Stadtgeschichten - Beiträge zur Kulturgeschichte osteuropäischer Städte von Prag bis Baku 9783839432747

25 years after the fall of the wall and ten years after the eastward expansion of the EU - these politically significant

220 42 16MB

German Pages 316 Year 2016

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
Dank
Einleitung
Musealisierung und Monumentalisierung
Neue und alte jüdische Orte in Riga
Willy Brandt und Warschau Denkmal, Symbol, Erinnerungsort?
Exponate, Arrangements und widersprüchliche Geschichtsbilder Die Ausstellungen des Stalin-Museums in Gori und des Museums der sowjetischen Okkupation in Tiflis
Die Ressource Erdöl als Erinnerungsort: „Schwarzes Gold“ in Mythen, Monumenten und Museen von Baku
Gefährdetes Sibirien? Kulturerbe Irkutsk und Naturerbe Baikalsee im Diskurs von Wandel, Niedergang, Schutz und Aufschwung
Repräsentativität und Inszenierung
Das Taurische Palais in St. Petersburg. Einige Beobachtungen zu den Raumpraktiken der höfischen Gesellschaft in der Zeit Katharinas II
Doppelte Marginalisierung? Orte der Unterschichten in St. Petersburg und ihre Unsichtbarkeit im heutigen Stadtbild
Schöne und weniger schöne Repräsentanzen: Deutsche Botschaften in Moskau
Moderne Parlamentsbauten in Prag und Warschau Zur Rolle von Architektur und Repräsentativität in parlamentarischen Systemen
Das belarussische Volk als Opfer und Held Erinnerungspolitik am Beispiel der Allerheiligen- Gedächtniskirche in Minsk
Ritual und Transfer des Ritualorts: Die Krönungen in Preßburg und Budapest
„Bakou est généralement consideré comme le centre de la varieté musulmane du Bolchevisme“ – Sowjetamnesien in der Stadtgeschichte Bakus
Multikulturalität im urbanen Raum
Auf dem Weg zum Tor der Morgenröte. Eine Geschichte konfessioneller Verflechtung auf 260 Metern
Hermannstadt und Iaşi – Zur Multikulturalität zweier Städte in Rumänien
Lemberg im Lichte seiner Städtepartnerschaften
Zum Schluss: Exkursionen – vom Lernen zum Forschen
Autorinnen und Autoren
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Stadtgeschichten - Beiträge zur Kulturgeschichte osteuropäischer Städte von Prag bis Baku
 9783839432747

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Benjamin Conrad, Lisa Bicknell (Hg.) Stadtgeschichten – Beiträge zur Kulturgeschichte osteuropäischer Städte von Prag bis Baku

Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 28

Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Benjamin Conrad, Lisa Bicknell (Hg.)

Stadtgeschichten – Beiträge zur Kulturgeschichte osteuropäischer Städte von Prag bis Baku

Gedruckt mit Mitteln des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3274-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3274-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

für Jan Kusber

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Inhalt Dank.................................................................................................................11 Einleitung .....................................................................................................13 Lisa Bicknell/Benjamin Conrad

Musealisierung und Monumentalisierung Neue und alte jüdische Orte in Riga.................................................21 Svetlana Bogojavlenska Willy Brandt und Warschau. Denkmal, Symbol, Erinnerungsort?.........................................................................................39 Lisa Bicknell Exponate, Arrangements und widersprüch­liche Geschichtsbilder. Die Ausstellungen des Stalin-Museums in Gori und des Museums der sowjetischen Okkupation in Tiflis.................................................................................................................53 Maike Sach Die Ressource Erdöl als Erinnerungsort: „Schwarzes Gold“ in Mythen, Monumenten und Museen von Baku.........................71 Elnura Jivazada Gefährdetes Sibirien? Kulturerbe Irkutsk und Naturerbe Baikalsee im Diskurs von Wandel, Niedergang, Schutz und Aufschwung.................................................................................................87 Julia Röttjer

Repräsentativität und Inszenierung Das Taurische Palais in St. Petersburg. Einige Beobachtungen zu den Raumpraktiken der höfischen Gesellschaft in der Zeit Katharinas II...............................................121 Alexander Bauer

Doppelte Marginalisierung? Orte der Unterschichten in St. Petersburg und ihre Unsichtbarkeit im heutigen Stadtbild.............................................141 Hans-Christian Petersen Schöne und weniger schöne Repräsentanzen: Deutsche Botschaften in Moskau.........................................................................157 Benjamin Conrad Moderne Parlamentsbauten in Prag und Warschau. Zur Rolle von Architektur und Repräsentativität in parlamentarischen Systemen............................................................175 Paul Friedl Das belarussische Volk als Opfer und Held. Erinnerungspolitik am Beispiel der AllerheiligenGedächtniskirche in Minsk..................................................................189 Alena Alshanskaya Ritual und Transfer des Ritualorts: Die Krönungen in Preßburg und Budapest.......................................................................207 Stefan Albrecht „Bakou est généralement consideré comme le centre de la varieté musulmane du Bolchevisme“ – Sowjetamnesien in der Stadtgeschichte Bakus.................................................................231 Andreas Frings

Multikulturalität im urbanen Raum Auf dem Weg zum Tor der Morgenröte. Eine Geschichte konfessioneller Verflechtung auf 260 Metern.............................249 Martin-Paul Buchholz Hermannstadt und Iaşi – Zur Multikulturalität zweier Städte in Rumänien...............................................................................................265 Hans-Christian Maner

Lemberg im Lichte seiner Städtepartnerschaften....................283 Christof Schimsheimer Zum Schluss: Exkursionen – vom Lernen zum Forschen....303 Meike Hensel-Grobe Autorinnen und Autoren.......................................................................313

Dank Die Herausgeber danken einer Vielzahl von Institutionen und Personen, ohne die das Gelingen und Erscheinen dieses Buches nicht möglich gewesen wäre. Neben den Beitragenden gilt dieser Dank zunächst dem Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, dessen Leitungsgremium unter Vorsitz von Jörg Rogge diesen Band zur Drucklegung angenommen hat. Kristina Müller-Bongard und Davina Brückner, die Geschäftsführerinnen des Forschungsschwerpunkts, haben von der ersten bis zur letzten Minute immer ein offenes Ohr für praktische Probleme bei der Realisierung gehabt. Ein herzliches Dankeschön gilt auch Stefan Albrecht (RGZM), der sich um die Manuskriptgestaltung verdient gemacht hat und den Kontakt zum transcript Verlag pflegte. Raphaela Kasprzok begleitete den Band in der Schlussphase als Lektorin, wobei alle noch verbliebenen Fehler allein den Herausgebern zuzurechnen sind.

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Einleitung Lisa Bicknell/Benjamin Conrad Die historische Osteuropaforschung konnte im Jahr 2014 auf zwei Jubiläen der jüngsten Zeitgeschichte zurückblicken, die neben ihrer unbestrittenen politischen Bedeutung auch enorme Auswirkungen auf die Entwicklungen der Wissenschaftsdisziplin hatten: Das Ende der Teilung Europas jährte sich zum 25. Mal und die EU-Osterweiterung feierte ihren 10. Geburtstag. Die Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 stellten in verschiedensten geistesund sozialwissenschaftlichen Disziplinen etablierte Vorgehensweisen und Theorien in Frage. Weder der Fokus auf politische Entscheidungsträger noch auf die Dynamik großer sozialer Bewegungen konnte das Puzzle der Wende zur Gänze erklären. In den Geschichtswissenschaften suchte man nach neuen Ansätzen, die differenzierter argumentierten und auf interdisziplinäre Forschungen aufbauten: den Historischen Kulturwissenschaften. Das Aufkommen dieser und der Wandel in Osteuropa im Zuge des Epochenjahres 1989 boten und bieten zahlreiche neue Ansätze, Lokalgeschichte neu zu definieren.1 Zu den zentralen Neuerungen gehören die Untersuchung von Zentralität und Peripherie, Repräsentationsformen städtischer Architektur sowie die Musealisierung und Monumentalisierung sowohl historischer Einzelereignisse als auch – im Sinne der longue durée – ganzer Epochen. Was die praktische Forschung in den Archiven anging, eröffneten sich ebenfalls neue Welten. Während es zuvor mit großen Mühen verbunden war, die Schauplätze der eigenen Forschung aufzusuchen, war es für Historiker nie leichter gewesen, Zugang zu den Schätzen dortiger Archive zu erhalten, als in den 1990er Jahren. Während diese Freiheiten in Russland wieder schrittweise zurückgeschraubt wurden und 2015 manchen Tiefpunkt erreicht haben, markierte die EU-Osterweiterung im Allgemeinen weitere Vorteile für Wissenschaftler 1

Eine Charakterisierung und Bibliografie der Forschungen zur osteuropäischen Stadtgeschichte der letzten 25 Jahre bietet jüngst Kohlrausch, 2015. 13

Lisa Bicknell/Benjamin Conrad

mit diesem regionalen Fokus: Das visumfreie Reisen und unzählige Kooperationen vereinfachten die Archivforschung und Auslandsaufenthalte in den beigetretenen Ländern enorm. Auch für Studierende und Nachwuchswissenschaftler ergaben sich mehr Chancen für Auslandsaufenthalte, Exkursionen und den Spracherwerb vor Ort, der für diese Disziplin unentbehrlich ist. Die Autoren des vorliegenden Bandes haben ihr oft so erworbenes Wissen in ihren individuellen „Stadtgeschichten“ zusammengetragen und leisten so einen Beitrag zu einer neuen Form der kulturhistorischen Untersuchung des urbanen Raumes in Osteuropa. Die Erforschung des urbanen Raums ist in der Geschichtswissenschaft ein epochen- und regionenübergreifendes Schwerpunktthema. Schon immer waren Metropolen und Städte Kristallisationspunkte neuer Entwicklungen. Dies gilt erst recht für die im langen 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung einsetzenden Urbanisierung. So wurde – um nur ein Beispiel aus den vielen Regionen Osteuropas herauszugreifen – die in der Zeit der Herrschaft Nikolaus I. geplante Reform der städtischen Verwaltung Russlands selbstverständlich zuerst in der Hauptstadt St. Petersburg 1846 probeweise eingeführt,2 dann unter seinem Nachfolger Alexander II. auf weitere ausgesuchte Zentren des Imperiums, wie Moskau und Odessa ausgedehnt,3 ehe sie schlussendlich in modifizierter Form 1870 in allen Städten des Reiches Einführung fand.4 Im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert hat die Stadtgeschichte nichts von ihrer Funktion als Spiegel größerer gesellschaftlicher Entwicklungen, Probleme und Herausforderungen verloren. Die Anzahl an Forschungsfeldern im Bereich der Stadtgeschichte ist groß: Von der Durchmischung der Städte durch verschiedene Schichten, Nationalitäten und Religionsgemeinschaft sowie der Besetzung des öffentlichen Raumes durch Museen und Denkmäler reichen diese über Baumaßnahmen, Gärten und Grünanlagen, kommunale Sozial- und Wirtschaftspolitik, Handels- und Verkehrsverbindungen sowie populäre oder elitäre öffentliche Manifestationen aller Art bis hin zum Einfluss von Protestbewegungen, dem Terrorismus oder gar Kriegen.5

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Hildermeier, 1986, S. 272f., Nardova, 2005, S. 9-14. Pol’noe sobranie zakonov Rossijskoj Imperii, Serie 2, Bd. 21, Nr. 19.721. Herlihy, 1991, S. 151f., Hildermeier, 1986, S. 280. Pol’noe sobranie zakonov Rossijskoj Imperii, Serie 2, Bd. 45, Nr. 48.498. Hausmann, 2002, S. 45. Vgl. auch Häfner, 2004. Ein Panorama dieser Zugänge vereint der Sammelband Schlögel/Schenk/ Ackeret, 2007.

Einleitung

Diese Heterogenität an Forschungsfeldern vereint der vorliegende Sammelband „Stadtgeschichten. Beiträge zur Kulturgeschichte osteuropäischer Städte von Prag bis Baku“6. Er hat – wie andere vor ihm – das Ziel, die positiven Einflüsse der Entwicklung der letzten 25 Jahre auf die Geschichtswissenschaft aufzugreifen. Die Autorinnen und Autoren sind zu großen Teilen junge Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler, die von den neuen Rahmenbedingungen beeinflusst wurden und profitiert haben. Viele der Beiträge stehen in einem Zusammenhang mit laufenden oder abgeschlossenen Qualifikationsarbeiten – sei es durch die direkte Beschäftigung mit der Stadtgeschichte oder durch Expertise, die auf Forschungsaufenthalten in den dortigen Archiven erworben wurde. Der Querschnitt durch die unterschiedlichsten Städte und Metropolen macht sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede deutlich.

Inhalt des Bandes und methodische Überlegungen Die gesammelten Beiträge des vorliegendes Bandes lassen sich drei großen Gruppen zuordnen: Musealisierung und Monumentalisierung, Repräsentativität und Inszenierung sowie Multikulturalität im urbanen Raum. Die Beschäftigung mit diesen Themenfeldern ist eine wichtige Neuerung der kulturhistorischen Fragestellung, die in den für den Band vorgelegten „Stadtgeschichten“ als verbindendes Element zu erkennen ist. Es wird deutlich, dass diese wiederkehrenden Motive bei der kulturhistorischen Beschäftigung mit den Städten Osteuropas besonderer Beachtung bedürfen. Die Untersuchung von Musealisierung und Monumentalisierung liegt auf der Hand und ist gleichsam alles andere als banal. Musealisierung und gesellschaftliche Veränderungen wie den (mehr oder weniger) demokratischen Wandel in Osteuropa der letzten 25 Jahre gehen Hand in Hand. Hermann Lübbe bezeichnet Museen gar als eine „Rettungsanstalt kultureller Reste aus Zerstörungsprozessen.“ Sie dienen somit als Foren, verlorene Orientierung zurückzugewinnen: „Je mehr Vertrautes aus dem direkten Lebensumfeld verschwinde, desto stärker erodiere das eigene Selbstbild. Diesen Erosionsprozess könne das Museum in Teilen kompensieren, indem es Vertrautes aufbewahre und damit 6

Eine genaue Bestimmung des nicht ganz einheitlich bestimmten Begriffs „Osteuropa“ unterbleibt hier. In seinem Beitrag über Irkutsk und den Baikalsee von Julia Röttjer reicht dieser Band zudem einmalig über alle Definitionen von „Osteuropa“ hinaus. Dies möge der geneigte Leser den Herausgebern verzeihen, die auf diesen umfangreichen Beitrag nicht verzichten wollten! 15

Lisa Bicknell/Benjamin Conrad

stabile Orientierung biete.“7 Welch unterschiedliche Erkenntnisse sich aus diesem Umstand ableiten lassen, zeigen die Beiträge von Svetlana Bogojavlenska und Maike Sach. Oft noch anschaulicher geschieht dies durch Monumentalisierung im offenen Stadtbild, wobei festzuhalten ist, dass diese wie die Musealisierung, wenn nicht noch mehr, gewissen Orientierungsbedürfnissen geschuldet ist. Städte wie Warschau weisen sogar eine so flächendeckende Monumentalisierung auf, dass der Eindruck einer ganzen Stadt als Museum entstehen kann, was im Aufsatz von Lisa Bicknell gezeigt wird. Die Beiträge von Julia Röttjer und Elnura Jivazada zeigen schließlich, dass es mitnichten nur Personen und Ereignisse sind, welche durch Monumentalisierung Orientierung, ja Identität stiften – ein für die Region zentraler Rohstoff (Erdöl) oder aber die „Verdenkmalung“ der einzigartigen Naturlandschaft (Baikalsee) nehmen für die jeweiligen Städte bzw. Regionen einen ebenso großen Stellenwert ein. Repräsentativität und Inszenierung sind in den modernen wie historischen Stadtbildern Osteuropas allgegenwärtig. Macht und Herrschaft zeigt sich in den ausgewählten Bauwerken – angefangen bei Palästen über Parlamentsbauten bis hin zu Botschaftsgebäuden. Dies wird in gleich vier Beiträgen deutlich, nämlich bei Alexander Bauer, Benjamin Conrad, Paul Friedl und Stefan Albrecht, welche nicht zuletzt durch den Wandel ihrer Funktionen ganz eigene Geschichten erzählen. Gleichsam können im Kontext eines orthodoxen Panslawismus auch einer Kirche Funktionen der Machtdemonstration durch Inszenierung zugewiesen werden, was Alena Alshanskaya aufzeigt. Schließlich spricht aber auch das Gegenteil von Repräsentativität und Inszenierung – die bewusste oder unbewusste Unsichtbarkeit – Bände, wie die Beiträge von Hans-Christian Petersen und Andreas Frings zeigen. Die Geschichte Ostmitteleuropas als Korridor für Migration zeigt sich bis heute durch eine Vielfalt an Kulturen und Konfessionen. Besonders die Städte und Metropolen zeichnen sich durch eine Geschichte des Nebeneinander, im besten Fall des Miteinander aus. Die Auswirkungen dieser Multikulturalität auf Stadtbilder und -entwicklungen zeigen Martin-Paul Buchholz am Beispiel eines interkonfessionellen Straßenzuges in Vilnius und Hans-Christian Maner am Beispiel der kirchlichen Entwicklung in Hermannstadt und Iaşi. Christof Schimsheimer rundet den inhaltlichen Teil mit seiner Untersuchung zu den Partnerstädten Lembergs ab, in dem er zeigt, welche Bedeutung es haben kann, historischer Teil der Vielvölkerregion Galizien zu sein.

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Thiemeyer, 2013, S. 286.

Einleitung

In ihrem Schlusskommentar zeigt Meike Hensel-Grobe schließlich die Bedeutung des Lernens vor Ort im Rahmen der Schul- und Lehrveranstaltungsform der Exkursion auf, zu welcher dieser Band besonders anregen möchte. Abb. 1: Karte Osteuropas mit den in diesem Band behandelten Städten mit Ausnahme des Baikalsees

Kartendaten: © OpenStreetMap-Mitwirkende, 2015

Vielfalt und Pluralismus sind ein zentrales Phänomen der erforschten Großregion. Diese schlagen sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht zuletzt in der Toponymie nieder: Während in früheren Werken, auch in Sammelbänden auf eine einheitliche, meist deutsche Benennung von Orts- und Landschaftsbezeichnungen Wert gelegt wurde, haben die Herausgeber dieses Bandes aufgrund der Heterogenität sowohl der Themen als auch der Herkunft der Autorenschaft dieser keine Vorgaben gemacht. Wie sinnvoll wäre es auch, entweder einerseits weitgehend ungebräuchlich gewordene deutsche Bezeichnungen wie Wilna, Reval oder gar Agram zu erzwingen? Andererseits kann ein Beitrag über die Geschichte einer bis vor wenigen Jahrzehnten von einer deutschen Bevölkerungsmehrheit gelenkten Stadt wie Hermannstadt kaum unter dem Namen Sibiu publiziert werden. Ebenso stellt die nach dem Zerfall des Ostblocks noch einmal 17

Lisa Bicknell/Benjamin Conrad

größer gewordene Vielfalt an Ortsnamen, wie Bakı, Tbilisi oder Kyïv, eine Herausforderung dar. In seltenen Fällen betrifft es sogar ganze Länder: Belarus oder Weißrussland? Der in diesem Buch beschrittene Weg des laissez faire ist deshalb Absicht: Solange sowohl Belarus als auch Weißrussland das Land meinen, das im Westen Polen, im Norden Litauen und Lettland, im Osten Russland und im Süden die Ukraine zu Nachbarn hat, und nicht eine der beiden Formen eine pejorative Intention hat, sollte im Rahmen einer pluralistischen Wissenschaft beide Namen als treffend anerkannt werden.

Literatur Häfner, Lutz, Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Die Wolgastädte Kazan’ und Saratov (1870-1914) (Beiträge zur Geschichte Osteuropas 35), Köln u. a. 2004. Hausmann, Guido, Stadt und lokale Gesellschaft im ausgehenden Zarenreich, in: Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreiches (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 22), hg. von Dems., Göttingen 2002, S. 13-166. Herlihy, Patricia, Odessa. A History 1794-1914, 2. Aufl., Cambridge 1991. Hildermeier, Manfred, Bürgertum und Stadt in Russland 1760-1870. Rechtliche Lage und soziale Struktur (Beiträge zur Geschichte Osteuropas 16), Köln 1986. Kohlrausch, Martin, Imperiales Erbe und Aufbruch in die Moderne. Neuere Literatur zur ostmitteleuropäischen Stadt, www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-1185, 18.11.2015. Nardova, V. A., Obščestvennoe upravlenie Peterburga vo vtoroj polovine XIX v., in: Peterburgskaja gorodskaja duma 1846-1918, hg. von B. B. Dubencov u. a., S.-Peterburg 2005, S. 7-63. Pol’noe sobranie zakonov Rossijskoj Imperii, www.nlr.ru/e-res/law_r/search. php, 20.11.2015. Schlögel, Karl/Schenk, Frithjof Benjamin/Ackeret, Markus (Hg.), Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, Frankfurt/Main u. a. 2007. Thiemeyer, Thomas, Museum, in: Über die Praxis kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Ein Handwörterbuch, hg. von Ute Frietsch/Jörg Rogge, Bielefeld 2013, S. 283-287.

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Musealisierung und Monumentalisierung

Neue und alte jüdische Orte in Riga Svetlana Bogojavlenska Der jüdische Historiker Marģers Vestermanis zählt in seinem Wegweiser zu den Spuren einer ermordeten Minderheit1 85 Stationen der jüdischen Geschichte in Riga auf. Diese Fülle an Orten, die in dem Stadtbild Rigas verankert waren, spiegelt die Intensität des jüdischen Lebens in Riga zwischen den Weltkriegen wieder. Im modernen Stadtbild ist das Jüdische nicht mehr so intensiv präsent. Viele der im Wegweiser erwähnten Gebäude sind nicht mehr erhalten. Jüdische Stätten, die noch heute eine Funktion im jüdischen Leben haben, lassen sich aktuell an den Fingern zweier Hände abzählen. Der Wandel der architektonischen Präsenz veranschaulicht die Geschichte der Juden in Riga insgesamt. Die jüdische Minderheit musste sich im Laufe der Zeit aus den Außenbezirken in die Innenstadt Rigas vorkämpfen. Nach und nach entwickelte sich aus der überschaubaren homogenen Gemeinde der deutschakkulturierten Schutzjuden – deren Zahl 1845 knapp über 600 lag2 und die Anfang des 19. Jahrhunderts nur außerhalb der Stadttore mit einer Ausnahmeregelung wohnen und arbeiten durften – eine jüdische Gesellschaft, die von verschiedenen kulturellen Einflüssen, aus West wie Ost, geprägt war und 1897 schon 21 962 Mitglieder zählte. Sie stellte somit ca. 8 % der Stadtbevölkerung.3 Die größten und schönsten jüdischen Bauten in Riga entstanden nach der Phase der deutlichen Liberalisierung der Gesetzgebung des Staates gegenüber den Juden in Livland Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Der größte Teil der Juden Rigas wohnte dennoch in der Zwischenkriegszeit historisch bedingt in der Moskauer Vorstadt,4 die sich im 19. Jahrhundert zu einem Wohn1 2 3 4

Vestermanis, 1996. Bogojavlenska, 2012, S. 136. Šac-Anin, 1998, S. 107. 1935 betrug die Zahl der Juden in Riga 43 672 (11,3 % der Gesamtbevölkerung), 1979 ca. 23 000 (2,8 %). 21

Svetlana Bogojavlenska

viertel für russische Altgläubige, Arbeiter und jüdische Handwerker entwickelt hatte. Auch die meisten jüdischen Gebäude blieben lange Zeit in der Vorstadt. Das Wachstum der jüdischen Gesellschaft wurde aufgrund der Zuwanderung jüdischer Handwerker aus dem Ansiedlungsrayon schon Ende des 19. Jahrhunderts zu einer zunehmenden Herausforderung für die offiziellen Vertreter der jüdischen Gemeinde. Es mussten die geistigen, gesundheitlichen und religiösen Bedürfnisse der in sich keinesfalls homogenen Gesellschaft befriedigt werden. Diese Herausforderung eröffnete jedoch die Möglichkeit, die jüdische Präsenz in der Stadt zu unterstreichen, da zu diesen Zwecken institutionelle Gebäude von bedeutender Größe gebaut wurden, die sich sukzessive in das Stadtbild integrierten. 1887 wurde das Gebäude der ersten weltlichen Schule für jüdische Kinder, die im Geiste der Haskala, der jüdischen Aufklärung, im Jahre 1840 eröffnet wurde, in der Moskauer Vorstadt (heute Lāčplēša iela 141) errichtet.5 In diesem Gebäude, das bis 1941 die jüdische Schule beherbergte, war nach der Gründung des Rigaer Ghettos am 23. August 1941 und bis zur Vernichtung des Großen Ghetto in Rumbula am 30. November und 8. Dezember 1941 der für die Organisation des Lebens und Arbeitens im Ghetto verantwortliche Judenrat untergebracht.6 1871 wurde die schönste Synagoge Rigas, die Große Choralsynagoge (heute Ecke Gogoļa und Dzirnavu) im Neorenaissance-Stil gebaut.7 In diesem prächtigen Gotteshaus nahmen die Karrieren der in Riga geborenen jüdischen Sänger Josef Schwarz, der seit 1909 in der Wiener Hofoper auftrat, und Hermann Jadlowker, der ab 1911 in der Berliner Hofoper sang, ihren Anfang. 1929 kehrte Jadlowker für kurze Zeit nach Riga zurück, um in der Großen Synagoge als Kantor tätig zu werden. Am Anfang des 20. Jahrhunderts und in der Zwischenkriegszeit war die Synagoge eines der bekanntesten Kultusgebäude in Lettland, dessen Chor und Kantor auch Besucher anderer Konfessionen anlockte. Am 1. Juli 1941 wurde Riga durch die deutsche Wehrmacht eingenommen. Drei Tage später wurden die jüdischen Bewohner der nahegelegenen Straßen durch das Kommando von Viktors Arājs8 verhaftet und in der Synagoge festgehalten. Dort befanden sich bereits jüdische Flüchtlinge aus anderen Städten Lettlands und aus Litauen. Anschließend wurde die Synagoge in Brand gesetzt. Einige Einge-

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Zur Geschichte der Schule: Bogojavlenska, 2012, S. 154-158, 162. Vestermanis, 1996, S. 28f. Bogojavlenska, 2012, S. 168f. Angrick/Klein, 2006, S. 74-78.

Neue und alte jüdische Orte in Riga

sperrte versuchten durch die Fenster zu fliehen, wurden jedoch von dem Kommando Arājs’ erschossen. Die Übrigen starben in den Flammen.9 Auch alle anderen Synagogen der Stadt wurden während der ersten Tage der NS-Besatzung in Riga entweder vollständig oder teilweise verbrannt.10 Nur eine entkam dem traurigen Schicksal: die sog. Peitav-Schul, die 1905 im „heiligen“ Stadtteil der Deutschen, d. h. mitten in der Altstadt erbaut worden war. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts war nämlich der Durchbruch aus der Moskauer Vorstadt in die Altstadt gelungen, wo die jüdische religiöse Gemeinde registriert wurde. 1903 erhielt die Gemeinde die Erlaubnis, ein zweistöckiges Haus nach dem Entwurf der Architekten Hermann Säuberlich und Wilhelm Neumann in der Peitavstraße zu bauen. Erst als das Haus im Jugendstil 1905 fertiggestellt wurde, kam heraus, dass es sich dabei um eine Synagoge handelte.11 So hatte die Gemeinde Tatsachen geschaffen, die für die Behörden unumkehrbar waren. Dass die Synagoge in der Zeit des Holocausts unversehrt geblieben ist, verdankt sie einzig dem Umstand, dass die Altstadtbebauung sehr eng war. Hätte man die Synagoge in Brand gesetzt, wäre man bewusst das Risiko eingegangen, einen großflächigen Brand in der Altstadt zu verursachen. Die Synagoge wurde stattdessen entwürdigend als Lager zweckentfremdet. Erst nach dem Krieg fand man hinter dicken Brettern versteckt den Schrein mit Thora-Rollen. Beim Unterfangen, die Heilige Schrift vor den Nazis zu schützen hatte der Pastor der nahegelegenen Reformierten Kirche, Gustavs Neimanis, geholfen.12 Ebenfalls Anfang des 20. Jahrhunderts wurde ein anderes bedeutsames jüdisches Gebäude errichtet, das sich unmittelbar in dem Boulevardviertel befindet: zwischen dem prächtigen Alexanderboulevard (heute Brīvības bulvāris) und der Nikolai-Straße (heute Krišjāņa Valdemāra iela) in der Schulstraße (Skolas iela 6). Das Gebäude wurde von dem bekannten jüdischen Jugendstil-Architekten Paul Mandelstamm und dem deutschbaltischen Architekten Edmund von Trompovsky 1913-1914 für den jüdischen Klub und das Theater gebaut. 1926 wurde das Haus ganz zum Theater umgebaut. 1941 wurde das jüdische Theater von dem Einsatzstab der Deutschen als „Beutesammelstelle“ für jüdisches Kulturgut benutzt. Danach wurde es zum Offiziersheim der Wehrmacht.13 An mehreren Stellen der Stadt erinnern Mahnmale und Museen an die Vernichtung der Juden während der NS-Besatzung in Riga 1941-1944. Jedoch war   9 10 11 12 13

Ebd., S. 84f. Ebd., S. 85f. Bogojavlenska, 2012, S. 170. Vestermanis, 1996, S. 23f. Ebd., S. 49f. 23

Svetlana Bogojavlenska

Abb. 1: Das Haus der jüdischen Gemeinde, Skolas 6

Foto: Benjamin Conrad, 2013

auch der Weg zu diesen Erinnerungsorten jeweils ein sehr langer. Von 93 000 lettischen Juden haben nur knapp 14 000 den Holocaust überlebt – die meisten von ihnen in den inneren Gebieten der UdSSR, wohin sie in den ersten Kriegstagen geflüchtet waren. Nach der totalen Zerstörung des jüdischen Lebens während des Holocausts kam die Zeit der Verschwiegenheit und des Verbots des jüdischen religiösen und kulturellen Lebens in der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Hatten die wenigen Überlebenden und aus der Evakuierung zurückgekehrten jüdischen Aktivisten vor 1950 noch die Hoffnung, dass sie zumindest das jüdische Theater in Riga wiedereröffnen und einen Gedenkstein im Rigaer Ghetto aufstellen könnten, war nach den Verhaftungen von jüdischen Intellektuellen in Lettland Anfang der 1950er Jahre und bis kurz nach Stalins Tod 1953 die letzte Hoffnung verflogen.14 In das Weltbild der sowjetischen Führung passte die Leidensgeschichte der Juden ebenso wenig, wie die Versuche, die eigene jüdische nationale Kultur und Sprache vor der Russifizierung, bzw. Sowjetisierung zu bewahren. Alle Orte, die an den Holocaust in Riga erinnerten, wurden in der Sowjetzeit tabuisiert und „zweckentfremdet“ eingesetzt. Der alte jüdische Friedhof in der Moskauer Vorstadt, auf dem während des Krieges die Insassen des Rigaer Ghettos noch erschossen und bestattet worden waren, wurde 14 24

Šneidere, 2009, S. 215-255.

