∙ konnte ich nur eine einmalige fahrt annehmen um dann gleich zu bleiben. Wo hätte ich in der zwischenzeit wohnen sollen? Ferner wirst du selber wissen ∙ dass in der letzten zeit das wetter so unerträglich kalt war ∙ in Berlin noch schlimmer wie hier. Drittens ist de sind die klimatischen und andere bedingungen in Marb. sehr gut – das allgemeinbefinden lässt auf eine dringende gefahr nicht schliessen. Die vom arzt richtig gemachte bemerkung dass ein verzögern den zustand verschlimmerte ∙ habe auch ich gemacht und wäre trotz aller hindernisse auch nach B. gefahren. Das wichtigste scheint mir vorerst dass der stein bald entfernt wird. Doch sind die beschwerden nicht derart dass ich hier schon lang hätte handeln müssen. Wie jetzt der zustand ist ∙ halte ich ihn für jede art der behandlung operativer art für günstig und meine hoffnung ist ∙ dass er sich auch in den nächsten 14 tagen nicht verschlimmert. Von der erkrankung kann gesagt werden dass trotz des steines die katarrhalische entzündlichkeit fast ganz behoben wurde. Wäre die noch vorhanden ∙ so hätte ich freilich schon allein wegen der steinvergrösserungsgefahr längst schritte tun müssen. Ich kann sogar sagen ∙ dass sowol allgemeinbefinden wie das lokale leiden jetzt so gut sind wie selten.* Freilich ist eine 2mal tägliche katheterbehandlung mit spülung unerlässlich und ein

402

Briefwechsel 1924

drittes mal blosse katheterbehandlung. Das war aber alles in Berl. schon vor jahren nicht besser.767 Länger wie bis ende des monats hatte ich nie die absicht hinauszuschieben und hoffe dass dann noch alles gut sich einrichten wird. Die zwischenzeit zwischen besprechung und klinik könnte ich vielleicht bei Valentin [sic] zubringen.      Wegen der abmachungen und abrechnungen mit B–i soll mir alles recht sein. Was ich aber in der steuersache unternehmen soll ∙ kannst Du besser entscheiden wie ich. Ich freue mich sehr nach B. zu kommen um endlich mit Dir über alles Schwebende mich zu unterhalten.      *Die schmerzen sind recht erträglich ∙ waren früher viel mehr. Herzlichst D. M. Marb. 14. apr.

385.  StG an EM

19. 4. 1924 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Ich schicke Dir diese zettel. Ich bin völlig ratlos ∙ wie und wo ich sie ausfüllen soll und bitte Dich es zu tun. Herzlichst D. M. Marb. Oster-Samstag P. S: Am besten ist wol ∙ B – i bezahlt die steuer. Ich hoffe ∙ mitte nächster woche reisen zu können.

767 Damals (1918) hatte Professor Casper, ein Verwandter eines Schwagers von Morwitz, die Nierensteinzertrümmerung im Sanatorium an der Burggrafenstraße in Berlin vorgenommen.

Briefwechsel 1924 403

386.  StG an EM

2. 5. 1924 Brief ohne Umschlag

Leztwillige Verfügung Mein Erbe ist Dr. Ernst Morwitz Landgerichtsgerat z.  Z. Berlin Regensburgerstr: 29. Er ist jedoch verpflichtet meinen geschwistern 1. Anna George 2. Friedrich George beide z.  Z. Frankfurt a. M. die erträge aus meinen werken zuzuweisen ∙ aber nur ihnen persönlich zu ihren lebzeiten. Alle früheren leztwilligen verfügungen von mir sind damit aufgehoben Stefan George Berlin am zweiten mai 1924. Stefan George768

387.  MK an EM

n. d. 15. 5. 1924 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst∙ Das befinden ist sehr mässig, da der Ablauf durch Bluten und Gerinsel gestört ist. Für den Abend besorgen Sie wol etwas? Ich bin ab 6 Uhr dort – Ihr M. 769

768 Dieses Testament steht sicher in Zusammenhang mit der bevorstehenden großen Operation Georges um die Mitte des Monats Mai. 769 George war Mitte Mai 1924 in der Berliner Klinik des Urologen Ringleb, Augsburgerstraße, operiert worden, aus welcher er erst am 7. Juni entlassen wurde.

404

388.  StG an EM

Briefwechsel 1924

Poststempel Heidelberg, 17. 6. 1924 Postkarte nach Berlin W. 50

Lieber Ernst: D. M. teilt mit dass die Fahrt sehr gut verlaufen und er sehr gut angekommen ist. Heidelberg Dienstag

389.  EM an StG

10. 7. 1924 Brief ohne Umschlag

10. VII 24. Mein lieber Meister: Dieser Geburtstag trifft Dich nach langen Jahren wieder ohne das lästige Gefühl einer körperlichen Krankheit, so wird das neue Jahr wieder Früchte bringen! Da ich den festen Glauben habe, dass das Schicksal des ganzen Landes mit Deiner Person verknüpft ist, hoffe ich auch im äusseren auf eine Besserung. Am 15. VII will ich – wenn alles ordentlich geht – nach Brückenau (Hotel Füglein) Hoffentlich kommst auch Du dorthin. Peter wollte auf längere Zeit nach Brückenau kommen – ich habe ihm jedoch abgeraten (zur Vermeidung der Buhlerei) und ihm in Aussicht gestellt, dass ich lieber – falls Du es nicht missbilligst – auf einen Tag nach Wertheim reisen will.770 Silvio ist in Luzern, sein Freund H. auf dem Lande. Die Stadt also sehr, sehr leer. Einige gelungene Bilder lege ich bei, damit Du die Berliner Tage nicht nur im schlechten Andenken behältst.771 Immer Dein Ernst

770 Wertheim, Stadt im Main-Tauberkreis. Wolfgang Frommel hatte dort Abitur gemacht und blieb seinem Lehrer Willy Hellemann (alias Hans Boeglin) ebenso verbunden wie dem baltischen Baron Heyking, der dort im Sommerschlösschen residierte. In diese Runde führte Frommel auch Percy Gothein ein. 771 Die Fotos liegen dem Brief nicht mehr bei und sind in den Beständen des Stefan George Archivs nicht mehr identifizierbar.

Briefwechsel 1924 405

390.  StG an EM

Poststempel München, 1. 8. 1924 Brief mit Umschlag nach Bad Brückenau

Lieber Ernst: ich war die ganze zeit in und um München772 – ich kehre jezt vorläufig nach Heidelberg zurück und erwarte dort Wolfsbrunnenweg 12 Deine umgehende nachricht wie lang du noch in Brückenau bleiben wirst .  . Irgendwo müssen wir uns sehen Alles nähere mündlich St. G. München 31 juli

391.  StG und MK an EM

1. 8. [1924] Brief ohne Umschlag

Geliebte Schw. W: D. M. beauftragt mich zu fragen ∙ ob Sie etwas davon wissen ∙ dass Wo. die absicht haben soll ∙ das Lesebuch773 in deutschen lettern zu drucken. Eine antwort bittet er an die Heidelberger adresse: Wolfsbrunnenweg 12 zu richten. Meine eigene meinung über das ganze ∙ die mir zu äussern er­laubt wurde ∙ ist folgende: Bisher hatten unsere grössten namen (ausser Goethe) den schutz der verborgenheit. Der knabe oder jüngling konnte sie im augenblick der geis­ tigen reife kennen lernen ohne dass seine frische begeisterung von schulstaub angewidert wurde. Nun ist gefahr dass der name Winckelmann Jean Paul Herder Hölderlin durch eine verfrühte gewohnheitsmässige geläufigkeit seinen zauber ⸢für die jugend⸣ einbüsse. Und darum⸢zu⸣: diese männer populär zu machen ∙ sind wir nicht da. Wir können nur den besten sie deuten – dafür ist aber ein schulbuch der ort nicht. 772 George wohnte wohl in München bei Johann Anton in der Franz Joseph Straße und besuchte von dort aus Henry (1875–1928) und Emy (1873–1960) von Heiseler im Haus Vorderleiten in Brannenburg am Inn. Sie bedankt sich am 9. 8. im Namen von Henry von Heiseler und dem Sohn Bernt von Heiseler (1907–1969) für Georges Besuch und für ein soeben eingetroffenes Paket, das Blätter für die Kunst enthielt, für die sich dann auch Henry Heiseler am 19. 8. bedankt. Durch Georges Besuch sei wieder Ordnung in seiner Welt (StGA). 773 Der Deutsche. Ein Lesewerk erschien von 1925 bis 1927 in fünf Bänden beim Hirt-Verlag.

406

Briefwechsel 1924

Sogar bei den ausserordentlichen unter den schülern kann dies befremden wach werden: wie sollen wir unsrer geliebten Dichter und Führer774 in solch erniedrigender vermengung und zerstückelung wie sie ein L-buch mit sich bringt · geniessen wollen und in begleitung der ganzen Banalität des Schulgetriebts und der Gesichter der lehrer? Ist es nicht sinnwidrig ∙ grad dies Höchste Eine uns von solchen die es enstellen [sic]∙ in gemeinschaft mit solchen ∙ die es nicht fassen: in einer zusammenstellung die es herabmindert ∙ darreichen zu wollen? Wer aber sagt: dies muss jeder wagen der durch einen mutigen griff den geist dieser ‚bildungstätten‘ umformen will ∙ dem ist zu erwidern: diese umformung müsste vom Centrum ausgehn. Der lesestoff eines einzelnen faches kann am ganzen nichts ändern und die hierein verstreuten kostbarkeiten sind verschwendet. Auch dieser versuch hat wie alle: der öffentlichen erziehung aufzuhelfen ∙ gegen sich dass die voraussetzung unerfüllt ist: eine steigerung der gesamten bildung überlieferung persönlichen Cultur. Ehe sie sich verwirklicht ∙ d.  h. der neue geist das volk umgeschaffen hat ∙ ist alles andre vergeblich. Und jedermann weiss dass zu diesem schritt die stunde noch nicht gereift ist. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Die trennung von den geliebten Berliner freunden ist schmerzlich! Wie oft dachte ich an Sie und alle! Möchten Sie alles glück erleben mit Ihren neuen freunden.775 Ich fülle die zeit aus in harmonischem wechsel zwischen arbeiten ∙ dichten ∙ b  .  .  .  . .776 Jezt in den sommerferien hoffe ich für vieles frei zu sein ∙ was mir die aufgaben der vorigen monate verwehrten.

Ich hoffe ∙ dass bis wir uns wiedersehen ∙ uns allen schöne früchte gediehen sind. In verehrender liebe und stetem gedenken  Ihr Maxim                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       1. August

774 Kommerell spielt hiermit auf den Titel seines 1928 in der Reihe Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst bei Georg Bondi erschienenen Buchs Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik an, in welchem Klopstock, Herder, Goethe, Jean Paul und Hölderlin in je eigenen Kapiteln abgehandelt werden. 775 Zu den neuen von George bis dahin noch nicht geprüften und akzeptierten Freunden von Ernst Morwitz gehörte der schon mehrfach erwähnte Silvio Markees. 776 „Biesen“ steht für beißen und küssen.

Briefwechsel 1924/1925 407

392.  StG an EM

Poststempel Frankfurt, 17. 9. 1924 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50

Lieber Ernst: ich kann jezt die nächste zeit übersehen und hoffe ende sept in B. sein zu können. Alles geht nach wunsch. S∙o ∙ hab ich damals in H. gut gesehen. Leider hatte er durch unregelmässigkeit der reise grad etwas im magen. Ita sunt! Jezt kann ich dir manches genauere über ihn sagen … Ich dachte die ersten 8 tage bei V. zu weilen ∙ gieb ihm das einliegende!777 Vor den nötigsten abmachungen mit B. ist Grunewald nicht rätlich .  . Auf bald. wiedersehen dein S. G Königstein / Taunus Limburgerstr: 19

393.  StG an EM

Poststempel [Frankfurt], 24. 9. 1924 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50

Vorläufige Quittung Für Rechnung des Herrn Prof. Julius Landmann in Basel erhielt ich M. 2000.(zweitausend Reichsmark). Stefan George Grunewald 30. 12. 24.778

394.  StG und MK an EM

1. 1. [1925] Brief ohne Umschlag

L. E.  D. M. teilt mit dass er gut in H. angekommen ist und die lezten S. im begriff sind ihn zu 777 Eine Einlage ist nicht mehr vorhanden. 778 Die Differenz zwischen Datierung und Poststempel lässt sich durch eine Vorausdatierung Bondis erklären.

408

Briefwechsel 1925

verlassen – Es beginnt also eine arbeitsame zeit. Sobald D. M. H. verlässt ∙ teilt er es Ihnen vorher mit. Wegen der B. sache bittet er noch folgendes zu bemerken: unter anderem ∙ auf das genau aufzupassen ist ∙ müsste der termin der jährlichen abrechnungen präzisiert werden. Wenn die abrechnung wirklich erst ⸢auf⸣ märz des Neuen Jahres festgelegt werden muss ∙ muss zugleich für den Verf. vertraglich ausbedungen werden ∙ dass er nach 1. Jan. jederzeit vorauszahlungen erheben kann. Alle denken sehr an Berl. und das schon mythische S=haus779 und machen schon pläne für freudige ostern. Herzlichst Maxim 1. Jan.

395.  EM an StG

Poststempel unlesbar, 4. 1. 1925 Brief mit Umschlag nach Heidelberg, bei Dr. Kantorowicz Berlin 4. I 1925

Liebster Meister: Die Nachricht von Deiner guten Ankunft kam heute. Die Verhandlung mit B. soll nun bald in Deinem Sinn beginnen. Wir sehnen uns sehr nach den verflossenen Tagen und glauben noch immer nur in einen anderen Zustand hinübergeschlafen zu sein, aus dem wir wieder im S-Haus erwachen müssten.780 Diese letzten Tage war ich sehr viel mit Si. zusammen und habe beobachtet, wie schön er sich gewandelt hat und wie sehr seine Kraft gewachsen ist. Er liest jetzt viel – es sollte immer so sein, dass man die Dichterwerke erst nach dem eigenen entscheidenden Erleben liest! Morgen früh reist Woldi ab, ich habe ihn mit Sil. nicht zusammengebracht, auch nichts über Sil’s Erlebnisse erzählt. Ludwig wird morgen zurück erwartet. Neben mir steht Sil. und weist mich streng zurecht, wenn ich ihn beim Schreiben durch seines Erachtens 779 Kommerell bezieht sich auf das Pförtnerhaus einer Villa im Grunewald (Königsallee), in welchem er zusammen mit George und Johann Anton von Mitte Oktober bis Dezember 1924 wohnte. Hier nahm Ludwig Thormaehlen im Herbst 1924 auch die bekannte Fotografie von Stefan George und den Grafen Berthold und Claus von Stauffenberg auf. 780 Die neue Bezeichnung „S-Haus“ trifft auf jeweils für einige Zeit angemietete Wohnungen zu, in welchen sich ein oder mehrere der jüngeren Freunde aufhielten und wo George manchmal zu Besuch weilte.

Briefwechsel 1925 409

überflüssige Betätigungsversuche störe. Denke an uns und grüsse die jeweilig Vorhandenen. Dein Ernst Kurz nach Deiner Abreise kam ein älterer Litterat in meine Wohnung, verlangte Deine Adresse (ich gab zu seinem Ärger „Verlag Bondi“ als Adresse an), um Dir einen Brief zu übermitteln, der ihm wegen Namensähnlichkeit in der Regensburgerstrasse durch die Post zugestellt sei. Ich weiss nicht recht, ob die Sache wahr oder nur zwecks Anknüpfung erfunden ist.

Wir hoffen auf Ostern!

396.  StG an EM

v. d. 18. 1. 1925 Brief ohne Umschlag

L. E. mit freude empfing ich Deinen und des S. brief · ein nicht ganz gewöhnlicher weg auf dem man zum lesen des F. II gelangt! Als nachtrag zum gestrigen dass die correctur nicht so eilig erledigt zu werden brauchte · da eben Kstes sie nochmals durchsieht. Das wiederholte „erlesen“ kann ich heut nicht mehr auf seine absichtlichkeit hin prüfen dazu müsste ich ein früheres manuscript der stelle erst auffinden. Wem erregte es anstoss?? Vorläufig denke ich noch in H. zu bleiben · erst müssen alle druckbogen von T. u. T. vorliegen.781 Die beiliegende quittung bitte ich bei Bdi gegen meine persönlich auszuwechseln  – dann kannst du meine interimistische vernichten. Zsch. scheint alles gut besorgt zu haben .  . Allen S geht es gut. Sie sehen ein ⸢dass⸣ ein anno santo erst wieder durch tugendhaften wandel angesammelt werden muss was im lezten jahr etwas reichlich verausgabt wurde. Φν wie immer!            Herzlich d. M. Viele gestattete fern=grüsse dem Silvio!

781 Die Rede ist von der zweiten Ausgabe von Georges Tage und Taten, die Ende März 1925 erschien.

410

397.  EM an StG

Briefwechsel 1925

18. 1. 1925 Brief ohne Umschlag

18. I 25 Liebster Meister: die Quittungssache ist erledigt. Auf das Wort „erlesen“ hatte mich Bondi bei den Vertragsverhandlungen aufmerksam gemacht, deshalb mein Telegramm. A. Z. kam sehr froh über den erlaubten Heidelberger Aufenthalt zurück und hat ausführlich über die Diskussionen berichtet. Der Gegensatz zwischen Heidelberg und Berlin scheint sich in die „Formel“ wissenschaftlicher Eros gegen Neokosmos fassen zu lassen.782 Ach wenn’s nur so einfach wäre. Steins Habilitationsarbeit ist fertig und wissenschaftlich wie menschlich ausgezeichnet, ganz unkosmisch und eine neue Sehensart der Kunsthistorie, die schon mit dem „Raffael“ begann, ausbauend.783 Erich ist für längere Zeit hier und scheint viel zu arbeiten.784 Von Peter kam ein für mein Gefühl schönes gedichtetes Zwiegespräch aus Palermo.785 Er nahm mein Schreiben, dass Du vor allem eine Festigung seiner Stellung nach aussen hin erwartetest, durchaus ruhig und sogar innerlich ernsthaft zustimmend hin. Neben mir sitzt S  – ist der s ! Er schreibt auch an Dich, ich soll seinen Brief mitbefördern. Ich glaube auch bei möglichst parteiloser Sicht seine Fortschritte nicht nur innen (was selbstverständlich wäre!) sondern auch aussen feststellen zu können. Was könnte ich mehr wünschen, als dass er auch in Zukunft jede Form seines Alters so richtig ausfüllt und nutzt, wie bisher! Er denkt sehr viel an d. M und nicht wenig – kann man schon sagen – an seinen Löwen.786 Die neuere Form der Erziehung ist 782 Als Analogiebildung zu den Münchner Kosmikern Klages und Schuler um die Jahrhundertwende bezeichnet Neokosmos eine von George kritisch gesehene Geisteshaltung und Geisteswissenschaft, die vor allem von Wilhelm Stein in seiner Raffael-Studie sichtbar gemacht wurde und im Berliner Kreis um ihn vertreten wurde. Der Terminus wurde auch zunehmend zur Ausgrenzung und Abgrenzung von Stein und Morwitz verwendet. 783 Stein habilitierte sich 1925 in Bern mit einer schmalen Arbeit Die Bildnisse von Roger van der Weyden. 784 Erich Boehringer studierte Klassische Archäologie, Alte Geschichte und Griechisch, u.  a. auch in Berlin. Am 28. 11. 1925 wurde er in Würzburg mit summa cum laude promoviert. Kurz darauf trat er in Rom eine Stelle am Deutschen Archäologischen Institut an. Vgl. Anm. 558 und 710. 785 Gotheins Zwiegespräch, aus Palermo an Ernst Morwitz gesandt, konnte bislang nicht ermittelt werden. 786 Gemeint ist Walter Anton, im Kreis der „Löwe“ geannt. Walter Anton (1903–1955), der jüngere Bruder Johann Antons, gehörte seit 1923 zum Kreis der jüngeren Freunde

Briefwechsel 1925 411

Coeducation, durch die Erziehenden untereinander – bei ganz jungen Wesen wohl die einzige Möglichkeit jetzt. Wären wir nur bald bei Dir! Grüsse an all die Häus’chen Insassen787 und den Heidelberger Geist  Dein Ernst. B. scheint über Dein Schweigen sehr beunruhigt, er schreibt alle paar Tage nichtiges in der Vertragsache an mich, um Verbindung aufrecht zu erhalten.

398.  StG an EM

Poststempel Frankfurt, 2. 2. 1925788 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50

Liebster Ernst: ich hatte die ganze zeit noch mit der absendung des unterschriebenen vertrags gewartet weil mir doch einnige wesentliche bedenken kamen die ich anfangs nicht zu fomulieren vermochte. Inzwischen ist noch ein ereignis eingetreten das nicht vorauszusehen war: der plötzliche tod meines bruders789 .  . Noch vor einigen jahren hätt ich nicht daran gedacht dass ich ihn überleben würde … Nun muss ich erst eingehend mit meiner schwester sprechen und erfahren wie deren äussere lebensumstände sich gestalten werden – eh ich den Bondischen vertrag in dieser form abschliesse. Ihr vermögen steckt in dem geschäft in dem mein bruder teilhaber war ∙ und den grössten teil der arbeit bewältigte. Der mit-inhaber (erbe durch seine frau) ist nicht sehr arbeitsam und vertrauen-erweckend. Sonst weiss ich wenig muss aber das wichtigste in erfahrung bringen um meine schwester sicher zu stellen .  .  .  .

um Friedrich Wolters und Walter Elze. In München organisierte er 1930 Aufenthalte Georges. In den Jahren vor 1930 trafen sich in Antons Münchner Wohnung nicht nur Stefan George und Kommerell, sondern auch Silvio Markees bei dessen Kurzaufenthalt. Nach dem Freitod Johann Antons 1931 besuchte sein Bruder, der praktizierender Arzt war, George auch in Minusio. 787 Möglicherweise sind hier die ehemaligen Bewohner des sogenannten Pförtnerhauses in Berlin gemeint. George hatte von Mitte Oktober 1924 bis Ende Dezember oder Anfang Januar 1925 mit Max Kommerell und Johann Anton in dem kleinen Häuschen, das zu einer Villa in der Königsallee im Grunewald gehörte, zusammen gewohnt. Dort hatten ihn unter anderem auch die jungen Grafen von Stauffenberg besucht. 788 Auffällig flüchtige Kurrentschrift Georges. 789 Friedrich Johann Baptist George (16. 12. 1870–25. 1. 1925). Briefe von ihm an George liegen vor allem aus der Mitte der 1890er Jahre vor, die er in Brüssel verbrachte; sie lassen in dieser Zeit eine gewisse Nähe vermuten. So pflegte George den Bruder im Juli 1896, als dieser in Brüssel schwer erkrankt war. Seltsamerweise brechen die heute bekannte Korrespondenz und ihre Überlieferung 1905 abrupt ab.

412

Briefwechsel 1925

Nun noch zu einigen mir wichtigen dingen des B’schen vertrags: die garantiesumme betreffend. Da kannst du mir leicht meine einwände einsehen ∙ bezw. zurückweisen. In dem schlechten jahr 24 (besser nur in den lezten monaten) wird mein anteil am gewinn etwa 2000 Mk betragen. Worin besteht da die B’sche leistung gegenüber den grossen abtretungen die ich ihm in dem neuen vertrag mache? Und zweitens: die skurrile geldentwertung der vergangenen jahre wird wol so nicht mehr kommen doch leicht kann es so werden dass ⸢du⸣ für eine goldmark grad noch ein zündholz bekommst. Was bedeutet jede garantiesumme wenn das heut 5 mk kostende buch 25 mk kostet? Dann steigert sich die gewinnanteil summe ∙ aber die garantie summe (für den einen wie für den zweiten §) ist illusorisch Liebster E. schreib mir darüber kurz was du denkst G Ich konnte noch nicht weit verreisen – eine woche werd ich noch hier bleiben müssen Die eingangs des briefs erwähnten umstände kannst du Bondi auf befragen mitteilen

399.  StG an EM

ca. Mitte Februar 1925 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: ich danke Dir sehr für Deine ratschläge und werde sie beherzigen. Du kannst Dir denken wie ich jetzt den kopf voll habe. In einem aber kann ich Deine ansicht nicht teilen. Die allgemeine bezauberung der goldmark: ich glaube dass auch diesmal der teufel durch das loch kriecht wo keiner es sieht. Wie ich Dir schon sagte bei einer ungewöhnlichen teurung die eintreten wird ist auch die goldmark keine sicherung und kein maassstab weit eher der heutige preis des pfunds brot oder eines buches. Mit andren worten: auch eine vergrösserte Garantie-summe ist bedeutungslos ohne berücksichtigung jenes Index!

Das Kllste grüsst herzlichst D. M. gibt demnächst neue adresse an

Briefwechsel 1925 413

400.  StG an EM

Poststempel München, 20. 4. 1925 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: Eure briefe haben uns sehr gefreut.790 Wir denken häufig an Euch ∙ leider ist der ganze staat noch recht verseucht. Nun den [sic] dörrungen schwerer art: Ich würde es für tunlich halten beim finanzamt beschwerde einzulegen. Die summe erscheint mir ungeheuerlich hoch und wenn man sich solche überbesteuerungen gefallen lässt ∙ wird es jedesmal schlimmmer. In der amtsgerichtssache erblicke ich ein versehen: weder ich noch meine schwester sind gesellschafter der firma ∙ sondern laut gesellschaftsvertrag haben wir nur das recht ∙ die auseinandersetzung zu verlangen und über das uns zustehende kapital zu verfügen. Den zettel werde ich meiner schwester schicken. Sie wird einen identischen erhalten haben und kann sich mit ihrem rechtsanwalt besprechen. Ich von meiner seite werde nichts antworten. Dass ich damals die erbschaft annahm ∙ hat darin seinen grund ∙ dass mir allseitig geraten wurde ∙ die sache der Schwester nicht allein zu überlassen ∙ auch deshalb weil bei einer teilung die erbschaftssteuer geringer ist. Was Wenn ich dann den ertrag meines anteils der Schwester zuwende ∙ so ist das meine sache. Auf Roberts 791 rat werde ich einen Bevollmächtigten und Sachverständigen ernennen da es mir unmöglich ist ∙ mit solchen dingen meinen kopf anzufüllen. Ich möchte Dich noch in folgender sache um rat fragen: ich hatte damals auf dessen wunsch dem prokuristen der firma eine vollmacht erteilt in allen steuerangelegenheiten mich zu vertreten da er dies gleich im anfang für nötig erklärte. Zieht diese vollmacht weiterungen nach sich? und was kann er überhaupt damit beabsichtigt haben? Da dieser prokurist selbstverständlich weit mehr die interessen der firma als unsre ∙ der erben ∙ vertritt ∙ war es vielleicht unklug diesen mann überhaupt mit einer vollmacht auszustatten. Ich hoffe dass alle diese dinge demnächst sich in erfreulicher weise lösen. Alle ∙ auch das Kleinste ∙ grüssen!    20. april Umseitig eine copie der zuschrift des amtsgerichts.

790 George bedankt sich für Morwitz’ Brief vom 18. 1. 1925 (Br. 397), dem wohl ein solcher von Markees beilag. 791 Robert Boehringer hatte nach seiner Verehelichung ca. 6 Jahre in einer Art Verbannung zugebracht. Erst 1925 kam die Wiederannäherung zustande und Boehringer wurde mehr und mehr zu Georges Berater in rechtlichen und wirtschaftlichen Angelegenheiten.

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Briefwechsel 1925

Amtsgericht, Abt. 16 16 H. R. A. 927 –33        Frankfurt a / M. den 8. April 1925 In der Handelsregistersache der Firma Gebr. Steinbach zu Frankfurt a / M. sind als Gesellschafter der vorgenannten Firma Franz Joseph Steinbach und Friedrich Johann Baptist George eingetragen. Nach den hier eingetroffenen Feststellungen sind beide Inhaber gestorben. Als Nacherbe der vorgenannten Gesellschafter werden Sie aufgefordert innerhalb 2  Wochen die durch den Tod der Gesellschafter eingetretenen Änderungen in Gemeinschaft mit den übrigen Erben in notariell beglaubigter Form hierher anzumelden. gez. Feja, Justizobersekretär beglaubigt Kanzleisekretär

(Gerichtsschreiberei d. Amtsgerichts Abteilung 16, Frankfurt a. M. 16. H. R. A. 927                  –33-     )

401.  StG und MK an EM

23. 4. 1925 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Danke für Deinen nachrichten. Ich habe Dir ganz das richtige mitgeteilt · denn in dem vertrag steht deutlich: z· Zitat „stirbt Herr G. ohne hinterlassung von ehelichen nachkommen  · so kann der überlebende gesellschafter das geschäft übernehmen indem er die gesetzlichen erben nach massgabe des §  2 herauszahlt. Macht er hiervon hiervon [sic] keinen gebrauch · so tritt liquidation ein ….“ Was soll ich auf den zettel des amtsgerichts antworten? Wenn Du die abschrift mit dem brief nicht vernichtet hast  · so schick sie mir wieder. Eine andere frage ist freilich die: hat der übernehmende ⸢leb⸣  gesellschafter nicht nachträglich sich besonnen: die erben als gesellschafter anzunehmen  · für vorteilhafter zu halten? Darauf würde ich mich auf keinen fall einlassen da

Briefwechsel 1925 415

ich die erbschaft anzunehmen mich entschloss auf grund der im vertrag vorgesehenen situation. Alle S s. grüssen alle S s. Herzlichst D. M. 23. aqr. april Das bild des patriarchen hat uns sehr gefreut. Es wurden merkwürdige ähnlichkeiten mit jemandem daran entdeckt. Doch ist er ganz erstaunlich ungeb ….

402.  StG und MK an EM

2. 5. 1925 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: D. M. dankt für Ihre nachrichten und lässt als antwort folgendes mitteilen: Es wäre wol das beste ∙ Sie würden den verlag wegen jener anfrage der Akademie in diesem sinne ⸢telefonisch⸣ verständigen: dass D. M. bisher nie an solchen dingen sich beteiligt hätte und also auch in diesem falle keine ausnahme machen könne.792 In der angelegenheit Landm.793 wolle d. M. nicht gerne eingreifen ∙ auch in der anfrage des Wolfsbr. Ernst794 kann er sich nichts äussern da ihm noichts bestimmtes vorliegt. 792 Die Preußische Akademie der Künste hatte über den Verlag Georg Bondi angefragt, ob George eine Wahl zum Mitglied annehmen würde. George hatte abgesagt. 793 Sachverhalt unbekannt, könnte mit Krankheit und Tod der Tochter Eva im Jahre 1925 zusammenhängen, ebenso aber mit Landmanns beruflichen Schwierigkeiten in der Schweiz. Zu Beginn des Jahres 1925 litt Julius Landmann unter schwerer nervöser Erschöpfung. 794 Gemeint ist Ernst Kantorowicz (1895–1963), der damals in Heidelberg im Wolfsbrunnenweg 12 logierte. Der später berühmte Historiker diente u.  a. bei der Feldartillerie, 1918 gehörte er der Deutschen Volkswehr in seiner Heimatstadt Posen an und schloss sich als Student in München 1919 der gegenrevolutionären Volkswehr an. Ab September 1919 studierte er in Heidelberg Nationalökonomie, Wirtschaftsgeographie und Arabische Philologie. Vermittelt durch seinen mit Friedrich Gundolf befreundeten Schwager Arthur Salz kam er in Kontakt mit Woldemar von Uxkull, der sein Freund und Liebhaber wurde. Mit ihm teilte er in Heidelberg die Wohnung, in der sich ab 1923 auch George wochenlang aufhielt. George regte die große Arbeit über den Stauferkaiser Friedrich II. (Kaiser Friedrich der Zweite) an und ließ sie 1927 bei Bondi in seiner Reihe erscheinen. Er schätzte den eleganten und gewandten jungen

416

Briefwechsel 1925

Die erkrankung des S. wird allseitig aufs lebhafteste bedauert ∙ man denkt seiner in herzlichkeit und wünscht baldige genesung.795 Über die lichtbilder von dem fertigen bronzewerk haben wir uns alle sehr gefreut und häufig besprochen. Die gemeinsame ansicht geht etwa dahin dass dies werk ein höchst bedeutungsvoller schritt zur einheitlichen plastischen darstellung ist. Die geberde ist nicht starr sondern belebt … die partien von der brust an abwärts ausserordentlich gelungen. Wenn aber im kopf das eigenst=lebendige des S. vermisst wird ∙ so ist überhaupt die staatlich=geistige bestimmtheit ∙ der neue typus noch nicht deutlich genug gefasst .  . Es ist zwar unendlich viel besser als alles moderne ∙ jedoch artmässig noch nicht unbedingt davon unterschieden. Diese einwände entstammen jedoch mehr der absoluten forderung  – angesichts der augenblicklichen leistung und des augenblicklich möglichen ist alles voll lob.796 Ich füge zu den grüssen des M. die aller Sse hinzu797  Ihr Maxim. 2. mai 25.

Mann sehr, den er unter anderem als „Zyniker“ bezeichnete oder auch als Chevalier. Kurt Riezler holte ihn 1930 als Honorarprofessor (er war nicht habilitiert) an die Frankfurter Universität, wo er 1932 zum ordentlichen Professor ernannt wurde. Berühmt wurde seine zweite Antrittsvorlesung zum Thema „Das geheime Deutschland“, gegen die nationalsozialistische und völkische Studentenschaft gerichtet. Erst im Dezember 1938 gelang ihm die Flucht nach England und im Februar 1939 nach New York. Er konnte nach großen Hindernissen schließlich in Berkeley mittelalterliche Geschichte lehren. Nachdem er 1949 den Loyalitätseid (Anti-Kommunisten-Eid) aus prinzipiellen Erwägungen nicht zu leisten gewillt war, wurde er entlassen, 1951 aber ehrenhaft auf seine letzte Stelle in Princeton berufen. Obwohl er sich stark von seinem Friedrich II.-Buch distanzierte, blieb er in der Erinnerung George immer treu. Neben seinem Bett stand Georges Fotografie. 795 Laut Morwitz war Silvio Markees an einer schweren Lungenentzündung erkrankt (BB). 796 Es handelt sich um die Ganzkörperfigur des Silvio Markees von Alexander Zschokke aus dem Jahr 1925. 797 In München waren zum gegebenen Zeitpunkt die folgenden ‚Staatsstützen‘ versammelt: Johann Anton, Walter Anton, Max Kommerell und die Grafen Alexander (1905–1964) und Berthold (1905–1944) von Stauffenberg. Alexander, später Professor der Altertumswissenschaften, Zwillingsbruder von Berthold, kam über seinen Vetter Woldemar von Uxkull 1923 in Berührung mit George. Obwohl der dichterisch begabteste der drei im Stuttgarter Alten Schloss und in Schloss Lautlingen aufwachsenden Brüder, zog George ihm vor allem den Zwilling Berthold vor, der nach dem Abitur 1923 Rechts- und Staatswissenschaften studierte und 1929 mit einer Arbeit über Russische Handelsvertretungen erfolgreich promovierte. George widmete ihm

Briefwechsel 1925 417

403.  MK an EM

Poststempel München, 19. 5. 1925 Postkarte nach Berlin W.

Lieber Ernst: d. M. ist noch ein paar tage hier und wartet sehr auf weitere nachricht über das ergehen des S. Herzlichst Ihr Mm 19. mai 25.

404.  StG an EM

Poststempel Königstein, 22. 6. 1925 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Adr: nur für S : Königstein Limburgerstr: 19 Liebster Ernst. Hoffentlich machst du deine versprechung wahr und kommst im juli in unsre gegend. Was macht S-o? Heute als wichtiges. Peter ist aus Italien zurück ¼ jahr vor ablauf seines stipendiums ∙ und wie es scheint ohne die arbeit zu vollenden (zu welchem zweck er’s bekam). Nun schreibt mir sein beschützer Karo (der’s ihm verschaffte) ganz unglücklich über des P’s dissolute art.798 Dich wollt ich dringend bitten wenn er sich an dich wenden sollte ∙ nichts zu tun oder zu sagen ohne mit mir rücksprache genommen zu haben. Wir müssen uns hier in die hände arbeiten ∙ sonst entsteht schlimmes. Mit seinem pf∙ ist er noch unzertrennlich.799 Das „werk“ hat den preisenden zweiteiligen Spruch „B. v. St.“ (SW IX, 85) und machte ihn schließlich 1932 zum Nacherben an der Seite von Robert Boehringer. Anders als Alexander, der als offener Gegner der Nationalsozialisten wohl nicht in die Umsturzpläne eingeweiht war, stand Berthold als Mitverschwörer an der Seite des Attentäters Claus von Stauffenberg und wurde nach dem Attentat am 20. Juli 1944 und Verhören durch die Gestapo am 10. August 1944 hingerichtet. Alexander wurde wie auch die Frauen und Kinder der Brüder in Sippenhaft genommen und kam erst nach Kriegsende frei. Zum 10. Todestag Georges schrieb er das unter den noch lebenden Freunden umstrittene Langgedicht „Der Tod des Meisters“. 798 Professor Georg Karo hatte am 17. 6. aus Halle George von der verfrühten Rückkehr berichtet, und dass Percy Gothein jetzt bei einem von ihm nicht geschätzten Freund wohne. Karo schlägt Wolters als Aufpasser vor, sieht Gothein in Gefahr und würde gerne mit George über ihn sprechen. Am 5. 7. antwortet George Karo schriftlich, dass er Wolters nicht als Lösung sehen könne und seine eigenen Einflussmöglichkeiten als beendet betrachte (StGA). 799 Gemeint sein dürfte der von George als „Pfaffe“ bezeichnete Wolfgang Frommel. Dieser war ein Sohn des Heidelberger Pfarrers und Professors für praktische Theologie

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Briefwechsel 1925

er wol versprochen genau zu überarbeiten ∙ ich halte nicht sehr viel von dieser anstrengung. Mit seinen S. hab ich auch kein grosses vertrauen (ich habe abgelehnt sie diesmal zu sehen.)800 P. weiss die hiesige wohnung nicht

Der P. lebt verstrickt in einer täuschungswelt  .  . Was er will dazu reicht es nicht ∙ und gefahr ist sehr gross: dass hier zum erstenmal ein Näherer zum zauberlehrling wird ∙ d. h zur fratze meiner person.801

405.  EM an StG

n .d. 22. 6. 1925 Brief ohne Umschlag

Freitag Liebster Meister: Ich hätte schon früher die Post nachgeschickt, wenn ich eine Adresse gewusst hätte, denn nach dem Inhalt des vorletzten Briefes hielt ich das Männerhaus für aufgelöst. Silvio geht es gut, sein Brief liegt bei. Er grüsst alle Freunde und lässt um Entschuldigung bitten, wenn er noch nicht gesondert an Alle schreiben kann. Heut war er zum ersten Mal auf der Strasse, er ist lang und geistig geworden und manche materiellen Härten auch im Gesicht sind verschwunden. Zu seiner Bildung versorg ich ihn jetzt mit viel „Lesestoff“ aus der Weltlitteratur, er ist soweit, dass er viel verdauen lernen muss. Von mir ist wenig zu sagen. Ob ich reisen kann, ist sehr fraglich. Meiner Mutter geht es körperlich nicht schlecht, allein geistig wird sie immer einseitiger auf ihr Befinden gerichtet, deshalb wechseln melancholische- mit Angstzuständen. Silvio hofft auf der Rückreise von der Schweiz vor Schulbeginn (zwischen 5 und 12 August etwa) Dich in Deutschland aufsuchen zu können, falls Du erreichbar bist und nicht etwa selbst nach Graubünden gehen solltest. Zum Glück ist seine Lunge organisch ganz gesund.

Otto Frommel. Wolfgang Frommel selbst hatte sich noch 1921 zum Pfarrer berufen gefühlt. 800 Zu Gotheins und Frommels jungen Freunden gehörten Schüler des Wertheimer Gymnasiums wie die Brüder Achim und Hasso von Akerman oder Wolfram Lange-Dedekamp. George hatte angeblich einmal Hasso von Akerman im Jahr 1924 empfangen. 801 Morwitz lässt sich kritisch aus den 1960er Jahren rückblickend über Gothein folgendermaßen aus: „Von der Natur mit ungeheurer Kraft ausgestattet, beschlief er alles was ihm in den Weg kam und das mag zu seinem Ruin beigetragen haben“ (BB).

Briefwechsel 1925 419

A. Z.’s Figur wird nun vielleicht auf Grund einer bereits eingeleiteten privaten Sammlung doch wohl für das Basler Gymnasium gekauft werden.802 Grüsse an Alle von Herzen Dein Ernst.

406.  EM an StG

24. 6. 1925 Brief ohne Umschlag 24. Juni 1925 Regensburgerstr. 29

Geliebter Meister: Deine petroïden Bedenken erscheinen mir leider nur allzu begründet. Er scheint mir nach seinen Briefen jeden Realitäts-Sinn verloren zu haben  – ich habe ihn sehr gewarnt, auch geschrieben, dass eine grosse Geste sehr leicht hohl werden könnte (ich meinte damit seine eigene Führung!) fürchte aber, dass sein jetzt offenbar übersteigertes Selbstbewusstsein mich nicht verstanden hat. Eine Unterstützung für die Reise seiner Zöglinge habe ich abgelehnt, da mir die ganze Sache nicht geheuer vorkommt. Ludwig ist von mir im Sinn Deines Briefes benachrichtigt. Man erzählte mir, er habe sich in Italien als „Meister“ aufgespielt – ob es wahr ist, weiss ich nicht.803 Also wirklich Zauberlehrling.804 Als erfreuliche Nachricht, dass Ludwig Custos an der National-Galerie geworden ist. Silvio ist am Sonntag nach Arosa, Hotel Beaurivage, gereist. Seinen Brief lege ich bei. Er ist durch die Krankheit sehr gereift. Körperlich schlank und gross, mehr vertikal als horizontal gegliedert und von einem

802 Alexander Zschokke (1894–1981), Basler Maler und Bildhauer, Freund Wilhelm Steins. Ab 1919 in Berlin ansässig, begann er im Atelier Thormaehlens seine Bildhauertätigkeit, die ihm in den Jahren 1931–1937 die Leitung einer Bildhauerklasse an der Kunstakademie in Düsseldorf eintrug und ihn nicht nur im Umfeld Georges und in Basel als Gestalter von Bildnisplastiken bekannt machte. Ab Mitte der 1920er Jahre fanden Treffen und Lesungen Georges auch in seinem Berliner Atelier statt. Im Basler Atelier Zschokkes wiederum entstanden viele Fotografien von George und Freunden, die später als Vorlage für plastische Bildnisse dienten. 803 Percy Gothein hatte einen Stipendienaufenthalt in Italien gewährt bekommen, den er frühzeitig abbrach. 804 Anspielung auf Goethes Ballade „Der Zauberlehrling“.

420

Briefwechsel 1925

einheitlichen Fluss im ganzen Aufbau, geistig viel beweglicher und durch das körperliche Leiden schmiegsamer und gerührt. Du wirst grosse Freude an ihm haben! Um den 11. 8. muss er zur Schule zurück sein. Unmittelbar vorher hofft er die Rückreise so einrichten zu können, dass er einen oder zwei Tage an Deinen Aufenthaltsort kommt. Bitte gib Nachricht, wo Du um diese Zeit sein wirst. Seine Erkrankung war kein Zufall, er hat durch sie in seiner Entwicklung einen Schritt gemacht, der ihm sonst versagt geblieben wäre. Mir geht es insofern nicht gut, als ich viel um meine Mutter leide. Ihr Alter drückt sich in einer Melancholie aus, die sie nur auf sich selbst zu starren zwingt. Wegen ihrer Angst um sich selbst erträgt sie nicht einen Augenblick des Alleinseins. Ich ärgere mich, dass ich gegen ihr Leiden abstumpfe, aber ihre Gedanken folgen nicht mehr in der Reihenfolge wie früher und so entsteht eine unüberbrückbare Kluft, denn ich kann mich ihr nicht mehr verständlich machen. Ob ich unter diesen Umständen reisen kann, ist sehr fraglich. Rechnen kann man jedenfalls für die nächste Zeit nicht damit. Sei herzlich gegrüsst Dein Ernst.

407.  EM an StG

30. 6. 1925 Brief ohne Umschlag

30. 6. 25 Liebster Meister: Hier folgt eine Steuererklärung, die ich Dich auszufüllen und zu unterschreiben bitte. Dazu bemerkt Bondi, dass Deine Einnahme bei ihm für das ganze Jahr 1924 – 3124,95 M beträgt (davon stehen dir noch etwa 2980 zur Verfügung) Die Einnahme von 1925 lässt sich erst ⸢Anfang⸣ 1926 beziffern. Deklarieren sollst Du die Einnahme im II Kalendervierteljahr 1925. Da diese sich nicht beziffern lässt, kann in diesem Sinn das Formular ausgefüllt werden. Oder soll man angeben, was du 1924 im ganzen Jahr vereinnahmt hast? Oder soll man einfach ¼ der vorjährigen Summe angeben? Gib sofort Nachricht, da die Erklärung bis zum 10. VII eingereicht werden muss. Hier nichts besonders. S. wird Dir direkt schreiben. Von Peter habe ich nichts weiter gehört. Meiner Mutter geht es geistig schlecht, auch nimmt die Körperschwäche zu.

Briefwechsel 1925 421

Via Christiane Hofmannsthal-Lindenthal805 kam dass H v. H. bei seiner kürzlichen Pariser Reise als „Deutscher Schriftstellerrepräsentant“ überall nach Dir in Paris, sogar auch in Marokko beim Marschall Liautey gefragt worden ist. Der wird schöne Augen gemacht haben.806 Dein Ernst

Grunewald. 29. Juni 1925. Herrn Dr. Ernst Morwitz, Berlin. Lieber Herr Doktor! anliegend übersende ich Ihnen das Steuerformular für St. G. Ich bemerke dazu folgendes: Ich habe George am 1. April d. J. das Honorar für den Absatz des Jahres 1924 in Höhe von M.  3124.95 gut gebracht. Davon sind bezahlt am 16. 4. M. 132. – und am 17. 4. M. 31.05 (das waren Ausgaben für Georges Steuern). Der Rest steht noch zur Verfügung von St. G. Weitere Honorare wird George in diesem Kalenderjahr nicht mehr beziehen, da der Absatz d. J. ja erst Anfang 1926 berechnet werden kann. Ich muss es daher Ihnen überlassen, wie Sie die Steuererklärung ausfüllen wollen: ob jetzt die ganze Summe und in den beiden nächsten Quartalen nichts, oder in anderer Weise. Jedenfalls bitte ich um umgehende Nachricht, wie Sie deklariert haben, weil ich danach die Steuern bezahlen muss. Die Deklaration muss bis zum 10. Juli erfolgt sein. Der neue Dante wird in einigen Tagen erscheinen.807 Können Sie mir sagen, wohin ich George einige Expl. senden soll? Mit herzlichen Grüssen Ihr G Bondi

805 Die Nachricht kam von Christiane von Hofmannsthal (1902–1987), einzige Tochter Hugo von Hofmannsthals, ab 1928 mit dem Indologen Heinrich Zimmer verheiratet, über Morwitz’ Freund Walter Lindenthal (BB). 806 Hubert Lyautey war von April 1912 bis zum 25. 8. 1925 französischer Generalresident in Marokko, seit 1921 auch Marschall von Frankreich. Hofmannsthal reiste in Begleitung des österreichischen Presseattachés im März 1925 über Paris nach Marokko und besuchte dort Fes, Rabat, Salé und Marrakesch. 807 Ende Juni/Anfang Juli 1925 erschien die „vierte erweiterte Auflage“ von Dante. Göttliche Komödie. Übertragungen von Stefan George bei Georg Bondi in Berlin.

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408.  StG an EM

Briefwechsel 1925

Poststempel Königstein, 3. 7. 1925 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: Ich habe mich gewundert ∙ das steuerformular hierher zu bekommen. Ich weiss wirklich nicht wie ich es ausfüllen soll und wo der vermerk hinzusetzen ist dass die einnahme von 25 erst 26 sich beziffern lässt. Ich sende jedenfalls das formular unterschrieben zurück. Vielleicht entscheidet Bondi oder Du was günstiger ist. Brief von Silvio haben wir bekommen: der an den Löwen wird weitergeleitet. Ich möchte noch fragen wie das hotel wo du voriges jahr in Brückenau warst ∙ sich nannte und wie es dort mit ruhe und dergleichen bestellt war Herzlichst D. M. Freitag

409.  EM an StG

8. 7. 1925 Brief ohne Umschlag

8. 7. 25 Liebster Meister: Eben erledige ich mit Bondi die Steuersache. Ohne Deine Unterschrift ist überhaupt nichts zu veranlassen. In Bad Brückenau gibt es überhaupt nur zwei Hotels (beide mit Dependancen): das Staatliche Kurhaus und Hotel Füglein. Das Kurhaus ist etwas teurer. Ich wohnte bei Füglein, dort war das Essen ausgezeichnet und in der Villa Füglein (in der nicht gegessen wird) ist es auch vollkommen ruhig. Die Mahlzeiten (bis auf Morgenkaffee) muss man im Hotel Füglein, 5 Minuten von der Villa entfernt, einnehmen. Der Ort ist weit schöner als Wildungen, der Wald grenzt unmittelbar an das Haus. Falls Du hingehst berufe Dich auf mich, schreibe aber vorher wegen Platzes. Zum Geburtstag, liebster Meister, wünsche ich Dir ein Jahr mit glücklicher Vollendung aller Pläne! Ich bin ohne S. sehr einsam hier – meine Hoffnung ist nur, dass er Dich auf seiner Rückreise wird sehen dürfen. Am Dienstag den 11. 8. muss er wieder in Berlin sein. Gib bitte rechtzeitig Nachricht über Deinen Aufenthaltsort für die Zeit zwischen 7. und 10. August! Herzlichst Dein Ernst. Die Dante-Exemplare lasse ich dir nach Heidelberg senden. Von Bondi soll ich berichten, dass er nicht schon im September, Oktober verreisen wird – wie er Dir bei Eurem letzten Zusammensein erzählte, sondern

Briefwechsel 1925 423

dass er frühestens Mitte November eine kurze Reise macht, so dass es ihn freuen würde, wenn Du ⸢den⸣ September, Oktober und erste Hälfte November bei ihm wohnen würdest.

410.  StG und MK an EM

13. 7. 1925 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: Erstens schicke ich im auftrag des M. einen Löwenbrief für Silvio 808. S. schrieb dem M. dass sich sein aufenthalt ändere – da der M. aber die neue adresse nicht weiss ∙ sendet er den brief an Sie ∙ samt einem bild für Silvio um das er gebeten hat. Ferner bittet der M. den eingelegten brief an W. in Berlin einzuwerfen. Drittens möchte er erfahren ∙ wie das haus in Wildungen heisst in dem Ludwig seinerzeit gewohnt hat. Er bittet ∙ dies von ihm zu erfragen ∙ doch soll die beantwortung nicht dem L. überlassen bleiben ∙ sondern Sie möchten bitte selbst darüber berichten. Den grüssen des M. füge ich die meinen bei: Herzlich Ihr Maxim 13. VII. 25 D. M. musste an Bondi die hiesige adresse einer geldsendung wegen mitteilen ∙ fügte aber hinzu dass sie nur für diese sendung gelte. Sollte B. deswegen fragen ∙ so bittet der M. zu antworten: dass es möglich wäre dass d. M. einige tage hier gewesen sei. Dem M. wäre daran gelegen zu erfahren was aus der lezten Adjib-aufnahme im Fasanenatelier geworden sei809 – und dass man ihm wenn möglich eine probe davon sende.

808 Brief Walter Antons. 809 In Charlottenburg, Fasanenstraße  13, befand sich das Atelier von Alexander Zschokke. Nach dessen Aufnahmen von Berthold von Stauffenberg, genannt Adjib, fragt George hier. Morwitz berichtet im darauf folgenden Brief, die Aufnahmen seien nicht gelungen.

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411.  EM an StG

Briefwechsel 1925

21. 7. 1925 Brief ohne Umschlag

21. VII 25 Liebster Meister: Ich konnte nicht früher antworten, da Ludwig die Adresse erst wieder in Erfahrung bringen musste. Er kann nur feststellen, dass die Pension einem Frl. Engelhardt gehört – diese Adresse wird aber bei der Kleinheit des Ortes auch für die Post genügen. Die Aufnahmen sollen nicht geglückt sein – ich selbst habe niemals Abzüge gesehen. Hier ist es seit einer Woche so heiss, dass man nur im Hause oder im Wasser sich aufhalten kann. An irgend welche Arbeit ist nicht zu denken. Um den 1. VIII werde ich eine Pflegeperson ganz ins Haus nehmen, damit ich nach neun Monaten nun endlich wieder die Möglichkeit habe, auch am Abend auszugehen. Der Zustand meiner Mutter ist körperlich sehr gut, nur hat die alters-kranke Ich-Sucht jedes andere empfinden verdrängt. Angst vor dem Tode lässt sie keinen Augenblick ruhig verleben! Silvio ist jetzt wohl schon in Luzern, der letzten Reise-Etappe in der Schweiz. Ich vermisse ihn sehr, höre aber, dass es ihm sehr gut geht und dass er stark und erhohlt [sic] ist. Seine Briefe sind treu und seelenhaft. Hier beim Schwimmen gibt es viele gute Körper, doch sind sie alle roh  – die durchgeistigende Ehrfurcht fehlt. Selbst die so im Schwange befindlichen Leibesübungen werden nicht mit Innerlichkeit betrieben, sondern „auf Akkord“. Seltsame Geschichten hörte ich von H. v. H. . Seine Söhne seien die grössten Thu-nicht-gute Wiens, machten Schulden und lebten so wüst, dass der Vater nur durch schleunige Flucht von Zeit zu Zeit sich retten könne.810 So rächt sich sein eigenes Hin- und Herpendeln zwischen verschiedenen Lebenskreisen. Grüsse an Maxim von Deinem Ernst.

810 Franz und Raimund von Hofmannsthal. Ersterer schied 1929 durch Suizid aus dem Leben, Raimund heiratete 1933 die Amerikanerin Ava Alice Muriel Astor und 1939 in der Emigration seine zweite Frau Lady Elisabeth Paged.

Briefwechsel 1925 425

Gib bitte auch mir von einer etwaigen Änderung Deines Aufenthaltes in der Zeit vom 6 – 10. VIII Nachricht, damit zufälliges Verfehlen mit Silvio möglichst verhütet wird.

412.  StG und MK an EM

Poststempel Bad Wildungen, 4. 9. 1925 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebste Schw: W: Der M. dankt für die Nachsendung die wir in Wildungen erhielten. Er ist seit 14 tagen hier und gedenkt nun wieder abzureisen. Es ist also die adresse für nächste woche und bis auf weiteres Königstein Dadurch dass Wolters in der Schweiz plötzlich krank wurde ∙ sind die Dispositionen für diesen Herbst geändert. Der M’liche plan war ∙ von hier aus direkt nach Kiel zu fahren. Nun muss er erst abwarten wie die krankheit weiterhin verläuft. Ob es einen sinn hätte ∙ vor Kiel noch nach Berlin zu kommen und erst darnach die reise nach Kiel anzutreten: darüber ist sich der M. noch nicht klar. Das Kll-ste fügt intensive b. hinzu. Grüsse an Silvio ! Herzlichst D. M. und das K. Bad Wildungen

3. sept. 25

Ein nennenswerter erfolg der kur ist nicht zu verzeichnen. Es geht jedoch alles ausgezeichnet.