Neue und alte jüdische Orte in Riga

1960 zum „Park der kommunistischen Brigaden“ umgewidmet. Wo die Ruinen der Choralsynagoge noch kurz nach dem Krieg standen, wurde eine Grünanlage angelegt und eine Ehrentafel für die sowjetischen „Helden der Arbeit“ errichtet. Das Haus des einstigen jüdischen Theaters wurde von der Partei zum „Haus der politischen Bildung“ umfunktioniert. In den letzten Sowjetjahren wurde es einem Kulturzentrum überlassen. Nur die Synagoge in der Peitavstraße diente als eine der wenigen jüdischen Kultusstätten in der Sowjetunion. 1964 gelang es den jüdischen Aktivisten einen Gedenkstein speziell für jüdische Opfer in Rumbula aufzustellen. Auf dem schwarzen Granit wurde neben dem sowjetischen Symbol Hammer und Sichel die Inschrift „Den Opfern des Faschismus 19411944“ in drei Sprachen platziert: Lettisch, Russisch und Jiddisch. Die Orte der Massenerschießungen in Rumbula und im Wald von Biķernieki15 wurden an den Jahrestagen von dem Komitee der Staatssicherheit (KGB) bewacht. Als die lettische nationale Atmoda (dt. Erwachen) und damit die Unabhängigkeitsbewegung in Lettland um 1988 als eine Massenbewegung begann, unterstützten die in Lettland lebenden überlebenden des Holocausts das Streben der lettischen Nation nach Unabhängigkeit. 1988-1989 wurde als erste offizielle jüdische nichtreligiöse Organisation im Nachkriegslettland „Die lettische Gesellschaft der jüdischen Kultur“ gegründet, die später zur jüdischen Gemeinde wurde. Um die Jahre 1989-1990 herum – das genaue Datum und die Umstände sind immer noch nicht geklärt, was die chaotische Situation der singenden Revolution16 widerspiegelt – wurde der Gesellschaft auch das Haus des jüdischen Theaters auf der Skolas iela zurückgegeben. Auch das Schulhaus in der Lāčplēša iela überlebte den Holocaust und die Sowjetzeit so gut wie unbeschadet. Es erscheint durchaus als Ironie der Geschichte, dass in dem Gebäude, das für die erste weltliche jüdische Schule errichtet wurde, 1995 ausgerechnet die erste und bis jetzt einzige jüdische religiöse Schule der Chabad Ljubavitsch-Bewegung in Lettland eröffnet wurde. Die im Jahr 1989 in Riga eröffnete erste weltliche jüdische Schule in der Sowjetuni15 Im Wald von Biķernieki befindet sich das größte Massengrab Lettlands. Hier wurden zwischen 1941 und 1944 bis zu 46 000 Menschen erschossen. Darunter lettische, deutsche, tschechische, österreichische Juden, Kriegsgefangene und Widerstandskämpfer. Dazu mehr bei Angrick/Klein, 2006, S. 338-345. 16 Als singende Revolution wird in den baltischen Staaten die Zeit der Unabhängigkeitsbewegung 1987 bis zur vollständigen Erlangung der staatlichen Souveränität 1991 bezeichnet, für die singende Demonstrationen als Ausdruck des friedlichen Strebens nach Unabhängigkeit charakteristisch waren. Vgl. Ahola, 2005, S. 390; Lieven, 1993, S. 214-315. 25

Svetlana Bogojavlenska

on, die Simon Dubnov17-Mittelschule, befindet sich hingegen in einem anderen Gebäude (heute Miera ielā 62). Im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung entstanden einige private jüdische Initiativen zur Markierung der Orte der Massaker an den Juden. 1988 wurde durch freiwillige Helfer und Überlebende des Holocausts an der Stelle der Großen Choralsynagoge eine Art archäologische Ausgrabung betrieben, während derer in dem frei gelegten Keller die Überreste der hier ermordeten und verbrannten jüdischen Opfer ans Tageslicht kamen. Daraufhin wurde am Jahrestag der Ereignisse, am 4. Juli 1988, ein Gedenkstein mit mit dem Davidstern aufgestellt. In den Jahren darauf errichtete der jüdische Architekt Sergejs Rižs ein Memorial der Choralsynagoge im alten Kellergewölbe. Auch der alte jüdische Friedhof erhielt seinen Namen zurück. 1994 stellte die jüdische Gemeinde hier einen einfachen Gedenkstein mit Davidstern auf. Zum 70. Jahrestag des Beginns der Judenvernichtung in Riga 2011 folgte ein neuer Gedenkstein mit Informationen darüber, auf welchem Boden der Spaziergänger sich befindet. Abb. 2: Das Memorial der Großen Choralsynagoge an der Ecke Gogoļa/Dzirnavu

Foto: Svetlana Bogojavlenska, 2015

17 Simon Dubnov – jüdischer Historiker, geb. 1860 im Gouvernement Mogilev, zwischen 1922 und 1933 lebte und arbeitete Dubnov in Berlin, im April 1933 flüchtete er nach Riga. Dubnov wurde 1941 bei einer der Massenerschießungsaktionen in Rumbula ermordet. 26

Neue und alte jüdische Orte in Riga

Auch die Massengräber in Rumbula und Biķernieki sollten als solche gekennzeichnet und entsprechend markiert werden. 1990 wurde ein zusätzlicher Gedenkstein an der Einfahrt zu den Massengräbern in Rumbula aufgestellt, der zum ersten Mal eindeutig zeigte, dass es sich hier um jüdische Opfer handelte. 2002 wurde an dieser Stelle das Holocaustmahnmal, entworfen von Rižs, errichtet. Im Wald von Biķernieki, wo das Memorial 2001 entstand, hat derselbe Architekt auch die Gräber verschiedener Opfergruppen mit entsprechenden Zeichen versehen, darunter auch mit dem Davidstern. Beide Gedenkstätten wurden von Privatspenden und vor allem durch Geld aus Deutschland (z. B. vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge) finanziert. Für das Rumbula-Memorial stand nebst Spenden aus Deutschland, Israel und den USA auch Geld lettischer Regierungsinstitutionen zur Verfügung. Davon abgesehen ist eine Beteiligung des lettischen Staates an der Finanzierung der mit dem Holocaust in Lettland verbundenen Erinnerungsorte kaum festzustellen. 1989 hat der den Holocaust überlebende Historiker Marģers Vestermanis in dem Gebäude der jüdischen Gemeinde das Museum und Dokumentationszentrum „Juden in Lettland“ gegründet.18 Das Museum spielte eine herausragende Rolle bei der Thematisierung und Aufarbeitung des Holocausts in Lettland, weshalb an dieser Stelle kurz auf die Biographie des Gründers und Leiters des Museums eingegangen werden muss. Vestermanis wurde 1925 in Riga als drittes Kind der Familie des Textilfabrikanten Abram Vesterman, eines kurländischen Juden, geboren. In der Familie sprach man, wie für gebildete Juden in Riga üblich, Deutsch, Lettisch und Russisch. Vestermanis verlor beide Eltern und Geschwister durch die Erschießung in Rumbula. Er selbst hat den Holocaust wie durch ein Wunder überlebt: zuerst im Rigaer Ghetto, danach im KZ Kaiserwald in Riga. Im Juli 1944, während des Transportes aus dem Außenlager des KZ Riga-Kaiserwald in Dondangen/Dundaga (dieses existierte zwischen November 1943 und August 1944) ist ihm in den kurländischen Wäldern die Flucht aus der Kolonne gelungen. Laut seiner Erzählung war er nicht der einzige, der versuchte zu fliehen: mehrere Menschen sind aus der Kolonne Richtung Wald aufgebrochen. Er war jedoch der Einzige, der den Wald erreichte. In den Wäldern hat er sich einer lettischen Partisaneneinheit angeschlossen, die gegen die NS-Besatzung kämpfte.19 Er überlebte wiederum als Einziger. Nach dem Krieg studierte Vestermanis in Riga Geschichte und arbeitete unter anderem im Revolutionsmuseum und im historischen Archiv. Über 18 www.ebrejumuzejs.lv, 16.07.2015. 19 Dazu im Interview einer lettischen Zeitung: http://nra.lv/latvija/151188-margers-vestermanis-ulmanim-nebija-beglu-krizes.htm, 10.11.2015. 27

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Abb. 3: Marģers Vestermanis im ersten Büro des Museums „Juden in Lettland“

Foto: Svetlana Bogojavlenska, 1998

die Jahre hinweg blieb sein Hobby jedoch die Sammlung von Dokumenten und Zeugenaussagen zur Vernichtung der Juden in Lettland. So bestand die erste Sammlung des Dokumentationszentrums und Museums am Anfang aus seinem Privatarchiv. Unterstützt wurde er von einigen Freunden und Verwandten. Noch bevor eine erste Ausstellung präsentiert werden konnte, veröffentlichte Vestermanis 1990 einen Stadtführer über das jüdische Riga, Fragments of the Jewish

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history of Riga,20 mit der finanziellen Unterstützung der Memorial Foundation for Jewish Culture21. Das Büchlein selbst ist auf das Jahr 1991 datiert. Es wurde in einer Typographie ohne offizielle Erlaubnis des im Jahre 1990 noch existierenden Zensurkomitees des Schriftstellerverbandes der Lettischen Sowjetischen Sozialistischen Republik gedruckt. In den Wirren der Übergangszeit bestand die Hoffnung, dass es 1991 keine Zensur in Lettland mehr geben werde. Dies war die erste Veröffentlichung zur jüdischen Geschichte in Lettland seit 1940.22 Einige Holocaust-Überlebende unterstützten die Gründungsinitiative von Marģers Vestermanis ehrenamtlich. 1990 wurde im Gemeindehaus die erste kleine Ausstellung in einer alten Vitrine des Hauses für Politische Bildung, die für diesen Zweck mit einem Davidstern und dem lettischen Kreuz Auseklis geschmückt wurde, eröffnet. Die Materialien dafür haben die Überlebenden geliefert. Die Exponate wurden jeden Abend herausgenommen und im Safe in einem kleinen Zimmer im dritten Stock des Gemeindehauses, das als Arbeits- und Lagerraum des Museums diente, bis zum nächsten Morgen aufbewahrt. Im Jahr darauf wurde in derselben Vitrine eine Thematik präsentiert, die bis dahin in Lettland kaum bekannt war: eine Sammlung von Fotos der Menschen, die Juden während des Krieges gerettet haben. Damit hatte Vestermanis die zukünftige Ausrichtung des Museums festgelegt: nicht nur die Verbrechen des Holocausts zu zeigen, sondern auch die Heldentaten der Judenretter seitens der jüdischen Gemeinde zu würdigen. Aus den gesammelten Akten und den Photographien aus der vernichteten jüdischen Welt entstand 1996 dank Spenden aus Deutschland eine kleine permanente Ausstellung in zwei Räumen. Der erste Raum zeigte das jüdische Leben in Lettland vor 1941, der zweite den Holocaust. Bis 1998 konnte das Museum nur dank ehrenamtlicher Arbeit seine Tätigkeit durchführen. Um die Unterstützung des Staates musste das jüdische Museum sich noch bemühen. Selbst um die Anerkennung von Seiten der offiziellen Vertreter der jüdischen Gemeinde wurde jahrelang gerungen. Die neue Gemeinde bestand größtenteils aus Juden, die aus anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion stammten 20 Vesterman, 1990. 21 The Memorial Foundation for Jewish Culture wurde 1965 in New York von dem bekannten jüdischen Zionisten Dr. Nahum Goldmann gegründet, um die Revitalisierung des jüdischen Lebens nach dem Holocaust mit deutschem Reparationsgeld zu unterstützen. www.mfjc.org/mission.html, 15.07.2015. 22 Kurzer Lebenslauf und Veröffentlichungsliste von Vestermanis, die zum Anlass der Verleihung der Ehrendoktorwürde 2007 zusammengestellt wurden, befinden sich auf der Web-Seite der Lettischen Akademie der Wissenschaften: www.lza.lv/ZV/ zv071200.htm#7, 10.11.2015. 29

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und für die die Geschichte der Juden Lettlands fremd war. Die Wiederbelebung der jüdischen Kultur selbst bündelte alle Kräfte der Gemeindemitglieder und stellte die historische Aufarbeitung hintan. Erst Anfang des neuen Jahrtausends erhielt das Museum für seine Sammlung neue Arbeitsräume und konnte die Ausstellung um einen großen Saal erweitern. Danach folgte die Eingliederung in die Gemeinde als eine der Struktureinheiten. Die kleine Ausstellung war ein Magnet für historisch interessierte Besucher. Viele Schulklassen wurden von ihren Geschichtslehrern ins Museum geführt. Die meisten Kinder hatten hier zum ersten Mal Kontakt mit dem Judentum, hörten und sahen dann auch zum ersten Mal eine andere, nicht nur auf die Letten zentrierte, Version der Geschichte Lettlands in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg. Sie konnten den Holocaust auf der Basis der persönlichen Geschichten wahrnehmen und sich damit auseinandersetzen. Die staatliche sowjetische Erinnerungspolitik, welche die Interpretationshoheit der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges beansprucht hatte, wirkte auch in den Jahren nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit in Lettland. Die Entdeckung und die Betonung der Leidensgeschichte der Letten verdrängten die Massaker an den Juden in Lettland aus der öffentlichen Erinnerungskultur. Der Holocaust wurde lange Zeit nicht als Tragödie Lettlands, sondern nur als privates Leid der Juden verstanden. Es wurde die Angst geschürt, dass die Ansichten der Menschen bestätigt würden, die in allen Letten willige Helfer des NS-Regimes gesehen haben, wenn man den Holocaust in Lettland erforschen würde. Selbst Geschichtsstudenten pflegten in den 1990er Jahren zu behaupten, die Juden würden dem ganzen lettischen Volk die Schuld an dem Holocaust geben. Gegen dieses Vorurteil arbeitete das Museum mit allen Mitteln.23 Erst nach und nach konnte die Öffentlichkeit durch die Forschung, die vom Museum Juden in Lettland angestoßen und vom Institut der Geschichte Lettlands und der lettischen Historikerkommission24 betrieben wurde, davon überzeugt werden, dass es keinesfalls das ganze lettische Volk war, das am Holocaust be23 1996 thematisierte Vestermanis die Probleme der Holocaustforschung in Lettland zuerst im deutschen Sprachraum: Vestermanis, 1996 (Bd. 5), 35-45. 24 Die Lettische Historiker-Kommission wurde 1998 gegründet um mit Beteiligung ausländischer Historiker die Verbrechen des sowjetischen und des nationalsozialistischen Regimes in Lettland zu erforschen. Marģers Vestermanis arbeitet in der Holocaust-Gruppe. Vgl. www.president.lv/pk/content/?cat_id=7&lng=en, 15.07.2015. Für seine Rolle bei der Popularisierung und Erforschung des Holocausts wurde Vestermanis 2003 mit dem Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland und 2006 mit der höchsten Auszeichnung des lettischen Staates, dem Drei Sterne-Or30

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teiligt war, sondern ganz bestimmte, namentlich bekannte und größtenteils noch durch die sowjetische Justiz verurteilte Individuen waren. Mit der Aufarbeitung der Geschichte des Holocausts stieg auch die Akzeptanz der lettischen Gesellschaft gegenüber der Tätigkeit des jüdischen Museums. 2001 wurde in Zusammenarbeit mit dem Außenministerium Lettlands und der Historikerkommission die Wanderausstellung Latvia’s Jewish Community. History, Tragedy, Revival durch Lettland geführt.25 Im gleichen Jahr wurde das Museum als erstes privates Museum vom Staat akkreditiert und bekam finanzielle Hilfe. 2006 behauptete der lettische Historiker und Professor an der Universität Lettlands, Aivars Stranga, dass das Ziel der Aufarbeitung des Holocausts in Lettland sei, die jüdische Tragödie zum Teil der historischen Erinnerung der gesamten Bevölkerung Lettlands zu machen.26 Einen großen Schritt in diese Richtung konnte man 2011 verzeichnen, als im lettischen Okkupationsmuseum in Zusammenarbeit mit dem Museum Juden in Lettland die Ausstellung Rumbula. 1941. Anatomie des Verbrechens eröffnet wurde.27 Das Museum Juden in Lettland wurde nicht als klassisches Holocaustmuseum konzipiert. Es ist mehr als Museum der jüdischen Geschichte in Lettland zu verstehen. Im Gegensatz dazu wurde 2010 von dem jüdischen Verein Schamir das Riga Ghetto Museum auf der Grenze zum einstigen Rigaer Ghetto in der Moskauer Vorstadt eröffnet und ist ein Museum unter freiem Himmel. Der Besucher läuft über das originale Pflaster, das aus den Straßen des Ghettos herausgenommen und an diese Stelle gelegt wurde, entlang den Ausstellungswänden mit den Namen der ermordeten Juden.28 Somit entstand in der Moskauer Vorstadt der dritte Erinnerungsort mit Holocaustbezug.

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den, dekoriert. 2007 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Lettischen Akademie der Wissenschaften verliehen. Als Begleitung dazu wurde von der lettischen Historikerkommission und dem Außenministerium das gleichnamige Buch in lettischer, russischer und englischer Sprache herausgegeben. Vgl. Dribins, 2001. Stranga, 2006, S. 22 http://okupacijasmuzejs.lv/izstade-rumbula-nozieguma-anatomija1941, 15.07.2015. Das lettische Okkupationsmuseum wurde 1993 als privates Museum von Exilletten gegründet und konzentriert sich auf die sowjetische Besatzung und Deportationen der Letten. Die neu geplante permanente Ausstellung, die für den Neubau des Museums konzipiert wurde, beinhaltet den Abschnitt Der Holocaust als Massenmord an lettischen Staatsbürgern. Vgl. Nollendorfs, 2014, S. 203-223. www.rgm.lv, 16.07.2015. 31

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Auch die Entstehungsgeschichte der zwei Erinnerungsorte, welche die Rettung der Juden durch die nichtjüdische Bevölkerung thematisieren, ist von der gesellschaftlichen Kontroverse um die Rezeption des Holocausts in Lettland gezeichnet und zeigen den langen Weg von der Ablehnung bis zur staatlichen und gesellschaftlichen Anerkennung der Helden. Auch hier spielte das Museum Juden in Lettland und seine Forschungen eine herausragende Rolle. Eines der wichtigsten Anliegen Abb. 4: Das Museum des Rigaer Ghettos

Foto: Svetlana Bogojavlenska, 2015

des Museums war und bleibt die Forschung zur Rettung der Juden in Lettland und die Honorierung der Retter.29 In einem gesonderten Raum ist die sog. Topographie der Rettung auf einer Lettland-Karte zu sehen. Dank der Bemühungen des Museums ist das Thema der Judenrettung in Lettland tatsächlich Teil des nationalen Narrativs geworden. Im Jahre 2000 wurden, auf Empfehlung des Museums, die noch lebenden vier Retter der Juden mit der höchsten Auszeichnung des Staates, dem Drei Sterne-Orden, ausgezeichnet.30 Im gleichen Jahr zeigte das staatliche Fernsehen den ers29 Im deutschsprachigen Raum veröffentlichte Vestermanis schon 1998 einen Beitrag über die Judenretter in Lettland: Vestermanis, 1998, 237-272. 30 Einige von ihnen waren schon Jahre vorher von Yad Vashem und dem Staat Israel mit der Medaille Righteous Among the Nations ausgezeichnet worden. Vgl. Liste der Ausgezeichneten aus Lettland www.yadvashem.org/yv/en/righteous/statistics/latvia.pdf, 16.07.2015. 32

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ten Teil des dreiteiligen Dokumentarfilmes Žanis und andere über die Judenretter in Lettland, dessen Entstehungsidee und Drehbuch ebenfalls auf Vestermanis zurückgingen. Der Film wurde von dem in Lettland bekannten Dokumentationsregisseur Rodrigo Rikards gedreht. Die Pressestimmen waren durchaus positiv und betonten die Bedeutung der Beschäftigung mit der Rettung der Juden als wichtigen Schritt auf dem Weg der Verarbeitung des Holocausts. Somit zeige Lettland der Welt, dass im Lande nicht nur Täter, sondern auch Judenretter zu finden sind.31 Auch das Haus des Judenretters Žanis Lipke, der mehr als 50 Juden in Riga gerettet hat, auf der anderen Seite des Flusses Daugava gelegen, wurde in diesem Jahr mit einer Gedenktafel, die von der Staatspräsidentin Vaira Vīķe-Freiberga bei starker medialen Präsenz enthüllt wurde, versehen. Abb. 5: Mazā Balasta dambis – die Straße, in der das Haus der Familie Lipke steht

Foto: Benjamin Conrad, 2014

2007 wurde auf dem Platz neben dem Memorial der Großen Choralsynagoge das Judenretter-Dankbarkeitsmemorial nach dem Entwurf der lettischen Architektin Elīna Lazdiņa eröffnet. Schräge Pfeiler stützen eine Wand mit den Na-

31 Vgl. z. B. www.diena.lv/arhivs/saveji-un-glabeji-10735248, 16.07.2015. 33

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men der 270 bekannten Retter der Juden.32 Finanziert wurde die Gedenkstätte vom lettischen Staat, dem Rigaer Stadtrat, dem Rat der jüdischen Gemeinden Lettlands und durch Spenden verschiedener Privatpersonen.33 Somit hat sich die Symbolik des Ortes verschoben: Am Orte des Grauens und der Vernichtung danken die nachfolgenden Generationen sowohl der Juden als auch der Letten denjenigen, die Mut gefunden haben, Heldentaten zu vollbringen und Menschenleben zu retten. Abb. 6: Das Judenretter-Denkmal vor der Großen Choralsynagoge an der Ecke Gogoļa/Dzirnavu

Foto: Svetlana Bogojavlenska, 2015

Am 30. Juli 2013 kam es zu einer weiteren Memorialisierung der Rettungsgeschichte, die zeigt, welche Fortschritte die Erinnerung an den Holocaust und die Rettung der Juden in der lettischen Gesellschaft seit 1991 gemacht hat. Diese Initiative kamen im Jahr 2000 aus der Mitte der lettischen Gesellschaft: der lettische Politiker und Unternehmer Māris Gailis34 und seine Familie kamen auf die Idee, auf dem Grundstück der Familie Lipke in Riga das Žanis Lipke-Memorial zu bauen. Die Bauarbeiten begannen jedoch erst 2006 und wurden überwiegend 32 Auch hier nicht ohne Beteiligung des Museums Juden in Lettland: Die Liste wurde von Vestermanis zusammengestellt. Bis 2015 wurden von ihm schon 600 Fälle der Judenrettung registriert. 33 www.jews.lv/content/pamyatnik-zhanisu-lipke, 16.07.2015. 34 1994-1995 Ministerpräsident Lettlands. 34

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Abb. 7: Das Žanis Lipke-Memorial

Foto: Benjamin Conrad, 2014

aus privaten Spenden finanziert. Die Aufgabe des Memorials, das eine kleine Ausstellung über Lipke zeigt, ist unter anderem die Suche nach seiner Persönlichkeit. Das minimalistische Holzgebäude soll an die Arche Noah erinnern, die Zuflucht und das Versprechen Gottes an die Menschheit verkörpert, die Menschen nicht mehr vernichten zu wollen. In der Mitte des Gebäudes schaut man in die Tiefe, wo der Bunker, in dem Lipke acht bis zwölf Juden gleichzeitig versteckte, originalgetreu nachgebaut wurde.35 Der Besucher kann den Bunker jedoch nicht betreten. Das Konzept wird von der künstlerischen Leitung des Memorials folgendermaßen begründet: „By making this bunker inaccessible to the visitors, who can only look at it from afar, the architect emphasizes that the memorial is not aimed at making one identify with the people who once found shelter there or to foster one’s sense of history by simple, almost childish means. The notions of hiding, hope, rescue and courage of which this place speaks should be able to transcend the memory of the particular historical event and acquire a wider and deeper significance.“36 35 Das Originalversteck wurde nach dem Krieg zugeschüttet. Das Memorialgebäude steht nicht auf dem Gelände, wo es sich befand. 36 www.lipke.lv/en/museum/zanis-lipke-memorial, 16.07.2015. 35

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So durchlebten die Orte mit jüdischem Bezug in Riga verschiedene Phasen: Eine fast unbemerkte Existenz außerhalb der Stadttore am Anfang der jüdischen Geschichte in Riga. Danach der architektonische Boom mit repräsentativen Gebäuden in der Vorstadt, im Zentrum und in der Altstadt. Dieser Blütezeit des jüdischen Lebens folgte die Vernichtung der Juden im Zweiten Weltkrieg und die faktische Leugnung ihrer Präsenz in der Sowjetzeit mit der Entfremdung der jüdischen Orte und dem Verbot der Musealisierung und Memorialisierung. Auch die Entstehung der Museen und der Mahnmale nach 1991 war nicht einfach und wurde dezentral ausgeführt. Alles, was man heute als jüdische Orte in Riga sieht, entstand aus privaten Initiativen. Auch wenn die ganze jüdische Bevölkerung Lettlands heute nur noch aus ca. 6000 Personen besteht, decken die jüdischen Stätten heute wieder die Hauptgebiete der Stadt Riga ab. Von den Denkmälern in Rumbula und Biķernieki an den Außengrenzen der Stadt, über die Moskauer Vorstadt mit der jüdischen Schule, dem Riga Ghetto Museum und drei weiteren Erinnerungsorten, über das Haus der jüdischen Gemeinde mit dem Museum, bis zur 2008 renovierten Synagoge in der Altstadt und über den Fluss Daugava hinaus zum Memorial für Žanis Lipke spiegeln die „altneuen“ Orte die ganze Fülle der jüdischen Geschichte in Lettland repräsentativ in einer Stadt wider.

Literatur Ahola, Joonas u. a. (Hg.), Baltijas reģions. Konflikti un sadarbība. Ceļā no pagātnes uz nākotni, Tallinn 2005. Angrick, Andrej/Klein, Peter, Die „Endlösung“ in Riga: Ausbeutung und Vernichtung 1941-1944 (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart 6), Darmstadt 2006. Bogojavlenska, Svetlana, Die jüdische Gesellschaft in Kurland und Riga 1795-1915, Paderborn 2012. Dribins, Leo u. a. (Hg.), Latvia’s Jewish Community. History, Tragedy, Revival, Riga 2001. Lieven, Anatol, The Baltic Revolution. Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence, New Haven 1993. Nollendorfs, Valters, Das lettische Okkupationsmuseum und Public History: Einsichten und Aussichten, in: Tradition und Neuanfang. Forschungen zur Geschichte Lettlands an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert (Mainzer Beiträge zur Geschichte Osteuropas 7), hg. von Svetlana Bogojavlenska/ Jan Kusber, Berlin 2014, S. 203-223. 36

Neue und alte jüdische Orte in Riga

Stranga, Aivars, Holokausta vēstures pētniecība un holokausta piemiņa Latvijā, in: Holocaust in Latvia. Materials of an International Conference 3-4 June 2004, Riga and the Holocaust Studies in Latvia in 2004-2005 (Symposium of the Commission of the Historians of Latvia 18), hg. von Dzintars Ērglis, Riga 2006, S. 13-32. Šac-Anin, Max, Evrei v Latvii, in: Maks Šac-Anin. Žizn’, nasledie, sud’ba, hg. von Grigorij Smirin, Riga 1998, S. 96-143. Šneidere, Irēne, Latvijas ebreji un padomju režīms, 1944-1953, in: Latvijas ebreji un padomju vara 1928-1953. Zinātnisks apcerējums, hg. von Leo Dribins, Riga 2009, S. 215-255. Vesterman, Marger, Fragments of the Jewish History of Riga. A Brief Guide-Book with a Map for a Walking Tour. Riga 1991 (Sic!) [1990]. Vestermanis, Marģers, Juden in Riga. Auf den Spuren des Lebens und Wirkens einer ermordeten Minderheit. Ein historischer Wegweiser, 2. Aufl., Bremen 1996. Ders., Der Holocaust im öffentlichen Bewusstsein Lettlands, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 5, Berlin 1996, S. 35-45. Ders., Retter im Lande der Handlanger: zur Geschichte der Hilfe für Juden in Lettland während der „Endlösung“, in: Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit. Regionalstudien, Bd. 2, hg. von Wolfgang Benz/Juliane Wetzel, Berlin 1998, S. 231-272.

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Willy Brandt und Warschau Denkmal, Symbol, Erinnerungsort? Lisa Bicknell Man muss als Deutscher noch nie in Warschau gewesen sein, um einen zentralen Ort genau vor Augen zu haben: Das Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettoaufstandes im Stadtteil Muranów. Hier kniete Willy Brandt am 7. Dezember 1970 und schuf damit ein Symbol für seine ganz eigene Art der Außenpolitik. Zeitgenössisch erntete er dafür nicht nur Verständnis, im Laufe der Jahre blieben aber nur die klar positiven Elemente dieser Geste im kulturellen Gedächtnis der Deutschen verankert. Im Jahr 2001 wurde dem Kniefall als Ereignis gar ein eigenes Kapitel in der ersten Ausgabe der Deutschen Erinnerungsorte von Etienne François und Hagen Schulze gewidmet.1 Der vorliegende Beitrag möchte den (deutschen) Leser an diesem Punkt abholen und anhand verschiedener Stationen die Komplexität der Rezeptionsgeschichte des Kniefalls aufzeigen. Vor dem Hintergrund der durchgeführten Untersuchung lässt sie sich sogar im heutigen Stadtbild Warschaus erkennen. Der Aufsatz soll somit ermutigen, in jeglicher Hinsicht hinter die Kulissen zu blicken und den (stadt-)historischen Horizont zu erweitern. Das Fragezeichen hinter dem Begriff des „Erinnerungsortes“ im Untertitel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gerade der polnischen Erinnerung an Brandt, den Kniefall 1970 und seinen zweiten Warschau-Besuch 1985, ein durchaus ambivalentes Bild des Kanzlers zugrunde liegt. In Polen hat Brandt ungewollt seit jeher polarisiert und ist dennoch oder gerade deswegen schließlich in einem Denkmal verewigt worden. Der lange Weg dorthin, der mit dem Kniefall am Ghettodenkmal beginnt und 30 Jahre später am anderen Ende desselben Platzes endet, soll im folgenden Aufsatz nachgezeichnet werden.

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Krzemiński, 2009, S. 431-446. 39

Lisa Bicknell

Der Kniefall am Denkmal für die Helden des Ghettoaufstandes Abb. 1: Bundeskanzler Brandt bei der Kranzniederlegung am Mahnmal für die Helden des Ghetto-Aufstandes

Foto: Stanisław Czarnogórski/PAP, Abdruck genehmigt

Der historische Rundgang beginnt zwangsläufig in der Ludwik Zamenhof-Straße (Ulica Ludwika Zamenhofa), mitten im ehemaligen Ghettogelände.2 Am großen Platz im Zentrum des Stadtteils wurde im Jahr 1948 das Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettoaufstandes errichtet, das vom jüdischen Bildhauer Nathan Rappaport entworfen worden war. Es hat zwei Seiten, ein expressionistisches Relief, das eindrucksvoll an Szenen des Jüngsten Gerichtes erinnert und ein kleineres, abgegrenztes Relief auf der Rückseite, der Straße zugewandt. Die bei weitem bekanntere Seite des 2

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Ludwik Zamenhof (1859-1917) war als Erfinder der europäischen Kunstsprache Esperanto einer der bekanntesten polnischen Juden in Europa.

Willy Brandt und Warschau

Abb. 2: Mahnmal für die Helden des Ghetto-Aufstandes, Vorderseite

Foto: Lisa Bicknell, 2015

Abb. 3: Mahnmal für die Helden des Ghetto-Aufstandes, Rückseite

Foto: Benjamin Conrad, 2009

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Lisa Bicknell

Denkmals blickt auf einen großen Platz, auf dem sich heute mittig das Museum der Geschichte der polnischen Juden befindet. 1970 war dieser Platz unbebaut, lediglich das Denkmal ragte auf einer Seite empor. Am Fuße des Denkmals befinden sich die drei Stufen, die Brandt seinerzeit emporstieg, um den niedergelegten Kranz zu richten. Wir können heute davon ausgehen, dass die Geste des Kniefalls ein spontaner Akt Brandts war – jedenfalls hat bislang niemand seine Behauptung widerlegen können. Der Besuch des Denkmals an sich ist jedoch auf besonderen Wunsch Brandts ins diplomatische Protokoll aufgenommen worden – dass dies für ihn ein Ort außerordentlicher Signifikanz war, ließ sich demnach schon vor dem Besuch erkennen. In seinen Erinnerungen schrieb Brandt hierzu: „Ich hatte nichts geplant, aber Schloß Wilanów, wo ich untergebracht war, in dem Gefühl verlassen, die Besonderheit des Gedenkens am Ghetto-Monument zum Ausdruck bringen zu müssen. Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“3

Die Architektur des Denkmals selbst und die Atmosphäre vor Ort mag schließlich ihr Übriges dazu beigetragen haben, dass es zu gerade dieser Geste kam: Das Aufsteigen über die flachen Stufen und die Wirkung des heroischen Ausdruckes der dargestellten Helden lassen diese Bewegung tatsächlich halbwegs natürlich, gar dynamisch erscheinen. Durch die Stufen war das Knien und Aufstehen nicht mühsam und das Verneigen vor den Helden eine Geste der Andacht und des Innehaltens. An diesem Ort trafen sich die Opfergeschichten der ermordeten Juden und der ermordeten Polen in damals einmaliger Weise. Als für ihn zentralen Programmpunkt auf der Reise des Bundeskanzlers, der seiner Außenpolitik die Maxime der Annäherung, des Überwindens der schrecklichen Vergangenheit vorangestellt hat, wird dieser Ort an Bedeutung alle anderen übertroffen haben. Dass die Reise aus emotionaler Sicht nicht einfach war, zeigte sich wohlgemerkt schon bei der Ankunft am Warschauer Flughafen. Dort beobachtete der damalige Chefredakteur der Warschauer Wochenzeitung Polityka, Mieczysław Rakowski, die verkrampften Gesichtszüge des Kanzlers: „Brandt stanał przed sztandarem WP skłonił się głeboko i przed frontem kompanii następnie poszedł do nas. Bartol (Szef Protokołu Dyplomatycznego MSZ) przedstawił mu kolejne osoby. Zauważyłem, że twarz kanclerza 3 42

Brandt, 1989, 214.

Willy Brandt und Warschau mieni się niezwykłymi uczuciami. Widać było na niej ogromne napięcie, a po co policzkach płynęły mu łzy. Kiedy Bartol przedstawił mnie, w kącikach ust Brandta pojawił się lekki uśmiech. Było to pierwszy moment odprężenia. Podałem mu rękę i powiedziałem Herzlich Willkommen in Warschau.” [Brandt erstarrte vor den Fahnen der Polnischen Armee, verneigte sich tief auch vor der Kompanie und kam als nächstes zu uns. Bartol (Protokollchef des Außenministeriums) stellte ihm die Personen der Reihe nach vor. Ich beobachtete, dass das Gesicht des Kanzlers von starken Gefühlen gezeichnet war. Es war auf ihm eine starke Anspannung zu sehen, wie als ob ihm Tränen über die Wange liefen. Als Bartol mich vorstellte, erschien in Brandts Mundwinkeln ein leichtes Lächeln. Es war der erste Moment der Entspannung. Ich gab ihm die Hand und sagte Herzlich Willkommen in Warschau (im Original auf Deutsch).]4

Die Rezeption des Kniefalls und der Person Willy Brandts ab 1970 Derselbe Rakowski kommentierte auch den Kniefall selbst in seinem Tagebuch, das erst nach der Wende in Polen erschien: „Po południu w centrum prasowym w Hotelu Europejskim. Nastrój podniecenia, pijemy koniak i rozmawiamy na różne tematy. Najżywiej komentowane jest uklęknięcie Brandta przed pomnikiem Bohaterów Getta. Byłem obecny przy tym i rzeczywiście stało się coś wielkiego, historycznego. Czułem, że łzy napływają mi do oczu. Wracając spod pomnika z Nannenem i Klausem von Bismarckiem, nie mogłem wykrztusić z siebie ani jednego słowa. Brandt zaskakuje, wymaga szacunku i podziwu…” [Am Nachmittag im Pressezentrum im Hotel Europa. Angeregte Stimmung, wir trinken Cognac und unterhalten uns über verschiedene Themen. Am lebhaftesten kommentiert wurde der Kniefall Brandts vor dem Denkmal der Helden des Ghettos. Ich war direkt dabei und es ereignete sich tatsächlich etwas Großartiges, Historisches. Ich fühlte, dass mir Tränen in die Augen schossen. Ich ging gemeinsam mit [Henri] Nannen und Klaus von Bismarck vom Denkmal weg und brachte selbst kein einziges Wort heraus. Brandt überrascht, er verdient Achtung und Bewunderung.]5 4 5

Rakowski, 2001, S. 267. Rakowski, 2001, S. 269. 43

Lisa Bicknell

Für den polnischen Brandt-Bewunderer war die Bewertung der Geste klar, nicht wenige waren jedoch auch irritiert. So berichtete z. B. Hans Gerlach, damals politischer Redakteur des Kölner Stadt Anzeigers: „Es wurde danach viel gerätselt, ob der Kniefall spontan erfolgt oder vorher bedacht war. Aus Brandts Umgebung hieß es, er sei an diesem Morgen besonders nachdenklich erschienen, habe vielleicht ein solches Zeichen erwogen; aber der letzte Entschluß dazu sei dem Kanzler wohl doch erst vor dem mächtigen Granitblock gekommen, der die Aufständischen darstellt, Männer, Frauen und Kinder zwischen diesen beiden ewigen Feuern. Das Foto dieser Szene ging um die Welt. Doch unter den polnischen Jugendlichen, mit denen ich abends zusammensaß, gab es auch ein, zwei kritische Stimmen. Die Kranzniederlegung am Grabmal des Unbekannten Soldaten, die Polen insgesamt galt, habe dadurch an Bedeutung eingebüßt. Ich widersprach, und wir einigten uns schließlich, auf jeden Fall sei der Besuch insgesamt gelungen und eine große Sache.“6

Auch Carlo Schmid soll dies Brandt gegenüber bestätigt haben: „Auf polnischer Seite registrierte ich Befangenheit. Am Tage des Geschehens sprach mich keiner meiner Gastgeber hierauf an. Ich schloss, daß auch andere diesen Teil der Geschichte noch nicht verarbeitet hatten. Carlo Schmid, der mit mir in Warschau war, erzählte später: Man habe ihn gefragt, warum ich am Grabmal des Unbekannten Soldaten nur einen Kranz niedergelegt und nicht gekniet hätte.“7

Ministerpräsident Cyrankiewicz, der Brandt und der deutschen Delegation gegenüber sehr aufgeschlossen war, äußerte sich jedoch wiederum positiv, mit sehr persönlichen Worten: „Am nächsten Morgen, im Wagen auf dem Weg zum Flugplatz, nahm mich Cyrankiewicz am Arm und erzählte: Das sei doch vielen sehr nahe gegangen; seine Frau habe abends mit einer Freundin in Wien telefoniert, und beide hätten bitterlich geweint.“8 Das Medienecho in Deutschland ist ausführlich untersucht worden und soll daher nicht Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes sein.9 Als Adressatenstaat 6 7 8 9 44

Gerlach, 1987, S. 74. Brandt, 1989, S. 215. Ebd. Behrens, 2010; Schneider, 2006; Wolffsohn, 2005.

Willy Brandt und Warschau

der Geste und Rahmengeber ist vor allem die polnische Reaktion spannend, die bislang kaum untersucht wurde. Namhafte polnische Wissenschaftler und Deutschlandexperten haben sich zwar in Artikeln und Interviews zum Thema geäußert,10 jedoch sind manche Aussagen – mangels fundierter Recherche – teils lückenhaft bis widersprüchlich. Die davon abgeleiteten Interpretationen mögen den deutschen Leser noch zusätzlich in die Irre führen. Besonders die Aussagen des polnischen Publizisten und Deutschlandexperten Adam Krzemiński scheinen ungewollt Missverständnisse hervorzurufen. So schreibt z. B. Friedhelm Boll, dass Krzemiński 1970 sein erstes Interview mit Willy Brandt führte, welches seinen Zeitzeugenaussagen natürlich besonderen Wert verleihen würde.11 Tatsächlich führte das einzige bedeutsame Interview im Dezember 1970 aber Rakowski, Krzemińskis „Vorgänger“ im inoffiziellen Amt des Deutschlandexperten, von dem bereits die oben zitierten Zeitzeugenberichte stammen.12 Krzemiński hat in der im selben Band dokumentierten Podiumsdiskussion sogar seine drei Treffen mit Brandt aufgezählt, wobei er das erste Interview auf das Jahr 1985 datiert.13 Am 7. Dezember 1970 hat er nach eigener Aussage Günther Grass interviewt, mit dem er unter anderem über den Kniefall diskutierte.14 Auch Krzemińskis Aussagen zur Zensur des Kniefall-Bildes sind in der Literatur vielfach missverstanden worden. So liest sich sein Beitrag zum Kniefall in den „Deutschen Erinnerungsorten“ so, als ob das Bild des Kniefalls in Polen in den Tages- und Wochenzeitungen, die unmittelbar nach den Ereignissen erschienen, zwar gedruckt, aber unten abgeschnitten worden war: „Der Kniefall selbst war kurz in der Tagesschau des polnischen Fernsehens und in der Wochenschau, die damals noch vor jedem Hauptfilm in den Kinos gezeigt wurde, zu sehen, auch die Zeitungen brachten ihn im Kleinformat, doch die Zensurbehörde hatte die Vorschrift, das Bild nicht allzu exponiert herausstellen zu lassen. Das zugelassene Bild zeigte zudem eine bezeichnende Einstellung, der Agenturphotograph hatte es schräg von vorne geschossen, somit schien der Bundeskanzler vor einem polnischen Soldaten 10 Ruchniewicz, 2009, S. 46; Borodziej, 2007, S. 116f.; Krzemiński, 2001, S. 442f.; Krzemiński u. a., 2010, S. 301. 11 Boll, 2010, S. 9. 12 O. V., Polityka 12.12.1970b. 13 Krzemiński, 2010, S. 303f. Er erwähnt zunächst ein Interview aus dem Jahr 1985, später eine Begegnung im September 1989 und schließlich das „dritte Treffen“ mit Brandt „nach der Öffnung der Mauer“. 14 Ebd., S. 301. 45

Lisa Bicknell der Ehrenwache zu knien, das Denkmal selbst war kaum erkennbar. Mit der Zeit wurde der kommunistischen Obrigkeit selbst dieses Bild zu gefährlich. Daher wurde es – so man es überhaupt druckte – auf Anweisung der Zensur unten abgeschnitten. Damit sah es so aus, als knie Willy Brandt nicht, sondern als stehe er. Auch so können Bilder ‚entschärft‘ werden.“15

In der Podiumsdiskussion der einschlägigen Tagung zu Willy Brandt und Polen aus dem Jahr 2007 wird jedoch klar, dass er aus eigener Hand vor allem über die Zensur in den Jahren danach einiges zu berichten weiß: „Alle waren gerührt und zugleich wurde das Bild durch die Zensur möglichst klein gehalten. Es gab Ängste, dass man eine Ikone des knienden Kanzlers, eine christliche Geste für zersetzend halten könnte. Das habe ich in den 1970er Jahren noch mehrmals erfahren, als ich meine Texte über die deutsch-polnischen Beziehungen mit dem Kniefall bebildern wollte. Entweder wurde das Bild konfisziert oder unten abgeschnitten, so dass Willy Brandt plötzlich vor dem polnischen Soldaten stand. Sie kennen dieses Bild, es gibt verschiedene Perspektiven: Die eine zeigt Willy Brandt und sein Gefolge von der Seite, ein anderes Bild von der polnischen Presseagentur zeigt ein Teil des Denkmals von hinten, ein polnischer Soldat hält das Gewehr und Willy Brandt kniet praktisch vor diesem Soldaten. Dieses Bild wurde zugelassen, aber nicht gerne gezeigt.“16

Im Dezember 1970 hingegen wurde tatsächlich keine einzige Version des Bildes zur Publikation zugelassen, obwohl der kniende Brandt am Abend des 7. Dezember in den polnischen Nachrichten kurz zu sehen gewesen war. Die führenden Tageszeitungen druckten stattdessen ein großes Bild von der Vertragsunterzeichnung und ein vergleichsweise unscheinbares Bild, das Brandt nach der Kranzniederlegung an einem anderen Warschauer Denkmal, dem Grab des Unbekannten Soldaten zeigt. Dies und kein anderes war das offizielle Bild der Polnischen Presseagentur PAP zu dem kaum mehr zu leugnenden Ereignis.17 Ein jüngst erschienener Fotoband zur Geschichte der Volksrepublik Polen spielt darauf in seinem Bilduntertitel an. Eine ganze Doppelseite widmet Jan Morek dem Bild Brandts nach der Kranzniederlegung am Denkmal für den Unbekann-

15 Krzemiński, 2009, S. 442f. 16 Krzemiński, 2010, S. 301. 17 Ruchniewicz, 2009, S. 46; Bicknell, 2012, S. 50f. 46

Willy Brandt und Warschau

ten Soldaten, versehen mit dem denkbar schlichten und zugleich vielsagenden Kommentar „Tutaj nie ukląkł.“ (Hier kniete er nicht).18

Zur Bedeutung des Kniefalls in Polen im Kontext der innenpolitischen Debatten Abb. 4: Bundeskanzler Brandt bei der Kranzniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten

Foto: Mariusz Szyperko/PAP; Abdruck genehmigt

Über die genauen Beweggründe für die Zensur lässt sich nur spekulieren. Klar ist, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch in Polen die Meinungen darüber auseinandergingen. Ein Teil der politischen Führung um den polnischen Innenminister Mieczysław Moczar wird sich besonders stark für eine Zensur des Bildes ausgesprochen haben: Angesichts der von Moczar im Jahr 1968 vorangetriebenen antisemitischen Kampagne in Polen hätte die mediale Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Kniefalls ihn und damit die gesamte polnische

18 Morek, 2010, S. 46f. 47

Lisa Bicknell

Regierung möglicherweise in Erklärungsnot gebracht.19 Während die offiziellen Tageszeitungen sich schließlich Punkt für Punkt an die Zensurvorgaben hielten, gelang es Rakowski in seinem Leitartikel für die liberale Wochenzeitung Polityka, wenigstens eine Andeutung zum Kniefall unterzubringen: „Już pierwsze spotkanie z nim wystarczyło, by przyznać rację tym, którzy gdy mówią o kanclerzu wskazują, iż czynnik moralny odgrywa w jego działalności ogromną rolę. Potem, już przed grobem Nieznanego Żołnierza i pomnikiem Bohaterów Getta, opinia ta znalazła pełne potwierdzenie.” [Schon das erste Treffen mit ihm [Willy Brandt] genügte, um denen Recht zu geben, die, wenn sie über den Kanzler sprechen, darauf hinweisen, dass der moralische Faktor in seiner Tätigkeit eine große Rolle spielt. Später erhielt dieser Eindruck vor dem Grab des Unbekannten Soldaten und dem Denkmal für die Helden des Ghettos seine volle Bestätigung.]20

Auch hier fällt jedoch auf, dass die Andeutung einer Geste vor dem Ghettodenkmal einer Nennung des Besuchs am Grabmal des Unbekannten Soldaten hinten angestellt wurde. Die Erinnerung an den Kniefall als moralisch auf der höchsten Stufe anzusiedelnde Geste wurde spätestens mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an Brandt 1971 gefestigt. In Polen hielten Brandt nicht nur Cyrankiewicz und Rakowski, sondern auch die ab 1976 immer bedeutender werdende Oppositionsbewegung für eine zentrale moralische Instanz, auf deren Unterstützung man hoffte. Diese Hoffnung wurde mehrfach enttäuscht: Brandt stärkte seinem Nachfolger im Bundeskanzleramt den Rücken und hielt sich wie Helmut Schmidt sehr darin zurück, die Gewerkschaftsbewegung Solidarność zu unterstützen. Als deren Anführer, Lech Wałęsa, 1983 ebenfalls mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, hätte Brandts Gratulation kaum knapper ausfallen können. Die Enttäuschung gipfelte schließlich darin, dass Brandt sich bei seinem insgesamt zweiten und letzten Polenbesuch 1985, anlässlich des 15jährigen Jubiläums des Warschauer Vertrags, nicht mit Wałęsa traf.21 Die polnische Opposition – allen voran Adam Michnik – versuchte in den 1980er Jahren krampfhaft, die „Ikone“ Brandt für sich zu vereinnahmen und die Legitimität, die seine Anwesenheit und seine Beziehungen zur Warschauer Führung, verliehen, ihren Gegnern zu entziehen. Krzemiński: „Den im Gefängnis verfassten Brief Adam Michniks an 19 Krzemiński, 2009, S. 441; Ruchniewicz, 2009, S. 46. 20 O. V., Polityka 12.12.1970a. 21 Rother, 2010, S. 232-263. 48

Willy Brandt und Warschau

Brandt aus dem Jahr 1983 oder 1984 kann man heute als Zäsur verstehen, in der die polnische Opposition dem Nobelpreisträger intellektuell und moralisch die Immunität entzog.“22 Seine Enttäuschung verhehlte Michnik auch später nicht, wie Gunter Hofmann in seiner auf Zeitzeugenaussagen basierenden Darstellung im Interview erfahren durfte: „Aber ‚wieso konnte [Brandt] sich mit Bruno Kreisky, dem österreichischen Kanzler, für Alexander Solschenizyn einsetzen, war aber nicht imstande, sich zugunsten von Solidarność zu äußern? Das war nun einmal die falsche Politik der SPD, sie hat zu sehr auf die Regierung geblickt, zu wenig auf die Gesellschaft…‘ […] Keinerlei Unterstützung der Sozialdemokraten, auch daran erinnert er im Gespräch, hatten die Polen nach der Verhängung des Kriegszustandes, keine. Seine Hauptkritik zielt darauf. Mit dem ‚idiotischen Spruch Helmut Schmidts‘ von der ‚notwendigen‘ Entscheidung Jaruzelskis habe das beim Honecker-Besuch angefangen, ‚und dann kam Brandt und küsste Józef Cyrankiewicz, traf Jaruzelski – und sprach kein Wort über uns. Niemand hat erwartet, dass er die Bundeswehr schickt. Aber ein Wort hätte er schicken können.‘“23

Schärfster Konkurrent im Buhlen um die Gunst Brandts war Rakowski, der Brandt bereits 1970 interviewt und begleitet hatte und der im Jahr 1985 das Amt des stellvertretenden Ministerpräsidenten inne hatte. Rakowski zu verdrängen und Brandts Gunst zu erzwingen, gelang der Opposition schließlich erst im Jahr 1989, nach dem Wahlerfolg in den ersten halbfreien Wahlen. Im September 1989 traf sich Brandt erstmals mit Wałęsa, die Enttäuschungen der vorangegangenen Jahre waren jedoch nicht vergessen. Krzemiński: „Ich habe Brandt im September 1989 in Bonn im Rahmen der Versöhnungsbegegnung mit Lech Wałęsa gesehen. Das war medial gut inszeniert, aber es hatte keinen besonders starken Effekt, weil das nicht zustande gekommene Treffen im Jahr 1985 noch nachwirkte.“24

22 Krzemiński, 2010, S. 305f. 23 Hofmann, 2011, S. 344f. 24 Krzemiński, 2010, S. 304. 49

Lisa Bicknell

Die Rezeption nach der Wende: Ein Denkmal für den Kniefall Es dauerte nach der Wende auch schließlich weitere zehn Jahre, bis das demokratische Polen mit Brandt seinen Frieden schloss. Im Jahr 2000 enthüllte Ministerpräsident Jerzy Buzek, von der 1997-2001 regierenden „Wahlaktion der Gewerkschaft Solidarność“, gemeinsam mit Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) dazu eigens und vielleicht auch passenderweise ein Denkmal. Dieses Denkmal zeigt den knienden Brandt, den niedergelegten Kranz und einen siebenarmigen Leuchter. Es befindet sich am gegenüberliegenden Ende desselben Platzes, an dem 1948 das Denkmal für die Helden des Ghettoaufstandes errichtet wurde. Dieser hintere Teil des Platzes heißt seitdem auch Willy Brandt-Platz (Skwer Willy Brandta). Die bei der Enthüllung des Denkmals vorhandene direkte Sicht auf das Ghettodenkmal wird heute durch das 2007-2014 mittig auf dem Platz errichtete Museum der Geschichte der polnischen Juden verdeckt. Abb. 5: Gedenktafel für den Kniefall

Foto: Lisa Bicknell, 2015

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Willy Brandt und Warschau

Abb. 6: Der Willy Brandt-Platz in Warschau

Foto: Lisa Bicknell, 2015

Krzemiński sieht die Enthüllung des Denkmals durch Buzek als eine Art „Versöhnungsgeste“ der Solidarność gegenüber dem verstorbenen Brandt und seinen deutschen Sozialdemokraten.25 Ganz im Sinne einer solchen Versöhnung distanzierte sich Schröder im Jahr 2000 in seiner Rede vor dem polnischen Sejm von der damaligen Haltung seiner Partei und Brandt zur polnischen Oppositionsbewegung und übernahm damit die Sicht seiner polnischen Partner.26 Somit schloss auch Schröder sich der Lesart Michniks an, die viele seiner Parteigenossen ebenfalls schon lange übernommen hatten. Ob Schröder damit der Erinnerung an Brandt und der durchaus umsichtigen Polenpolitik seiner Partei zu Zeiten der Volksrepublik tatsächlich gerecht wurde, bleibt fraglich.

Literatur Behrens, Alexander (Hg.), „Durfte Brandt knien?“. Der Kniefall in Warschau und der deutsch-polnische Vertrag. Eine Dokumentation der Meinungen, Bonn 2010.

25 Krzemiński, 2010, S. 305. 26 Vgl. Boll, 2010, S. 26. 51

Lisa Bicknell

Bicknell, Lisa, Der „Kniefall“ und der Ostblock. Eine historische Geste, die bei den Adressaten nie ankam, in: Praxis Geschichte 5/2012, S. 50f. Boll, Friedhelm, „Nie mehr eine Politik über Polen hinweg“. Zur Bedeutung Willy Brandts für die deutsch-polnischen Beziehungen. Einleitung, in: „Nie mehr eine Politik über Polen hinweg“. Willy Brandt und Polen, hg. von Friedhelm Boll/Krzysztof Ruchniewicz, Bonn 2010, S. 7-28. Borodziej, Włodzimierz, Der Kniefall in der polnischen Öffentlichkeit, in: Polnische Geschichte und deutsch-polnische Beziehungen. Darstellungen und Materialien für den Geschichtsunterricht, hg. von Matthias Kneip/ Manfred Mack, Berlin 2007, S. 116f. Gerlach, Hans, Europa braucht Polen. Begegnungen – Gespräche – Reflexionen, Frankfurt/Main 1987. Hofmann, Gunther, Polen und Deutsche. Der Weg zur europäischen Revolution 1989/90, Berlin 2011. Krzemiński, Adam, Der Kniefall, in: Deutsche Erinnerungsorte, Bd. I, hg. von Etienne François/Hagen Schulze, München 2009 (erste Ausgabe 2001), S. 431-446. Ders. u. a., „Die deutsche Einheit – ein Schreckgespenst für Polen?“ Podiumsdiskussion mit Bernd Faulenbach, Adam Krzemiński, Robert Leicht und Gert Weisskirchen, in: „Nie mehr eine Politik über Polen hinweg“. Willy Brandt und Polen, hg. von Friedhelm Boll/Krzysztof Ruchniewicz, Bonn 2010, S. 286-325. Morek, Jan, Fotografie z PRL-u, Olszanica 2010, S. 46f. Rakowski, Mieczysław, Dzienniki Polityczne 1969-1971, Warszawa 2001. Rother, Bernd, Zwischen Solidarität und Friedenssicherung. Willy Brandt und Polen in den 1980er Jahren, in: „Nie mehr eine Politik über Polen hinweg“. Willy Brandt und Polen, hg. von Friedhelm Boll/Krzysztof Ruchniewicz, Bonn 2010, S. 220-264. Ruchniewicz, Krzysztof, Ostpolitik and Poland, in: Ostpolitik, 1969-1974. European and Global Responses, hg. von Carole Fink/Bernd Schaefer, Washington 2009, S. 39-57. Schneider, Christoph, Der Warschauer Kniefall. Ritual, Ereignis und Erzählung, Konstanz 2006. Wolffsohn, Michael/Brechenmacher, Thomas, Denkmalsturz? Brandts Kniefall, München 2005. O. V., Nietypowa Droga, in: Polityka 12.12.1970a. O. V., Wywiad Kanclerzy Willy Brandta dla „Polityki“, in: Polityka 12.12.1970b.

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Exponate, Arrangements und widersprüch­l iche Geschichtsbilder Die Ausstellungen des Stalin-Museums in Gori und des Museums der sowjetischen Okkupation in Tiflis Maike Sach Geschichte und Erinnerung an Vergangenes ist eng verknüpft mit Fragen der Identität von Gruppen unterschiedlichster Größe und Struktur. Beides kann Gemeinschaft stiften, auch über Grenzen hinweg, aber ebenfalls Unterschiede und Brüche offenbaren, so die jeweiligen Erzählungen nicht kongruieren. Durch die Osterweiterung der EU im Jahre 2004 kamen Staaten in den europäischen Verbund, deren jüngste Vergangenheit deutliche Unterschiede zu den Narrativen aufweist, die in den westlichen Staaten jeweils entworfen worden sind. Neben dem Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust und nationalsozialistischer Besatzung spielte – und spielt – die Erinnerung an sozialistische bzw. stalinistische Gewaltverbrechen und -regime eine zentrale Rolle in den nationalen Geschichtserzählungen.1 Auch in der ehemaligen Sowjetrepublik Georgien lassen sich widerstreitende Wertungen über zentrale Themen der jüngsten Geschichte des Landes nach der Wiedererlangung seiner staatlichen Selbständigkeit beobachten. Die innenund außenpolitische Lage Georgiens spielt dabei auch eine nicht unerhebliche Rolle: Ethnische Spannungen, die Konflikte um Abchasien und Südossetien, der Kaukasuskrieg von 2008 mit Abchasien, Südossetien und Russland auf der einen und Georgien auf der anderen Seite wirken auf die Wahrnehmung Russlands durch die sich außenpolitisch seit 2004 immer stärker am Westen orientierende 1

Nikžentaitis, 2010, S. 106f.; Troebst, 2015, S. 59-68, 73-89. 53

Maike Sach

georgische Führung zurück und stellen die georgische Öffentlichkeit angesichts dieses neuen Feindbildes vor neue Herausforderungen bei der historischen Bewertung der georgischen Zeitgeschichte.2 In staatlich offizieller Form zeigen sie sich vor allem auf den Handlungsfeldern, die in besonderem Maße die Gestaltung eines historischen nationalen Selbstporträts erfordern. Dies gilt beispielsweise für den Bereich der Bildung und damit des Schulbuchs3 sowie der Geschichtspolitik, die für interessierte Außenstehende besonders im Umgang mit Denkmälern sowie in der Gestaltung von historischen Museen im Wortsinne auch ohne große Kenntnisse des Georgischen oder derjenigen nationaler fachwissenschaftlicher Diskurse unmittelbar wahrnehmbar und (be)greifbar wird. Als besonders aussagekräftige Beispiele wie auch entgegengesetzte Pole, zwischen denen gegenwärtige Geschichtsbilder über die Zeitgeschichte in Georgien oszillieren, sollen im Folgenden das Stalin-Museum in Gori und das 2006 eröffnete Museum der sowjetischen Okkupation, eine Abteilung im Georgischen Nationalmuseum in Tiflis, vorgestellt werden. Die konkrete Auswahl der Exponate, ihre jeweilige Präsentation, ihre Kontextualisierung und Assoziierung mit anderen Ausstellungsstücken, die wiederum Subtexte transportieren, werfen ein Licht auf die Konkurrenz von gegenwärtigen Geschichtsbildern in zwei staatlich finanzierten Institutionen. Gori ist vor allem bekannt als Geburtstort des Josif V. Džugašvili, genannt Stalin, der dort nach wie vor und nicht nur als Namensgeber für Straßen und Plätze präsent ist.4 Stalin selbst bezog sich in seinem öffentlichen Auftreten nicht auf seine georgische Herkunft, sondern stilisierte sich übernational als Staatenlenker, Heerführer und Vaterfigur für sämtliche Nationalitäten im Sowjetstaat.5 Diese Verbindung sollte dem Land nicht unbedingt nutzen: Wie alle anderen Sowjetrepubliken waren Georgien und seine Bewohner von den Folgen 2

Zu den Entwicklungen, die in den Krieg mündeten, s. Rzchiladse, 2007; Sigwart, 2007; Jones, 2013, S. 248-254. 3 Razmadze, 2010, S. 91-95, S. 103; Razmadze, 2012, S. 158; Chikovani, 2012, S. 66-69. 4 Ein Eindruck, der sich vielen Reisenden einprägt: Nasmyth, 2006, S. 122; Zimmermann, 2013; Schrott, 2015. Ein Überblick über die Forschungen zu Stalin würde den Rahmen des vorliegenden Artikels sprengen, es sei daher verwiesen auf eine kurze Zusammenschau von biographischen Arbeiten seit Ausgang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts anlässlich des Erscheinens des ersten Bandes der neuen Stalinbiographie von Stephen Kotkin: Pomper, 2015; zu aktuellen Forschungstendenzen zur Sowjetgeschichte ferner David-Fox, 2006.   5 Plamper, 2004, S. 136. 54

Exponate, Arrangements und widersprüchliche Geschichtsbilder

von Kollektivierung, Massendeportationen, staatlichem Terror, Säuberungen der Partei- und Staatsapparate sowie von Repressionen betroffen.6 Dies führte allerdings nicht zwangsläufig dazu, das Bild Stalins in der Bevölkerung zu verdunkeln, im Gegenteil: Er wurde als „großer Sohn Georgiens“ wahrgenommen. Die erste Welle der von Nikita Chruščev nach seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU eingeleiteten De-Stalinisierung in den fünfziger Jahren führte daher zu Protesten und Unruhen in Tiflis, die mit Gewalt unterdrückt wurden.7 Wirklich aufgearbeitet wurden die Ereignisse in Georgien allerdings immer noch nicht, wie junge georgische Historiker beklagen, die sich um eine Neubewertung der Geschichte Stalins bemühen.8 Wie nötig eine solche historische Aufarbeitung und kritische Überprüfung bisher geläufiger Geschichtsbilder ist, zeigen die Ergebnisse einer Meinungsumfrage, die 2012 vom Levada-Zentrum (Analitičeskij centr Jurija Levady, Moskau), den Caucasus Research Ressource Centers (CRRC) in Tiflis, Baku und Erevan, der Heinrich Böll-Stiftung (Regionalbüro Tiflis) und der Carnegie-Stiftung (Washington) in Russland und in den Kaukasusrepubliken durchgeführt wurde.9 Sie förderte eine weitreichende positive Bewertung der Figur Stalins als „weisen Führer“ bei einem großen Teil der Befragten nicht nur in Russland,10 sondern auch in Georgien zu Tage, die insbesondere auf seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg fußt. Gleichzeitig gaben allerdings viele Georgier an, keineswegs in einem stalinistisch geprägten Staatswesen, an dessen Spitze eine entsprechende Führerfigur steht, leben zu wollen.11 Diese ambivalente Haltung tritt besonders stark in Gori zutage. Dort wurde erst im Juni 2010 auf Geheiß der Regierung unter der Führung des westlich orientierten Michail Saakašvili ein großes, überregional bekanntes Stalindenkmal vom Hauptplatz des Ortes entfernt. Anders als einige andere Gebäude der Stadt hatte es zusammen mit dem Stalin-Museum russisches Bombardement 2008 unbeschadet überstanden,12 womöglich auch wegen der Bedeutung Stalins   6 Suny, 1994, S. 260-291.   7 Suny, 1994, S. 303; detailliert Kozlov, 1999, S. 155-183; Jones, 2004, S. 233f.; allgemein: Aksyutin, 2014, S. 240f.   8 S. dazu den Bericht von Ackeret, 2010.   9 Die genauen Ergebnisse sowie Analysen finden sich in Lipman, 2013b. 10 Eine genaue Analyse der in der Veröffentlichung eingangs sowie in ihrem Appendix auch detailliert mit den entsprechenden Fragen wiedergegebenen Antworten bei Lipman, 2013a, S. 15-26. 11 Bakradze, 2013, S. 52. Genaue Aufschlüsselung der georgischen Antworten im Appendix, Ebd., S. 63-66. 12 Kirchick, 2010, S. 8. 55

Maike Sach

für den in Russland gepflegten Siegesmythos.13 Um erwarteten Protesten gegen die Aktion vorzubeugen, die offenbar von der Regierung als überfälliger angesehen wurde als von der örtlichen Bevölkerung, erfolgte der Abbau des Denkmals nachts.14 Damit kann man seine Entfernung nicht unbedingt als „kathartischen Angriff“ (Horst Bredekamp) betrachten, wie er in vielen Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes nach 1989 als stellvertretender Sturz der Herrschenden und Versinnbildlichung von politischer Transformation und Abrechnung im Inneren des Staates zu beobachten war.15 Die Entfernung des Denkmals dürfte eher ein symbolischer, gegen Russland gerichteter Akt gewesen sein. Die Statue wurde nach ihrer Demontage in das nahe gelegene Stalin-Museum gebracht, welches 1935 von Lavrentij P. Berija, dem damaligen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Georgiens und mächtigen Akteur in Sicherheitsdiensten Georgiens und ab 1938 Leiter der Geheimdienste der Sowjetunion, gegründet worden war.16 Nur drei Jahre nach dem Abbau des Denkmals wurde über seine Wiedererrichtung, nun auf dem Gelände des Stalin-Museum diskutiert.17 Der Bau des Museums, welches der Verherrlichung Stalins dienen sollte, begann im Gründungsjahr mit der Überdachung des Geburtshauses Stalins, eines kleinen, äußerst bescheidenen Häuschens mit Schusterwerkstatt im Souterrain, zum Schutz vor Witterungseinflüssen (Abb. 1).18 Die Art der baulichen Ausführung betont mit ihren Verzierungen die Bedeutung des Häuschens, es wurde wie ein Schmuckstein eingefasst. Der Konstruktion wird dabei nachgerade der Charakter eines Reliquienschreins verliehen, der ein Verehrungsobjekt birgt. Unwillkürliche Assoziationen mit liturgischen Handlungen und Ritualformen sind dabei nicht zufällig, denn es wurde für die kommunikativen Bedarfe von Propaganda und Personenkult der Sowjetzeit auf Präsentationstechniken und -praktiken zurückgegriffen, die ursprünglich primär dem religiösen und liturgischen, sekundär aber damit auch einem monarchischen Kontext entlehnt, entsprechend umgeformt und für die visuelle Präsentation wie auch für performative Forma-