413.  StG an EM

Poststempel Königstein, 21. 9. 1925 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

L. E. deinen lezten brief erhalt ich noch hier. Durch Wo’s krankheit deren ende immer noch nicht abzusehen ∙ wurden alle verfügungen für den herbst umgerüttelt. Zuerst nach Berlin zu kommen hat manchen nachteil (den dass ich nur ganz kurz bleiben könnte) dazu noch dass in der

426

Briefwechsel 1925

übergangszeit Berlin die unbehaglichste stadt ist wo man sich von einem winkel zum andren durchfrieren muss bis die heizungen an sind. Ferner ist Kiel für spätere jahrszeit november dezember ganz unmöglich wegen nässe und sturm. So liegen nun die dinge ∙ bitte das auch Bondi wenn er fragt mitzuteilen. Zum Grunew. 811 ist dies jahr sowie so die sehnsucht nicht über­ mächtig. Nächste tage hoff ich näheres mitteilen zu können Herzliches auch an S. G Königstein sonntag Wegen ansteckungsgefahr brauchst du dich nicht zu sorgen da W im krankenhaus liegt – und erst entlassen wird wenn jede gefahr vorüber ist Wenn du gleich was zu schreiben [sic] trifft Deine nachricht mich noch hier.812

414.  StG und MK an EM

Poststempel Kiel, 10. 10. 1925 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebste SCHW* W* Wir sind von Cassel nicht gleich nach Berlin ∙ sondern doch erst nach Kiel gefahren wo wir uns seit einer woche aufhalten. Es geht alles gut: das wetter ist trüb ∙ aber wärmer als wir gedacht hatten. Wann wir nach Berl. kommen ∙ ist noch  nicht bestimmt. Als vorläufiger und etwaiger termin kann der 20. okt. genannt werden. D.  M. bittet ∙ etwas nachzuforschen über die heizverhältnisse besonders im Grunewald  … Equidem minimum bitte Sie angelegentlich ∙ dem zwar teuern und verehrten Ludw. mein mitkommen zu verbergen damit mirs wenigstens nicht gleich schlecht geht … Der Si. muss sehr werden [sic] für seine 811 George hielt sich in diesen Jahren häufiger im Hause Bondi im Grunewald auf, war aber zum gegebenen Zeipunkt aus finanziellen Gründen nicht gut auf den Verleger zu sprechen. 812 Gegen Ende des Briefes wird die Schrift Georges flüchtig, die Grammatik fehlerhaft.

Briefwechsel 1925 427

schnöde spröde mit der er zahllose schriftliche gunstbeweise des Klsten entgegennahm. Herzlichst der M und das K welches hochachtungsvoll b813 Kiel 10. oct. adr: bei Prof. Wolters Hohenbergstr: 17

415.  StG und MK an EM

Poststempel Kiel, 17. 10. 1925 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebster Ernst: D. M. hat Ihren brief erhalten und erwiedert ∙ dass ehe die abreise nach Berlin festgesetzt werden kann ∙ einiges äussere geregelt werden muss. Sie möchten bitte bei herrn Dr. V. anfragen ∙ ob es möglich ist ∙ dass D. M. die ersten acht tage bei ihm ist. Denn der aufenthalt im Grunewald ist für die erste woche aus verschiedenen gründen auszuschliessen. Ferner möchte er nachrichten über zustand und benutzbarkeit des ateliers haben da ein andrer versammlungsort für diesmal nicht in betracht kommt.814 Das K. dankt dem s.  S. sehr für sein schreiben und versichert dass es das argument des Ernst als „advocatus diaboli“ völlig anerkennt. Es kann jezt nicht antworten ∙ doch freut es sich herzlich ∙ dass ihm für die wol unvermeidlichen ateliersleiden vom S. schwärzlich-süsse tröstungen verheissen werden. Der Schw. W. Herzlichstes! D. M. und Mm Kiel, 16. okt.

813 Das „b“ steht für biesen=küssen, welches wiederum in der internen Gruppensprache mit beißen assoziiert ist. 814 Es handelt sich entweder schon um Thormaehlens Achilleion in der Albrecht-Achilles-­ Straße oder um das Atelier von Zschokke in der Fasanenstraße.

428

Briefwechsel 1925

416.  StG an EM

[21. 10. 1925]815 Brief ohne Umschlag

L. E. nächsten samstag kann ich nicht vor 9 abends im Achilleion sein. Vielleicht findest du noch gelegenheit zwischen 9 und 10 heraufzukommen  .  . Jedenfalls richte es ein dass sonntag um 5 gelesen werden kann Herzlich G Kiel mittwoch

417.  StG und MK an EM

Poststempel Kiel, 22. 10. 1925 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber E: D. M. teilt mit dass er die nachricht erhalten hat. Er wird am Samstag abd. 846 am Lehrter bahnhof eintreffen. Er bittet Sie um folgendes: sich am bahnhof einzufinden bewaffnet mit dem Pragerstrassen schlüssel – im fall der verhinderung möchte Ludw. kommen.816 Bitte auch sofort nach erhalten dieses briefes eine nachricht an V. zu geben dass ich komme und dass Sie das abholungsgeschäft besorgen* Herzlichst D. M. und Mm. Ebenso möchte für Sonntag sowol ab 11h morgens wie ab 5 nachm. das Fasanenatelier versammlungsfähig gemacht werden. *Bitte sowol für Vall. als für Frau Diana die meldung zu hinterlassen dass im fall ihrer abhaltung am Samstag abd. Sie sich durch meine ankunft nicht stören lassen sollten!

815 Das Datum ist erschlossen: George hielt sich seit etwa 6. Oktober 1925 zum ersten Mal bei Wolters in Kiel auf, das er vor Monatsende mit Ziel Berlin verließ. 816 In der Pragerstraße 26 wohnten damals Berthold und Diana Vallentin.

Briefwechsel 1925 429

418.  StG an EM

n. d. 22. 10. 1925817 Notiz

Den grossen E. bitte erst Sonntag 1 uhr zu tisch den kleinen E. heute abend Samstag gegen 8 zu tisch zu kommen.

419.  StG an EM

Poststempel Heidelberg, 9. 12. 1925 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

L. Ernst: reise verlief gut trotz furchtbarer kälte. Ich muss hier in H∙ abwarten bis der schlimmste frost vorüber ∙ eher kann ich nirgendwohin fahren. Vallentins nachricht hab ich erhalten und sandte den brief des anwalts direkt an Robert . Hat das Kste mitgeteilt dass im atelier noch etwas von mir liegen blieb? .  . Es fuhr heut nach Unterböb  .  .  .  .818 Grüsse S. und warne ihn in dieser hoffentlich vorübergehenden kälte sich nicht zu oft abzukühlen … eis … und ähnliches .  .  .  . seine gesundheit kann leicht wieder schaden leiden … So bald aufbruch von hier feststeht bekommst du mitteilung. Bis weihnachten fast sicher hier … G.

Du kennstt das ⸢weisst am⸣ Ende jeder ⸢mit der⸣ Pein Und hilfst am ⸢glaubst dem⸣ Anfang jedesm Sein Die Blu Knospe schwillt die Frucht verfault Da ⸢Wo⸣ Hoffnung steigt und Liebe stirbt Und das Sehnen Ihm ⸢Dir⸣ ist der ebene Lauf verbaut Ich ⸢Du⸣ suchst ⸢die⸣ Ruh und fliehst ⸢die⸣ Rast Du treibst im Meer ⸢Strom⸣ und wehrst dich nicht Du selbst wirst Strom ⸢Flut⸣ und leerst dich Der Morgen macht ⸢xxx⸣⸢trifft⸣ dich klar und frei 817 Vgl. den vorangehenden Brief vom 22. 10. 1925; George wohnte danach bei Vallentins, im November dann in Berlin-Schlachtensee. Essenseinladungen waren hier wie dort möglich. 818 Unterböbingen ist ein Teil der im Remstal gelegenen Gemeinde Böbingen in der Nähe der ostwürttembergischen Stadt Aalen und nicht weit von Stuttgart entfernt.

430

Briefwechsel 1925

Nach Nacht voll Traum und Zauberei Du ringst des Tags ein andres Loos Ihr Tun ihr Planen macht dich ⸢wird ihm⸣ gross Doch ⸢Neben⸣ aus dem Werk das ⸢du⸣ nicht geglaubst Erwächst der Feind der nach dir zu xxx Du wehrst ihn nur, solang du liebst Und an ein lebend Herz dich gibst.

420.  StG an EM

Poststempel Heidelberg, 14. 12. 1925 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50

Lieber Ernst: Dank für sendung der beiden packete. Es bleibt dabei dass ich bis 24. 12 in H. bin. Ich wollte bitten dass wenn P nach Berlin kommen sollte ihn nur an drittem ort zu empfangen. Ich werde ihn vorläufig nicht sehen. Meine Schwester machte mich aufmerksam dass sie auf drängen des Finanzamts jezt ihren erb-anteil auf 31.000 M. angegeben hat ∙ obwol diese summe sich noch sehr verringern kann. Sie sagte ich müsste das gleichfalls für mein anteil im Berl. Fin-Amt . Was soll ich tun? Herzliches an Alle G

Basel: Atelier Riehenteichweg 96 Sperrstrasse 89 geschrieben von AZ

Briefwechsel 1926 431

421.  StG an EM

Poststempel Locarno, 6. 2. 1926 Brief mitUmschlag nach Berlin W.

L. E. wir sind wieder in Locarno (Reber) gelandet819 – wenigstens gilt es als ausgangspunkt: Wann – wohin steht noch nicht fest: nur 1 april wie gewöhnl: München .  .  .  .  . Bitte Bdi keine adresse anzugeben – jedoch nach seiner anfrage zu bedeuten dass du briefsachen an mich gelangen liessest  – sonst nimmt er meine abwesenheit zum vorwand die fällige abrechnung nicht zu senden oder aufzuschieben Da keinerlei geheimnisse an mich zu erwarten sind – so kannst du briefe ruhig öffnen und entscheiden ob sie wichtig sind dass sie nachgesandt werden müssen. Der S-brief aus Tübingen820 ist überhaupolt und kann liegen bleiben Wetter war erst regnerisch jezt wieder schön Hotel Reber Locarno dienstag

422.  StG an EM

v. d. 22. 3. 1926 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Es haben sich (auch infolge der verlegung des termines) ungewöhnliche schwierigkeiten ergeben. Ich kann nur bestimmt sagen dass ich bis Mittw. in H. bin in der bekannten wohnung821 ∙ von dann ab in M. wo ich noch keine bestimmte wohnung angeben kann.822 Ich muss Dich also dringend bitten mir sowol Deinen abreisetag von Berlin

819 Das Hotel Reber befand sich bis vor wenigen Jahren in Locarno am Ufer des nördlichen Lago Maggiore, nicht weit entfernt vom späteren Wohnsitz in Minusio bei Locarno. 820 Wohl ein Brief Berthold von Stauffenbergs, der zu diesem Zeitpunkt in Tübingen Jura studierte. 821 Gemeint ist die Wohnung von Ernst Kantorowicz am Wolfsbrunnenweg 12 in Heidelberg. 822 Johann Anton teilte George am 16. 3. 1926 zwei mögliche Wohnorte in München mit, darunter die Adresse in München Solln, Terlanerstraße 29. Dort befand sich dann für längere Zeit das ‚Staatshaus‘. George soll am 22. 3. dorthin übergesiedelt sein.

432

Briefwechsel 1926

anzugeben ∙ ebenso alle zwischenaufenthälte in der weise dass Dich dort noch telegrafische nachrichten erreichen. Herzlichst  D. M. Samstag

423.  MK an EM

n. d. 5. 4. 1926823 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: Der Staat war über die feiertage in Garmisch gewesen und kehrt jezt wieder nach München zurück wo er (d. M.) nur noch ganz kurz bleiben wird. Es wäre ihm lieb wenn er dorthin an die Löwenadresse824 noch eine nachricht bekäme. Meine herzlichsten wünsche gelten dem S: möchte bald endgültig beruhigendes von ihm verlauten. Zu den grüssen des M. füge ich die meinen an Sie und Silvio Ihr Maxim         Dienstag

424.  StG an EM

n. d. 5. 4.1926825 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: dank für Deinen und des S. lieben brief .  . Die berge hier wimmelten von S’n  · jetzt sind sie alle wieder zurück · ich selber gehe ende d. monats nach Heidelberg zurück. Ich freue mich sehr auf das wiedersehen mit Dir und S. auf dem S. Stag:826 nur diene dir jetzt schon dies als mitteilung: Es ist noch nicht sicher ob er in Hei-

823 1926 war George über die Feiertage in Garmisch gewesen, und Ostern fiel 1926 auf den 4. und 5. April. Der Brief wurde danach geschrieben. 824 Walter Anton, Löwe genannt, war wohl zu diesem Zeitpunkt Quartiermeister des Kreises in Solln. 825 Georges Hinweis auf die vielen „Süßen/Staatsstützen“ in den Bergen legt eine Datierung auf Tage nach seinem Aufenthalt in Garmisch während der Ostertage nahe. 826 Dieses Treffen mit den jungen und jüngsten Freunden sollte wieder Pfingsten stattfinden.

Briefwechsel 1926 433

delb. oder in München stattfindet. Der termin ist derselbe und für dich die reise gleich weit. Ich muss dafür sorgen dass keine unordnungen eintreten sonst könnte alles in frage gestellt werden .  . Ausser dem wirklich beteiligten sage darum von M. nichts. Auch mein aufenthalt in der Schweiz ist ausser den nächstbeteiligten verborgen827 Hoffentlich auf freudigstes Wiedersehn G

Willst du Bdi der anfragte ∙ und eiligste antwort wünscht dies mitteilen a) dass 3te vorrede erst in der nächsten auflage kommt b) dass ich ab 1. april in Heidelb bin und wenn er mich besuchen will – es mir bitte drei tage vorher nach Heidelb. an die benannte adresse dorthin wissen lässt G

425.  StG und MK an EM

20. 5. [1926] Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: D. M. dankt für Ihren brief und ist sehr erfreut über die endliche besserung des kranken S. . Auch teilt er mit dass das hiesige S=haus sich über erwarten hinausgezogen hat: in bälde aber wird die weiterreise endgültig erfolgen. Das Kl. fügt den grüssen des M. die seinigen bei: neulich wurde die Lorenzo=stelle wiedergelesen wobei es Ihrer aufs lebhafteste gedachte .  .828 20. mai      Ihr Maxim

827 George war Februar / März in Basel und Locarno gewesen. 828 Lorenzo Il Magnifico (1449–1492), aus dem Geschlecht der Medici, war Politiker und Förderer der Künste in Florenz. Auf welche Lorenzo=stelle sich Kommerell hier bezieht, ist nicht eindeutig festzustellen. Es mag sich um Ferdinand Gregorovius’ Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter oder Jacob Burckhardts Cicerone gehandelt haben.

434

426.  StG an EM

Briefwechsel 1926

April / Mai 1926 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: D. M. bittet dem Si. die wohnung München-Solln anzugeben. Er möchte ∙ sobald er in M. eintrifft ∙ schreiben ∙ damit ihm ort und stunde des zusammentreffens angegeben werden kann. Anwesende ∙ sowie versprengte S – e bringen sich in erinnerung bei den Berlinern!

427.  StG an EM

n. d. 9. 6. 1926829 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: der M. bittet dass Sie sich zu folgender sache äussern. Im auktions=katalog CVIII von Karl Ernst Henrici Berlin W 35 finden sich beträchtliche Teile (etwa 20 zeilen) aus 2 grösseren meisterlichen briefen in frz. Sprache an Stuart Merill.830 Ist dies zulässig? Es handelt sich nämlich um wichtige literarische fragen und in solchen fällen liegen Reichsgerichtliche urteile vor wonach schon der*  nachdruck einer zeile strafbar war. Vieles herzliche vom M∙ und allen Ssen. Freitag.

*unbefugte abdruck

829 Die Datierung ergibt sich aus der Tatsache, dass Berthold Vallentin am 9. 6. 1926 auf den im Brief erwähnten Auktionskatalog aufmerksam gemacht hatte. 830 Es handelt sich um Georges Briefe vom Februar 1893 und vom 4. August 1902. Für Georges Selbstdeutung ist vor allem der erste sehr wichtig, in welchem er Irrtümer über seine Dichtung richtig stellen will, indem er erklärt, in wiefern er von den Franzosen abhängt. Der zweite Brief enthält Georges Stellungnahme zu Stuart Merrills Lob der von Karl Wolfskehl und Stefan George 1901 herausgegebenen Goethe-Anthologie (StGA).

Briefwechsel 1926 435

428.  EM an StG

10. 7. 1926 Brief ohne Umschlag Berlin 10 VII 26 Regensburgerstr 29

Liebster Meister: Hier ist Ferienruhe. Silvio ist in Obersteinberg bei Lauterbrunnen (Hotel Tschigelhorn) und ohne ihn ist es hier langweilig. Ludwig hat im Amt viel zu tun und A. Z. ist sehr fleissig. Ich hoffe nun in den ersten Augusttagen endlich wieder ein paar Tage fortreisen zu können und möchte gern, wenn Du mich brauchen kannst, zu Dir, wo Du auch Dich aufhalten magst. Silvio wird am 4. oder 5. VIII auf der Rückreise sein und wäre dann für ein oder zwei Tage in Süd- oder Mittel-Deutschland zur Verfügung. A. Z. würde gern, sobald das Nähere feststeht, Nachricht haben, ob und wann er sich zum Modellieren bereit halten soll. Er muss einige technische Vorbereitungen vorbereiten ⸢treffen⸣ und kann bis September überall hinkommen, wohin er beordert wird.831 Für den Herbst hat er den Auftrag, eine Büste nach dem Altphilologen Wackernagel in Basel zu fertigen.832 Ich grüsse alle anwesenden und sich nähernden Staatstützen herzlich und wünsche d. M. zum 12. VIII [sic] alles Gute     Dein Ernst.

429.  StG an EM

v. d. 25. 7. 1926 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Weil es jezt noch nicht feststeht ∙ werde ich es Dir noch mitteilen wie es mit der zusammenkunft ist – möchte Dich auch bei der gelegenheit auf die im nächsten monat stattfindende ehe und deren folgen aufmerksam

831 Von Alexander Zschokke sind aus diesen Jahren (1925 / 1926 / 1927) erste Georgeköpfe überliefert. 832 Die lebensgroße Bronzebüste des Jacob Wackernagel (1853–1938) befindet sich in Basler Privatbesitz. Er lehrte in den Jahren 1915 bis 1936 Indogermanistik in Basel. Die Identifikation ergibt sich aus einem Vergleich von Fotografie und ausgeführter Büste.

436

Briefwechsel 1926

machen833 .  .  .  .  . Nun ist es mir auch klar geworden wie ich Dir den begriff des staatlichen klar machen kann: die jungen menschen die Dich angehn (Silvio) gehen Dich nur an bis zu einem gewissen alter: bis dahin sind sie nicht mündig und machen durch familie ∙ schule u. s. w. gebunden keinen selbständigen schritt hinaus. Sobald sie aber den 1. schritt hinaus machen ∙ müssen sie staatlich werden ∙ sonst o weh! – Die sache selbst steht somit fest ∙ die unangenehme namengebung kann leicht durch eine andre ersezt werden ∙834

                                                                                                                                                                                                                                                     zuerst zu lesen L. E. ich schreibe Dir auf das angefangne blatt nun genaueres. Von H bin ich nach K gefahren ∙ muss nochmals nach H. und bin am 1. aug gewiss wieder in K. Wenn du gleich in den ersten ⸢aug=⸣ tagen kommen könntest würde mich das sehr freuen. Der plan mit Zsch. muss für diesmal aufgegeben werden .  . die schöne ordnung von ehmals wird häufig aufgehoben ∙ es geht alles auf „bieg oder brich‘ “. Für Silv. der sehr schön geschrieben hat habe ich jedoch vorgesorgt.835 Er sagt dass er vielleicht erst am 6 aug abfährt dann werd ich ihn in Basel erwarten. Er braucht dann nur seine ankunft⸢=stunde⸣ an mich Schaffhauser Rheinweg 99 zeitig zu melden .  . und dann im haus nach mir zu fragen … Deine nachrichten gehen am besten über Königstein (Taunus) Limburgerstr: 19 Dein S

833 Friedrich Gundolf hatte angekündigt, dass er Elli Salomon im August heiraten werde. Folge war der endgültige Abbruch aller Beziehungen zu Friedrich Gundolf und seiner Frau seitens George und der meisten Kreiszugehörigen. Ausnahmen waren Karl Wolfskehl, Walter Kempner und Ernst Morwitz. 834 Offensichtlich tat sich Morwitz schwer mit dem Begriff des Staatlichen, der von Friedrich Wolters und dessen Schülern eingeführt und propagiert wurde. Eine spätere Notiz von Morwitz dazu lautet: „Ich sagte häufig, dass ich nicht verstände, was StG unter ‚Staat‘ verstehe. Staatlich-sein bedeutet nach dieser Erklärung: durch Erziehung zu lernen, wie man sich im Alter der Mündigkeit zu verhalten habe, sofern dies Wissen nicht schon eingeboren im Individuum ist.“ (BB) 835 Briefe von Silvio Markees an George aus dieser Zeit sind nicht im Nachlass Georges im StGA erhalten.

Briefwechsel 1926 437

430.  EM an StG

25. 7. 1926 Brief ohne Umschlag Berlin 25. 7. 26

Liebster Meister: Aus Deinem Brief lese ich, dass Du gerade zwischen verschiedenen Reisen bist.836 Da ich Dich deshalb nur sehr kurz und in Unruhe sehen würde, wenn ich am 2. oder 3. 8. in K. ankäme, möchte ich diese Reise nur unternehmen, falls Du selbst mich zu sprechen jetzt für notwendig hieltest. Anderenfalls würde ich meine Ferientage, die ich nach zwei Berliner Sommern ausserhalb verbringen muss, an der See verleben.837 An Silvio werde ich über das Treffen in Basel schreiben. Ich bin sehr froh, dass er Dich sehen wird! Von G’s Ehe hatte mir Val. vor zwei Tagen erzählt und auch Deinen Auftrag über den an G. zu richtenden Brief ausgerichtet. Soll dies auch geschehen, wenn G. mir die Sache nicht anzeigt?838 Was Du gelegentlich dieses Falles über das Staatliche sagst, verstehe ich ganz. Ich halte G.’s Vorgehen schon für einen so starken Verstoss gegen die Gesetze des allgemeinen Anstandes, dass dieses Verhalten den Bruch unbedingt notwendig macht.839 Du hast Recht mit der Erwägung, dass ich mich um meine Menschen nur bis zur Mündigkeit verantwortlich sorge. Darüber hinaus reichen mir Kraft und Können nicht und ich fürchte, ihnen nichts Ausfüllendes bieten zu können, es sei denn dass die Überleitung in Dein Reich glückt. Da ich aber in so frühem Alter wirke, baue ich ein Fundament, das – wie ich hoffe – eine Entwicklung wie die G’s von vornherein unmöglich macht – sie würde den

836 George plante, schon Anfang August nach Basel aufzubrechen. 837 Ein Brief an Zschokke von Stein (10. 8. 1926, StGA) belegt, dass er zusammen mit Morwitz in Locarno urlaubte. 838 Friedrich Gundolf hatte George am 21. 6. 1926 seinen Entschluss mitgeteilt, „Elisabeth Salomon in diesem Jahr zu heiraten“ in vollem Bewusstsein der drohenden Verstoßung: „Die Folgen weiss ich: das Leid durch dich und um dich, und will sie tragen. Von dir falle ich nicht ab, auch wenn du mich verwirfst. Dein Gundolf“; vgl. G/G, S. 372. George hatte die nächsten Freunde von der Eheschließung in Kenntnis gesetzt und wohl eine Art Erklärungsbrief, der die Freundschaftsbeziehung zu Gundolf beenden sollte, verlangt. 839 Notwendig ist offensichtlich nur der Bruch Stefan Georges mit Gundolf, denn es haben sich Briefe von Morwitz an Gundolf aus den Jahren nach dessen Verehelichung erhalten (CPA).

438

Briefwechsel 1926

Objekten bürgerlich-komisch erscheinen.840 Dass staatliches Empfinden allein vor Thorheiten und Unüberlegtem schützt, ist mir sicher. Dein Ernst.

431.  StG an EM

Poststempel Königstein, 28. 7. 1926 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: sofort antwort ich Dir: du darfst dir die zeit hier nicht zu knapp vorstellen: wenn Du am 2. aug eintriffst so kann ich am 5 noch abreisen und wir hätten reichlich zeit ∙ auch an S soll es nicht ­fehlen … aber sehr im ernst: ich glaube dass wir sehr nötig hätten uns zu sprechen ∙ was demnächst bevorsteht müsste eingehend erörtert werden .  . auch für Berlin kannst du mir wegen Bi’s noch grosse hilfe leisten. Es liegen von den Baslern841 neue pläne vor die ich mit Dir durchberaten möchte. Und dann ∙ E! rückt der achte monat heran ∙ was giebt es diesmal mit Berlin? dafür sind nur sehr geringe hoffnungen – diesmal! Also bitte komm!                                                                                                                                                           G K/ dienstag

7,50 ab Anhalter 6,05 ab Höchst an 5,03 an Frankfurt 6,45 Königstein 5,15 ab Frankfurt 5,30 Höchst

840 Morwitz war ausgesprochen feindlich gegenüber der Ehe eingestellt, er war z.  B. überzeugt davon, dass sie zur Trunksucht führe (BB). 841 Gemeint sind wohl Robert Boehringer und Julius Landmann sowie Ideen zu Georges Testament und einer Stiftungsgründung.

Briefwechsel 1926 439

432.  StG und MK an EM

29. 9. [1926] Brief ohne Umschlag

Liebste Schw: W: Der M. lässt mitteilen dass er samt Ss–eren-schaft hier eingetroffen ist und also die anschrift für die nächste zeit ist: bei W. Hohenbergstr: 17 Kiel. Alles Herzliche auch von les Inséparables!               29. sept.

433.  EM an StG

5. 10. 1926 Brief ohne Umschlag Berlin 5. X 26

Liebster Meister: Wir hoffen sehr, Dich bald in Berlin zu haben. Hier ereignet sich wenig. Stein wird wohl bald ankommen. Zschokke ist für eine Weile in Magdeburg zur Ausführung eines Auftrages. Im Rundfunk soll hier am Donnerstag eine Gedichtvorlesung stattfinden. Ich habe dagegen protestieren lassen, der Erfolg bleibt abzuwarten. Im Amt habe ich zur Zeit viel zu arbeiten, da ich den Vorsitz in einer Kammer für Urheberrecht führe – eine Sache die mir bisher sehr fern lag. Silvio ist froh und in guter Verfassung. Grüsse an die comites herzlichst Dein Ernst Durch Dritte hörte ich, dass Gundolf hier war – bei Ludwig und mir hat er sich nicht gemeldet.

440

434.  EM an StG

Briefwechsel 1926

8. 10. 1926 Brief ohne Umschlag

8. X 26 Liebster Meister: Heut nur die Nachricht, dass nach beiliegendem Schreiben die Verlesung der Gedichte im Rundfunk unterblieben ist und nun auch wohl auch in Zukunft unterbleiben wird. Ausserdem sende ich Dir ein Schreiben eines gewissen Bodeck,842 den ich nicht kenne, den aber Wolters – wenn ich mich recht entsinne – kennt. Er hat auch Ludwig und Stein angeschrieben. Bewahre den Brief bitte auf zum Beleg für B’s offenbaren Irrsinn. Ich vermute nämlich, dass ein Schlüsselroman in einem scheusslichen Verlag in Hannover, der mit dem Titel „die Pole des Eros“ angekündigt sein soll und von „Modeck“ geschrieben sein soll, von ihm herrühren könnte.843 Von der Ankündigung habe ich nur gehört. Sonst nichts – nur viele Grüsse Euch Allen dort                                                                                                                                                                                   Dein Ernst.

§ 7 des Vertrags vom 21. III. 1912 sieht vor dass Erben Rechte betr. Orthographie u. Anordnung. Was geschieht wenn der Verleger diese Rechte verletzt? und die Erben vor eine vollendete Tatsache stellt?

Βενγαυ οχχυxυη Ζεν ερρx ωαχκοι δντευυα xxττα γαxχυκυζ ωxxxα

842 Hermann Bodeck (auch Aribo genannt) (1893–1966), Dichter und Übersetzer. Hermann oder auch Harry Bodeck hatte sich als siebzehnjähriger Schüler am 11. 4. 1911 zum ersten Mal brieflich aus Wien an George gewandt und ihm Gedichte gesandt (StGA). 1915 nahm Friedrich Gundolf in einem Brief zu den Gedichten Stellung. Ab Juni 1911 stand Bodeck mit Friedrich Wolters in Verbindung, den er als väterlichen Freund bezeichnete. 1926 drohte er in einem Brief sich umzubringen, wenn er nicht endlich zu George gehören dürfe. Der letzte erhaltene Brief an George ist aus dem Jahr 1928 überliefert. Nach dem Krieg stand er dann mit Robert Boehringer in Kontakt, was wiederum Korrespondenz belegt (StGA). 843 Es handelt sich um eine Novelle von Curt Moreck (d.  i. Konrad Haemmerling), die unter dem angegebenen Titel Die Pole des Eros schon 1912 in einer ersten öffentlichen Ausgabe mit 7 ganzseitigen Original-Lithographien von Josef Eberz im Heinrich Boehme Verlag, Hannover, und 1918 in zweiter Auflage erschienen war.

Briefwechsel 1926 441

435.  StG an EM

Kiel, 17. 10. 1926 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Dank für Deine und Silvios nachricht. Beifolgend übersend ich die entwürfe. In DER form kann es Bondi nicht unterbreitet werden. Mir scheint – und dasselbe schrieb ich auch Robert – nicht mehr klar wieso die sicherung durch die stiftung nötig ist wenn nur EINE auflage vergabt wird?844 Ist dies nicht sicherung genug? Wenn ferner Bondi mir dieselbe summe garantieren soll die mir durch die stiftung garantiert wird ∙ welchen sinn hat dann eigentlich noch die stiftung? Und wenn ich vollends einen rechtsnachfolger mit sämtlichen competenzen ernennen würde ∙ wäre dann die stiftung nicht überflüssig? Ich stelle diese fragen ∙ sei es nun ∙ dass mir sich die sache jezt anders darstellt ∙ die mir damals in Basel vorzüglich schien ∙ sei es ∙ dass wirkliche änderungen vorgenommen worden sind? Ist Dir irgendwie bekannt ∙ durch welche ursache der plötzliche tod der mutter des Woldemar hervorgerufen wurde? Herzliches ∙ auch von den comites845 und an Si  – o      D. M. Kiel Hohenbergstr: 17    

17 oct 26

436.  EM an StG

1. 11. 1926 Brief ohne Umschlag

1. XI 26. Liebster Meister: Die Verträge habe ich geprüft und einige kleine Änderungen, die auch schon in Basel vorgesehen waren, angeregt. Ich halte auch die Zahlungsbedingungen für Bondi für geeignet, nur könnte man ihm sogleich mehrere Auflagen (etwa drei) überlassen, da man ja durch das Rücktritts-

844 Es geht um die Planung der Gesamt-Ausgabe der Werke Stefan Georges und den dazu notwendigen Vertrag mit Georg Bondi. 845 Schreiber und wohl auch Verfasser ist Max Kommerell, damals häufig Begleiter Georges; George wohnte im Haus von Friedrich Wolters in Kiel, wo die Ehefrau fehlte, nachdem Erika Wolters im Juni 1925 verstorben war. „comites“ schließt als Plural ein ganzes Gefolge ein, vgl. auch Br. 433.

442

Briefwechsel 1926

recht, das jederzeit ausgeübt werden ⸢kann⸣, gesichert ist. Die Stiftung ist nötig, um die Urheberrechte von Deiner Person zu trennen, so dass sie bei Tod verselbständigt sind und nicht auf die Erben übergehen. Andererseits behältst Du bei Schaffung der Stiftung zu Lebzeiten das Dispositionsrecht, da Du die entscheidende Macht auf Grund des Stiftungstatutes hast. Gerade bei den Verhandlungen mit dem Verleger wird es für Dich angenehm sein, die Stiftung als etwas von Dir rechtlich Unabhängiges vorzuschieben. Änderungen sind nicht vorgenommen, seit unsere Besprechung stattfand. Landmann legte gerade den Hauptwert auf die schon zu Deinen Lebzeiten auf diese Weise ermöglichte Verselbständigung der Urheberrechte, die trotzdem Dir das Bestimmungsrecht erhält. Dies wäre nicht möglich, wenn Du zu Lebzeiten die Rechte auf einen Dritten übertragen würdest. Landmann betonte mit Recht, dass Du durch die Organisation der Stiftung auch eine grössere ⸢äussere⸣ Sicherheit für den Bestand des Werkes nach Deinem Tod erzielen würdest, als durch einen Erben oder Testamentvollstrecker zu erzielen möglich wäre, weil eben die Stiftung unabhängig von Einzelpersonen ad infinitum weiter besteht, wobei natürlich die zeitliche Begrenzung des Urheberrechtschutzes nicht auszuschalten ist. Mir scheint aus diesen Gründen der Plan gut, auch halte ich das Garantieverlangen Bondi gegenüber für angemessen. Dir haftet allein die Stiftung mit ihrem Vermögen, während Bondi nur der Stiftung gegenüber haftet. –846 Von Woldi habe ich nur eine kurze Nachricht erhalten, er ist bisher nicht hier gewesen. Von S , der das erste Kolleg gehört hat, soll ich sehr grüssen. Stein ist hier, ich sehe ihn selten. Ludwig geht es ganz ordentlich, Zschokke arbeitet sehr viel, ich muss juristisches Zeug schaffen, denn ich habe den Vorsitz in einer Kammer.

846 Hier setzt sich die im vorausgehenden Brief Georges begonnene Diskussion einer zu gründenden Stiftung als Rechtsvertretung Georges fort, die sich über mehrere Jahre hinweg zieht, und an welcher neben Julius Landmann und Ernst Morwitz auch Robert Boehringer und dessen Rechtsberaterin teilnahmen. Schließlich wurde doch mit Robert Boehringer ein persönlicher Erbe eingesetzt. Dieser wie auch seine Nacherben Graf Berthold von Stauffenberg und Frank Mehnert waren verpflichtet, eine Stiftung noch zu ihren Lebzeiten aufzurichten. Nach dem Tod der Nacherben gründete Robert Boehringer diese Stiftung im Jahr 1959. Genauer nachzulesen sind die Diskussionen um das Testament Georges und die Stiftungsgründung einschließlich der wichtigsten Dokumente in Fünfzig Jahre Stefan George Stiftung 1959–2009, für die Stefan George Stiftung in Verbindung mit Ute Oelmann und Wolfgang Graf Vitzthum hrsg. von Christoph Perels, Berlin/New York 2009.

Briefwechsel 1926 443

Das Atelier erwartet dringend den Meister (mit Antrazit Dauer-Ofen!). Gruss an die Begleiter Dein Ernst

437.  StG und MK an EM

22. 11. 1926 Brief ohne Umschlag

Liebe Schw W : Endlich kann die nachricht gegeben werden dass der M. in den ersten Dezembertagen für etwa 8 tage nach Berlin zu kommen gedenkt und* im Grunewald wohnen wird. Die genauere Zeit des eintreffens wird noch angegeben: da der zug erst abends ankommt ∙ muss die erste nacht in der stadt zugebracht werden. Könnten Sie bitte einmal im adressbuch feststellen wer sein könnte ein gewisser Peter J. Schönfeldt Körnerstr 7 Berl-Steglitz?847 Herzlichst    DM mit Kstem Grüsse auch an Sse soweit vorhanden. D. M. erkundigt sich ob der Gross Kosmiker in Berl weilt?848 Kiel 22. Nov 26

*voraussichtlich

847 Von Peter Idu Schönfeldt befinden sich drei Briefe an George im Nachlass, ein erster von Schloss Letzlingen bei Gardelegen in der Altmark, der zweite aus Berlin-Steglitz. Dieser enthielt einen Faust-Aufsatz, ein letzter Brief von 1928 eine Reihe von Gedichten. Briefe an Melchior Lechter aus den Jahren 1934–1937 im Getty-Research Institute in Los Angeles, USA, belegen sein Interesse an Theosophie und Buddhismus. 848 Als Großkosmiker wurde zuerst der Berner Kunsthistoriker Wilhelm Stein von George und Umgebung bezeichnet, und zwar aufgrund esoterischer Tendenzen seines Buches über Raffael. Stein hatte Berlin Ende 1925 verlassen, um nach seiner Habilitation in Bern eine Lehrtätigkeit aufzunehmen. Später wurden Stein, Morwitz und Freunde auch insgesamt im Umfeld Georges als Neokosmiker bezeichnet.

444

438.  StG und MK an EM

Briefwechsel 1926

30. 11. [1926]849 Brief ohne Umschlag

Liebe Schw W : Voraussichtlich kommen wir Sonnabend 4. Dez. 8.56 Lehrter Bf (wie voriges mal) an. Sie möchten bitte am bahnhof sein. Der Wolfs=E850 wird sich gleichfalls einfinden. Dieser wird auch mich ∙ das K∙ mit sich nehmen vom Bf aus. Falls Silv. nicht schon den abend sich bei Ihnen in der wohnung einfinden kann ∙ möge er den morgen drauf dort erscheinen. Es geht ein pack correcturen als drucksache an Ihre adr. für den 851 Wolfs-E. herzlichst DM u das K An Bdi teilte der M mit dass er erst Sonntag abd in den Grunewald geht. Dienstg 30. Nov.

439.  StG an EM

20. 12. [1926] Brief ohne Umschlag Solln 20. dez

Lieber Ernst: Der staat ist hier angekommen  und fühlt sich in den gewohnten räumen des S-hauses äusserst wohl.852 – Von den correcturen ist ein teil eingetroffen und geht anbei zurück. – Die umständliche ∙ übermittlung ist zunächst beizubehalten bis die die [sic] sperre der staats-adresse aufgehoben wird. Von intresse ist es zu erfahren: ob E. K. die vom verlag B. besorgte

849 1926 war der 30. 11. ein Dienstag. 850 Mit E. Wolf ist hier der Vermieter von Gertrud Kantorowicz, auch zeitweise Vermieter Georges, in der Ebereschenallee 3 im Berliner Westend gemeint. 851 Bei den Korrekturen handelt es sich um erste Fahnen der großen Studie von Ernst Kantorowicz über Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen. Da George dem Verleger Bondi den Namen des Verfassers erst einmal vorenthielt, es deshalb keine direkte Kommunikation zwischen Verlag und Autor geben konnte, mussten die Korrekturen „umständlich“ (Br. 439) übermittelt werden. Die Vertragsverhandlungen hatten erst im August 1926 begonnen. Vgl. Anm. 794, 856 und 977. 852 Das von Schreiber Johann Anton angemietete ‚Staatshaus‘ in Solln.

Briefwechsel 1926 445

wiedergabe der Kaiser-münze schon gesehen hat  – und welches sein urteil darüber ist.853– Grüsse und küsse von S – n an S – e.

Weihnachtliche b … allen s.  s. Auftrag an S-o : b … B!

440.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 27. 12. 1926 Brief mit Umschlag nach München-Solln

26. XII 1926 Liebster Meister: Heute wünsch ich Dir ein reiches Jahr! Wir haben in der Dir bekannten Weise seit Deiner Abreise gelebt,854 jetzt ist Ludwig verreist, morgen reist der kleine B. 855 und am Donnerstag Zschokke, den wir um sein mögliches Zusammensein mit Dir sehr beneiden. Mit E.  K. geht alles Deinem Wunsch entsprechend.856 Steins Zögling soll über Weihnachten nach Bern gereist sein .  .857 Ich benutze die Feiertage um Urteile zu schmieren. 853 Vom Abdruck der Kaisermünze handelt erst Bondis Brief vom 2. 2. 1927 (StGA). 854 George war zwischen Anfang Dezember und 20. Dezember nur kurze Zeit in Berlin gewesen und hatte im Grunewald bei Bondi gewohnt. 855 Bernhard von Bothmer (1912–1993), späterer Ägyptologe, dessen Emigration über Frankreich, Schweiz und Portugal ihn 1941 zu Morwitz nach New York führte, wo er schließlich Direktor der ägyptischen Abteilung im Brooklyn Museum wurde. Morwitz hatte den erst fünfzehnjährigen Berliner 1927 George vorgestellt. Von Morwitz im staatlichen Sinne erzogen, freundete er sich eng mit Silvio Markees an. 856 George hatte für die Aufnahme von Ernst Kantorowicz’ großer Studie über Kaiser Friedrich  II. von Hohenstaufen in die bei Georg Bondi erscheinende Reihe Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst gesorgt, ohne Bondi den Namen des Verfassers zu nennen. Im Juli 1926 war das Manuskript abgeschlossen gewesen, das Buch erschien dann im März 1927. Im Dezember 1926 fand die Drucklegung statt, Korrektur las unter anderem Stefan George selbst, Bondi bekam die Korrekturfahnen anonym, möglicherweise über Morwitz, zurück. 857 Es dürfte Robert von Steiger (1905–1988) sein, Mitglied der Berner Burgergemeinde durch Geburt, der 1926 und 1927 an der Berliner Universität Geschichte, Kunst­ geschichte und Englisch studierte und in Charlottenburg wohnte. Sein erster Besuch bei George fand in Bingen im Februar 1926 statt, sein erster erhaltener Brief an George datiert vom 8. 7. 1926 (StGA).

446

Briefwechsel 1927

Peter war auf der Durchreise kurz bei mir, er macht einen gehaltenen Eindruck und hofft auf Habilitation im Herbst 1927, die ihm sein Bonze zugesichert haben soll.858 Ich sah ihn allein in meiner Wohnung. S. und B. sind bewundernswert, besonders B., der so viel an S. gibt und trotzdem in jedem Augenblick seine eigene Haltung ungezwungen wahrt. Stein leidet – scheints – etwas darunter, dass wir ihn von unserem Zentrum so völlig fernhalten, doch geht es wegen des B. nicht anders.859 Wir hoffen, dass der Meister wegen der Kürze des Winteraufenthaltes im Frühjahr uns besucht. Von ganzem Herzen Dein Ernst.

441.  StG an EM

7. 1. [1927]860 Brief ohne Umschlag

L. E. München zieht sich noch immer hinaus – vielleicht noch auf wochen und erstaunt wirst du dich fragen „was für eins steckt dahinter.“ Mich würde das nicht wundern: es ist so … Hs hat seine liebe not mit einem gefundnen ‚illustren trilustren‘ und kommt wenig weiter … Du musst also noch eine weile das brief-vermittlungs-amt so lästig es ist übernehmen und nur bei endloser dehnung würde ich E. K. (der sie von früher kennt) die anschrift preisgeben .  .  .  . Bdi aber nur im äussersten notfall … (Hat sich dieser einmal inzwischen mit dir in verbindung gesezt? .  .) Bleibt die frage wegen Zsch  … wie lang bleibt er noch in Basel861 ∙ hast du das gefühl dass er dort sehr auf mich wartet? Teil ihm die verzögerung mit. 858 Percy Gothein hoffte auf eine Habilitation bei dem Romanisten Wilhelm Meyer-Lübke über Guarino Veronese und Francesco Barbaro. Die Arbeit wurde wegen mangelnder wissenschaftlicher Qualität zurückgewiesen, Ein weiterer Versuch der Habilitation, bei Leo Spitzer in Bonn, scheiterte ebenfalls. 859 Wilhelm Stein lehrte inzwischen in Bern. 860 Der unter 1929 abgelegte Brief wurde umdatiert, da George sich nur 1927 Anfang Januar in München-Solln aufhielt. 861 Laut Morwitz wohnte Alexander Zschokke damals in Basel in der Sperrstraße bei seinen Eltern. Sein Atelier habe sich dort im „Hexenhäuschen“ befunden (BB). Dorthin kam in den Jahren 1926 und 1927 häufiger George während seiner Basler Aufenthalte, wurde u.  a. von Zschokke fotografiert und saß ihm für die ca. sechs Portraitköpfe und Masken dieser Jahre.

Briefwechsel 1927 447

Nach mehren S  …  n ist Löwe verreist ∙ nur H. ist da … Uzi [sic] nach H. s abreise wol unerlässlich Küsse Si mit und ohne – G M-Solln 7 jan Wenn du ⸢von⸣ Stein erfahren könntest ob sein S. 862 noch in der Schweiz ist und wann er nach Berlin zurückkommt  – wäre dies vielleicht gut .  .  .  . Da der S. die Sollner wohnung kennt – könnte er vielleicht über München fahren .  .  .  . Er war damals in Berlin zu sehr benachteiligt S.

442.  EM an StG

27. 1. 1927 Brief ohne Umschlag Donnerstag 27 I 27

Liebster Meister: Deinen letzten Brief über die Neuen habe ich noch oft und mit wachsender Freude gelesen. Wir hoffen auf ein Zusammentreffen zu Ostern und ich bemühe mich, S. schon im voraus etwas eifersüchtig zu machen. Eben kamen auch Deine warnende [sic] Worte, die ich S. heute noch geben werde. Ich glaube, dass er selbst vor dem Schicksal Furcht hat und deshalb vorsichtig ist, jedenfalls wird die Mahnung ihn bestärken. Die beiden zusammen zu sehn, ist eine unvorgesehene Freude und ich wünschte nur, dass Du dabei sein könntest. B. 862 Gemeint ist wie oben (Anm. 857) Robert von Steiger (1905–1988); er studierte Geschichte, Englisch und Kunstgeschichte in Bern, Berlin und München, promovierte nach zahlreichen Versuchen, unter den Nationalsozialisten eine militärische Karriere durch Vermittlung von Thormaehlen, Walter Elze und anderer aufzubauen, 1936 in Bern über den Rüstow-Prozess (1848–1850) und wurde 1937 exmatrikuliert. Von Wilhelm Stein bei George im Januar 1926 in Basel eingeführt, kam es zu mehreren Begegnungen mit George (Frühjahr und Frühsommer 1926 in Solln und Heidelberg) bevor George dann den gesamten Juli 1928 mit Kommerell, Anna George und Steiger in Spiez verbrachte, wo auch Georges 60. Geburtstag gefeiert wurde. Das Verhältnis trübte sich aber schon 1930, bestand bis zu Georges Tod nur in der Erziehung Michael Stettlers, eines entfernteren Vetters, für George und den Kreis sowie dessen erfolgreiche Präsentation in Minusio.

448

Briefwechsel 1927

wird wohl stark genug sein, um dies alles zu tragen – jedenfalls überlässt ihm S. die Initiative – und scheint mir klug zu sein. Nach S. Erzählungen muss S. sich gerade ⸢zu⸣ Mühe geben um der Leidenschaftlichkeit des B. standzuhalten! so sind sie heute! Heut war ich ⸢bei⸣ Bondi im Büro und lege einige Briefe, die er mir gab, bei. Sachlich sind wir noch nicht weiter gekommen. Ich musste ihn bitten, mir die Abschriften sämtlicher, mit Dir getroffener Abmachungen zur Verfügung zu stellen, da man sonst ohne deren Kenntnis keine Vereinbarung zusammen schustern kann. Heute haben wir nur einige Schreckschüsse ⸢ab⸣gegeben: Er  – mit der Bemerkung, dass Du ihm in einem alten Vertrag das Vorkaufsrecht eingeräumt hättest, so dass Du die Rechte garnicht (ohne weiteres) an die Stiftung ohne seine Zustimmung veräussern könntest, worauf ich replizierte, dass Du einige wesentliche Rechte (Urheberrecht, Auflagenrecht seit „Siebt. R.“ ) allein besässest und ⸢dass⸣ Du im übrigen alle Rechte an die Stiftung geben könntest, ohne dass Du dadurch sie verkaufen würdest. Er war etwas perplex! Sodann betonte er, dass ihn der Gedanke der Stiftung angenehm sei, nur dürften Deine Rechtsnachfolger keinesfalls das nur Dir persönlich zugestandene Recht auf Rücktritt vom gesamten Vertragsverhältnis haben – ich habe dies lediglich zur Kenntnis genommen. Dann habe ich noch betont, dass auf jeden Fall Dir ein monatliches Minimum von 500 RM gesichert werden musste. Er gab mir die schriftliche Erwiderung auf Roberts Beanstandungen, die ich Dir übersenden werde, wenn ich erst in einigen Tagen das ganze Vertragsmaterial haben werde.863 Er behauptet, dass er Dir das Recht der Gesamtauflage für die vor 1900 bei ihm erschienenen Werke nur unter bestimmten Bedingungen, wie sie ⸢die⸣ in einem grossen Vertrag aufgezeichnet sind, eingeräumt habe. Diesen Vertrag wird er mir in Abschrift senden. Dann werde ich weiter mit ihm persönlich verhandeln.

Grüsse den Dortigen, soweit sie schon bereits grussfähig sind Alles an E. K. wird sofort ohne jede Mühe weiterbefördert!      Dein Ernst.

863 Viele der Entwürfe und Kommentare zu den Verlagsverträgen befinden sich heute im StGA.

Briefwechsel 1927 449

muss Namen „Verlag Georg Bondi“ weiterführen, sonst Verlag der Blätter f. d. Kunst

443.  StG an EM

Poststempel zerstört, v. d. 2. 2. 1927 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50

Lieber Ernst: in der sache Bi wird noch manche nuss zu knacken sein … Dass Bi in einigem recht hat ist unbezweifelbar – in andrem der verträge giebt er sich jedoch illusionen hin … denn die beiden sehr findigen stiftungs=leute hatten alle verträge in der hand + genau durchstudiert. Nun etwas was bald erledigung heischt. Bi hat die E*sche zeichnung zu F II zurückgesandt und ich frage dich an ob Zsch  … die reinzeichnung vornehmen will und kann … Weisst du ob er noch in Bas sein wird wenn ich anfang Febr. dorthin komme? Durch dies rücksenden geht ziemlich zeit verloren und jezt eilt es.864 Nun zur hauptsache … Dass ich überzeugt bin dass Si mit dem S richtig verfährt steht ja im brief an ihn. Ich glaubte nur ein übriges tun zu müssen mit meiner mahnung – schaden kann sie gewiss nichts. Herzlichstes an Alle M.

444.  StG und MK an EM

2. 2. 1927 Brief ohne Umschlag

Liebe Schw W : Gestern abend traf der M. hier ein. Gleich am andern tag trafen wir Aless. Z. zum spaziergang und gingen mit ihm in sein atelier dessen kosm. ursymbolik kein mund und keine feder schildert. Nur sei erwähnt dass uns dort zwei S=bilder sehr erregten – auch für Sio wird diese

864 Bondi hatte schon zu Jahresbeginn in einem Brief an George Kritik an der Qualität der Titelzeichnung von Ernst Gundolf geäußert. Am 24. 1. 1927 schlägt er dann Zschokke für die Herstellung einer Reinzeichnung vor und gibt am 25. 1. genaue Anweisungen für diese und die Anfertigung eines Clichés (StGA).

450

Briefwechsel 1927

nachricht belangreich sein!865 Morgen wird A∙ Z∙ mich (das Kl) zu seinem bildwerk führen.866 – Die adresse ist also jezt: Schaffhäuserrheinweg 99. Alles Herzliche! D. M. und Mm Basel                        2. II 27. Z. hat sich erboten ∙ die zeichnung nach wunsch herzustellen.867

445.  StG an EM und SM

n. d. 4. 2. 1927 Brief ohne Umschlag

L. E. ich kann mir das lange ausbleiben irgend einer antwort gar nicht erklären sollte etwas verloren gegangen sein? Am 27 januar schriebst du dass du dir die verträge geben liessest und mit Bi sprächest … vor acht tagen schrieb ich dir nochmals dass zeit jezt drängt – langsam geht der Basler aufenthalt zu ende – und dass Rbert mehrmals gefragt wie dinge ständen … Herzlich G Lieber Silvio : mit grosser teilnahme las ich Deinen lezten brief. Deinen wunsch zu erfüllen hängt jedoch nicht von mir ab … vielleicht gelingt es deiner überredungskunst den E* zu veranlassen dass er auf eine wichtige anfrage wenigstens irgend eine antwort erteilt Herzlich G B mittwoch Ich habe ein dunkles gefühl als ob 3 in B w ∙ m ∙

865 Laut Morwitz zwei Bilder von Markees und Bernhard von Bothmer (BB). 866 Um welches der vielen Bildwerke Zschokkes in Basel es sich handelte, ist nicht feststellbar. 867 Es geht um die Reinzeichnung des Titels für das Buch von Ernst Kantorowicz über Kaiser Friedrich II., das 1927 bei Bondi erschien.

Briefwechsel 1927 451

446.  StG an EM

Anfang März1927 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50

märz 27 Liebster Ernst: der febr. ist herum und in der B-sache habe ich nichts mehr von Dir gehört ∙ Rob hat auch schon mehrmals danach gefragt. – Ob und wann ich noch nach dem Süden gehe ist jedoch nicht entschieden .  .  .  .  . wie ich auch A. Z. wissen liess. E. K. schickt mir das Register des FII zu – ich habe ihn ⸢wol⸣ richtig verstanden ∙ wenn er das von sich aus erledigt – ich habe nichts mehr zu monieren … das mir gesandte stück der corr. ist wol ein doppel ∙ das ich nicht zurückzusenden brauche? … Allen S’ liebes ∙ Herzlich G.