13 Dieser Mythos steht in Russland einer kritischen Aufarbeitung im Wege, dazu Scherrer, 2004. Auch der 9. Mai ist in Georgien wie in einigen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken kein Nationalfeiertag mehr: Ebd., S. 621. 14 Razmadze, 2010, S. 94. 15 Bredekamp, 2004, S. 37; s. auch Gamboni, 2011, S. 148-150; ferner Gördüren, 2011, S. 158f. 16 Rappaport, 1999, S. 100. 17 Demnitz, 2013; Bakradze, 2013, S. 53. 18 Rappaport, 1999, S. 100. 56

Exponate, Arrangements und widersprüchliche Geschichtsbilder

te neu semantisiert wurden.19 An Prozessionen angelehnte Massenaufmärsche sollten und sollen nicht nur in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts Menschen beeindrucken und Herrschende erhöhen, sondern dienen der Akklamation und sind somit ebenfalls Rituale der Zustimmung.20 Abb. 1: Geburtshaus Stalins, Stalin-Museum in Gori

Foto: Maike Sach, 2012

Nach der Überdachung kam gegenüber dem Geburtshaus 1957 – und damit ein Jahr nach der berühmten Geheimrede Chruščevs auf dem XX. Parteitag der KPdSU – ein großes villenartiges Gebäude mit Turm, alles in einem für die Bauwerke des Stalinismus typischen eklektischen historisierenden Baustil, hinzu.21 Im Park des Anwesens fand in den achtziger Jahren auch der gepanzerte Salonwagen FD 3878 Platz, den Stalin seit 1941 auf Reisen benutzte. Neben Schlaf- und Aufenthaltsmöglichkeiten bot er auch Büroräume und konnte somit als mobile Regierungszentrale fungieren.22 Als Objekt steht er in der Tradition von Regierungszügen oder anderen entsprechend herausgehobenen und für ihre 19 Diese Zusammenhänge sind bereits mehrfach bemerkt worden, s. hier Rees, 2004, S. 5-19. 20 Mittig, 2011, S. 247f. 21 Rappaport, 1999, S. 100; Nasmyth, 2006, S. 123. 22 Service, 2004, S. 460. 57

Maike Sach

Funktion adaptierten Fahrzeugen zu Lande, zu Wasser und in der Luft, die Monarchen oder andere Regierungsoberhäupter gleichermaßen zur Durchführung und zur Demonstration von Herrschaft auf Reisen genutzt haben und nutzen. Angesichts der geographischen Ausdehnung der Sowjetunion versinnbildlicht ein solcher Salonwagen die Ubiquität des Diktators und ermöglicht die konkrete Gegenwart seiner Person in allen Gegenden seines Herrschaftsbereichs. Das erwähnte Hauptgebäude beherbergt neben einem Archiv eine Ausstellung über das Leben Stalins, die im Wesentlichen in der Auswahl und der der Präsentation der Exponate dem Narrativ des Gründungsjahrs des Museums unverändert folgt und heutigen Besuchern ein Erlebnis beschert, das dem Eintreten in eine riesige Zeitkapsel gleicht.23 Die Abfolge der Räume und ihre Beleuchtung richten sich dabei nach einer einfachen aber wirkungsvollen Dramaturgie, die den Subtext des „strahlenden Helden und Anführers“ transportiert: Von der infolge farbiger Verglasung eher dunklen Eingangshalle steigen Besucher – meist geführt von Museumspersonal – über eine große Treppe zunächst zu einer Stalinstatue als Vergegenwärtigung seiner Person empor und erreichen dann hohe, heller ausgeleuchtete Räume, in denen chronologisch geordnet Stationen der Biographie des Helden von seiner Zeit als Zögling im orthodoxen Priesterseminar, als tatkräftiger Revolutionär und Bankräuber, als Gelegenheitsdichter, als linien- und lenintreues Parteimitglied, schließlich als Militärführer und triumphierenden Sieger im Zweiten Weltkrieg präsentiert werden. Herrschafts­ praxis wird nicht nur durch den erwähnten Salonwagen visualisiert, sondern auch durch die Nachstellung des Büros Stalins im Kreml’ unter Verwendung originaler Objekte. Nach mit heterogenen Exponaten gut bestückten Räumen, die von einem arbeits- und erfolgreichen Leben zeugen sollen, findet die Ausstellung ihren Abschluss in einem zur Erzeugung einer weihevollen Stimmung abgedunkelten Raum, in dem eine Totenmaske Stalins aus Bronze als einziges Objekt inmitten einer raumgreifenden kreisförmigen Installation von weißen Stelen gezeigt wird, die die Aufmerksamkeit zusätzlich auf den mittig positionierten Verehrungsgegenstand leiten sollen. Die Totenmaske fungiert hier als Vergegenwärtigung Stalins über seinen natürlichen Tod hinaus und bietet damit ein stellvertretendes Objekt der Huldigung.24 In diese Dramaturgie, die die Aura Stalins greif- und erfahrbar machen und seine Person gleichzeitig erhöhen soll, fügen sich auch die ausgewählten Ex23 In den neunziger Jahren war das Museum offenbar eine Zeit lang geschlossen, wurde aber noch vor der Jahrtausendwende wiedereröffnet: Rappaport, 1999, S. 100. 24 Vgl. hier die Eindrücke von Nasmyth, 2006, S. 126. 58

Exponate, Arrangements und widersprüchliche Geschichtsbilder

ponate: Sie reichen von Autographen früher eigener Gedichte, von Zeitdokumenten, die den Aufstieg in der Parteihierarchie nachzeichnen, von Propagandaschriften zu Bildmedien wie Photographien und -montagen, die zusammen mit den ebenfalls vertretenen Ölgemälden und Büsten aus verschiedenen Materialien im Stile des sozialistischen Realismus als einzig zulässigem ästhetischen Konzept Stalin als charismatischen Führer darstellen und den Darstellungskonventionen des Personenkults folgen, darunter reproduzierbare Dekorationsobjekte mit Stalinbildnissen. Dieser Kult wird besonders deutlich bei Objekten, die Stalin aus der Produktion der Sowjetunion überreicht wurden und sein Konterfei beispielsweise auf Geschirr, Vasen und dergleichen zeigen.25 In die Ausstellung, die sich zwischen Geburtshaus und Totenmaske als säkularen Quasi-Reliquien des Personenkults entfaltet und auch private Besitztümer Stalins umfasst, haben ebenfalls Präsente für den Diktator aus dem Ausland Eingang gefunden. Ihre bloße Existenz steht für internationales Prestige sowie Ansehen bei Mitgliedern kommunistischer Parteien anderer Länder. Volkstümliche Zuneigung ausländischer Genossen wird anhand von alltäglichen Präsenten, wie Socken, holländischen Holzschuhen und dergleichen, durch die Objekte selbst bezeugt. In dieser seit vielen Jahren unveränderten Ausstellung wird man nichts finden, was Schatten auf das strahlende Bild des Diktators werfen könnte. Die Folgen der Zwangskollektivierung, Massendeportationen, Repressionen, Säuberungswellen und Schauprozesse, das Funktionieren totalitärer Herrschaft werden in der Hauptausstellung des Stalin-Museums nicht thematisiert. Diese blinden Flecken fallen in dieser Frage sensibilisierten Besuchern sofort auf und werden in ausländischen Berichten regelmäßig mit Irritation vermerkt.26 Auch in Georgien wurde hier ein Mangel empfunden: Im Jahre 2010 gab der damalige Kulturminister Nikolos Rurua in einem Interview mit dem amerikanischen Journalisten James Kirchick zu Protokoll, dass man eine grundlegende Überarbeitung der Konzeption des Museums plane, es solle nach Abschluss der Arbeiten Stalin nicht mehr glorifizieren, sondern „a museum about a museum“ werden: „We are preserving the propaganda part of the original museum, but we are bringing in some of the real information about Stalinism and the Bolshevik regime.“27 25 Zu Stalins Visualisierung in Zeitungen, Photos und Gemälden und anderen Kultobjekten s. Plamper, 2012, S. 29-86, die Abbildung der Arbeit an einer Vase mit Stalins Bild in der Staatlichen Lomonosov-Porzellanfabrik, Ebd., S. 32, Abb. 2.3. 26 Nasmyth, 2006, S. 127; Zimmermann, 2013; Schrott, 2015. 27 Zitiert nach Kirchick, 2010, S. 8f. 59

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Im Jahre 2012 war die alte Ausstellung unverändert erhalten, allerdings gab es nun eine kleine Sonderausstellung, die jedoch konzeptionell mit der Hauptausstellung nicht verzahnt ist und auch keinen Kommentar zu ihr bietet, wie es 2010 ursprünglich geplant worden war: In zwei kleinen Räumen wird zunächst ein typischer Verhörraum des Geheimdienstes nachgestellt, im zweiten Raum gibt es einige Photographien mit prominenten Opfern von Repressionen und Säuberungen an den Wänden. In Texttafeln auf Georgisch und Russisch werden einige Informationen geboten, bei deren Durchsicht vor allem eins auffällt: Stalin wird niemals als Verantwortlicher erwähnt, es sind immer Personen aus seinem Umfeld, die als Täter identifiziert werden. Dies passt wieder sehr gut zu der passivischen und das Agens unbenannt lassenden, langjährigen Sprachregelung, nach der das Museumspersonal bei entsprechenden Nachfragen zu den Verbrechen des Diktators bei Führungen reagiert: „Mistakes were made.“28 Dem Augenmerk von Besuchern kann die Sonderausstellung leicht entgehen, ist sie doch eher in einer Abseite versteckt und damit möglicherweise absichtlich marginalisiert: Man gelangt in die Räume durch eine kleine Tür an der Seite der großen Haupttreppe im Eingangssaal.29 In der erst im Frühsommer 2015 neuaufgeschalteten Homepage des Museums findet sich nur eine knappe Erwähnung der Zusatzausstellung in separaten Räumlichkeiten und ihres Einrichtungsjahres. Ein kritischer Kommentar zur Hauptausstellung fehlt, weiterhin wird auch auf den neugestalteten Internetseiten des Museums ein fleckenloses, positives Stalinbild propagiert.30 Mehr Aufmerksamkeit heischt der Museumsshop, in dem allerlei Stalindevotionalien feilgeboten werden und der in Berichten selten unerwähnt bleibt.31 Im April 2012 wurden u. a. georgischer Wein mit dem Konterfei Stalins auf dem Etikett, allerlei Stalinbüsten, Dekorteller, die ein Bildnis Stalins mit dem Salonwagen und dem Geburtshaus kombinieren, wie auch Sachbücher angeboten. 28 So lautete die Antwort einer Museumsführerin im April 2012. Vergleichbare Erfahrungen machte seit den neunziger Jahren Peter Nasmyth, 2006, S. 129. 29 Zimmermann, 2013 und Schrott, 2015 wundern sich über das Verschweigen der Opfer, erwähnen aber die kleine Sonderausstellung mit keinem Wort. Es ist zu vermuten, dass sie daran einfach vorbeigelaufen sind, vielleicht sogar bei verschlossener Tür. 30 www.stalinmuseum.ge/new, 31.07.2015. Der Internetauftritt des Stalin-Museums in Gori bietet bislang keine Übersetzungen. Für die kritische Durchsicht des georgischen Textes möchte ich Frau Natela Kopaliani-Schmunk an dieser Stelle ganz herzlich danken! 31 Kirchick, 2010, S. 8; Zimmermann, 2013; Schrott, 2015. 60

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Beim russischen Buch im Schaufenster (Abb. 2) handelt es sich um ein Werk aus der Feder des Stalin-Apologeten Jurij Muchin unter dem Titel „Die Mörder Stalins. Das größte Geheimnis des 20. Jahrhunderts“ aus der Reihe „Stalin – die große Epoche“. Titel und Autor lassen auf Inhalt und Tendenz des Werkes schließen. Abb. 2: Blick in die Schaufensterauslage des Museumshops des Stalin-Museums, Gori

Foto: Maike Sach, 2012

Eine bestehende Ausstellung kritisch zu überarbeiten, stellt eine Herausforderung dar. Im Falle des Stalin-Museums in Gori dürfte man das Unterfangen als missglückt bezeichnen, obwohl die russische Vereinnahmung Stalins als „russischen Führer“ durchaus auch Anlass und zunächst Ansporn geboten hat, ihn 2010 zumindest von Seiten der Regierung sprichwörtlich vom Denkmalssockel zu stoßen. Die kleine Sonderausstellung zu den Opfern stalinistischer Repression wirkt wie ein Fremdkörper zwischen der unveränderten Hauptausstellung und dem Subtext dessen, was man im Museumsshop erwerben kann und was offensichtlich auf Nachfrage trifft. Für die Ausstellung zur sowjetischen Geschichte Georgiens, die 2006 eröffnet wurde und die organisatorisch eine Abteilung des Nationalmuseum Georgiens in Tiflis darstellt, konnte ein neues Konzept entwickelt werden. Geschichtsbil61

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der, die von der Regierung aktuell favorisiert werden, ließen sich eher durchsetzen bzw. neu formulieren. Der Ton wurde bereits mit der Namensgebung für die neue Einrichtung gesetzt, die durch ihre Bezeichnung auch aus den anderen Abteilungen des Hauses herausgehoben wird: Museum der sowjetischen Okkupation. Als Modell diente der georgischen Unternehmung eine Institution in Lettland, welches wie Georgien ebenfalls ehemalige Sowjetrepublik war: das 1993 gegründete Okkupationsmuseum Lettlands in Riga.32 Im April 2012 befand sich das Georgische Nationalmuseum noch im Umbau, für Besucher geöffnet war jedoch die Schatzkammer mit archäologischen Fundstücken, sowie im Obergeschoss des Gebäudes das Okkupationsmuseum, welches kleiner als sein lettisches Pendant ist. Die Ausstellung soll die Geschichte Georgiens von 19211991und damit die 70 Jahre sowjetischer Herrschaft präsentieren. In einem großen, hohen Saal und auf einer umlaufenden Galerie werden in moderner Präsentationsform verschiedene Objekte und Akten aus dem Archiv des Museums gezeigt, die vom Widerstand gegen die Sowjetherrschaft zeugen, einzelne historische Ereignisse, die Schicksale von Opfern sowjetischer Repression und Verfolgung verdeutlichen und anhand von Akten der staatlichen Sicherheitsorgane dokumentieren. Auch hier – wie in Gori – gibt es u. a. einen Schreibtisch, der einem Verhörraum entstammt (Abb. 3). Als Auftakt der Ausstellung wird kurz an die erste Georgische Republik erinnert (1918-1921),33 die als ein Staatswesen dargestellt wird, welches, wäre es nicht zum bolschewistischen Staatsstreich gekommen, überlebensfähig gewesen sei. Eine historische Alternative wird damit als Subtext und Identifikationsmodell für die eigene Gegenwart zu Beginn der Ausstellung eingeführt. Als Exponat ausdrücklich hervorgehoben, schon eigens durch Erwähnung auf der Homepage des Museums, ist ein Güterwaggon: Hier handelt es sich um einen Waggon (bzw. eine seiner Seitenwände), in dem Teilnehmer des nationalen Aufstandes von 1924 erschossen worden waren.34 Der Aufstand hatte ca. 4000 Menschen das Leben gekostet.35 Man kann diesen Waggon als eine Antwort auf den Salonwagen in Gori interpretieren, der ein Symbol sowjetischer Herrschaftspraxis ist, die allerdings in keiner der besprochenen Ausstellungen definiert und erläutert wird. Eine andere Seite sowjetischer Herrschaftspraxis symbolisiert der Waggon in der Tifliser Ausstellung, der Ort einer Erschießung 32 Ackeret, 2010; zum Okkupationsmuseum in Riga s. Nollendorfs, 2014. 33 Zu den Ereignissen in Georgien und Kaukasien nach der Oktoberrevolution s. Suny, 1994, S. 185-208. 34 http://museum.ge/index.php?lang_id=ENG&sec_id=53#tabs-5, 31.07.2015. 35 Dazu knapp Suny, 1994, S. 223f. 62

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Abb. 3: Blick in die Ausstellung des Museums der Sowjetischen Okkupation, Nationalmuseum Georgiens, Tiflis

Foto: Benjamin Conrad, 2012

gewesen und damit in dem weiter oben bereits bemühten Referenzrahmen auch als Ort eines (hier: nationalen) Martyriums anzusprechen ist. Die Durchschlagslöcher der Projektile sind dabei durch die rückwärtig installierte Beleuchtung eigens in Szene gesetzt (Abb. 4). Das Motiv des Waggons wie auch eine ganze Reihe visueller Eisenbahnmetaphern gehören zur historischen Ikonographie des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit: Im Westen sind entsprechende Darstellungen von Gleisen und Zügen vor allem mit dem Holocaust verbunden. Man denke an die Aufnahmen von Gleisen in Auschwitz und der sogenannten Rampe, an der die Selektion der ankommenden Deportierten stattfand.36 In den Debatten über die eigene Zeitgeschichte wurden für die ost(mittel)europäischen Völker Güter- und Viehwaggons allerdings auch zu Symbolen für Massendeportationen, die im Zuge der Sowjetisierung im östlichen Europa stattfanden. Die Eisenbahnmetaphorik war somit neu semantisiert und damit teilweise umgedeutet und erweitert worden.37 So erstaunt es nicht, dass sich im lettischen Okkupationsmuseum ein solcher Waggon als Zeugnis der Deportationen von 1941 und damit der Visualisierung der eigenen explizit als Besatzungsgeschichte apostrophierten Zeitgeschichte 36 Bredekamp, 2004, S. 58f. 37 Ebd., S. 60f. 63

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Abb. 4: Güterwaggon im Museum der Sowjetischen Okkupation, Nationalmuseum Georgiens, Tiflis

Foto: Benjamin Conrad, 2012

befindet.38 Die ikonographische Verdichtung zeigt sich besonders auch in der Verwendung des Motivs in Photographien und anderen bildlichen Darstellungen der Deportationen.39 Betrachtet man die Ausstellung und das dort präsentierte Narrativ als Ganzes, so fallen ebenfalls Auslassungen und mangelnde Differenzierungen auf, die allerdings anderer Natur und geringeren Ausmaßes sind, als im Stalin-Museum in Gori. Um einige zu nennen: Die Ausstellung umfasst sieben Jahrzehnte, der Schwerpunkt liegt auf den zwanziger und dreißiger Jahren, also der Darstellung der frühen georgischen Unabhängigkeitsbewegung, der Betonung der Überlebensfähigkeit der gestürzten georgischen Republik (1918-1921), auf der Niederschlagung von Widerstand sowie auf dem Großen Terror der dreißiger Jahre. Die georgische Gesellschaft erscheint in der Ausstellung als recht homogen, was sie in dieser Form nicht war.40 Das sowjetisch-georgische Verhältnis in den

38 Nollendorfs, 2014, S. 217, Abb. 4. 39 Bredekamp, 2004, S. 61; Onken, 2004, S. 676, 680. 40 Razmadze, 2010, S. 93. 64

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sechziger bis achtziger Jahren bleibt unbehandelt und damit auch die Fragen nach Kollaboration und Täterschaft von Georgiern, nach dem Funktionieren von sowjetischer Herrschaft und ihren Charakteristika. In diesem Kontext bleiben auch die konkreten Alltagserfahrungen der Zeitgenossen unbeleuchtet, die die Sowjetzeit in Georgien je nach persönlicher Situation durchaus auch positiv wahrgenommen haben können. Die gegenwärtige Konzeption des Museums ist auch innerhalb Georgiens als „Schwarz-Weiß-Malerei“ kritisiert worden, so von Seiten des Historikers Lasha Bakradze: „Schon der Name sagt ja, wir sind nur okkupiert worden. Das stimmt auch. 1921 wurde Georgien okkupiert und annektiert. Aber alles was danach kam wie die Kollaboration – darüber wird geschwiegen. Aber man kann der Sowjetzeit in Georgien nicht gerecht werden, wenn man sagt, wir sind nur okkupiert worden und ich habe meine Hände in Unschuld gewaschen. Dieses Museum wird der Realität nicht gerecht. Hier in Georgien waren 70 Jahre die Kommunisten an der Macht. Mit Ausnahme von wenigen Menschen haben die meisten mit ihnen kollaboriert. Eine Aufarbeitung wird nicht glücken, wenn wir Georgier uns nicht selbst kritisch fragen, warum das so war.“41 Zwar scheint es Initiativen zu einer solchen Aufarbeitung in der jüngeren Historikergeneration zu geben.42 In ihren Untersuchungen zu Schulbüchern und georgischen Geschichtslehrern hat Maya Razmadze unterschiedliche Deutungsmuster herausgearbeitet, die es den Akteuren ermöglicht, die Sowjetzeit in ihre jeweiligen persönlichen Biographien zu integrieren.43 Dennoch bleibt eine solche Aufarbeitung schwierig, denn Geschichtsbilder, seien es nostalgische Erinnerungen an den Diktator als „großen Sohn des georgischen Volkes“ oder sei es ein Opfernarrativ, bieten Möglichkeiten zur (tages)politischen Instrumentalisierung und Ideologisierung in politischen Auseinandersetzungen nach innen und außen, so beispielsweise auch als Opfer einer jahrzehntelangen Okkupation durch den aktuell gerade als bedrohlich empfunden russischen Nachbarn und größten Nachfolgestaat der Sowjetunion. Diese widerstreitenden Geschichtsbilder, zu denen ebenfalls die Debatten um die Frage zählen, ob die Republiken der Sowjetunion Kolonien gewesen seien, sind allerdings nicht allein typisch für Georgien, sondern finden sich auch in anderen ehemaligen Sowjetrepubli-

41 Lasha Bakradze im Interview mit Jana Demnitz, 2013. Zu widersprüchlichen Geschichtsbildern zusammenfassend auch Razmadze, 2010, S. 92-95. 42 Ackeret, 2010. 43 Razmadze, 2012, 159f. 65

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ken.44 Sie lassen sich aber selten so gut parallel durch Besuche zweier staatlich finanzierter Museen in direkten Augenschein nehmen wie derzeit in Georgien.

Literatur Ackeret, Markus, Georgiens schwieriger Umgang mit Stalin. Junge Historiker bemühen sich um eine Neubewertung des in seiner Heimat noch immer verehrten Diktators, in: Neue Zürcher Zeitung, 01.07.2010, URL: www.nzz.ch/ georgiens-schwieriger-umgang-mit-stalin-1.6335341, 31.07.2015. Aksyutin, Yuri, Public Sentiments in the USSR 1953-1968. Eyewitness Reminiscences and Retrospective Interviews, in: De-Stalinisation reconsidered. Persistence and Change in the Soviet Union, hg. von Thomas M. Bohn u. a., Frankfurt u. a. 2014, S. 239-248. Bakradze, Lasha, Georgia and Stalin. Still Living With the Great Son of the Nation, in: The Stalin Puzzle. Deciphering Post-Soviet Public Opinion, hg. von Maria Lipmann u. a. (Carnegie Endowment for International Peace), Washington u. a. 2013, S. 47-54, URL: http://carnegieendowment.org/files/stalin_puzzle.pdf, 22.07.2015. Bredekamp, Horst, Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums. Begleitbände zur Ausstellung, Bd. 1, hg. von Monika Flacke, Berlin 2004, S. 29-66. Chikovani, Nino, The Images of Self and Neighbours in Georgian History Textbooks: Representation of the Events of the Beginning of the 20th Century in the Post-Soviet Period, in: The South Caucasus and Turkey. History Lessons of the 20th Century, hg. von Sergey Rumyantsev, Tbilisi 2012, S. 65-93. David-Fox, Michael, Multiple Modernities vs. Neo-Traditionalism: On Recent Debates in Russian and Soviet History, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 54,4 (2006), S. 535-555. Demnitz, Jana, „Wir müssen uns trauen, auch unangenehme Fragen zu stellen.“ Stalin-Kult in Georgien, in: Der Tagesspiegel 17.12.2013, URL: www.tagesspiegel. de/themen/georgien/stalin-kult-in-georgien-wir-muessen-uns-trauen-auch-unangenehme-fragen-zu-stellen/9206138.html, 31.07.2015. Gamboni, Dario, Bildersturm, in: Handbuch der politischen Ikonographie, Bd. 1: Abdankung bis Huldigung, hg. von Uwe Fleckner u. a., München 2011, S. 144-151.

44 Dazu ein Überblick bei Simon, 2009, S. 105-122. 66

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Zimmermann, Friedrich, Täglich grüßt der Diktator. In Stalins Geburtsort Gori soll ein Denkmal des Sowjetherrschers wieder aufgerichtet werden. Auf Spurensuche in einer seltsamen Stadt. Ein Leserartikel, in: Die Zeit 25.09.2013, URL: www. zeit.de/reisen/2013-09/stalin-denkmal-gori-2, 31.07.2015.

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Die Ressource Erdöl als Erinnerungsort „Schwarzes Gold“ in Mythen, Monumenten und Museen von Baku Elnura Jivazada Das „Schwarze Gold“, wie das Erdöl in Aserbaidschan oft bezeichnet wird, hat für die Hauptstadt Baku eine identitätsstiftende Bedeutung. Dank ihr verwandelte sich in einer Goldgräberstimmung die verschlafene Provinzhafenstadt von 1859 mit knapp 12 000 Einwohnern zu einer Metropole mit 215 000 Einwohnern bis zum Jahr 1913. Die Ressource Erdöl, die auch in der Nordsee oder im Golf von Mexiko ein Wirtschaftsfaktor ist, hat in Aserbaidschan eine verklärte Mystifizierung erlebt und wird entweder als Segen oder als Fluch wahrgenommen. In den romantisierenden Darstellungen von Baku wird die Sehnsucht nach dem Aroma des Öls zum Ausdruck gebracht, wie z. B. bei Almas İldırım, dem Exil-Dichter der 1920er Jahre, der seine Heimatstadt mit einer zierlichen, nach Naphta duftenden Blume vergleicht.1 In Baku zeigen in vielen Schulen und Behörden ausgestellte Bilder die freudig strahlenden, ölverschmierten Gesichter des Präsidenten Heydər Əliyev (1993-2003) und seines Sohnes Ilham Əliyev, dem seit 2003 amtierenden Präsidenten, bei der Grundsteinlegungszeremonie für eine Ölpipeline 1994 und suggerieren somit eine positive Einstellung zum dickflüssigen schwarzen Brennstoff. Als Fluch wurde das Erdöl bereits im ersten aserbaidschanischen Spielfilm von 1916, Im Reich des Öls und Millionen, thematisiert, in dem die Gegensätze zwischen der verschwenderischen Lebensweise der Erdölreichen und die elenden Zustände der armen Ölarbeiter als Problem identifiziert werden. In den meisten Reiseberichten über Baku werden die unangenehmen Folgen der Erdölindustrie beschrieben. Knut Hamsun beschuldigte Kerosin, das veredelte Öl, das in den Staub gemischt über der ganzen Stadt schwebte, Auslöser von Fieber 1

İldirim 2004, S. 115. 71

Elnura Jivazada

zu sein. Der russisch-schwedische Komponist Harteveld beklagte sich in seinem Reisebericht von 1913, dass in Baku sogar der Kaffee nach Erdöl schmeckte.2 Der zeitgenössische populäre Dichter Ramiz Rövşən wünschte sich sogar in seinem Gedicht Ich mache mir eine neue Heimat ein Land, das auf keinen Fall Erdöl und Erdgas besitzen dürfe.3 Der erste Ölboom am Ende des 19. Jahrhunderts sowie der aktuell abflauende Ölboom der 2000er Jahren sind in der Forschung wegen ihrer geopolitischen und wirtschaftlichen Bedeutung bereits untersucht worden.4 Dieser Beitrag hingegen strebt die Einordnung der Ressource Erdöl ins kollektive Gedächtnis an. Die Auswahl der dazu vorgestellten Orte erstreckt sich über das gesamte Stadtbild Bakus und versinnbildlichen in der Zusammenstellung schließlich auch die Bedeutung des Themas Erdöl in Baku.

Sakralisierung des Ressourcenreichtums Die Meistererzählung über das Erdöl in Baku besteht in der Verbindung der vorislamischen Tradition der Feueranbetung mit der Geschichte der industriellen Ölförderung, die für Modernität und Fortschritt steht. Ein Monument für diese Verbindung ist ein Mega-Gebäude, bekannt als Flame Towers. Mehr als 10 000 LED-Glasplatten in verschiedenen Größen machen das Riesengebäude zur Projektionsfläche für nächtliche Animationen. Die in zahlreichen früheren Reiseberichten bewunderten nächtlichen Feuer in der Bucht von Baku scheinen damit wiederbelebt zu sein. Die Verbindung mit den gelebten zoroastrischen Sitten und Bräuchen sowie mit der Bedeutung des Feuers in der Folklore schafft eine Identifikation der verschiedenen Akteure mit den Narrativen eines ressourcenreichen Landes. Das von Barry Hughes geleitete Architektenteam aus London bekam den Auftrag, in diesem Werk die Anbetung des ewigen Feuers und die Ressourcen des natürlichen Gases darzustellen und es entschied sich für drei flammenartige Gebäudekomplexe.5 Gelegen auf einer Anhöhe, umgeben vom Parlament, vom staatlichen Fernsehsender sowie von den wichtigsten Gedenkstätten der Stadt wie der Allee der Märtyrer für die Unabhängigkeit und dem Ehrenfriedhof, ist sie von keinem 2 3 4 5

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Harteveld, 1914, S. 4. http://azpress.az/index.php?sectionid=news&id=31949, 03.08.2015. Z. B. Meissner, 2013; Kaufmann, 2013. www.designbuild-network.com/projects/f lame-towers-baku-azerbaijan, 13.06.2015.

Die Ressource Erdöl als Erinnerungsort

Teil der Stadt zu übersehen. Trotz Bedenken wegen der mangelnden Festigkeit des Bodens für dieses Mehrzweckgebäude, das 190 m in die Höhe ragt, hat der 2012 fertiggestellte Bau sich zu einem neuen Wahrzeichen von Baku entwickelt. Nur selten wird an das Hotel Moskau erinnert, das den Flame Towers weichen musste und eines der bedeutenden Bauten der Sowjetmoderne in Baku war.6 Die überdimensionalen Flame Towers stellen das in die politische Bedeutungslosigkeit gedrängte Parlament buchstäblich in den Schatten und manifestieren sich als das sichtbarste Symbol des Erdölreichtums. (Abb. 1.) Abb. 1: Flame Towers

Foto: Aytən Qəhrəmanova, 2015

Die Einbettung des Erdöls im kulturellen Selbstverständnis der Bakuer kann mit den Worten des im Westen der 1930er Jahre populären Autors Essad Bey deutlich gemacht werden: „Das älteste und bekannteste Ölfeld der Welt ist die Halbinsel Abscheron am Kaspischen Meer. Vor Jahrtausenden, zu Zeiten, als die Erde noch jung war, als das Öl noch in dicken Schichten unter der dünnen Kruste der Oberfläche lag, schlugen dort, dicht nebeneinander, Hunderte von brennenden 6

Aliyev, 2012, S. 143. 73

Elnura Jivazada Ölfontänen aus der Erde. In den dunklen Nächten boten diese ewig leuchtenden Fackeln am Ufer des Meeres ein Bild des Zaubers. Den Menschen des Altertums erschütterte die Phantastik dieses ewigen Feuers. Verwirrt, voll erhabenen Grauens, sank er in die Knie und betete zu dem unbekannten Gott des Feuers. Der Anblick des ewigen Feuers bezwang ihn. Das ewige Feuer wurde ihm heilig. Einst, viele Jahrhunderte vor Christus, durchzog der Prophet Zarathustra die grünen Ebenen Irans. Auf seinen Wanderungen gelangte er mit seinen Schülern zu der fernen Halbinsel Abscheron. Dort erblickte er das ewige Feuer. Vor Ehrfrucht ergriffen, verweilte der Prophet vor den leuchtenden Fackeln, und eine große Wahrheit offenbarte sich ihm.“7

Der Versuchung, Baku als die Inspirationsquelle des Zoroasters festzulegen, fallen zwar seriöse Autoren nicht anheim, denn zahlreiche Forschungsarbeiten verorten die Provinz Aserbaidschan im Norden Irans nur als einen der möglichen Herkunftsorte des Propheten der Feueranbeter. Aber die Bezeichnung „Hauptstadt des heiligen Feuers“ schlug sich in Legenden nieder.8 Awesta, das heilige Buch der Zoroastrier, gilt als erstes schriftliches Zeugnis der aserbaidschanischen Literatur.9 Dabei kann das nicht auf Baku begrenzt werden; die Interpretation des Namens Aserbaidschans als „Land des Feuers“ schließt die gesamte Bevölkerung in diese Symbolik ein. Die Betonung der zoroastrischen Vergangenheit dient einerseits der „Exotisierung“ für touristische Zwecke.10 Gleichzeitig stiftet es eine Grundlage, welche die Abgrenzung der kulturellen Identität von den Nachbarländern historisch begründen soll. Der visuelle Anknüpfungspunkt an den Zoroastrismus in Baku ist der im Norden der Stadt gelegene Feuertempel Suraxanı. Erst in den 1950-er Jahren als Touristenattraktion wiederentdeckt, wurde er Motiv für zahlreiche Filme und Postkarten von Baku. Das natürliche Feuer hat aber seine Funktion der Anbetung schon längst verloren und ist für industrielle Zwecke erschlossen worden. Schon 1888, beim Besuch des Zaren Alexander III., mussten Gasrohre von anderen Quellen gelegt werden, um ihm den Tempel erleuchtet vorzuführen.