447.  StG an EM

v. d. 11. 3. 1927 Brief ohne Umschlag

L. E ∙ ich hoffe dass Du gut in B angekommen bist ∙ ich wollte Dir noch sagen ∙ eh du zu ⸢mit⸣ B  – sprichst ∙ dass es doch ratsam ist ihn vorzubereiten dass der vertrags-vorschlag in der form in den haupt=punkten für mich nicht mehr haltbar ist ∙ zumeist dass die vorgeschlagenen sicherheiten (stimmenmehrheit=§) mir + überhaupt nicht genügt  … Von dem Basler plan jedoch schon jezt ihm etwas zu sagen halt ich ⸢aber⸣ für verfrüht … Viele herzl. erinnerungen St. B / samstag

452

448.  EM an StG

Briefwechsel 1927

11. 3. 1927 Brief ohne Umschlag

11. III 27 Liebster Meister: Ich bitte Dich mein langes Zögern zu verstehen. Meine Schwester Casper868 ist gestorben und ich hatte alle Hände voll, um meine Mutter anfangs vor der Nachricht von diesem Tode zu schützen und ihr dann die Sache beizubringen. Dazu kamen scheussliche Wunderlichiana und Erbsachen von Silvios Mutter! Heute habe ich nun mit Bondi die grosse Aussprache gehabt. Ihr Ergebnis ist in unserer beiliegenden Niederschrift vom 11. III unverbindlich gefasst.869 Mir scheint, dass Du das Recht für die Gesamtausgabe für die Werke, für welche das Einzelausgaberecht für alle Auflagen bei Bondi ist, nach Sinn und Wortlaut des § 10, 11 des Vertrages vom 21. III 12 nur für Dich persönlich hast, so dass Du dieses Recht auch nicht einmal für Deine Lebenszeit auf die Stiftung übertragen darfst. Auf diesem Standpunkt steht Bondi, ich habe natürlich protestiert, doch glaube ich, dass Du im Prozess nicht durchdringen würdest. Infolgedessen könntest Du, ohne vorherige Einigung mit Bondi, auf die Stiftung nur die Verlagsrechte für die Werke vom „Siebenten R“ ⸢an⸣ für Einzel- und Gesamtauflage übertragen. Deshalb wird es sich wohl empfehlen, dass die Stiftung, bevor sie rechtlich besteht, den Vertrag mit Bondi schliesst, wozu er bereit ist. Den Vertragsentwurf mit Roberts Notizen und Bondis Erwiderung füge ich bei.870 Ich habe dem Bondi nur gesagt, dass meiner Ansicht nach die Stiftung auf eine Garantiesumme von Bondi ⸢aus⸣ nicht verzichten kann. Er wird dazu wohl bereit sein, betont aber dass Dein Anteil für 1926 unter der Summe von 2400 RM geblieben ist. Mir scheint es jetzt nötig, dass Robert seine Ansicht in einem Vertragsentwurf (zwischen der zu gründenden Stiftung und Bondi!) niederlegt, da wir sonst nicht weiterkommen. Ich halte es für rechtlich ungünstig, die Stiftung zu gründen, bevor dieser Vertrag unter Dach ist. Ich habe Bondi darüber beruhigt, dass er sehr wohl einen Vertrag mit der Stiftung schliessen kann, dessen Inkrafttreten durch die Rechtsgründung der Stiftung suspensiv bedingt ist. Sonst nichts besonders. Alle Deine Anfragen habe ich an E. K weitergegeben. Der erste Teil der Heliogravüren soll aus Wien geliefert sein .  . 868 Eine der Stiefschwestern von Morwitz, aus der ersten Ehe seiner Mutter stammend. 869 Die Niederschrift liegt dem Brief bis heute bei. 870 Vertragsentwurf vom März 1927.

Briefwechsel 1927 453

Wir haben nach Zschokkes Berichten die Hoffnung, d. M. noch vor Ostern hier in Berlin zu sehen! Quartier bei mir ist bereit.! Bernhard wird bis zum Ferienbeginn (etwa den 7. April) in Berlin sein. Silvio plant, d. M. eventuell später von hier aus nach München zu begleiten, während ich dann, wenn alles gut geht, in den Ostertagen dort zu erscheinen hoffe. Der Kopf von A. Z. ist wieder ein Schritt weiter, wenn man ihn nach der inneren Belebung hin betrachtet. Im einzelnen scheint mir jetzt das meiste zu stimmen, nur liegen die Augen vielleicht etwas zu tief.871 B. ist unglaublich! von Herzen Dein Ernst

Unsinn!

Ich halte es für rechtlich ungünstig die Stiftung zu gründen, bevor dieser Vertrag unter Dach ist. Ich habe Bondi darüber beruhigt, dass er sehr wohl einen Vertrag mit der Stiftung schließen kann dessen Inkrafttreten durch die Rechtsgründung der Stiftung suspensiv bedingt ist. –

In der Besprechung am 11. III. 27 ergab sich über die Rechtslage in den wesentlichen Punkten Folgendes: Auf Grund der Verträge ist das Verlagsrecht für alle Einzel-Auflagen von Fibel, Hymnen, Bücher, Jahre, Teppich, Dichter  I / II, Baudelaire, Shakes­ peare, Sonnette zweifellos bei Dr. B. Von den übrigen Werken von St. G. ist das Verlagsrecht für die künftigen Einzelausgaben bei St. G., nämlich Ring, Stern des Bundes, Tage u. Taten, Dante, 3 Gesänge, Krieg. Bez. der Gesamtausgabe hat St. G. auf Grund des Vertrages vom 21. III. 12 §  10 das Verlagsrecht unter bestimmten Bedingungen auch für diejenigen Werke für die das Verlagsrecht für die Einzelausgaben bei Dr. B. ist. Die xxx gung des §  11 dieses Vertrages, nach welchem das Recht des §  10 nicht auf die Erben von St. G. übertragbar ist, könnte zu

871 Vgl. Anm. 831.

454

Briefwechsel 1927

Zweifeln Anlass geben insofern, als zweifelhaft ist, ob durch § 11 St. G. gehindert ist, das Recht des § 10 für seine Lebenszeit auf dritte zu übertragen. Wenn eine Stiftung gemacht wird, müßte daher entweder ⸢die Rechtslage⸣ bez. des § 10 u. 11 zwischen Dr. B. und St. G. geklärt sein, da zweifellos für die Stiftung es wesentlich wäre, diese Recht des § 10 von St. G. mit übertragen zu erhalten. St. G. müßte nämlich in die Stiftung einbringen: 1) das Einzel-Auflagen-Recht, soweit es ihm zusteht. 2) Das Gesamt-Ausgaben-Recht des § 10. Der andere Weg wäre (der) der, dass die Stifung, bevor sie rechtlich besteht, mit Dr. B. den Vertrag vereinbart, und auf diesem Wege die Zweifel über die § 10 und 11 aus dem Wege geräumt werden. Die heutige Besprechung ist für alle Teile unverbindlich.

nein, auf Erben nicht übertragbar.

449.  EM an StG

13. 3. 1927 Brief ohne Umschlag Sonntag 13. 3. 27872

Liebster Meister: Inzwischen wirst Du meinen Brief, der kurz vor dem Eintreffen Deines Briefes abging, erhalten haben. Eben fällt mir noch etwas sehr wichtiges ein, um Dir zu ermöglichen, alle Karten Bondi gegenüber wieder in Deine Hand zu bekommen. Du kannst nämlich an Bondi schreiben, dass Du von dem Recht des § 10, die Gesamtauflage⸢ausgabe⸣ sämtlicher Werke in einem anderen Verlag (nämlich im Verlag der Stiftung selbst!) erscheinen zu lassen, Gebrauch machst. Damit hast Du ⸢Dein⸣ Recht vertragsmässig auch bezüglich der vor dem „Siebenten Ring“ liegenden Werke wiedererlangt und kannst darüber verfügen, wie Du willst, ohne dass Bondi irgend etwas dagegen unternehmen könnte, was rechtliche Schwierigkeiten bereiten könnte. Bondi wäre hierdurch geradezu gezwungen auf alle Bedingungen, die die Stiftung ihm ⸢später⸣ macht, einzugehen. Denn ihm nutzt das Recht auf die Einzelauflagen⸢ausgaben⸣ der Werke sehr wenig, wenn die Stiftung eine

872 Das Datum ist mit Bleistift von Morwitz eingefügt worden.

Briefwechsel 1927 455

Gesamtausgabe herausbringt. Die Bedingungen des § 10 des Vertrages vom 21. III 11 wären für die Stiftung als Verleger leicht zu erfüllen, denn sie verlangen nur: Gesamtverkauf der Gesamtausgabenbände an die Subskribenten und dass der Verkaufspreis der broschierten Gesamtausgabe nicht billiger sei als die Hälfte der Summe der Einzelausgaben. Die Einbände dürfen nicht billiger sein als die der Einzelausgaben. Bondi hat dann noch das Recht, in den Vertrag den Du mit einem anderen Verleger schliesst, einzutreten, dies kann ihm aber durch den Inhalt des Vertrages, den Du zunächst mit der Stiftung schliessen würdest, sehr leicht unmöglich gemacht werden. Das Endergebnis ist dann doch, dass er sich zu dem Vertrag bequemen muss, den die Stiftung ihm vorlegen wird. Das ist meines Erachtens der richtige, rechtlich einwandfreie Weg! Dein Ernst

450.  StG an EM

Poststempel Basel, 14. 3. 1927 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50 B / montag

l: E dank für Deine nachrichten – jezt wird alles etwas dringlich und ich antworte sofort. Nach besprechung mit den Beiden hier873 wurde es klar dass wir so wol nicht weiter kommen – mit einem streit über befugnisse .  .  .  .  . Der gute Bi.. benuzt den schönen gedanken der stiftung gleich zum eintreiben eines keils .  . Er hatte geschlossne ohren – jezt müssen sie geöffnet werden. Ich mache jezt (abgesehen von jedem gedanken der Stiftung) von Meinem unzweideutigen Recht gebrauch für die Ges=Ausg. mir einen neuen verlag zu suchen wenn Bi. auf die dort ausgemachten bedingungen nicht eingehen kann .  . Die Stiftung constituirt sofort für meine Ges=Ausg. einen „Verlag der Blätter f. d. Kunst“ dessen vorzüglichste einräumungen darin bestehen: a) eine beschränkte anzahl von auflagen übertragen zu bekommen. b) das ganze werk St. G. vor allen beeinträchtigungen geistiger art sowie vor allen geschäftlichen wechselfällen zu sichern. * (und zwar bei lebzeiten sowol als nach meinem ableben) c) jährlich eine genügende summe zu sichern.  .  . B. verdient reichlich: Nachdem er für die ganze überlassung meiner rechte für die Ges=Ausg. nicht das allermindeste als seine leistung anführt  .  . Seine angebotne garant=summe ist ein spott. Dies jahr ist mein

873 Berater in Basel waren Julius Landmann und Robert Boehringer.

456

Briefwechsel 1927

guthaben bei ihm etwas über 2000 Mk. (er hätte wenn auf seinen entwurf eingegangen worden wäre 2400 zu zahlen! Das überhaupt zu erwähnen!)! Nichts hätte er zu zahlen gehabt bei der zweijährigen G=summe … guthaben hätte dann über 6000 betragen! – Bitte teil mir unverzüglich Deine meinung hierüber mit ∙ damit für B. die genauen bedingungen festgelegt werden. Dann kann er wählen aber nicht makeln … Vor einige klarheit erzielt ist kann ich nicht hier weg Herzlichst an Alle     G.

Bitte wenn auch noch so kurz Deine meinung sofort!

451.  StG an EM

v. d. 19. 3. 1927 Brief ohne Umschlag

l. E ich bitte dies sofort nach durchsicht an B. zu senden.874 Ich werde alles aufbieten um gleich anfang nächster woche in Berlin zu sein Herzlichst. G. Bitte mit deiner schrift anzufügen: abgesandt ? III. 27

452.  StG an EM

Basel, 19. 3. 1927 Telegramm nach Berlin W. 50

sonntag frueh achtfuenfzig potsdam.

453.  StG an EM

v. d. 16. / 17. 4. 1927 Brief ohne Umschlag

L. E. ich muss Dir berichten: H ist nun endlich so weit dass ER875 mit spazieren zu gehn geruht. Da hab ich ihn flüchtig gesehn .  . hübsch

874 Um welche Beilage es sich handelte, ist nicht mehr festzustellen. 875 Nicht identifiziert.

Briefwechsel 1927 457

fast zu hübsch .  . etwas das ideal der L. v. Hofmann=Jünglinge ∙876 ganz dunkelbraun und dabei milch= und blut=haut ∙ militärisch halb und halb volksig∙ vollständig ungeistig ∙ eher technisch angeregt – und dabei vollgymnaser … sein leitspruch: „Ich geh keinen menschen was an“…! Du würdest ihn unter hunderten herausfinden .  . H. freut sich eines gewissen triumpfs: Obwohl meister=sportler geht er hochnäsig mit niemanden um. Ostern wirst du ihn bewundern können mit Si  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .877 Nun zum zweiten ∙ ganz entgegengesezter art … der Ostern bereits im kreis weilen wird: U 2. Über einen sonntag wurd er von U 1 hergesandt. Sehr schlank ∙ ebenmässig ∙ nur im gesicht mit U 1 vergleichbar.878 Ganz klein ∙ zwölfjährigen=statur! ⸢bei 15!⸣ ein koboldgesichtchen ∙ mit sehr schönen augen. Man wird zuerst fragen: wie kommt sowas kleines hierher? Dann aber geschieht das wunder. Er stellt sich hin und liest! Bei vielem was du gehört hast – da wirst du staunen. Shakesp-dramen liest er seit einem jahr ∙ gedichte jedoch erst seit einigen wochen … U. hat gedichte bis jezt von ihm fern gehalten … Plötzlich hat U 2 sich auf die sonnette geworfen. Er las 25 stück hintereinander ∙ man wurde nicht müd ihm zuzuhören! .  .  .  . Nach der neuen serie der unbedingten καλοί879: ein kleiner dämon .  . –880Aber dass dämonen auch wieder auftauchen – ist sehr wichtig … Grüsse Si mit seinem S. . Trotz der neuen S. erlebnisse denk ich doch viel an den B. und würde ihn gern – sehen … H muss demnächst abreisen – Löwe bleibt dauernd. Beide denken liebend an den Berl∙ staat.

876 Ludwig von Hofmann (1861–1945), in den 1890er Jahren mit George befreundeter Maler. Auch Rilke, Hofmannsthal und Thomas Mann schätzten seine Gemälde, gerade auch jene, die antikisch nackte oder leichtbekleidete Jünglinge auf Pferden oder in arkadischen Landschaften zeigten. George widmete von Hofmann die Gedichte „Feld vor Rom“ und „Südliche Bucht“ im Teppich des Lebens (1899/1900), vgl. SW V, S. 68  f. 877 Ostern 1927 waren Morwitz und Silvio bei George in München-Solln zu Besuch. 878 U 1 muss sich auf Max Kommerell beziehen, U 2 auf dessen Neffen Helmut Strebel (1911–1992), der, wie seine Briefe an Stefan George belegen, Ostern 1927 in München in den „Staat“ eingeführt wurde (StGA). Kommerell, selbst ein unbändiger Vielleser, erzog ihn mit strenger Hand, d.  h. er musste sich früh intensiv mit Literatur und Fremdsprachen beschäftigen. Kommerells Abwendung von George und Kreis sowie Antons Selbsttötung waren einschneidende Erlebnisse für den späteren Völkerrechtler. Die Bezeichnung „U“ ist sonst nicht bekannt. 879 Kaloi: Griechisch für ‚die Schönen‘. 880 Helmut Strebel unterschrieb selbst einen Brief an George vom 2. 6. 1927 mit „der kleine Dämon“ (StGA).

458

Briefwechsel 1927

Sehr wichtig war auch der besuch von Claus . Die soldaten haben keineswegs abgefärbt .  .881 Heut geht eben alles was früher nicht ging .  .  .  . Solln bleibt vorläufig noch aufenthalt.                                                                                                                                                                                   G

454.  StG an EM

22. 4. 1927 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Du traust meiner geschäftskunde zu viel zu: was und wo soll ich unterschreiben? vorn oder hinten – der Prinz sagt hinten! Ich habe die unterschrift also hinten hingesetzt und Herr Notar Dr. V. soll sie beglaubigen. – Herzlichsten für übersandten tabak – alle zu b – enden werden von allen … Vermute ich falsch ∙ dass ein zweites exemplar für meine unterschrift abgesandt wurde und verloren ging? Sowie ein drittes an meine Schwester? D. M. 22 april 27. Wenn heute an dich (Ernst) geschickt wird geht es immer noch schneller ∙ als wenn ich zu Silberstein am Hauptbahnhof ginge – was nicht vor Montag geschehen kann.

881 Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907–21. 7. 1944) hatte nach seinem Abitur am 1. 4. 1926 den Dienst beim 17. Reiterregiment in Bamberg angetreten. Er war der jüngere Bruder von Alexander und Berthold von Stauffenberg und ihnen stark verbunden. Musisch begabt, besuchte er wie diese das humanistische Eberhard-Ludwigs-Gymnasium in Stuttgart, musste das Abitur aber krankheitsbedingt als Externer ablegen. In einer Neupfadfindergruppe begann 1921/22 die Beschäftigung der Brüder mit Stefan Georges Stern des Bundes. Albrecht von Blumenthal stellte 1923 die Verbindung zu George her. Claus erhielt anders als seine Brüder nie einen anderen Namen im Kreis. Obwohl von George geschätzt, war er ihm und anderen Freunden nie so nahe wie sein Bruder Berthold, stand aber selbstverständlich am Totenbett Georges und nahm an der Totenwache teil. Am 20. Juli 1944 misslang sein Attentat auf Adolf Hitler. Am Tag danach wurde er in Berlin hingerichtet.

Briefwechsel 1927 459

455.  StG an EM

v. d. 1. 5. 1927 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: die beiden dörrungen sind erledigt ∙ auf die erste kam noch eine zweite. Es wäre doch zu bedenken ob für solche fälle nicht eine allgemeinvollmacht dem anwalt erteilt werden müsste um ähnlichen einbrüchen vozubeugen ∙ auf dem land besonders sind sie mit rechten mühen verbunden ∙ im ausland gar mit ganz beträchtlichen … Ich sende hier einen ausschnitt der vielleicht für unsren vertrag wichtig werden kann. Lies ihn und steck ihn bitte in den brief an R .  . Gleichzeitig wirf den an E. K. ein. R. habe ich des längeren vertröstet dass ich mich bald mit seinen zusätzen beschäftigen werde!!! Ab 1. mai tritt etwas ⸢ruhe⸣ im Männer-haus ein.    Herzlich G. An Silvio : Dein Landsmann blieb noch einige tage im M.  H. und ist darin merklich aufgetaut.882 An Bernhard ∙ an den lieben B. denk ich jeden tag … M / S sonntag

882 Markees wurde in Berlin geboren und ging dort zur Schule, deswegen ist es unklar, auf welche Landsmannschaft George hier Bezug nimmt. Gemeint sein könnte der Berner Robert von Steiger, der Ostern – von Wilhelm Stein eingeführt – in Solln verbracht hatte. In einem Brief an George vom 10. 5. 1927 erinnert er die Begegnung mit George, den Blickaustausch, den Kuss auf seinen Scheitel (StGA).

460

456.  EM an StG

Briefwechsel 1927

20. 5. 1927 Brief ohne Umschlag

20. V 27 Liebster Meister: Du wirst durch S.’s und B’s Briefe, die Dich wohl in H. erreicht haben, von unserm Leben wissen. Inzwischen hat sich der Zustand meiner Mutter verschlechtert, sie geht nicht mehr und liegt den grössten Teil des Tages im Bett. Dazu bin ich als Hilfsrichter zum Kammergericht einberufen und so mit Arbeit überlastet, dass die Durchführung bis zu den Gerichtsferien fraglich ist. Ob es möglich sein wird, B. zu Pfingsten nach H. oder M. zu bringen, lässt sich nicht sagen, da die Mutter aus Furcht vor dem Bruch mit der Offizierstradition Schwierigkeiten zu machen beginnt.883 Nimm deswegen bei der Ortswahl keine Rücksicht. Sonst ist von B. und S. nur Gutes zu berichten. Aus dem Kinde ist ein hochgewachsener Knabe geworden, der schon einen eigenen Willen hat und Stellung zu nehmen beginnt.884 Stein diktiert sein Holbein-Buch,885 A. Z. ist fleissig und wird in einiger Zeit die letzten Dinge an den Armen und Beinen der Figur festgelegt haben, so dass sie hoffentlich bis zum Herbst gegossen sein wird.886 Ludwig geht es gut. Von ganzem Herzen Dein Ernst.

883 Der Vater, Wilhelm Friedrich Franz Karl von Bothmer, war Königlich preußischer Oberst und schon 1922 verstorben, die Mutter Marie von Bothmer, geborene Freiin von und zu Egloffstein, war ihrerseits Tochter des Königlich preußischen Generals der Infanterie Wilhelm Freiherr von und zu Egloffstein. 884 Bernhard von Bothmer war – 1912 geboren – damals noch keine 15 Jahre alt. 885 Die Monographie Steins erschien mit dem knappen Titel Holbein im Oktober 1928 mit der Jahreszahl 1929 in Berlin im Julius Bard Verlag und ist Alexander Zschokke gewidmet. Anders als das Raffael-Buch von 1923 ist der Band reich bebildert. 886 Bei der Figur handelt es sich um ein Standbild Bernhard von Uxkulls.

Briefwechsel 1927 461

457.  StG an EM

v. d. 5. / 6. 6.1927887 Brief ohne Umschlag

L∙ E. deine nachrichten klingen nicht sehr tröstlich ∙ und den S nicht zu sehen wäre äusserst schmerzlich .  . Jedenfalls übermittle ich alles dienliche. So ist zu Pf. nicht eröffnet ∙ grössere versammlung ist auch nicht ∙ doch ist für die beiden Berl. S∙ S. hier gesorgt wenn sie kommen.888 Es fehlt nicht am platz und hindernisse sind nicht ∙ wenn sie sich vorher ankünden .  . Eine sache wäre mir noch wichtig die du mit vorsicht erkunden musst. Ist in des gegen=bildhauers Atelier889 oder bei W. St. denkbar gewesen ein zusammenstoss (wenn auch nur ocular!) von E. K mit Cantonal=Rob. ?890 Dein G. Umarme S. u B.

458.  StG und MK an EM

n. d. 6. 6. 1927 Brief ohne Umschlag

Liebste Schw: W : während der Pfingstversammlungen zu denen sich eine menge S s. hier einfanden ∙ wurden Sie samt Si. lebhaft vermisst und wir denken Ihrer sehr herzlich! Es liegt hier bei ein Schreiben des Lö. an Don Si. das Sie bitte ihm aushändigen wollen. Gerne wüssten wir ∙ wie es Ludwig geht? Herzlichst D. M. und alle S s.

887 Pfingsten fiel 1927 auf den 5. / 6. Juni. 888 George befand sich zu Pfingsten 1927 in Heidelberg. 889 Es dürfte das Atelier von Alexander Zschokke in Berlin gemeint sein, laut Morwitz bezieht sich die Bezeichnung „gegen=bildhauer“ auf diesen im Gegensatz zum Bildhauer Thormaehlen (BB). Zschokke war Schweizer wie Stein und der zuletzt genannte „Cantonal=Rob.“ Robert von Steiger. 890 George war sehr daran gelegen, ungeplante Zusammentreffen von Staatsstützen aus den verschiedenen Kleinkreisen zu vermeiden. Sie bedurften seiner Erlaubnis oder wurden von ihm selbst organisiert.

462

459.  StG und MK an EM

Briefwechsel 1927

v. d. 18. 6. 1927 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: D. M. lässt mitteilen dass er auf der abreise nach Basel begriffen ist. Die anschrift lautet: Schaffhauserrheinweg 99.891 Wegen der sendung ins ausland bittet der M die an ihn über Sie adressierten briefe auszusondern auf wichtigkeit hin ∙ im gegebenen fall zu öffnen (es kann sich nur um sehr wenige handeln) und das wichtige an obige anschrift zu senden. Herzliches. Den Mlichen aufenthalt weiss ausser dem Klsten niemand. Beiliegenden brief bitte einfach einzuwerfen Juni 27 Samstag

460.  StG an EM

Poststempel Basel, 18. 6. 1927 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebster Ernst: Das ging ja schnell892 .  . Ich dachte Deine mutter im herbst gewiss wiederzusehen .  . Und doch ∙ ein langes krankenlager war ihr nicht zu wünschen .  . Das lezte mal nahm sie noch anteil an allem ∙ und durch dich war ihr alter sorgenfrei. Das ist der trost Herzlichst Dein St. Basel / freitag

461.  StG an EM

Poststempel Basel, 23. 6. 1927 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

L: E: Dank für alle nachsendungen. Z hat die lichtbilder von der statue geschickt ∙ die aufnahmen scheinen mir jedoch wenig 891 Es handelt sich um die Adresse von Julius und Edith Landmann. 892 Die Mutter von Ernst Morwitz verstarb am 11. 6. 1927.

Briefwechsel 1927 463

vorteilhaft ∙ er versprach neue anfertigen zu lassen ∙ er schrieb dabei dass er jezt meinen kopf gern fertig mache.893 Hier verhält es sich so: der aufenthalt in Ba muss etwa 9. VII. abgebrochen werden ∙ ich vermute dass er jezt ohnehin nach B kommt ∙ und etwas zeit hätte er immer in für ihn günstigen umständen. Sag ihm das. Nun zu Dir ∙ dir täte es wol auch not Berlin eine weile zu verlassen .  . zumal alle freunde weg sind. Hast du dir darüber schon gedanken gemacht? Wohin geht Si in den ferien? weiss er davon? Si und B. haben sehr lieb geschrieben. Hätte das ⸢von⸣ B. beschriebne gedicht am schluss seines brief [sic] eine besondre bedeutung ∙ so wäre meine freude noch grösser.894 R. hat mir mitgeteilt dass er dir geschrieben … Er will jezt den möglichst endgiltigen vertrag fertigstellen wie er Bi vorgelegt werden soll. Herzlichst St. Basel ∙ mittwoch

462.  EM an StG

26. 6. 1927 Brief ohne Umschlag

Liebster Meister: A. Z. wird Dir diesen Brief übergeben. Er enthält die Vertragsentwürfe mit meinen Notizen für Robert und die für Dich angekommenen Briefe. Verzeih die Öffnung des einen Briefes – ich dachte nicht, dass er wichtig wäre. Ich habe aber kaum die ersten Worte gelesen. Im Sommer möchte ich (Anfang August) auf etwa 3  Wochen an die See  – vielleicht Belgien. Silvio und A. Z. kommen vielleicht mit, jedoch ist noch nichts sicher. Wie alles bei mir läuft, wird A. Z. berichten. Sei von Herzen gegrüsst. Dein Ernst. 26. 6. 27

893 Es waren Aufnahmen der Bronzefigur nach Bernhard von Uxkulls Gestalt, die für eine Schule in Aarau gedacht war, sodann handelt es sich wohl um einen der Georgeköpfe Zschokkes aus dem Jahr 1927. 894 Brief und Gedicht liegen nicht im Nachlass Georges im StGA.

464

463.  StG an EM

Briefwechsel 1927

Poststempel Basel, 4. 7. 1927 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

l. E. ich empfing über Z. deine nachrichten. Daraus geht hervor dass du es fördernder für dich hältst an die See zu gehen. Für mich kommt dies leider gar nicht in betracht … Da du erst sehr spät in die ferien gehst käme doch ein zusammen mit Dir und S. kaum in betracht ∙ denn im august will ich in K* sein. Deine bemerkungen über den vertrag haben ich und R durchstudiert .  . wir schicken dir nun demnächst mit allem versehenen vertrag [sic] zu ∙ den du dann Bdi übergeben kannst. Ausser der garant=summe bestehen kaum mehr schwierigkeiten und meinungsverschiedenheiten. Ich bin allein in unruhe wegen des ungeklärten konkurs=§. Kannst Du in erfahrung bringen welche zeit im sommer Bdi abwesend ist. Dies nur für heute ∙ grüsse S.  Dein St. G.

Rob’s anlage kann ich in dieser fassung nicht billigen – so wird sie sich kaum durchbringen lassen. Darin hat er jedoch recht – dass Frau Nad. (im einverständnis mit Verlag N. N.) leicht durch ehrenvollen konkurs sich der lästigen verpflichtungen des Rücktritt§ entziehen könnte. Verglichen mit dem bestehenden vertrag find ich den vorschlag des B. im neuen sehr listig entwertet. Das ist ein grosser unterschied ob es heisst: „Wenn die rechte des Herrn B auf einen dritten übergehen … hat S. G. das rücktrittsrecht“ oder: „Wenn die Inhaber=verhältnisse sich ändern“

Der automatische Rücktritt im Augenblick der Konkurseröffnung scheint rechtlich nicht zulässig, zum Mindesten ist er zweifelhaft. Wir erreichen aber, was wir wollen, wenn wir, gestützt auf § 28 und 36 des Gesetzes über das Verlagsrecht, die Uebertragbarkeit der Verlagsrechte ausschliessen. Dann kann ⸢gemäss §  36⸣ auch eine Uebertragung durch den Konkursverwalter nicht erfolgen. Wenn dann im Falle eines Konkurses der Verfasser nicht zustimmt, so kann sein Werk nicht auf einen andern Verlag übertragen werden; es muss dann erscheinen mit der Bemerkung „Verlag der Konkursmasse von N. N.“

Briefwechsel 1927 465

Die Ausschliessung der Uebertragbarkeit gemäss §  28 des Gesetzes über das Verlagsrecht sollte für die ganze Dauer des Urheberrechtes vorgesehen werden. Damit ist eine Gewähr gegeben, dass das Werk immer im Verlag von Georg Bondi erscheint, selbst wenn dieser Verlag in andere Hände übergehen sollte. Literatur: Jäger, Kommentar zur Konkursordnung, 2. Auflage 1904, Anmerkung 58a zu § 17 K. O. Voigtänder, Fuchs, Gesetze betreffend das Urheber- und Verlagsrecht, 2. Auflage, Anmerkung II zu § 36. Stenglein, Kommentar zu den strafrechtlichen Nebengesetzen des deutschen Reiches, 5. Auflage 1926, Anmerkung V zu § 36. Uebrigens führt Voigtländer/Fuchs aus, dass das Gesetz über den Verlagsvertrag zwar nachgiebiges Recht enthält, der § 36 jedoch zwingend ist.

464.  EM an StG

10. 7. 1927 Brief ohne Umschlag Sonntag 10. 7. 26

Liebster Meister: Zum Namenstag wünsch ich ein gutes Jahr mit etwas von dem, was die Menschen „Freude“ nennen, einem Gefühl, das Weg und Tat erleichtert.895 Berlin hofft, im Herbst Dir Freude zu bereiten – für den Aufenthalt bei mir ist alles gerichtet! Ich bleibe bis 28. oder 29. Juli bestimmt hier. Dann wollen wir – wenn alles glückt – an die Nordsee. Ich bin so am Ende mit meiner Spannkraft, dass ich eine Erkältung nun schon zwei Wochen nicht los werden kann. Silvio müht sich um mich. Roberts Plan hinsichtlich des Veräusserungsverbots ist die einzig wirksame Schutzklausel für den Konkursfall. Du brauchst Dich – falls Bondi diese nicht leicht zu schluckende Klausel akzeptiert – nicht wegen eines etwaigen Konkurses zu sorgen. Ob er sie akzeptieren wird, ist zweifelhaft, denn dadurch hören die Werke auf, ein sicherer Vermögensgegenstand für den Verlag zu sein. Aber ⸢er⸣ muss akzeptieren, sonst bekommt er den Vertrag

895 Morwitz meint Georges Geburtstag am 12. Juli.

466

Briefwechsel 1927

nicht. Vor etwa einer Woche ist Bondi in Berlin gesehen worden. Ich weiss nicht, ob es in Deinem Sinn ist, wenn ich ihn ⸢selbst⸣ nach seinen Reiseplänen frage, obwohl ich viele Monate mit ihm nicht gesprochen habe. Deshalb warte ich auf eine Weisung von Dir, ehe ich mich an Bondi wende. Das Rücktrittsrecht muss Dir bei jeder Verschiebung der Inhaberverhältnisse zustehen, durch die Bondi persönlich das Übergewicht verliert. Mit dieser Clausel hat Bondi sich mir gegenüber früher einverstanden erklärt. Noch alles Gute – immer Dein Ernst. Eben ruft Bondi von sich aus bei mir an: er reist Ende Juli für 4 Wochen fort. Er muss einen neuen Verlagskatalog drucken lassen, der zu Weihnachten erscheinen soll, und fragt an, ob Aussicht besteht, dass der Vertrag bald geschlossen wird – denn dann könnte die Gesamtausgabe schon in diesem Verlagskatalog angezeigt werden. Ich habe erwidert, dass ich dies sofort an Dich schreiben würde!

465.  EM an StG

n. d. 10. 7. 1927 Brief ohne Umschlag

Liebster Meister: Der Vertrag ist nun fertig, juristische Schwierigkeiten sind nach menschlichem Ermessen nicht vorhanden. Schicke mir erst die Reinschrift ⸢unterschrieben⸣, damit ich sehe, ob B. nicht etwas im letzten Augenblick geändert hat. Er hat in § 1 eine ⸢sehr⸣ grosse Anzahl von Freiexemplaren eingefügt. Ich weiss nicht, ob Du ihm das koncediert hast? Wenn nicht, nimm dies zum Anlass, um die nach heutigen Lebensverhältnissen sehr geringe Garantiesumme des § 3 und dementsprechend die Garantiesumme des § 9 zu erhöhen. Ich habe ihm nichts hier von gesagt. Durch diese grosse Anzahl Freiexemplare wird bei der hohen und noch dazu nicht scharf bestimmten Auflagenzahl nämlich Dein prozentualer Anteil gemäss § 2 erheblich herabgedrückt werden! Stosse Dich bitte nicht an der Wortfassung von § 9. Sie ist gerade nötig, um das Urheberrecht für die Zeit nach dem Tode übertragen zu können. Das Wort „litterarisches“ Urheberrecht muss durch Bezugnahme auf die §§ 9 und 14 des Urheberrechtsgesetzes ergänzt werden, in denen ausdrücklich steht, dass nur Du das Recht auf Änderungen und Übersetzungen in fremde Sprachen hast. Sehr wichtig scheint mir Neuschaffung eines § 12 über diejenigen Werke, die nach Abschluss dieses Vertrages neu entstehen. Bondi meint, Du würdest

Briefwechsel 1927 467

sie ohne weiteres als Bände der Gesamtausgabe drucken lassen,896 ich meine hingegen, dass Du von solchen Xx Werken zunächst Einzelausgaben machen wirst und dass Du jedenfalls das Recht behalten musst, bei Übergabe solcher neuer Manuscripte neues Honorar zu verlangen! Deshalb schlage ich als § 12 vor: „Dieser Vertrag gilt nicht für die nach seinem Abschluss entstehenden neuen Werke von St. G.“ Schreibe mir über all dies und sende den unterschriebenen Vertrag keinesfalls direkt an Bondi. Herzlichst mit Grüssen von S. Dein Ernst

466.  StG an EM

n. d. 10. 7. 1927897 Brief ohne Umschlag

Liebster Ernst: dank für alle nachsendungen. Hier wird fleissigst gearbeitet*). schade dass Du und S. diese luft nicht mit atmen könnt .  .  .  . Vom treulosen B∙ ist nichts gekommen. Zu deiner erfreuung leg ich dies bildchen bei Er ist aber viel hübscher in wirklichkeit Obwohl erst 12 darf er schon nächste Ostern898 Herzlichst G aufenthalt noch eine woche B / samstag

896 Eben dies geschah 1928 mit dem Gedichtband Das Neue Reich; er erschien sogleich als Band IX der Gesamt-Ausgabe. 897 George war bis Ende Juli in Basel, danach in Königstein. 898 Es könnte sich um Siegfried Strebel, Neffe von Max Kommerell, handeln. Gemeint ist ferner wohl, dass er Ostern 1928 zu einem Treffen von „Süßen/Staatsstützen“ geladen werden soll. Möglich wäre aber auch, dass es sich um den 1914 geborenen Michael, Sohn von Edith und Julius Landmann, handelt.

468

467.  StG an EM

Briefwechsel 1927

Poststempel Königstein, 4. 8. 1927 Brief mit Umschlag nach Zoute-Knocke

Seinem Don Ernesto y Don Silvio   Frank899 Der staat freut sich dass seine stützen sich im flachland so wohl fühlen  – denkt jedoch nicht im mindesten daran sich von seinen bergen herabzulassen – nachdem eben diese staatsstützen die küste den bergen und dem staate vorgezogen hatten – und vor allem da wir hier über nichts zu klagen haben. Der staat hofft jedoch dass diese gegensätze nicht zu einer grundsätzlichen spaltung des inneren staates in berg- und wasserpartei führen  – sondern erwartet für nächstes ostern einen entschiedenen sieg der bergleute. – Sehr erfreut ist der staat um die vermehrung des preussentums um einen staatsbürger – erlaubt sich jedoch anzumerken dass aus diesem übertritt nicht nur anderen sondern auch dem proselyten pflichten erwachsen.900 Endlich wundern wir uns dass von dem eindruck des werdens in B nichts geschrieben wurde – wenn uns gleich nicht unbekannt ist dass die interessen des schreibers mehr den dingen in der ebene zugewandt sind. Der staat bringt sich seinen stützen dem bildhauer dem schwarzen urfeuer und Don Silvio in die beste erinnerung.901 Nachschrift infolge allerhöchster belehrung: man schreibt zwar sujet mixte jedoch mixed pickles.

468.  StG und MK an EM

Poststempel Königstein, 9. 8. 1927 Brief mit Umschlag nach Zoute (Knocke)

Lieber Ernst: Ihren brief mit den beilagen mehrerer Sse haben wir mit grosser freude empfangen und entnehmen daraus das [sic] Sie ende des Monats in Berlin sind. Auch der M. hat die absicht 899 Zum ersten Mal tritt in diesem Briefwechsel der junge Frank Mehnert (1909–1943) als Schreiber auf. 900 Proselyt, ‚Dazugekommener‘ in Preußen, d.  h. in Berlin, könnte damals Robert von Stei­ger gewesen sein. 901 Gemeint sind Alexander Zschokke, Ernst Morwitz und Silvio Markees. Sie befanden sich im August in Le Zoute-sur-Mer, wie Zschokke in einem Brief an Wilhelm Stein vom 2. 8. 1927 mitteilte (StGA).

Briefwechsel 1927 469

in den lezten augusttagen in Berlin zu sein. Er bittet Sie um die mitteilung von Ludwigs adresse und erkundigt sich darnach ob für den fall dass Sie noch nicht in Berlin wären Ludwig zum empfang des M. bereit ist. Haben Sie bei gelegenheit des aufenthaltes in Belgien nicht den Zeichner E. gesehen und etwas erfahren über gewisse Staatsstützen?902 Das Kllste fügt an Sie und Ihre derzeitige umgebung verehrende und beissende grüsse bei.903 Von den obigen angaben unberührt bleibt der plan ∙ dass der M. am 1. Spt in Kiel ist und erst am 1. okt die eigentliche Berliner Staatszeit beginnt. Leider ist schreiber dieses nicht der von Sheit Erstrahlende ∙ sondern eine stille Gelehrtennatur. Herzlich Der Staat Kgst 9. Aug. 27

469.  StG an EM

Poststempel Königstein, 11. 8. 1927 Brief mit Umschlag nach Zoute (Knocke)

Lieber Ernst: ich halte es für besser dass Du die antwort erteilst da Du ja auch die freude an der komik genossest.904 Ich würde antworten: ich bedaure dass durch meine sommerreise meine antwort an Sie sich solang verzögert hat ∙ und dass es im sommer schwer ist sich mit St. G. in verbindung zu setzen. Ich 902 Hier ist vom belgischen Maler James Ensor die Rede, den sowohl George als auch Morwitz kannten. Vgl. Anm. 456 und 466. 903 Kreisintern sind hier Küsse gemeint. 904 Erste Erwähnunung der Verhandlungen um die Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt. Das Anschreiben des Stadtrats W. Meckbach an Ernst Morwitz im Auftrag des Oberbürgermeisters von Frankfurt, Dr. Landmann, ist im Stefan George Archiv erhalten. Welche Passage Morwitz als „komik“ genoss, ist schwer zu sagen. Erklärt wird der „Sinn“ des Preises in dem Anschreiben folgendermaßen: „bedeutende und in hohem Ansehen stehende Männer, seien es Künstler, seien es Gelehrte, die einer solchen im Namen Goethe’s erfolgenden Ehrung sich durch ihr schöpferisches Wirken als würdig erwiesen haben, durch die Verleihung zu ehren und zugleich die verleihende Stelle, nämlich die Stadt Frankfurt a.M., auch selbst zu ehren.“ (StGA)

470

Briefwechsel 1927

glaube in St. G’s sinn zu handeln wenn ich Sie bitte mit dieser ehrung nicht an ihn heranzutreten ∙ da er bis jezt jede öffentliche ehrung abgelehnt hat ∙ zugleich aber den derzeitigen mitgliedern der commission zu dan ∙ die ihn vorschlugen ∙ in seinem namen zu danken.905 Unsre briefe scheinen sich gekreuzt zu haben. Inzwischen wirst Du den unsrigen erhalten haben.             Herzlichst D. M. 11. aug 27 Adr: Stadtrat W. Meckbach Frankfurt a. M. Elbestrasse 48. Schulbehörden. Allen Knorcke=Ssen Herzliches906

470.  EM an StG

13. 8. 1927 Brief ohne Umschlag „Royal Hotel“ le Zoute907 13. VIII 27

Liebster Meister: Die Briefe haben sich gekreuzt. Die Antwort nach Frankfurt habe ich mit tiefster Freude und Bewunderung abgeschickt! Ich war in Ostende, habe Ensor jedoch nicht zu Hause getroffen.

905 Morwitz sandte diesen Text wortwörtlich am 12. 8. 1927 von seinem Urlaubsort aus an den Stadtrat W. Meckbach in Frankfurt (StGA). Dieser antwortete am 16. 8. 1927, die Sache sei durch die Verspätung „inzwischen ins Rollen gekommen“, solle „aber in solch einer feinen und erfreulichen Form erledigt werden, dass Herr Stefan George – zumal es sich ja um einen Dankesausdruck von der Geburtsstadt Goethes handelt – hoffentlich dazu bereit sei, eine Ausnahme zu machen.“ Weiterhin teilt er Verleihungsort „Goethehaus“ und Termin 28. August mit wie auch den wohl vergeblichen Wunsch, dass George die „Verleihungsurkunde auf Pergament“ persönlich entgegennehmen möge (StGA). 906 Kommerell vermutete Morwitz in Begleitung mehrerer Jüngerer im flämischen Seebad Knokke und wollte witzig sein. 907 Het Zoute ist der Name des Villenviertels von Knokke.

Briefwechsel 1927 471

Ludwig wohnt Halensee, Albrecht Achillesstr. 3. Meines Erachtens können dort wohl jüngere Staatstützen, nicht aber D. M. selbst hausen, denn die Inneneinrichtung, der enge, eingemauerte Lift, die nur stundenweise anwesende Bedienung und vor allem die Kleinheit der Räume sind meinem Gefühl nach für d. M. nicht angenehm. Ausserdem ist Ludwigs Mutter dort um die Sache in Gang zu bringen. Ich erwarte aber bestimmt, dass d. M. auch bei dieser Durchreise bei mir wohnt. Denn ich und auch mein Dienstmädchen sind spätestens am Abend des 27. VIII in Berlin, sodass bis zum 28. oder 29. alles für Dich vorbereitet sein wird. Nun soll unsere Reise beginnen – vielleicht sogar bis Paris! Viele Grüsse an die Schönen und Gelehrten Dein Ernst

471.  StG und MK an EM

Poststempel Königstein, 26. 8. 1927 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Liebste Schw: W: Der M. lässt mitteilen ∙ dass er Sonntag Nachmittag 4 uhr Anhalter bahnhof eintrifft. Er teilt noch von hier aus G. B-i mit dass er ihn sogleich ∙ wahrscheinlich schon Montag bestellen werde Herzlichst Mm Die genaue stunde der M’lichen ankunft ist 15 48 Königst

26. Aug.

472

Briefwechsel 1927

472.  EM an StG

v. d. 28. 8. 1927 Brief ohne Umschlag Paris Dienstag

Liebster Meister: Wir sind bis Paris und Chartres gekommen. Spätestens am Vormittag des 28. VIII bin ich in Berlin und hoffe, dort eine Nachricht über Deine Ankunft vorzufinden. Ich freue mich sehr, Dich bald bei mir zu haben. Dein Ernst.

473.  Oberbürgermeister von Frankfurt an EM

31. 8. 1927 Brief ohne Umschlag

Frankfurt A. M. 31. August 1927. Sehr geehrter Herr Landgerichtsrat! Sie hatten die Freundlichkeit, Herrn Stadtrat Meckbach wissen zu lassen, dass Herr Stefan George die ihm zugedachte Ehrung der Stadt Frankfurt anzunehmen bereit ist. Für Ihre liebenswürdige Vermittlertätigkeit darf ich Ihnen ergebenst danken. Die Urkunde über die Verleihung des Goethepreises folgt in der Anlage.908 Gleichzeitig darf ich Sie bitten, uns baldgefl. mitteilen zu wollen, wohin der Betrag von 10.000 RM gesandt werden soll.909 Mit vorzüglicher Hochachtung sehr ergebenst Landmann

908 Die Urkunde des Goethepreises befindet sich nicht im Nachlass Georges, der sie von Morwitz erhalten haben soll. Der Wortlaut ist jedoch überliefert und ist als Anhang zum Brief wiedergegeben. Edgar Salins Vermutung, Friedrich Gundolf sei der Verfasser des Textes gewesen (Brief vom 13. 7. 1959 an den OB von Frankfurt a. M.), ließ sich nicht belegen, leuchtet auch nicht ein. Verfasser war wohl ein Dr. Diebold, Redakteur der Frankfurter Zeitung. 909 In Georges Nachlass (StGA) hat sich die Mitteilung der Stadthauptkasse Frankfurt an Stefan George vom 8. 10. 1927 mit folgendem Wortlaut erhalten: „Wir überwiesen heute durch die Reichsbank für Sie auf das Konto des Herrn Landgerichtsrats Dr. Morwitz bei der deutschen Bank Berlin, xxxx, Charlottenburg, Wittenbergplatz 4 auf Anweisung der Deputation für Wissenschaft, Kunst, Volksbildung Goethepreis der Stadt Frankfurt 10 000 RM“.

Briefwechsel 1927 473

Herrn Landgerichtsrat Dr. Ernst Morwitz Berlin Regensburgerstrasse Nr. 29

STEFAN GEORGE   dem Dichter Der zu Zeiten der Verwirrung ∙ Den Sprachgeist Goethes ∙ Novalis’ und Hölderlins für uns bewahrte ∙ und doch in neuen Eigenformen den ewigen Sinn der Poesie bewies / Der im Glauben an den geistigen Beruf des Wortes ∙ Die Schönheit über dem bloss Beschreiblichen erkannte ∙ Und den Stoff der Welt durch Auswahl ∙ Mass und Klang zum Geist der Welt verwandelte / Der das dunkle und das strahlende Geheimnis der Dinge ∙ Als ein Seher sah / und / zart im Einzelwort / Doch weit in der Gebärde zur singenden Sprache brachte /   Dem Lehrer und Leiter   einer Generation von Männern der Dichtung und der Wissenschaft∙ Der sie zur Heiligung des Wortes ∙ Zu Fleiss und Demut in der Übermittlung fremden Sprachwerks ∙ Und zur ernsten Sehnsucht nach der geistigen Ganzheit erzog / Der vor den leichten Kränzen des Erfolges warnte ∙ Der die Beherrschtheit der Person ∙ und die Strenge des dichterischen Schaffens forderte / Der einem stofflich denkenden Geschlecht ∙ Das Wort Symbol als Ziel der grossen Poesie ∙ nach langem Irrtum neu befahl –   Der Persönlichkeit   Des idealen Menschen ∙ Der sich vom Geiste einzig formen liess Dem unbeugsamen Walter seines Künstler-Willens. Der ohne Nebenzweck und modischen Vergleich sein Werktum rein erhielt / Der sich aus eigener Zucht und eigener Freiheit selbstisch zur eigenen Gestalt erhob / Und doch die Demut vor dem Heiligen und Grossen gleich einem Priester übte /

474

Briefwechsel 1927

IHM ∙ STEFAN GEORGE ∙ DER Die Goethische Würde des Dichters ∙ Wie kaum ein Zweiter in unseren Tagen gehütet hat Ihm ∙ Dem Dichter ∙ Lehrer und Menschen sei zum ersten Male der  GOETHEPREIS DER STADT FRANKFURT   In Ehrfurcht und Bewunderung verliehen. Der Oberbürgermeister Dr. Landmann (Unterschrift) Frankfurt am Main ∙ Am Tage von Goethes Geburt ∙ 18. August 1927.

474.  StG und MK an EM

10. 9. 1927 Brief ohne Umschlag

Liebste SchwW : der M. teilt mit dass er deshalb noch nicht geschrieben hat weil im vertrag immerhin noch einige bemerkenswerte punkte eingefügt werden mussten. Er bittet Sie ∙ diese noch genau durchzusehn und dann B – i zu übergeben. Es wäre vielleicht gut ∙ bei der übergabe ihm sofort zu sagen dass die zahlen nichts endgültiges sind sondern dass darüber noch verhandelt werden kann. D. M. dankt für die erledigung der Frankfurter Sache und bittet um rat wohin er sich die summe soll überweisen lassen da er kein eigenes konto hat. Von hier ist wenig zu bemerken. Das leben verläuft gleichmässig. Eine seltsame schattenhafte begegnung mit dem Bolscho der hier zeitweilig stationiert ist. Ich sah ihn auf der strasse und nur weil ich von seiner anwesenheit wusste erkannte ich ihn wieder. Das „Feine“ ist aus seinem gesicht verschwunden das rohe ist stärker akzentuiert ∙ nur die gesamtfigur ist noch recht gut. Wir denken jeden tag an Berlin und dessen Sse. und bitten bei ihnen eindringlichst erinnert zu werden. Mir (dies ist: dem Kleinsten) wird der Stil zu kühl und ich füge von mir aus hinzu:

Briefwechsel 1927 475

Maxim liebt und küsst Bernhard Herzlichst der Kieler Staat ∙ K. 10. Spt. 27

475.  StG und MK an EM

n. d. 10. 9. 1927 Brief ohne Umschlag

L. E: der M. dankt für die freundliche erledigung des vertrags. Er ersieht daraus mit genugtuung dass im grossen und ganzen angenommen wurde .  . die noch strittigen punkte bieten keine schwierigkeit mehr. Jedoch wäre zu bedenken ob nach Deinem vorschlag man mit der endgültigen regelung man noch warten soll bis zu meiner ankunft in Berlin da schon anfang Okt. mit dem druck soll begonnen werden. – Wenn Du das betreffende geld bis zu weiterer verfügung auf Deiner bank lassen willst ∙ geschieht mir dadurch ein gefallen.  – Von G’s krankheit erfuhren wir bereits direkt durch den kleinen Ernst . Die operation ist gelungen.910 Das weitere bleibt abzuwarten. Bei der nachricht über P. fehlt fast das wichtigste: nämlich von woher.* Doch hoffentlich nicht beim selben Pastor.911 Dies wäre nun so ziemlich in der ordnung ∙ jedoch wenig befriedigt die auskunft über die Sss. Ist da gar nichts zu vermelden? Deine erkältung ist hoffentlich beim eintreffen dieses schreibens beseitigt. Alle S s umarmen alle S s ∙ D. M. Wenden!! D. M. hält für nötig dem vertrag noch zuzufügen in dem passus wo von den etwa künftig verfassten werken die rede ist die nicht in dem plan stehen:

910 Friedrich Gundolf war, schwer an Magenkrebs erkrankt, in Samaden in der Schweiz operiert worden. Eine briefliche Nachricht Ernst Gundolfs an George ist nicht bekannt. 911 Wahrscheinlich ist hier der mit Gothein befreundete, etwa gleichaltrige Schweizer Pfarrer und Theologe Ernst Merz (1896–1977) gemeint. Von ihm erschien 1924 in den Schweizer Monatsheften für Politik und Kultur ein Artikel über Stefan George (4 / 1924, S. 468–482). Gothein hatte nach seiner Promotion 1923 längere Zeit in dessen Pfarrhof in Rein bei Brugg im Kanton Aargau gelebt.

476

Briefwechsel 1927

nicht zur Gesamtausgabe gehören briefe notizen und dgl. soweit sie nicht für von St. G. oder vom literar. Verwalter zur veröffentlichung bestimmt werden.

* wegen P : jezt merkt auch schon das unbewaffnete auge wie gemeingefährlich er ist ∙ zumal er in allen städten wo er hinkommt ∙ wie ein bunter hund bekannt ist. Es ist verbrecherisch an andern ziehen zu wollen wenn man selber keine zucht hat. Gesagt worden ist ihm alles ∙ und es hat nichts gefruchtet. Hier hilft nur handeln um noch grössern schaden zu vermeiden.

476.  StG an EM

v. d. 5. 10. 1927912 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst ∙ den Bondischen Vertrag habe ich erhalten im wesentlichen ist alles gut nur entdeckte ich doch noch einige Ungenauigkeiten. Der Vertrag spricht in §  5 von beiden Vignetten, von der ersten ist im ganzen Vertrag keine Rede. Es scheint überhaupt darin Unsicherheit zu herrschen ob dieser zweite Vertrag irgendwelchen oder gar keinen Bezug nimmt auf den früheren. So spricht der erste Vertrag auch von den dem Verfasser zustehenden Freiexemplaren wovon der neue Vertrag nichts erwähnt. Ferner heisst in den rechtsverbindlichen Briefen Abs. 3. „Bei Anzeigen einzelner Werke wäre diese Überschrift (Werke aus dem Kreise u. s. w.) nicht unbedingt erforderlich obwohl ich es für nützlich hielte.“ Wenn ich mich recht entsinne waren das⸢runter⸣ Anzeigen im Buchhändlerblatt gemeint, nicht aber Anzeigen die das Publikum zu Gesicht bekommt z.  B. als lose Blätter den Büchern beigelegt.

912 Dieses Datum trägt der Vertrag zwischen Stefan George und Georg Bondi über die Gesamt-Ausgabe mit den Anlagen I, II und III. Vorausgegangen waren Brief Nr. 474 und Nr. 475, in welchen noch von notwendigen Änderungen die Rede war. George unterzeichnete am 6. 10. 1927 in Berlin. Er war im März in Berlin gewesen, Ostern in München-Solln, im September in Berlin, dann in Kiel und Anfang Oktober wieder in Berlin.

Briefwechsel 1927 477

Damit schliessen hoffentl die dörrungen  D. M.

477.  Amt für Wissenschaft Kunst u. Volksbildung an EM 21. 9. 1927 Brief ohne Umschlag Frankfurt A. M., den 21. September 1927 Tagebuch No.: 958. Sehr geehrter Herr Landgerichtsrat, wir wären Ihnen zu besonderem Danke verpflichtet, wenn Sie die Freundlichkeit hätten, uns wissen zu lassen, wohin wir den Barbetrag des Goethepreises übersenden dürfen. Die Angelegenheit konnte noch nicht erledigt werden, da die Anfrage des Herrn Oberbürgermeisters vom 31. 8. ds. Js. noch aussteht. Gleichzeitig gestatten wir uns, eine uns unbestellbar zugegangene Karte mit der Bitte um freundliche Weiterleitung anzufügen.913 Mit dem Ausdruck ausgezeichneten Dankes für Ihre Mühewaltung bin ich in hochachtungsvoller Begrüssung ergebenst Meckbach Stadtrat. Herrn Landgerichtsrat E. Morwitz Berlin W. 50 Regensburgerstrasse 29.

913 Liegt nicht mehr bei.

478

Briefwechsel 1927

478.  Amt für Wissenschaft Kunst u. Volksbildung an EM 24. 9. 1927 Brief ohne Umschlag Frankfurt A. M., 24. 9. 1927. Tagebuch No.: Sehr geehrter Herr Landgerichtsrat ! Dankend bestätigen wir das an Herrn Oberbürgermeister gerichtete Schreiben vom 19. ds. Mts., das sich mit unserem vom 21. ds. Mts. gekreuzt hat. Leider muss ich Sie nochmals in der Angelegenheit belästigen. Wir benötigen, um den bestehenden Kontrollvorschriften nachzukommen, eine von Herrn Stefan George persönlich vollzogene Empfangsbescheinigung. Sie haben vielleicht die Freundlichkeit, Herrn George zu bitten, von sich aus direkt uns die Anlage vollzogen zuzusenden. Die Ueberweisung des Betrages auf Ihr Konto bei der Deutschen Bank – Berlin wird inzwischen in die Wege geleitet. Mit nochmaligem herzlichem Danke für Ihre Bemühungen bin ich in grösster Hochachtung Ihr ergebener Meckbach Herrn Landgerichtsrat E. Morwitz Berlin W. 50 Regensburgerstrasse 29.