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Essad Bey, 1933, S. 13. Fituni, 1927, S. 150. Səfərli/Yusifli, 2008, S. 16-24. Huseynova, 2012, S. 84.

Die Ressource Erdöl als Erinnerungsort

Die Gebrüder Nobel und die technische Innovation Genau dieser Tempel, der von indischen Pilgern 1813 wiederaufgebaut worden war, lieferte ab 1859 Energie für die erste Raffinerie direkt nebenan, deren Entwicklung der Chemiker Dmitrij Mendeleev beratend begleitete.11 In Schwung kam die Erdölwirtschaft nach der Erschließung des Erdöls in den USA und nach der Einführung langfristiger Pachtverträge vom Staat an Privatleute ab 1872. Die Investoren brachten Großkapital und technische Innovationen in die Region, allen voran Emmanuel Nobel, der Neffe des schwedischen Dynamiterfinders Alfred Nobel. Der erste Öltanker, genannt „Zoroaster“, Eisenbahnlinien für die Transporte der Zisternen und Pipelines entstanden. Mit dem Namen Nobel wird auch heute der Anschluss an die moderne Wirtschaftswelt verbunden. Vom Feuertempel zum Stadtzentrum führt die Gebrüder-Nobel-Chaussee an der „Schwarzen Stadt“ vorbei zum ehemaligen Wohnhaus und heutigen Museum der Nobels, das eine kleine grüne Idylle darstellte. Hier finden die Besucher eine akribisch zusammengestellte Dokumentation über die Familienmitglieder, die in Baku gearbeitet und die Erdölindustrie vorangebracht haben. Thomas Thydén, der Vorsitzende der Gesellschaft der Nobel-Familie stellte fest, dass der Großteil des Vermächtnisses von Alfred Nobel für den berühmten Nobelpreis nicht aus seinen Erträgen aus der Dynamitproduktion, sondern aus den Erträgen der in Baku tätigen Ölfirma „Gebrüder Nobel“ stammte12 – eine Geschichte, die in Baku gerne tradiert wird. (Abb. 2).

Die Schwarze Stadt, die Arbeiterrevolution und die Mäzene Bevor sich Mechanisierung und Innovation durchgesetzt hatten, mussten auch die Nobels viel in die „Schwarze Stadt“ investieren. Dieser Stadtteil entstand 1873 durch die Verlagerung der Produktion an den Stadtrand, denn die Bürger beschwerten sich über die zunehmenden Abgase der Raffinerien und den schwarzen Smog in der Stadt. Hier verloren Tausende von ungelernten Arbeitern, die aus verschiedenen Teilen des Reiches und vor allem aus dem Iran zugewandert waren, ihr Leben oder ihre Gesundheit. Der russische Schriftsteller Maksim Gorkij nannte den Stadtteil „die geniale Nachahmung der Hölle“13. In 11 Mendeleev, 1897, S. 939-952. 12 Thydén, 2009. S. 6. 13 Gorkij, 1952, S. 113. 75

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Abb. 2: Gedenkstein vor dem Museum für die Gebrüder Nobel in der Schwarzen Stadt

Foto: Elnura Jivazada, 2015

dieser „Hölle“ zwischen ihren Bohrtürmen und Arbeiterhäusern entstand der Nährboden für die Revolutionen von 1905 und 1917. Der russische Schriftsteller Boris Akunin beschreibt in seinem Bestseller-Roman über den Detektivhelden Fandorin den Untergrund, in dem quasi-kriminelle Gruppen die Ölmagnaten erpressen, die Bohrtürme in Brand setzen und Agitation für ihre Vision von einem Arbeiterstaat betreiben.14 14 Akunin, 2012. 76

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Zahlreiche Erzählungen über die Revolutionszeit haben ihren festen Platz in der literarischen Darstellung der Geschichte von Baku eingenommen.15 Die Geschichten über Josif Stalin, in Baku als Koba bekannt, dominieren die Berichte über diese Epoche.16 In der offiziellen Geschichtsdarstellung wird die „Vereinnahmung der Arbeiterbewegung durch die Russische Sozial-Demokratische Arbeiterpartei“ und die Bolschewiki kritisiert und Organisationen der aserbaidschanischen Arbeiter – wie Hümmət – hervorgehoben.17 Zu sehen bekommt man von der Arbeiterbewegung in Baku wenig. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Chaussee der Arbeiter in Gebrüder-Nobel-Chaussee umbenannt und das Denkmal für den Arbeiter, der die Ketten um eine Weltkugel zerschlug, in den 2000er Jahren in den Hinterhof einer Ölraffinerie verbannt. Auf der Straße zur „Schwarzen Stadt“ wurden die Autofahrer seit den 1990er Jahren mit einem Plakat begrüßt, auf dem der frühere Präsident Heydər Əliyev sein Vorhaben verkündete, die „Schwarze Stadt“ in eine „Weiße Stadt“ umzuwandeln. So entstanden anstelle der verfallenen Häuser neue Büros mit auffälliger Architektur, die den avisierten Übergang zu einem postindustriellen Zeitalter als Zentrum für Dienstleistung und Tourismus herbeiführen sollen.18 Die Wucht der Veränderung erfasste jedoch auch die Ruine eines Theaters, das die Nobels in der „Schwarzen Stadt“ für die Arbeiter bauen ließen. Von der Revolutionsgeschichte, die während der Sowjetzeit glorifiziert wurde, sieht man heute im Museum der Geschichte Aserbaidschans eine Nachbildung des Untergrundverlags Nina, für den die Revolutionäre der ersten Stunde wie Leonid Krasin, Sergej Alliluev oder Avel Enukidze tätig waren. An den Arbeiterklubs der 1920-er Jahre vorbei, entlang der Ölarbeiter-Straße landet man in den Vierteln, in denen die Ölmillionäre des ersten Ölbooms residierten und in denen auch heute belebte Geschäftigkeit herrscht. Ihre Geschichten des persönlichen Aufschwungs erfreuen sich seit den 1990er Jahren großen Interesses. Begehrt sind die Führungen des Stadthistorikers und TV-Autors Fuad Axundov, der mit Archivfotos und fesselnden Liebesgeschichten eine Zeitreise durch die Gemächer der ehemaligen Noblessen anbietet.19 Diese sorgten nicht nur für die vielfältige Architektur der Stadt Baku, sondern bildeten die Anfänge eines nationalen Bürgertums. Der bedeutendste von ihnen, Hacı Zeynalabdin 15 16 17 18 19

Fəhmi, 2010; Süleymanov, 1984. Rolin, 2013, S. 30-37. Bağırova/Seyidzadə, 2007, S. 272. www.bakuwhitecity.com, 19.07.2015. Seine Ausführungen zu „Legasy of the Oil Barons“ finden sich bei Akhundov, 2013. S. 19-51. 77

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Tağıyev, der selbst als Sehenswürdigkeit der Stadt bezeichnet worden ist,20 wird heute mit einer Büste im Stadtzentrum und einem Hausmuseum geehrt, das einen Teil des Museums für die Geschichte Aserbaidschans darstellt. Obwohl das Museum aus Platzmangel ihre Geschichtsdarstellung mit dem 20. April 1920, der Sowjetisierung Aserbaidschans beenden musste, ist die Ausstellung der persönlichen Gegenstände Tağıyevs in mehreren Räumen eine Priorität des Hauses, dessen Bauherr er war. Die Erinnerung an ihn ist nicht auf dieses Museum beschränkt: Wenige Straßenzüge weiter halten die Reiseführer an einem Gebäude an und erzählen von der ersten weltlichen Schule für muslimische Mädchen, dessen Bau Tağıyev trotz des Widerstandes der muslimischen Kleriker durchgesetzt und aus seinen Öleinnahmen finanziert hatte.

Das Erdöl und der Zweite Weltkrieg Setzt man die Suche nach den Orten fort, an denen an Erdöl besonders erinnert wird, landet man einige Schritte weiter an einem Denkmal, das zugleich den technischen Fortschritt in der Ölindustrie, sowie den bedeutenden Beitrag von Baku im Zweiten Weltkrieg symbolisiert. Yusif Məmmədəliyev (1905-1961), einer der Gründer der Petrochemie in Aserbaidschan hatte 1945 den Stalin-Preis für die industrielle Fertigung des Brennstoffs für Militärflugzeuge erhalten. Seine Nachfahren beanspruchen für Məmmədəliyev die Urheberschaft des Molotov-Cocktails, was seine Popularität in Aserbaidschan zusätzlich befördert.21 Bedauert wird der womöglich entgangene Nobelpreis, für den er 1957 von der Sowjetunion vorgeschlagen werden sollte. Wegen Bedenken bezüglich des geheimen Charakters seiner wissenschaftlichen Ergebnisse wurde dieser Gedanke allerdings wieder verworfen.22 1999 wurde dieses Denkmal in staatstragender Manier, in Begleitung eines uniformierten Blasorchesters enthüllt, dies in einer Zeit, als Aserbaidschan sich als von Russland selbstständiger Erdöllieferant auf den internationalen Märkten positionierte. Die in Aserbaidschan beliebte Formel der militärischen Überlegenheit der Sowjetunion, „Yakovlev, Mikulin, Məmmədəliyev“23, zeigt den Stellenwert, die den Öllieferungen im Krieg beigemessen wird – dadurch dass sie sie neben den Herstellern von Flugzeugen und Motoren positioniert. (Abb. 3) 20 21 22 23 78

Harteveld, 1914, S. 4. Mammedalieva, 1999, S. 117f. O. V., Formula of Victory, 2012, S. 108. Ebd., S. 105.

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Abb. 3: Yusif Məmmədəliyev

Foto: Aytən Qəhrəmanova, 2015

Entsprechend der sowjetischen Narrative, welche die Teilnahme der westlichen Alliierten für den Ausgang des Krieges vernachlässigt, glaubt man in Baku, dass der Zweite Weltkrieg ohne Lieferungen aus Baku anders ausgegangen wäre. 75 000 000 t Erdöl wurde aus Baku zwischen 1941-1945 geliefert, was drei Viertel der sowjetischen Erdölproduktion während des Kriegs ausmachte.24 Zum 70. Jubiläum des Kriegsendes präsentierte die Heydər-Əliyev-Stiftung einen Dokumentarfilm mit dem Titel „Das Ziel ist Baku. Wie Hitler den Kampf ums Öl verlor“, der die Bedeutung des Bakuer Erdöls für den Kriegsausgang vor Augen führen soll. Die „harte Arbeit der Bakuer Ölarbeiter und Wissenschaftler für den Krieg“ nahmen die Mitglieder des aserbaidschanischen Parlamentes aus der Regierungspartei Anfang 2015 erneut auf, um die Staatsduma der Russländischen 24 Yusifzadə, 2007, S. 410-416. 79

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Föderation um die Zuerkennung der Auszeichnung „Heldenstadt“ zu bitten – ein Status, den 14 sowjetische Städte, darunter Sevatopoľ und Odessa nach dem Krieg bekommen hatten. Die Tatsache, dass Baku anders als diese Städte von Kriegshandlungen verschont geblieben war, spielte dabei keine Rolle. Die Gegner kritisierten dieses kolonial anmutende Verhalten, das ein Land, das seine Unabhängigkeit als Priorität darstellt, zum Bittsteller vor der russischen Duma machte.25 Besonders in der sensiblen Zeit, in der die Länder der Region sich für ein Bündnis entweder mit der von Russland protegierten Eurasischen Union oder der EU entscheiden sollten, wurde diese Bitte als ein Umschwenken auf die Politik der russischen Regierung interpretiert. Von den Abgeordneten der Duma ging der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Russlands, Gennadij Zjuganov, auf diesen Vorschlag ein und versprach, das Anliegen in die Duma einzubringen.26 Auch wenn die Zuständigkeit Russlands als Rechtsnachfolger der Sowjetunion für diese Fragen unbestritten ist, suggeriert das Thema „Heldenstadt“ eine Wiederherstellung des asymmetrischen Verhältnisses zwischen ehemaligem Zentrum und Peripherie und wird als Instrumentalisierung der Geschichte betrachtet.

Von Azneft zu den Bibiheybət-Bohrtürmen mit dem Grab des Ingenieurs Vom Denkmal Məmmədəliyevs nach Süden gelangt man entlang der Altstadtmauer zum Azneft-Platz und dem Hauptgebäude der staatlichen Erdölgesellschaft SOCAR, des wichtigsten Unternehmens und der „Melkkuh“ des Landes. Das Haus unweit des Ufers des Kaspischen Meeres wurde 1895 durch den Architekten Peter Stern in Nachahmung der französischen Renaissance für Mirtağı Babayev fertiggestellt, der von Beruf Sänger war. Babayev erhielt als Honorar ein Stück ertragreiches Land und gehörte in kürzester Zeit zu den reichsten Menschen der Stadt. Nach der Sowjetisierung Aserbaidschans 1920 wurde das Haus für das neugegründete Ölunternehmen beschlagnahmt und von Serebrovskij, einem als „Sowjetischer Rockefeller“ bekannten russischen Revolutionär geleitet. Trotz einiger industrieller Innovationen, die er einführte, wird er in Aserbaidschan als Ausbeuter für Russland in Erinnerung bleiben, der nicht mal die für den Eigengebrauch notwendige Menge an Öl in Baku ließ. 25 www.sherg.az/site/id7973/Yevda_Abramovun_t%C9%99klifini_t%C9%99pki_ il%C9%99_qar%C5%9F%C4 % B1lad%C4%B1lar, 27.02.2015. 26 haqqin.az/news/40937, 07.03.2015. 80

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Von Azneft nach Süden führt der Weg nach Bibiheybət, zu den ältesten Ölfeldern der Halbinsel. Inmitten von Bohrtürmen und Ölpfützen liegt ein gepflegtes Grab des legendären Ingenieurs Paweł Potocki, der 20 Jahre lang die Trockenlegung von ca. 100 ha ölreichen Meeressockels leitete und trotz seiner Erblindung weiterhin die Projektierung der Arbeiten durchführte. Er wurde entsprechend seines Vermächtnisses 1932 auf dem Boden begraben, den er dem Meer abgewonnen hatte.27 Das Grab wird nicht nur beim Besuch polnischer Regierungsvertreter, sondern auch bei Konferenzen der Bildungseinrichtungen der Erdölgesellschaft besucht, um die Bindung an das Erdölgeschäft zu vermitteln. Abb. 4: Grabstein von Potocki

Foto: Elnura Jivazada, 2015

Die Stadt im Meer und das geplante Erdölmuseum Ein weiterer emotional aufgeladener Ort der Erdölgeschichte Bakus liegt 40 km vor der Küste im Meer, fernab von den Augen des Betrachters, aber in zahlreichen Erzählungen und Liedern weiterhin präsent: Neft daşları (Oil Rocks), die erste künstliche Offshore-Stadt der Welt – ein Ort, der nicht in Flächenmaßen, sondern in seiner Länge gemessen wird. Diese 180 km lange Inselstadt mit 5000 Einwohnern, Kino, Park und anderen Einrichtungen wurde 1949 gebaut, weil 27 O. V., The Pioneer of Land Reclamation from the Sea, 2013, S. 120f. 81

Elnura Jivazada

u.  a. die Ölvorkommen auf dem Festland zur Neige gingen. Diese „legendäre Stadt diente mit ihrer Erdölproduktion der Beschleunigung des Wiederaufbaus nach dem Krieg“28. Die Offshore-Stadt wurde von sieben halbversenkten Schiffen aus gebaut. Darunter war der von den Nobels gebaute erste Öltanker „Zoroaster“. Die strahlenden Gesichter der Arbeiter aus Neft daşlari, die „den Sonnenaufgang als Erste erblickten“29, schmückten häufig die Tageszeitungen und es galt als Prestige, dort zum Einsatz zu kommen. In der Stadt Baku erinnern noch die Straßennamen Kaveroçkin und Yusif Səfərov, benannt nach den Pionieren des Projektes, an diesen sozialistischen Drang, die Natur zu überwinden. Diese „großzügig dimensionierte urbane Landschaft auf pompöse Manier des sozialistischen Modernismus“30 darf weiterhin nur mit Sondergenehmigung betreten werden und übt einen entsprechenden Reiz aus. Pläne, die Stadt zu einem Kurort umzuwandeln, blieben bisher Spekulation.31 Ob sie in Zukunft für Tourismusund Erholungszwecke genutzt wird oder als Ort der Erinnerung an die Glorie der sozialistischen Aufbauzeit dienen wird, bleibt unklar. Die Musealisierung der Ölgeschichte32 von Baku ist ein Thema, das die Stadt in den kommenden Jahren beschäftigen wird. Das geplante Erdölmuseum, das auf 64 ha rekultiviertem, vormals ölverseuchtem Boden in Bibiheybət gebaut werden soll, musealisiert das Erdöl nicht als etwas aus der Vergangenheit, sondern setzt sich zum Ziel, „der Agitation für die Ressource Erdöl und der Erziehung des Respektes für die nationalen Schätze bei der jungen Generation“ zu dienen.33 Auch wenn das detaillierte Museumskonzept der staatlichen Erdölgesellschaft die Nachbildung bzw. Konservierung aller Entwicklungsstufen mit ihren Schäden für Mensch und Natur vorsieht, ist die Tendenz zur Glorifizierung und Ästhetisierung des Erdöls unübersehbar. Zu den Voraussetzungen der Ausschreibung von 2008 gehörte die „Auffälligkeit der Gestaltung durch unverwechselbare Architektur“, die an Erdöl erinnern soll.34 Das griechische 28 29 30 31

O. V., Oil Rocks, 2013, S. 64. Ebd., S. 66. Hertzsch, 2012, S. 263. Neft daşları turizm mərkəzinə çevrilsinmi?, in: http://hafta.az/index2.php?m=yazi&id=95474, 12.07.2013. 32 Ein vorhandenes Nationales Erdölmuseum des Institutes für Arbeitssicherheit in der Industrie am Rande des Stadtzentrums hat die Arbeitstechnik als Schwerpunkt und ist allgemein wenig bekannt. 33 http://e-qanun.az/framework/13165, 07.08.2015. 34 www.socar.az/neftmuzeyi/muzey.html, pdf, 31.03.2015.

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Die Ressource Erdöl als Erinnerungsort

Architekturbüro, das in die Endrunde kam, soll mit einem Gebäude für das Erdölmuseum in Form von zwei Öltropfen und sieben thematischen Parks von der Jurazeit über den Zoroastrismus bis ins industrielle Zeitalter „das neue Wahrzeichen der ganzen Stadt Baku“ etablieren.35

Fazit Die Erdölgeschichte wird in Baku mit dem Anschluss an die Moderne, persönlichen Aufschwungschancen und kulturellem Wandel, aber auch mit großer sozialer Kluft sowie Umweltverschmutzung in Verbindung gebracht. Ölfelder Abb. 5: Inszenierung. Tanz auf der Erdölpfütze

Foto: Nonna Varlery de Gubek, 2005

bleiben weiterhin eine beliebte Kulisse der Künstler aus Baku. Die Auswanderer aus Baku haben immer noch Sehnsucht nach der angeblich erdölgetränkten Luft der Stadt. Doch dieser Ölgeruch ist oft imaginiert. Die ausgedienten Indus­ trieanlagen verschwinden sukzessive aus dem Stadtbild und die ölverseuchten Böden, die Altlasten der jahrhundertelangen Ölförderung, werden schrittweise rekultiviert. Die Pläne, das Land als Adresse für Eventtourismus zu profilieren 35 www.anamorphosis-architects.com/projects/OIL_MUSEUMCOMPLEX/MUSEUM-COMPLEX.html, 03.04.2015. 83

Elnura Jivazada

gelten als Vorbereitung für die Zeit nach dem Ende des Erdöls. Während in den 1990-er Jahren das Ende der Erdöl-Epoche mit der Ausschöpfung der Ressourcen im aserbaidschanischen Sektor des Kaspischen Meeres allmählich absehbar war, ist seit dem Preissturz 2014 der Bedeutungsverlust des Öls wegen des Überangebots auf dem Weltmarkt sowie der Verbreitung anderer Energiequellen aktueller denn je. Daher überraschte es kaum jemanden, als Präsident Əliyev am 8. August 2015 – nach einem erneuten Preissturz – den Anfang der Post-Erdölära ankündigte und die Bevölkerung aufforderte „das Erdöl und Erdgas zu vergessen“36. Etwas pathetisch malte Essad Bey in seiner Utopie das Ende des flüssigen Goldes aus: „Irgendwann, wenn der Erde der letzte Tropfen Öl entrissen worden ist, muß an seine Stelle ein künstliches Produkt treten. Die Bohrtürme werden nutzlos sein. Zu den Gebieten des einstigen Ölreichtums werden neugierige Touristen pilgern, wie heute nach Pompeji oder zu den Pyramiden; Reiseführer werden den erstaunten Besuchern in Südpersien oder Baku die Pracht der stumm zum Himmel blickenden Bohrtürme erläutern. Mit Verwunderung werden die Neugierigen den Sagen von den blutigen Kämpfen lauschen, die einst um die hohen schweigsamen Türme getobt haben. Alte Bücher werden vom Wunder des Ölzeitalters berichten und die Ruinen der Ölbohrtürme werden das letzte sein, das von der Macht der Weltkonzerne kündet. Standard Oil, Royal Dutch und Shell, diese Namen werden im gleichen Atem mit Assyrern und Babylon genannt werden. Denn in jedem Lande, in jeder Stadt werden sich saubere, stille Fabriken erheben, in denen ohne Kampf, ohne Blut und ohne Abenteuer das Lebenselixier der Erde, die Nahrung für unzählige Maschinen, hergestellt werden wird.“37

Literatur Akhundov, Fuad, Europe Outside the Fortress Walls, in: Memories of Baku, hg. von Nicolas V. Iljine, Seattle 2013. Akunin, Boris, Černyj gorod, Moskva 2012. Aliyev, Rasim, Bakuer Moderne. Katalog zur Ausstellung „Sowjetmoderne 19551991, Unbekannte Geschichten“, in: Architekturzentrum Wien, hg. v. Katharina Ritter u. a., Wien 2012, S. 140-151. 36 www.president.az/articles/15947, 08.08.2015. 37 Essad Bey, 1933. S. 428f. 84

Die Ressource Erdöl als Erinnerungsort

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Gefährdetes Sibirien? Kulturerbe Irkutsk und Naturerbe Baikalsee im Diskurs von Wandel, Niedergang, Schutz und Aufschwung Julia Röttjer Wer sich einmal in der Rolle des exkursionsfreudigen Studenten, der Austauschwissenschaftlerin, des Welterbetouristen, des Sibirienenthusiasten, der Irkutsker Schülerin des Faches „Landeskunde“ (stranovvedenie), oder des Klaus-Bednarz-Doku-Zuschauers befunden hat, wer einmal mit dem hochkarätigen Zug „Zarengold“ oder mit dem Gemeinschaftswaggon „Plackart“ auf der Strecke der Transsibirischen Eisenbahn unterwegs war, die bzw. der hatte früher oder später eine, zunächst indirekte, Begegnung mit dem Baikalsee. Alle diese Menschen sind mit den zahlreichen blumigen Umschreibungen der „Blauen Perle Sibiriens“, mit der Mythenwelt dieses Gewässers konfrontiert worden, und die allermeisten können noch für sehr lange Zeit den grundlegenden Steckbrief herunterbeten: „In Südostsibirien gelegen, ist der 3,15 Millionen Hektar große Baikalsee, der älteste (ca. 25 Millionen Jahre) und tiefste (1700 m) See der Welt. Er enthält 20 % des gesamten nicht gefrorenen Süßwasservorrats der Erde.“1 Um eine persönliche Erkundung dieses weltweit bekannten Naturreservates, das etwa 5000 km östlich von Moskau liegt, vorzunehmen, wird es sich anbieten, am Westufer, in der ca. 60 km entfernten Stadt Irkutsk Station zu machen. Die kleinteiligere Routenplanung wird sodann nahelegen, von der Gebietshauptstadt Irkutsk in die direkt am Seeufer gelegene Siedlung Listvjanka

1

Webseite der Liste der UNESCO Welterbestätten: http://whc.unesco.org/en/ list/754/, 02.09.2015 [Übersetzung aus dem Englischen J.R.]. 87

Julia Röttjer

aufzubrechen, und vielleicht auf halber Strecke der am Flussufer der Angara2 entlang führenden Straße noch im Freilichtmuseum „Talcy“ halt zu machen. Selbstverständlich gäbe es für Touristen, Historikerinnen oder andere Reisende gute Gründe, die sibirische Metropole Irkutsk aus eigenem Recht heraus zu besuchen3 und sich erst sodann an die Entdeckung der Naturschönheiten zu wagen. Abb. 1: Blick auf den Baikalsee von Listvjanka aus

Foto: Julia Röttjer, 2000/2001

Durch die genannten Reise-, Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten wurden und werden jeweils sich wandelnde Bilder des Sees, der Stadt, der Region oder der imaginierten Landschaft „Sibirien“ generiert und kommu-

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In der populärsten Legende um den See wirft der „Vater“ Baikal einen Stein nach seiner Tochter Angara, die mit ihrem Geliebten Enisej davonlaufen möchte. Der Stein trifft sie auf die Kehle – noch heute wird der aus dem Wasser ragende Felsen im Gebiet des Ausflusses der Angara aus dem See deshalb als „Schamanenfelsen“ verehrt. Bednarz, 1998, S. 41f. Resnick, 1985, S. 29. Die Förderung dieses Interesses wird u.  a. durch Stipendienprogramme für USamerikanische, türkische und südkoreanische Studierende an der Staatlichen Universität Irkutsk sowie durch deren Partnerschaft mit der Christian-AlbrechtsUniversität Kiel verfolgt. Im Rahmen des letztgenannten Projekts lebte und arbeitete die Verfasserin im Studienjahr 2000/2001 im Wohnheim Nr. 10 der Staatlichen Universität Irkutsk.

Gefährdetes Sibirien?

niziert. Die historischen Akteure, welche diese Vorstellungen produzierten und nutzten, setzten sie flexibel ein und beteiligten sich zuweilen an mehreren, überlappenden Narrativen. Im Folgenden skizziere ich Narrative der Gefährdung und des Wandels bei der Präsentation des Baikalbildes und der Vorstellung über das Verhältnis von Mensch und Natur, etwa im Rahmen der Nominierung für das UNESCO-Weltnaturerbe 1996. Ich zeige, wie diese Erzählungen mit den sich seit Mitte der 1990er Jahre ausweitenden Gefahrenszenarien und Niedergangsdiskursen für die Stadt Irkutsk und ihr kulturelles Erbe verwoben sind. Abb. 2: Markt in Listvjanka

Foto: Julia Röttjer, 2000/2001

In der noch jungen Sowjetunion waren See und Baikalbecken bereits als biologisch besonders wertvoll erkannt worden. Dennoch sollte die Nutzung der natürlichen Ressourcen des Baikalsees in der Sowjetunion Mitte der 1950er Jahre intensiv ausgeweitet werden, ohne von vornherein Schutzmaßnahmen einzuplanen. Zwar entstand nach 1953 im Zuge der Entstalinisierung als „Nebenprodukt“4 wirtschaftlicher Reformen ein Interesse der sowjetischen Führung am Umweltschutz. Allerdings folgten auf diese Absichten zunächst keine konkreten Handlungen oder politischen Programme. Priorität hatte die Nutzung der Ressourcen, zunächst unabhängig von der Frage, ob diese endlich sein könnten. Nordwestlich von Irkutsk wurde 1954 der Bau des Bratsker Wasserkraftwerks begonnen, das die Angara, den einzigen Abfluss des Baikalsees, staute. Seine 4

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enormen Ausmaße machten es zum symbolischen Inbegriff der Zähmung und Nutzbarmachung einer als wild und eigentlich unbeherrschbar stilisierten sibirischen Natur. Auch bei Irkutsk wurde ein großes Wasserkraftwerk gebaut, welches die Stadt und die anzusiedelnde Schwerindustrie mit Strom versorgen sollte. So entstanden an der Angara gleich mehrere Stauungen, und 500  km nordwestlich von Irkutsk ein riesiger Stausee sowie das neue, sich zügig zur Großstadt entwickelnde Bratsk mit belastender Schwerindustrie. Weit über 100 000 Menschen mussten umgesiedelt werden. Auch andere Stauseen führten zum Untergang zahlreicher Dörfer und zu Veränderungen des Mikroklimas.5 In den 1950er Jahren wurde ein Zellulosekraftwerk am Südufer des Baikalsees geplant: Das Irkutsker Kraftwerk sollte den Strom liefern, und der See das hochreine Wasser, das zur Produktion der militärisch bedeutenden Cordzellulose zunächst dringend benötigt wurde.6 Die einsetzende Entstalinisierung und das aufkeimende Interesse der Parteiführung an umweltpolitischen Fragen machten eine öffentliche Debatte um die Zukunft des Sees wieder möglich. Zum ersten Mal wurde die zentrale Planung eines wirtschaftlich bedeutenden Projekts infrage gestellt. Wissenschaftler, bildende Künstler, Schriftsteller und andere trugen die Diskussionen in die Zeitungen bis hin zur Veröffentlichung in den offiziellen Parteidruckorganen. Doch die Inbetriebnahme des Werkes 1966 und die unmittelbar einsetzenden Verunreinigungen des Baikalsees weitab von gezogenen Schadstoffgrenzwerten konnten nicht verhindert werden.7 Die Umsiedlungen der Menschen, der Verlust ihrer Dörfer, die gigantischen Wasserkraftwerke, das Zellulosekombinat und die resultierende erste große Verschmutzung des Baikalsees führten zu Protest in der Bevölkerung und zu einer Umweltschutzbewegung, die im Laufe der Jahre auch international große Resonanz fand. Zu den Erfolgen dieser Koalition, die sich auch gegen andere Großprojekte zusammenfand, gehörte das Naturschutzgesetz 1969 und die 5

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Ebd., S. 354. Dahlmann, 2009, S. 284f.; Lincoln, 1994, S. 437-443. Vgl. den kurzen Überblick über die Industrialisierung in Naumov, 2003, S. 246-250. Gestwa, 2010, S. 14, analysiert erkenntnisreich die Entstehung hydraulischer Großprojekte und ihre Rolle im politischen System der Kommunistischen Partei als „Laboratorien der sowjetischen Moderne“. Bereits bei der Fertigstellung des Werkes wurde dieser militärische Cord aus Erdöl statt aus Zellulose gewonnen. Komarow, 1979a, hier S. 19, in Auszügen gedruckt in Komarow, 1979b. Vgl. Feshbach/Friendly, 1992, S. 116-118. Dahlmann, 2009, S. 286f. Vgl. Komarow, 1979a, S. 8-13. Verhindert werden konnte allerdings die Sprengung der Südspitze des Baikalsees, um das Wasser mit mehr Kraft in die Angara fließen zu lassen. Dazu u. a. Weiner, 1999, S. 356-373.