479.  StG und MK an EM

[5. 10. 1927]914 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: dank für alle besorgungen. Wir dachten erst am Sonntag einzutreffen und zwar um ¾ 5: d.  h. nur Maxim und ich. Da wir der meinung waren dass einer der Sse noch in den ferien wäre ∙ so dachten wir dass es nicht so sehr eile. Wir wären sehr verbunden wenn wir das genau wüssten. Denn wenn hier noch etwas belang-

914 Die Datierung geht davon aus, dass George zu Beginn des Monats Oktober nach Berlin kam.

Briefwechsel 1928 479

volles zu geschehen hätte ∙ so würden wir die reise gern noch einen tag weiter verschiedenben. Herzliches Dir und allen Ssen , auch von Maxim. Kiel, Mittwoch ∙

480.  StG an EM

Poststempel Kiel, 31. 1. 1928 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50

l. E. deinen roten zettel hab ich erhalten ∙ auch deine nach-schrift · ich bin jezt derart in andren gedankengängen dass ich wirklich nichts zu raten wüsste. Dennoch – mir scheint es besser die mutmaassliche schätzung anzugeben und bis 15ten abzusenden … sofern ich ∙ was ich hoffe ∙ kurz nochmals nach Berl komme wär ich 12.ten sicher da und es könnte dann noch nach besprechung rechtzeitig eingeworfen werden .  .  .  . Von L. erwart ich nachricht ob es bei der ersten abmachung bleibt und er am 11ten abends 9 empfangsbereit … Dass es B. besser geht ist sehr erfreulich. Dein S. G K∙ montag

481.  StG an EM

v. d. 31. 3. 1928 Brief ohne Umschlag

L. E. dank für Deine und Ss sendung915 ∙ ich glaubte es wäre fest ausgemacht gewesen dass der S. tag916 um Ostern stattfindet. Es ist alles darauf einge915 Wahrscheinlich Briefe von Silvio Markees und Bernhard von Bothmer, den Berliner Jüngsten. 916 Abkürzung für den Tag des Zusammenseins der „Süßen“, d.  h. der Jüngsten, mit George und einigen älteren, oft als „Staatsstützen“ bezeichneten Freunden wie Morwitz oder die Brüder Johann und Walter Anton. Die Abkürzungen S. und S.  S. ­wurden nicht trennscharf für „Süße“ und „Staatsstützen“ verwendet, mit ihrer Doppel­ bedeutung spielend.

480

Briefwechsel 1928

richtet. Der st. ist im süden ∙ Kstes in Florenz – aber ende des monats kehrt alles zurück … und ab 1. apr. ist in M das S. haus eröffnet ∙ diesmal vermutlich in entlegnerem vorort .  .  .  . Wenn Bdi nach mir fragen sollte so gib bitte die auskunft ∙ dass ich auf unbestimmte zeit mit unbestimmtem ort im Süden weile … Von M. sage nichts ausser den berufensten. G L. S. richte dich auf Ostern ein zum viel=erwarteten ereignis. G Alle post wie immer über H. 917

482.  StG an EM

Poststempel München, 30. 3. 1928 Postkarte nach Berlin W. 50

D. M. lässt mitteilen dass er in Solln angekommen ist (Terlanerstr. 8) und bittet aus dem Koffer soviel Tab.blätter zu senden als in einen Doppelbrief Platz finden. 30 märz 28.

483.  StG an EM

15. 4. 1928 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Ich danke für die schnelle sendung der leckerbissen und die darauffolgenden briefe von Dir und S–o . Ob dem O–S918 der poëtische teil mitgeteilt werden darf ∙ ist noch fraglich. Dagegen kann wol die prosa ihm ohne gefahr übergeben werden. Ich sende hier einen abzug der

917 Dort waltete Ernst Kantorowicz als Vermittler. 918 Bei O–S handelt es sich wohl nicht um den Vornamen eines neuen jungen Freundes, sondern um ein Kompositum mit „Süßer“, worauf der Großbuchstabe verweist. Wer hier 1928 gemeint ist, ist nicht deutlich, vielleicht der achtzehnjährige Willi Dette, der Thormaehlen in Berlin Modell stand, oder der junge Bernhard von Bothmer.

Briefwechsel 1928 481

gruppenaufnahme. Es ist nur eine probe und auch nicht die beste: aber einige gestalten wie S–o und O:S sind vollkommen gelungen.919 Die auslassungen Deines briefes als antwort auf meine Münchener mahnung klingen fast zu absolut. Nicht als ob ich gemeint hätte ∙ dass Du praktisch etwas anderes tun oder sein solltest als was Du bist ∙ sondern eher so: dass das von mir hervorgehobene Staatliche in die gesamtschau eines jeden von uns ∙ besonders der jüngeren aufgenommen werden sollte. Ich dachte hier vorzüglich an das schicksal des P  …* Ohne jene (wenigstens einigermassen treffende) gesamtschau sehe ich notwendige abstürze für alle kreisnahen. Ich höre von S–o dass W. St. nach Berlin kommen sollte. Da er auch die absicht hatte ∙ nach M. zu kommen ∙ kann man ihm wol unsern aufenthalt in M. nicht verhehlen. Doch würde ich bitten ∙ dass er durch Deine vermittlung zuerst hierher nachricht gibt ob und für wann diese absicht nach M. zu kommen ∙ in die tat umgesezt wird.  Wir alle senden erinnerungen an Euch in Berlin.    D. M. Was ist mit Ludwig ? München-Solln Terlanerstr: 8

15 apr

*um schwer zu sagendes noch einmal zu umschreiben ∙ meine ich: ⸢dass⸣ was Dir als haltung ganz selbstverständlich scheint ∙ bei den jüngeren häufig erst geweckt oder gepflegt werden muss oder das wonach Du Dich ohne jegliche theorie immer gerichtet hast bei den jüngeren häufig des hinweises bedarf.

919 Unklar ist, um welche Gruppenaufnahme es sich hier handeln könnte.

482

484.  StG und JA an EM

Briefwechsel 1928

16. 4. [1928]920 Brief ohne Umschlag Solln ∙ Montag 16. april Terlanerstr. 8

Lieber Ernst: D.  M. teilt mit ∙ dass er den Anhang zu den Hymnen noch nicht senden konnte ∙ da Albrecht das Material zu den Anmerkungen nicht geschickt hat.921 A. ist erst jetzt zurückgekehrt und hofft es in den allernächsten Tagen tun zu können. Die zur Wiedergabe der Handschrift bestimmten Blätter hat jedoch Ludwig  – und die Auswahl derselben hängt ab von der Seitenzahl der Anmerkungen. Bitte bei L. anzufragen ob es dies Material bereit hat und in der nächsten Zeit (wie bei den vorhergehenden Büchern) zum Klischieren bringen kann. ––––– Ist das Buch  – die Anmerkungen ausgenommen  – bereits gesetzt? D.  M. könnte jetzt – falls die Correctur noch nicht abgegeben ist – dieselbe durchsehen ∙ da er jetzt reichlich Zeit hat. Für dringend notwendig hält er es nicht – es wäre nur ∙ um die Berliner Correctoren zu entlasten. Bondi (der sehr drängt) wäre zu verständigen ∙ dass das Material in den allernächsten Tagen kommt. Seine weitere dringende Anfrage ∙ das Erscheinen des neuen Buches betreffend wäre dahin zu beantworten ∙ dass vor Ende Mai keine Entscheidung getroffen werden kann.922

920 1928 war der 16. April ein Montag. 921 Hymnen Pilgerfahrten Algabal erschien im Juli 1928 als Band II der Gesamt-Ausgabe. Blumenthals Aufgabe war es, die Texte für die „Anhänge“ der Bände zusammenzustellen. 922 Hier dürfte von Georges neuem Gedichtband Das Neue Reich die Rede sein, der im Oktober als Band IX der Gesamt-Ausgabe erschien.

Briefwechsel 1928 483

485.  StG und JA an EM

v. d. 20. 4. 1928 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: D. M. teilt mit dass am nächsten Sonntag München aufgegeben wird – Briefe erreichen ihn dann am besten über Königstein Limburgerstr. 19. Es wäre ihm sehr gedient wenn er noch hierher aus seinem Depot 500 M. erhalten könnte ∙ für ihn am besten im Brief. ––923 Ihnen alles Herzliche! Solln Mittwoch.

486.  StG und JA an EM

v. d. 20. 4. [1928] Brief ohne Umschlag

I. BRIEF Lieber Ernst: D. M. legt diesem Brief einen zweiten bei ∙ damit Sie ihn wie er ist Bondi übergeben ∙ später können Sie ihn zurückfordern. Sie sind dann der Mühe überhoben ∙ die Sache nochmals mit Ihren Worten B – i darzustellen. Bitte um Mitteilung wie viel Seiten der Handschriften-Reproduction durch Ludwig in Auftrag gegeben wurden. Ab Montag ist Adresse: Königstein ∙ Limburgerstrasse 19

923 Da George kein eigenes Konto besaß, lagen seine Einkünfte wie auch das Goethe-Preisgeld noch auf dem Konto von Ernst Morwitz; vgl. Br. 474.

484

487.  StG an EM

Briefwechsel 1928

v. d. 20. 4. 1928 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: für den neuen Band der „Hymnen“ ergeben sich noch einige Schwierigkeiten. Ich möchte auf meinem ersten Vorschlag bestehen ∙ dass das Titelblatt des Erst-druckes der „Hymnen“ als gesondertes Blatt (Frontispiz) vor das ganze Buch gesetzt wird und zwar in farbiger Tönung gedruckt (pergamentgrau) – die Grösse ungefähr wie auf dem beiliegenden Titeldruck skizziert.924 Es hat dies den Vorteil ∙ dass so die Wichtigkeit dieses Erst-druckes (Anordnung und aus-stattung!) stärker hervorgehoben wird. B  – i meint dass diese Art des Vorblattes die Sache zu wichtig mache  – für mein Gefühl kann sie garnicht wichtig genug hervorgehoben werden.925 Das Drucken von Erstausgaben in einem Farb-Ton ist eine häufig geübte Art des Reproduzierens. Ein zweiter Vorteil: Ein zweiter Vorteil: Mit dem Anhang komme ich wegen der Seitenzahl bei diesem Bande ins Gedränge sodass im Anhang ein einzelne [sic] Blatt zugefügt werden müsste. Ehe also über diese Fragen entschieden ist ∙ kann ich den endgiltigen Anhang nicht absenden.926

Sehr geehrter Herr Doktor : Ich sende Ihnen das Titelblatt mit umstehenden wünschen des Meisters , die ich der Sicherheit wegen im Original Ihnen übermittele. Am besten äussern Sie sich vielleicht brieflich dem Meister gegenüber. Ich darf Sie wohl gelegentlich um Rücksendung dieses Schreibens bitten. Mit bestem Gruss Ihr sehr ergebener Ernst Morwitz 20. 4. 28.

924 Beilage fehlt. 925 George setzte seinen Wunsch durch, die Hymnen erschienen als Band  II der Gesamt-Ausgabe mit dem Titelblatt der Erstausgabe als Frontispiz, während weiteren Bänden jeweils ein Bildnis Georges beigegeben wurde. 926 Der Brief ist nicht unterzeichnet.

Briefwechsel 1928 485

488.  StG an EM

[v. d. 1. 5. 1928]927 Brief ohne Umschlag

L. E. da alle Se verlassen haben [sic] wird S S-Haus morgen aufgegeben  – Sendungen zu richten: Haus Schloss­ park ⸢Wolfsbrunnenweg 12⸣ Heidelberg. Ob Pf.=S.=versammlung S oder H. stattfindet kann erst in 14 tagen entschieden werden. Wäre H. für den S=s ein hindernis? Herzlichst. d. M.

489.  StG und JA an EM

v. d. 2. 5. 1928 Brief ohne Umschlag

S  – Donnerstag Lieber Ernst: D. M. teilt mit dass wegen des Titelblatts der Hymnen Bondi seine Absicht nicht ganz verstanden zu haben scheint. Er hat insofern Recht ∙ als den Abnehmern des Buches freilich dieser Titelabdruck keinen Ersatz darstellen kann für ein fehlendes Bild – anders aber verhält es sich mit der Bedeutung die D. M. dem Blatt giebt. Denn nicht nur stellt es eine genaue Wiedergabe dar vom Titel seines ersten gedruckten Buches ∙ hier tritt auch zum ersten Mal der Name in einem Druckvermerk auf. Zugleich aber zeigt dieser Titel zum ersten Mal in Deutschland die neue Form der Buchgestaltung. Darauf wird zwar Wolters in seinem Buch928 noch eingehend zu sprechen kommen ∙ was das bedeutet – doch auf solche genaue Wiedergabe musste in seinem Buch verzichtet werden. Dass hier Bondi das Ausschlag gebende nicht sieht geht aus seinem Plan hervor das erste Lechterische Titelblatt an die Stelle zu setzen. Von allem anderen abgesehen ist diese erste 927 George verließ München-Solln wohl vor dem 1. Mai 1928, Pfingsten war 1928 am 27. / 28. Mai. Im März 1929 löste Kantorowicz die im Brief als Postadresse angegebene Heidelberger Wohnung auf. 928 Wolters arbeitete mit langen Auszeiten seit ca. 1914 im Auftrag Georges an der Darstellung der Geschichte Georges und der Blätter für die Kunst. Das Buch erschien erst im November 1929 mit der Jahreszahl 1930 unter dem Titel Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890 im Verlag Georg Bondi. In Kiel wurde in diesen späten 1920er Jahren vor allem auch in Anwesenheit Georges das Manuskript fertig gestellt.

486

Briefwechsel 1928

Ausgabe der Hymnen (noch nicht öffentliche!) kaum in ein paar Dutzend Händen ∙ indess die öffentliche in mehreren Tausenden sich befindet. D. M. schickt auf alle Fälle ein gutes Exemplar der Hymnen mit ∙ das er äusserst zu schonen bittet. Die Reproduktion ∙ wie sie am vorigen Mal skizziert wurde ∙ müsste freilich genau im angegebenen Sinn ausgeführt werden – nach seinen Erkundungen ist sie nicht allzu kostspielig und er fürchtet durchaus nicht dass es „nach zu wenig aussieht“ – Viel herzliches von allen: Pr.929

Ab nächstem Monat hofft D.  M. Anschrift für directen Verkehr an Bondi geben zu können.

490.  StG an EM

Poststempel Frankfurt, 2. 5. 1928 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

L.  E. sendung kam grad noch richtig vor abreise in S an ∙ dank. Ich bin nun fürs nächste in K. es erhebt sich nun die frage ob es nicht besser ist die bei dir im koffer liegenden handschriften hierher zu senden. Gleichzeitig wird auch der Tab∙  bedurft und der bei dir lagernde frühjahrs=mantel.930 Ich überlasse es Dir – da ich den umfang nicht absehen kann – daraus ein packet zu machen … Der sonst nicht wieder bedurfte koffer erhöht unnötigerweise das gewicht … Hier in K. alles unverändert … sehr frühlingsmässig Herzlich G. Königstein i. T. Limburgerstr: 19

929 „Prinz“ war der Kreisname für Johann Anton. 930 George hatte in diesen Jahren keinen festen Wohnsitz. Das Elternhaus war vermietet, die Schwester war nach Königstein gezogen, wo auch er sich öfters über längere Zeit aufhielt. Sein beweglicher Besitz befand sich so in Teilen bei Freunden, nach Rückkehr der Schwester ins Binger Elternhaus natürlich auch dort.

Briefwechsel 1928 487

491.  EM an StG

Poststempel Berlin W, 2. 6. 1928 Umschlag nach Heidelberg, bei Dr. Kantorowicz

492.  StG an EM

Poststempel Heidelberg, 17. 6. 1928 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: dank für die Zusendung In dieser sache wüsst ich keinen rat … von dem grundstück in B und alle diesbezüglichen fragen weiss ich so wenig wie Du. Seit 1913 dem tod meiner mutter ist mir nichts bekannt. Zuerst hat der bruder ∙ nach dessen tod die Schwester die ganzen steuern für das grundstück erledigt .  . Wie fern ich besitzer war und bin – weiss ich nicht … Selbst wenn ich mitbesitzer bin – kann ich doch keine steuer zahlen wenn dieselbe ⸢anderswo⸣ bezahlt ist … Was soll ich tun? Hoffe noch vor der abreise auf nachricht Herzlich G.

493.  StG und EK an EM

20. 6. 1928 Brief ohne Umschlag Heidelberg, 20. Juni 1928.

die Steuern auf das Grundstück Bingen sind alle von mir entrichtet worden aber ich habe den halben Anteil bei meiner Steuererklärung angegeben.931 Lieber Ernst! D. M. lässt Folgendes mitteilen: die Sache ist insofern geklärt als meine Schwester nunmehr ihre Steuererklärung gesandt hat. Daraus geht eindeutig hervor, dass sie nur die Hälfte angegeben hat und des-

931 Notiz von der Hand Ernst Kantorowicz’.

488

Briefwechsel 1928

halb folgerichtig ich die andere Hälfte zahlen muss. Ihr Steuerberater hat das zweifellos so beantragt, weil die Steuer für zwei Hälften geringer ist. Mir ist das freilich weniger angenehm weil es besser gewesen wäre wenn sie die ganze Nutzniessung hat, sie auch die ganze Steuer entrichtete. Ich habe nur die Unannehmlichkeit, dass ich den von mir erlegten Steuerbetrag von ihrem Einkommen abziehen muss. Dazu kommt noch Folgendes: Die Besitzverhältnisse sind nach meinem Dafürhalten noch nicht geklärt, so dass wenn auch nicht rechtlich so doch faktisch ich mich noch nicht als den Besitzer der Hälfte des Vermögens ansehen darf. Ich vermute dass noch ein Dokument gefunden wird (freilich befand sich dasselbe nicht in des Bruders Papieren) aus dem hervorgeht dass der grösste Teil des Erbanfalls das Vermögen meiner Schwester ist. In diesem Falle würde mir nur eine ganz geringfügige Summe zufallen. Ehe das also entschieden ist, kann ich mich de facto nicht als Besitzer ansehen. Dann wäre freilich auch die ganze ungeheuer grosse Erbschaftssteuer weggefallen. Nun noch dies: vom nächsten Jahr ab wird das Kapital im Ausland verwaltet und muss zweifellos auch dort versteuert werden – wie verhält es sich dann mit der Steuererklärung. Ich schicke hier die sämtlichen von meiner Schwester übersandten Dokumente, die über alle Fragen Aufschluss erteilen und hoffe dass Du auf Grund derer die Erklärung anfertigen kannst. Meine Schwester bittet aber um baldigste Rücksendung (Limburgerstr. 19 Königstein). Von uns hier ist nur Gutes zu melden. Alles Herzliche E.

Vermögenssteuer Anna George in Königstein, Limburgerstr 19 Finanzamt Bad Homburg v. d. H. Steuernummer 39 / 117 für 1925 / Steuer Nummer 128 / 26 Mietwohngrundstück Bingen a Rh Hintere Grube 1

Briefwechsel 1928 489

xxxxxx 40 000 RM Belastung 8 500 RM Hypothek   der Kreissparkasse Bingen. Miteigentum Stefan George ½. – – – – – – – – – – – – für 1927 – die Anlage über das Grundstück fehlt.

494.  EK an EM

22. 6. 1928 Brief ohne Umschlag Hdbg. 22. VI. 28.

Lieber Ernst! Eben im Augenblick der Abreise kommt Ihr Brief. Das m’liche Formular geht beiliegend an Sie zurück. Die übrigen Unterlagen wurden nach Königstein gesandt mit der Bitte die nötigen Dinge festzustellen, soweit dies möglich. Da jedoch das Haus von den beiden Mitbesitzern zu weit entfernt ist, um sofort die nötigen Angaben zu ermitteln, so ist dem Finanzamt zu bedeuten, dass leicht vorerst nicht absehbare Verzögerungen eintreten können. Es ist ausserdem die Frage, ob derartige Angaben ausserhalb Berlin auch gefordert werden. Ganz klar ist hingegen, dass D M als Eigentümer erst in Betracht kommt seit Ableben des Bruders ⸢und der definitiven Auseinandersetzung mit dem Frankfurter Geschäft.⸣. Aus Königstein kommen alle Erklärungen an Ihre Adresse, die Sie bitte dann wieder noch nach Königstein zurücksenden. Herzlichst grüssend Ernst .

490

495.  AG an EM

Briefwechsel 1928

26. 6. 1928 Brief ohne Umschlag

Königstein i. Taunus den 26ten Juni 1928 Limburgerstrasse 19. Sehr geehrter Herr Dr. Morwitz! Ich erlaube mir Sie um die Gefälligkeit zu bitten meine Steuererklärung wenn Sie dieselbe für Stefan abgeschrieben haben direkt an das Finanzamt Homburg zu schicken der kurzen Frist wegen. Mit bestem Dank Anna George.

Zweiseitiger amtlicher Vordruck des Finanzamts, Anhang Gr. zur Vermögenserklärung 1928, mit handschriftlichen Einträgen von Ernst Morwitz932

496.  AG an EM

5. 7. 1928 Brief ohne Umschlag

Sehr geehrter Herr Dr. Morwitz! Nehmen Sie meinen besten Dank für die Zusendung des Posteinlieferungsscheins und Ihre gütige Besorgung für mich an das Finanzamt Homburg. Auch bin ich sehr damit einverstanden und Ihnen auch dafür sehr dankbar für Ihren Hinweis auf meines und meines Bruders Lebensalter.                                                                        In treuer Gesinnung Ihre Anna George Königstein i. Taunus Limburgerstrasse 19     5. 7. 28.

932 Die Erklärung betrifft Haus und Grundstück Hintere Grube 1 in Bingen.

Briefwechsel 1928 491

497.  EM an StG

19. 7. 1928 Brief ohne Umschlag Berlin 19. VII 1928 Regensburgerstraße 29.

Lieber Meister: Nimm diese Wünsche zum Geburtstag freundlich auf! Sie erreichen Dich erst jetzt, weil ich vordem nicht die Möglichkeit eines Verbindungsweges sah.933 Ich will versuchen, durch Bondi Dir mit diesem Blatt die Briefe, die bei mir eingelaufen sind, zukommen zu lassen. Denn ich selbst trete morgen mit Silvio die Ferienreise nach der Bretagne an – A.  Z. , der in der Schweiz ist, soll in Paris zu uns stossen. Ende August denken wir wieder in Berlin zu sein.934 Vier Fünf grössere Pakete – offenbar Manuskripte, dem Format nach, enthaltend – lasse ich wegen der Schwierigkeit der Beförderung hier liegen, sie tragen Absendervermerke von Ernst Gundolf, Langlotz, Percy Gothein, A. W, Würzburg, und W. K. Berlin Lichterfelde, Potsdamerstr 58 A.935 Sei von Herzen gegrüsst von Deinem  Ernst.

933 George hielt sich in den Tagen um seinen 60. Geburtstag mit seiner Schwester Anna, Max Kommerell und Robert von Steiger am Thuner See in der Schweiz auf. Johann Anton schrieb schon am 28. 6. 1928 an George in Spiez / Schweiz (StGA). 934 Zschokke, Morwitz und Markees schicken eine Karte vom Mont Saint Michel an Wilhelm Stein (StGA) 935 Zum ersten Mal erwähnt sind hier Ernst Langlotz und Walter Kempner. Ernst Langlotz (1895–1978), klassischer Archäologe, habilitierte sich unter dem Einfluss von Ernst Buschor und des George-Kreises 1925 in Würzburg über Frühgriechische Bildhauerschulen, wo er anschließend als Privatdozent wirkte. 1933 trat er eine Professur in Frankfurt und 1941 in Bonn an, wo er bis zu seiner Emeritierung 1963 lehrte. Die Initialen „A.  W.“ dürften Walter Anton (1903–1955) meinen, der allerdings 1928 noch in München Medizin studierte. Der jüngere Bruder Johann Antons gehörte seit 1923 zum Kreis der jüngeren Freunde um Friedrich Wolters und Walter Elze, organisierte später auch Münchner Aufenthalte Georges. Nach dem Freitod Johann Antons 1931 besuchte der praktizierende Arzt George auch in Minusio. Walter Kempner (1903–1997), Arzt und Bakteriologe, Sohn der Bakteriologin Lydia Rabinowitsch-­ Kempner. Er kam 1922 zum Medizinstudium nach Heidelberg, besuchte aber auch Vorlesungen von Friedrich Gundolf, mit welchem er sich alsbald befreundete. Hier begann auch die lebenslange Freundschaft mit Clotilde Schlayer. Nach dem Studienabschluss wurde er im März 1927 Mitarbeiter von Otto Warburg am Berliner Kaiser Wilhelm Insitut für Zellphysiologie, 1928 Assistenzarzt bei Gustav von Bergmann an der Berliner Charité. Dieser musste ihn 1933 – wohl aufgrund seiner jüdischen Herkunft – entlassen, aber er konnte für kurze Zeit zu Warburg zurückkehren. War-

492

Briefwechsel 1928

498.  StG an EM

Poststempel Spiez, 30. 7. 1928 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: Alle S. haben nach den verschiedensten richtungen die Schweiz verlassen. Ab 1. august ist adresse wieder Königst Limburgerstr: 19. D. M. wollte von seiner frühen ankunft in Berlin nichts mitteilen um Deine reisedispositionen nicht zu stören. Er wird 15. etwa nach Berl. kommen und bei Ludw. oder im Grunewald wohnen. Ende august geht er wieder nach Kiel und wenn Du

burg kündigte ihm zum 1. 2. 1934, nachdem er im November 1933 unabgemeldet nach Minusio zu George gereist war. Kempner begann noch im November 1934 als Associate in Medicine an der Duke University Medical School in Durham, North Carolina zu arbeiten. Bei Gundolf hatte er schon 1922 George kennen gelernt, er suchte von Anfang an vor allem den Kontakt zum individuellen Menschen George, erklärte brieflich, dass er George liebe, nicht aber zum Jünger tauge (StGA). In den Jahren bis zum Tode Georges verstärkte sich die sehr eigenständige Beziehung, nicht ­ erlin-­Dahlem zuletzt, weil George ab 1927 zunehmend in Clotilde Schlayers Haus in B wohnte und schließlich in den Jahren 1931–1933 viele Monate in dem von ihr gemieteten Haus in Minusio. In diesen Jahren wurde Kempner auch als Georges ‚­Leibarzt‘ tätig, was nicht zuletzt das für ihn verwendete Kürzel DA (Der Arzt) belegt. ­Kempner unterstützte Morwitz’ Emigrationsbemühungen und holte ihn nach Durham. Ein Zerwürfnis wegen der frühzeitigen Publikation von George-Übersetzungen zerstörte das gute Verhältnis und prägte Morwitz’ spätere Äusserungen über den in Amerika sehr erfolgreichen Walter Kempner. Clotilde Schlayer (1900–2004), ­Romanistin spanisch-­ deutscher Herkunft, lernte 1920 in Berlin durch Vermittlung ihrer Freundin Nadja deren Bruder Walter Kempner kennen, dem sie 1922 an die Universität Heidelberg folgte, wo alle drei zum engen Schüler- und Freundeskreis Friedrich G ­ undolfs ge­ eidelberg mit einer Studie über Lukan hörten. 1927 promovierte sie bei Olschki in H und zog – Kempner hatte seine erste Stelle in Berlin angetreten – in das ihr von ihrem Vater geschenkte Haus in Berlin-Dahlem, das zum Zentrum eines eigenen Freundeskreises wurde, aber auch mehrfach Friedrich Gundolf und Stefan Geoerge beherbergte. George, dessen Verbindung zu Kempner von 1922 an immer enger geworden war, glaubte dagegen im Hause Kempners zu wohnen. Erst im Februar 1932 durfte sie George einige spanische Übertragungen aus dem Siebenten Ring vortragen, die ­ inusio ebenso Gefallen fanden wie die Übersetzerin. Schlayer mietete das Haus in M und verbrachte dann bis zum Tod Georges im Dezember 1933 viele ­Monate mit ihm im Tessiner Haus. Wichtiges Zeugnis dieser Zeit sind ihre fast täglichen Briefe an Walter Kempner und ihre geliebte Lehrerin Emmy Allard (StGA). Kempner holte sie 1935 nach Durham NC. und es gelang ihm, die Romanistin zu seiner allerdings unbezahlten Assistentin zu machen. Wie Walter Kempner starb sie in Durham und wurde wie er auf ihrer beider Wunsch hin in Minusio neben Georges Grab beigesetzt.

Briefwechsel 1928 493

dann von der reise noch nicht zurück sein solltest ∙ so ist jedenfalls reichliches zusammensein bei seiner wiederankunft in Berlin Oktober. Herzlich D M. 30 juli 28

499.  StG an EM

[Anfang August 1928] Brief ohne Umschlag Königstein dienstag

Liebster Ernst: mich freut Deine überraschung über den neuen S. eine grössere aber – freilich nicht in ganz der selben richtung – steht dir noch bevor.*) Es ist noch fraglich ob ich vor dem 30ten in B∙ sein kann jedenfalls wart ich noch auf B. V’s bestätigung dass ich die ersten 8 tage bei ihm sein ⸢kann⸣. Ende d∙ m∙ (vielleicht schon 27) ist Wo in Berlin – ich sage es dir und Ludw. damit ihr nicht überrumpelt werdet in euren mausefallen. Wo steckt das fürstliche? seit seiner rückkunft kein wort von ihm.936 M. *)Dann kommt ∙ wieder in andrer richtung ∙ die allergrösste! Ich sag das nicht bloss um mich heiss erwartet zu machen

936 Dies war eine kreisinterne Bezeichnung für Woldemar von Uxkull. Aus den späten zwanziger Jahren sind keine Briefe von ihm an George im StGA erhalten. Laut Morwitz ist seine Rückkehr aus Italien gemeint, nachdem dort seine Mutter gestorben war (BB).

494

Briefwechsel 1928

500.  StG an EM

[November 1928] Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: D. M. hatte erwartet dass Du heut abend allein zu ihm kommst um manches zu besprechen. Das jahr geht dem ende zu und einige dinge dürfen nicht unerledigt bleiben. Auch hatte sich V. heute abend angesagt. Euer beider zusammentreffen ist eher dienlich. Si.  – wenn Du ihn mitbringst – könnte inzwischen ins S haus gehn.937 Samstag erwarten wir ihn sowieso.

Herrn Dr. E. Morwitz

501.  StG und MK an EM

[Nov. / Dez.1928] Brief ohne Umschlag Sonntag früh

Liebster Ernst: D. M. kann heut nicht ins Atelier kommen. Doch bittet er Sie ∙ gegen ½ 6 mit S. ins S=haus zu kommen .  .  .  .  . Ihre gedichte werden häufig und mit immer deutlicherer entzifferung der sinn-chiffren (die buchstaben als solche machten wenig schwierigkeit) gelesen. Wir freuen uns immer mehr ∙ sie behalten zu dürfen. Herzlichst D. Kl.

937 „S haus“ meint jetzt die von Johann Anton angemietete Wohnung in Berlin-Schlachtensee (Heimstättenstraße  14). Tagsüber hielt sich George häufig in Thormaehlens Wohnung und Atelier in der Albrecht-Achilles-Straße 3, „Achilleion“ genannt, auf. Vallentins Gesprächsaufzeichnungen folgend, übernachtete er im Grunewald.

Briefwechsel 1929 495

502.  AG an EM

17. 2. 1929 Brief ohne Umschlag

Königstein i. Taunus Limburgerstr. 19. 17. 2. 29. Sehr geehrter Herr Dr. Morwitz! Sie erhalten hiermit meine diesjährige Einkommensteuer Erklärung und finden auf Seite 7 die auf das Grundstück Bingen bezüglichen Angaben. Bitte schicken Sie meine Erklärung direkt an das Finanzamt Bad Homburg v. d. Höhe da ich eine Abschrift nicht besitze. Mit bestem Dank empfehle ich mich freundlichst als Ihre Anna George.

503.  StG an EM

v. d. 24. 3. 1929 Brief ohne Umschlag

An Ernst: Reise ging allein und gut ∙ mit reichlich zeit zu gedanken. Ach E*! dass dies alles so möglich war: da hat jeder sein teil verdienst. Und ist die probe des gelebten die erinnerung: so ist auch diese probe bestanden … Wenn du Robert den empfang bestätigst ∙ so bitte ihn das „Grenzacher päckchen“938 direkt an Dich zu richten .  . du bringst es Ostern939 vielleicht mit Herzlich M.

An Silvio : Es bleibt dabei: du kommst freit. 8.10 an ∙ gehst zum Holzk. Bhf940 … frühstückst und fährst 9.17 heraus. Grüsse Ξανδι941 d. M An Bernhard : Ich küsse Dich!             d. M.

938 In der Grenzacher Straße 140 in Basel lebte damals Robert Boehringer mit seiner Frau. 939 Ostern war 1929 am 31. 3 und 1. 4. 940 Gemeint ist der Holzkirchner Bahnhof, dem Münchner Hauptbahnhof südlich vorgelagert. Hier fahren noch heute Regionalzüge ab, damals u.  a. Züge nach Solln. 941 Ξανδι (Xandi?).

496

Briefwechsel 1929

504.  StG an EM

24. 3. 1929 Brief ohne Umschlag

L. Schw. W : der M. teilt mit dass wir uns hier glücklich alle hier zusammengefunden haben und Ihre und Ihres S. ankunft erwarten. Möchten Sie bitte eine mitteilung richten an: St. G. bei frau oberst Rummel Wilhelm Düll strasse 6 part. München. Schon jezt füge ich hinzu ∙ dass die ankommenden gebeten werden ∙ zweimal zu läuten. Herzlichst D. M. samt den Versammelten                    24. märz

505.  EM an StG

Poststempel Berlin W., 7. 7. 1929 Umschlag nach Königstein i. Taunus

506.  EM an StG

Bahnpoststempel Kassel-Frankfurt, 17. 8. 1929 Postkarte nach Berlin-Halensee, bei Thormaehlen

Herzlichst M.

17. VIII. 29. (H’s Geb. Tag)

Aufnahme im Keller „Zum Stolpereck“ Bingen a. Rh. Kommst du nach Bingen an den Rhein, Dann suchst du sicher guten Wein. Du kannst erreichen diesen Zweck, Wenn du besuchst das „Stolpereck“.

Briefwechsel 1929 497

Im „Stolpereck“ die guten Zecher, Sie finden dort ’nen guten Becher Gefüllt mit echtem rhein’schen Wein, D’rum kehr’ im „Stolpereck“ stets ein.

507.  EM und SM an StG Poststempel Bingen, 21. 8. 1929 Karte mit Umschlag nach Berlin-Halensee, Dr. L. Thormaehlen Der alte birnbaum trägt so reich Die äpfel gelben am spalier! Wie blieb trotz schutt von jahren hier Doch hof und haus dem frühtraum gleich.942 Silvio         Ernst. Bingen den 21∙ VIII∙ 29

Bingen a/Rh.- Naheseite, Pfarrkirche u. Burg Klopp943

508.  MK an EM

10. 10. 1929944 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Voraussichtlich trifft jetzt (ab Freitag früh) Frank hier ein und wird sich an Sie als einzige bekannte Staatsadresse wenden. Bitte sorgen Sie

942 Von Silvio Markees in StG-Schrift geschrieben und verfasst. 943 Im Schatten dieser Kirche wuchs Stefan George im Haus an der Hinteren Grube 1 auf. 944 Die angenommene Datierung beruht auf Kommerells in dieser Zeit erfolgten Abkehr von George und dem Kreis. Ablesbar wird sie hier an Kommerells Rückkehr zur Kurrentschrift mit Groß- und Kleinschreibung und Verwendung des Kommas statt des Hochpunkts. Allein den Kreisnamen Maxim verwendete er noch. Morwitz hält fest, dass er 1929 Kommerell aus seiner Wohnung gewiesen habe, worauf George ebenfalls ausgezogen sei (BB). Robert von Steiger hatte schon am 2. 5. 1929 in einem Brief die Entfremdung der Berliner von George beklagt (an George, StGA).

498

Briefwechsel 1930

dafür, dass ihm – auf den Namen Frank – die beiliegende Nachricht jederzeit ausgehändigt wird. Herzlich  Mm. Donnerstag

509.  StG an EM

8. 2. 1930945 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: beiliegend die eben angekommene Abrechnung aus Königstein.946 D. M.

510.  StG an EM

Poststempel Solln, 16. 4. 1930 Brief mit Umschlag nach Berlin W. mittwoch

München947 L∙ E∙ ich wollte Dir nur mitteilen dass vorgestern (montag abend) unser freund Wolters gestorben ist. Von [sic] 10 tagen sah ich ihn noch verhältnismässig frisch – einem neuen rückfall war er nicht mehr gewachsen –948 Unsre rückkehr aus M. ist für ende d. M. festgesetzt. G. 945 Das Einzelblatt trägt von Morwitz’ Hand in Bleistift den Datumseintrag: 8. II 30. 946 Liegt nicht mehr bei. 947 Ostern 1930 (20. April) werden Johann Anton, Walter Anton, Frank Mehnert mit George in München verbringen, zum ersten Mal in Abwesenheit von Max Kom­ merell. Am 15. 4. hatte Johann Anton diesem noch ein Telegramm geschickt: „ganz dringend sofortige abreise hier her hans“ (StGA). 948 Friedrich Wolters starb am 14. 4. 1930 in München und liegt dort auf dem Wald­ friedhof begraben. Er hatte sich während des Krieges ein schweres Rheumaleiden zugezogen und starb während einer Reise an einem damit in Zusammenhang stehenden Herzleiden. Gemma Wolters, seine zweite Frau, berichtete George am 9. und 15. 3 vom Krankenlager der Kuranstalt Neuwittelsbach, Romanstraße 11 in München (StGA).

Briefwechsel 1930 499

511.  EM an StG

11. 7. 1930 Brief ohne Umschlag Berlin 11. VII 30

Lieber Meister: Zum Geburtstage meinen herzlichsten Wunsch. Ich hoffe zu reisen – Schweden und Dänemark.949 In den ersten Tagen des August muss ich wieder zurück sein. Bei dem – hier geradezu fürchterlich-heissen Wetter hab ich öfters aus der Entfernung im Stadion Frank begrüsst.950 Heute Abend will ich Erich treffen. Morgen geh ich auf dringlichen Wunsch zu Bondi – falls er besondere Pläne oder Wünsche haben sollte, werde ich berichten. A. Z. hat eine wichtige neue Figur angefangen.951 Sonst nichts! Dein Ernst.952

949 Morwitz verbachte den Juli zusammen mit Alexander Zschokke, Silvio Markees und Bernhard von Bothmer im traditionsreichen schwedischen Seebad Mölle (BB). 950 Frank Mehnert (1909–1943), als Sohn deutscher Eltern in Russland geboren, in Stuttgart aufgewachsen, Schulfreund der Stauffenbergs, besonders eng Berthold von Stauffenberg verbunden, durch welchen er schon früh in Kontakt mit George kam. Bei der feierlichen Lesung zum Erscheinen des Neuen Reichs im Achilleion im November 1928 stand er George schon sehr nahe und nahm in den folgenden Jahren den Platz von Max Kommerell ein. Er studierte zwar nach dem Abitur in Tübingen Jura, ab 1929 in Berlin, schloss aber sein Studium nicht ab. Von Thormaehlen angelernt, begann er schon 1929 mit einer ersten plastischen Arbeit, einer Büste Stefan Georges, der viele weitere Arbeiten folgten, angefertigt in Berlin oder Magdeburg, wo er enge Kontakte zu Walter Greischel und der Familie Farenholtz unterhielt. Vor allem aber wurde er, Max Kommerell und Johann Anton ersetzend, Georges Reisebegleiter und Sekretarius. In den Jahren 1932/33 war er einer derjenigen um George, die vom Nationalsozialismus überzeugt waren, was zu von George nicht geschätzten politischen Diskussionen in Wasserburg und Minusio führte. 951 1930 entstand wiederum eine ganze Reihe von plastischen George-Portraits von Alexander Zschokke. 952 Es war im Herbst 1929 zu einer Trübung des Verhältnisses zwischen Morwitz und George gekommen, nachdem Morwitz Kommerell aus seiner Wohnung gewiesen hatte, vgl. Anm.  944. Die Wiederanknüpfung geschah, nachdem Kommerell sich 1930 von George abgesetzt hatte. Wichtig für die Entfremdung war u.  a. Georges Absicht, den geplanten Stiftungsvorsitz an Robert Boehringer, Johann Anton und Max Kommerell zu vergeben. Anton teilt dies Kommerell mit und lockt ihn mit der ‚Ausschaltung‘ von Morwitz (v. d. 17. 6.). Kommerell lehnt umgehend am 17. 6. mit Brief an George ab (StGA). Anton hatte auch mitgeteilt, dass es George nicht gut gehe. Kommerell besuchte diesen zum letzten Mal nach dem 26. 9. 1930 in Königstein.

500

512.  EM an LTH

Briefwechsel 1930

Poststempel London, 8. 9. 1930 Postkarte nach Berlin-Halensee

L. L. Die Stadt London ist undurchdringlich zäh, als Aufenthalt scheusslich, sodass man ständig fliehen möchte. Ich hoffe einen Überblick über die Museen gewinnen zu können. Eaton [sic] war eine Erholung! Die Hausgenossen grüssend953 Ihr E.

Abs Dr. Morwitz London, Whitehall-Hotel, Bloomsbury Squ.

Eton College, Upper Schoolroom

513.  EM an StG Poststempel Berlin, 27. 4. 1931 Brief mit Umschlag nach Halensee-Berlin, bei Dr. L. Thormaehlen Lieber Meister: Hier sende ich einen Brief von Percy , weil mir der Inhalt für d. M. gedacht zu sein scheint!  Herzlichst Ernst 26. 4. 31.

Heidelberg Im Gabelacker 13 d. 21 april 1931 Lieber Ernst. Wie danke ich Ihnen für Ihren brief! Aber um es gleich zu sagen: ich muss seit jahr und tag mich ganz der wissenschaft widmen und die ader früheren dichtens ist in meinem tiefsten innern verschlossen, so bin ich auch nicht der dichter des gedichtes an E. M. Es ist

953 Zu den Hausgenossen zählte zu Zeiten auch Stefan George, der den Großteil des Monats September in Berlin wohnte, tagsüber im Achilleion weilte und die Nächte im Dahlemer Haus von Clotilde Schlayer verbrachte. Dadurch dürfte die Karte in Georges Besitz und Nachlass (StGA) geraten sein.

Briefwechsel 1930 501

der selbe der das gesicht der „Götter vor tag“ gehabt hat, er hat Sie nie lesen hören, er kennt Sie nur von ferne von der strasse – darf Sie nicht kennen …954 Als er mir das gedicht vorlas, das auch mir aus dem herzen geschrieben ist, meinte er traurig, dass er nun der einzige wäre, der von Ihrer schwelle verwiesen sei. Da hab ich ihn getröstet und gesagt: sieh, du kennst ja den grossen Ernst viel besser als etwa den Herrn X … den du alle paar tage in eurem hause zu sehen bekommst – Ja, hat er erwidert, du hast recht, auf den Herrn X. hätte ich kein gedicht machen können. So sagen wir alle: ja, zu unserm schicksal, mag es uns noch so dunkel umwittern und manche hoffnung uns getrogen haben. Deshalb haben wir auch das motto vor der huldigung gewählt.955 Seit sieben jahren pflügt der Meister über unsre leiber her, als ob wir nicht da wären … und wir sagen auch dazu ja!956 Er soll es auch fürder tun. Wir dienen unentwegt seinem Namen, wenn uns auch seine Persona entrückt ist. Und wer ist an allem schuld? – Nur ich. Aus mir ist die ganze runde hervorgewachsen – Sie wissen darum, denn Sie haben die sieben jahre, die wir stumm blieben, gesehen wie sie wuchs – aber auch das ganze verhängnis wuchs aus mir empor. Wenn meine jungen, die alle darum wissen, mir zürnten, um dessenwillen was ich ihnen versperre, so wäre ich nicht mehr auf der erde. Nun ist meine zuversicht mein letztes gedicht: Jüngster Tag. Sagen Sie dem Meister, wenn Sie ihn wieder sehn, dass ich von ihm nichts anderes erwarte als bisher: nämlich tadel, ja nach der huldigung noch verschärften tadel, weil es jetzt kund ward, wen alles, der verdient hätte vor sein angesicht zu treten, ich von ihm trenne. Wenn es, was das schicksal verhüten möge, mir endgültig nicht gelingt, dann verschwinde ich, um den andern die bahn frei zu machen .  .  .  . Aber fort mit diesen todesgedanken! Ich habe doch den fussbreit grund auf dem ich stehen und wirken kann, ein grösseres werk

954 Gemeint ist Wolfgang Frommel. Gothein widerspricht hier der später aufgebrachten Legende, Frommel habe George 1923 in Heidelberg besucht und sei empfangen worden. 955 Huldigung. Gedichte einer Runde erschien in einer Auflage von 700 Stück mit der Jahreszahl 1931 in Frommels Verlag Die Runde in Berlin; 157 Seiten mit Gedichten der anonym bleibenden Jungen, die Frommel und Gothein um sich gesammelt hatten sowie von diesen selbst, gedruckt in der eigentlich George und den autorisierten Kreisbüchern vorbehaltenen StG-Type bei von Holten. Das Motto lautet: „Du Geist der Heiligen / Jugend unseres Volks“. 956 Gothein rechnet zurück bis zum Jahr 1924, der endgültigen Zurückweisung durch George. Er zitiert ein Eingangs-Gedicht Frommels: „Lenker auf den wegen UNSERER not ∙ / Nenn dein dunkelstes gebot! / Pflüge über unsre leiber her: / Niemals mahnt und fragt dich wer!“

502

Briefwechsel 1931

rundet sich unter meinen händen zur vollendung957 und eine kampfmutige jugend umsteht mich, die bevor sie ans gemeinsame werk der runde geht, erst mit ihren gedichten huldigen wollte. Das ist geschehen ∙ und in kommenden jahren werdet ihr immer wieder von uns hören.958 Bald bin ich auch wieder bei Ihnen.  Herzlichst Ihr P.

514.  StG an EM

Poststempel Königstein, 26. 6. 1931 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: d. M. hat hier angekommen mit der Schwester gesprochen: sie schickte das formular an ihren steuerbevollmächtigten Dr. Simon in Mainz damit er es mit dem hausverwalter in Bingen bespreche und eine gleichlautende abschrift an Sie nach Berlin sende .  . bitte um nachricht wenn dies geschehn ist .  . herzlich im a.   der M.       Königstein Limburgerstr. 19    26. juni

957 1932 erschien, ebenfalls im Verlag Die Runde, Gotheins Buch Francesco Barbaro. Früh-Humanismus und Staatskunst in Venedig. Es dürfte Teil seiner in Bonn nicht angenommenen Habilitationsschrift Guarino Veronese und Francesco Barbaro gewesen sein. 958 Edwin Maria Landau und Wolfgang Frommel hatten 1930 unter Mitarbeit von Gothein den Berliner Verlag Die Runde gegründet, in welchem 1931 der Gedichtband Huldigung als erste Veröffentlichung erschien. Ihm folgten schon 1932 Gotheins Francesco Barbaro und Frommels unter Pseudonym (Lothar Helbing) veröffentlichte Programmschrift Der dritte Humanismus, 1937 Gedichte Frommels.

Briefwechsel 1931 503

515.  StG an EM

Poststempel Königstein, 8. 7. 1931 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

L. E: d. M. frägt nochmals an ⸢(zuerst vor 14 tagen)⸣ ob die steuerangelegenheit betr. das Binger haus inzwischen erledigt worden ist .  . der rechtsanwalt der schwester Dr. Simon ∙ Mainz sollte den bogen ausgefüllt an Sie direkt schicken – wie d. M schon schrieb .  . aufs herzlichste  (i. auftr)   d. M. KÖNIGSTEIN      7. JULI 31

516.  EM an StG

9. 7. 1931 Brief ohne Umschlag Berlin 9. VII 1931

Lieber Meister: Bisher sind die Steuerpapiere noch nicht in meine Hände gekommen  – deshalb schrieb ich nicht. Von Dir hatte ich zwei Briefe aus Königstein erhalten  – hoffentlich ist nichts verloren gegangen! Die Steuererklärungsfrist ist bis zum 20. VII verlängert worden – es wäre aber besser, wenn Deine Schwester jetzt den Rechtsanwalt mahnen würde. – Die Stadt ist trotz schlechter Zeit leer. Kürzlich war Percy bei mir, ihn hat der zuständige Ministerialdirektor aufgefordert, eine Habilitation in Frankfurt a. M. zu versuchen. Er war daraufhin in F. und ist – nicht ganz ohne Hoffnung – zurückgekommen.959 Auf seinen Wunsch hatte ich an E. K. geschrieben. Der antwortete mit einem Wutschrei über das „Runde“ Buch.960 Ich habe erwidert, dass es vor allem darauf ankomme, den Percy unterzubringen und dass der einzig geeignete „Stall“ die Universität sei – ein Stall, der heut nicht besser sei als die anderen Ställe der bürgerlichen Berufe. Hoffentlich schadet E. K. dem Vorhaben des Percy in Frankfurt nicht – ich bat ihn, wenigstens nichts gegen P. zu tun. Im ganzen 959 Auch aus diesem letzten Versuch einer Habilitation wurde nichts. Vorausgegangen war u.  a. der Plan, sich bei Leo Spitzer in Bonn mit dem Barbaro-Thema zu habilitieren. 960 Ernst Kantorowicz hatte wohl einmal in Heidelberg Wolfgang Frommel vom Eindringen in das Haus, in welchem er wohnte und George zu Gast war, gewaltsam abgehalten.

504

Briefwechsel 1931

glaube ich nicht an die Habilitationsmöglichkeit für P. mehr – aber bei einem wesus teutonicus [sic] wird das Undenkbarste plötzlich möglich. Sven961 ist in Pyrmont – in Obhut mehrerer bejahrter Tanten – und lernt stöhnend mehrere Seiten lateinischer Vokabeln täglich. Bernhard ist noch hier – wir verbringen die heissen Nachmittage im Bad bei juristischen Gesprächen, die ihm Vergnügen machen. Bondi lebt auf. Seinen Vertrag mit Heidinger hat mein Freund F. günstiger für Bondi gestaltet,962 ein juristisch greifbares Vorkaufsrecht für die Zeit nach B’s etwaigem Tode hat Heidinger durch den neuen Vertrag nicht mehr.963 Percy brachte mich neulich mit einem jungen Lehrer, der jetzt in einem Internat an der Mosel tätig ist und nur in kurz in Berlin war, zusammen. Ein ausgezeichneter Mensch; der erste Lehrer, den ich je sah, der wirklich mit Kindern umgehen könnte. Friese – an Klages mit dem leuchtenden Gebiss erinnernd – frisch und

innen bewegt, hellblond, mittelgross, sehr kräftig, einfach und besessen, ohne verstiegen zu sein! Herzlichst Dein Ernst Meinen Gruss für Frank!

517.  StG und FM an EM

14. 7. 1931 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: eben traf einliegende zuschrift des Mainzer anwalts ein .  . d. M. riete ebenfalls um eine verlängerung der frist bei dem finanz961 Sven Erik Bergh (1912–2008), gebürtiger Schwede, besuchte ab 1924 die Treitschke-­ Schule in Berlin. Nach dem Abitur 1932 studierte er bis 1933 in Berlin, das er noch im selben Jahr verließ, um sein Studium in Uppsala fortzusetzen und in Oxford 1937 mit einem Master abzuschließen. 1939 promovierte er in Uppsala in den Sprachen Arabisch und Persisch. Bergh wurde in den Jahren darauf ein erfolgreicher Verleger im In- und Ausland. Über Wolfgang Frommel lernte er Morwitz kennen, der ihn wiederum als jungen Dichter George vorstellte. Von Bergh standen 1931 drei Gedichte in dem Huldigungsband von Frommel. Mit Hilfe einer befreundeten schwedischen Botschaftertochter gelang es ihm – so Morwitz im Briefbuch (BB) und Bergh in seinen Erinnerungen – Georges Briefe an Morwitz nach Durham NC zu Morwitz zu bringen (vgl. das Nachwort in diesem Band, S. 597  ff.). 962 Dr. Fritz Fischer war ein mit Ernst Morwitz befreundeter Berliner Notar, der Georg Bondi und Morwitz in den Vertragsverhandlungen beriet. 963 Heidinger war Mitarbeiter und zu Zeiten auch Teilhaber im Verlag Georg Bondi.

Briefwechsel 1931 505

amt einzukommen .  . auf Ihre beiden lezten briefe ∙ die d. M. erhielt ∙ will er nächstens eingehen .  . herzlichst d. M. und der schreiber N. S: D. M. weiss nicht ob es einen sinn hat der steuerbehörde zu erklären dass das ⸢in Hessen gelegene⸣ haus ihm und der Schwester zu gleichen teilen gehöre und alle steuersachen ⸢dies betreffend⸣ bisher von hier aus erledigt wurden. KOENIGSTEIN 14. JULI 31

518.  RB an EM

24. 7. 1931 Brief ohne Umschlag Königstein 24.VII. 31

Lieber Ernst, bei meinem Besuch hier hat D M mir die Anlage gegeben, die ich durch Rückfrage in Bingen ausfüllen konnte. Es ist deshalb nicht nötig, die Frist auszunützen. Vielleicht können Sie sich für Ihre Akten Abschrift nehmen für künftige Fälle und als Beleg. In herzlichem Gedenken Ihr Robert

519.  EM an StG

31. 7. 1931 Brief ohne Umschlag

Lieber Meister: Von Robert erhielt ich das Steuerformular mit den Angaben. Leider muss ich noch wissen, in welcher Höhe und für welchen Gläubiger ⸢(wo wohnt der Gläubiger?)⸣ Hypotheken auf dem Grundstück lasten! Ich bitte um Antwort vor dem 17. August, da ich – wenn die Verhältnisse es noch erlauben sollten!– am 17. oder 18. 8. auf zwei Wochen verreisen will und die Frist für die Absendung der Steuererklärung am 31. 8. abläuft. Mit bestem Gruss Dein Ernst 31. VII 31.     4225 RM Kreissparkasse in Bingen

506

Briefwechsel 1931

520.  StG an EM

n. d. 31. 7. 1931 Briefentwurf964

L. E. In erwiderung Ihres vorletzten briefes lässt d M schreiben: „wegen P bestünden keine grossen hoffnungen .  . er meint Sie haben darin recht dass die universität ein stall ist ⸢wie jeder andere beruf⸣ nur würde er das dem P nicht sagen) – aber Sie befänden sich in einem irrtum dass Sie von jedem für jeden beruf ein minimum von kenntnissen verlangen nicht aber von P … Dieser bringe nichts mit als das krasseste nichtwissen ∙ dafür stümpere er in allem herum worin er einen wert sähe – tatsächlich aber keiner sei.. Wenn er in Fr. F. nicht angenommen werde so sei das kein böser wille sondern Ps haarsträubende unwissenheit“

521.  StG an EM

Poststempel Wasserburg, 5. 8. 1931 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: auf Ihre anfrage teilt d. M ⸢Robert⸣ mit dass die hypothek auf die Kreissparkasse in Bingen lautet und 4225 R. M. hoch ist .  . d. M hat seit der lezten nachricht Kö. verlassen und ist nun schon in der zweiten woche am Bodensee .  .965 anschrift bleibt aber bis auf 964 Entwurf eines Auftragsbriefes auf der Rückseite des Briefes vom 9. 7. 1931 in der Hand Frank Mehnerts, vgl. den folgenden Brief vom 5. 8. 1931, dessen durch den Briefschreiber in Anführungszeichen gesetzter Passus den Entwurfstext Georges wiedergibt. 965 George wohnte in Wasserburg in der Villa von Karl und Gerda Schlayer, geb. von Puttkamer. Karl Schlayer, Physiker, war ein Bruder von Clotilde Schlayer, der F ­ reundin Walter Kempners, in deren Dahlemer Haus George in jenen Jahren häufig wohnte. Gerda von Puttkamer (1901–1953) hatte in Heidelberg u.  a. Geschichte studiert und 1927 promoviert und war bis zu Gundolfs Heirat eng mit diesem befreundet ­gewesen. Sie selbst war wiederum eine Freundin von Clotilde Schlayer und Kempners Schwester Nadja. Nach dem Ende ihrer Liaison mit Gundolf heiratete sie 1927 den Bruder ihrer Freundin, Karl Schlayer. Vielleicht hatte sie George schon in Heidelberg kennengelernt. In dem gastlichen Haus am Ufer des Bodensees verbrachte George mit kurzen Unterbrechungen die Zeit Juli/August 1931, Mai bis Juli 1932 und August bis Oktober 1933. Hier fanden heftige Diskussionen zwischen dem NS-freundlichen Mehnert und der NS-Gegnerin Gerda Schlayer statt. Im Hause lebten auch die beiden kleinen Kinder der Gastgeber, mit denen sich George zuweilen auch beschäftigte. Ab

Briefwechsel 1931 507

weiteres Königstein. In erwiderung Ihres vorlezten briefes lässt d. M schreiben: „wegen P bestünden keine grossen hoffnungen  .  . er meint Sie haben darin recht dass die universität ein stall ist wie jeder andere beruf ∙ (nur würde er das dem P. nicht sagen) ∙ aber Sie befänden sich in einem irrtum dass Sie von jedem für jeden beruf ein minimum  von kenntnissen verlangen – nicht aber von P ∙∙∙ dieser bringe nichts mit als das  krasseste nichtwissen ∙ dafür stümpere er in allem herum worin er einen wert sähe – tatsächlich aber keiner sei .  . wenn er in Fr. ft. nicht angenommen werde so sei das kein böser wille sondern Ps haarsträubende unwissenheit.“966 D. M. befindet sich hier recht gut ∙ auch die hitze ist erträglich .  . die landschaft hat viel südliches und dabei mehr weite als schweizer seeen [sic] … gegen ende des monats hat er vor wieder in Berlin zu sein. Mit herzlichen erinnerungen und grüssen – auch des schreibers  – d. M. MITTWOCH       5. AUGUST

522.  StG und FM an EM

6. 8. 1931 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: es ist möglich dass d. M von hier aus in sachen der stiftung nach Basel geht .  . da es eventuell bedurft wird so bittet d. M. da er sich der formulierung des testaments das Sie seinerzeit ⸢für ihn⸣ aufgesezt haben nicht mehr genau entsinnt ∙ ihm den passus der sich auf die stiftung bezieht mitzuteilen. Das test. ist in Berlin aufbewahrt und von hier aus nicht erreichbar .  . die hiesige anschrift ist: villa Schlayer Wasserburg am Bodensee. Mit herzlichen und verehrenden grüssen F.   donnerstag 6. aug

Wintersemester 1932 studierte Gerda Schlayer in Freiburg Medizin und wurde 1939 approbiert. 966 Morwitz hatte in seinem Brief an George vom 9. 7. 1931 (Br. 516) auch berichtet, dass Gothein sich an der Frankfurter Universität habilitieren wolle.

508

523.  StG an EM

Briefwechsel 1931

Poststempel Locarno, 7. 11. 1931 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: D. M teilt mit dass er sich zurzeit am Lago Maggiore aufhält967 ∙ das wetter war bisher sehr schön – fast sommerlich – und d. M. begrüsst es sehr dass er auf diese weise dem dies jahr nördlich der berge so früh hereinbrechenden winter für einige zeit entging .  . die wohn= und sonstigen äusseren verhältnisse sind hier auch denkbar günstig so dass d. M vorläufig einen termin für die rückkehr noch nicht festgesezt hat.968 Bei gelegenheit eines besuches von Robert kam neuerdings die testament= und stiftungsangelegenheit zur sprache und es erhoben sich erneut bedenken gegen die jezt bestehende fassung des testaments .  . der notar der die stift.-sache bearbeitet hatte wurde von dieser gegenwärtigen fassung in kenntnis gesetzt ∙ mit der frage wie bewirkt werden könne ∙ dass die stiftung – nicht bei lebzeiten d. Ms – aber dennoch unmittelbar durch ihn errichtet werden. Die antwort des notars liegt in abschrift bei: danach scheint es dass die gesetzliche erbfolge ∙ die ⸢deren eintritt⸣ gerade vermieden werden sollte durch das bestehende testament nicht ausgeschlossen wird – abgesehen von dem mehr formalen schönheitsfehler dass der testamentsvollstrecker als stifter gelten würde. Nachrichten erreichen d. M. über Robert .  . d. M. hofft dass in B. alles gut geht und grüsst herzlich. LOCARNO       7. NOV. 31

967 George befindet sich seit dem 1. 10. 1931 als Gast von Clotilde Schlayer in einem von ihr am 19. September 1931 für George gemieteten Haus, Molino dell‘ Orso, in Minusio bei Locarno, von Kempner auf der Fahrt und während erster Tage begleitet, um im Süden den Winter besser überstehen zu können. Von diesen Aufenthalten in den Jahren 1931, 1932 und 1933 berichtet Schlayer in fast täglichen Briefen an Walter Kempner, den Arzt und Freund in Berlin; vgl. Clotilde Schlayer: Minusio. Chronik aus den letzten Lebensjahren Stefan Georges. Hrsg. von Maik Bozza und Ute Oelmann, Göttingen 2010. 968 Eine Schilderung Clotilde Schlayers im Brief an Walter Kempner vom 19. 9. 1931 beginnt: „Das Häus’chen heisst ‚Molino dell Orso‘ und liegt an der Via del Sole (guter Name, scheint mir), einer der grossen Villenstrassen am Berg […], trotzdem ganz für sich, etwas zurück von der Strasse an einem schluchtartigen Einschnitt, darin ein Flüsschen seewärts ‚stürzt‘. […] Es hat 3 Eingänge, da jedes Stockwerk an irgend einer Stelle zu ebener Erde liegt. […] Der Garten ist herrlich, mit Kamelien, Weinbau, Beerensträuchern, alten Zedern und sogar einer Palme! Er geht bis zur höheren nächsten Straße und hat dort auch einen Eingang.“ Minusio, S. 17  f. (vgl. Anm. 970).

Briefwechsel 1931 509

Roberts anschrift ist: GENF-CHAMPEL 23 avenue de beau-séjour Abschrift des briefs vom notar an Rob. : Die mir unterbreitete frage habe ich geprüft und komme zu folgendem ergebnis. Das gesetz bestimmt dass eine stiftung entweder in form einer öffentlichen urkunde oder durch leztwillige verfügung errichtet wird. Wird die Stiftung zu lebzeiten von H. S. G. errichtet so liegt der fall einfach. Ebenso einfach ist der fall zu beurteilen wenn die stift. durch leztwillige verfügung errichtet wird. In dem von H. S. G. verfassten testament werden Sie als test.vollstrecker beauftragt die stiftung nach bestimmten statuten zu errichten. Eine solche errichtung muss in form einer öffentl. urkunde geschehen und in diesem falle kann nur der test. vollstrecker als stifter in betracht kommen. Die errichtungsform durch öffentl. urkunde bedingt dass der stifter vor dem notar erscheint ∙ es muss also in einem solche falle der test.vollstrecker als stifter behandelt werden wobei im text der urkunde zum ausdruck gebracht werden kann dass der stifter im auftrage des erblassers handelt. Ich möchte aber bei diesem anlass noch auf eine weitere komplikation hinweisen. Stirbt H. G. ohne die stiftung unter lebenden oder durch testament gegründet zu haben ∙ so geht sein gesamter nachlass – da wir die hereditas jacens nicht mehr kennen – an seine gesetzlichen erben über. Das testament bestimmt dann allerdings dass unverzüglich nach errichtung der stiftung der nachlass auf die stiftung zu übertragen ist. Rechtlich gestaltet sich die erbfolge so dass die gesetzlichen erben als vorerben ∙ die stiftung als nacherbin zu behandeln sind. Ich halte einen solchen doppelten erbgang schon aus steuerrechtlichen gründen nicht für empfehlenswert ∙ ganz abgesehen davon dass sich ev. konflikte zwischen nacherbin und vorerben ergeben. Meines erachtens bleibt keine andere wahl als die stiftung entweder ­unter lebenden zu errichten oder aber die stiftung durch das testament zu be­ gründen. Nur in diesen beiden fällen kann H. S. G. als stifter in erscheinung treten. Falls es H. G. unsympathisch ist sein bestehendes testament zu ändern ∙ so könnte man die stift. durch ein separates testament begründen wobei in diesem test. lediglich beizufügen wäre dass das frühere test.  nicht aufgehoben werden soll.

510

524.  EM an StG

Briefwechsel 1931

11. 11. 1931 Brief ohne Umschlag

Berlin 11. XI 31 Lieber Meister: Zu der Testaments- und Stiftungssache ist zu sagen, dass das Testament in erster Reihe für den Fall gedacht ist, dass die Stiftung zu Lebzeiten von D. M. selbst errichtet ist ⸢wird⸣. Nur für den Notfall sollte R.  B. die Stiftung errichten. Es ist zutreffend, dass nur im ersten Fall die Stiftung unmittelbar Erbe sein kann. Wenn dagegen R. B. erst die Stiftung nach dem Tode von d. M. errichten würde, würde doppelter Erbgang eintreten müssen, wie der Notar richtig sagt. Das muss vermieden werden! Die Schwierigkeit des Falles liegt darin, dass das Testament und die Stiftung nach deutschem und schweizer Recht gültig sein müssen. Es ist mir sehr fraglich, ob die Schweiz ein Testament eines Deutschen anerkennt, in dem eine Stiftung, die das deutsche Recht nicht kennt, errichtet wird. Deutschland jedenfalls wird niemals anerkennen, dass in einem deutschen Testament eine „Stiftung nach schweizer Recht“ errichtet wird, eben weil das deutsche Recht solche Stiftungen nicht kennt. In Deutschland sind „Stiftungen“ lediglich Wohltätigkeitsanstalten und sie bedürfen zur Gültigkeit immer einer behördlichen Genehmigung, die sehr schwer zu erlangen ist. Der einzige richtige und sichere Weg ist also der, dass ⸢jetzt⸣ d. M. in der Schweiz die Stiftung ⸢selbst⸣ errichtet. Geschieht dies, so ist das Testament einwandfrei und eindeutig! Eine Errichtung der Stiftung durch Testament muss meines Erachtens zu unübersehbaren Schwierigkeiten führen. – Ich wünsche gute Erholung. Von hier ist besonderes nicht zu melden. Mit bestem Gruss Dein Ernst.

525.  StG an EM

20. 11. 1931 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst! D. M dankt für die genauen auskünfte über die stiftungsangelegenheit .  . die als vollkommen sicher hingestellte form schafft ihm jedoch keine vollkommene beruhigung: wenn die nach Schweizer Recht durch testament errichtete stiftung vom Deutschen Recht als erbe nicht anerkannt wird

Briefwechsel 1931 511

weil das Deutsche Recht solche stiftungen nicht kennt ∙ so ist nicht einzusehn wesshalb das Deutsche Recht eine ⸢solche⸣ bei lebzeiten errichtete stiftung als erben anerkennen soll ∙ die doch auch nicht nach den vorschriften des Deutschen Rechts errichtet wurde .  . – und umgekehrt. D. M. befindet sich immer noch recht wol – obwol das wetter nicht mehr ganz so schön ist als anfangs – so dass er an die abreise noch nicht denkt. In herzlichem gedenken in d. Ms auftrag. LOCARNO ∙ MINUSIO molino dell’ Orso

20. Nov. 31

526.  EM an StG

22. 11. 1931 Brief ohne Umschlag Berlin 22. XI 31 Regensburgerstr 29

Lieber Meister: Da Du sogleich Antwort erwarten wirst, will ich meine Meinung sagen: Es ist rechtlich ein grosser Unterschied, ob die Stiftung im Testament errichtet werden soll oder ob sie im Augenblick des Todes schon besteht. Es erscheint mir ganz bedenkenfrei nach Deutschem Recht, dass ein Deutscher eine im Augenblick seines Todes bereits nach ausländischem Gesetz rechtskräftig bestehende Stiftung d.  h. juristische Person zum Erben einsetzen kann, zumal dann wenn durch diese Erbeinsetzung nicht ⸢leibliche⸣ Kinder, Eltern oder Ehegatten des Erblassers, die ⸢allein⸣ nach Deutschem Recht ein Pflichtteilrecht haben und die in Deinem Fall nicht existieren, nicht betroffen werden. Im übrigen würden alle Bedenken in dieser Richtung dann hinfällig werden, wenn Du in der Schweiz sogleich nach Errichtung oder ⸢besser⸣ bei Errichtung der Stiftung alle Rechte, die Du an Deinen Werken noch hast und die Dir gegen Bondi zustehen, auf die Stiftung übertragen würdest. Dies ist für Dich meines Erachtens ungefährlich, da Du ⸢selbst⸣, so lange Du lebst, die Entscheidungen über die Stiftung oder besser in der Stiftung treffen musst, was natürlich im Stiftungsstatut vorgesehen werden muss. Ob die Stiftung überhaupt noch anderes jemals erhalten wird, ist bei der heutigen Lage der Welt ja durchaus fraglich!

512

Briefwechsel 1931

Schliesslich fällt mir noch folgender Weg ein, der aber nach Schweizer Recht beurteilt werden muss, das ich nicht kenne: Vielleicht könntest Du die Urkunden und Verträge bei einem Schweizer Notar fertigmachen, aber sie brauchten noch nicht dem Registergericht in der Schweiz eingereicht werden, sondern könnten vorläufig dem Notar zu treuen Händen überantwortet werden, bis Du das Zeichen zur Einreichung gibst. Ob dies nach Schweizer Recht zulässig ist, weiss ich nicht. Du wärst dann noch nicht gebunden. Gute Erholung! mit bestem Gruss an Frank Dein Ernst.

527.  StG an EM

12. 12. 1931969 Brief ohne Umschlag Minusio Molino dell’ Orso970 12 dez.

Lieber Ernst: als ich im herbst mehrmalige besprechungen mit Bdi hatte glaubt ich dass er auf die veränderte lage seines geschäfts nach Dora’s tod zu sprechen käme.971 Heute schreibt er mit einigen anderen dingen das folgende .  .  .  . „Wie Ihnen bereits bekannt wird meine kleine Eva als erbin meiner verstorbenen tochter Dora zu 1/6 teilhaberin des verlags. Ich  möchte nun aber zu meiner unterstützung einen mitarbeitenden teilhaber in den ver-

969 George reagiert hiermit auf Bondis Brief an ihn vom 7. 12. 1931, in welchem jener um Georges Zustimmung zur Aufnahme der Mira Koffka als Teilhaberin des Verlages bittet (StGA). 970 Nach einem Gespräch mit Stefan George und Walter Kempner über Georges Sehnsucht nach Wärme und Süden hatte sich Clotilde Schlayer nach Locarno aufgemacht, wo George schon 1926 sich einmal aufgehalten hatte, um im Einverständnis mit ­Kempner ein Haus als Unterkunft für George zu suchen. Sie fand die ehemalige Mühle „Molino dell’ Orso“, an einem Bach gelegen, und mietete sie umgehend, holte ihre Berliner Köchin und bereitete alles für George vor. Vgl. Anm. 968. 971 Dora Bondi-Nadolovitch (1894–1931) hatte sich laut Morwitz (BB) nach einer Scheidung von Nadolovitch Ende 1929 in einem Sanatorium Fürstenberg das Leben genommen. Ihre Tochter wiederum, Maria Stefania (geb. 19. 12. 1925) wurde von Georg Bondi adoptiert und in Eva umbenannt. Als Eva Nadolovitch-Bondi wurde sie nach dem Tod der Mutter Teilhaberin und nach Georg Bondis Tod Haupterbin. Sie soll einen Nationalsozialisten geheiratet haben und zusammen mit Mann und ­Kindern im Bombenkrieg umgekommen sein (BB).

Briefwechsel 1931 513

lag aufnehmen. Ich weiss hierfür keinen bessern als meine stieftochter Mira Koffka; sie bietet die volle gewähr dafür dass der verlag in seinem wesen und charakter absolut unverändert bleibt. Ich bitte Sie um Ihr einverständnis dass M. K. teilhaberin des verlages wird (zu 1/6) …“972 Ich kann Bdi darauf nur erwidern dass jezt aus der entfernung ich nicht den überblick habe um eine antwort zu geben … hoffe aber bei meiner rückkehr mit ihm die sache genau zu besprechen. Ich bitte dich von dier [sic] mitteilung an dich ihm nichts zu sagen. Was ist zu tun?  Herzlich S. G.

528.  EM an StG

23. 12. 1931 Brief ohne Umschlag Berlin den 23. XII 31 Regensburgerstr. 29.

Lieber Meister: Zum Namenstag und zum neuen Jahr alles Gute! Ich hause seit zwei Wochen in einer „aufgeschnittenen“ Wohnung, meine Wohnung wird nämlich geteilt und ich bleibe in meinen alten Räumen, gebe aber die andere Hälfte der Wohnung, die völlig abgetrennt wird, auf.– Silvio und Bernhard werden über Weihnachten ins Riesengebirge zum Skiern fahren, ich plane eine zwei-Tage-Fahrt nach Swinemünde, um einen Luftwechsel zu verspüren – wenn möglich will ich Sven mitnehmen. Zschokke ist seit Oktober in Düsseldorf und fühlt sich in seiner Lehrertätigkeit gut.973 Percy’s Buch über Barbaro974 ist erschienen – alles irgendwie Anstössige habe ich beim Correkturlesen ausgemerzt – hoffentlich bringt es den ersehnten Erfolg für sein äusseres Leben, er hat Berlin endgültig verlassen – seine Mutter ist sehr krank. Dass Oskar A. H. Schmitz gestorben ist, wirst Du gehört haben. –975 972 Zu Mira Koffka vgl. Anm. 335 und 976. 973 Alexander Zschokke leitete von 1931 bis 1937 erfolgreich eine Bildhauerklasse an der Kunstakademie in Düsseldorf, deren Ehrenmitglied er nach seiner Rückkehr nach Basel blieb. 974 Percy Gotheins Buch Francesco Barbaro erschien 1932 in Wolfgang Frommels Verlag Die Runde. 975 Oscar Adolf Hermann Schmitz (1873–1931) gehörte der Schwabinger Kunstszene an, war eng verbunden mit der Gräfin Reventlow und Franz Hessel und seit 1894 mit Wolfskehl bekannt, der ihm Georges Lyrik vermittelte. In den Jahren 1898/99 kam es

514

Briefwechsel 1931/1932

Es war ganz richtig, Bondi zu schreiben, Du könntest aus der Ferne nicht Stellung nehmen. Fischer hat den B. wiederholt darauf hinweisen müssen, dass er Dich fragen müsse, bevor er die Mira in den Verlag aufnehmen könne. Bondi betrachtet Deine Zustimmung als Selbstverständlichkeit. Ich werde gerichtlicher Pfleger für Eva zum Zweck des Vertragschlusses, werde aber nichts tun, bis wir alles mündlich vereinbart haben. Es ist schwer, zu raten! Mira ist klüger als Dora war, aber ebenso mannstoll nach ihrem bayrischen Ingenieur.976 Sie arbeitet bereits im Verlage und schleicht vielleicht etwas erb. Ausbooten wird man sie kaum können – wer sollte auch an ihre Stelle treten?  Herzlichst  Dein  Ernst.

529.  StG an EM

[um die Jahreswende 1931/1932] Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: dank für die sendung der B. schen abrechnungen  ∙ hast Du sie selber in augenschein genommen? Schien Dir nicht auch dass bei einer gesamteinnahme von 26 000.– das honorar von 2 600 etwas niedrig ist. Der Zyniker schneidet nur deshalb so gut ab weil dazu kommt die hälfte des reingewinns infolge der kostenbeteiligung d. M.s. .977 Ich habe Ernst angewiesen sofort Dir mitzuteilen wohin die summe ihm gesandt werden soll damit Bondi es sofort erledigt. Nach abzug der B. schen gegenrechnungen bleiben 5 044.05 mark. Die Bondische zahlung an mich bitte ich ihn sofort zu richten an die schweiz. kreditanstalt Basel zur gutschrift auf das konto von Dr.  Robert Boehringer ∙ und zwar sowohl die von mir Bondi vorgeschossenen 4 500m. + zu häufigeren Begegnungen mit Stefan George in Berlin, sei es abends in Cafes oder im Hause Lepsius. Schmitz’ Kritik an Lechters Beitrag zur Pariser Weltausstellung wurde nicht gut aufgenommen. Er nahm aber noch teil am Münchner Maskenzug im Februar 1903; 1904 brach auch Wolfskehl mit ihm. Schmitz wurde nach ersten lyrischen Versuchen zu einem äußerst produktiven Verfasser von Erzählungen, Novellen, Reiseberichten, Theaterstücken und Romanen. 976 Mira Koffka, geborene Klein, Tochter von Eva Bondi aus deren Ehe mit dem Bildhauer Max Klein, war seit 1909 mit dem Psychologen Kurt Koffka (1886–1941), einem der Begründer der Gestaltpsychologie, verheiratet, von welchem sie 1923 geschieden wurde. Der „bayrische Ingenieur“ ist unbekannt. 977 Kaiser Friedrich II. von Ernst Kantorowicz war ein erfolgreiches Buch (vierte Auflage 1936), das von George vorfinanziert worden war, nicht zuletzt weil er Bondi den Namen des unbekannten Verfassers lange Zeit nicht nennen und keine Textteile bekannt geben wollte und deswegen das verlegerische Risiko mittrug.

Briefwechsel 1932 515

den sich aus der abrechnung ergebenden 3 655,75 (wobei bereits die B. schen forderungen abgerechnet sind) … Es war mir lieb dass Du von der begegnung mit G.978 mir geschrieben hast obwol ich einige andeutungen nicht verstanden habe. Mir ging nicht klar hervor was er überhaupt wollte. Deinen hohen profezeiungen über die güte des kommenden werkes möchte ich vorläufig noch zweifel entgegen setzen ∙ den [sic] ein untrügliches volkswort lautet: woher nehmen und nicht stehlen. Aber im ernst! ihr alle die ihr nach jener seite noch verkehr aufrecht erhaltet habt die verpflichtung dafür zu sorgen dass nicht eines tages von ungeeignetstem gepföte G. gedichte in grauenvollem mischmasch herausgegeben werden .  . das bleibt in der ganzen sache das einzig wichtige.

In L. ist es abwechselnd sonnig und kalt ∙ im ganzen aber recht südlich. Tout-Locarno Eine weitere woche ist noch ziemlich sicher.

530.  StG und FM an EM

28. 1. 1932 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: heute erhielt d. M einen brief von Bondi worin er gedrängt wird seine zustimmung zu der geplanten transaktion zu geben  .  . es heisst darin: „Aus sehr triftigen gründen habe ich ein dringendes interesse daran ∙ die frage der teilhaberschaft jezt zu lösen. Kein mensch kann mir besser gewähr bieten als Mira Koffka. Ich bitte Sie daher nochmals um Ihre schriftliche zustimmung ∙ falls Sie nicht in kürzester zeit nach Berlin kommen.“

978 Laut Morwitz ist hier nicht Percy Gothein und sein soeben erschienenes Buch Francesco Barbaro gemeint, sondern der am 12. 7. 1931 verstorbene Friedrich Gundolf (BB). Da dieser G. aber vor kurzem bei Morwitz erschienen war, dürfte es sich doch hier um Gothein handeln. Die mögliche Herausgeberschaft von Gedichten durch eine unerwünschte Hand lässt sowohl an Wolfgang Frommel wie auch an Elli Gundolf denken. Beiden traute George Indiskretionen zu. Fraglich ist, welches kommende Werk Gundolfs gemeint sein könnte.

516

Briefwechsel 1932

D. M. bittet Sie um Ihren rat was er Bondi antworten soll .  . es scheint ihm aber dass er auf grund des vertrages nicht berechtigt ist die aufnahme der M. K. in den verlag zu verhindern – selbst wenn er es zu verhindern wünschte .  . ein exemplar des vertrags hat er jedoch nicht hier. Hier ist es zur zeit sehr schön fast frühjahrlich ∙ so dass d. M. sich noch nicht zur rückkehr entschliessen mag. D. M. bittet ⸢frägt⸣ noch ob Sie geneigt wären einen betrag für ihn aufzubewahren ∙ da Bondi an R. nicht überweisen kann. Was gibt es neues in Berlin? herzlich gedenkend F. MIN. 28. jenner 32.

531.  EM an StG

2. 2. 1932 Brief ohne Umschlag

2. II. 1932 Lieber Meister: Nach dem Vertrage, den ich eingesehen habe, hast Du das Recht zur Kündigung des ganzen Verhältnisses, sobald eine Dir nicht genehme Person in irgend einer Weise an dem Verlage beteiligt wird. Ich würde Dir raten, nicht aus der Ferne Deine Einwilligung zu geben, sondern an B. zu schreiben, dass Du persönlich über die Sache mit ihm reden müsstest. Ich traue Mira K. nicht ganz, Dorchen sah ihr Verhalten als Erbschleicherei an, sie will den bayrischen Ingenieur angehn und es scheint mir möglich, dass sie oder jener als Mitgift die Verlagsbeteiligung wünscht. Da der Gatte Alleinherrscher sein wird – die schlechte Behandlung wird wahrscheinlich von dem weiblichen Teil als besonderer Reiz empfunden, möchte man doch vorsichtig sein. Ich weiss nicht, ob Dir bekannt ist, dass B. Einzelausgaben der Gedichte regelrecht schleudert (Ladenpreis 2,50 RM). Ausserdem würde ich in den mündlichen Verhandlungen einen bindenden Druckplan für die Restbände der Gesamtausgabe und evtl. vor der Einwilligung schriftliche Erklärungen von Mira K. über den Charakter des Verlages für die Zukunft zu verlangen. Wenn Du erst die Einwilligung gegeben hast, hast Du kein Druckmittel mehr in der Hand! – Das Geld kann, wenn Du es wünscht, auf das Konto Dr. E. M. bei der Deutschen Bank und Diskonto Gesellschaft, Deposit Wittenbergplatz 4, Ber-

Briefwechsel 1932 517

lin W 62 überwiesen werden. Wir könnten dann besprechen, ob es ratsam ist, für Dich ein Sonderkonto abzuzweigen. Gute Erholung und meinen Gruss an Dich und Frank Dein Ernst.

532.  StG an EM

14. 2. 1932 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst! d. M. dankt für Ihre nachricht .  . er ist auch Ihrer ansicht und will aus der ferne keine ihn bindenden entscheidungen abgeben .  . vielleicht könnten Sie zur beruhigung Bondis sagen dass ∙ da d. M.s kommen nach Berlin noch nicht nahe bevorsteht ∙ ein provisorium ⸢doch⸣ dadurch geschaffen werden könnte ∙ dass Bondi die ihm unentbehrlich scheinende M. K. als honorierte mitarbeiterin in den verlag nimmt. D. M. wünschte gerne über erbschaft steuer etwas zu erfahren: vielleicht sind Sie in der lage auskunft zu geben. Die höhe der B.schen zahlungen ist Ihnen bekannt .  . erben bez. stiftung erhalten die hälfte .  . falls das vermögen der Schwester aufgebraucht ist kann die rente nur aus diesen einkünften bestritten werden. Was ist etwa die höhe der erbschaft steuer? in welcher form wird sie eingezogen ∙ vermutlich verteilt auf mehrere jahre. wird dadurch nicht die rente in frage gestellt? oder findet diese berücksichtigung? lässt sich die behörde auf einen aufschub eventuell ein? In herzlichem gedenken im auftrag d. M.s Loc∙ 14. februar 32

518

533.  EM an StG

Briefwechsel 1932

21. 2. 1932 Brief ohne Umschlag Berlin 21. II 32

Lieber Meister: Bondi hat mich bisher nicht selbst gefragt, wie Du über Mira’s Eintritt in den Verlag denkst, und deshalb ist es wohl das Beste, wenn ich ihm hierüber von mir aus nichts sage! Bondi hat – auf Weisung Robert Boehringers – auf mein Bankkonto 2 400 RM für Dich überwiesen. Bezüglich der Erbhaftsteuer habe ich mich erkundigt. Sie richtet sich nach dem Grade der Verwandtschaft und beträgt für Geschwister bis 10 000 RM – 6 %, für die nächsten 10 000 RM – 7 ½% und für weitere 10 000 RM – 9 %, die wohl auf einmal bezahlt werden müssen  – ist also ziemlich hoch. Ich würde noch immer raten, dass Du den dortigen Aufenthalt979 benutzt, ⸢um⸣ die Stiftung irgendwie schon jetzt auf die Beine ⸢zu⸣ stellen, sofern das möglich und zulässig ist. Ich habe mit R. B. bei seinem Hiersein darüber gesprochen. Inzwischen ist mir noch eingefallen, dass Du bei der Stiftungsgründung garnicht nach aussen in Erscheinung ⸢zu⸣ treten brauchtest, wenn du nämlich die Urheberrechte an R. B. abtreten würdest und wenn R. B. die Stiftung gründen würde. Es könnte auch so gemacht werden, dass Du alles übrige der Stiftung übereignen würdest und dass die Stiftung zur Rentenzahlung an Dich und nach Deinem Tode an Deine Schwester sich jetzt schon verpflichten würde. Dann käme überhaupt keine Erbschaftssteuer in Frage! Vielleicht besprichst Du diese Möglichkeit einmal mit R. B. Wegen einer neuen Steuererklärung habe ich mich – Dein Einverständnis voraussetzend – direkt an Deine Schwester gewendet. Mit bestem Gruss an Dich und Frank Dein Ernst

Als vorläufiges Abrechnungsergebnis für 1931 hat mir Bondi zu Steuerzwecken 4 900 RM angegeben. Mira K. arbeitet bereits im Verlag. Die alte Ausgabe der Gedichte habe ich heute für 1,65 RM pro Band in einer Buchhandlung gesehen.

979 George befand sich zu diesem Zeitpunkt in Minusio und fuhr von dort im April über Basel zurück nach Berlin.

Briefwechsel 1932 519

534.  StG an EM

Poststempel Basel, 24. 2. 1932 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: d. M. dankt für Ihre lezte nachricht .  . der plan der stiftung ∙ so wie er fest gesezt war ∙ hat sich als unbrauchbar erwiesen. Ihre unterredung mit Rob. fand statt noch bevor diese undurchführbarkeit festgestellt wurde. In der sache der erbschaft glaubt d. M. sich nicht deutlich genug geäussert zu haben .  . setzen wir ∙ die lage wäre so: die Schwester wäre erbin … nachdem das vermögen der Schwester aufgebraucht ist ∙ bleiben beim eventuellen erbfall für sie nur übrig die einkünfte aus dem B schen verlag .  . sie hat also kein kapital noch empfängt sie kapital durch den erbfall. D. Ms anfrage bezog sich nun darauf: wie die gepflogenheiten sind wenn diese einkünfte als erbschaft versteuert werden sollen. Wenn sie der erbe die steuer auf einmal bezahlen müsste ∙ so könnte sie die erbschaft ja nicht antreten: einkünfte müssen also ⸢in⸣ anderer form versteuert werden ∙ als ein ererbtes kapital. Wenn die steuerquote nach dem grad der verwandtschaft sich ändert ∙ so scheint das selbstverständlich ∙ für die meisterliche anfrage jedoch ist es gleichgültig wer der erbe ist .  . er möchte nur wissen wie in dem oben angegebenen fall gehandhabt wird. Dass die B.schen angelegenheiten vertagt werden ist auch im sinne d. Ms .  . doch wenn er von selbst darauf zu sprechen kommt brauche mit der im lezten brief geäusserten meinung d. Ms nicht zurückgehalten werden Herzlich i. a. des Ms. MIN. 24. II. 32

520

Briefwechsel 1932

535.  EM an StG

2. 3. 1932 Brief ohne Umschlag Berlin 2. III 1932

Lieber Meister: Über die Art, in der die Erbschaftssteuer bei Erbschaften oder Vermächtnissen, die in Renten bestehen, gezahlt werden muss, sagt § 33 des Erbschaftsteuergesetzes, dass die Steuer entweder sofort von dem zu kapitalisierenden Gesamtwert der Rente oder – wenn dies ⸢der⸣ Erbe wünscht – in jedem Jahr von dem einjährigen Wert der Rente zu entrichten ist. Damit sind wohl alle Fragen hierüber geklärt. Ich habe Deine Schwester vor mehreren Wochen gebeten, mir bestimmte Fragen über das Binger Haus zu beantworten, die ich für Deine Einkommensteuer gebrauche und die sich von Jahr zu Jahr ändern, sodass ich die vorjährigen Angaben jetzt nicht mehr benutzen kann. Da ich bisher keine Antwort bekommen habe und selbst mich zu mahnen scheue, bitte ich Dich, einmal nach Königstein zu schreiben. Mit bestem Gruss an Dich und Frank Dein Ernst.

Steuer Binger Haus Robert ! Frank

536.  StG an EM

6. 3. 1932 Brief ohne Umschlag Minusio ∙ 6. III. 32.

D. M. dankt für die Auskunft, die vollkommen ausreicht. Anders jedoch verhält es sich mit dem jetzt vorliegenden Stiftungsplan und Testament, die wie sie vorliegen sich als unbrauchbar herausgestellt haben, da sie gerade das, was verhindert werden sollte, nicht verhindern. D. M. hat daher ein Zusatztestament geschaffen, das hier in Abschrift beiliegt und bittet es genau auf das Formale hin zu prüfen und zurückzusenden. D. M. wird dann es vollständig abschreiben und nochmals schicken. Die Sache mit der Steuererklärung betreffend Bingen ist an Robert weitergegeben worden, der erst kürzlich in Kö war und mithin am ehsten Bescheid geben kann.

Briefwechsel 1932 521

Fr. ist inzwischen nach Deutschland gereist. Über den Verbleib des Meisters am hiesigen Ort ist noch nichts entschieden. Herzlichst im Auftrage d. M.

537.  EM an StG

18. 3. 1932 Brief ohne Umschlag Berlin 18. III 32 Regensburgerstr 29

Lieber Meister: Aus Königstein erhalte ich keine Nachricht über die Binger Grundstückzahlen, obwohl ich nochmals um Antwort gebeten habe.980 Ich weiss nicht, was ich tun soll – bis zum 31. III muss die Steuererklärung abgegeben werden! Die Formulierung des Testamentsnachtrages ist nicht einwandfrei: Es muss heissen hinter dem Wort „Ersatzerbe“ I „für den Fall, dass ich selbst Herrn Robert Boehringer überlebe oder dass Robert Boehringer meine Erbschaft ausschlägt“ II Ferner muss auf Seite 2 der Absatz 2 fortfallen. Er enthält nämlich eine falsche Vermischung von Ersatzerbschaft und Nacherbschaft. Die Frage der Ersatzerbschaft ist durch I erledigt. Ersatzerbschaft ist begrifflich der Eintritt als Erbe, bevor der an erster Stelle benannte Erbe tatsächlich Erbe geworden ist d.  h. also falls der an erster Stelle benannte R. B. vor d. M. stirbt oder sogleich nach dem Tode des M. die Erbschaft ausschlägt. Nacherbfolge dagegen tritt dann ein, wenn R.  B. zunächst tatsächlich Erbe wird und dann stirbt. Man wird also auf Seite 1 in Absatz 2 bei # am besten einfügen „und zwar Vorerbe“ und ebendort wird man bei X einfügen: „Nacherbe im Fall des Todes von R. B. ist Berthold “

980 Georges Schwester Anna Maria Ottilie (1866–1938) lebte zu diesem Zeitpunkt noch in Königstein. Das Binger Haus war bis zum Sommer 1932 vermietet.

522

Briefwechsel 1932

Kleine Korrekturen habe ich selbst eingefügt. Der Name steht am besten unter Ortsangabe und Datum. Mit bestem Gruss Dein Ernst.

538.  StG und RB an EM

20. 3. 1932981 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Dank für Deinen brief vom 18. III. 32. Es trifft sich gut dass R gerade hier ist. Nach dem ersten lesen verstehe ich den von Dir vorgeschlagenen einschub „für den fall dass ich selbst herrn RB überlebe  …“ nicht recht ∙ denn RB könnte ja nur erbe sein wenn er mich überlebte.++ Glücklicherweise hast Du aber im princip keine einwendungen. Die fassung mit Deinen änderungsvorschlägen wird noch einmal sorgfältig überlegt werden. Da Bondi wiederholt und beunruhigt geschrieben hat ∙ muss ich mir darüber schlüssig werden ∙ unter welchen bedingungen ich gegebenenfalls der geplanten beteiligung zustimmen könnte. Eine Reise nach Berlin würde kaum förderlich sein ∙ so lange nicht fest steht welche haltung ich einnehmen werde. Wozu rätst Du? Unter welcher bedingung könnte ich Bondis wunsch entsprechen? Du sprachest ehemals von sicherungen ∙ worin bestehen sie? R sagt das Binger haus gebe keinen ertrag da der mieter des ersten stocks seit langem nicht bezahlt. Zur zeit gebe Rechtsanwalt Dr Paul Simon in Mainz Kaiserstrasse 26 die steuererklärung für die Schwester ab. Bei ihm kannst Du jedenfalls diese zahlen erfragen. Er ist gebeten worden Dir auskunft zu geben sobald Du darum an ihn schreibst. Der R grüsst herzlich mit d M Locarno Palmarum 1932 ++ Ich bin nicht der (freilich nicht sehr massgeblichen) meinung dass der aufsezer des entwurfs sich unklar war über ersaz-bzw. nacherbe. Er sezt nur hinten was Du vorn anbringst.

981 Der Palmsonntag fiel 1932 auf den 20. März.

Briefwechsel 1932 523

539.  StG an EM

20. 3. 1932 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Kaum ist mein brief eingeworfen muss ich noch einmal schreiben: Bondi schrieb in seinem briefe vom 7. Dez 31 ∙ aus dem ich Dir ich weiss nicht mehr wie viel abschreiben liess hinsichtlich der teilhaberschaft folgendes: „Eine andere sache hätte ich gern mündlich mit Ihnen besprochen ∙ ich hatte angenommen dass Sie spätestens ende November hierher zurückkommen. Da ich jetzt sehe dass sich Ihre reise nach Berlin verspätet und da die sache keinen aufschub duldet ∙ so muss ich schriftliche erledigung versuchen. Wie Ihnen bereits bekannt wird meine kleine Eva als erbin meiner verstorbenen tocher Dora zu 1/6 teilhaberin des verlages. Ich möchte nun aber zu meiner unterstützung einen mitarbeitenden teilhaber in den verlag aufnehmen. Ich weiss hierfür keinen besseren als meine stieftochter Mira Koffka ∙ sie bietet die vollständige gewähr dafür dass der verlag in seinem wesen und charakter absolut unverändert bleibt. Ich bitte Sie um Ihr einverständnis dass Mira Koffka teilhaberin des verlages wird. (zu 1/6). Da ich dies aus geschäftlichen gründen baldigst geschehen musss [sic] ∙ so bitte ich um Ihre zustimmung sobald es Ihnen irgend möglich ist.“ Heute fällt mir an diesem briefe der satz auf der mit den worten beginnt: „Wie Ihnen bereits bekannt .  .  .  .  .“ Demnach hätte der eintritt einen „neuen – auch stillen – teilhabers in den verlag Georg Bondi“ gemäss Art 6 des vertrags schon stattgefunden? Kann das minderjährige kind teilhaber sein? Vielleicht stiller teilhaber? Als erbin ist es teilhaber geworden. Ist mir das bekannt? Ich hätte es mir vielleicht denken können ∙ wenn ich darüber nachgedacht hätte. Aber enthebt das Bondi der verpflichtung mir diese tatsache durch einen eingeschriebenen brief mitzuteilen? Ich meine: nein. Und von wann ab laufen die 6 monate meines rücktrittsrechtes? Von der absendung des eingeschriebenen briefes an. Also haben sie noch nicht zu laufen begonnen. Muss ich gegen diese wendung „wie Ihnen bereits bekannt“ protestieren? Fast scheint es so. Deine ansicht hierüber gleich zu erfahren wäre mir wichtig. Die teilhaberschaft der Eva scheint im augenblick weniger bedenklich als die der Mira. Aber wenn Bondi stirbt ∙ so kommt ein vormund und handelt für die Eva und der fremde wille kann den karakter des verlags entscheidend beeinflussen. Darum ist die teilhaberschaft der Eva für mich von gleicher bedeutung wie die der Mira.

524

Briefwechsel 1932

Bitte darüber sich möglichst schnell zu äussern ∙ und wenn angängig auch über die fragen des vorigen briefes. Locarno Palmarum 1932      Herzlich d M

540.  EM an StG

27. 3. 1932 Brief ohne Umschlag Ostern 1932

Lieber Meister: Die beiden Briefe habe ich erhalten. Der Text des Vertrages ist mir wörtlich nicht Erinnerung, ich kann auch nicht Einsicht nehmen, da Dr. Fischer verreist ist. Ich glaube aber, dass Dein Kündigungsrecht nur für den Fall gilt, dass durch Rechtsgeschäft (also nicht durch vom menschlichen Willen grundsätzlich unabhängige Ereignisse wie Tod) sich an den Eigentümerverhältnissen des Verlages etwas ändert. Ich glaube demnach nicht, dass Dora’s Tod Dir ein Kündigungsrecht gibt, werde aber nach Fischers Rückkehr den Vertrag daraufhin prüfen. Ich weiss nicht, ob es nicht unnütz scharf aussieht, wenn du aus Vorsicht Bondi schreiben würdest, Dir sei durch seinen Brief erst jetzt klar geworden, dass durch Dora’s Tod in den Eigentümerverhältnissen des Verlages eine Änderung eingetreten sei und dass Du Dir die Geltendmachung der etwa hieraus für dich entstandenen Rechte vorbehalten müsstest. Wenn ich von Sicherungen bezgl. Mira K’s Eintritt schrieb, so meinte ich Massnahmen gegen das Schleudern, das natürlich Deine einkünfte herabdrückt. Ferner müsste man Dir das Kündigungsrecht auch im Fall einer Heirat von Mira und im Fall von Mira’s Tod gewähren, da dann (und zwar ohne dass ein „Rechtsgeschäft“ die Eigentumsverhältnisse ändern würde) fremde, dir nicht genehme Personen in den Verlag eintreten würden. Vielleicht könnte man Dir dann auch das Kündigungsrecht für den Fall von Bondi’s Tod bedingen, da er ja jetzt durch Testament Dir nicht genehme Personen zu Verlagseigentümern machen kann. Ich muss aber zunächst den Vertrag einsehen, ob Du nicht schon jetzt das Kündigungsrecht bei Bondi’s Tod hast. Ich würde an Deiner Stelle nichts vor Deinem Hiersein in der Sache machen.

Briefwechsel 1932 525



Bondi hat mir für Dich 1415,30 RM überwiesen. Hier liegen aber  + 2400,– insgesamt 3815,30 RM An den Rechtsanwalt in Mainz habe ⸢ich⸣ geschrieben – bisher ohne Erfolg. Herzlichst Dein Ernst

Eva ist durch Erbfolge Teilhaber des Verlages geworden, Minderjährigkeit macht hierbei nichts aus.982 Meiner Erinnerung nach läuft die Kündigungsfrist erst nach Erhalt des Einschreibebriefes, sie kommt aber – glaub ich – bei Erbgang überhaupt nicht in Frage!

541.  StG an EM

Poststempel Locarno, 28. 3. 1932 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst:  folgendes kam über Genf ∙ Rom ∙ von Robert . Da ich nicht weiss was damit zu geschehen hat sende ich es Dir zur erledigung. Deutliche bemerkung dass Du mein steuerbevollmächtigter bist würde nichts schaden. Min / montag Unerfindlich wieso Lovis dies nicht direkt an dich weitergab.

Mahnzettel Finanzkasse (Finanzamt) Bingen

982 Eva Bondi (geb. 1925), Tochter von Dora Nadolovitch (1892–1931), war 1932 noch ein Kind, vgl. Anm. 606 und 971.

526

542.  StG an EM

Briefwechsel 1932

29. 3. 1932 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Deine ansicht dass ein rücktrittsrecht nur für den fall gilt dass durch rechtsgeschäft sich an den eigentumsverhältnissen des verlages etwas ändert scheint der vertrag nicht zu bestätigen. Dort heisst es in art. 6: „Bondi verpflichtet sich jeden vertragsabschluss …  sowie den eintritt jedes neuen – auch stillen – teilhabers in den Verlag Georg Bondi Herrn George .  .  .  . sofort durch eingeschriebenen brief mitzuteilen.“ Das scheint mir auch der fall des eintritts eines teilhabers durch erbfolge zu treffen. Robert und sein rechtsberater sind derselben meinung. D. M. hält die sache mit Bondi doch nicht für so harmlos. Nicht etwa dass er nach dem tode der Dora und dem eintritt Evas sein kündigungsrecht geltend machen will: doch muss vermieden werden dass Bondi behaupten kann ∙ nach Doras tod hätte D. M. wissen müssen dass Eva als erbin ihrer mutter den verlagsanteil ihrer mutter erbt: d. M. hätte also von dem eintritt eines neuen teilhabers gewusst ohne dagegen einspruch* (*Im ganzen verlauf hat Bondi sich durchgängig wenn auch nicht als erfahrener so doch als sehr „kniffliger“ advokat erwiesen.) zu erheben. Im brief vom 7. dec. 31 schreibt B.: „wie Ihnen bereits bekannt wird meine kleine Eva als erbin meiner verstorbenen tochter Dora zu 1/6 teilhaberin des verlags“. Auf diesen brief ist von meiner seite geantwortet worden sodass erhalt feststeht. Es ist also belanglos dass die mitteilung nicht durch eingeschriebenen brief erfolgte. Jedenfalls ist auch d. M. der meinung dass diese gelegenheit benutzt werden muss um sich das kündigungsrecht für spätere fälle vorzubehalten und den vertrag in diesem sinne zu ändern. Nach d. M.s ansicht ist es weit besser wenn diese verhandlungen vor seiner rückkehr geführt werden. Die frist innerhalb derer wegen des eintritts Evas gekündigt werden könnte bzw. damit ein druck ausgeübt werden könnte läuft am 7. VI. ab. Das einverständnis zum eintritt Miras müsste von der änderung des vertrags abhängig gemacht werden. D. M. hat die befürchtung dass etwas versäumt werden könnte. Sollte es Dir unangenehm sein diese verhandlungen

mit B. zu führen was d. M. verstehen würde so müsste er jemand anders beauftragen. Minusio / dienstag

Briefwechsel 1932 527

543.  StG an EM

Poststempel Bahnpost ambulant, 30. 3. 1932 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: d. M. bittet von seinem guthaben auf der bank gleich 500 RM abzuheben und dem durchreisenden Adjib der sich durch fernsprecher anmelden wird auszuhändigen. Min / mittwoch

Herzlich d. M.

544.  EM an StG

1. 4. 1932 Brief ohne Umschlag 1. 4. 32

Lieber Meister: Es ist wohl praktisch, auf die Binger Steuermahnung, die die staatliche Feuerversicherung betrifft, überhaupt nicht zu reagieren. Melden wir uns nämlich, so besteht die Gefahr, dass alle das Grundstück betreffenden Steuern schliesslich von Dir eingezogen werden: Gefahr für das Grundstück besteht nicht, da die gleiche Aufforderung sicherlich an Deine Schwester als Miteigentümerin gesandt worden ist. Der Mainzer Rechtsanwalt hat immer noch nicht geantwortet – das Geld werde ich Berthold aushändigen. Dr. Fischer983 ist aus Baden-Baden zurück, und ich habe Einsicht in den BondiVertrag genommen. Ich bin auf Grund der Fassung des Artikel 6 der Auffassung, dass bisher Erbgang den Bondi zu keiner Anzeige verpflichtet und dass Du bei Erbgang kein Rücktrittsrecht nach der bisherigen Fassung ⸢des Vertrags⸣ hast. Rücktrittsrecht besteht bisher nur dann wenn 1) durch irgendwelche Verträge die Selbständigkeit des Verlages eingeschränkt ⸢wird⸣ und wenn 2) ein neuer Teilhaber, sei es auch ein stiller eintritt, d.  h. auf Grund eines Vertrages also eines Rechtsgeschäftes eintritt. Fischer ist derselben Meinung. Es scheint mir deshalb weder juristisch noch menschlich möglich, an den Eintritt Evas , der sich ja kraft Gesetzes (Universalsuccesion durch

983 Zu Fritz Fischer vgl. Anm. 962.

528

Briefwechsel 1932

Erbfolge nach Dora ) vollzogen hat, Bedingungen zu knüpfen.984 Infolgedessen fallen auch die Fragen hinsichtlich der Frist für den Rücktritt bezüglich Fall Eva fort. Anders verhält es sich im Fall Mira , die durch Rechtsgeschäft Mitinhaberin des Verlages werden soll. An den Fall Mira kannst Du alle Bedingungen knüpfen, die Dir notwendig scheinen. Versäumt werden kann im Fall Mira nichts, denn ihr Eintritt als Miteigentümerin, von dem Du durch Einschreibebrief zwecks Fristenlaufbeginns Kenntnis erhalten musst, ist noch nicht erfolgt. Du kannst also erklären, dass Du nur unter diesen und jenen Bedingungen mit Miras Mitinhaberschaft einverstanden sein wirst, ohne dann Dein Rücktrittsrecht zu gebrauchen. In diesem Fall Mira kann also Dein Rücktrittsrecht in futurum dahin ausgedehnt werden, dass es Dir auch beim Fall von a) Bondi’s Tod, B) Mira’s Tod c) Mira’s Heirat zustehen soll. Es ist mir durchaus nicht unangenehm, mit Bondi zu verhandeln, sobald Du mir klar Deine Bedingungen mitteilst. Nach Fischer’s Angabe wäre ⸢es⸣ B. sehr erwünscht, die Sache bald zu regeln, damit Mira eintreten kann. Ob es für Dich erwünscht ⸢ist⸣, dass Mira bald eintritt

oder ob von Deiner Seite aus Zuwarten günstiger ist, musst Du selbst entscheiden. Es hängt von den Bedingungen ab, die Du gestellt wissen willst. Herzlichst Dein Ernst

545. StG an EM

Poststempel Locarno, 4. 4. 1932 Brief mit Umschlag nach Berlin W. Minusio 4. IV. 32

Lieber Ernst: Danke für den Brief. Ich bin erstaunt ∙ dass in einer scheinbar so einfachen Sache zwei entgegengesetzte juristische Meinungen bestehen können. Wenn E. Universalerbin Bondis wäre ∙ so würde zu Bondis Lebzeiten kein fremder Wille einsetzen. Da sie aber Teilhaberin ist und ­einen Vormund bekommt ist damit der fremde mitbestimmende Wille gegeben. Wenn Dora ihre Schwester zur Erbin des Verlages eingesetzt 984 George oder einer seiner Mitleser hat in diesem Passus das Wort „menschlich“ unterkringelt und mit einem Ausrufezeichen versehen, ebenso „kraft des Gesetzes“ unterstrichen und mit doppeltem Fragezeichen ergänzt.

Briefwechsel 1932 529

hätte ∙ so bestünde ja auch kein Rechtsgeschäft ∙ sondern Erbfall. Dass das Rücktrittsrecht nur zu Bondis Lebzeiten sich985 erstrecken soll ∙ davon entdecke ich nichts im Vertrag. Wenn jedoch nur die geringste Möglichkeit einer anderen Auslegung vorhanden wäre ∙ so müsste ich manches umüberlegen. Das Ableben Bondis und der neue Verlagsinhaber wäre dann der krasseste Fall und der wichtigste Vertragspassus hätte da für mich geringe Bedeutung. Soll die Finte in dem Wörtchen „dieser Art“ in Abs.  2 liegen ∙ dann hätte freilich besser gestanden: „ein Vorgang ∙ in dem Inhaber= oder Teilhaberverhältnisse eine Änderung erfahren.“ Erbitte darüber genaue Auskunft ∙ ehe ich meine weiteren Bedingungen lautbar mache. Herzlich D. M. Die einzig klare Äusserung wäre dann mein Einschiebsel vor der Rücktrittsklausel „da mehr als dies sonst …“ bis „durch einen ungeeigneten Verleger gefährdet werden kann.“

546.  EM an StG

9. 4. 1932 Brief ohne Umschlag Berlin 9. 4. 32.

Lieber Meister: Es müssen verschiedene Fragen auseinander gehalten werden: I Meines Erachtens gibt der Vertrag in seiner bisherigen Fassung nur für den Fall das Rücktrittsrecht, dass durch Rechtsgeschäft die wirtschaftliche Selbständigkeit des Verlages B. irgendwie beeinträchtigt wird oder dass durch Rechtsgeschäft unter Lebenden ein Teilhaber, sei es auch nur ein stiller, neu eintritt.* * (Dieses Recht steht Dir natürlich auch nach Georg Bondis und nach Evas Tod zu!) Ich schliesse dies aus der Verkoppelung von Einschränkung der wirtschaftlichen Selbständigkeit durch Vertrag und ⸢mit⸣ dem Eintritt eines Teilhabers in Art. 6. Für mich ist für diese Auslegung entscheidend, dass wir bei den damaligen Verhandlungen niemals davon gesprochen haben, dass Dir auch das Rücktrittsrecht bei

985 Die Bleistiftunterstreichungen stammen vom Empfänger Ernst Morwitz.

530

Briefwechsel 1932

Eintritt durch Universalsuccesion eines Erben der beiden Teilhaber zustehen sollte! II Daraus folgt, dass Du kein Rücktrittsrecht bei Eva’s Eintritt als Dora’s Erbin hast. Im übrigen bekommt Eva keinen Vormund, da ihr Vater Georg Bondi ja lebt. Du würdest nach der jetzigen Fassung auch kein Rücktrittsrecht bei Eva’s Tod und bei dem dadurch eintretenden Eintritt von Evas gesetzlichen Erben (denn testieren kann Eva ja noch lange nicht!) haben. III Du würdest ferner nach der jetzigen Fassung auch kein Rücktrittsrecht bei dem Eintritt von Bondi’s Erben nach dessen Tod haben. Es kann sich hierbei entweder um gesetzliche Erben oder um testamentarisch von Georg Bondi eingesetzte Erben handeln. IV Du bist also für den Fall, dass Neue Verlagsinhaber kraft Erbfolge erscheinen, bisher nicht geschützt oder wenigstens könnte ein Gericht leicht zu der Ansicht kommen, dass du nicht geschützt bist.986 Deshalb muss am besten klar und deutlich ein Absatz hinzugefügt werden: „Das Rücktrittsrecht des ⸢steht⸣ Herrn St. G. auch für den Fall zu, dass einer der Mitinhaber des Verlages, die zur Zeit G. B. und M.  K. sind, stirbt und ⸢oder⸣ dass einer der weiblichen Mitinhaber ⸢des Verlags⸣ sich verheiratet.“ V Im übrigen ist die Sache für Bondi, falls du ihm jetzt wegen Evas Eintreten Schwierigkeiten machen wolltest (was aber nicht nötig ist, da Du ja alles von Dir gewünschten neuen Vertragsclauseln beim Eintritt von Mira durchsetzen kannst) recht schwierig. Denn durch Dora’s ⸢Tod⸣ ist nach §  131 Ziffer 4 Handelsgesetzbuch die offene Handelsgesellschaft des Verlages Georg Bondi ipso iure aufgelöst. Bondi muss erst durch einen neuen Vertrag mit Eva die Fortsetzung der offenen Handelsgesellschaft statuieren, was nach den Kommentatoren (trotz der Auflösung!) zulässig ist. Aus dieser für Bondi rechtlich komplizierten Lage könntest Du vielleicht (aber es ist sehr zweifelhaft, ob vor Gericht mit Erfolg!) Vorteile ziehen, indem du Dich auf den Standpunkt stellen könntest, dass gegenwärtig Dein Vertragsgegner nämlich die offene Handelsgesellschaft G. B. überhaupt nicht mehr existiert! Aber dieser

komplizierte und ⸢recht⸣ zweifelhafte Weg ist unnötig, da Du alle Wünsche als Forderung für Deine Zustimmung zu Miras Einritt durchsetzen kannst. Immer Dein Ernst. Ich habe Berthold 500 RM ausgehändigt. 986 Wiederum gibt es Ausrufezeichen, Fragezeichen und Unterstreichungen der Empfänger mit Bleistift zu den Passagen „III“, „IV“ und „V“.