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Abb. 3: Blick über den Baikalsee auf das südöstliche Ufer

Foto: Julia Röttjer, 2000/2001

Schaffung des Reservates Baikal’skij Zapovednik. Die Schadstoffemission sollte niedrigeren Grenzwerten unterliegen und es wurden neue Filter installiert; die Verschmutzung des Sees sank leicht.8 Diese Debatten und organisierten Schutzbemühungen waren möglich, obwohl zugleich Daten und Berichte über Umweltschäden und Gesundheitsgefährdungen auch in den 1970er Jahren der staatlichen Zensur unterlagen.9 Die Sorge um die Endlichkeit der Ressourcen und der Wachstumsmöglichkeiten bewirkten um 1970 eine intensive Belebung ökologischer Debatten und Bewegungen in vielen Regionen der Welt und verstärkten übergreifende internationale Allianzen für den Umweltschutz.10 Im Jahr 1972 tagte die erste Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Stockholm – die United Nations   8 Dahlmann, 2009, S. 284-288. Zu den Zapovedniki ausführlich: Weiner, 1999.   9 Komarow, 1979b. 10 Hünemörder, 2004, S. 199-276. Die Bewertung des Zäsurcharakters der 1970er Jahre in der Zeitgeschichte, auch für die Dimension der Umweltgeschichte, ist noch nicht abgeschlossen. Radkau, 2011, S. 124-164, in dessen Darstellung für diesen Zeitraum die Sowjetunion allerdings kaum eine Rolle spielt, nennt die Zeit um 1970 „ökologische Revolution“ (S. 124); vgl. McNeill, 2005, S. 366-376. Obertreis, 2012, weist darauf hin, dass sich durch die bisher nicht umfassend bearbeitete Frage nach einer „ökologischen Wende“ in den sozialistischen Staaten in den 1970er Jahren auch neue Perspektiven auf diese Bewertung insgesamt ergeben können. 91

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Conference on the Human Environment (UNCHE), auf die auch die Gründung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) zurückgeht. Vor dem Hintergrund der internationalen Entspannungspolitik waren die Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Paktes sowie die westlichen Länder in Maßen bereit, über umweltpolitische Fragen zu verhandeln. Die internationalen Diskussionen um den Baikalsee waren dabei ein prominentes Problem, das die Sowjetunion direkt betraf.11 Ein Ausdruck dieses internationalen Diskurses der ökologischen Krise, der Grenzen des Wachstums und der Notwendigkeit der Bewahrung von Ressourcen für künftige Generationen war die ebenfalls 1972 von der UNESCO-Generalversammlung verabschiedete „Konvention zum Schutz des Kulturellen und Naturellen Erbes der Welt“. Nach der Ratifikation durch eine ausreichende Anzahl von Staaten wurde ein intergouvernementales Gremium mit gewählten Mitgliedern eingesetzt, das die Konvention und ihre Anwendungsrichtlinien ausführte. In jährlichen Versammlungen dieses Welterbekomitees wurden seit 1978 Kultur- und Naturerbestätten, denen ein außergewöhnlicher universeller Wert zugesprochen wurde, auf die sogenannte „Welterbeliste“ gewählt.12 Obgleich die sowjetische Führung die fortschrittskritische ökologische Rhetorik der beginnenden 1970er Jahre gegen den Kapitalismus auslegte und die Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftens auch in dieser Hinsicht betonte, zog sie ebenfalls Schlussfolgerungen für die Notwendigkeit zum besseren Schutz der Natur. Ende 1972 dekretierte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei den Umweltschutz als höchste Priorität des Staates, unabdingbar sowohl für die Erfüllung wirtschaftlicher Pläne wie für das Wohl künftiger Generationen. Es folgten neue Initiativen in der Umweltgesetzgebung und damit verbundene Investitionsprogramme, die entsprechend von ihren politischen Ini­ tiatoren angepriesen wurden. Doch die Programme griffen nur vereinzelt, und die Investitionen stagnierten ab Mitte der 1970er Jahre wieder.13 Nördlich des Baikalsees wurde seit dieser Zeit wieder der Bau der Baikal-Amur-Magistrale vorangetrieben. Johannes Grützmacher nannte dies ein Projekt, an dem sich die typisch sowjetische Spannung zwischen quasi-rationaler, technokratischer 11 Hünemörder, 2004, S. 199-276, insbesondere S. 255-257. 12 UNESCO, 1972; Rehling, 2011; Albert/Ringbeck, 2015, S. 60-74. 13 Gestwa, 2003, S. 354-358; Hünemörder, 2004, S. 255-258; Lincoln, 1994, S. 460-472; Komarow, 1979a, S. 109-125. Vgl. die kritischen zeitgenössischen Analysen der Umweltschutzmaßnahmen und der Investitionsmengen durch westdeutsche Forschungseinrichtungen: Reymann, 1985; Weissenburger, 1984; Ders., 1985. 92

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Abb. 4: Südwestliches Ufer des zugefrorenen Baikalsees

Foto: Julia Röttjer, 2000/2001

Besessenheit, Improvisation und brutaler Kraftanstrengung ablesen lasse.14 Der Bau der Eisenbahnstrecke hatte umfassende schädliche Auswirkungen auf die Umwelt, am stärksten waren die Folgen für die Rentierpopulationen und die abgeholzten Wälder, aber auch die Wasserqualität des Sees war betroffen. Die sibirische Natur wurde in der Kommunikation über diese und andere Großprojekte als Landschaft des Wandels definiert, die der Mensch dank neuer Möglichkeiten und verstärkter Anstrengung beeinflussen könne. Die Anleitung zu diesem Modernisierungsprojekt der Sowjetgesellschaft sollte durch die Führung der Kommunistischen Partei erfolgen. Der Gegensatz von Natur und Zivilisation wurde auf diese Weise transzendiert. Einerseits wurde die Natur, wie zuvor bereits in stalinistischen Großprojekten, als Gegner dargestellt, als dem Menschen feindliches Element, mit dem es zu ringen, das es zu bezwingen galt. Doch jenseits dieser propagierten „Wildheit“ wurde die sibirische Natur von Wissenschaftlerinnen, Publizisten und Ökologinnen auch zunehmend als erhabene Schönheit und als ein äußerst empfindliches, bedrohtes Gleichgewicht wahrgenommen.15 Kritik an Umweltzerstörungen erfolgte dabei aus vielfältigen Perspektiven. In vielen wissenschaftlichen und administrativen Kreisen stand Umweltschutz als Ressourcenschutz zur künftigen Nutzung ohne grundsätzliche Infragestellung des Wachstums der sowjetischen Wirtschaft und Gesellschaft im Vorder14 Grützmacher, 2005, S. 207. Vgl. ausführlich Ders., 2012. 15 Grützmacher, 2012, S. 376-381; Ders., 2005, S. 214-218. 93

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grund. Anderen, häufig vertreten durch Angehörige geistes- und sozialwissenschaftlicher Zirkel, ging es um eine stärkere Einbeziehung der Menschen in Planungsvorhaben und um ein harmonischeres Verhältnis zu einer kraftvollen lebendigen Natur, deren Verständnis über ein beherrschbares Reservoir an Ressourcen hinausreichte. Auf rigorose Ablehnung stieß die Vorstellung der Naturnutzung bei einer dritten Gruppe: Der russische Schriftsteller Valentin Rasputin16 stammte aus einem der versunkenen Dörfer bei Irkutsk. Sein Schaffen konzentrierte sich auf das Leben in Sibirien und die Zerstörung der Natur. Gemeinsam mit einigen anderen wurde Rasputin zur literarischen Gruppe der sogenannten „Dorfschriftsteller“ gezählt, die zumeist aus einer für die Sowjet­ union peripheren Perspektive über das Eindringen moderner Errungenschaften in die traditionelle Lebensform der Menschen reflektierten. Aus einer teils nationalistischen Perspektive diagnostizierten sie den Verfall kultureller Werte und kritisierten den als Fortschritt oder Modernisierung firmierenden Wandel. Über die konkreten Umweltzerstörungen hinausgreifend ging es um eine „Fundamentalkritik des rücksichtslosen industriell-technologischen Fortschritts, um die Bewahrung und Rettung der weitgehend bereits untergegangenen Welt des russischen Dorfes als Hort einer spezifisch russischen Kultur.“17 Ihre nationale und auch nationalistische Argumentation führte zu einer Erhöhung und essentialistischen Verklärung des Baikalsees sowie einer noch stärkeren Brandmarkung seiner Beeinträchtigung. Die durch die sibirische Natur imaginierte Kultur wurde im Dienst einer nationalen Identitätsbildung von den Schriftstellern zur Wiederbelebung ausgerufen. Es gelte, Kulturdenkmäler und als historisch eingestufte (Holz-)Architektur zu erhalten – im Sinne einer „Ökologie der Kultur“, wie es der Kulturhistoriker Dmitirj Lichačev 1982 benannte.18 Im Rahmen der als Glaznost’ bezeichneten Politik für gesellschaftliche Veränderungen und mehr Transparenz, die vom neuen Generalsekretär der kommunistischen Partei Michail Gorbačëv ab 1985 eingeleitet wurde, konnte schließ16 Rasputin, 1982; Rasputin, 1991; Hirzel, 1996. Gespräch mit dem Schriftsteller: Bednarz, 1998, S. 403-422. 17 Dahlmann, 2009, S. 286. 18 Gestwa, 2003, S. 372-377; Dahlmann, 2009, S. 286-288; auch für die Weiter­ entwicklung nach 1990: Weiner, 1999, S. 420-431. Vgl. Lincoln, 1994, S. 470475, der auf die Funktion hinweist, welche dieser Konflikt bei der Abgrenzung des Ostens vom Westen der Sowjetunion sowie bei der Verfestigung einer zeitgenössischen sibirischen Identität bzw. eines Bildes der „Sibirjaken“ spielte. Goldman, 1992, arbeitet den Zusammenhang zwischen ökologischer Bewegung und Nationalismus sowie dessen Bedeutung für die zerfallende Sowjetunion heraus. 94

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lich auch eine Öko-Bilanz für die sowjetischen Naturräume gezogen werden. Diese zeigte 1989, dass die Programme keinen umfassenden Schutz gebracht, sondern nur punktuell und propagandawirksam eingesetzt worden waren. Verheerende Umweltschäden für das gesamte Staatsgebiet und auch für Sibirien sowie davon ausgehende gesundheitliche Gefährdungen und Einschränkungen der Lebenserwartung der Bevölkerung wurden aufgedeckt.19 Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde von zwei amerikanischen Umweltexperten die These aufgestellt, das Imperium sei an Ökozid20 verstorben. Diese Thesen und die damit verbundenen Studien wirken in der Forschungsliteratur nach, werden aber auch – zunehmend – kritisch hinterfragt.21 Im Oktober 1988 ratifizierte auch die Sowjetunion die UNESCO-Welterbekonvention.22 In der 20. Sitzung des Welterbekomitees im Jahr 1996, also fünf Jahre nach dem Ende der UdSSR, wurde der Baikalsee als Naturerbe aufgenommen.23 Der Baikal wurde von den Zentralbehörden der Russländischen Föderation zur Nominierung vorgeschlagen, wie es das Prozedere für UNESCO-Welt­ erbebewerbungen vorsah. Dabei wurde der See in Superlativen in allen vier für Naturerbe zur Verfügung stehenden Kategorien nominiert: für erdgeschichtliche Relevanz, für signifikante anhaltende geologische und biologische Prozesse, für herausragende Naturphänomene, einzigartige Schönheit und ästhetische Bedeutung sowie für außerordentlich wichtige Habitate bedrohter Arten. Für die Nominierungen zum Welterbe wurden Evaluierungen der Weltnaturschutzun­ 19 Gestwa, 2003, S. 354-358; Hünemörder, 2004, S. 255-258; Lincoln, 1994, S. 460-472; Feshbach/Friendly, 1992; Weissenburger, 1985, S. 64f. Vgl. insbesondere für die Černobyl’-Politik und das Ende der Sowjetunion Radkau, 2011, S. 506-519. 20 Feshbach/Friendly, 1992. 21 Lincoln, 1994. Auch Radkau, 2011 und Gestwa, 2010 schränken dies zwar ein, entziehen sich dem Ökozid-Narrativ allerdings nicht. Dazu zusammenfassend kritisch: Obertreis, 2012. 22 Corinne Geering untersucht in ihrem Dissertationsprojekt „Re-Internationalising Soviet ‚World Heritage‘: The First UNESCO World Heritage Sites in the Russian Federation (1988-1994)“ die Entwicklung sowjetischer Konzepte für den Kultur­ erbeschutz sowie deren Verhältnis zu den entsprechenden Programmen der UNESCO – http://wwc.hypotheses.org/1324, 04.11.2015. 23 Stätte Nr. 754: http://whc.unesco.org/en/decisions/2968, 02.09.2015. Bereits 1986 war am Baikal ein Biosphärenreservat im UNESCO-Programm „Man and Biosphere“ eingerichtet worden – www.unesco.org/mabdb/br/brdir/directory/ biores.asp?mode=all&code=RUS+13. 95

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ion IUCN eingeholt. Für den Baikalsee hoben die Gutachter von IUCN insbesondere die Bedeutung für die Welttrinkwasserreserven und die Biodiversität sowie die Erhaltung endemischer Arten hervor.24 Auch die enorme Tiefe und das Wasservolumen, die Reinheit des Wassers, die Lokalisierung im sibirischen Kontinentalklima und die Produktion eines eigenen Mikroklimas wurden von den Gutachtern der Weltnaturschutzunion besonders hervorgehoben, ebenso wie die Tatsache, dass der See mit Abstand der älteste der Erde sei. Der Baikal unterscheide sich in so vielschichtiger Hinsicht von allen anderen Gewässern der Erde, dass man ihn auch die „Galapagosinseln Russlands“25 nenne. Diese Assoziation bezog sich sicher einerseits auf die große Anzahl endemischer Arten sowie die – aus europäischer Perspektive empfundene – Abgelegenheit und Isolation. Zugleich wurde damit darauf verwiesen, welche Bedeutung der See in der Naturwissenschaft besäße, und dass es diesbezüglich eine äußerst aktive und relevante Forschung mit mehr als 40 internationalen Exkursionen jährlich gäbe.26 Nicht zuletzt wurde mit diesem gewählten Vergleich die Vorstellung von der extremen Sensibilität des Ökosystems und seiner möglichen Gefährdung aufgerufen. Dem See wurde ein relativ gesunder Allgemeinzustand attestiert, allerdings kritisierten die IUCN-Experten auch die Gefährdung durch die Flussregulierung und andere Eingriffe des Menschen: Die Bevölkerung im Baikalbecken betrug etwa 2,5 Millionen, und diese belaste durch Abwasser, Land- und Forstwirtschaft, Industrie, Fischerei und Tourismus den See.27 Die intensivere Entnahme von Ressourcen und die industrielle Entwicklung habe in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen – „wie in vielen Frontier-Regionen der Welt“28. 24 IUCN, 1996. Zu den bekanntesten Arten, auf die sich deshalb immer wieder als Ikonen berufen wird, gehören die Baikalrobbe (Phoca sibirica), der Weißfisch Omul (Coregonus migratorius) sowie der große Baikal-Ölfisch Golomjanka (Comephorus baikalensis), der u. a. durch seinen hohen Fettgehalt (bis zu 40 %) die Wasserdrucksäulen des Sees in ganz unterschiedlichen Tiefen ausgleichen, doch zu hohe Temperaturen nicht tolerieren kann. – Kozlova/Khotimchenko, 2000. Grundlegend für das gesamte Ökosystem ist der Planktonkrebs Epischura – Komarow, 1979a, S. 17f. 25 „Galapagos of Russia“ – IUCN, 1996, S. 57. 26 Ebd. Für das internationale wissenschaftliche Interesse an den Galapagosinseln: Ackermann, 2014. 27 IUCN, 1996, S. 52. 28 „As in many frontier regions of the world“ – IUCN, 1996, S. 57. Die Vorstellung einer vordringenden Frontier der Zivilisation in einen Raum, der als Wildnis, 96

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Neben der berüchtigten Zellulosefabrik trage außerdem die Baikal-Amur-Eisenbahn sowie die generelle Bevölkerungsbelastung auch weit entfernter urbaner Zentren wie Ulan-Bator durch die zahlreichen Zuflüsse in den See zu dessen Bedrohung bei. Unter den Flüssen führe die etwa 1000 km lange, aus Richtung Mongolei kommende und durch das im Südosten des Sees gelegene Ulan-Udė fließende Selenga die größte Belastung ein. Die Umweltschutzexperten wiesen trotz des als gut erachteten Allgemeinzustands auf all diese bestehenden und potentiell sich entwickelnden Gefahren hin, weil die ursprüngliche Nominierung durch Russland diese Punkte in ihren Augen zu kurz abgehandelt hatte.29 Das Gutachten erfasste auch die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Umweltgefährdungen und würdigte das Engagement von Nichtregierungsorganisationen. Bei der Umsetzung von weiteren Schutzzonen oder Gesetzesvorhaben zeichneten sich aber auch Schwierigkeiten bei der Beschaffung nötiger finanzieller und institutioneller Ressourcen ab. Die Berater der Weltnaturschutzunion schrieben der empfohlenen Aufnahme ins Weltnaturerbe eine große Anreizfunktion bei der weiteren Verwirklichung von Schutzmechanismen zu.30 Zusammenfassend stellten die Begutachtenden fest, dass es sich beim Baikalsee um eine geradezu beispielhafte Stätte handele, welche alle vier Kriterien des Weltnaturerbes repräsentiere. Der See mit seiner einzigartigen Unterwas­ serwelt stelle den Kern des Wertes für Wissenschaft wie Umweltbewahrung dar; dazu komme die Umgebung mit ihren taigabestandenen Bergen und „unberührter“ Wildnis: „L[ake ]B[aikal] is in a class by itself, a limnological wonder and a region of superlatives.“31 Die Empfehlung für das Welterbe war eindeutig, trotz oder auch gerade wegen der bestehenden Gefährdungen, welche besonders im Büro des Welterbekomitees hatten zuvor Zweifel aufkommen lassen. Gleichzeitig solle das Welterbekomitee die Gelegenheit nutzen und den zuständigen Wilder Osten oder auch als leerer Raum konstruiert wird, hat in Sibirien eine lange Tradition – Kusber, 2008. Das Bild wurde und wird auf unterschiedliche historische Prozesse angewandt: Stolberg, 2005. Ausführlicher Stolberg, 2009, hier insbesondere die historisch-kritische Diskussion des Konzepts Frontier, S. 5772. Die Baikal-Amur-Magistrale als Frontier: Grützmacher, 2012, S. 359-428. 29 IUCN, 1996, S. 58f. Die Nominierung erfolgte 1996, diese Möglichkeit wurde aber schon seit Längerem diskutiert – Koptyug/Uppenbrink, 1996. 30 IUCN, 1996, S. 59f. Ganz am Ende wurde nur in einer kleinen Notiz auf die kulturellen Werte eingegangen: In der Baikalregion insgesamt gebe es etwa 1200 archäologische, historische und kulturelle Denkmäler, von denen man eine Reihe für heilig halte. 31 Ebd., S. 60. 97

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russischen Autoritäten gegenüber die Wichtigkeit der bereits vieldiskutierten Umsetzung von Schutzmaßnahmen verdeutlichen: der Verabschiedung eines zentralen Umweltschutzgesetzes für den See, einer umweltfreundlichen Konversion des Zellulose- und Papierwerks, der Fortsetzung der Bemühungen zur Eindämmung der Selenga-Verschmutzung, der Zurverfügungstellung von mehr Ressourcen für das Management von Naturreservaten und Nationalparks um den See und der Weiterführung der Unterstützung relevanter Forschung in diesem Ökosystem.32 Das Welterbekomitee nahm 1996 den Baikalsee gemäß der Empfehlung auf und betonte noch einmal die Dringlichkeit der Verabschiedung der umweltgesetzlichen Grundlage, zu der zur Zeit der Einschreibung bereits erste Schritte gemacht schienen.33 Diese Zusammenfassung der russischen Bewerbung und die gleichzeitige Bewertung durch die Weltnaturschutzunion verdeutlichen noch einmal das Interpretationsfeld, in dem bereits in der Sowjetunion, später in der Russländischen Föderation, wie auch auf internationaler Ebene über den Baikalsee kommuniziert wurde. Die beiden Pole der unberührten sibirischen Natur und der anthropogenen Veränderung sind besonders ausgeprägt: Auf der einen Seite stand eine Naturlandschaft der Superlative, in vielfacher Hinsicht einzigartig, in ihrer Komplexität kaum nachzuvollziehen, in ihrer erdgeschichtlichen und limnologischen Bedeutung und ihrer Relevanz für Biodiversität überhaupt nicht hoch genug einzuschätzen. Dementsprechend wurde auch zum Teil auf die zugeschriebene Sakralität des Gewässers verwiesen. Diese spirituelle Wahrnehmung wurde in der oben genannten Beschreibung und in anderen Texten vorwiegend den indigenen Nationen Sibiriens, hauptsächlich der burjatischen, zugeschrieben. Allerdings wurde sie auch häufig durch als naturwissenschaftlich belegt verstandene Phänomene wie die hohe „Selbstreinigungskraft“ des Wassers zusätzlich betont.34 32 Ebd., S. 61. 33 Zugleich waren die Grenzen der beantragten Welterbestätte an das neue Gesetz angepasst worden – alle am Ufer liegenden städtischen Räume wurden explizit ausgenommen – UNESCO World Heritage Committee, 1996b. Das Gesetz wurde schließlich 1999 verabschiedet, enttäuschte jedoch, v.  a. aufgrund mangelnder Konkretisierungen, manche Hoffnungen auf weitgehenden Naturschutz. Reuther, 2001. 34 Zur Verquickung der Spiritualität des „heiligen“ Baikal mit wissenschaftlicher Erforschung sowie Schutz des Sees s. die Begrüßungsbotschaft des Zentralen Buddhistenrates der Russländischen Föderation bei einer Konferenz über Nachhaltige Entwicklung 1994 in Ulan-Udė: Budayev, 1996. Wie bei der Schrift­ 98

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Abb. 5: Holzhäuser in Irkutsk

Foto: Julia Röttjer, 2000/2001

Auf der anderen Seite stand der Eingriff des Menschen: Nach dem Zweiten Weltkrieg seien genau diese naturgewaltigen Ressourcen erst ausgebeutet und dann, trotz ihrer „Selbstheilung“ und „Widerstandskraft“ beeinträchtigt und gestellergruppe um Rasputin gezeigt, bedienten sich auch nationale Narrative gern beim Mythos des geradezu heiligen „Vaters“ Baikal. 99

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fährdet worden. Der Mensch, der in diesem Narrativ im Angesicht der 25 Millionen Jahre Erdgeschichte eigentlich nichtig erscheinen muss, habe es in kürzester Zeit doch geschafft, sich gegen die Natur zu stellen. Zunächst wurde dies sogar als „Bezähmung der Wildnis“ von den einen als Errungenschaft gefeiert, zugleich aber als Vernichtung nicht nur der eigenen Lebensgrundlagen und Ressourcen, sondern auch als Auslöschung universeller Werte betrauert. Die Verknüpfung des Untergangs der Natur mit kulturellen Werten und insbesondere dem gebauten hölzernen Erbe der sibirischen Siedlungen war von den „Dorfschriftstellern“ prominent vertreten und nationalistisch aufgeladen worden. Auch in anderen Gruppierungen mischten sich Natur- und Kulturgüterschutz.35 Die städtebauliche Substanz von Irkutsk wurde hauptsächlich für ihre Mischung von Holzarchitektur des 19. Jahrhunderts in Kombination mit repräsentativen Steinbauten aus der Zeit als Verwaltungszentrum des 18. und 19. Jahrhunderts geschätzt, doch genau diese Mischung galt mehr und mehr als bedroht. Als erste sowjetische bzw. dann russische Weltkulturerbestätten waren der Kreml und Rote Platz in Moskau, das historische Stadtzentrum von St. Petersburg und das Kirchenensemble von Kiži eingetragen worden. Irkutsk rangierte auf der Skala nationaler Wertschätzung etwas weiter unten: 1998 wurde das historische Zentrum von Irkutsk, wie etwa auch das Städtebauensemble von Svijažsk und der Kreml von Rostov, von der russischen UNESCO-Kommis­ sion in die russische Tentativliste36 mit weiteren Natur- und Kulturerbestätten, welche für eine Bewerbung als Welterbe vorgesehen seien oder potentiellen Welterbe-Rang besäßen, eingetragen. Die Einträge in diese Liste scheinen sehr disparat, sowohl in der Auswahl als auch in der Dokumentation. Ebenfalls in diese Reihe nationaler Kulturstätten wurde die eben wiederaufgebaute Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale aufgenommen.37

35 Gestwa, 2003, S. 374-377; Weiner, 1999, S. 33, 419f.; Obertreis, 2012, S. 421. Generell wurden Ideen und Vorhaben zur Verstärkung des Denkmalschutzes in der Sowjetunion ebenso wie in anderen Gesellschaften seit Mitte der 1960er Jahre vorangetrieben. 36 Die Mitgliedsstaaten der Welterbekonvention waren bzw. sind dazu angehalten, vorläufige nationale Inventare zu führen, auf denen sie diejenigen Stätten eintragen, welchen sie einen außergewöhnlichen universellen Wert zusprechen und demnach als möglichen künftigen Vorschlag für die Welterbeliste betrachten – UNESCO, 1996, S. 3f. 37 Tentativliste für das UNESCO-Welterbe, Eintrag Irkutsk: Russische UNESCOKommission, 1998b. 100

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Irkutsk wurde in dieser Beschreibung und Begründung seiner Besonderheit für seine Diversität an Baustilen herausgestellt: Sibirischer Barock, Klassizismus, Art Nouveau, „Russischer Stil“, lokale Traditionen,38 Neogotik, Byzantinismus, Asiatische Einflüsse und Konstruktivismus. Dennoch werde durch die Vielfalt nicht das einheitliche Gesamtbild getrübt. Nach der russischen Kolonisierung der Region im 17. Jahrhundert, der Entwicklung von Handel, Verwaltung und schließlich religiösem Zentrum hätten vor allem Einwanderungsbewegungen die Stadt geprägt – sei es durch die adeligen aufständischen „Dekabristen“39 nach 1825 oder durch das Exil polnischer Widerständler von 1863-64. Nach einem verheerenden Feuer 1879 wurde rasch mit Restaurierung und Wiederaufbau begonnen. Die Architektur der sowjetischen Moderne hingegen, die heute wieder, auch für ihre Irkutsker Ausprägung, geschätzt wird,40 wurde in dem Eintrag in die russische Tentativliste als völlig unverbunden mit der historischen Umgebung kritisiert.41 Im Jahr 1970 war Irkutsk bereits in die sowjetische Liste historischer Städte42 eingetragen worden. Seit den 1970er Jahren wurde mit der Restaurierung herausragender Objekte und seit den 1980er Jahren auch mit umfassenderen Schutzmaßnahmen in der Stadt begonnen. Dies hatte ab 1975 zunächst die Häuser und das Stadtquartier, welche mit den Orten der in Irkutsk weilenden „Dekabristen“ verbunden waren, betroffen. Generell war am Ende der 1990er Jahre im innersten historischen Stadtzentrum das grobe Raster noch intakt, doch die Parzellierung weitgehend aus dem Zusammenhang gerissen. Der Zustand der einzelnen Gebäude variierte stark. Die Lebensbedingungen in den Mietwohnungen der historischen Holzhäuser waren zum Teil abenteuerlich, was den 38 Vgl. zu den in Holz vertretenen Stilrichtungen Meerovič, o. D. (2011). 39 Viele der adligen Offiziere, welche 1825 dem Zaren Nikolaj I. den Eid verwehrt hatten, wurden nach Sibirien verbannt und ließen sich mit ihren Familien u.  a. in Irkutsk nieder, wo sie die Stadtgesellschaft und -entwicklung nachhaltig beeinflussten. Dahlmann, 2009, S. 171-177; Lincoln, 1994, S. 201-210; Dulov/ Jačmenev, 1993. 40 Proekt Bajkal 39-40 (2014), Sonderband der Zeitschrift zum Thema Šestidesjatniki („Die Sechziger“). 41 Russische UNESCO-Kommission, 1998b. 42 Obgleich der Schutzcharakter der 115 Städte umfassenden Liste des Kultur­ ministeriums nicht konkretisiert wurde, erscheint die 2010 erfolgte Kürzung auf 41 Einträge, darunter noch Irkutsk, als ein Zeichen für den Abbau von Denkmalschutzinstrumenten der Zentralregierung, s. Zagraevskij, 2011; Kameneva, o. D. (2004). 101

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Abb. 6: Holzhäuser in Irkutsk

Foto: Julia Röttjer, 2000/2001

bautechnischen Zustand anbetraf. Fließendes Wasser gab es häufig in den einfacheren Holzhäusern nicht.43 Mit ersten Restaurierungsprojekten war bereits begonnen worden, doch betrafen diese nur den kleinsten Teil der gefährdeten Holzbauten.44 Das hier von der russischen UNESCO-Kommission im Zustand von 1998 skizzierte Stadtbild von Irkutsk, seine potentiellen Entwicklungspfade und Sackgassen hatten bereits seit den 1960er Jahren für im Denkmalschutz Engagierte und andere immer wieder Anlass zu Kritik geboten. Die konstatierte Vernachlässigung der historischen Substanz und die Befürchtung des Verlustes führten und führen auch hier zu Diskursen des Niedergangs und der besonderen Schutzbedürftigkeit der historischen urbanen Lebensumwelt und damit des spezifischen kulturellen Erbes der Stadt. Dabei wurde die Holzarchitektur von Irkutsk als der Kern der historisch-architektonischen Identität der Stadt identifiziert, als der Fokus des zu schützendes Kulturguts. Irkutsk wurde und wird häufig als eine der drei großen russischen Städte der Holzbauweise, gemeinsam mit Tomsk und Vologda, genannt.45 43 Russische UNESCO-Kommission, 1998b. Dies traf auch im Jahr 2001 noch zu, das Wasser musste von Hydranten geholt werden, und Wasserklosetts waren nicht vorhanden – Beobachtungen der Verfasserin. 44 Russische UNESCO-Kommission, 1998b. 45 Micheeva, 2014; Annenkova, 2013. 102

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Der ökonomische und politische Schock der 1990er Jahre traf viele sibirische Städte ganz besonders, die Bevölkerung Sibiriens ging besonders stark zurück. Zwar war Irkutsk zu groß, um durch den Wegfall großer Vorzeige-Investitionsprojekte zu verwaisen oder als Ganzes ins Trudeln zu geraten, doch die Notstände in Lebensmittel-, Gesundheits- und Energieversorgung46 sowie Inflation, Währungskollaps und Emigration zeitigten auch hier ihre Wirkung. Auch die Selbstwahrnehmung der Einwohnenden sprach von schlechten Lebensumständen, Alkoholismus, hoher Kriminalität, außergewöhnlicher Korruption sowie Misstrauen und Ablehnung gegenüber Fremden.47 In einen wahrgenommenen Mangel an kulturellem Angebot und spirituellem Reichtum Anfang der 2000er Jahre stießen viele Religionsgemeinschaften hinein.48 Das Gefühl, dass der natürliche Reichtum Sibiriens sich disproportional zu den besonders gravierenden Auswirkungen der Transformation in der Region verhalte, schürte Ressentiments gegen die Moskauer Zentrale. Dies galt umso mehr, wenn es um Belange der Umwelt ging – profitorientierte Ausbeutung durch externe Firmen aus Russlands Zentrale und lokale Schutzinteressen standen sich aus Sicht der Sibirjaken gegenüber.49 Ausverkauf und Verlust des kulturellen Erbes in Erscheinung der Holzarchitektur wurden seit dem Ende der 1990er Jahre zunehmend beklagt. Im Zuge 46 Während der besonders heftigen Kältewelle im Winter 2000/2001 sanken die Temperaturen in Irkutsk mehrfach unter -40 °C. Dies brachte zeitweilig den öffentlichen Transport zum Erliegen und verursachte Ausfälle des Heizungssystems sowie in der Folge der Strom- und Wasserversorgung. Von dramatischen Ausfällen und (Beinahe-)Katastrophen wie in Ulan-Udė und anderen sibirischen Städten blieb Irkutsk aber verschont. Vgl. zur Great Freeze von 2001 und ihren moralischen Auswirkungen Humphrey, 2003. 47 Hartley, 2014, S. 238-244. Zur Abgrenzung von „Asien“ und den „asiatischen Nachbarn“ in historischer Perspektive: Kusber, 2010; Ders., 2008; Stolberg, 2009, S. 175-187. 48 Neben der orthodoxen Kirche waren dies etwa missionierende Evangelikale, buddhistische Vereinigungen und Einzelprediger, hinduistische Seminare sowie der traditionell verankerte Burkhanismus. Hinzu kam ein Boom an esoterischen Ratgebern und Praktiken. Hartley, 2014, S. 238-244. Hartleys Analysen und Be­ obachtungen über einen längeren Zeitraum in den 2000er Jahren decken sich mit den Erfahrungen der Autorin 2000/2001. 49 Hartley, 2014, S. 240-247. Die sich zum Teil entwickelnden Se­para­tions­be­we­ gung­en bleiben häufig voneinander getrennt, in Irkutsk etwa engagiert sich eine Organisation unter dem Slogan „Gebietsalternative für Sibirien“. 103