Briefwechsel 1932 531

547.  StG an EM

v. d. 19. 4. 1932 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Auf deinen lezten brief möchte ich noch folgendes erwidern: obwohl das geschreibe hin und her für keinen angenehm ist ∙ hat es doch den vorteil dass man zu genauer überlegung gezwungen ist ∙ während beim gespräch man leicht schneller als gut ist sich zufrieden gibt. Ich habe deine auseinandersetzung ⸢gelesen und⸣ glaube sie auch verstanden zu haben  .  . trotzdem bin ich nicht überzeugt. Du stehst mit Deiner auffassung über die beschränkung des rücktrittsrechtes allein. Der von dir gemachte unterschied zwischen einer kündigung auf grund eines rechtsgeschäftes auf grund und einer solchen auf grund einer erbfolge ist mir wol klar. Für meine absichten bei abfassung des vertrags ist es jedoch gleichgültig auf welche weise in den verlag ein fremder wille hineinkommt. Du schreibst: „für mich ist diese auslegung entscheidend dass wir bei den damaligen verhandlungen niemals davon gesprochen haben ∙ dass auch das Einschiebsel: Ich möchte zu deiner persönlichen orientierung feststellen ∙ dass ich durchaus nicht die absicht habe Bondi zu bedrängen. Die zusammenarbeit hat sich bis jetzt ja als ziemlich erfolgreich erwiesen. Jedoch sträubt sich etwas in mir dagegen ∙ dem B „alles hingehen zu lassen“ .  .  .  .  . In unsrem vertrag ist nach meiner meinung der materielle vorteil ganz auf Bs seite. Wenn der fall eintreten sollte ∙ dass nicht einmal mehr die garantiesumme durch den verkauf erreicht wird, so sind die verhältnisse in Deutschland so, dass überhaupt nichts mehr bezahlt wird. Volksmässig ausgedrückt: ist dann der himmel herunter gefallen mit allen sich anschliessenden consequenzen. Wenn ich also in unserm vertrag keine neuen materiellen erfolge erringen will so liegt das in der natur der sache. Die zugeständnisse weiterer art können also nur liegen im geistigen oder auch im taktischen. rücktrittsrecht bei eintritt eines erben der teilhaber zustehen sollte“ Damit kann ich wenig anfangen weil es unmöglich ist ∙ alle eventualitäten zu besprechen ∙ und es dabei ersichtlich war ∙ was der EINE Vertragteilhaber beabsichtigte. In der weiteren klarlegung bleibt unverständlich ∙ wieso das kind Eva einen neuen vertrag mit Bondi statuieren soll

532

Briefwechsel 1932

Insofern aber stimmen wir ganz überein ∙ dass mit Mira als teilhaberin alle bedingungen zum rücktritt gegeben sind. Zu deiner formulierung ∙ wie der vertrag soll abgeändert werden ∙ „Das rücktrittsrecht steht St G auch dann zu für den Fall dass einer der Mitinhaber des verlags die z.  Z. G. B. ∙ E. B. ∙ M. K. sind ∙ stirbt ∙ oder dass einer der weiblichen Mitglieder sich verheiratet“ Besonders gegen diesen lezten passus habe ich eine unüberwindliche und schwer definierbare aversion. (nicht zulezt: mich hier einmischen in die heiratsmöglichkeiten von weibern!)987 Ich würde am liebsten so formulieren: „St G wird gegen die Teilhaberschaft sowohl von E B wie von M K keinen einwand erheben ∙ wenn vertraglich festgesetzt ist ∙ dass bei jeder neuen inhaberoder teilhaberschaft er das rücktrittsrecht erhält. herzlichst: gez. D M Was mich beim ersten brief Bs besonders aufmerken liess war nicht nur dies ∙ dass er von der teilhaberschaft Evas als von etwas „mir bekanntem“ sprach ∙ sondern von einer teilhaberschaft von Eva für ein sechstel so wie von der beabsichtigten teilhaberschaft Miras zu 1/6! Der gedanke der sich zumeist vordrängte war der: wer bekommt denn morgen den ganzen verlag!? Ehe etwas bestimmtes von meiner seite geschieht ∙ muss dieser ganze komplex erörtert werden.

987 Laut Morwitz war George der Auffassung, dass für Frauen eine Verheiratung notwendig sei (BB).

Briefwechsel 1932 533

548.  EM an StG



19. 4. 1932 Brief ohne Umschlag

Berlin 19. 4. 32

Lieber Meister: Über die Hauptsache nämlich dass du Deine auf jeden Fall notwendige Zustimmung zu Miras Eintritt von allen Dir notwendig dünkenden Bedingungen der Vertragsänderung oder -ergänzung abhängig machen kannst, sind wir ja einig! Ich glaube, Du verstehst mich falsch, wenn du meinst, ich wollte Dir abraten, dem B. auch pekuniäre Vertragsänderungen vorzuschlagen. Ich will in keiner Weise hierbei abraten – ich habe ⸢z.  B.⸣ immer wieder betont, dass ich das Schleudern der Einzelausgaben als eine ungerechte Schädigung Deiner Erträge ansehe! Wesentlich ist natürlich, wie Du als Vertragspartner ⸢bei Axxlung⸣ den Vertragsinhalt aufgefasst hast, nicht was ich als Berater dachte. Zur Erklärung meines damaligen Standpunktes kann ich heute nur darauf hinweisen, dass der zwischen Bondi und Dora geschlossene Vertrag, der die offene Handelsgesellschaft, die Deine Vertragsgegnerin ist, gründete, ausdrücklich vorsah, dass bei Dora’s Tod (und wohl auch bei Bondi Tod??) die offene Handelsgesellschaft Georg Bondi von selbst sich auflöst. Dies geschah mit Rücksicht auf Janko988, wie mir Fischer erzählt hat, denn Bondi wollte xxx verhüten, dass etwa Janko als Erbe von Dora Teilhaber des Verlages würde. Wegen dieser Von-selbst-Auflösung brauchten wir garnicht an Eintritt eines neuen Gesellschafters durch Erbfolge ⸢nach Dora⸣ denken, denn Du warst juristisch vertragsfrei, sobald Dora starb und dadurch von selbst die offene Handelsgesellschaft G. B. aufgelöst wurde! Eben weil diese Auflösung jetzt eingetreten ist, muss Bondi mit der kleinen Eva einen neuen Vertrag schliessen, der als die „Fortsetzung“ der alten offenen Handelsgesellschaft nach der Rechtsprüfung aufgezogen werden ⸢kann⸣ obwohl ein Aufgelöster streng logisch nicht „fortgesetzt“ werden kann. In diesen neuen Vertrag mit Eva möchte Bondi die Mira wohl gleich miteinbeziehen! Herzlichst Dein  Ernst

988 Möglicherweise der abgekürzte Name von einem Partner der Tochter oder Stieftochter.

534

549.  StG an EM

Briefwechsel 1932

Poststempel Minusio, 23. 4. 1932 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: aus dem letzten Passus meines briefs hast du heraus gelesen was nicht drin steht. Ich sagte ∙ dass in einem Vertrag mit einem Geschäftsmann es zur Natur der sache gehört dass er nach der materiellen seite hin besser wegkommt. Ich habe keinerlei absicht bei der neuen Vertragsanordnung materielle gewinne zu erzielen. Um so mehr muss es mir darum zu tun sein ∙ das ideelle ∙ d.  h. meine sicherungen zu vermehren. Sonst hat weder Vertrag noch Vertragsänderung einen Sinn. Auf was es mir ankommt ∙ habe ich deutlich ausgesprochen. Ich bitte nun einen Vorschlag zu machen ∙ wie die neuen Vertragsbedingungen am besten formuliert werden.989 herzlichst Minusio 23. IV. 32 gez D M

550.  EM an StG

5. 5. 1932 Brief ohne Umschlag Berlin 5. V 1932

Lieber Meister: Wenn Du nur diesen einen Punkt im Vertrage geklärt wünschst, so würde ich Dir vorschlagen, Dir von Bondi bestätigen zu lassen, dass – um etwaige Unklarheiten des Vertrages aus dem Wege zu räumen ⸢oder besser: um den Vertragsinhalt völlig klar zum Ausdruck zu bringen⸣  – die Vertragsparteien darüber einig sind, dass das Recht der Vertragsauflösung (im Vertrage kurz Rücktrittsrecht genannt!) Herrn St. G. nicht nur für den Fall des rechtsgeschäftlichen Eintritts oder der durch Rechtsgeschäfte erfolgten ⸢direkten oder indirekten⸣ Beteiligung eines Dritten, sondern auch für den Fall des Eintrittes oder der Beteiligung eines Dritten durch Erbfolge, kurz ⸢zusammengefasst⸣ also: bei jedem Eintritt oder jeder direkten oder ⸢indirekten⸣ Beteiligung eines Dritten aus jedwedem Tatsachen- und Rechtsgrund zusteht.

989 Unregelmäßige Groß- und Kleinschreibung im Originaltext.

Briefwechsel 1932 535

Unter „Drittem“ im Sinn dieser Abrede und des Vertrages ist ⸢von jetzt an⸣ jede natürliche Person oder juristische Person oder Gesellschaft zu verstehen, nicht ⸢ausser⸣ Dr. Georg Bondi, Eva Bondi und Mira Koffka! Unter diesen Umständen stimmt St. G. dem Eintritt von E. B. und M. K. zu! Dies glaub ich, fasst als Formulierung alle denkbaren Fälle bis auf den Fall der Heirat, den Du ja aber auch nicht treffen willst. Mit bestem Gruss Dein Ernst.

der wichtigste fall: Tod Bondis damit nicht gedeckt.

551.  EM an StG

n. d. 5. 5. 1932 Brief (Bruchstück) ohne Umschlag

Als Nachtrag zu dem Verlagsvertrag wird folgendes vereinbart: St. G. willigt darin ein, dass Dora Bondi und Frau Dr. Mira Koffka als of Gesellschafter der offenen Handelsgesellschaft Georg Bondi an den Rechten und Pflichten des Verlagsvertrages teilnehmen. St. G. einerseits und Dr. Georg Bondi, Frau Dr. Koffka und Dora Bondi andererseits sind darüber einig, dass St. G. das für ihn im Verlagsvertrage vorgesehene Verlagsauflösungsrecht (kurz Rücktrittsrecht genannt) zustehen soll, sobald eine von den folgenden drei Personen 1) Dr. G. B. 2) Dr. M. K. und 3) Eva Bondi aus irgend einem tatsächlichen oder rechtlichem Grunde aufhört, Gesellschafter der offenen H. G. Georg Bondi zu sein oder sobald … (hier muss der Passus des Vertrages über den Eintritt oder die Interessenahme Dritter wiederholt werden – ich habe keine Abschrift des Vertrages!).

ein passus aufnehmen: dass für die Dauer des Urheberrechts der Verlag B. nicht in einem anderen aufgehen darf.

536

552. StG an EM

Briefwechsel 1932

Poststempel Berlin, 10. 10. 1932 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50

Lieber Ernst: Dein formulierter vorschlag betreffs vertragsänderung lautet: Als nachtrag zu dem verlagsvertrage wird folgendes vereinbart: St. G. willigt darin ein dass Eva B und frau Mira K als gesellschafter der offenen handelsgesellschaft Georg B. an den rechten und pflichten des verlagsvertrages teilnehmen. St. G. einerseits und Dr. G. B. frau M. K. und Eva B andererseits sind darüber einig ∙ dass St. G. das für ihn im verlagsvertrage vorgesehene vertragsauflösungsrecht (kurz rücktrittsrecht genannt) zustehen soll ∙ sobald eine von den folgenden drei personen 1) Dr. G. B. 2.) M. K und 3) Eva B. aus irgendeinem tatsächlichen oder rechtlichen grunde aufhört gesellschafter der off. H. G. Georg B. zu sein oder sobald … (passus vom eintritt eines dritten) Heisst dies nicht kurz: d. M. soll bei jeder weiteren änderung der teilhaber verhältnisse berechtigt sein zu kündigen? Lässt der vorschlag nicht den umstand ausser acht dass auch ohne  eine weitere änderung der inhaberverhältnisse der verlag einen unerwünschten charakter erhalten kann (z.  B. nach dem tod Bs)? Wäre es nicht wünschenswert dass auch dem rechtsnachfolger ⸢d. Ms⸣ (stiftung) ein gewisser einfluss eingeräumt wird für äusserste fälle (z.  B. verkauf des verlags an S. Fischer)? D. M. hält die damals an B. gestellte vorfrage für nicht unwichtig: mit wem schliesst d. M. die vertragsänderung ab? d. M. steht auf folgendem standpunkt: der noch nicht revidierte vertrag wurde abgeschlossen mit der firma B. (damit war über die gesellschaftsart nichts ausgesagt) Nun beabsichtigt B. mit der E. B. und der M. K. eine neue gesellschaft zu bilden: was bedeutet nun dass die beiden mit 1/6 als teilhaberinnen ausgestattet werden sollen? welche gesellschaftsart soll nun gegründet werden? es besteht ja ein grosser unterschied ob eine gesellschaft mit beschränkter oder mit persönlicher haftung. Ferner: inwiefern können steuergründe für die beschleunigung maassgebend sein da ja doch wegen unterbilanz die einkommensteuer zur zeit entfällt. Herzlichst i. auftr. d. Ms. 10. X. 32

Briefwechsel 1932 537

553.  StG an EM

Poststempel Locarno, 14. 11. 1932 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50

Lieber Ernst: d. M. lässt sagen dass er gut gereist ist und hier sich bestens befindet .  . an schönen tagen ist es noch ganz sommerlich. Hinsichtlich der vertrags-sachen frägt d. M. noch: unter welcher verlagsfirma würden die bücher bei ⸢nach⸣ einer umgründung in eine g.m.b.h. erscheinen? Im vertrag vom 6.X.27 heisst es nämlich ∙ art I satz 2: „2. Bondi kann seine rechte aus diesem vertrage ohne gleichzeitige übertragung der firma nicht übertragen. Solange George lebt ∙ dürfen die werke auf keinen fall unter einer anderen verlagsfirma als „Georg Bondi Berlin“ erscheinen.“ Herzlichst im auftr. d. Ms molino dell’ orso Minusio-Locarno               13. nov. 32 Rob. dem der ⸢vertragsveränderungs-⸣ vorschlag zur kenntnis gebracht wurde hat ∙ sobald er von einer reise zurückgekehrt sein wird ∙ eine detaillierte darlegung seiner bedenken gegen die umwandlung in eine g.m.b.h in aussicht gestellt ∙ auf die d. M. noch warten will vor er weiteres unternimmt.

554.  StG an EM

Poststempel Bahnpost ambulant, 22. 12. 1932 Brief mit Umschlag nach Berlin W. 50 21. XII. 32 Minusio

Lieber Ernst: d. M. lässt sagen dass sich die entscheidung hinsichtlich des vertrags-nachtrags leider noch verzögert: die absicht Bs event. eine g.m.b.h. zu gründen machte noch einige erkundungen und entsprechende formulierungen nötig die in den nachtrag noch aufgenommen werden sollen  .  . nicht ganz geklärt erscheint ihm hauptsächlich ⸢noch⸣ die frage des ‚aufdrucks‘ woran ihm besonders liegt: eine darum befragte rechts-

538

Briefwechsel 1932

kundige stelle meinte nämlich dass nach dem pressgesetz § 6 die verlagsbezeichnung mit der im handelsregister eingetragenen firma übereinstimmen müsse ∙ und kann sich die abweichung im falle S. Fi .  . nur dadurch erklären dass diese firma vielleicht zu den sogen. alten a.–g.s gehört die vor inkrafttreten des h. g. b. gegründet sind und die alte bezeichnung noch weiter führen dürfen .  . D. M. bedauert dass die angelegenheit noch immer nicht zu ende geführt werden konnte ∙ wird aber ∙ sobald er über diesen punkt beruhigt ist ∙ seine zweite formulierung des nachtrags ∙ die den wunsch der g.m.b.h.=gründung berücksichtigt aber die zustimmung d. Ms ∙ an gewisse voraussetzungen knüpft ∙ übersenden. Für Ihre nachricht dankt d. M. sehr .  . zu weihnachten wünscht er alles beste .  . hier ist es zur zeit sehr schön und warm und man wundert sich dass nach dem kalender wirklich in einigen tagen weihnachten ist. in herzlichen erinnerungen (im auftr.) d. M.

555.  EM an StG

25. 12. 1932 Brief ohne Umschlag Berlin 25. XII 32

Lieber Meister: Zu der Frage der Verlagsbezeichnung im Falle der Gründung einer Aktiengesellschaft kann ich heute nur sagen, dass §  6 des Pressgesetzes die Angabe des „Namens“ des Verlegers fordert und dass der Inselverlag, wie Fischer von Kippenberg vor einigen Jahren selbst erfahren hat, eine Entscheidung erwirkt hat, nach der hier als „Name“ nicht die juristische Bezeichnung, sondern die verkehrsbekannte zu verstehen ist. Das gleiche muss bei S. Fischer der Fall sein, der keineswegs eine „alte“ A.  G. darstellt. In den Kommentaren zum Pressgesetz steht hiervon noch nichts, ich werde aber versuchen, näheres durch Fischer feststellen zu lassen. Im übrigen sagte mir Bondi neulich, dass er wegen der hohen Steuern und Notariatskosten garnicht an die Gründung einer G.m.b.H. denken könne. Bondi würde  – nehm ich an  – also sogar auf den ganzen Passus, der die G.m.b.H. oder sonstige juristische Person betrifft – verzichten. Er hat nicht mehr gedrängt, (zumal ja jetzt das neue Jahr vor der Tür steht).

Briefwechsel 1932 539

An Ludwig gab ich aus dem Depot 150 RM für Ausgaben für Dich.–990 Hier Wärme und klares Wetter. Merkwürdig grössere geistige Regsamkeit und „Sehnsucht der Zeit“ – erinnernd an die Zeit vor 1914. Auf Percy’s dringenden Wunsch bin ich mit Frommel zusammen getroffen. Es erschien ratsam, da er hier in Berlin jetzt991 an vielen interessanten und interessierten Stellen agiert und sich auf diesem Wege eine gewisse Aufsicht leicht ausüben lässt. Seine agitatorische Kraft, seine Klugheit und Bildung und vor allem seine Geschicklichkeit sind bemerkenswert. Ich halte ihn für zuverlässig, innerlich gutartig und politisch unbedingt brauchbar. Fraglich ist wie gross seine seelische Spannungsfähigkeit ist – ob ihm nicht das Tätigsein als solches Endzweck werden könnte. Jedenfalls lassen sich die Blasen, die er in dem grossen Kessel hier aufspringen macht, gut beobachten, und vielleicht könnte man auch darin einmal mit Erfolg fischen!992 Mit diesem Gedanken gehe ich in das neue Jahr. Nicht unzufrieden mit dem, was war. Das Erfreuliche an den nahen Freunden nehm ich als Geschenk des Schicksals, dem ich für soviel Gunst danken muss – das Enttäuschende als notwendige Belehrung, die ich – trotz aller sogenannten Reife – wohl doch empfangen muss, solang ich lebe. Dass ich so nur sein kann, weil Du es mich lehrtest, das gestatte mir, Dir – wegen und trotz der Zwischenzeiten – zum jetzigen Stefanstag wieder zu versichern. In Treue  Dein Ernst.

990 Laut Morwitz kam Ludwig Thormaehlen zusammen mit dem jungen Wilhelm Dette in den Weihnachtstagen nach Minusio (BB). 991 Der gesamte Passus, beginnend mit „An Ludwig“, wurde mit Bleistift durchgestrichen, an den Rand wurden auf Höhe des Namens „Frommel“ zwei große Ausrufezeichen gesetzt. 992 Wolfgang Frommel hatte als Mitbetreiber des Verlags Die Runde und Autor des Dritten Humanismus in Berlin Ende des Jahres 1932 viele Fäden geknüpft und Freunde um sich gesammelt.

540

556.  StG an EM

Briefwechsel 1933

Poststempel Minusio, 7. 1. 1933 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: Du schreibst in Deinem lezten briefe Du nähmest an dass Bondi  – wegen der hohen kosten  – im vertrage auf den ganzen passus die g.m.b.h. betreffend verzichten würde. Es wäre nun wol das wichtigste festzustellen ob Bondi tatsächlich nicht mehr auf diesem passus besteht da dann alle weiteren überlegungen über gesellschaftsform und verlagsbezeichnung überflüssig werden. Dabei könnte darauf hingewiesen werden dass der schaffung einer g. m. b. h. überhaupt nur unter der bedingung zugestimmt werden könnte dass die gesellschafter für sich und ihre erben die selbstschuldnerische bürgschaft für die ansprüche d. M.’s aus dem verlagsvertrage übernehmen. – damit dürfte das Interesse Bondis an der g.m.b.h. jedenfalls so ziemlich verschwinden.

557.  StG an EM

v. d. 11. 1. 1933 Brief ohne Umschlag

Minusio jan 33 Lieber Ernst: anbei alles was in sachen B. noch zu sagen ist. Wenn B zulezt diesen umwandlungsgedanken nicht hereingebracht hätte ∙ könnte längst abgeschlossen sein … Mich freute dass Du in Berlin jezt wieder in hoch=stimmung bist ∙ musste aber etwas lächeln  … gewundert hat mich jedoch dass du soviel hoffnung setzest auf Einen vor dem ich dich mehrmals gewarnt habe …993 Er ist der richtige „geschaftlhuber“ eine menschenart von der du früher nicht sehr eingenommen warst. Dies beständige herum=hantieren müssen mit der dritten vierten ja fünften sorte: das wirst du bald mit geringer freude ansehen …994 993 Gemeint ist Wolfgang Frommel, vgl. Morwitz’ vorausgegangenen Brief an George vom 25. 12. 1932 (Br. 555). 994 Die Abwertung der sich um Frommel und Gothein sammelnden Freunde, die George wohl außer den Brüdern Akerman nie kennen gelernt hatte, wird hier sehr deutlich. Da es sich um einen der ganz wenigen Briefe Georges mit persönlichem Inhalt an Morwitz aus den dreißiger Jahren handelt, hat George ihn mit eigener Hand geschrieben.

Briefwechsel 1933 541

Hier geht alles seinen weg  .  . nach schönen tagen einige regnerische  .  . Fr. ist noch immer in Deutschland .  . über meine rückkehr ist noch nichts bestimmt Mit besten wünschen G.

558.  EM an StG

11. 1. 1933 Brief ohne Umschlag Berlin 11. I 33

Lieber Meister: Eben war ich auf Deinen Brief hin bei Bondi, um ihn zu fragen, ob er auf die Vertragsbestimmungen über die Gesellschaft verzichten wolle, er erwiderte: Nachdem jetzt der 1. I 33 verstrichen sei, habe er nicht mehr das grosse Interesse am sofortigen Vertragsabschluss, das er – aus Steuergründen – vor dem 1. I 33 gehabt habe. Die Bücher seien im Vergleich zu heutigen Neuerscheinungen (z.  B. der ganze Mommsen für 5 RM)995 so teuer, dass er nicht wisse, ob es nicht ein Danaergeschenk für Eva und Mira sei, wenn er sie jetzt in ⸢den⸣ Verlag aufnehme und dadurch zu Schuldnern aus dem mit Dir geschlossenen Vertrage mache! Er moechte bei Deiner Anwesenheit in Berlin mit Dir über eine Buchpreisherabsetzung und die Herabsetzung der Monatszahlungen reden. Ich sagte – ich würde Dir dies mitteilen, ich mache aber schon heute darauf aufmerksam, dass Du Dich Deiner ⸢Verlags-⸣Rechte nur deshalb durch den Vertrag begeben hättest, weil Dir die Monatszahlungen, die ein durchaus notwendiges Lebensminimum für Dich darstellten, zugesichert seien. Du seist nach meiner Auffassung und Kenntnis garnicht in der Lage auf eine Reduzierung der Monatssumme einzugehen. Ich hielt ihm seinen früheren erheblichen Verdienst vor Augen, den er nicht bestritt und auch nicht zugab. – So stehn die Dinge heute, er macht einen sehr gealterten Eindruck, Mira sekundierte ihm. Bitte berate Dich mit Robert auch über diese Situation. Ich hörte heraus, dass er beiden fehlenden Bände sehr gern möglichst rasch drucken würde.996 Ich gab darauf zu

995 Gemeint sind sicher die Bände der umfangreichen Römischen Geschichte (1854– 1856) von Theodor Mommsen, der für das Werk 1902 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte. 996 Im Januar 1933 fehlten noch die Bände Tage und Taten sowie der Schlussband der Gesamt-Ausgabe.

542

Briefwechsel 1933

verstehen, dass ich nicht wüsste, ob Dir etwas an so raschem Druck gelegen sei, falls er eine Änderung eurer Rechtsbeziehungen wünsche. Darauf meinte er, Du würdest doch auf jeden Fall am ⸢raschen⸣ Abschluss der Gesamtausgabe Interesse haben. Ich sagte, ich wüsste es nicht! Das folgende ist vertraulich und nur für d. M. bestimmt: Von dem Gespräch über den Druck der beiden Bände bitte ich dich, Bondi gegenüber nichts zu erwähnen. Ich habe ihm dabei auf den Zahn fühlen wollen, um seine geheimen Absichten zu erkunden. Er scheint den Verdienst aus diesen Bänden und die Ehre der Fertigstellung gern mitnehmen zu wollen, um dann – falls sich nicht inzwischen (durch Nobel-Preis etwa)997 die Lage ändert – bei Verkauf des Verlages Dir die Bücher zu xxxxxx überlassen. Er betonte, dass die jetzt billig verkauften Einzelausgaben verhältnismässig gut verkauft werden. Es ist unter diesen Umständen sehr zu überlegen 1) ob es vorteilhafter ist, die beiden Bücher sogleich drucken zu lassen oder sie noch zurückzuhalten, 2) was zu erwidern sein wird, wenn er mit dem Wunsch auf Zahlungsherabsetzung Dir gegenüber herauskommt. Ich glaube, dass dass [sic] man ablehnen müsste (selbst auf die Gefahr des Verlagsverkaufes hin), da dies sonst eine Schraube ohne Ende ist und er trotzdem jederzeit den Verlag verkaufen könnte! Er hat 1200 RM überwiesen, das Depot beträgt jetzt 5165,30 RM. – Was du über den Heidelberger schriebst, ist völlig richtig. Er hat seine hiesige Operationsbasis Hals über Kopf verlassen, ohne den grossen Anfangserfolg mit Buch und Verlag auszunutzen.998 Bei mir war er zweimal am Nachmittag und dabei habe ich recht wissenswerte Dinge von ganz rechts und ganz links erfahren, ohne dass ich selbst von ihm irgendwie in Anspruch genommen worden wäre. Es ist schade, dass ihm bei seinen weit über dem Durchschnitt reichenden Anlagen und seiner suggestiven Fähigkeit auf Jüngere der feste Punkt fehlt. Er wird sich eines Tages verheiraten, um eine Sonne zu haben.999

997 Im Januar 1928 hatte Ernst Bertram ein Sondervotum nach Stockholm geschickt, in welchem er dafür plädierte, dass Stefan George in diesem Jahr den Nobel-Preis für Literatur erhalte. 998 Von Wolfgang Frommel war 1932 ein Buch mit dem Titel Der Dritte Humanismus in dem von ihm selbst geleiteten Berliner Verlag Die Runde erschienen, das unter ­anderem von Siegfried Kracauer rezensiert wurde und viel Beachtung fand. 999 Frommel war politisch flexibel, er hatte Beziehungen in alle Lager; geheiratet hat er nie.

Briefwechsel 1933 543

Hier viel Arbeit. Hieroglyphen und Arabisch scheinen schwer, aber lockend zu sein.1000 Silvio arbeitet in der Charité – auch bei dem Dörrachtele.1001 Immer Dein Ernst.

17. I. 33 Bemerkungen zum brief Es. vom 11. jann. 33 1. Gegen eine herabsetzung des buchpreises spricht nichts ∙ zumal dann auch die rückkaufsumme entspr. geringer wird. 2. Wenn die garantiesumme (herabgesezt od gar) aufgehoben wird ∙ so wird sämt auch den zugeständnissen d. Ms die begründung entzogen: a) unkündbarkeit während der schutzfrist b) halbierung der bezüge während der schutzfrist. 3) Ob bei herabsetzung des buchpreises auch die garantiesumme entsprechend herabgesezt ⸢zu⸣ werden soll ⸢braucht⸣ ∙ ist zu prüfen .  . insbesondere ob dies eine aufhebung der m.lichen zugeständnisse begründet.

559.  StG an EM

24. 1. 1933 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: d. M. dankt sehr für Ihren brief vom 11 .  . Ihre stellungnahme gegenüber B. billigt er: er ist ganz Ihrer ansicht … da B. es nicht eilig hat ∙ hat d. M. von sich aus erst recht keinen grund schritte zu unternehmen  .  . zunächst soll die märz-abrechnung abgewartet werden um zu sehn wie die lage ist. B. scheint sich nicht ganz klar zu sein ∙ dass die gar. summe nur ein aequivalent darstellen sollte für die verzichte d. M.s für die laufzeit der „schutzfrist“ ∙ hinsichtlich des kündigungsrechtes sowol als der bezüge .  . wenn kommendes jahr die gar. summe sich das

1000 Dies dürfte sich auf Sven Erik Bergh beziehen, der noch in Berlin u.  a. Arabisch studierte. 1001 Damit ist der Arzt und Wissenschaftler Walter Kempner gemeint, der seit November 1928 Assistenzarzt bei Gustav von Bergmann an der Berliner Charité war, bis er im April 1933 als Jude entlassen wurde; vgl. auch Anm. 935.

544

Briefwechsel 1933

erste mal auf B. praktisch auswirken wird ∙ dürfte dies nur zeigen dass diese gegenleistung B. nicht zu viel zumutete! Hinsichtlich der herabsetzung des buchpreises kann B. ja vorschläge machen .  . d. M. weiss nicht genau wie hoch die preise zur zeit eigentlich sind ∙ da hier nur ein alter katalog aus dem herbst 31 ist .  . falls unterdessen ein neuer erschienen ist wäre d. M. für übersendung nicht undankbar. Da die aufw.hyp. auf dem Binger haus gekündigt ist wird Rob. in einiger zeit Sie wahrscheinlich bitten der kreissparkasse einen 1. betrag von etwa 2000 – r.m. zu überweisen .  . der betrag soll dann „im auftr. der erben George“ dorthin gerichtet werden. herzlich im auftr. des M. 24. I. 33

560.  EM an StG

5. 2. 1933 Brief ohne Umschlag 5. II 33.

Lieber Meister: Auch mir scheint es richtig, jetzt den Abschluss des Jahres 1932 abzuwarten. Schon jetzt über die Preisreduktion der Bände zu verhandeln, wäre wohl zwecklos. Denn Bondi geht davon aus, dass – wenn die Bände zu niedrigerem Preise verkauft werden  – er eben nicht die Garantiesumme wird zahlen können und dass andererseits – wenn sie zum bisherigen Preise verkauft werden  – nicht soviel Bände verkauft werden, dass die Garantiesumme herausgearbeitet werden könnte. Es ist also eine Schlange, die sich in den Schwanz beisst, und Fingerzeige können nur die nackten Umsatzzahlen geben. Ich habe Bondi, der mich heute früh telefonisch über Deine Rückkunft befragte, gesagt, dass ich darüber nichts wisse. Er wird sich schriftlich an Dich wegen Papier und Druck der beiden letzten Bände wenden und wird, auf meinen Wunsch, Dir einen Katalog beilegen  – zu welchem Zweck Du den Katalog wünschst, weiss Bondi nicht. Er weiss nur, dass wir die weiteren Verhandlungen bis zu Deiner Herkunft zu verschieben bereit sind. Im übrigen scheint mir der Augenblick sehr ungünstig, etwas an langfristigen Verträgen zu ändern, denn man weiss nicht, ob die politische Ent-

Briefwechsel 1933 545

wicklung1002 nicht die rechtliche Durchführung, sei es durch Moratorien oder ähnliche Massnahmen hindern wird. Mit bestem Gruss Dein  Ernst.

561.  StG an EM

16. 2. 1933 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: d. M dankt für Ihre nachricht vom 5   … wenn die rechnung Bs stimmt dass aus dem verkauf die gar.summe nicht aufgebracht werden kann – weder bei dem jetzigen hohen noch bei herabgeseztem buchpreis – so versteht d. M. nicht ∙ warum B. den preis überhaupt senken will ∙ noch auch warum er mit einer senkung ∙ falls er sie wünscht ∙ warten soll ∙ da der ertrag ja in beiden fällen etwa gleich sein wird … B. wandte sich gestern an d. M. wegen des papiers für die beiden lezten bde .  . d. M. möchte von hier aus nicht antworten und bittet Sie ∙ B. telef. zu sagen dass das papier nicht eher bestellt werden könne als man sich über die höhe der auflagen entschieden sei. Im übrigen wiederholt d. M. noch einmal (dies braucht B. aber nicht jezt gesagt zu werden ∙ sondern erst wenn er wieder auf seine absicht die gar.summe herabzusetzen kommt) dass er in einer nichtleistung der gar.summe eine aufhebung des alten vertrags erblicken würde ∙ da die verzichte d. Ms nur durch die zusicherung der gar.summe gerechtfertigt sind. herzlich im auftr. d. M.s 16. II 33

1002 Der Machtübernahme der Nationalsozialisten durch die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. 1. 1933, deren Folgen Morwitz zu Recht befürchtete, war schon am 1. Februar die Auflösung des Reichstages gefolgt, auf die Morwitz hier vier Tage später reagiert. Sowohl für ihn als jüdischen Richter als auch für den jüdischen Verleger Georg Bondi begannen im NS-Staat alsbald Verfolgung und Berufsverbot.

546

562.  EM an StG

Briefwechsel 1933

25. 2. 1933 Brief ohne Umschlag Berlin 25. II 33

Lieber Meister: Heute bei Bondi! Er macht darauf aufmerksam, dass er das Papier, das nur eine einzige Fabrik herstelle, wegen der unsicheren Verhältnisse gern ⸢sofort⸣ bestellen möchte. Doch könne er dies nur, wenn Du ihm zusichern würdest, dass die beiden Bände noch im Jahre 1933 erscheinen. Anderenfalls kann er das Papier nicht bestellen, da er keinen Aufbewahrungsort, der sicher wäre, dafür hat (Holten stehe wirtschaftlich schlecht!), auch könne er es nicht ⸢in dieser Zeit⸣ riskieren, das Papier so lange unbenutzt liegen zu lassen. Die Normalauflagezahl beträgt nach dem Vertrag 5000. Er will aber für beide Bände erheblich unter 5000 bleiben. Wenn er unter 5000 bleibt, hat er (nach dem Vertrage) allein über die Auflagenzahl zu bestimmen! Er bittet also nochmals dringend um Äusserung, ob die Manuskripte für die beiden Bände ihm so zugehen werden, dass beide Bände noch 1933 erscheinen können.1003 Dies sei auch wirtschaftlich nötig, da der Absatz der übrigen Bände ständig zurück gehe. Ich brachte die Möglichkeit einer Verkaufspreisherabsetzung zwecks Umsatzsteigerung zur Sprache. Er erwiderte, dass dies schwierig sei wegen der hohen Herstellungskosten. Ausserdem ist nach dem Vertrage Deine Zustimmung zur Verkaufs⸢preis⸣herabsetzung erforderlich. Er wolle sich dies überlegen. Wir kamen dann wegen der Einkommensteuererklärung auf die Jahresabrechnung, die er Dir selbst zusenden wird, zu sprechen. Er vertritt die Meinung, dass – da im Jahre 1932 die Garantiesumme von 4800 RM zu Deinen Gunsten nicht durch den Absatz überschritten worden ist – Du Dir die Erträge der „Deutschen Dichtung“, die er Deinem Wunsch entsprechend an Wolfskehl abführt, abziehen lassen musst.1004 Es handelt sich um 133 RM!

1003 Dies erwies sich als nicht möglich. Der Schlussband konnte erst nach Georges Tod im Juni 1934 gedruckt werden. Nur der erste Teil der aufgenommenen Texte war noch von George bestimmt worden, im zweiten Teil des Bandes, als „Anhang“ bezeichnet, befinden sich solche, die nach zähen Diskussionen zwischen dem Erben Robert Boehringer und den Nacherben Berthold von Stauffenberg sowie Frank Mehnert ausgewählt worden waren. 1004 George hatte in den Jahren 1900 bis 1902 zusammen mit Karl Wolfskehl die drei Bände Deutsche Dichtung im Verlag der Blätter für die Kunst herausgegeben. Die Zweite Ausgabe war 1910 bei Bondi erschienen, ebenso wie noch 1932 die Dritte Ausgabe. Wolfskehls Anteil an der Herausgeberarbeit war sowohl im Falle des zweiten Bandes Goethe als auch des dritten Bandes Das Jahrhundert Goethes sehr hoch.

Briefwechsel 1933 547

Mir war die ganze Frage neu, ich nahm deshalb keine Stellung und bat ihn, Dir selbst darüber zu schreiben. Für Rundfunkgebühren u.s.w. stehen dir 203 RM zu, sodass sich für die Steuer ergibt als Einkommen 1933: 4800 RM Garantiesumme -133 RM, die er an Wolfskehl   für die Deutsche Dichtung zahlt ________ 4667 RM + 203 RM Rundfunkgebühr _________ also 4870 RM. Im übrigen betonte er, dass Anfang 1933 der Umsatz weit schlechter geworden ⸢sei⸣ und wies darauf hin, dass Du gesagt hättest, Du seist für „Billigkeits“Gründe zugänglich. Demgegenüber betonte ich, dass es sich für dich um ⸢das⸣ Existenzminimum handele. Mit bestem Gruss Dein Ernst.

563.  StG an EM

7. 3. 1933 Brief ohne Umschlag 7. III. 33

Lieber Ernst! d. M. teilt mit: ich hoffe dass nun bald dies etwas umständliche schreibverfahren aufhören wird ∙ bitte aber das folgende noch zu erledigen und B. wissen zu lassen ∙ der sich gestern pers. an mich wandte: 1) Wegen der noch ausstehenden beiden bde. der ges.=ausgabe kann ich noch keine entscheidung treffen – beide bde. werden erst zusammen abgeliefert werden können ∙ da bei ⸢von⸣ manchem noch nicht bestimmt ist in welchen der beiden bde. es aufnahme finden soll.1005 B. meint dass er vertraglich berechtigt ist die aufl.höhe nach seinem ermessen zu bestimmen ∙ soweit sie unter 5 000 bleibt – das mag sein ∙ nachdem aber B. von der möglichkeit eines verlagsverkaufes gesprochen hat ∙ habe ich ein interesse 1005 Georges Prosaband Tage und Taten von 1903 hatte bis zur Gesamt-Ausgabe nur eine, allerdings erweiterte, zweite Auflage 1925 erfahren. In den Band Tage und Taten in der Gesamt-Ausgabe nahm George zudem eine Reihe von Übertragungen auf, die in verschiedenen Folgen der Blätter für die Kunst erschienen waren.

548

Briefwechsel 1933

dass die höhe der aufl. – wegen des rückkaufs – gering ist .  . wenn B. bereits die bestellung des papiers aufgeben will ∙ muss er sich ja klar geworden sein wie hoch er die aufl. machen will. 2) Gestern kam auch die abrechnung .  . die abführung der einnahmen aus der D. Dichtung an K.  W. hatte ich allerdings vor jahren veranlasst1006 – ob B. aber berechtigt ist die einn. aus diesen büchern abzuziehn an der gar.summe ist fraglich ∙ da für die „D. D.“ und die „Auslese“ frühere verträge gelten – und das kann aber später besprochen werden.1007 3) B. übersandte vor einiger zeit einen preiszettel auf dem alle namen unterschiedslos alfabetisch durcheinandergemischt sind – ich halte diese ankündigung für vertragswidrig. 4) Ferner sandte B. einen brief von einem mann der „weltkriegsdichtung“ herausgeben will ∙ diesen brief wünscht B. zurück .  . ich bin auf keinen fall bereit den abdruck des gedichts zu gestatten1008∙ da das was mir als kriegsdichtung bekannt ist ein fürchterlicher schund ist .  . B. soll ihm das in milderer form mitteilen .  . diese antwort eilt da nicht=beantworten als genehmigung aufgefasst werden könnte. Hildebrandt dessen Platonbuch vielleicht ⸢noch⸣ im frühjahr erscheint1009∙ klagt dass mit B. schwer umzugehen sei da er ständig in der befürchtung lebe verhungern zu müssen – was nicht untreffend die situation zu charakterisieren scheint. Herzlichst d. M (und schreiber).

1006 Karl Wolfskehl war maßgeblich beteiligter Mitherausgeber der drei Bände Deutsche Dichtung und seit den frühen zwanziger Jahren in finanzieller Not. 1007 Ein Verlagsvertrag mit Bondi ist für die drei Bände der Deutschen Dichtung nur für die dritte Auflage im StGA erhalten. 1008 Es dürfte sich um Georges Gedicht „Der Krieg“ handeln, das 1917 als Sonderdruck in hoher Auflage erschienen war und 1928 in Das Neue Reich aufgenommen wurde. 1009 Kurt Hildebrandts Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht erschien noch 1933 bei Bondi in Berlin in der Reihe Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst.

Briefwechsel 1933 549

564.  EM an StG

n. d. 13. 3. 19331010 Brief ohne Umschlag

Montag. Lieber Meister: Vallentin ist nach zweitem Schlaganfall – ohne Bewusstsein – gestorben. Wenigstens war der letzte Teil des Weges leicht.1011 An Bondi habe ich alles ausgerichtet. Ich freue mich, dass Du bald hierher kommen willst – wünsche aber für Deine Gesundheit, dass Du noch die im März manchmal drohenden Ostwinde meidest. Sil. und Bernh. sind in Samnaun (Graubünden) Hotel Stammerspitze bis zu Ende der Woche. Sven geht vielleicht zum Skilauf nach Norwegen. Die Berner sind hier.1012 Besten Gruß – auch an Fr. Dein E.

565.  EM an StG

5. 5. 1933 Brief ohne Umschlag Berlin den 5. 5. 33

Lieber Meister: Eine eilige Sache! Bei Frommel war angefragt worden, an wen sich der Preußische Kultusminister mit einer Dich betreffenden Frage wenden könnte.1013 Frommel nannte mich und bei mir erschien in der Wohnung nach vorheriger telefonischer Anmeldung ein Oberregierungsrat, der

1010 Morwitz teilt den Tod Berthold Vallentins mit. Dieser starb am 13. 3. 1933. 1011 In den zwanziger Jahren hatten sich George und Berthold Vallentin zunehmend entfremdet. Dies geht auch aus den Gesprächsaufzeichnungen Vallentins hervor. Unterschiedliche Ansichten, Friedrich Gundolf, das Judentum und die Politik betreffend – laut Vallentin bejahte George einen Teil der Leitgedanken der Nationalsozialisten – trugen viel dazu bei. 1012 Berner war unter anderem Wilhelm Stein. Begleitet wurde er wohl von Robert von Steiger. Der Berner Michael Stettler hingegen studierte Architektur in Zürich. 1013 Der preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Rust soll laut Morwitz seinerseits eilends den Versuch, George an die Akademie zu binden, gemacht haben, um Goebbels zuvorzukommen, der dann als Gegenmaßnahme den Stefan George-Preis – ohne Befragung Georges – gestiftet habe. Der Preis sei schon nach zwei Jahren kassiert worden (BB).

550

Briefwechsel 1933

Adjutant des Kulturministers ist.1014 Er wollte Fühlung nehmen, ob Du irgend wie an der – umzugruppierenden oder gleichzuschaltenden – Dichterakademie teilnehmen würdest. Der Minister wolle vor der Presse Dich als Ahnherr der jetzigen Regierung bezeichnen, es würde Dir innerhalb der Akademie die Mitgliedschaft oder auch eine Ehrenstellung ohne jede Verpflichtung Deinerseits eingeräumt werden, der Reichspräsident oder der Reichspräsidkanzler1015 würden ⸢persönlich⸣ das Aufforderungschreiben an Dich richten, man würde Dir auch einen Ehrensold gewähren. Bevor etwas geschehe, müsse man aber Deine Zustimmung haben, da man sich auf keinen Fall eine Absage holen wolle – andererseits eile die Sache, da die Neuordnung der Akademie in den nächsten Tagen erfolgen müsse. Ich erwiderte, dass ich – ohne Deine Weisung nichts sagen könne. Ich würde mich aber sofort mit Dir in Verbindung setzen. Ich sagte, dass Du Dich auf keinen Fall mit den Litteraten der Akademie (Benn, Kolbenheyer1016) an einen Tisch setzen würdest, dass ich aber nicht sagen könne, wie Du zu einer Dich nicht verpflichtenden reinen Ehrenstellung stehen würdest. Der Ehrensold würde Dich nicht reizen. Ich schlug ihm vor, dass man in etwas geistigerer Weise Dich nennen sollte, wenn es überhaupt nötig sein sollte, von Dir vor der Öffentlichkeit jetzt zu sprechen. Der Minister könne ja vor der Presse sagen, dass die Regierung Dich als Wegbereiter ansehe  – das könntest Du nicht verhindern, da ja jeder die Werke eines Dichters nach seinem Wunsch auslegen könne. Der Minister könne noch mehr tun und sagen, dass man xxxx ⸢er⸣ sich scheue, Dich ohne Deinen Willen einzuspannen ⸢irgendwie⸣ einzuspannen, denn Du habest ein Recht, das Bild Deines Lebens, das bisher immer das Öffentliche gemieden hat, so der Nachwelt zu überliefern, wie es

1014 Laut Morwitz hatte der Oberregierungsrat Dr.  Kurt Zierold zu den Mitarbeitern des früheren Kultusministers Becker gehört und war ein Bekannter Wolfgang ­Frommels: „innerlich“ sei er kein Nazi gewesen (BB). Thormaehlen, der von seinem Gespräch mit Zierold in einem Brief an George vom 22. 5. 1933 (StGA) berichtet, behauptet, Zierold sei kein Parteimitglied, er habe mit ihm ausführlich alle Möglichkeiten einer Verbindung Georges mit der Akademie besprochen, die er im Bief aufzählt. 1015 Reichspräsident war zu diesem Zeitpunkt noch Hindenburg, Reichskanzler schon Adolf Hitler. 1016 Gottfried Benn hatte sich nach der Reichtagswahl im März 1933 für die Gleich­ schaltung der Sektion für Dichtkunst innerhalb der Preußischen Akademie der Künste eingesetzt, nachdem Heinrich Mann schon im Februar ausgetreten war. Wer in der neuen Deutschen Akademie der Dichtung bleiben wollte, musste sich auf Treue zur Reichsregierung bekennen und durfte kein Jude sein. 40 Mitglieder wurden ausgeschlossen, neue Mitglieder wurden am 5. Mai 1933 aufgenommen, darunter auch Erwin Guido Kolbenheyer.

Briefwechsel 1933 551

Dir gut schiene. Wenn der Minister – so meinte ich – derartiges sagen würde, so sei dies eine Rede von Niveau. Dies imponierte dem Herrn, zumal ich es ihm in den Mund als seinen eigenen Gedanken legte. Er spielte auf den Göthepreis an, ich erwiderte mit der Erzählung der damaligen Überrumpelung, auch von der ⸢Grossherzoglichen Shakespearetagungsrede vor dem Kriege!⸣ Ich sagte ihm auf seine Frage, dass Du keineswegs beleidigt sein würdest, wenn der Minister Dich zunächst überhaupt nicht öffentlich nennen würde. Er wurde zutraulich und für seine Verhältnisse recht offen – worüber jedoch nur mündlich zu berichten ist. Da ich ihm versprechen musste, möglichst umgehend Deine Meinung über Ernst 1) Ehrenmitgliedschaft oder Patronat der Akademie 2) Ehrensoldannahme mitzuteilen, bitte ich schleunigst um Weisungen! Da ich Dich leider nicht mehr sah und Ludwig verreist ist, muss ich versuchen, diesen Brief über Alexander von Stauffenberg zu befördern. Dein Ernst

566.  StG an EM

10. 5. 19331017 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: was an dieser sache eilig ist hast Du bereits in Deinen mitteilungen an den herrn erledigt ∙ alles negative anlangend die von mir gebilligte antwort gegeben ∙ (Das brückchen des vorwitzigen pf … ist freilich unerwünscht.)1018 Also kurz: irgendwelchen posten ∙ auch ehrenhalber ∙ der sogenannten akademie kann ich nicht ⸢annehmen ebensowenig⸣ einen sold .  . dass diese akademie jezt unter nationalem zeichen steht ist nur zu begrüssen und kann vielleicht später zu günstigen ergebnissen führen – ich habe seit fast

1017 Zu diesem Brief liegen im StGA ein handschriftlicher Entwurf Georges, eine Abschrift Frank Mehnerts mit Korrekturen sowie eine weitere Reinschrift der korrigierten Abschrift von Mehnerts Hand. Der Überarbeitungsprozess belegt die Wichtigkeit des Antwortschreibens. 1018 Eine Vermittlung durch Wolfgang Frommel war George in hohem Maße unerwünscht.

552

Briefwechsel 1933

einem halben jahrhundert deutsche dichtung und deutschen geist verwaltet ohne akademie ∙ ja hätte es eine gegeben wahrscheinlich gegen sie. Anders verhält es sich mit dem positiven ∙ (da bist Du unter den gegebenen umständen nicht geeignet das rechte wort zu finden):1019 die ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung leugne ich durchaus nicht ab und schiebe auch meine geistige mitwirkung nicht beiseite. Was ich dafür tun konnte habe ich getan ∙ die jugend die sich heut um mich schart ist mit mir gleicher meinung .  . das märchen vom abseit stehn hat mich das ganze leben begleitet – es gilt nur fürs unbewaffnete auge. Die gesetze des geistigen und des politischen sind gewiss sehr verschieden – wo sie sich treffen und wo geist herabsteigt zum allgemeingut das ist ein äusserst verwickelter vorgang. Ich kann den herrn der regierung nicht in den mund legen was sie über mein werk denken und wie sie seine bedeutung für sie einschätzen. Es läge mir daran ∙ lieber Ernst ∙ dass dies wortgetreu der betreffenden stelle mitgeteilt werde ∙ es ist durchaus überlegt ∙ wenn es Dir wider den strich geht dies genau so weiter zu geben ∙ so muss ich jemand anderes beauftragen. Ich gebe anschrift München hier an ∙ obwol alle post über Ludw.   trotz seiner abwesenheit nach eintägigem umweg an mich gelangte. Schreibe weiter über das notwendige was vorgeht .  . auch ich muss mir näheres für eine mündliche unterredung vorbehalten. Die an Dich gerichteten persönlichen bemerkungen in bleistiftklammern sind natürlich nicht weiterzugeben. in herzlichem gedenken G. (im auftr.) Mü=38 * Richildenstr. 51 10. mai 33

1019 Gemeint ist hier wohl, dass Morwitz als deutscher Bürger jüdischer Herkunft bei der neuen nationalsozialistischen Regierung ebenso unerwünscht war wie die aus der Akademie ausgeschlossenen deutschen jüdischen und politisch unliebsamen Dichter und er damit zu einer positiven Bewertung der Anfrage weder geneigt noch von den Nationalsozialisten erwünscht war.

Briefwechsel 1933 553

567.  EM an StG

Poststempel Berlin Wannsee, 12. 5. 1933 Brief mit Umschlag nach München 38

12. V 33. Lieber Meister: Deinen Brief vom 10. V 33 werde ich unter Überreichung ­einer wortgetreuen Abschrift dem Oberregierungsrat bekanntgeben. Von meiner Person aus habe ich dabei keinerlei Bedenken oder Hemmung! Eben ist noch ein Brief des Oberregierungs⸢rates⸣ mit beiliegendem Ausschnitt aus der D. A. Z. vom 6. V 33 abends gekommen, den ich Dir übersende für den Fall, dass aus diesem Grunde Deinem offiziellen Bescheid noch etwas hinzuzufügen wäre.1020 Ferner bitte ich um Bescheid, ob du wünscht, dass Deine Antwort von der Regierung, falls die Regierung die Veröffentlichung wünscht und vornimmt, nur als Ganzes veröffentlicht wird. Oder ist es Dir gleichgültig, wenn die Regierung einzelne Sätze herausgreift und andere fortlässt? Es ist wahrscheinlich, dass der Oberregierungsrat mich danach fragen wird. Mit bestem Gruss Dein Ernst.