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der rechtlichen und ökonomischen Umbrüche lockerte die Stadt Irkutsk ihre Bemühungen im Denkmalschutz, der Generalplan für die Stadt verzögerte sich, und für etwa 300 geschützte Gebäude wurde der Denkmalschutz sogar aufgehoben. Häuser, deren Zustand als schlecht bewertet wurde, wurden oft abgebrochen und durch verdichtete und höhere Bebauung ersetzt. Dieser Vorgang wird im Russischen mit dem Begriff der „Punktbebauung“ (točečnoe stroitel’stvo), der allerdings stark pejorativ besetzt ist, umschrieben.50 Der Prozess prägte und prägt die um Verlust und Niedergang kreisenden städtebaulichen Debatten nicht nur in Irkutsk. Der auf das Ergebnis zielende, Fortschritt vermittelnde Terminus hingegen verweist dabei auch auf das strukturelle Problem, das die Diskutanten als städteplanerischen Konflikten grundlegend betrachten: Die Definitionsmacht dessen, was als heruntergekommen, nicht sanierungsfähig gilt und dessen, was eine fortschrittliche, technisch anspruchsvolle und wünschenswerte Bebauung ist, liegt nicht in den Händen der Bewohnenden oder wird in öffentlichen und fachbezogenen Debatten ausgehandelt, sondern verbleibt innerhalb der städtischen Planung und öfter noch der Investoren.51 Für Irkutsk wurde diese geförderte Form der Nachverdichtung als massive Bedrohung für die historische Substanz angesehen, da nicht nur eine große Anzahl an Holzhäusern weichen mussten, sondern auch zum Teil solche, die als Kulturdenkmäler galten. Substanz und Ästhetik der historischen Holzarchitektur wurde durch in ihrer Nachbarschaft errichtete Hochhäuser als gefährdet begriffen. Ebenso wurden Modernisierungsmaßnahmen als schädlich für die historisch-ästhetische Wirkung der Architektur eingestuft. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurde die Annahme eines neuen Generalplans vorbereitet, und der Dialog zwischen der Stadtgesellschaft und der Verwaltung gewann an Bedeutung. Die Stadt gab einen Entwurf für Schutzzonen für die Entwicklung des Wirtschaftslebens und für eine geschützte Naturlandschaft in Auftrag. Zugleich schlossen sich Fachleute aus Architektur, (Stadt-)Geschichte, Kunst und Publizistik zusammen, um Expertisen zu den Entwürfen abgeben zu können. Die Planungen für die Schutzzonen wurden zum Teil öffentlich diskutiert. Die örtliche Sektion der bereits 1965 gegründeten Denkmalvereinigung VOOPIiK52 50 S. der Zeitungsartikel mit der Überschrift „Erbe zu vermieten“: D’jačenko, 2007. Meerovič, o. D. (2011). VOOPIiK, 2011, S. 134. 51 Hauptaugenmerk der Bautätigkeiten und der begleitenden Debatten ist die Megapolis Moskau – S. Röttjer/Kusber, 2013, sowie, für einen regional übergreifenden Blick Petersen, 2013. 52 Vserossijskaja Obščestvennaja Organizacija „Vserossijskoe Obščestvo Ochrany Pamjatnikov Istorii i Kul’tury“ – Allrussische Gesellschaftliche Organisation 104

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mit ihrem Präsidiumsvorsitzenden A. Dulov sprach sich dagegen aus, mit großflächigen Sanierungen und Abrissen fortzufahren, und nur einzelne Vorbehalte auszusprechen oder singuläre Denkmäler auszunehmen, da das historische Gesamtbild der Stadt dadurch zerstört werde.53 Seit Mitte der 2000er Jahre veränderte sich das Stadtzentrum zunehmend, spätestens seit dem 350jährigen Stadtjubiläum im Jahr 2011 wurde dies deutlich sichtbar. Die Holzarchitektur musste häufig neuen Planungen weichen. Ein gewichtiger Faktor dabei sind die Brände, welche die Substanz der historischen Holzhäuser zerstören.54 Allein in den ersten zwei Monaten des Jahres 2014 gab es verheerende Feuer in 25 privaten Holzgebäuden, darunter auch in solchen, die als Kulturdenkmal anerkannt waren. Obgleich in Irkutsk extra eine neue städtische Agentur55 entwickelt wurde, konnte in dieser Hinsicht wenig erreicht werden.56 Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass, wie in anderen russischen Provinzzentren auch, das Interesse am Baugrund und die kriminellen Aktivitäten einiger Investoren massiv zu diesen Verlusten im Feuer beitragen.57 Grigorij Krasovksij, Mitglied bei VOOPIiK, berichtete über die Vereinbarungen und Drohungen, die nötig waren, um verschiedene Mieter zu überzeugen, aus historisch wertvollen Häusern am Gagarin-Boulevard, einer der Hauptflaniermeilen von Irkutsk, am Ufer der Angara, auszuziehen, bevor diese in Brand

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„Allrussische Gesellschaft zum Schutz von Geschichts- und Kulturdenkmälern“ – voopik.ru, 21.09.2015. D’jačenko, 2007. Vgl. die anonymisierten Aussagen von z. T. städtischen und stadtnahen Experten in einer von VOOPIiK verfassten Studie, welche Haltungen der Bürger in historischen Städten zum historisch-kulturellen Erbe erforschte: VOOPIiK, 2011, hier S. 122-125. Machneva, 2011. Agenstvo Razvitija Pamjatnikov Irkutska – ARPI. Als Mission sieht die Agentur die Wiederherstellung, den Wiederaufbau und die Anpassung von Holzdenkmälern an moderne Nutzungen. Die Agentur gewinnt die Investoren und begleitet sie durch den Restaurierungsprozess mit dem Ziel, Schutz-Standards für die historische Architektur zu gewährleisten – http://arpi38.ru/. Generell zum Thema Investoren und Denkmalschutz in historischen Städten Russlands: Zagraevskij, 2011. Micheeva, 2014. Ebd.; Machneva, 2011. Eine Studie in Tomsk ergab, dass nur etwa 4 % der Feuer durch fehlerhafte Leitungen herbeigeführt wurde, aber mehr als ein Fünftel Brandstiftung waren – Meerovič, o. D. (2011); Mirošničenko, 2011; Samojlov, 2011. 105

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gesetzt wurden.58 Eines der ältesten Gebäude von Irkutsk, das, zum Teil durch Brände beschädigte und verfallene, „Haus Šubinych“ aus dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, wurde schließlich auf Betreiben der Abteilung für Kulturelles Erbe des Gebiets Irkutsk den Besitzern entzogen und versteigert.59 Innerhalb der Stadtgesellschaft herrschten seit dem Anfang des neuen Jahrtausends geteilte Meinungen zur Zukunft der Holzarchitektur. Einige waren dafür, jene Holzhäuser im Zentrum, die in einem schlechten Zustand seien, abzubrechen und an ihrer Stelle moderne Wohnungen zu errichten. Andere hatten nichts gegen den Erhalt, aber die historische Holzarchitektur solle in speziellen Vierteln zusammengefasst, also gegebenenfalls vom Standort abgetragen werden.60 Im Jahr 2011 formierte sich eine Initiative um den Architekturprofessor Mark Meerovič für den Erhalt der originalen Holzarchitektur von Irkutsk an ihrem historischen Ort. Meerovič sah diese öffentliche Bewegung als einzigen Ausweg für die Rettung der Holzarchitektur, denn ohne Zweifel würde die Mehrheit der Mieter komfortable Wohnungen bevorzugen, für die Stadt sei heruntergekommene Holzarchitektur eine Bürde, für Investoren nur Baugrund und Profit interessant. Bisher habe die Holzarchitektur noch zu wenig Fürsprecher gehabt, das öffentliche Interesse sei nur gering.61 Wie in vielen anderen mittleren und größeren Städten waren und sind Rekonstruktionen und Wiedererrichtungen dabei ein kontroverses Thema. Ein Projekt, das zum 350jährigen Stadtjubiläum in kürzester Zeit realisiert wurde, war der komplette Wiederaufbau des steinernen „Moskauer Triumphtores“ von 1813. Es war anlässlich des 10jährigen Krönungsjubiläums von Alexander  I. errichtet worden, hatte aber bereits seit 1928 nicht mehr bestanden.62 Der Verlust aus der Zeit der frühen Sowjetunion wurde rückgängig gemacht, und die Anknüpfung an zarische Traditionsbildung sollte die Visitenkarte der Stadt sein. Aleksej Čertilov, Architekturdozent der Irkutsker Technischen Universität, und andere Experten riefen dazu auf, Rekonstruktionen in jedem Fall mit Sensibilität und nicht ohne Notwendigkeit durchzuführen. Ein abschreckendes Beispiel sei das, ebenfalls im Hinblick auf das Festjahr fertiggestellte, sogenannte „Quartier 58 Micheeva, 2014. 59 Fomina, 2012. Zu Zuständigkeiten und Unklarheiten der Kompetezen zwischen Stadt, Gebiet und Zentrale: VOOPIiK, 2011, S. 125-127. 60 Mirošničenko, 2011; Meerovič, o. D. (2011). 61 Meerovič, o. D. (2011). Vgl. Samojlov, 2011. Andererseits herrscht auch ein Man­ gel an Informationsmöglichkeiten für die interessierte Öffentlichkeit – VOOPIiK, 2011, S. 131-133. 62 D’jačenko, 2007. 106

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130“: Die ursprüngliche Idee, nämlich die denkmalpflegerische Bewahrung einer zusammenhängenden Stadtumgebung, sei im Ergebnis auf den Kopf gestellt worden. Anstatt der historischen Restaurierung eines Viertels existiere nun im Stadtzentrum unter Einbeziehung einiger aufwändig restaurierter historischer Gebäude ein neues hölzernes Quartier mit Geschäften, Cafés und Bars in über 50 Häusern, das mit der historischen Stadtlandschaft nur wenig gemein habe.63 Auch Meerovič konstatierte, man könne die negativen Erfahrungen aus dem Quartier 130 nur nutzen, um künftig umsichtiger zu planen.64 Als Erfolgsgeschichte interpretierte allerdings die städtische Agentur ARPI das Projekt: Es sei gelungen, in historischer Umgebung einen „städtischen öffentlichen Raum neuen Typs“ für Selbstverwirklichung, für „freie und offene Kommunikation, emotional und sicher“65 sowie für individuelle und kollektive Bürgerinitiativen zu begründen. Ein solcher übe Anziehungskraft auf talentierte Menschen und auf das mit ihnen verbundene Kapital aus. Generell setzte die Agentur, da es sich beim Einkaufen um eine der grundlegenden Beschäftigungen des zeitgenössischen Stadteinwohners handele, kommerziellen Raum mit öffentlichem Raum gleich.66 Rating-Agenturen für Immobilien stuften das Quartier als russlandweit bedeutend ein. Der Gebietsgouverneur Dmitrij Mezencev, dessen Popularität das Projekt heben sollte, und der doch 2012 die Region verließ, lobte das Quartier als eine respektvolle Referenz an das kulturelle Erbe und einen Präzedenzfall für die „Neugeburt“ des historischen Irkutsk.67 63 Micheeva, 2014. Das Finanzkonsortium „Metropol“, bis Ende 2011 geleitet vom Staatsduma-Abgeordneten und Milliardär Michail Slipenčuk, investierte offiziell mindesten 42 Mio. Euro, Schätzungen gehen ins Doppelte – Bratersky, 2013. Trotz der integrierten originalen Gebäude sollte alles in einem mehr oder minder einheitlichen historischen Stil gestaltet sein. Eine bevorzugte Art der anzusiedelnden Geschäftstätigkeit sollte Kunsthandwerk, Dekor und Designer-Produkte, WellnessAngebote und Cafés sein – http://arpi38.ru/130-block.html. 64 Meerovič, o. D. (2011). 65 http://arpi38.ru/130-block.html. 66 Ebd. Auch die von ARPI avisierte Zielgruppe der Studierenden bestätigte der Zeitung „The Moscow Times“ durch eine ausgewählte Sprecherin den erwünschten Erfolg: Es sei der sauberste Platz der Stadt, nicht nur für Kommerz, sondern auch für die Entwicklung eines künstlerischen Raums – Bratersky, 2013. 67 Bratersky, 2013. Ähnlich positiv und vom Gedanken einer Wiedererstehung durchdrungen äußert sich ein städtischer Denkmalpfleger in VOOPIiK, 2011, S. 134f. Die Mehrheit der in dieser Studie befragten Experten maßen dem Projekt, zumal kommerziell und nicht staatlich, keinen gesteigerten Wert für die historische 107

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Eine Hoffnung, die sich mit dieser spezifischen Art der Revitalisierung des Stadtzentrums ebenso wie mit Schutz- und Gestaltungsmaßnahmen für die Naturräume am Baikalsee verbindet, ist die Steigerung des Inlands-, wie des Auslandstourismus. Selbst das Zellulosekombinat, das auch in dieser Hinsicht eher abschreckend wirkte, wurde schließlich in diese Planungen einbezogen. Obwohl die Situation der Zellulosefabrik für längere Zeit eher einen Eindruck der Stagnation denn des Wandels erweckte, hat sich auch dort seit Ende der 2000er Jahre die Situation grundlegend geändert. Aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen wurde eine Schließung zunächst nicht verfolgt, da die 1961 für das Kombinat gegründete Stadt Bajkal‘sk auf das Werk angewiesen war. Seit Anfang der 1990er Jahre gab es erste Veränderungen: Die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft ermöglichte auch die teilweise Installation von umweltschonenderen Technologien. Dennoch belastete das Kraftwerk weiter die Umgebung und zumindest das unmittelbare Einleitungsgebiet im südlichen Baikalsee. Das Zellulose-Werk wurde 2008 zunächst geschlossen, Ende 2009 begann ein Bankrottverfahren. 2010 wurde es wiedereröffnet, begleitet von dem Versprechen des seinerzeitigen Ministerpräsidenten Vladimir Putin, die Verschmutzung stärker zu kontrollieren. Die Ankündigung dieses Schrittes führte in Irkutsk zu Protesten sowohl von Befürwortern als auch Gegnern der Fabrik.68 Ebenfalls begleitet von massiven öffentlichen Protesten wurde die Planung, eine wichtige Ölpipeline im Süden des Sees zu verlegen.69 Auch das UNESCO-Welterbekomitee stellte mehrfach Überlegungen an, den Baikalsee auf die Liste der Welterbestätten in Gefahr zu setzen.70 Schließlich wurde die Ölleitung, wiederum nach einem Eingriff Putins, umgeplant. Substanz der Stadt bei – außer, um allgemein für das Thema kulturelles Erbe zu sensibilisieren. 68 Reuther, 2001; Dahlmann, 2009, S. 288; Hartley, 2014, S. 246; Hosp, 2010. Auch im Winter 2000/2001 konnte die Verfasserin die Waldschäden rund um Bajkal’sk, die auf frühere Verschmutzungen zurückgingen, sowie die mit dem gelben Niederschlag der Fabrik belegte Schneedecke beobachten. Zur Abhängigkeit ökonomischer, ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit: Kuleshov, 1996. Vor der Erlaubnis zur Wiedereröffnung 2009 überzeugte sich Putin persönlich bei einem Tauchgang zum Grund des Sees von dessen gesundem Zustand – Parfitt, 2009. 69 Pressemitteilung des Global Nature Fund vom 20.04.2006: www.globalnature.org/ bausteine.net/file/showfile.aspx?downdaid = 6294&sp = D&domid = 1011&fd = 2, 02.09.2015; vgl. Packeiser, 2006. 70 S. etwa den Bericht der entsandten UNESCO-Mission: UNESCO Bureau of the World Heritage Committee, 2001. Die Bearbeitung der Monita, die IUCN bzw. 108

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Das Zellulosekombinat stellte im Jahr 2013 die Hauptproduktion ein, ein Teil der Mitarbeitenden blieb, um die Anlagen weiter zu kontrollieren oder in Funktionen für die Versorgung der Stadt zu überführen.71 Auf dem Werksgelände hingegen soll nach dem Willen und den Entwürfen des russischen Umweltministeriums ein „Themenpark“ entstehen, mit Museums- und Ausstellungsanteilen, Bildungs- und Informationsangeboten sowie einem touristischen Komplex. Durch diesen Park sollen Möglichkeiten für Ökotourismus sowie Ausbildung und Training von Fachleuten für „Naturschutz, nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen, Tourismus und Freizeit“ gefördert werden; zugleich könnten dort Konferenzen stattfinden.72 Der Entwurf des Themenparks vonseiten des russischen Umweltministeriums findet in unzähligen anderen Vorhaben zur Förderung des Tourismus seine Entsprechung, unter anderem in den zwei Sonderwirtschaftszonen zu diesem Zweck, eine westlich des Sees im Gebiet Irkutsk (nahe Bol‘šoe Goloustnoe), eine östlich davon in Burjatien (nahe Ulan-Udė). Der Irkutsk nächstgelegene Zugang zum Baikalsee, Listvjanka, hat sich derweil von einer Siedlung mit einigen sowjetischen Wohnblocks sowie vielen kleineren Holzhäusern und einem improvisierten Räucherfischmarkt zu einer großen Tourismusmeile mit standardisierten Verkaufsständen und teils vielgeschossiger Freizeitarchitektur gewandelt. Es gibt eine stetig wachsende Anzahl von Foren und Konferenzen zu dem Thema, sowohl in Irkutsk, als auch in Ulan-Udė. Diese Wirtschaftszonen waren 2008 ein maßgebliches Thema des 5. Baikal Economic Forum, einer von der Zentralregierung geförderten Veranstaltung, die seit dem Jahr 2000 zweijährlich in Irkutsk stattfindet. Das Forum mit hoher Ausstrahlungskraft soll den wirtschaftlichen und moralischen Aufschwung der Region sowohl markieren als auch befördern; regelmäßig gibt es Sektionen zu Sibirien als „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“73. das Welterbekomitee bereits bei der Einschreibung des Baikalsees auflisteten, kam insgesamt nur schleppend in Gang und wurde immer wieder von den hier skizzierten neuen (und alten) Umweltlasten eingeholt. Vgl. Reuther, 2001. 71 Im Januar 2015 arbeiteten noch 68 Menschen bei der Zellulosefabrik, zuletzt waren 1433 entlassen worden. Vgl. O. V., 2015, hier Abschnitt 1: Response of the Russian Federation with regard to Resolution No. 37 СОМ 7В.22 adopted by the World Heritage Committee. 72 Ebd. Für die Politik des Gebiets und der Stadt Irkutsk in dieser Angelegenheit: Maksimova, 2013. 73 Agarkova, 2008, die u.  a. die kurzfristigen Verschönerungen und Reparaturen beschreibt, die 2008 für die erwartete Politprominenz im Straßenbild durchgeführt 109

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Abb. 7: Karte des Baikalsees und des Bratsker Stausees

Kartendaten © OpenStreetMap-Mitwirkende, 2015

Gegen diese Förderung und Aufschwung-Rhetorik steht nach wie vor die Wahrnehmung einer extrem gefährdeten Natur, die kurz vor dem Untergang steht, sowohl von Seiten des russischen Naturschutzes als auch internationaler Organisationen. Beide Positionen und ihre Narrative bedingen sich teilweise gegenseitig. Das UNESCO-Welterbekomitee verabschiedete beinah jährlich dringliche Appelle im Angesicht einer großen Gefahr für den See, meist in Bezug auf Zellulosekombinat, fossile Brennstoffe und Umweltschutzgesetzgebung. Es berief sich dabei auf russische Beobachter und Zusammenarbeit mit den Behörden vor Ort. Die Adressaten, die für das Welterbe Baikalsee Verantwortlichen der russischen Zentralregierung, reagierten darauf häufig nur verzögert und mit knappen Informationen. Es wurde apodiktisch auf bereits eingeleitete neue Verordnungen sowie zukunftsträchtige Technologien und Planungen, wie jene für den Themenpark, hingewiesen. Der Eindruck, dass die Gefährdung von russischer zentraler wurden. Diese Maßnahmen scheinen eine Tradition seit der Erstauflage des Baikal Economic Forum im Jahr 2000 zu besitzen – Beobachtungen der Verfasserin. 110

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Seite nicht detailliert wahrgenommen und kommentiert wurde, führte wiederum zu einer Verschärfung der Kritik durch das intergouvernementale Welterbekomitee.74 Im Umweltschutz engagierte russische Nichtregierungsorganisationen dokumentieren und markieren die massive Bedrohung der Natur nach wie vor.75 Die dünner werdende Eisdecke, der sinkende Wasserspiegel und die Planung neuer Wasserkraftwerke südlich des Sees zählen zu den aktuell verhandelten Gefahren. Im Jahr 2015 gab es wochenlang verheerende Brände rund um den Baikalsee, die insgesamt rund 1,5 Millionen Hektar Wald betrafen. Die in den letzten Jahren stark gekürzten staatlichen Forstbetriebe konnten diese nicht mehr bewältigen, viele Freiwillige engagierten sich. Auch eine Vorstellung über die wahren Ausmaße der Katastrophe konnte so an die Öffentlichkeit gelangen,76 denn die offizielle Berichterstattung hatte dieses Bild nur unvollständig überliefert. So ergeben sich für den Schutz des Kulturerbes der Stadt Irkutsk und den Erhalt des Naturerbes Baikalsee parallele Narrative und Strategien. Ihre Ursprünge reichen zum Teil weit zurück, und wurzeln in Vorstellungen über Sibirien, die zur Zeit der russischen Erschließung eine Belebung erfuhren, später umso stärker in imperialen und sowjetischen Großprojekten. Der Verlust der intakten Natur sowie einer historischen Stadt-Tradition wird von den Einwohnerinnen und Einwohnern beklagt, auch von örtlichen Behördenmitarbeitenden und Fachleuten aus dem Bereich des Umwelt- oder Kulturgüterschutzes. Dazu kommen unterschiedlichste Allianzen russischer oder transnationaler Nichtregierungsorganisationen, wissenschaftlicher Kooperationsprojekte sowie internationaler Organisationen, vor allem für den Baikalsee. Hier zeigt sich auch die Untergangsrhetorik noch einmal stärker. Dies liegt vor allem an der rezipierten Einzigartigkeit des Naturraums und der als unumkehrbar begriffenen 74 Beschlüsse für die Jahre 2001-2015, dokumentiert auf http://whc.unesco.org/en/ list/754/documents/, 04.11.2015. Differenzen zwischen dem Informationsbedürfnis des Welterbekomitees und der Informationsbereitschaft der Nationalstaaten, auf dessen Territorium die Welterbestätten liegen, sind keine Seltenheit. UNESCO, 2001; Russische UNESCO-Kommission, 2014; O. V., 2015; vgl. bereits IUCN, 1996. 75 Etwa Greenpeace Russland: http://m.greenpeace.org/russia/en/base/news/1302-mongolia_hpp_baikal/, 21.09.2015; vgl. die aus den anfänglichen Protesten hervorgegangene, bereits 1990 registrierte Organisation „Baikalwelle“: http:// baikalwave.org/en/, 21.09.2015. 76 Kaufmann, 2015; vgl. den Bericht eines Freiwilligen bei Litvinenko, 2015. 111

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anthropogenen Schädigung. Aus diesem düsteren Zukunftsszenario leiten die Akteure die Notwendigkeit besserer Schutzmaßnahmen für das Kultur- und Naturerbe ab. Sie bringen Ideen dafür ein, welche Einflüsse zu stoppen seien, und in welchen Zonen mit einem besonderen Reglement gewirtschaftet und gelebt werden müsse. Diese Maßnahmen ähneln jenen, welche von den Vertretern der Aufschwung-Rhetorik entworfen werden. Auch hier ist eine Zonierung angestrebt – von diesen Kernzonen gehobenen Städtebaus, industrieller Produktion oder zentral geplanter Tourismusaktivitäten sollen Impulse ausgehen, die wiederum positive ökonomische und damit verbunden ökologische Effekte in die Umgebung ausstrahlen. Dabei proklamieren die Akteure den zum Teil zukünftig ersehnten Erfolg auch schon für die Gegenwart, während manches Problem übergangen wird. Es bleibt zu hoffen, dass die Skeptiker sich weiterhin Gehör verschaffen können.

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Repräsentativität und Inszenierung

Das Taurische Palais in St. Petersburg Einige Beobachtungen zu den Raumpraktiken der höfischen Gesellschaft in der Zeit Katharinas II. Alexander Bauer

Das Taurische Palais als politischer Raum in der longue durée russischer Geschichte Markus Ackeret, der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, schreibt, dass St. Petersburg schon immer mythisch überhöht und verdammt wurde.1 Gewiss hat eine solche Sicht auf die Stadt und ihr historisches und kulturelles (Selbst) Bild2 ihre Wurzeln in der Geschichte. Die mythische Überhöhung St. Petersburgs und seiner Gründung beschwor geradezu seine apokalyptische Verdammung.3 Geschichte vollzieht sich in Räumen. Allerlei historische, kulturelle und symbolische Zuschreibungen, die unsere Sichtweise historischer Ereignisse prägen, haften an bestimmte Räume, formen aber diese Räume zugleich mit. St. Petersburg war von Beginn seiner Existenz an eine eschatologische Dimension eigen: Nemesidische Motive einer Zerstörung der lasterhaften Stadt – der politisch brisanten Stadtgründung Peters des Großen – durch die Flut, prophezeiten göttliche Rache für die Errichtung des „vierten Roms“.4 Politisch motivierte Anspielungen auf die Entwicklung, die das Zarenreich seit Beginn des 18. Jahrhunderts genommen hatte, sind hier nicht zu übersehen. Gäbe es eine Ironie der Geschichte, so bestünde sie für St. Petersburg darin, dass die eschato1 2

3 4

Ackeret, 2007, S. 259. Zu den kosmogonischen und symbolischen Topoi St. Petersburgs sowie zur mythischen und politischen Semiotisierung der Stadt und ihrer Geschichte: Nikolozi, 2009. Ebd., S. 57f.; Anciferov, 2003, S. 61-64. Nikolozi, 2009, S. 58. 121

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logischen Mythologeme des frühen 18. Jahrhunderts im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts aktueller waren denn je.5 Es geht hier allerdings nicht darum, Belyjs teleologische Tragik zu wiederholen oder Walter Benjamins methaphysische Allegorien zu entschlüsseln, um die Zeichen des Verhängnisses in der Geschichte St. Petersburgs zu erkennen. Aber auch die verspielte Leichtigkeit, mit der Siegfried Kracauer seine Beobachtungen von Räumen und Menschen in seinen Straßen-Texten 1920er Jahre festmachte, wäre für St. Petersburg nur bedingt zutreffend.6 Wenn Ackeret St. Petersburg, „eine fiebrige Stadt“,7 im spannungsvollen Nebeneinander von Konnotationen von Aufbruch und Freiheit aber auch von „finsterer Reaktion“8 sieht, so kommt dem Taurischen Palais in einer solchen Zuschreibung zweifellos eine prominente Rolle zu. Das Taurische Palais blickt auf eine abwechslungsreiche Geschichte zurück. Die entlegene Lage des Palastes im raumplanerischen Gefüge der Residenz steht in einem Widerspruch zu seiner politischen Bedeutung. Vor dem Hintergrund der militärischen Siege Russlands im Schwarzmeerraum entstanden, stellte der Palast eine architektonische Manifestation des imperialen Aufbruchs des Zarenreiches im Zeichen des „Griechischen Projekts“ unter der Ägide von Katharina II. und dem Fürsten Grigorij Potemkin dar.9 Er steht aber auch für einen rasanten Aufstieg eines homo novus, den in der Gestalt wohl nur das 18. Jahrhundert hervorbringen konnte. Gehörte das Taurische Palais in spätkatharinäischer Zeit zu den zentralen Räumen im höfisch-imperialen Konglomerat der Residenz, rückte der Tod Katharinas II. den Palast an die Peripherie des politisch-repräsentativen Raums des höfischen St. Petersburgs, auch wenn ihm der Status einer kaiserlichen Residenz erhalten blieb. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand das Taurische Palais für einen neuen politischen Aufbruch, diesmal im Zeichen der Reformen. Als Sitz des russischen Parlaments – der Staatsduma – wurde das Taurische Palais ab 1906 zur Stätte des russischen Parlamentarismus und somit zum Raum eines folgenreichen politischen Konflikts zwischen der Autokratie und den Volksvertretern, der anschließend in eine Auseinandersetzung zwischen dem bürgerlichen Lager und 5 6 7 8 9

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Belyj, 2001; Anciferov, 2003, S. 62, 201-282, hier vor allem 225-236; Schlögel, 2009, S. 27-31. Kracauer, 2013. Ackeret, 2007, S. 259. Ebd. Katharina II. an Potemkin, 22. August 1787, Joseph II. an Maria Theresia, 14. Juni 1780, 4. Juli 1780, in: Žuravleva, 2002, S. 170-172, 174f.; Kipnis/Gordin, 2002, S. 18-23; Ségur, 2002, S. 86, 90; Hildermeier, 2013, S. 536-545.

Das Taurische Palais in St. Petersburg

Abb. 1: Das Taurische Palais in seiner aktuellen Funktion als Sitz der interparlamentarischen Versammlung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten

Foto: Benjamin Conrad, 2008

den radikalen politischen Kräften der Russischen Revolution münden sollte. Man mag darin eine Vorahnung des Ernstes der politischen Lage, aber auch deren Fehleinschätzung sehen, als der Petersburger Gouverneur Trepov der Duma ein Gebäude außerhalb der Stadt zuweisen wollte, aus der Befürchtung heraus, dass die neue politische Vertretung zur Stätte der Revolution werden könnte. Das Taurische Palais als Ort der Duma war ein halbherziges Zugeständnis der Autokratie an eine Volksvertretung – innerhalb der Stadt, doch weit entfernt vom Zentrum.10 In gewisser Hinsicht sollte Trepov mit seiner Annahme Recht behalten. Nach der Februarrevolution 1917 wurde das Taurische Palais für kurze Zeit zum Zentrum der politischen Ereignisse im revolutionären Russland. Am 5. Januar 1918 fanden sich vor dem Hintergrund der Einberufung der Konstituierenden Versammlung auf dem Marsfeld mehrere Tausend Einwohner Petrograds, Arbeiter und Soldaten ein, darunter die Fabrikarbeiter von der Vassilij-Insel und dem Stadtteil Vyborgskaja, um ihre Solidarität mit der Konstituante zu bekunden.11 10 Krotov, 2006, S. 94f. 11 Bereits am 20. November 1917 veranstalteten die Kadetten und Rechten Sozial­ revolutionäre eine Protestkundgebung vor dem Taurischen Palais mit dem Versuch, das Gebäude zu stürmen, um die Konstituante zu eröffnen. Die Bol’ševiki vertrieben 123

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Abb. 2: Tafel am Taurischen Palais mit der Aufschrift „Hier tagte 1906-1917 die erste, zweite, dritte und vierte Staatsduma.“

Foto: Benjamin Conrad, 2008

Vom Marsfeld begab sich die Masse über den Litejnyj Prospekt zum Taurischen Palais. Die Bol’ševiki gingen gegen die Demonstration mit Gewalt vor: Es kam zu bewaffneten Zusammenstößen. In der Nacht von 5. zum 6. Januar 1918 fand im Palast die Sitzung der konstituierenden Versammlung statt, die Lenin schließlich am frühen Morgen des 6. Januar auseinanderjagen und das Taurische Palais versiegeln ließ.12 Die geografische Lage des Palastes in der Stadt war in diesem politischen Kampf wenn nicht der entscheidende so doch ein wesentlicher Faktor. Prägnant brachte diesen Umstand ein Zeuge und Teilnehmer der Ereignisse die Demonstranten mit Hilfe von Matrosen und Arbeitern. Vgl. Wolkogonow, 1994, S. 182, 184; Šujskij/Voskobojnikov, 2003, S. 147-151. 12 Wolkogonow, 1994, S. 185f.; Šujskij/Voskobojnikov, 2003, S. 147-151. 124

Das Taurische Palais in St. Petersburg

zum Ausdruck: „Wir sind von der Welt abgeschnitten, wie der Taurische Palast von Petrograd abgeschnitten ist und Petrograd von Russland.“13 Vom 23. Januar 1918 bis zur Verlegung der Hauptstadt nach Moskau zwei Monate später war das Taurische Palais der Sitz des Zentralen Exekutivkomitees Sowjetrusslands und somit legislatives und exekutives Zentrum. Hier diskutierten die neuen Machthaber über die Gründung der Sowjetrepublik und über den geplanten Friedensvertrag mit dem Deutschen Reich.14 Nach dem Umzug der Sowjetregierung nach Moskau eröffnete man im Taurischen Palais die Kaderschule der Kommunistischen Partei.15 Heute dient das Taurische Palais als Sitz der interparlamentarischen Versammlung der GUS-Staaten, eine Funktion, die auf St. Petersburg als Zentrum des „eurasischen Raums“ abhebt.16 Die Suche nach neuen Formen der politischen Organisation des postsowjetischen politischen Raums ist hier unverkennbar. Die Orientierung am Beispiel der politischen Strukturen der Europäischen Union und ihre räumliche Verteilung mag hierbei eine Rolle gespielt haben. Minsk sollte zum Sitz der exekutiven Organe der GUS werden wie Brüssel die Stätte des Ministerrates und der Kommission der EU ist. St. Petersburg hingegen war als Sitz der parlamentarischen Organe der GUS angedacht, nach dem Beispiel Straßburgs als Sitz des EU-Parlaments.17 In den Zeitläuften der russischen Geschichte erfüllte das Taurische Palais unterschiedliche Funktionen als politischer Raum und als mannigfaltiger Erinnerungsort. In seinen symbolischen Zuschreibungen und politischen Funktionen oszillierte das Taurische Palais zwischen Zentrum und Peripherie je nach politischer Konjunktur. Doch zugleich vermochte er es, im Gegensatz zu den anderen politischen und memorativen Räumen St. Petersburgs, wie dem Winterpalast, der Peter- und Pauls-Kathedrale oder der Admiralität nicht, sich als ein zentraler politischer und repräsentativer Raum dauerhaft zu etablieren. In dieser Hinsicht teilt er das Schicksal des Michaelsschlosses und des Marsfelds.18 Seine geografische Lage in St. Petersburg mag dabei ebenso von entscheidender Bedeutung gewesen sein wie die historischen Zeitläufe, die andere Räume ins Zentrum der Geschichte rückten.