1020 Oberregierungsrat Zierold hatte Morwitz mit Brief vom 10. 5. 1933 den Zeitungsausschnitt geschickt. In der Deutschen Allgemeinen Zeitung, Ausgabe Grossberlin, 6.  Mai 1933 (Sonnabend Abend) 72.  Jahrgang, Nr.  211 waren unter der Überschrift „Die neuen Mitglieder der Dichterakademie“ programmatische Ausführungen des Kultusministers Rust wiedergegeben, darunter ein George betreffender Passus: „Draußen in der Welt kenne man ja die wahren deutschen Dichter nicht; aber Deutschland werde erkennen, was die neue Regierung für eine Vorstellung vom deutschen Dichtertum habe. Der Minister kündigte an, dass er als Kurator der Akademie weitere Mitglieder berufen werde. Er denke hierbei besonders an Stefan George, auf dessen Eintritt er den größten Wert lege. Aber Stefan George habe aus bestimmten Gründen seine Mitarbeit bisher nie zur Verfügung stellen wollen. Es werde sich zeigen, ob eine Form gefunden werden könne, um Stefan George, auf dessen Mitarbeit das neue Deutschland den allergrößten Wert lege, ebenfalls in die Akademie einzubeziehen. Das werde von der Entscheidung des Dichters selbst abhängen.“

554

568.  StG an EM

Briefwechsel 1933

15. 5. 1933 Brief ohne Umschlag1021

Lieber Ernst: d. M. diktiert: Deinen lezten brief mit der einlage des o. r. habe ich erhalten .  . Du kannst Dir sowol denken dass ich nichts hinzuzufügen habe als auch dass ein herausreissen von sätzen zur veröffentlichung mir nicht angenehm sein kann. Wenn ich den herrn meine gesinnung kundgebe so kann das für sie wichtig sein ∙ jedoch sehe ich nicht ein was das sogenannte publikum für eine berechtigung haben soll hier einblick zu nehmen wo es vom ganzen zusammenhang unmöglich etwas wissen kann. Im vorlezten brief stand noch eine einschaltung von Dir wegen einer Shakespear-tagungsrede: davon weiss ich nichts. herzlich d. M. (im auftr.) 15. V. 33

569.  EM an StG

25. 5. 1933 Brief ohne Umschlag Berlin 25. V 33

Lieber Meister: Die wortgetreue Abschrift ist überreicht – es gelang mir, klarzumachen, dass eine Veröffentlichung für alle Beteiligten nicht ratsam sei – sie wird also nicht erfolgen. Über das Positive war man erfreut und wünscht aus diesem Grunde, die Verbindung nicht abbrechen zu lassen. Sehr fern wurde die Möglichkeit berührt, sich vielleicht gegebenfalls Deines Rates konsultativ zu bedienen, man bat mich um tiefste Verschwiegenheit jedem Dritten gegenüber. Ich habe meinerseits alle Möglichkeiten zum Positiven für Dich offen gehalten. Wenn Du selbst nach Berlin kommst, wird man vielleicht mit neuen Plänen an Dich treten. Man erzählte mir, dass die Ausnahmestellung, die der Minister Dir in seiner Rede eingeräumt hatte, insbesondere die Äusserung, dass die Entscheidung bei Dir selbst liegen müsse, einen Proteststurm unter den „Deutschen Dichtern“ hervorgerufen hat – sie sehen in Dir ein Schul-

1021 Auch in diesem Falle ist die Diktataufzeichnung Frank Mehnerts im StGA erhalten.

Briefwechsel 1933 555

beispiel individualistischer Lebensauffassung. Ich wies auf das Gegenteil in Deinen Werken hin. Mit herzlichem Gruss Dein Ernst

Ich benutze die freie Zeit, um den „Kommentar“ zu Deinem Werk zu beenden – falls Du Lust hast, werde ich Dir das opus schicken oder in Berlin geben.1022

570.  StG an EM

8. 6. 1933 Brief ohne Umschlag

Lieber Ernst: Ces. 1023 wandte sich wieder an d. M. wegen des bandes „T. u. T.“ der ges.ausgabe  .  . da er ziemlich drängt bittet d. M. Ces. mitzuteilen: 1) „dass auch Bdi kein interesse haben könne wenn der bd. in dem umfang wie er jezt vorliegt erscheinen würde ∙ zumal dieser bd. keine beilagen enthält1024 .  . die beiden lezten bde der ges.ausg. nehmen eine gewisse sonderstellung ein .  . sobald fest steht welche nova den T. u. T. bd. füllen sollen ∙ erhält B. das manuskript.1025 2) in sachen der von Bdi angeregten antologie [sic] sind die momente nicht gegeben die eine änderung in der ansicht d. Ms hervorrufen könnten.“1026

1022 Vgl. Anm. 1030. 1023 Deckname im Kreis um George für Bondi war Cesare. 1024 Bd. XVII Tage und Taten, der einzige Prosaband der Gesamt-Ausgabe, erschien ohne den sonst üblichen Anhang mit Handschriftenproben und Angaben zur Überlieferung. 1025 Schon die zweite Ausgabe von Tage und Taten war 1925 von George erweitert worden, so u.  a. um den „Kindlichen Kalender“ und die kleine Prosa „Nach radierten Skizzen von Max Klinger“ sowie die „Betrachtungen“. Für die Gesamt-Ausgabe fügte er dann lediglich „Übertragungen“ fremdsprachiger Prosatexte hinzu. 1026 Bondi hatte in einem Brief an George vom 3. 6. 1933 berichtet, die Nachfrage nach einer Anthologie von Gedichten Georges sei groß (StGA).

556

Briefwechsel 1933

Ferner frägt Sie d. M. was Sie raten ∙ wohin die B .  . sche geldsendung zu leiten und zwar die vom 1. juli sowie die vom vorhergehenden quartal. Für Ihre lezte nachricht lässt d. M. danken. herzlichst d. M. (im auftr.) 8. VI. 33

571.  StG an EM

28. 6. 1933 Brief ohne Umschlag

D. M. diktiert: Lieber Ernst: wegen der ordnung würde es sich doch wol empfehlen dass Du die beiden zahlungen B.s in empfang nimmst* auf Ludw. würde später eine kleinigkeit überwiesen um für staatl. zwecke verwandt zu werden. Für B. würde ich gern einen band fertigstellen ∙ auf meine ankunft in Bln soll er jedoch vorläufig nicht rechnen: sie ist möglich doch nicht sicher. Was Du über die beschleunigung des tempos in den äusseren geschehnissen sagst und dass sie erfreulich wäre ∙ ist freilich richtig – nur ist entscheidend welches ziel man im auge hat. Herzlich d. M (und schreiber) 28. VI. 33 *und B. sofort davon verständigst.

572.  EM an StG

Poststempel Berlin Charlottenburg, 11. 7. 1933 Brief mit Umschlag nach München 38, weitergesandt nach Berlin-Halensee

10. VII 33. Mein lieber Meister: Zu diesem Tag wünsche ich eine Reihe von heiteren Jahren! In jeder Alterstufe sieht wohl jeder die Dinge des Lebens immer von neuem verändert. Wenn ich versichere, dass ich vieles anders, mehr unter dem Zwang des Lebendigen stehend – sehe, so weiss ich wohl, dass das Ver-

Briefwechsel 1933 557

gangene vorüber ist, und es widerstrebt mir sinnlose Betrachtungen darüber anzustellen, ob es noch schöner und reicher hätte sein können als es war. Ich wünsche nichts anders, als dass Du da bist, solang ich zu leben habe, denn alles bekommt für mich einen Sinn, wenn Du – sei es von mir auch noch so fern – im Leben bist.1027 Dein Ernst.

573.  StG an EM

30. 7. 19331028 Brief ohne Umschlag Bitte Ludwig dreihundert M. aushändigen G

574.  StG an EM

Poststempel Wasserburg, 7. 8. 19331029 Brief mit Umschlag nach Berlin W., nachgesandt nach Insel Hiddensee

Lieber Ernst Was Sie über ihr amt schrieben war für D. M. sehr erfreulich. gegen die verwendung der runden blättermarke hat D. M. nichts einzuwenden ∙ auch soll die wahl des untertitels ganz Ihnen überlassen bleiben ∙ jedoch

1027 Morwitz spricht in diesem Brief zum Geburtstag Georges die zunehmende Entfremdung von Stefan George seit Mitte der zwanziger Jahre, von Kommerell verursacht, an. George hatte sich vor seinem Geburtstag zum letzten Mal in Bingen aufgehalten, wo seine Schwester wieder wohnte, und war von dort aus, um eventuellen Ehrungen zu entgehen, nach Berlin geflohen. Während diesem, nur eine Woche währenden, Aufenthalt hat Morwitz George noch einmal vor dessen Tod gesehen und gesprochen, bevor dieser über Wassserburg und Heiden (Schweiz) nach Minusio reiste. Robert von Steiger wiederum schreibt in seinem Geburtstagsbrief an George vom 11. 7. 1933 hinsichtlich der Zukunft: „Die neue Zeit, die mich im äusseren Ablauf – vielleicht schon meiner heterogenen Abkunft wegen – etwas abseits stehen lässt, hat für mich darin einen Sinn: dem grossen Ernst, der weit mehr als er zugibt betroffen ist von den Klüften, die sich überall auftaten, geistige Gefolgschaft und unbedingte Treue halten zu dürfen.“ (StGA) 1028 Die Datierung von der Hand Ernst Morwitz’ befindet sich auf der Rückseite des von George eigenhändig kurrent beschriebenen Blattes. 1029 George wohnte wieder in der Villa Schlayer in Wasserburg am Bodensee.

558

Briefwechsel 1933

wurde gegen die geplante widmung folgendes zu bedenken gegeben: nach dem alten grundsatz sind knaben vollkommen namenlos und daher sei diese widmung in der vorgeschlagenen form nicht erwünscht. D. M. würde deshalb folgende fassung für geeignet halten: „Den jüngeren freunden“ mit den folgenden vornamen.1030 Obwohl H.  .  .  .  .  see ein fürchterliches buhlnest sei1031 ∙ wünscht D. M. recht gute erholung ∙ der brief geht nach B. da der Ihre auch noch von dort kam. D. M. grüsst herzlichst. 7. Aug. 33. Das Hildebrandt-Format wäre wahrscheinlich doch zu gross.1032

575.  StG und FM an EM

Poststempel Wasserburg, 22. 8. 1933 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: aus Deinem lezten brief ersehe ich dass du inzwischen wieder nach Berlin zurückgekehrt sein musst. auf die übersandten zettel zu antworten ist sachlich ganz unmöglich ∙ in meinen händen befinden sich keinerlei besitzdokumente ∙ nur die freunde können angeben ob unter die einzelnen

1030 Ernst Morwitz verfasste einen Kommentar zum Werk Georges, der in naher Zeit bei Bondi in der Reihe erscheinen sollte und zwar mit dem runden Blätter-Siegel. Er erschien unter dem Titel Die Dichtung Stefan Georges noch vor Ende 1933 mit der Jahreszahl 1934. Die Widmung lautete dann tatsächlich „Den jüngeren Freunden Silvio · Bernhard und Sven“. Die Nachnamen Markees, von Bothmer und Bergh wurden als irrelevant weggelassen. 1031 Laut Morwitz bezieht sich „buhlnest“ darauf, dass Gerhart Hauptmann auf Hiddensee ein Haus besaß und somit von vielen Schriftstellern und literarisch Interessierten besucht wurde (BB). 1032 Gemeint ist Kurt Hildebrandts 1933 ebenfalls bei Bondi erscheinende 400 Seiten starke Studie Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht. Morwitz’ 180 Seiten umfassende schmale Studie Die Dichtung Stefan Georges erschien Ende 1933 mit der Jahreszahl 1934 in ganz anderer Aufmachung als Hildebrandts Platon: Ein deutlich kleineres Format, ein Einband aus burgunderrotem Leinen mit Goldaufdruck von Verfasser, Titel und Blättersignet.

Briefwechsel 1933 559

paragrafen fallende besitzstücke noch vorhanden sind.1033 was soll vorerst geschehn? herzlich d. M. und seine schreibende hand. 21. VIII. 33

576.  StG an EM

Poststempel Bahnpost, 23. 11. 19331034 Brief mit Umschlag nach Berlin W.

Lieber Ernst: R. teilt mit dass hinsichtlich der „aufwertungshypothek“ auf dem Binger haus mit der kreissparkasse Bingen ein vergleich geschlossen worden ist  .  . danach sind jezt bis zum 1. dez. 33: RM 2 153.70 abzuzahlen .  . dazu kommen noch RM. 244.60 für rückständige zinsen vom 1. juli 33 .  . zusammen also 2 398.30 (zweitausend dreihundertachtundneunzig) .  . der rest wird in den folgenden jahren fällig. D. M. bittet die summe bis zum 1. dez. in seinem auftrag* an die kreissparkasse Bingen zu schicken. Über R. kamen die beiden exemplare Ihres buches  .  . d. M. und der schreiber insbesondere danken sehr herzlich dafür!  .  . Die besserung des m…  lichen befindens hat zum glück angehalten: er ist nun schon über zwei wochen fast ganz fieberfrei und steht täglich wieder 1–2 stunden auf.1035 Herzlich d. M. (im auftr.) 23. nov. 33 *indem Du Dich nennst als steuerbevollmächtigter.

1033 Um welche Fomulare es sich hier handelt, ist nicht mehr feststellbar. Die Schwester Anna wohnte inzwischen wieder in Bingen im Elternhaus. 1034 Der Stempel befindet sich auf einer Schweizer Briefmarke, George weilte wieder in Minusio. Die Adresse lautet: „Kammergerichtsrat Dr. Ernst Morwitz“. 1035 Tagesaktuelle Nachrichten über die letzten Wochen von Georges Krankheit in Minusio finden sich in Clotilde Schlayers Briefen an Walter Kempner; vgl. Clotilde Schlayer: Minusio. Chronik aus den letzten Lebensjahren Stefan Georges. Vgl. Anm. 968 und 970.

560

577.  RB an EM

Briefwechsel 1933

Telegramm Locarno, 1. 12. 1933 Telegramm mit Umschlag nach Berlin W. Locarno 22.30

Meister Sonntag ploetzlich neu erkrankt Montag Klinik Gestern DEA 1036 eingetroffen Zustand nach 24 stuendiger Besserung heute wieder sehr ernst Robert heute angekommen Gundolf Kantorowitz benachrichtigen.

1036 Das Kürzel DEA (meist nur DA) steht für „Der Arzt“ und meint Walter Kempner, der mit Unterstützung eines ansässigen Arztes Stefan George in diesen Jahren ­behandelt hatte. Stefan George starb kurz darauf, am 4. 12. 1933 um 1  Uhr 15, in der Clinica Sant’ Agnese in Muralto, nahe Minusio. Von den Freunden waren ­anwesend Albrecht von Blumenthal und Walter Anton, die Brüder von Stauffenberg und Ludwig Thormaehlen neben Clotilde Schlayer, Walter Kempner, Frank Mehnert und Robert Boehringer. Nach Beratung mit diesen entschied Boehringer, ein Staatsbegräbnis Georges in Deutschland abzulehnen, ja selbst die Anwesenheit des deutschen Botschafters bei der Bestattung auf dem Friedhof von Minusio wurde durch das Vorverlegen der Beerdigung vom Nachmittag des 6. 12. auf den frühen Morgen vermieden. Außer Ernst Morwitz, der noch in der Todesnacht von Boehringer telefonisch verständigt worden war, waren bei der Beerdigung neben den Genannten anwesend Erich Boehringer, Ernst Kantorowicz, Silvio Markees, Wilhelm Stein, Robert von Steiger, Woldemar von Uxkull, Michael Stettler, Helmut Küpper und Karl Josef Partsch; es kamen auch Edith Landmann, Gerda Schlayer und Karl und Hanna Wolfskehl, letztere gerade noch rechtzeitig, dazu.

Undatierbare Nachrichten, Notizen etc.   561

Undatierbare Nachrichten, Notizen etc. 578.  StG an EM

ohne Ort, ohne Datum Notiz

Wir sind nach dem Steinberg1037

579.  StG an EM

ohne Ort, ohne Datum Notiz mit Umschlag

Bitte heut nochmals zu Dr. V zu kommen – und zwar in dritter sache SG

580.  StG an EM

ohne Ort, ohne Datum Notiz

Puk1038 kann doch am freitag vormittg – er wird um 10 vor deinem fenster sich die antwort holen St.

581.  FG an EM

ohne Ort, ohne Datum Notiz

Da wir morgens sehr früh aufgewacht sind sind wir mit dem ersten Zug gefahren und nehmen hiemit abschied d Meister bittet Sie, sobald Sie wieder in Stimmung wären, nach München zu ihm zu kommen wie ausgemacht war. G.

1037 Gemeint sein könnte der zum Kloster Eberbach gehörige steile Weinberg in Rheinhessen oder, wie Morwitz vermutet, eine Erhebung nördlich der Altstadt von Würzburg (BB). Dort wächst der auch von Goethe geschätzte Stein-Wein. Letzteres ergäbe eine Datierung auf April 1923. Damals hielt sich George dort mit Freunden auf. 1038 Die Nennung Kommerells („Puck“) verweist die Notiz in die Jahre zwischen 1922 und 1929.

Textanhang Gedichte als Beilage des Briefwechsels Stefan George, SW IX, S. 781 Du willst hinaus in meer und land manch jahr Die welt erkennen unter kampf und fahr … Ein Ungeweihter suchst Du nach dem Leben Drum schickt es dich zurück und wird nichts geben Das höchste was vom Gott dem menschen eignet Kam vor dein haus hat sich für dich ereignet Du merktest nicht du bleibst dein leben kind Du sahest nicht du bleibst dein leben blind.

Stefan George, SW IX, S. 722 Wartend am kreuzweg stehst du im schweben: Ob nach rechts ob nach links mich begeben? Liebe lädt dich  folge dem bann! Dies ist dein loos-jahr (erstmals im leben) In dem du selber wahl triffst als mann.

1 Das an Percy Gothein gerichtete Gedicht ließ George durch Marie Luise Gothein im Februar 1915 unter dem Titel „Die Entlassung des Schülers“ an den jungen Soldaten schicken. Im Druck trägt es die Überschrift „P:“. 2 Der Spruch Georges ist an Woldemar von Uxkull gerichtet, dessen Kurzname „Woldi“ sich aus den Anfangsbuchstaben der Verse ergibt. Es mag zu dessen 18. Geburtstag am 17. 4. 1916 verfasst worden sein. Die Handschrift weist Varianten gegenüber dem gedruckten Text auf. https://doi.org/10.1515/9783110617740-006

Textanhang   563

Stefan George, SW VIII, S. 753 Dem lenker dank der uns ⸢mich⸣ am künftigen tag ⸢Mit dir⸣ Zum werk bestimmt das uns vernichtet Zu gxxx preis  xx bruder du im kampf! Kein geben + kein nehmen löscht die flamme Die du in mir entzündet + mich bräche Xx kraft die mich an dich gebunden  xx xx verein Mit dir Xx xx xx          blutiger taufe kann mich lösen. O lezte ruh der nacht in deinem arm O leztes ⸢holdes⸣glück berauschter morgenfrühe Mit xx Gott zum sieg Mit dir tod.

Stefan George, SW X/XI, S. 1174

CARL MARTELL (HIM ∙ VIII) Ich bin vor dir verhehlt durch meine wonnen Die mich umstrahlen und in eigner schranke Sowie das tier von seide eingesponnen. Du hast mich sehr geliebt und wol zu danke Hätt ich gelebt so hätt ich dir gewiesen Von meiner liebe mehr als das geranke.

3 Das Gedicht entstand in engem Zusammenhang mit Ernst Morwitz und dessen Gedicht „Da du der sieger bist wirst du erlöser“. Dies berichtete George, als er beide Gedichte am 7. 11. 1910 an Friedrich Gundolf schickte. Er fügte hinzu: „es ist so die lezte grenze dessen was man noch sagen darf“ (G/G, S. 210  f.). Bei der von Morwitz aufbewahrten Handschrift des Gedichts handelt es sich um einen flüchtigen Bleistiftentwurf mit häufig nicht ausgeführten Wortendungen. 4 Die beiden Terzette bilden im Druck den Abschluss von Georges Übertragung „Venus-Himmel  · Karl Martell“, Vers 1–57.

564

Textanhang 

Stefan George, SW VIII, S. 565 Wenn meine lippen sich in deine drängen Ich ganz von deinem innren atem wese – Ich dann von deinem leib der mich umkettet Den ich begehre ∙ die umschlingung löse Und mit gesenktem haupte von dir trete: So ists weil ich in dir mein blut erkannte ∙ In schreckensfernen die das volk nie misst Mit dir entspross dem selben königstamm.

Stefan George, SW VIII, S. 636 Da ich mit allen fibern zu dir dringe Möcht ich nur schöner stolzer mich entfalten Dass sich die gabe mehre die ich biete! Vernichte mich! lass mich dein feuer schlingen Entsende mich zu feinden die mich schlagen: Ich selbst ein freier gab mich frei zu eigen. Getilgt sei jeder wunsch! jed band zerreisse Bei solchem dienst der liebe .  . Eines bleibt nur Das stärker ∙ zarter ist: die heilige ehre.

Stefan George, SW IX, S. 877 Lass mich den Sinn der in dir ist erfahren Der dich ⸢Dass du⸣ in deiner ⸢der⸣ vollen schönheit zeig⸢s⸣t Dein rechter Lehrer bin ich wenn ich liebe .  . Du musst zu innerst glühn · gleich viel für wen · 5 Das Gedicht ist Teil des zweiten Buchs von Der Stern des Bundes (1914) und war bislang nicht anderweitig handschriftlich überliefert. Die Handschrift weist Varianten gegenüber dem gedruckten Text auf. 6 Das Gedicht ist Teil des zweiten Buchs von Der Stern des Bundes (1914) und war bislang nicht anderweitig handschriftlich überliefert. Auch diese Handschrift weist Varian­ten gegenüber dem gedruckten Text auf. 7 Diese fünf Verse stehen in Georges Gedicht „Belehrung“ als direkte Rede in Anführungszeichen, eingeführt durch den ersten Vers: „Um welchen preis gibst du mir unterricht?“. Zuerst gedruckt wurde es in BfdK X vom November 1914.

Textanhang   565

Mein rechter Hörer bist du wenn du liebst Stefan George, NLB, S. 248 Er verliess sein gemach: Die träume · die toten aschen · das staubige fach. Im strudel des volkes sah er das Einzige bild Dass Traum zum leben ihm ward erschüttert ihn wild. Er denkt nur wie er ihn fest hält unsterblich ihn macht: In diesem rausche hat er sein grosses werk vollbracht. Stefan George, SW X/XI, S. 75  f.9 Hör an! willst du je hier aus den verliesen Zum ziel ∙ sprach er ∙ was hat dein antlitz eben Den blitz von einem lächeln mir gewiesen? Ich halte mich nun zwischen zwein im schweben ∙ Der schweige mich – und der will ein wort empfangen .  . Ich seufze drauf und mir wird recht gegeben Von meinem Führer: Sei nur ohne bangen >Sprach er zu mir< und sage dem erkunder Was er dich fragt mit heftigem verlangen. Worauf ich sprach: vielleicht nimmt es dich wunder. O geist des altertums ∙ bei meinem spotte – Doch grössres staunen fasse dich jetzunder! 8 Dies ist der einzige Überlieferungszeuge des Gedichtes, das erst 2018 George zugeschrieben und veröffentlicht wurde. Vgl. Stefan George: Von Kultur und Göttern reden. Aus dem Nachlass. Ergänzungen zu Georges „Sämtlichen Werken“. Im Auftrag der Stefan George Stiftung hrsg. von Ute Oelmann, Stuttgart 2018. 9 George übersetzte und veröffentlichte in der Gesamt-Ausgabe sämtliche Verse des XXI. Gesangs aus Dantes Göttlicher Komödie, die Handschrift enthält nur die letzten acht Terzette und den Schlussvers.

566

Textanhang 

Der mich hinaufführt aus der untern grotte Ist eben der Vergil durch den du wagtest Zu singen deinen sang von mensch und gotte. Als du nach meines lächelns grunde fragtest Kein andrer war der richtige: vermeine Es waren jene worte die du sagtest … Er bog die kniee um des Meisters seine Zu fassen ∙ doch der sprach: Halt inne O Bruder! Du bist schein vor einem scheine .  . Und der erhob sich: Miss von meiner minne Daran die ganze glut die mich entfache Dass ich mich unsrer leerheit nicht entsinne Mit schatten tue wie mit fester sache. STATIUS Fegefeuer XXI. S.G

Stefan George, SW IX, S. 15–1810 Einst mir verehrt und gastlich · dann gemieden Vergelten nun die viel-gesichtigen wogen Die lange scheu? dass sie die sinne lenken Mitläufer sind dies ganze stück der fahrt? Du der in öden strassen · quälend glück Vor uns erschienst · als wunder zu verstehn · Kamst von den Buchten ·wie der Nächste Liebste ∙ Wo wälder bis ans wasser ziehn ∙ wo früher Goldperlen trieben unerforschter welt. Und um die nördlich harte stirne spielt Und in dem kühlen aug · ein schattenquell · Zuckt dir entrücktester verbotner traum

10 Die drei Gedichte Georges stehen unter der Überschrift „An die Kinder des Meeres“. Er sandte sie an Morwitz mit Brief vor dem 12. 4. 1914 aus Italien (Br. 166); vgl. Anm. 343 und 371. Morwitz antwortete darauf mit seinem Gedicht „Nachklang“, das George unter die eigenen Gedichte aufnahm und veröffentlichte. Zur Entstehung und den angesprochenen Personen vgl. den Anhang zu Das Neue Reich, SW IX, S. 134–138.

Textanhang   567

Weil ein geschick dein kinderhaupt gewiegt In schwanker schiffsnacht und im fabel-land. Sorglosen gangs schleppst du geheime kette Entziehst dich uns und giebst nur frohes hoffen Dass das geweihte blut der Licht-gehaarten Noch pulst in süss-unsinnigen verschwenden. Seefahrend heil und sucht des abenteuers Reisst dich ∙ den heftigen zauber frommer tage ∙ Aus unsren augen auf das fernste meer. * Hier prangt die fülle: lacht der Ewigen milde Am frühlingstrande ihrer wahl .  . nur rauch Des bergs verrät gewaltig innre feuer … Du zögling dieser erd – entflammt und hold – Tritt vor der güldnen alter erzgebild Des Himmelsboten angeflehte füsse Und zeig dich ohne scham im ufertempel! Was fragt und wünscht vor dir der sinn? er kniet .  . Und dennoch · wie der Herr von tod und leben · Ziehst du die seele nach an feinem faden Und schreckst mit langer schwarzer wimper wink So oft du kommst … Wie fahl ist dieser morgen – Sind streifen in der wölbung leichtem blau? Flecken von schwarz im tiefen fluten-blau? Gefährlich grollen unterm orgel-ton? Umwebt ein flor von heimatlichem weh Küsten der lust und des Vergessens?  .  . Nie!… Noch blieb der selbe sonnen-prunk · der glanz Der luft · des opfertages reine stille .  . Nur dass Du heute etwas trüber schautest Entstellt das hohe gott-bewohnte meer. * Ersehnter kömmling der an unsrer tür Oft uns zu kurzem gang im herbstwind lud Dess fragend wort und sanftmetallnes lachen Trost war der winternacht .  . der lang gehegt Nun vor uns stehst geschmeidig frank und schön .  . Auf der erblühten lippe heiliger ekel

568

Textanhang 

Und liebliche begier des götter sohns. Auch du bist unterm wellenlied geboren – An dem gestad des segens wo kein frohn Der emsigen not bedrückt bedrückt und noch kein hauch Der steten wollust lasse schlummer bringt. Am weiss-umsäumten stufigen vorgebirg Schaut durch des ölbaums silbriges gezack Bewegte grüne flut und blankes segel Und nachts am felsen dröhnt der ernste sang Des ewigen Triebs vereint der ewigen qual Nachdem unwissend freuden du gespendet Versippter uns durch der gemeinschaft brauch – Wirst bald du fahren · unsrer hut entzogen · Macht-rühmlicher! aus deinem edlen hafen In welches neue land auf welch ein meer?

Stefan George, SW IX, S. 39  f.11 II In wilden wirren · schauerlichem harren Auf eine mär von trümmern und von tränen Auf einen toten-ruf .  . wohin entfliehen Dass ich das fest der erde frei begehe? Mir bangt dass ich umwölkt von frost und starre Auf die Verkündung minder tief vertraute Und · was als eifer treibt in meine tage · In dumpfen stoff mein feuer nicht mehr presste .  . Dass mir der schönsten leuchten führung fehlte Und ich mich rückwärts in die nacht verlöre  .  . Da kommt herüber vom gebirg ein wehen In grauen garten flutet glanz und bläue Wie einst im knospen-mond da du entstiegest. Erwartung zittert als ob jezt nicht ferne Ein tor-gang hallte von ersehntem schritte Als wandeltest Du wieder neu gestaltet In Deiner stadt wo du für uns gewaltet. 11 Die beiden Gedichte sind Teil des dreiteiligen Zyklus „Gebete“. Das zweite Gedicht schickte George mit Brief aus München im Frühjahr 1916 an Morwitz (EM, S. 435).

Textanhang   569

Perlfarbner duft behaucht die schatten-gegend Und silbern-südlich lagert dämmerschimmer Mit sanfter blendung über turm und bogen

III So hohes glück war keinem je erschienen Dass er verharren dürft in seinem strahle .  . Mit auf- und niedergang wird es bestehen .  . Ich muss mich neigen überm dunklen brunnen Die form aus seinen tiefen wieder suchen – Anders und immer Du – und aufwärts holen .  . Die reichste feier will verjüngt sich sehen Der flüchtigen von heut entnimmt sie dauer. So lass geschehn dass ich an jeder freude Gemäss dem satz des lebens mich entfache. Da uns die trübe droht wenn wir nicht strömen Reisst oft sich unser geist aus seinen grenzen Vom glorreichen beginn an webt er träume In reihen endlos bis in spätste zonen Verfolgt er zug um zug verwegne spiele. Zujubelnd den erahnten morgenröten Hängt er verzückt in unermessner schwebe. Dann wieder schaut er aus ob sich ihm weise Ein fester stern – dein stern – zu stetem preise Und wo ein ruhen sei im allgekreise Friedrich Hölderlin12 Noch eins ist aber Zu sagen ∙ denn es wäre 12 Norbert von Hellingrath schickte Karl Wolfskehl mit Brief von Anfang November 1909 eine Abschrift dieses späten Gedichtes sowie der Hymne „Wie wenn am Feiertage“ von Friedrich Hölderlin, die er neben vielen anderen in der Stuttgarter Hofbibliothek entdeckt hatte. Hanna Wolfskehl wiederum schickte diese Abschriften am 13. 11. 1909 an Stefan George. George veröffentlichte die Hymne 1910 in der 2. Auflage von Das Jahrhundert Goethes (S. 48–50), schrieb das andere ab und schickte es an Ernst Morwitz mit Brief vom 25. 12. 1912 (Br. 131). Gedruckt erschienen diese Funde in Hellingraths Sonderausgabe des vierten Bands der Sämtlichen Werke Hölderlins: Gedichte 1800– 1806, der 1914 in 100 Exemplaren ausgeliefert wurde.

570

Textanhang 

Mir fast zu plötzlich Das glück gekommen ∙ Das einsame ∙ dass ich hätte unverständig Im eigentum Mich an die schatten gewandt. Denn weil du gabst Den sterblichen Versuchend göttergestalt – Was für ein glück? wort? Und es hätte die schwermut Mir von den lippen Den gesang genommen. Zwar Von alters deuteten Die dichter ∙ von selbst ∙ wie sie Die kraft der götter hinweggenommen. Wir aber zwingen Dem unglück ab und hängen die fahnen Dem Siegsgott ∙ dem befreienden ∙ auf. Darum auch Hast du rätsel gesendet. Heilig sind sie Die glänzenden ∙ wenn aber alltäglich Die Himmlischen und gemein Das Wunder scheinen will ∙ wenn nämlich Wie raub Titanenfürsten die gaben Der Mutter greifen ∙ hilft ein Höherer ihr. Friedrich Hölderlin13 Zu des pferdereichen landes Trefflichen häfen Auf Kolonos weissen boden Bist du angekommen. O fremdling dieser gegend. Wo durchdringend klagt Die wiederkehrende nachtigall Unter grünem buschwald

13 Norbert von Hellingrath fand in der Stuttgarter Bibliothek neben den späten Hymnen Hölderlins auch die unbekannten Pindar-Übertragungen sowie die Handschrift eines unpublizierten frühen Chorliedes aus dem Oedipus auf Kolonos von Sophokles, das er offensichtlich handschriftlich George zugänglich gemacht hatte, der es wiederum für Morwitz abschrieb.

Textanhang   571

Überwölbt von dunklem epheu Und von des Gottes unzugänglichem geblätter Dem früchtevollen ∙ sonnenlosen ∙ .  .  .  .  .  .  .  .  . Keinem sturme bewegten. Wo immerhin der bacchantische Dionys einhergeht Wohnend unter den göttlichen Nährerinnen Wo immerhin von himmlischen .  .  .  .  .  . Die schöntraubigte narzisse Aufwächst ∙ von tag zu tag Der grossen göttinnen Uralter kranz Und der golden glänzende krokus. Noch mindern sich die schlummerlosen quellen Die in wasser des Cephissus sich teilen Sondern immer und täglich Kommt der schnell erzeugende über die felder Mit seinen regengüssen Über die brust der erde. Auch hassen die chöre der musen es nicht Und nicht die goldene Aphrodite.

Saladin Schmitt, BfdK XI/XII, S. 22714 So seltsam ist dass wir davon nicht sprechen Die wir in allem was die stunden summen So emsig sind ∙ und nur vor dem verstummen Was in uns wogt wie blumen in den bächen. Vertraut damit was andren steigt und sinkt – So seltsam ist dass wir davon nicht sprechen Was uns erwächst so süss und reif zum brechen Und mit beladnem ast einander winkt

14 George schickte die Gedichthandschrift mit Brief vom 7. 1. 1915 an Morwitz (Br. 188). Gedruckt stand es ohne Verfassernamen in BfdK XI/XII, S. 227.

572

Textanhang 

Und die die scharlachseele einer rose Zu preisen wissen und der dornen stechen: So seltsam ist dass wir davon nicht sprechen Was bis zum überquellen in uns tose. xxxx⸢Bangt uns⸣ dass wir erwähnend schon es schwächen? ⸢Und ist⸣ es zu schwer dergleichen zu benennen? Sind wir uns fremd weil wir zu tief uns kennen? So seltsam ist dass wir davon nicht sprechen.

Stefan George, SW XVIII, S. 69–8615

Die Heimkehr Nach den toren von Golkonda Geht ein bunt bewegter zug Aufgeschmückt im festeskleide Wie zum hoffnungsfrohen streite Führen ihn des Rajahs krieger Und wie sieges melodie Klingts aus pauken und aus flöten Aus fanfaren und drommeten. In der mitte tront erhaben Überm dichten volksgewühl Zwischen schützenden trabanten Auf dem weissen elefanten Er der herrscher von Golkonda In dem fürstlichen ornat Eine reihe langer jahre Bleichte seine lockenhaare

15 Das erzählende Gedicht „Prinz Indra“ entstand nach Georges eigenen Angaben während seiner Schulzeit 1883/84; veröffentlicht wurde es von seinen Erben 1934 im Anhang des Schlussbandes der Gesamt-Ausgabe. Als Auszeichnung des Freundes schickte George eine Abschrift des Textes mit Brief nach dem 30. 3. 1908 (Br. 33) an Morwitz, der dadurch zum einzigen Besitzer einer Abschrift zu Lebzeiten Georges wurde.

Textanhang   573

Und das diadem der väter Ruht ihm würdig auf dem haupt. Neben tront zu seiner linken Hehr ein jüngling: freudig blinken Seine dunklen träumeraugen, Und in vollem jugendglanz Glühen ihm die schönen wangen Und der mund noch unbefangen Als der sohn des greisenalters War Prinz Indra ganz allein Aus dem frohen kreis der Sieben Dem beherrscher nur geblieben. Heute kehrte er zur heimat Aus dem heiligen büsserwald Wo er schon seit frühster jugend Sich geübt in jeder tugend An der hand des frommen siedlers Dem der vater ihn vertraut. Früh riss ihn die alte sitte Schon aus des palastes mitte Ihn ins niedre haus zu senden Zu dem weisen heilgen mann. Dieser lehrt ihn gutes stiften Und der Veden alte schriften Zu verstehn und zu ergründen Macht mit allem ihn vertraut Was von not war zu erwerben Für den künftgen throneserben. In des jünglings hellem sinne Trug der same reiche frucht Der gedanken ruhnde geister Weckte früh der kluge meister

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Und dem prinzen wurden manche Dinge zeitig offenbar .  .  .  . Da ward er zurück gerufen Zu des höchsten thrones stufen Von dem Rajah dem allmählich Lästig ward der krone druck. Von dem frieden jenes waldes Des so süssen aufenthaltes Von dem teuern lehrer musste Er sich trennen immerdar.– Schmerzlich traf ihn erst die kunde Bitter war die abschiedstunde Wogte ihm auch hoffnungsfreudig Tatenstolz die junge brust Die nur glanz und glück und ehren Sich vom schicksal lässt bescheren. Von des heilgen waldes grenze Führt in festlich grossem zug Selbst der vater und gebieter Seinen einzgen sprossen wieder Zu dem heimatlichen hause Zu dem fürstlichen palast. Und das festliche geleite auf dem thron an vaters seite Sollte ehrend ihn erklären Zu dem künftigen landesherrn. Freudig blickt er auf die menge Und das farbige gedränge An den vater angelehnet Wie ein frischgepflückter strauss Bunter blumen anzuschauen Neben einem gelblich grauen

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Reifen ährenbüschel. Glücklich Blickt der vater auf den sohn Der so herrlich sich gestaltet Und der greis die hände faltet. Lauter mischt des volkes jauchzen Hörner= und drommetenklang Sich zu einem jubelchore Und der zug geht durch die tore.

Der Fall. Eine reihe froher feste Alle tage neue lust! In den fürstlichen palästen Wimmelt es von fremden gästen. Glücklich im gewühl der freude Glücklich in der welt der pracht Flossen seine zeitenräume Für den prinzen hin wie träume. In dem weiten blumkengarten Wandelt abendlich der prinz In dem hauch der kühlen lüfte In dem reich der süssen düfte. In der dunklen rosenlaube Sank er sinnend auf das moos. Denkt bald an die heutigen freuden Bald vergangner schöner zeiten. Schön wars in dem dichten walde In der einsamen natur. Doch ein tor der nicht empfände Hier die freuden ohne ende.

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Alles ist so schön und prächtig Alle sind so glücklich hier Und des eremiten lehren Kann ich halb mir nur erklären Niemals werd ich recht begreifen Jenen höchsten segenswunsch Aus des weisen mannes munde: „Einen freund zur rechten stunde Möge Gott dich finden lassen“ Als ob alle menschen hier Mir nicht treue freunde wären Die mir raten, mich belehren. Plötzlich riss ihn aus dem sinnen Leiser lieblicher gesang An dem einsam stillen orte Staunend blickt er durch die pforte. Dort wo der fontäne strahlen Aus dem gras im mondenschein Silbern auf- und niederspringen Schien die stimme ihm zu dringen. Er trat näher und – o wunder! Zwischen blumenbeeten ruht Eine wasserfee verlangend Und in allen reizen prangend. Spielend mit den langen haaren Singt sie dort ihr himmlisch lied Die natur rings zu beglücken Und den wandrer zu berücken! Nein es ist ein kind der erde Apsara die herrliche! Die in des palastes hallen Als die schönste galt von allen.

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Sie entflammt in heissen gluten Zu dem schönen königsohn Suchte oft ihn zu bestricken Mit der liebe feuerblicke Noch nicht drangen ihre pfeile In des prinzen kindesherz Und so konnt ihr nicht gelingen In ihr netz ihn einzuschlingen. Wusste sie dass in dem garten Abends sich der prinz erging? Will mit süssen melodieen Lockend sie ihn zu sich ziehen? Stürmisch pocht des jünglings busen Winkt nicht ihre weisse hand Aus den dichten blumenbeeten? Soll er ihr nicht näher treten? Soll er eilig sich entfernen? Wild durchrasen seinen sinn Tugendlehre und ermahnung Und der nahen sünde ahnung. Ach so schwer ist klar zu denken Für die jugendliche brust Wenn so süsse düfte wehen Wenn so süsse lippen flehen. Dieses ist das los der jugend: Wer in heitrem glücke schwelgt Ist zur hälfte schon gefallen Wäre er auch gut vor allen. Und zu spät ist es zu streiten Im moment der leidenschaft – Müsste auch sogleich er sterben Toll rennt er in sein verderben.

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Die Folgen. Bitter ist der rausch der freude Bitter der geschmack der lust. Auf des schlosses hohen zinnen Lag der prinz in tiefem sinnen. Vor dem blauen reinen himmel Mit der sterne gold besät Schien er seinen blick zu senken Und an seine schuld zu denken. Unablässig quält und drückt ihn Das bewusstsein seiner schuld Und nachdem die frucht genossen Wurde alles ihm erschlossen Was vor kurzem ihm gewesen Dunkel noch zu seinem glück – Und es trat jezt klar zu tage Wurde ihm zu qual und klage. „Hier bin ich – erklärt der büsser – „Und der Veden heilig wort „Um das rechte zu vollbringen „Um das ewige zu erringen. „Nichtig ist der menschen streben „Töricht ist ihr ganzes sein „Eines nur ist kluges handeln Arm und fromm vor Gott zu wandeln.“ Ja und ich muss mich entschliessen Wenn ich rettung finden soll Weg zu ziehn aus diesen räumen Diesem boden ohne säumen.–

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Ruhelos den prinzen jagen Durch des hauses weite räume Seines herzens heftig streiten Neuer fehler neue leiden. „Ach wo bleiben deine lehren Teurer meister fromm und klug Ach wo bleiben heilige schwüre? Wenn er alles jezt erführe! .  . Und es merkt der alte vater Jene wandlung voller gram Wie des sohnes wangen bleichen Glück und friede von ihm weichen. Erst sah er mit tiefem schweigen Dann beschloss er eines tags Ganz allein zu thrones stufen Den geliebten sohn zu rufen. „Lange hab ich schon gesehen Ist mein aug auch trüb und matt Wie die ruhe dir geschieden Wie du rastlos unzufrieden Durch des hauses räume irrest Wie du traurig immer sinnst – Bietet sich dir zum genusse Alles nicht im überflusse Wird nicht alles was du wünschest Eilig und genau erfüllt?“ Was soll ihm der prinz erwiedern? So kann er sich nicht erniedern Seinem vater und gebieter Seine fehle zu gestehn. Und nicht durfte er es wagen Seinen plan ihm vorzutragen.

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Stumm senkt er den blick zur erde Und der Rajah sprach darauf: Nun, so muss ich schliesslich wähnen Dass von überstolzen plänen Deine sinne sind gefangen – Dass ich dir das diadem Lang genug und zu lang trage Nicht für dich dem tron entsage. Ist es so: so gieb nur wieder Dich zu freuden, guter sohn!– Denn des alten vaters glieder Legt man bald zur grube nieder. Also sprach der Rajah traurig Und mit einem leisen schrei Stürzt der prinz zu vaters füssen .  . Jäh und bitter war das büssen.

Der Retter Zu des heiligen stromes wassern Zog es oft den prinzen hin Um mit ihrem wellen rauschen Seine seufzer aus zutauschen, Um den quälenden gedanken, Schreckgebilden zu entfliehn. Wenn die abendlichen schatten Ein erkennen schwer gestatten Schlüpft aus dem palaste heimlich Er in unscheinbarer tracht. Aus des palmenhaines mitte Blickte eine kleine hütte.

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Vor der hütte sass ein jüngling Schön wenn auch in armem kleid Der zu einer leier singen Seine stimme liess erklingen. Manchmal wenn die bergeswinde Sich besänftigt und gelegt Sass ein greis an seiner seite Der mit stolzer vaterfreude An des sohnes kunst sich labte Niemals schien ein schönres bild Vor dem prinzen sich zu dehnen – Ein gewaltig heisses sehnen Zog ihn hin zu jenem jüngling Der so schön war und so froh. Lauschend stand er in der ferne Und er hätte sich so gerne Ihm genähert ihn gesprochen Wenn die scheu nicht und der greis Und die angst ihn abgehalten Dass auf seiner stirne falten Seine sünden sein geschrieben – Dass das reine edle aug Ihn sogleich erkennen liesse Und voll abscheu von sich stiesse. Heute war der Alte ferne. Er trat näher in den kreis Um von palmen noch verborgen Weiter der musik zu horchen. Aber kaum bemerkt der jüngling Ihn den fremden suchend bang Nach der hütte sich bewegen Als er schnell ihm trat entgegen.

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Ganz heran an’s haus ihn führte Bei der hand und sanften tons Ihn nach seinem wunsche fragend. Und der prinz versezte zagend: „Öfter ging ich hier vorüber Und vernahm dein schönes lied Und mein einziges begehren Ist dir stille zuzuhören „Kann ergötzen und erheitren Ich mit meiner schwachen kunst: Lass dich nur zur seite nieder Und vernimm die armen lieder. Aufmerksam und voller andacht Lauscht Prinz Indra der musik Und des angesichts erregung Zeigt die innere bewegung. Und am ende dringt ihm schmerzlich Aus der vollen brust das wort: Ach du musst wol recht hinieden Glücklich leben und zufrieden.“ „Ja der himmel sei gepriesen Ich bin heiter und gesund Alles nötige zum leben Wird die vorsicht stets uns geben. Nach des tages strenger arbeit Ist es mir das grösste glück An des teuren vaters seiten Meine stimme zu begleiten Mit dem klang der leier oder Aus der grossen dichter wort Alter zeiten art und wesen Hoher helden tun zu lesen.

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Aber fragt darauf der jüngling Forschend und doch teilnahmsvoll: Mir schien dass du lebst im glücke, Was sind deine missgeschicke? Seine stimme klang so herzlich Und sein auge war so gut Dass der Prinz ihn voll vertrauen In sein tiefstes ⸢herz⸣ liess schauen. (Eines nur hielt er ihm heimlich Dass des Rajas sohn er sei) – Er erzählt mit heissemn tränen Nichts vergass er zu erwähnen Auch den heiligen entschluss    (nicht) In den büsserwald zu ziehen Dass der vater garnichts ahne Von dem tiefgefassten plane Dass den greis zu sicherm tode Brächte die verwirklichung .  . Das bekenntnis war zu ende Bittend hob der prinz die hände. Jenes jünglings tiefe einsicht Fasste der erzählung kern. Mit herzinnigem erbarmen Hielt er fests in seinen armen Seinen neu erworbnen freund Er erklärt ihm ernst und mild: „Deine seele kannst du retten Aus des feindes schlimmen ketten Wenn du nur mit starkem willen Seiner lockung widerstrebst; Doch dein sinn scheint mehr geschaffen Aus der welt ihn zu entraffen

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Und zum büsserwald zu schicken – So erreichst Du nicht dein glück Wahre arbeit musst du finden Geist und leib musst du verbinden Um sie auf dein werk zu lenken Und vom bösen abzuziehn. Bist du reich an erdengütern Sorge dass du deinen brüdern Auch sie angedeihen lassest Suche hier die armut auf Deinen segen auszuschütten Selber in der dürftigen hütten. Suche arbeit suche wirken So wirst du mit leichter müh Wieder glück und frieden finden Und den dämon überwinden.“ Jezt leb wohl! Wir müssen scheiden Leider für nicht kurze frist Denn geschäfte mancher weise Zwingen mich zu weiter reise Bei des zehnten monds erscheinen Triffst du wieder mich am ort – Deinen namen wirst du nennen Und kein los mehr soll uns trennen.

Die Rettung Neue lust und neues leben Wurden in dem prinzen wach Musste auch das lange scheiden Von dem freund ihm schmerz bereiten.

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Dessen würdig sich zu machen War sein eifrigstes bemühn Und an seine kurzen lehren Aufs genauste sich zu kehren.– Weite uferbauten lagen Einst begonnen von dem Ahn Zu des ganzen volks bedauern Stets noch in den ersten mauern. Junge kräfte waren nötig Und zum wagnis frischer geist Unter⸢m mit⸣ vielen tätigen händen Dieses bauwerk zu vollenden. Dies nun ward des prinzen vorsatz In geschäftiger eile liess Er vor seines thrones stufen Künstler viel und meister ⸢werker⸣ rufen. Unterredete mit ihnen Gab auch selber rat und plan … Bald verschwand das schlimme wanken Und die quälenden gedanken Der Apsara wüstem locken Leistete er widerstand Was unmöglich ihm geschienen War jezt leicht ihm zu verdienen Und was einst ihm ein genuss Und was ihm nach seinem fall Mit des zweifels nacht umzogen War wie leicht gewölk verflogen. Klar ward ihm jezt was die Veda Von der menschen streben sagt, Jeder zu erreichen suchend Seines standes höchste tugend

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Ihren vollen sinn er fasst. Jezt ward ihm auch ⸢erst⸣ offenbar Jener spruch aus büssers munde Mit dem freund zur rechten stunde. Als der zehnte mond gekommen Eilt der prinz zum palmenwald Dass er den Ersehnten finde Seinen heissen dank ihm künde. Der war eben heimgekehret Und erstaunte nicht gering Wie ein fürstliches geleite Hier nach seiner hütte schreite! Eilig trat er vor die thüre Blickte aus und ganz bestürzt Sank er zu des Prinzen füssen Um ihn ehrfurchtvoll zu grüssen. Doch der hob ihn auf vom boden Drückte ihn an seine brust „Der du halfst mein glück begründen Willst die freundschaft auf nun künden Dem erfreuten dem entückten Die dem armen du gelobt? Heissen dank muss ich dir bringen Denn du liessest mich gelingen Was mir unerreichbar deuchte Du mit deiner guten lehr! Komm mein retter, mein berater. Eilen wir zu meinem vater Er soll freudig dich umarmen Seinen zweiten teuren sohn. Der den ersten, schon verloren, Neu belebt und neu geboren

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Komm und schaue meine werke Schau mich ganz in meinem glück ! Steh du immer mir zu seiten Als ein freund für alle zeiten.– Und du hoher Geist der Welten Helfer mir durch diesen freund Lenk uns stets auf rechtn wegen Und verleih uns deinen Segen!

Percy Gothein an EM16

Für Ernst Weihnachten 1922 P Widmung Ich bin kein solcher dem die stunden blühn Und fliehn in nie erschöpfter freude tausch Dem jede neu aus süssem blut erweckt Der höchsten gabe volle gegenwart Mein ist das regsame und zarte reich Der hauche welche tiefere furchen ziehn In weichrer seele ohne wann und wo Die unbekannt von wechselgrüssen bebt Mein ist der traumgereichte kuss der nacht Und sanfter laut und frage die errät Mein das verschwisternde geheimste leid Das wissen über gleichen wunden raunt

16 Diese Gedichte befinden sich zusammen mit einem an Ernst Morwitz, Regensburgerstr. 19 adressierten Umschlag ohne Poststempel als Beilage zu den Briefen und Gedichten Georges und anderer im George-Bestand aus dem Nachlass von Morwitz in der New York Public Library, waren wahrscheinlich keine Beilage zu Sendungen Georges. George selbst befand sich Weihnachten 1922 in Berlin.

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Wann in die hände sinkt dein sinnend haupt So bebe ich vom gleichen wunder nach Der was er tief ersehnt im andern sieht Dem rausch und qual im andern lebt und stirbt.

Lied Bist du in mir? ach nein Dein sehnen lebt in mir Reift mich dir leise zu. Es redet mir von dir. Bei jedem wege spricht Es ein wie heut zu tun Ob heute mich zu freun Dir ob zu leiden schön Wenn alles wollen ruht So gleiche ich dir fast Du neigest dich in mir Wie du mir bist im traum. Dann einen wir uns stumm Gedächtnis heiligt uns Und liebe scheint von höhn Und liebe flammt vom grund.

Wer Dich ansah Wer dich ansah wie du bist Hat das herz der welt erschlossen Oden ward durch ihn gegossen Der ihr blühen treibt und misst Wer dich ansah wie du bist Dem entschleiert sich dein sinnen Dass ihm eine miene innen Unaussprechlich eigen ist

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Wer dich ansah wie du bist Dem vergibst du was er raubte· Zünden wo er sah und glaubte Blicke die er nie vergisst Ein verlangen sonder frist Ein empfängnisvolles beben Fühlt im blut sich dir verweben Wer dich ansah wie du bist.

Harren I Ob in dem rätsel deiner mienen Mein forschend auge sich verlas Wo hauche zarter rötung schienen Wie flammen hinter blindem glas? Dem geist der dich zu fremdem leuchten Soeben rührte  schrakest du Und beugst errötend dich dem feuchten Bild in der wimper gitter zu Da ich dich zu gehorchen mahne Dem wink der stunde weisst du nicht Wie du mir blicktest und ich ahne: Du hast geträumt im eignen licht.

II –Blüht dem geliebten – strich von wald und hang Hin über blütenbüsche ruf der winde Die welle ward um deinen leib mein sang· Dein gang am ufer tanz vom leichten kinde.

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Verkündet rauschen schicksalvoller eichen · Verbirgt mein los die sonnentrunkne bucht? Ist Deines: nie das opfer rückzureichen? Da es in weiter bläue fragend sucht Schlief schon verschleiert in des auges samt Der wunsch: bald kette glühender verein· Dem tag der mich befreit und dich entflammt Knie ich und weine schon und harre dein.

Einem dichter Wie schwer ist tragen all der welten fülle Die ahnend uns bei der geburt durchschwangen Du aber bist die reine strahlenhülle Im liebesfeuer zehrend hingegangen Und dennoch sangest kind du die beschwörung In harter qualen rinde einst versteint Und hast gestählt durch eigene erhörung Den gott aus fremden schlacken losgeweint Wärst du noch unten · ränge ich vielleicht Vergeblich um den bund mit deinem lichte Doch freier auf entbundnen bahnen reicht Sich liebe vom verwandelten gesichte So wirbt das Rauhe ewig um das Zarte Bis es gewillt die einung zu vergelten Und knieen muss dem hiesige huld sich paarte Ich noch dem weichen kuss aus geisterwelten

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Weihe-Gaben I Weisst du wie den müden Fuss nach jeder kehr Dir zu knien verlange? Siehe all die stösse Kämpfender gebreste Haben mich ermattet. Walle ich zum feste Oder opfergange Wenn ich jeder wehr Willig mich entblösse Wo der laue süden Deiner seele schattet?

II Warst du nicht im rauschgewinde Schon zum heiland mir gebe erkoren? Musstest du dem fleherkinde Noch die offne brust durchbohren? Sieh: mir ward ein leib nur · trauter Ihn an deine form zu drücken Dass im blute ein entzücken Dir erwache zart und lauter. Heller böte sich zum mahle Dir des opfertranks karfunkel – Deinem finger am pokale Färbt er sich vor zittern dunkel Und ihr zürnet der befreier Dem die wonne schwere blinde Seele bei des lichtes feier Zuckend sich im schoosse winde.

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Adonis Goldenes summen im mittaglaub. Seltne strahlen tropfen und kaum Lacht durch breschen ewiges blau. Emsig schuppiger bienen heer Im besessenen reigen schwärmt Dröhnt die schläfernde weise · füllt Wabe um wabe mit süssem seim. Nur ein ächzen im stamme knarrt Wie von tragenden leibes not Und durch saftige knorren schwillt Blühend das fleisch der mutter. Trunken blinken im laubgewölb Sterne · Adonis der liebling brach Aus den rinden · die lichte frucht. Zweige schmeicheln im windessang Doch er weiss nicht ihr reden und weiss Nicht der stummen blumen gebet. Über schmachtenden fluren staunt Er versunken auf eignen glanz Und aus tauender blüte quillt Perle um perle dem kinde nach Im verliesse der mutter.

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Nachwort Vademecum – Amulett – Fetisch Im Dezember 1916 schrieb George dem unter Krieg und Einsamkeit leidenden Freund Ernst Morwitz: „Ich denke dass jedes neue wort Dir einen neuen anstoss giebt  – was auch wünschenswerter ist als wenn du meine alten worte zu lang in der tasche trägst.“ (Br.  255) Briefe haben seit den Anfängen von Schriftlichkeit viele Funktionen, sind Überbringer von Nachrichten und Gesprächsersatz, müssen Abwesenheiten überbrücken, halten Gemütszustände ebenso fest wie Erlebnisse jeglicher Art. Traditionell werden sie seit Jahrhunderten auf Papier geschrieben und in vielfacher Weise transportiert, erreichen ihre Adressaten manchmal erst nach Jahrzehnten. Briefe sind Dinge, Gegenstände, sichtbar, aber auch greifbar, man kann sich ihres Besitzes mit Händen versichern, man kann sie am Busen oder lange Zeit in der Tasche tragen. Papier und Schreibmaterial machen die Wörter und Zeichen, die Botschaften eventuell für Jahrhunderte wiederholt lesbar. Tinte, Tusche, Blei- und Buntstifte werden eingesetzt, Schrift wird ergänzt durch Zeichnung oder Aufdruck, Umschläge und Siegel verschließen und transportieren ihrerseits Informationen. So wurden Briefe auch zu Sammelstücken für Adressaten und späterhin für unbeteiligte Kollektoren, nicht zuletzt für Historiker. All dies trifft auch auf die persönlichen Briefe Georges zu: Ihr Empfang und Besitz waren aber zugleich Auszeichnung, waren mehr noch, die Briefe waren für die Freunde und Freundinnen Vademecum, Amulett, ja Fetisch. Voraussetzung dafür war ihre Eigenhändigkeit. Wie von den fotografischen Bildnissen Georges ging von dieser Hand ein Zauber aus, in Brief und Gedicht. Die Trost- und Schutzfunktion musste allerdings im Falle der Briefe immer wieder erneuert werden, die Rückbindung an den Zauberer George immer wieder aufs Neue bestätigt werden. Die Fetischisierung der ‚eigenen Hand‘ machte den Briefinhalt weniger wichtig, und so konnte in den 1920er und 1930er Jahren auch ein eigenhändiger Briefumschlag begehrte Auszeichnung und Amulett sein angesichts der Dominanz fremder Schreibhände in diesen Jahren. Karl Wolfskehl beklagte schon kurz nach Jahrhundertbeginn, https://doi.org/10.1515/9783110617740-007

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mit Briefen fremder Hände abgespeist zu werden. Georges Antwort auf die Klage ist bezeichnend: „Lieber freund: Sie beklagen was mir eine grosse hilfe ist in meinem schwierigen und sehr verzweigten leben (zumal dort hinten in Berlin): dass ich einem tauglichen schreiber die feder lenke der alles wissenswerte von mir berichtet. auch früher schon mussten meine freunde häufig auf meine handschrift verzichten .  . geben Sie dem umstand also keine bedeutung Teuerster!“1

Hanna Wolfskehl wiederum berichtete George vom Streit zwischen ihr und Karl über den Besitz eines seiner Briefe, und selbst für den Triumph, einen eigenhändigen Briefumschlag ergattert zu haben, gibt es Zeugnisse. Clotilde Schlayer schreibt Walter Kempner am 10. Mai 1932: „Die Schrift auf meinem Blätter-Umschlag ist ‚meines Herzens Freude‘ und ich kann mir nicht genugtun im Betrachten und Bewundern. Ich hab sie mit den Proben aus dem NEUEN REICH verglichen und sie ist womöglich noch schöner – weil ja richtig geschrieben und darum wie lebendig […] ich kanns schon kaum erwarten ihms [Kempner] zu zeigen!! Und ich glaub es immer wieder kaum · dass ichs wirklich hab.“2

George konnte Zuneigung entziehen, sogar strafen, indem er Schreiber und Schreiberhände einsetzte – Krankheitszeiten zählen dabei natürlich nicht –, er konnte Gunst erweisen durch einen kurzen eigenhändigen, persönlich geprägten Brief, der die Abfolge der fremdhändigen Geschäfts- und Auftragsbriefe unterbrach. Auch die vorliegende Korrespondenz weist Beispiele dafür auf, Unterbrechungen der schier endlosen Reihe von Briefen Kommerells, der, wie George bewusst war, mehr und mehr von Morwitz als Person abgelehnt wurde. Bislang wurden Georges Briefe meist folgendermaßen charakterisiert: knapp, inhaltlich wie syntaktisch, wenige, sparsame Satzzeichen, keine Kommata, stattdessen weit seltener sogenannte Hochpunkte (Punkte auf der Zeilenmitte), wenig expressive Zeichen wie Ausrufe- und Fragezeichen, retardierende Gedankenstriche oder Mehrfachpunkte. Die präzise, manchmal wie gestochen wirkende StG-Schrift nach der Jahrhundertwende wirkt distanzierend und wird so in zahlreichen Briefen, vor allem späterhin in solchen mit „staatlichem“ Charakter, eingesetzt, wenn nicht gar Auftragsschreiber den Zauber des Eigenhändigen zerstören. Die vorliegenden Briefe und Kar-

1 Brief 389 vom 10. 1. 1901. In: „Von Menschen und Mächten“. Stefan George – Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892–1933. Hrsg. von Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann im Auftrag der Stefan George Stiftung, München 2015, S. 397. 2 Clotilde Schlayer: Minusio. Chronik aus den letzten Lebensjahren Stefan Georges. Hrsg. von Maik Bozza und Ute Oelmann, Göttingen 2010, S. 322.

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ten Georges an Ernst Morwitz widersprechen diesen Charakterisierungen in vielerlei Hinsicht. Im Dezember 1910 fanden George und Morwitz nicht nur zum vertrauten Du der Anrede, aus dem angesprochenen „Lieben Ernst“ wurde ein „Liebster Ernst“ – korrespondierend bei Morwitz: „Mein lieber Meister“ oder „Geliebter Meister“ – und in den Jahren ab 1912 die intime Anrede „Seele“ (Br. 113, 29. 6. 1912), auch einmal „Ernst geliebtes herz“ (Br. 100, 11. 3. 1912). In der befestigten Beziehung der Folgejahre genügten die Abkürzungen „L. E.“ und „L.  M.“. Dieser Emotionalisierung entspricht in den Brieftexten Georges nicht nur eine Poetisierung und Verinnerlichung der Rede, sondern im Schriftbild – auf den ersten Blick kenntlich – eine Häufung von sonst George eher fremder Interpunktion wie Ausrufe- und Fragezeichen, einfache und mehrfache Gedankenstriche sowie zweifache, dreifache und mehrfache Punkte.3 Ein frühes Beispiel für diese Briefsprache sei angeführt: „Ernst liebster: ich schicke Dir hier das versprochene buch und zwar weil Du es haben musst … Wenn du hinein blickst so wird sich Dir das licht immer mehr mitteilen von dessen voller helle kein Heutiger ergriffen werden kann. Dann wird sich Dein geist so aufrichten dass er auch unsre grossen stunden besser sieht und du wirst schauen wie über die enge unsres eigenen wesens hinaus wir träger eines Geschehens waren – du und ich! – Lieber! höre! Wir sind kaum erst getrennt und schon hab ich Dir ein neues zu sagen für Dich von äusserstem werten .  . Ich muss es ⸢mit⸣ dir teilen drum komm bald in die arme Deines St.  Wann?“4

Für die Poetisierung stehe ein ebenfalls frühes Beispiel, Georges Brief vom 13. 12. 1910: „Eben komm ich aus dem Stift zurück: einige unwahrscheinliche sonnentage mitten im dezember und mondnächte über den bögen und giebeln … Aber durch das Stift selbst webte etwas verhängnishaftes und erstorbenes. dazu kamen noch unheilsnachrichten ∙ der plötzliche tod von Gundolfs vater – und auch für mich neue erschütterungen menschlicher art von denen ich aber nichts hervorbringen kann. Ach Ernst du bist so wenig geeignet den bann einer lippe zu brechen und wenn man von dir etwas will so muss mans dir mit übermenschlichen kräften entreissen … […]

3 Allerdings findet sich auch in Briefen Georges an Hanna, manchmal auch an Karl Wolfskehl, mit stark persönlichem, vertraulichem Charakter eine ähnliche Verwendung von Satzzeichen jeglicher Art. Vgl. „Von Menschen und Mächten“. Stefan George – Karl und Hanna Wolfskehl (wie Anm. 1). 4 Br. 55, v. d. 25. 12. 1910.

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Lieber: ich suche ganze seiten mit schriftzügen zu bedecken und nur im gedanken an dich … vielleicht rührt das dein herz voll härte mir mehr zu schreiben als diese kurzen wenn auch guten blockzeilen die bei dir üblich sind. Ich will dir auch noch etwas beilegen was gerade für Dich einen ganz andren hintergrund bekommt als für alle die es aufnehmen werden.  Dein ST.“5

Dieser einen augenblicklichen Gefühlszustand ausdrückende, ichstarke Text steht wie auch der zuvor zitierte noch auf einem Briefblatt mit der sogenannten Blättermarke Urnensignet der Blätter für die Kunst und damit in einem gewissen Widerspruch zur Formalität und früheren Funktion des Papierbogens. In der Folgezeit entspricht der zumindest fingierten Unmittelbarkeit und Augenblicksverhaftetheit mancher Briefe die Spontaneität, ja Flüchtigkeit und Expressivität der Schrift wie die für George ganz untypische Sorglosigkeit der Papierwahl: Die eigengeprägte Stilschrift verflüchtigt sich mehr und mehr zu einer immer noch charakteristischen Kurrentschrift, unterschiedlichste Papiersorten und Formate kommen zum Einsatz, was Georges Sorgfalt und seiner Liebe zu gutem Papier vor allem in den frühen Jahren zutiefst widerspricht. Selbstverständlich können dabei auch die jeweilige Verfügbarkeit von Papiersorten an verschiedenen Schreiborten und nicht zuletzt Georges später stark wechselnder Gesundheitszustand eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen. Der Schreibduktus entspricht der hohen Emotionalität vieler eigenhändiger Korrespondenzstücke in der Zeit zwischen 1910 und dem Beginn der 1920er Jahre. Form, Gestus, Inhalt dieser Briefe haben den Charakter von Einmaligkeit: Es handelt sich, worauf die Einleitung ausführlich zu sprechen kommt, nicht nur um Freundschafts-, sondern um teilweise expressive Liebesbriefe, Briefe der Sehnsucht, des Verlangens, der Sorge, der Erfüllung, auch der Trauer und des Verlustes. Nur eine Handvoll erhaltener Briefe Georges an andere Freunde und Freundinnen sprechen so sehr eine Sprache des Gefühls.

Materialität und Überlieferung Briefe können wie Fotografien, Zeichnungen, Gedichte oder Bücher als Amulette in der Tasche getragen werden, ihre Materialität bedingt ihre Über­ lieferung, die Möglichkeit, Wörter und Ideen in ferne Zeiten und Welten zu tragen. Bomben können sie ebenso vernichten wie Feuer, Zerstörung ist ebenso möglich, intendiert oder nicht gewollt, wie Tradierung. George soll

5 Br. 52, 13. 12. 1910.

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Freunde aufgefordert haben, seine Briefe zu vernichten, da sie nur für den einen Adressaten verfasst waren, nur ihn oder sie angingen,6 und in einem ­gewissen Maße, zeit- und augenblicksgebunden, von späteren Schriftlich­ keiten überholt werden konnten, schließlich nach Trennung oder Bruch ihre Wahrheit und damit ihre Zauberkraft verloren. George selbst bewahrte einen erstaunlichen Anteil empfangener Briefschaften, so auch die meisten Schreiben von Ernst Morwitz, beginnend mit dem ersten, ungelenken Brief des achtzehnjährigen Schülers aus dem Jahr 1905. Er lagerte sie an seinen wechselnden Aufenthaltsorten, bei Freunden, im Binger Elternhaus ebenso wie seine Bücher und anderes Gedruckte.7 Die genauen Wege dieser Besitztümer sind selten nachzuzeichnen, so auch im Falle der Briefe und Gedichte von Ernst Morwitz. Über den Erben Georges, Robert Boehringer, gelangten sie in das 1959 von ihm begründete Stuttgarter Stefan George Archiv, wo sie bis heute Teil des Bestandes von Tausenden von Briefen an Stefan George sind. Ernst Morwitz, der George immer die Treue bewahrte, vernichtete dessen Briefe und Gedichte nach des Dichters Tod am 4. 12. 1933 nicht, bewahrte sie wohl in seiner Berliner Wohnung auf. Als er im Oktober 1938, gerade noch rechtzeitig, mit einem Besuchervisum, das er den Bemühungen von Helmut Küppers erster Frau, Paraskewe von Bereskine, sowie Walter Kempner verdankte, in die USA gelangte, waren seine Briefe Friedrich Gundolfs und Stefan Georges schon in Stockholm, befanden sich in den Händen seines F ­ reundes Sven Erik Bergh, eines gebürtigen Schweden (vgl. Anm. 961). Morwitz selbst berichtete Jahre später (BB): „Ich rettete nur mit Svens Hilfe die Briefe StGs und Gundolfs an mich, indem ich sie ⸢als Diplomatenpost⸣ durch den schwedischen Gesandten nach Stockholm senden liess und von dort durch Sven Erik Berg nach USA gesandt erhielt durch die die Transaktion ermöglichende Freundlichkeit von Sven Erik Berg.“ Ein fragmentarisch erhaltener Brief Morwitz’ an Bergh, abgesandt nach dem 2. 11. 1938, nach Morwitz’ Ankunft in den USA, belegt nicht nur, dass sich die Briefe Georges zu diesem Zeitpunkt in der Obhut Sven Erik Berghs befanden, sondern er skizziert auch deren weitere Reise nach Durham in North Carolina, wo Morwitz inzwischen im Schutze von Georges früherem

6 Vgl. Georges Aussage in Br. 247 von Mitte Mai 1916: „Ein brief ist jedes menschen geheimnis: drum kann ich ihn selbst Dir nicht zeigen“. 7 Vgl. Ute Oelmann: „Wozu so viel in fernen menschen forschen und in sagen lesen“. Die Bibliothek Stefan Georges. In: Autorschaft und Bibliothek. Sammlungsstrategien und Schreibverfahren. Hrsg. von Stefan Höppner, Caroline Jessen u.  a., Göttingen 2018, S. 269–278.

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Arzt und Freund Walter Kempner seinen Aufenthalt genommen hatte. Der Brief handelt en detail von den Möglichkeiten und Kosten einer Übersendung der Manuskripte nach den USA und sei hier, ein rares Dokument, teilweise wiedergegeben: „[…] falls Dir der Schiffsweg mit einem Passagierdampfer der Schweden-Amerika-Linie unsicher erscheint (wegen der Minen) sende mir die St. G. Briefe und Manuscripte mit dem Transatlantic-Klipper. Das ist teuer, denn das Porto kostet für jedes Pfund etwa 10 Dollar, aber der Weg ist sicher! Die Sachen müssen dann fest, aber nicht schwer verpackt sein und ‚registered‘ an mich gesandt werden an die gewöhnliche Adresse, die ich Dir auf Seite 2 genau wiederholt habe.8 Schreibe Manuscripts darauf, damit sie in Amerika zollfrei sind. In jedem Fall bitte ich Dich, mir zu schreiben ⸢oder kabeln⸣, was das Porto gekostet hat – ich sende Dir dann den Betrag sogleich zurück, sodass Du ihn Dir zum Zwecke der Absendung ruhig von Dritten borgen kannst.   Ich scheue diese Kosten nicht, denn sie werden reichlich eingeholt, falls ich ein Stipendium erhalten sollte!9 Die Goldsachen bitte sende nicht, sondern behalte sie bei Dir bis Du hoffentlich jetzt recht bald hierher nach Amerika kommst und die Schmucksachen dann persönlich mitbringen kannst!10 Mir tut es leid, dass ich Dir etwas Mühe mache. Aber ich hoffe, Dich nun recht bald auch hier zu haben. Herzlich und immer Dein Ernst Schreibe bitte den Begleitbrief, den Du dem Paket beilegst, in englischer Sprache und bringe darin zum Ausdruck, dass die Manuscripte mein Eigentum sind – das ist wegen der hiesigen Zollbehörde wichtig. Frage eventuell bei der Amerikanischen Gesandtschaft nach dem bes sichersten Weg der Beförderung; Du kannst sagen, dass die Manuscripte zu wissenschaftlicher Arbeit an der Duke Universität gebraucht werden (worüber ich – notfalls –

Eine Bescheinigung von der Duke – University erhalten würde.“11

Auf welche Weise die Briefe letztendlich Morwitz in Durham erreichten, ist nicht bekannt. Als er 1956 nach New York übersiedelte, waren sie wichtiger 8 Diese Briefseite fehlt zwar, die Adresse findet sich aber in einem kurz zuvor abgesandten Brief. Morwitz war am 29. 10. 1938 zusammen mit Clotilde Schlayer von Southampton mit der Queen Mary nach Amerika aufgebrochen, nachdem er zwei knappe Tage mit Bernhard von Bothmer in London verbracht hatte. Die Adresse lautete: „c/o Walter Kempner Washington Duke Hotel Durham N.C.“ 9 Vgl. den Nachsatz des Briefes, in welchem Morwitz von einem editorischen Projekt spricht. In einem weiteren Brief an Bergh vom 22. 5. 1939 berichtet er, dass die Tatsache, dass er eine „vollständige Reihe von Briefen St. G. an [sich] selbst“ besitze, in den USA auf großes Interesse stoße, ebenso sein Projekt, sie zu edieren und zu kommentieren. 10 Heute befindet sich im Stefan George Archiv ein goldenes Ohrgehänge aus dem einstigen Besitz von Ernst Morwitz. 11 Ernst Morwitz an Sven Erik Bergh, n. d. 2. 11. 1938, StGA.

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Teil seines bescheidenen Besitzes. Trotz guter freundschaftlicher Kontakte zu Wolfgang Frommel und dem Verlag Castrum Peregrini in Amsterdam sowie einer wohl eher abgekühlten Beziehung zu Robert Boehringer, dem Gründer des Stefan George Archivs, vermachte er den Schatz der George-Manuskripte einem anderen seiner aus Berlin stammenden Freunde, dem klassischen Archäologen Dietrich von Bothmer, über welchen er in seinem Briefbuch schreibt: „[ich] vertraue aber noch mehr als ihm [Bernhard von Bothmer] seinem jüngeren Bruder Dietrich, der mich seit Beginn unsrer durch Bernhard herbeigeführten Freundschaft noch niemals im letzten enttäuscht hat und jetzt als ⸢der⸣ Kurator für griechische und römische Kunst am Metropolitan Museum of Art in New York lebt. Er hat StG nicht gesehn ⸢gekannt⸣, weil StG, als Dietrich gerade in das Alter kam, St.G. kennen zu lernen, ⸢schon⸣ zu leidend war, um noch ihm bisher Unbekannte zu empfangen, doch wusste StG von ihm durch Erzählungen Dritter (durch Bernhard, Partsch und mich) und kannte Fotos von Dietrich. Bernhard und Dietrich kämpften unter der USA Fahne gegen die Nazis und Japaner im zweiten Weltkrieg.“

Testamentarisch soll Morwitz bestimmt haben, dass alles Handschriftliche Georges nach Dietrich von Bothmers Tod Eigentum der New York Public Library werden sollte. In dessen Manuscripts and Archives Division befindet sich der Nachlassteil auch heute, nachdem von Bothmer 2009 gestorben war. Beide Korrespondenzteile, derjenige Stefan Georges und derjenige Ernst Morwitz‘, werden mit und in dieser Edition zusammengeführt und öffentlich gemacht. Der Verbleib der Briefe von Friedrich Gundolf an Ernst Morwitz ist nicht bekannt. Ute Oelmann, Carola Groppe

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Stefan George an Ernst Morwitz, 29. Mai 1911 (Brief 74). Abb. 2 Bernhard von Uxkull-Gyllenband und Ernst Morwitz im Atelier von Ludwig Thormaehlen (Pompeianum) in Berlin, im Ersten Weltkrieg. Zwischen ihnen im Hintergrund eine Holzbüste Stefan Georges. Abb. 3 Erich Boehringer und Stefan George im Atelier von Ludwig Thormaehlen (Pompeianum) in Berlin, 1917/18. Im Hintergrund eine Büste von Ernst Morwitz. Abb. 4 Adalbert Cohrs, vermutlich 1918. Abb. 5 Erich Heckel, Madonna von Ostende. Doppelblatt mit Widmung an Stefan George auf der Vorderseite (vgl. Brief 257 und 258), Holzschnitt 1916. Linke Seite Text von Ernst Morwitz (Nachlass Stefan George, StGA). Abb. 6 Widmungsblatt der Madonna von Ostende von Ernst Morwitz und Erich Heckel für Stefan George, 1916. Abb. 7 Ansichtskarte des Alumnats Abbaye de St. André bei Lophem-lez-Bruges, von Ernst Morwitz im Juni 1915 an Stefan George geschickt (vgl. Brief 214). Abb. 8 Ernst Morwitz (Vordergrund) und Erich Heckel (Hintergrund) während des Ersten Weltkriegs am Strand in Flandern, Sommer 1915 (vgl. Brief 232). Abb. 9 Ernst Morwitz in den 1920er Jahren. Abb. 10 Stefan George um 1914 (Aufnahme: Gaziades). Abb. 11 Ernst Morwitz in den späten 1920er Jahren. Abb. 12 Stefan George, nach 1928. Abb. 13 Ernst Morwitz an Stefan George, 10. Juli 1924, erste Briefseite (Brief 389). Abb. 14 Ernst Morwitz an Stefan George, 10. Juli 1924, zweite Briefseite (Brief 389).

Bildnachweis Sämtliche Abbildungen © Stefan George Archiv in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Abb. 1 © New York Public Library.

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Anhang Siglen- und Kurztitelverzeichnis Ernst Morwitz: Briefbuch (im Archiv der New York Public Library „annotated letter book“ benannt). Es enthält Abschriften der im Besitz von Ernst Morwitz befindlichen Briefe, Karten und Telegramme mitsamt kommentierenden Erinnerungen aus den Jahren 1956 bis 1964. Blätter für die Kunst. Begr. von Stefan George. Hrsg. von Carl August Klein, BfdK 1892–1919. Hans Brasch: Bewahrte Heimat: die Liparischen Inseln. Griechische Vasenbilder. Brasch Erinnerungen an George. Von geistiger Stiftung. Die Lehre Hölderlins. Deutscher Traum. Gedichte. Hrsg. von Georg Peter Landmann, Düsseldorf u.  a. 1970. Archiv Castrum Peregrini Amsterdam. CPA Deutsches Literaturarchiv Marbach. DLA Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, 2. Aufl., Düsseldorf/ EM München 1969. Stefan George – Friedrich Wolters. Briefwechsel 1904–1930. Mit einer EinleiG/FW tung hrsg. von Michael Philipp, Amsterdam 1998. Stefan George – Friedrich Gundolf. Briefwechsel. Hrsg. von Robert Boehringer G/G und Georg Peter Landmann, München/Düsseldorf 1962. G/KW „Von Menschen und Mächten“. Stefan George – Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892–1933. Hrsg. von Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann im Auftrag der Stefan George Stiftung, München 2015. Gothein Im Schaffen genießen. Briefwechsel der Kulturwissenschaftler Eberhard und Marie Luise Gothein (1883–1923). Hrsg. von Michael Maurer, Köln 2006. Groppe Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln/Weimar/Wien 1997. Maximin Maximin. Ein Gedenkbuch. Hrsg. von Stefan George, Berlin 1907. Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George, 2., erg. Aufl., Düsseldorf/ MBII München 1967. Maximilian Kronberger: Gedichte Tagebücher Briefe. Hrsg. von Georg Peter MKG Landmann, Stuttgart 1987. Stefan George: „Von Kultur und Göttern reden“. Aus dem Nachlass. ErgänNLB zungen zu Georges „Sämtlichen Werken“. Im Auftrag der Stefan George Stiftung hrsg. von Ute Oelmann, Stuttgart 2018. Stefan George Archiv in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. StGA SW Stefan George, Sämtliche Werke in 18 Bänden [hrsg. von der Stefan George Stiftung], bearb. von George Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982–2013. Die einzelnen Bände werden mit römischen Ziffern angegeben. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart. WLB BB

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Personenregister In das Personenregister sind sämtliche historische Personen aufgenommen worden, welche in den Briefen, den Kommentierungen sowie in Einleitung und Nachwort genannt werden. Aaronsohn, Rosalie → Morwitz, ­Rosalie Achenbach, Heinrich von 208 Adorno, Theodor W. 31 Aeschylos 144, 339, 362 Akerman, Achim von 418, 540 Akerman, Hasso von 418, 540 Alexander der Große 30, 311 Allard, Emmy 492 Andreae, Friedrich 93, 97, 352 Andreae, Wilhelm 93, 97, 200–202, 233, 248 Andrian, Leopold von 14  f., 100 Ansorge, Arnulf 334, 339, 342 Ansorge, Conrad und Margarethe 334 Ansorge, Joachim 334 Anton, Gabriel 371 Anton, Johann 20, 22, 38, 44, 49  f., 53, 56, 361–363, 371, 393, 400, 405, 408, 410  f., 416, 431, 434, 444–447, 456–458, 479  f., 482–484, 486, 491, 494, 496, 498  f. Anton, Karl 393 Anton, Walter 20, 22, 38, 53, 371, 410  f., 416, 422  f., 432, 446, 457, 461, 479, 491, 498, 532, 534, 560 Arnim, Achim von 401 Astor, Ava Alice Muriel 424 Auerbach, Ida 142 August Wilhelm, Prinz von Preußen 224, 275 Bachofen, Johann Jakob 171 Barbaro, Francesco 446, 502  f., 513, 515 https://doi.org/10.1515/9783110617740-011

Bassermann, Dieter 164 Baudelaire, Charles 70, 72, 453 Bauer, Karl 115, 121, 124 Beatrice (Portinari) 28, 355 Becker, Carl Heinrich 352, 550 Becker, Wilhelm Georg 88 Behrens, Peter 146, 286 Benn, Gottfried 550 Bereskine, Paraskewe von 597 Berger, Erich 203, 205, 356, 362 Bergh, Sven Erik 20, 504, 513, 543, 549, 558, 597  f. Bergmann, Gustav von 491, 543 Bernus, Alexander von 113, 127, 174, 176 Bernus, Alexander Walther von 174 Bertram, Ernst 30, 185, 188, 192, 229, 369, 542 Blavatsky, Helena 196 Blumenthal, Albrecht von 41  f., 144, 151  f., 154, 179, 195, 203  f., 207, 226, 305, 359, 362, 387, 458, 482, 560 Bodeck, Hermann 440 Boehringer, Adolf Paul 302 Boehringer, Emma 119 Boehringer, Erich 52, 300, 302, 304, 311  f., 320  f., 327, 329, 331, 333–335, 337, 342, 344, 346, 349, 362, 364  f., 373  f., 376, 410, 494, 499, 560, 617 Boehringer, Ernst 201 Boehringer, Robert 17, 19–21, 45, 56, 61, 92, 97, 114–119, 121–128, 132–135, 143  f., 146–152, 158  f., 161  f., 164  f.,

622 167  f., 169  f., 176–179, 181–183, 188  f., 192  f., 197  f., 200  f., 207, 215  f., 221  f., 224, 226, 230, 232, 248, 251, 263  f., 269–271, 275, 280, 282, 284, 288– 297, 299–302, 305  f., 308, 311, 327, 330, 345, 349, 364, 413, 417, 429, 438, 440–442, 448, 451  f., 455, 459, 463–465, 495, 499, 505  f., 508–510, 514, 516, 518–522, 524–526, 537, 539, 541, 544, 546, 559  f., 597, 599 Bondi, Eva 89, 210, 335, 514 Bondi, Georg 4, 80, 101, 123, 131  f., 140, 150  f., 161, 164  f., 177, 197  f., 200, 210, 242, 261, 265, 278, 287, 300, 303, 320, 328  f., 335, 337, 343  f., 348–352, 354–357, 359, 364–367, 369  f., 372–376, 378–381, 383–389, 393, 397–400, 402, 406–412, 415, 420–423, 426, 431, 438, 441  f., 444–446, 448–456, 463–467, 471, 474, 476, 480, 482–486, 491, 499, 504, 511  f., 514–519, 522–538, 540–548, 555  f., 558 Bondi-Nadolovitch, Dora 387, 464, 512, 514, 516, 523–526, 528, 530, 533, 535 Bondi-Nadolovitch, Eva 512, 514, 523, 525–533, 535  f., 541 Borchardt, Rudolf 97 Bothmer, Bernhard von 20, 49, 55, 357, 445–448, 450, 453, 457, 459–461, 463, 467, 475, 479  f., 495, 499, 504, 513, 549, 558, 598  f. Bothmer, Dietrich von 20, 49, 60, 599 Bothmer, Marie von 460 Bothmer, Wilhelm Friedrich Franz Karl von 460 Bothmershof, Imma von 194 Brasch, Hans 46, 105, 158, 174, 184  f., 202–205, 207  f., 210–212, 215, 218, 224, 226, 233, 236, 242, 244, 249, 252, 254, 257, 275, 277, 281, 300, 311, 316, 321 Breysig, Kurt 19, 97, 123, 352 Brunn, Heinrich 193 Brunn, Hermann 193 Burckhardt, Jacob 433 Burckhardt, Rudolf 115 Buschor, Ernst 491

Personenregister  Calderon de la Barca, Pedro 174 Calvary, S. (Buchhändler) 148 Casper, Helene, geb. Morwitz 8, 126, 266, 309, 452 Casper, Leopold (Prof. f. Urologie) 327, 390, 402 Casper, Paul 309, 330, 342, 351, 361 Cassirer, Paul 144 Catilina, Lucius Sergius 317 Cerds, Dr. (Arzt) 394 Cézanne, Paul 337 Clemens (Nachname unbekannt) 307, 334, 337, 342 Cohrs, Adalbert 20, 48  f., 220  f., 223, 250, 252, 289–292, 294  f., 297  f., 300  f., 306–310, 313–315, 317, 319  f., 322, 325–327, 329, 334, 338, 345, 606, 617 Cohrs, Ferdinand 307, 309  f., 313, 325  f. Cohrs, Ferdinand Eduard Theodor 220 Crusius, Otto 207 Curtius, Ernst Robert 115, 164, 173 Curtius, Ludwig 173, 310 D’Annunzio, Gabriele 361 Dante Alighieri 28, 163, 203, 271, 347, 353–356, 421  f., 453, 565 Dehmel, Richard 278 Demokrit 125 Derleth, Anna Maria 148 Derleth, Ludwig 148, 174, 193 Dette, Wilhelm 480, 539 Diebold, Dr. (Redakteur) 472 Diederichs, Eugen 125, 140, 222 Dieterich, Albrecht 201 Dilthey, Wilhelm 240 Dohm, Hedwig 335 Dostojewski, Fjodor 353 Droste-Hülshoff, Annette von 311 Eberz, Josef 440 Eeckhout, Joris 246 Egloffstein, Wilhelm von und zu 460 Eichendorff, Joseph von 174 Elster, Ernst 388 Elze, Walter 20, 53, 360, 393, 411, 447, 491

Personenregister   623 Ensor, James 265, 269  f., 279, 285, 469  f. Ernst Ludwig, Großherzog von ­Hessen-Darmstadt 291 Eucken, Rudolf 84 Fahrner, Rudolf 20, 53 Farenholtz, Familie 499 Fehling, Maria 145, 362 Feuerbach, Anselm 143  f. Fischer, Fritz (Notar) 504, 514, 524, 527  f., 533, 538 Fischer, Samuel 536, 538 Flaubert, Gustave 144 Förster-Nietzsche, Elisabeth 159 France, Anatole 341 Franckenstein, Clemens von 115 Friedemann, Elisabeth 366 Friedemann, Heinrich 161, 179, 217, 221, 224, 228, 230, 249, 334, 366 Friedrich I., Kaiser Barbarossa 157 Friedrich II., Kaiser 22, 409, 415  f., 444  f., 449–451, 514 Friedrich II., König 103 Frommel, Otto 348, 418 Frommel, Wolfgang 32, 181, 348, 350, 396  f., 404, 417  f., 501–504, 513, 515, 539  f., 542, 549–551, 599 Gardiner, Alan 115 Gardiner, Balfour 115 Gardiner, Heddie 115 George, Anna Maria Ottilie 142, 357, 403, 411, 413, 430, 447, 458, 486–488, 490  f., 495, 502  f., 517–522, 557, 559 George, Friedrich Johann Baptist 403, 411, 414, 487–489 Gérardy, Paul 265 Gide, André 101 Gienapp, Hermann 374 Glöckner, Ernst 38, 47, 125, 140, 171, 188, 191–194, 277, 284  f., 296, 298, 306, 317, 320, 330, 335, 345, 362, 375 Goebbels, Joseph 549 Goethe, Johann Wolfgang von 114, 117, 133, 277  f., 287, 405  f., 419, 434, 469  f., 472–474, 477, 483, 546, 561, 569

Gothein, Eberhard 180  f., 229 Gothein, Marie Luise 180  f., 229, 262, 562 Gothein, Percy 37, 45, 53, 126, 142, 164, 166, 180  f., 194, 196, 198, 216, 218, 226, 228  f., 236–238, 248, 250, 255  f., 261  f., 264, 268, 271, 304, 306, 312, 344, 348  f., 351, 356, 367, 381, 384, 386, 389–391, 395, 404, 410, 417–420, 430, 446, 475  f., 481, 491, 500–503, 506  f., 513, 515, 539  f., 562, 587 Graef, Botho 310 Grainer, Franz 146 Gregorovius, Ferdinand 433 Greischel, Walter 499 Gropius, Walter 286 Guarino, Veronese 446, 502 Gundelfinger, Amalie 35, 249  f., 252–256, 258  f., 263, 269, 323, 325  f., 357 Gundelfinger, Ernst → Gundolf, Ernst Gundelfinger, Friedrich → Gundolf, Friedrich Gundelfinger, Sigmund 35, 113, 357 Gundolf, Elisabeth (Elli) 45, 222, 334, 342, 372, 374, 376, 391, 395, 436  f., 515 Gundolf, Ernst 35, 38, 136, 138–140, 151, 167, 171  f., 174–178, 182, 191– 194, 198, 200–202, 229, 231–233, 245  f., 256, 263  f., 267, 269, 270  f., 273–275, 278–280, 286–289, 295  f., 301, 305, 335, 345, 357, 362, 366, 372, 389, 429, 475, 491, 560 Gundolf, Friedrich 2, 5, 18–20, 25, 27, 29, 31, 35  f., 39, 41  f., 44  f., 47, 54, 69, 79  f., 92, 96, 99, 101–103, 105, 112– 114, 117, 123, 125  f., 128  f., 131–133, 138–140, 146  f., 149, 152, 158, 160, 162–164, 171–182, 185–200, 203  f., 209  f., 212, 215  f., 220  f., 223–225, 228–233, 235, 245  f., 248–251, 257, 261–264, 267, 269–271, 277–286, 289  f., 295  f., 302, 305  f., 309, 320, 323–325, 327, 329, 339, 341–343, 345  f., 348, 351  f., 357, 361, 363, 369, 371–374, 376, 389  f., 395  f., 415, 436  f., 439  f., 449, 472, 475, 491  f., 506, 515, 549, 561, 563, 595, 597, 599

624 Haeften, Hans von (Oberst) 296, 306 Haeften, von (Leutnant) 232 Hainsworth, Alice 152 Handel-Mazzetti, Enrica von 283 Hardt, Ernst 310 Hauptmann, Carl 351  f. Hauptmann, Gerhart 182, 352, 558 Heckel, Erich 263, 288, 291  f., 294, 617 Heidinger (Teilhaber im Verlag Georg Bondi) 504 Heim, Eugen 153 Heim, Fritz 126, 295, 321, 330, 349, 351, 357  f., 361, 365, 386 Heiseler, Bernt von 405 Heiseler, Emy von 405 Heiseler, Henry von 405 Hellemann, Willy (alias Hans Boeglin) 404 Hellingrath, Norbert von 117, 132, 161, 178, 184, 194, 233, 237  f., 248, 569  f. Herder, Johann Gottfried 129–132, 405  f. Herodot 341 Hessel, Franz 513 Heyer, Gustav Richard 237  f., 248 Heyer, Wolfgang 248 Heyking, Baron 404 Hildebrandt, Fanny → Thiersch, Fanny Hildebrandt, Kurt 17, 19, 31, 61, 93, 97, 116, 123, 132, 135, 146  f., 161, 181  f., 202, 225, 233, 238, 242, 267, 352, 389, 548, 558 Hildesheimer, Frieda 396 Hilsdorf, Jacob 126  f., 159  f., 181, 198, 275, 309 Hilsdorf, Johann Baptist 126 Hilsdorf, Theodor 126 Hilsley, William 396 Hindenburg, Paul von 550 Hirt, Ferdinand 380 Hitler, Adolf 458, 545, 550 Hoesch, Marie Josephe von 232 Hoffmann, Heinrich 400 Hofmann, Ludwig von 44, 457 Hofmannsthal, Christiane von 421 Hofmannsthal, Franz von 424 Hofmannsthal, Hugo von 23, 86, 100, 115, 124, 144, 173  f., 210, 218, 233, 241, 421, 424, 457 Hofmannsthal, Raimund von 424

Personenregister  Holbein, Hans 460 Hölderlin, Friedrich 50, 117, 132, 161, 167, 178, 184, 233, 237  f., 336, 405  f., 473, 569  f. Hollmann, Ottmar 20 Holten, Otto Erich von 140  f. Holten, Otto von 80, 141  f., 147  f., 182, 201, 228, 283, 353–355, 357, 507, 546 Jean Paul 77, 89, 100, 132, 163, 210, 299, 388, 394, 401, 405  f. Justi, Ludwig 202, 263 Kahler, Erich von 14, 31, 152, 320 Kahler, Fine von 31, 152, 216, 278, 320 Kalischer-Sieburg, Gertrud 234 Kant, Immanuel 42 Kantorowicz, Ernst 14, 22, 38, 41, 49, 149, 216, 353, 358, 404, 408  f., 415, 431  f., 444–446, 448, 450–452, 459, 461, 477, 480, 485, 487  f., 503, 514, 560 Kantorowicz, Gertrud 102, 149, 223, 444 Kantorowicz, Sophie → Salz, Sophie Karo, Georg 417 Käsbach, Walter 263, 286 Kempen, Thomas von (Thomas a Kempis) 80, 283 Kempner, Nadja 492, 506 Kempner, Walter 12, 436, 491  f., 506, 508, 512, 521, 543, 559  f., 594, 597  f. Khnopff, Fernand 250, 279 Kippenberg, Anton 538 Klages, Ludwig 67, 171, 197, 233, 282, 410, 504 Klein, Carl August 19, 153 Klein, Mathilde 153 Klein, Max 89, 210, 335, 514 Klein, Mira → Koffka, Mira Kleist, Heinrich von 372, 374 Klopstock, Friedrich Gottlieb 406 Koffka, Kurt 89, 514 Koffka, Mira 89, 210, 512–518, 523  f., 528, 530, 532  f., 535  f., 541 Kolbenheyer, Erwin Guido 550 Kommerell, Max 20, 22, 38, 41, 44, 46, 49  f., 52–56, 357, 360–362, 370, 373, 375–377, 383, 388  f., 392  f., 397  f.,

Personenregister   625 400–403, 406, 408  f., 411–417, 423–425, 427–429, 432–434, 436, 439, 441, 443  f., 447, 450, 457, 461  f., 467, 469–471, 475  f., 478–481, 491, 493  f., 496–499, 557, 561, 594 Kracauer, Siegfried 542 Krause, Helmuth von 179, 194–196, 204, 207  f. Krause, Paul von 195 Krause, Peter Otto Max von 195, 204 Krexa, Hans 362 Kronberger, Maximilian 16, 37, 86, 160, 194, 342 Kühner, Elisabeth (Else) 172 Küpper, Helmut 560, 597 Landau, Edwin Maria 502 Landmann, Dr. (Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt a. M.) 469, 472, 474 Landmann, Edith 20, 22, 30, 35, 38  f., 215  f., 234, 287, 300, 312, 344, 384, 388, 462, 467, 560 Landmann, Eva 415 Landmann, Georg Peter 287 Landmann, Julius 14, 20, 35, 39, 216, 226, 287, 300, 312, 330, 353, 384, 388, 407, 415, 438, 442, 455, 462, 467 Landmann, Michael 287, 467 Lange-Dedekamp, Wolfram 418 Langlotz, Ernst 491 Lechter, Melchior 5, 24, 39, 45, 72, 77, 80, 84, 86, 93, 95, 101  f., 107, 113, 123  f., 126, 139–141, 176  f., 182, 195  f., 210, 232, 241, 283, 334, 443, 485, 514 Lehfeld, Richard 105, 185 Lepsius, Carl Richard 278 Lepsius, Reinhold 125, 223, 263, 278, 296, 303, 334, 342, 389, 514 Lepsius, Sabine 42, 125, 173, 223, 278, 303, 310, 334, 352, 389, 504 Lepsius, Stefan 303 Liebknecht, Karl 337 Lieder, Wenzeslaus (d.  i. Rolicz-Lieder, Wacław) 265 Liegle, Josef 215, 274 Lindenthal, Walter 103, 114, 116, 120, 125, 127, 134, 158, 166, 173, 176, 210, 217–219, 221  f., 225, 273, 421 Link, Carl 141, 201

Loos, Adolf 286 Lorenzen, H. (Vermieterin) 200  f., 227, 231 Lorenzo de’ Medici, Il Magnifico 433 Luitpold Maximilian Ludwig Karl, Prinz von Bayern 146, 225 Lyautey, Hubert 421 Maeterlinck, Maurice 278 Mallarmé, Stephane 101 Maltz, Felix 310 Mann, Heinrich 550 Mann, Thomas 42, 182, 192, 457 Markees, Carl 357, 360 Markees, Silvio 20, 38, 41, 54  f., 357, 360, 373, 375  f., 381, 386–389, 392  f., 397, 400, 404, 406–411, 416–420, 422–427, 429, 432–437, 439, 441  f., 444–447, 449  f., 452  f., 457, 459–461, 463–468, 479–481, 485, 491, 494– 497, 499, 513, 543, 549, 558, 560 Meckbach, W. (Stadtrat der Stadt Frankfurt a.  M.) 469  f., 472, 477  f. Mehnert, Frank 21  f., 54, 442, 468, 498  f., 502  f., 505–507, 509, 511  f., 515–521, 535–538, 541, 543–546, 548  f., 551  f., 554, 556, 559  f. Meister, Wilhelm von 314  f. Merrill, Stuart 434 Merz, Ernst 475 Meuzzo Tolomei da Siena 347 Meyer-Lübke, Wilhelm 446 Meyer-Oehler, August 217  f. Meyrink, Gustav 288 Michelangelo Buonarotti 229, 250, 261, 308, 393 Miller, Johann Martin 393 Minne, George 278–280 Mockel, Albert 101 Moreck, Curt (d.  i. Haemmerling, Konrad) 440 Mörike, Eduard 360 Morwitz, Rosalie 8, 118, 135, 168, 170, 172, 226, 266, 272, 287, 291, 309, 321, 351, 373, 418, 420, 424, 452, 460, 462 Morwitz, Wilhelm 8 Müller, Eva 210 Müller, Karl Otfried 162

626 Müller-Hofmann, Willy 210 Münchhausen, Tankmar von 391 Nietzsche, Friedrich 30, 123, 159, 162, 179, 192, 225, 369, 389 Nobbe, Herrmann 236 Nohl, Herman 240, 279 Nohl, Johannes 239, 241, 279 Novalis 473 Olbrich, Joseph Maria 291 Olschki, Leonardo 492 Osthaus, Gertrud 285 Osthaus, Karl Ernst 285  f. Ovid 356 Paged, Elisabeth 424 Partsch, Karl Josef 558, 560, 599 Paul, Bruno 146 Peil, Otto 305 Peringer (Frau von) 192  f. Perls, Richard 278 Petersen, Carl 380 Picht, Georg 216 Pindar 117, 132, 161  f., 570 Platon 123, 161, 179, 181, 198, 200–202, 217, 221, 224, 228, 321, 341, 366, 548, 558 Plutarch 159, 161 Poll, Prof. (Arzt) 394, 397, 399 Pringsheim, Ado 208 Pringsheim, Gyso 208 Pringsheim, Hugo 208 Pringsheim, Paula 208 Proust, Marcel 306 Rabinovicz, Diana, d.  i. Rabinovicz, Feiga → Vallentin, Diana Rabinowitsch-Kempner, Lydia 491 Raffael (Raffaello Sanzio) 337, 343, 359, 365  f., 370, 410, 443, 460 Rassenfosse, Edmond Louis Guillaume 265 Rassenfosse, Edmond-Félix 265 Rassenfosse, Ida 265 Rathenau, Walther 278, 296 Reinhardt, Karl 181 Reinhardt, Karl Ludwig 181 Reinhardt, Max 115, 124, 144, 241

Personenregister  Reinhardt, Sophie Hedwig 181  f. Remarque, Erich Maria 5 Rembrandt van Rijn 305 Reventlow, Franziska zu 45, 391, 513 Riezler, Kurt 416 Rilke, Rainer Maria 95, 164, 233, 457 Ringleb, Otto (Prof. f. Urologie) 379, 397, 403 Rodin, Auguste 85, 101, 158, 249, 279 Roethe, Gustav 389 Rolland, Romain 249 Rörig, Dr. (Arzt) 379, 386, 389 Rosenheim, Dr. (Arzt) 301 Rosenthal, Clara 84, 88 Rosenthal, Curt Arnold 25, 88, 90, 168, 170, 230 Rosenthal, Eduard 84, 88 Rumpel, Prof. (Arzt) 397 Rupprecht, Prinz von Bayern 225 Rust, Bernhard 549, 553 Saint-Paul, Albert 101  f. Salin, Edgar 20, 61, 161, 194, 349, 351  f., 472 Salinger, Leo 234, 241 Salinger, Lotte 241 Salinger, Ludwig 234 Salomon, Elisabeth → Gundolf, Elisabeth Salz, Arthur 14, 149, 159, 174, 178–180, 340, 415 Salz, Sophie 149, 159, 174 Sassen, Hans von 144–146, 149, 362 Scheller, Will 254 Scherkamp, Horst 389 Schiller, Friedrich 27, 114 Schlayer, Clotilde 30, 491  f., 500, 506, 508, 512, 529, 559  f., 594, 598 Schlayer, Gerda 506  f., 560 Schlayer, Karl 506 Schmalenbach, Hermann 146, 149, 202 Schmitt, Saladin 229, 237  f., 283, 308, 315, 571 Schmitz, Oscar A. H. 513  f. Schmitz, Richard Ferdinand 160 Schmoller, Gustav von 97, 352 Schönfeldt, Peter Idu 443 Schröder, Rudolf Alexander 210, 318 Schubring, Gioia 263 Schuler, Alfred 148, 171, 410

Personenregister   627 Schwartzkopff, Erika → Wolters, Erika Scott, Cyril Meir 115  f. Shakespeare, William 5, 28, 42, 86, 163, 176–179, 200, 210, 232, 248, 373, 376, 383, 393, 453, 457, 551, 554 Sieburg, Friedrich 164, 194  f., 218 Simmel, Georg 223, 306, 310 Simmel, Gertrud 127, 223 Simon, Paul 502  f., 522 Sinclair, Isaac 50 Singer, Kurt 20, 158, 161, 289 Sobotka, Fine → Kahler, Fine von Sokrates 45 Sommer, Clemens 364 Sophokles 132, 178, 570 Speer, Hermann 351 Spitzer, Leo 446, 503 Spohr-Braunfels, Marie 173 Stauffenberg, Alexander von 20, 22, 37  f., 41  f., 49, 145, 411, 416  f., 458, 499, 551, 560 Stauffenberg, Berthold von 20, 22, 37  f., 41, 56, 145, 408, 411, 416  f., 423, 431, 442, 458, 499, 521, 525–527, 530, 540, 546, 560 Stauffenberg, Claus von 20, 22, 37, 41, 49  f., 145, 408, 411, 417, 458, 499, 560 Steiger, Robert von 445, 447, 459, 461, 468, 491, 497, 549, 557, 560 Stein, Wilhelm 12, 14  f., 263, 337, 343, 358–363, 365–371, 374  f., 381, 391, 396, 398, 410, 419, 437, 439  f., 442  f., 445–447, 459–461, 468, 481, 491, 549, 560 Steiner, Rudolf 113 Stetten, Gabriele von 357, 360, 452 Stettler, Michael 337, 447, 549, 560 Stifter, Adalbert 192 Stoeving, Curt 154 Strebel, Helmut 388, 457 Strebel, Siegfried 388, 467 Taut, Bruno 286 Thiersch, Fanny 238 Thiersch, Gemma → Wolters, Gemma Thiersch, Paul 146  f., 202–205, 207, 225, 230, 233, 238

Thormaehlen, Ludwig 36, 39, 48, 132  f., 143  f., 150  f., 156, 158, 162  f., 165, 167  f., 173, 175, 180–182, 185, 189, 192, 194, 196, 198–204, 206–212, 214  f., 217  f., 220  f., 223–226, 229  f., 232  f., 236–239, 242, 244, 248  f., 253, 255  f., 258, 263, 265–271, 273, 275  f., 280, 286  f., 289–291, 294  f., 298, 300, 302, 306, 309  f., 312–314, 319–321, 323  f., 327  f., 330, 333  f., 336–342, 344–346, 352–354, 359, 360  f., 365, 367, 371  f., 374, 376, 384  f., 387, 391, 395, 408, 419, 423  f., 426–428, 435, 439  f., 442, 445, 447, 460  f., 469, 471, 479, 480–483, 492–494, 496  f., 499  f., 525, 539, 550–552, 556  f., 560, 617 Thylmann, Karl 127 Treuge, Lothar 93–95, 177, 182 Troschel, Ernst (Sohn) 203, 218  f., 229  f., 336 Troschel, Ernst (Vater) 203, 207, 230, 233, 246, 249, 336 Troschel, Hans 203, 207, 209, 212, 218, 229  f., 233, 236, 266, 281, 336 Tschudi, Hugo von 263 Tucholsky, Kurt 103 Ubell, Hermann 282 Uxkull-Gyllenband, Bernhard von 20, 33  f., 36–38, 41, 48  f., 52, 95, 116, 118, 123, 125, 127  f., 140, 144  f., 147, 149  f., 153–159, 161, 169  f., 204–206, 212, 216, 218, 220  f., 225, 236, 238, 240–242, 244  f., 248, 250, 252–256, 258, 262, 265–267, 269–271, 273, 279  f., 286–292, 294  f., 298–300, 302–304, 307, 309–317, 319  f., 322, 324–327, 329, 334–336, 338, 345, 361, 460, 463, 617 Uxkull-Gyllenband, Lucy von 38, 116, 126  f., 147  f., 232  f., 241, 252, 262, 270, 279, 313  f., 324  f., 336, 346, 361, 441, 493 Uxkull-Gyllenband, Viktor Rudolf Konrad Gustav von 166, 233, 241, 252, 262, 279, 346 Uxkull-Gyllenband, Woldemar von 20, 33  f., 36–38, 41, 49, 52, 95, 116  f., 118, 123, 125, 127  f., 140, 144  f., 147, 150,

628 153–157, 159, 161, 166, 169  f., 172, 174, 180, 184, 192, 204–206, 211  f., 214, 216, 218–220, 222, 225, 230, 232, 236, 239, 242, 244  f., 248, 250, 252, 254, 258, 262, 265–271, 273, 277, 279  f., 283, 287, 289, 292, 295, 297–300, 303  f., 307, 309  f., 312  f., 317–319, 323–325, 329–331, 333–336, 338–346, 348  f., 351  f., 357  f., 365, 371, 386  f., 408, 415  f., 441  f., 493, 560, 562 Vallentin, Berthold 9, 19, 24  f., 31, 93, 97, 100, 103, 116–118, 120, 122, 124, 127, 144, 146, 149, 155  f., 158, 163, 170, 173, 176, 182, 185, 190, 192  f., 201  f., 208, 216, 224  f., 239, 251, 255, 257, 271, 281, 324, 327, 330  f., 333  f., 336, 342, 345  f., 352  f., 359, 391, 407, 427–429, 434, 437, 458, 493  f., 549, 561 Vallentin, Diana 97, 103, 168, 170, 173, 185, 202, 428  f. Vallentin, Stefan 168 Van de Velde, Henry 286 Vergil 355, 566 Verhaeren, Émile 20, 67 Vermeer, Jan 305 Verwey, Albert 153, 233, 240  f., 305 Voelcker, Friedrich (Prof. f. Urologie) 261 Vöge, Wilhelm 133, 202 Volhard, Ewald 53, 361  f. Vollmoeller, Karl Gustav 115, 124, 144, 241, 278 Wackernagel, Jacob 435 Wagner, Georg 208 Walther, Wilhelm 154 Warburg, Otto 491  f. Wassermann, Jacob 210 Weber, Alfred 149, 395 Wenghöfer, Walter 101, 141, 150  f., 163, 175, 196, 209, 225, 227, 232, 234, 236  f., 248, 250, 252, 257, 273, 276, 285–287, 300, 303, 319, 337 Weyden, Rogier van der 337, 374, 410 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 88, 181 Wilde, Oscar 180, 206

Personenregister  Wilhelm II., Kaiser 315 Winckelmann, Johann Joachim 97, 405 Wiskowatoff, Paul von 176 Wolde, Dr. 318 Wolf, E. (Vermieter) 444 Wolff (Bildhauer) 102, 108 Wolff, Kurt (Verleger) 140, 288 Wölfflin, Heinrich 115, 124  f. Wolfskehl, Eduard 173 Wolfskehl, Hanna 19  f., 30, 39, 120, 122, 138, 225, 251, 257, 279, 286, 297, 560, 569 Wolfskehl, Karl 14, 19  f., 39, 45, 88, 95, 100, 103–105, 113, 117, 119  f., 122–125, 127, 134, 138, 143, 145  f., 148  f., 151, 158, 167  f., 170  f., 173, 176, 187, 193, 195, 199, 207, 212, 233, 238–241, 243  f., 248  f., 257, 265, 276, 279, 286, 296  f., 309, 315, 318, 331, 394, 434, 436, 513  f., 546–548, 560, 569, 593–595 Wolters, Erika 30  f., 39, 168, 182, 223, 346, 353, 387, 441 Wolters, Friedrich 5  f., 15, 17–20, 22, 24  f., 27, 31, 36, 39, 41, 46  f., 53, 55, 57, 93, 97, 101, 123, 125, 128, 133, 146  f., 151, 165, 185, 190, 192  f., 195–198, 200–202, 207  f., 210, 215, 217, 223  f., 230, 233, 236, 238, 275, 284, 287, 289, 303, 321, 329, 346, 352  f., 355, 360  f., 393, 396, 405, 411, 417, 423, 425–428, 436, 439–441, 485, 491, 498 Wolters, Gemma 147, 498 Wunderlich, Käte, geb. Morwitz 8, 126, 372 Wyneken, Gustav 222, 272, 395 Zeileis, Friedrich Georg 375 Zeileis, Valentin 375 Zierold, Kurt 56  f., 550, 553 Zimmer, Heinrich 421 Zimmermann, Heinz 349, 351  f., 474 Zschokke, Alexander 39, 337, 362, 374, 379, 409  f., 416, 419, 423, 427, 430, 433–437, 439, 442, 445  f., 449–451, 453, 460–464, 468