13 14 15 16 17 18

Anin, 1971, S. 456-470, zit. bei Wolkogonow, 1994, S. 185. Šujskij/Voskobojnikov, 2003, S. 153f.; Wolkogonow, 1994, S. 196. Šujskij/Voskobojnikov, 2003, S. 157-166. Ebd., S. 175f. Ebd., S. 176f. Kusber, 2007a, S. 131-143. 125

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An der Schnittstelle zur Kunstgeschichte angesiedelt, bietet der Aufsatz einen kulturhistorischen Überblick der Geschichte des Taurischen Palastes als eines politischen und memorativen Raums vor dem Hintergrund der imperialen Geschichte Russlands sowie im Kontext der Raumpraktiken der höfischen Gesellschaft katharinäischer Zeit. Der Wandel seiner politischen Funktionen wäre jedoch nicht nur in einen Zusammenhang mit politischen Konjunkturen zu stellen. Die prägende Kraft der strukturellen Gegebenheiten, solcher wie die Lage des Palastes im raumplanerischen Gefüge St. Petersburgs, soll ebenso eruiert werden.

Entstehung und Lage Seine Entstehung verdankt das Taurische Palais einem mächtigen Würdenträger, Krieger und Diplomaten, mit dessen Namen die Konsolidierung des Russländischen Imperiums in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbunden ist. Grigorij Potemkin (1739-1791), Sohn einer Familie polnischer Herkunft aus dem Provinzadel aus einem Dorf in der Nähe der Stadt Smolensk, damals noch ein Grenzland des Imperiums. Als Favorit und langjähriger politischer Weggefährte Katharinas II. im Rang eines Generalfeldmarschalls und mit dem Titel eines Fürsten des Heiligen Römischen Reiches, ließ er den Palast für sich erbauen.19 Freilich verfügte er bereits über repräsentative Residenzen in St. Petersburg: Katharina II. schenkte ihm den Aničkov-Palast im Jahre 1776, einen der prominentesten Adelssitze der Hauptstadt an der Kreuzung des Flusses Fontanka und des Nevskij Prospekts.20 Eine Kontinuität in der Funktionszuweisung der Residenzräume in der politisch-höfischen Topographie St. Petersburgs lässt sich hier beobachten, da der Palast früher dem Favoriten der Kaiserin Elisabeth, dem Grafen Alexej Razumovskij, gehört hatte, der im Jahr 1771 starb.21 Darüber hinaus verfügte der Fürst über ein eigenes Appartement im Winterpalast, in dem er die meiste Zeit verbrachte, wenn er sich in der Hauptstadt aufhielt.22 Im Umstand der Verfügung über ein Appartement im Winterpalast zeigte sich die Ausnahmestellung 19 Montefiore, 2009, S. 27f, 33; Otto, 2005, S. 156-171; Katharina II. an G. A. Potemkin, 21. März 1776, in: Žuravleva, 2002, S. 161; Segur, 2002, S. 82; Samojlov, 2002, S. 132f.; Engel’gardt, 1997. 20 Šujskij/Voskobojnikov, 2003, S. 9. 21 Kusber, 2007b, S. 125-140. 22 Šujskij/Voskobojnikov, 2003, S. 9. 126

Das Taurische Palais in St. Petersburg

Potemkins als Favoriten der Kaiserin im Gegensatz zu ihren anderen Günstlingen sowie die außergewöhnliche Stellung des Fürsten im Machtgefüge am Zarenhof und im Imperium. Bei näherer Betrachtung wirft Potemkins Beispiel ein Schlaglicht auf einige Raumpraktiken der höfischen Gesellschaft katharinäischer Zeit. Politische Relevanz von räumlichen Bezügen ergab sich aus ihrer engen Verkettung mit dem Favoritenwesen: Die räumliche Nähe zum Herrscher war ein Indikator von politischen Arrangements.23 Dass der Favorit der Kaiserin eigene Wohnräume im Palast bezog, war am Hofe üblich. Nach dem Ende der Liaison musste der entlassene Favorit das Appartement verlassen. Diese Praxis verleitete den britischen Diplomaten Richard Oakes zur Vermutung, dass Potemkins Stern im Sinken sei, als er gesehen hatte, wie aus seinen Gemächern im Winterpalast das Mobiliar herausgetragen wurde. Diese Deutung erwies sich allerdings als Trugschluss. Der Möbeltransport durfte wohl auf die Inbesitznahme des Aničkov-Palastes zurückzuführen gewesen sein.24 Die Schenkung markierte allerdings sehr wohl eine Zäsur im Verhältnis Katharinas zu Potemkin. Petr Zavadovskij trat als offizieller Günstling an Potemkins Stelle. Der Letztere musste das Quartier des Günstlings räumen, doch er verfügte im Winterpalast weiterhin über eigene Gemächer.25 Darüber hinaus bekam er eine eigene Residenz in unmittelbarer Nähe zum Winterpalast: Das Šepilev-Haus an der Milionnaja Straße – der Wohnstraße der höfischen Prominenz – war durch eine Galerie mit dem Palast verbunden.26 Das Repräsentationsbedürfnis eines Würdenträgers seines Ranges verlangte jedoch nach einem Landsitz, der seiner Stellung in der Adelshierarchie des Imperiums einen angemessenen Ausdruck verlieh und Raum für feierliche Empfänge bot.27 Sollten doch nicht nur Gäste aus dem hauptstädtischen Adel den Palast besuchen, sondern auch die Kaiserin selbst und die übrigen Mitglieder des Zarenhauses. Die Wahl des passenden Standortes für den Palast folgte, wie so viele prominente Bauten in St. Petersburg, historischen oder biografischen Reminiszenzen. Kaiserin Elisabeth verewigte die wichtigsten Meilensteine ihrer politischen Biographie im städtischen Raum St. Petersburgs, indem sie den Aničkov-Palast am Ausgangsort ihrer Palastrevolte bauen ließ.28 Mit der Errichtung des dem Andenken an Peter I. gewidmeten Monuments des „Ehernen Reiters“ verband 23 24 25 26 27 28

Elias, 2002, S. 75-114; Montefiore, 2009, S. 234. Otto, 2005, S. 159-161; Montefiore, 2009, S. 234. Ebd., S. 233f. Ebd., S. 234. Kusber, 2009, S. 54f. Skodock, 2006, S. 279. 127

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Katharina II. ihren Namen für immer mit dem des Reformzaren. Die Inschrift auf dem Monument – „Petro Primo – Catharina Secunda“ – war hierbei ebenso symbolträchtig wie der Standort des Denkmals an der Stelle der alten Isaakskirche.29 Potemkin eignete sich diese herrschaftlich-memorative Praxis an. In der Nähe der Kasernen des 1730 von der Kaiserin Anna gegründeten Reiterregiments (Konnogvardejskij polk) der kaiserlichen Leibgarde sowie der Kasernen des berühmten Preobraženskij-Regiments am Nevaufer unweit des Smol’nyj-Klosters wurde der Landsitz erbaut.30 Der Standort stand Pate für die ursprüngliche Bezeichnung des Palastes: Konnogvardejskij dom. Ort und Zeitpunkt des Bauvorhabens führten die wichtigsten Stationen Potemkins’ Biographie zusammen: den Anfang und den Höhepunkt seines politischen Lebenswegs. Hier begann Potemkin als Leutnant seinen militärischen Dienst und das Reiterregiment beteiligte sich an der Palastrevolte Katharinas II. Potemkin war derjenige, der für die Vorbereitung der Reitergarde zur Revolte zuständig war. Nach dem Umsturz rückte Potemkin an die Spitze des Preobraženskij-Regiments an die Seite Aleksej Orlovs auf, des Bruders des damaligen Favoriten Katharinas und politischen Konkurrenten des späteren Fürsten von Taurien.31 Der Baubeginn der Residenz im Jahre 1783 fiel mit der Zeit zusammen, als Potemkin auf dem Höhepunkt seiner Macht stand. Nach dem für Russland erfolgreichen Krieg gegen das Osmanische Reich 1768-1774 zeichnete sich Potemkin, 1784 zum Generalgouverneur der Gebiete Ekaterinoslav und Tavričeskaja bzw. zum Statthalter von Neu-Russland, Azov, Saratov, Astrachan und Kaukasus ernannt, für die Besiedlung und Bebauung der Territorien verantwortlich, die an das Zarenreich nach dem Frieden von Küçük Kaynarca im Jahre 1774 gefallen waren.32 Somit stand der Palast für die Kontinuität in der politischen Biographie Potemkins, in der der Sieg über den mächtigen Orlov-Clan den Aufstieg zum Favoriten und Würdenträger markierte und in die politische Emanzipation mündete. 29 [Katharina II.], 1878, S. 84, 88; [Chrapovickij], 1862, S. 4. 30 Aus einer Zeichnung des Projekts geht hervor, dass der Palast ursprünglich im östlichen Teil des Italienischen Gartens entlang des Nevskij Prospekts, also in unmittelbarer Nähe zur Kaiserlichen Residenz – dem Winterpalast und den Sommergärten – erbaut werden sollte. Belechov/Petrov, 1950, S. 81. 31 Montefiore, 2009, S. 43, 49f, 69; Otto, 2005, S. 157, 164f.; Šujskij/ Voskobojnikov, 2003, S. 9; Malinovskij, 2008, S. 438f. 32 Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj Imperii, Band XXII, Nr. 15.920, S. 17; Hildermeier, 2013, S. 531-541; Otto, 2005, S. 169f.; Montefiore, 2009, S. 382; Eliseeva, 2012, S. 72-111. 128

Das Taurische Palais in St. Petersburg

Städtebaulich bildete das Taurische Palais nebst dem Smol’nyj-Kloster im Osten St. Petersburgs, im Stadtviertel Litejnaja, eine architektonische Dominante.33 Die Schloss-Park-Anlage liegt ungefähr auf zwei Dritteln der Distanz zwischen den Kaiserlichen Sommergärten und dem Smol’nyj Kloster.34 Es lohnt sich, die gewaltige Anlage des Taurischen Palais in einem planerischen Zusammenhang mit dem Winterpalast zu sehen, auch wenn diese Verbindung schon wegen der beachtlichen Distanz und der Abwesenheit einer direkten verbindenden Achse zwischen beiden Objekten nicht sofort einleuchtet. Es gilt allerdings zu beachten, dass die Admiralitätsinsel und der Stadtteil Litejnaja seit den Planungen Petr Eropkins 1737-1739 durch Halbringmagistralen strukturiert waren, im Litejnaja war der periphere Halbring des Litejnyj und des Zagorodnyj Prospekts: die Generalplanungen betrachteten also beide Stadtteile als eine Einheit und verstärkten die Verbindung von beiden durch halbringförmige Achsen. Und eben entlang des Litejnyj und des Zagorodnyj Prospekts wurden die Siedlungen der Garderegimenter gezogen, die St. Petersburg entlang seiner östlichen Grenze umzingelten und im Staatsstreich Katharinas eine entscheidende Rolle spielten: Preobraženskij, Semenovskij und Izmajlovskij. Der Winterpalast schloss die Linie der aristokratischen Residenzen im Westen ab, während der Taurische Palast sich im östlichen Ende der Adelssiedlungen entlang der Neva befand. Somit lag Potemkins Bauvorhaben inmitten der militärischen Siedlungen der Residenz und markierte die territoriale Expansion des katharinäischen Hofstaats entlang der Neva, Richtung Litejnaja-Viertel. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehörte der Stadtteil Litejnaja zu den ersten in St. Petersburgs, die einer strengen 33 Das Litejnaja-Viertel wurde im Rahmen der unter der Leitung von Petr Eropkin durchgeführten Neuplanung St. Petersburgs und der Neugliederung seines Territoiums im Jahre 1737 durch Neva, Fontanka und Nevskij Prospekt eingegrenzt. Im Osten des Stadtteils befanden sich zahlreiche Kasernen der Garde. Guljanickij, 1995, S. 183f. 34 Vgl. O.  V., 1992. Das Taurische Palais ist auf dem Plan nicht abgebildet, da er zur Zeit der Entstehung des Machaev-Albums noch nicht existierte. Der Plan St. Petersburgs 1753 veranschaulicht jedoch die räumliche Disposition des Standortes des Palastes in seinem planerischen Zusammenhang. Gut zu erkennen ist das orthogonale Raster der an das Smol’nyj Kloster angrenzenden Kasernen des Reiterregiments, achsiale Verbindungen zu den markantesten Objekten entlang der Neva wie dem Smol’nyj, dem Sommergarten und den wichtigen Straßen, die den Litejnaja-Teil mit dem Stadtzentrum verbanden. In Form seines Grundrisses und der äußerst schlichten Ausführung der Fassaden fügte sich das Taurische Palais in das utilitaristische orthogonale Muster der Kasernen ein. 129

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regulären Planung unterworfen waren. Er war nicht allein durch die Manufakturbetriebe wie die der Gießerei (Litejnyj dvor) und Kasernen geprägt. Hinter der Fontanka befanden sich Paläste sowie höfische Dienstbauten. Somit ist die Standortwahl des Taurischen Palastes im Kontext der langfristigen städtebaulichen und raumsozialen Entwicklung St. Petersburgs seit Beginn seiner Existenz zu sehen. Die Funktion des Winterpalastes und der Anlage des Palastes als eine Art architektonisch-sozialen Rahmens verstärkte sich im 19. Jahrhundert, als Letzterer einen Abschluss des aristokratischen Wohnviertels um den Litejnyj Prospekt bildete. Zwischen dem Palast, dem Nevskij Prospekt und dem Aleksandr-Nevskij-Kloster erstreckten sich sog. „Siedlungen“ (Slobody) der ärmeren Stadtbevölkerung, im 18. Jahrhundert allerdings noch weitgehend jenseits der Stadt bzw. der unter Katharina II. entlang der Fontanka gezogenen Stadtgrenze St. Petersburgs.35 Heutzutage erschließen sich die Vorzüge des Standortes des Taurischen Palastes kaum. Schuld daran ist der Wandel der baulichen Situation im Laufe von über zwei Jahrhunderten. Im 18. Jahrhundert jedoch bot die Anlage eine ihrer Dimension und ihrem Status angemessene Panorama-Ansicht. Die Voskresenskaja bzw. Špalernaja Straße, zu der sich der Paradehof und die Haupteinfahrt des Palastes öffneten, war damals noch nicht bebaut. Der Palast war deswegen bei einer Neva-Fahrt und vom anderen Ufer sehr gut sichtbar. Die Größe und die architektonische Komposition der Hauptfassade, die sich entlang der Neva erstreckte, erschlossen sich vom Wasser. Von der Neva führte zum Palast ein Kanal. Er mündete in einen kleinen ovalförmigen Hafen. Wie beim Aničkovund dem Sommerpalast Peters I., die mit einem Kanal mit Fontanka verbunden waren und über eine Anlegestelle verfügten, konnte man zum Taurischen Palais mit Booten heranfahren.36

Architektur und Innenausstattung Der Entwurf des Taurischen Palais stammte vom Architekten Ivan Starov (17441808), einem Absolventen der von Ivan Šuvalov, dem Favoriten der Kaiserin Elisabeth37, patronierten Akademie der Künste und Schüler des bedeutenden

35 Ackeret, 2007, S. 260; Guljanickij, 1995, S. 160, 174, 186, 208-209. 36 Malinovskij, 2008, S. 438; rusarch.ru/tavrichesky.htm, 07.09.2015. 37 Anisimov, 2005, S. 212, 217-230, 321-326. 130

Das Taurische Palais in St. Petersburg

französischen Architekten Charles de Wailly.38 Sein Name steht für den Höhepunkt des Klassizismus in Russland und das Taurische Palais gehört, neben der Dreifaltigkeitskathedrale des Aleksandr-Nevskij-Klosters, zu seinen bedeutendsten Werken.39 Abb. 3: Ansicht des Taurischen Palais von der Neva. M. F. Ostrovskaja, 1949. Kopie des Originals von Benjamin Patersen, 1797. Leinwand, Öl. 660 cm × 970 cm

Foto: Staatliches Museum der Geschichte Sankt Petersburgs. КП № 209/3//-осн, Инв. №№ I-А-261-ж, ФГИГ.)

38 Ivan Egorovič Starov stammte aus der Familie eines Diakons der Moskauer Eparchie, er wuchs in Moskau auf. Sein Studium begann an der Moskauer Universität im Jahre 1755. 1756 setzte er sein Studium am Gymnasium der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg fort. 1758 bis 1762 studierte er an der Akademie der Künste, die er mit einer goldenen Medaille absolvierte. Die Architekten Aleksandr Kokorinov und Jean Baptiste Vallin de la Mothe waren in dieser Zeit die großen Namen der Akademie. Sie waren die Lehrer Starovs während seiner Studienjahre an der Akademie der Künste. 1762 bis 1768 studierte Starov im Ausland, darunter an der Pariser Architekturakademie. Belechov/Petrov, 1950, S. 19f.; Kamenskij, 1948, S. 6f. 39 Belechov/Petrov, 1950, S. 23; Orloff/Chwidkowskij, 1996. S. 102, 104; Šujskij/Voskobojnikov, 2003, S. 9f. 131

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Starov entschied sich für eine strikt achsiale, gleichmäßig langgezogene Komposition. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass das römische Pantheon für die Gestaltung des Hauptgebäudes des Palastes Pate stand. Die palladianische Formensprache verweist den Betrachter auf die römische Antike:40 Starov griff bei der Gestaltung der Hauptfassade allerdings nicht auf den ionischen Stil zurück, da Potemkin eine schlichte Gestaltung der Architektur bevorzugte. In der Mitte der Hauptfassade befindet sich ein stark vorgezogener Portikus mit sechs dorischen Säulen41 – ein Rückgriff auf römische Tempel, wie ihn bereits Do-

40 Starke klassizistische Einflüsse erlebte Starov in der Werkstatt von Charles de Wailly. Im Dezember 1766 began sein Studium in Italien: Turin, Parma Modena, Bologna und Florenz waren seine Stationen auf dem Weg nach Rom. Architektur der klassischen Antike sowie Schriften zeitgenössischer Architekturteoretiker des Klassizismus’, darunter die von Pascolli und Milizia, beinhalteten sein Studium in Rom. Der russische Architekt Nikolaj L’vov legte in dieser Zeit eine Übersetzung Palladios „Vier Bücher zur Architektur“ vor und festigte damit die Tendenz der russischen Architektur in der zweiten Hälfte der Herrschaft Katharinas  II. zu Palladianismus und antiken Formen. Die Kaiserin selbst förderte diese Entwicklung, fand sie doch die Projekte von Ledoux und Boullée zu schwerfällig. Sie lud Giacomo Quarenghi, Raphael Mengs Schüler, und Giacomo Trombara nach St. Petersburg ein. Der erstere „komponierte“ das klassizistische Petersburg. Zeitgleich mit dem Taurischen Palais befanden sich das Eremitage-Theater und die Akademie der Wissenschaften im Bau, in deren Gestaltung von „makelloser stilistischer Strenge“ (Igor’ Grabar’) Palladios Teatro Olimpico und Villa Foscari mit ihrem an römische Tempel erinnerndem Portikus nachklingen. Quarenghis Stil könnte Starovs Projekt beeinflusst haben. Wie dem auch sei, rahmen seit den 1780er Jahre palladianische klassizistische Kolosse das Neva-Ufer ein: der Taurische Palast, das Eremitage-Theater, die Akademie der Wissenschaften und die Akademie der Künste. Orloff/Chwidkowskij, 1996, S. 100; Beyer, 2009; Burke, 2009, S. 23; Belechov/Petrov, 1950, S. 20. 41 Dorica gehörte wohl zum architektur-ästhetischen Leitmotiv der imperialen Symbolik im katharinäischen Zarenreich, das die römischen Sentenzen politischer Botschaften verstärkte. Die Morejskaja Säule, 1771 von Antonio Rinaldi in Carskoe Selo errichtet, war im dorischen Stil ausgeführt. Mit der Morejskaja Säule erinnerte Katharina II. an die Siege Fedor Orlovs über die Türken an der südlichen Küste Griechenlands. Schon daran ist erkennbar, dass mit der Orientierung an das griechische Thema das römische Griechenland gemeint war, also das Zeitalter des 132

Das Taurische Palais in St. Petersburg

nato Bramante (1444-1514) bei der Gestaltung von Tempietto (1502) praktiziert hatte, der ersten Kirche, die vollständig in Dorica gearbeitet wurde.42 Ein dreieckiger Vordergiebel beschließt den Portikus. Eine Rotunde auf einer relativ niedrigen Trommel bekrönt die vertikale Hauptachse der Komposition. Die beiden Nebengebäude mit toskanischen Portiken ohne Giebeln sind mit ihren Hauptfassaden zur Hauptpforte ausgerichtet und bilden somit den Paradehof.43 Wie Palladios Teatro Olimpico entfaltete auch das Taurische Palais seine ästhetische und repräsentative Wirkung durch die Spannung zwischen der klassizistischen Schlichtheit der Außengestaltung und der Größe und Pracht seiner Innenräume.44 Louis Philippe Comte de Ségur, französischer Botschafter am Zarenhof, der den Palast an der Seite Katharinas II. besuchte, war beeindruckt von der Größenordnung der Innenräume des Taurischen Palais, besonders von der Großen Galerie.45 Die Fluchtlinie der Paraderäume, etwas kürzer im Vergleich zu den Emphiladen in den kaiserlichen Palästen, verlief entlang der Querachse – eine Besonderheit des Taurischen Palastes. Aus einem einstöckigen quadratischen Vestibül betrat der Besucher über einen ionischen Bogen den höchsten Raum des Palastes – eine oktogonale Halle mit einer Tageslicht-Kuppel.46 Hiermit eröffnete sich dem Betrachter eine Abfolge von riesigen, lichtdurchfluteten Räumen: Ein ionischer Bogen bildete den Übergang aus der reich dekorierten Kuppel-Halle in eine gigantische zweistöckige Große Galerie, entlang der Wände mit ionischen Säulen eingerahmt.47 Hier griff Starov das Thema einer halbrunden Hallengalerie für Empfänge und Bälle auf, eine Weiterentwicklung des Motivs, an dem Starov zum ersten Mal im Italienischen Pavillon des Anič-

42 43 44 45 46 47

Kaisers Augustus, als das altgriechische Erbe in dem großen Imperium Romanum aufging. Proskurina, 2006, S. 167, 171. Burke, 2009, S. 23. Malinovskij, 2008, S. 438; Šujskij/Voskobojnikov, 2003, S. 10; Belechov, Petrov, 1950, S. 94. Beyer, 2009, S. 7; Malinovskij, 2008, S. 438; Šujskij/Voskobojnikov, 2003, S. 15. Ségur, 2002, S. 98. Malinovskij, 2008, S. 438. Zur Dekorausstattung der Kuppel-Halle und der Großen Galerie zog Starov den italineischen Meister Carlo Fontana heran. Die Bemalung der Kuppel-Halle führte Fedor Danilov aus, ein Schüler des italienischen Malers Antonio Perezinotti. Danilov bemalte auch die Innenräume des Winterpalastes, darunter die Hofkapelle und Gemächer Katharinas II. Šujskij/Voskobojnikov, 2003, S. 17f. 133

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Abb. 4: Das Taurische Palais von der Gartenseite. Hier trafen der Wintergarten und der offene Landschaftspark (der Taurische Garten) zusammen. Hinter den großen Fenstern der halbrunden Fassade befand sich der Wintergarten

Foto: Benjamin Conrad, 2015

kov-Gartens experimentierte.48 In der Großen Galerie erzeugte Starov die Illusion eines endlosen Raumes. In den Zeiten Katharinas II. und Potemkins war diese Illusion noch stärker, denn hinter den Säulen erblickte der Besucher den großen Wintergarten: Die Galerie ging mit ihrer langen doppelreihigen Kollonade in den Wintergarten – das Meisterwerk des englischen Gartenarchitekten William Gould – über.49 Das Zusammenspiel der weißen Säulen der Großen Galerie mit dem Grün des Wintergartens deutete der Dichter Gavriil Deržavin als Idee der Apotheose von Natur und Kunst. Die Wandmalereien zwischen den Fenstern 48 Belechov, Petrov, 1950, S. 90f. 49 Ebd., S. 15; Malinovskij, 2008, S. 438f. William Gould gehörte neben Starov zu den Architekten und Gestaltern der südlichen imperialen Träume Potemkins. Gould folgte Starov in den Süden, um an der Projektierung von Potemkins „Athen“, des Palastes in Ekaterinoslav, mitzuarbeiten. Auch hier wusste Starov mit der Dimension seiner Projekte zu beeindrucken: sechsteilige Säulengänge in 120 m Länge, während Gould einen Garten im englischen Stil samt Gartenarchitektur gestaltete. Montefiore, 2009, S. 423-424. 134

Das Taurische Palais in St. Petersburg

und auf den Öfen des Wintergartens unterstützten die Illusion der Unendlichkeit und thematische Stringenz der Ausstattung: Gemalte Bäume verwischten die Grenze zwischen dem Wintergarten und der englischen Parkanlage. Mit floralen Motiven, wie die in Gestalt von Palmen ausgeführten Tragesäulen des Wintergartens, griff Starov auf die von Charles Cameron entworfene Dekorausstattung des Palmenzimmers im Katharinenpalast in Carskoe Selo zurück.50 In der Gestaltung des Wintergartens wartete Potemkin mit der gesamten Pracht und thematischen und symbolischen Dichte der Ausstattung eines Gartenraumes in dieser Zeit auf. Der Höhepunkt der Raumkomposition war eine Rotunde (1784). Sie erfüllte eine doppelte Funktion: Zum einen diente sie als tragendes Element für die Überdachung des Wintergartens. Zum anderen bildete sie das Leitmotiv der ganzen Innenausstattung. Acht ionische Säulen formten die Rotunde zu einem Tempel römisch-antiker Gestalt. Im Zentrum des Tempels stand auf einem Sockel die berühmte Statue Katharinas II. als Gesetzgeberin in antikem Gewand und mit einem Füllhorn ausgestattet, ausgeführt in Potemkins Auftrag aus weißem Marmor durch den Bildhauer Fedor Šubin.51 Die Rotunde wurde von Jaspisvasen umstellt und mit Kronleuchtern aus farbigem Bergkristall dekoriert. Hinter der Rotunde stand eine große Pyramide aus Spiegelglas und farbigem Bergkristall, mit einem Monogramm Katharinas II. bekrönt. In der Tiefe des Wintergartens auf einer Achse mit der Rotunde und der Pyramide befand sich eine Grotte, mit elf Spiegeln vertäfelt und einer Marmorvase und einem Kristallbehälter mit Goldfischen ausgestattet.52 Im Zusammenspiel mit dem Katharina II. gewidmeten Tempel symbolisierte der das ganze Jahr grüne Wintergarten das prosperierende Russländische Imperium. Eine Symbolik, die plakativ erscheinen mag, doch vor dem Hintergrund der Siege in den Kriegen gegen die Osmanen und beachtlichen territorialen Gewinne im Süden eine prägnante politische Aussage darstellte, die durch die literarische Diskussion dieser Zeit, im Wesentlichen von Katharina II. selbst angestoßen, zusätzlich verstärkt wurde.53 Die Siege im Schwarzmeerraum machten die Ablösung des nordisch orientierten petrinischen Paradigmas möglich: Katharina II. war nicht mehr die Fortsetzerin des Werks Peters I. sondern die Begründerin des Imperiums. Die Abfolge von Räumen – Kuppel-Halle, Große Galerie, Wintergarten, Sommergarten – schufen im Zusammenspiel von Innen- und Außenräumen die 50 Belechov, Petrov, 1950, S. 100f. 51 Heute steht die Statue im Russischen Museum in St. Petersburg. Malinovskij, 2008, S. 439; Šujsjij/Voskobojnikov, 2003, S. 15. 52 Belechov, Petrov, 1950, S. 101. 53 Proskurina, 2006, S. 135-146. 135

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Illusion eines endlosen Raumes. Im Zentrum dieser gewaltigen repräsentativen Komposition stand der Tempel, der den gesamten Palast zum Ort von Katharina-Memoria machte. Wie Katharina II. mit dem „Ehernen Reiter“ ihre Herrschaft an das Reformwerk Peters I. anknüpfte, so verband Potemkin seine Taten im Dienste des Imperiums mit dem Namen seiner Gönnerin und Prinzipalin. Katharinas und Potemkins Glorie im Taurischen Palais überdauerte nur kurz den Tod der Zarin. Ihr Sohn und Nachfolger, Paul I., übergab den Palast im Jahre 1799 dem Reiterregiment der Leibgarde als Kaserne. Die Innenausstattung wurde gänzlich geplündert, der Wintergarten vernichtet. Abb. 5: Die Anlage des Taurischen Gartens mit künstlich angelegten Kanal und Teich nach Projekten von William Gould

Foto: Benjamin Conrad, 2015

Die Marmorstatue Katharinas II. übergab man der Akademie der Künste. Ein unbekannter Zeitgenosse schrieb, dass da, wo früher Pracht und Glanz herrschten, jetzt der Stalldünger dampfe. Die Wände seien mit unanständigen Versen und Prosa beschrieben.54

54 O. V., 1875, S. 161. 136

Das Taurische Palais in St. Petersburg

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Das Taurische Palais in St. Petersburg

O. V., Plan von St. Petersburg 1753 (Truscot-Plan), in: Sankt Petersburg und Umgebung in Russischen Veduten 1753-1761. Zwei Kupferstichfolgen nach Michail Ivanovič Machaev. Staatliche Graphische Sammlung München, München 1992 (Anlage).

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Doppelte Marginalisierung? Orte der Unterschichten in St. Petersburg und ihre Unsichtbarkeit im heutigen Stadtbild Hans-Christian Petersen Fenster zum Westen, Venedig des Nordens, Laboratorium der Moderne – die Metaphern für die russische Metropole St. Petersburg sind zahlreich, und sie beziehen sich in aller Regel auf die hochkulturellen und repräsentativen Seiten der an Umbrüchen reichen Geschichte dieser Stadt. Abwesend sind in diesen Erzählungen die Menschen, die das andere Ende der sozialen Skala bildeten, die städtischen Unterschichten. Als das Sozialgefüge der vermeintlich ‚geordneten Stadt‘ infolge ihres rasanten Wachstums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Aufruhr geriet, ging der Ausbau der ‚besseren‘ Teile St. Petersburgs mit einem Anwachsen der sozialräumlichen Ungleichheiten einher. Das Wort Truščoba hielt Einzug in den hauptstädtischen Diskurs, als russisches Synonym für Slum, jenen Begriff, mit dem in London seit den 1840er Jahren die Orte der urban poor im städtischen Raum bezeichnet wurden.1 Schaurige und obszöne Geschichten über das ‚andere‘ Petersburg entwickelten sich ebenso wie in westund mitteleuropäischen Metropolen zu einem einträglichen Geschäft, sie waren Teil des Slumming2, bei dem ‚die Armen‘ ‚entdeckt‘, vermarktet und dem ‚besseren‘ Teil der Bevölkerung zur Unterhaltung präsentiert wurden. 1

2

Vgl. die grundlegende Studie von Dyos, 1967, sowie u. a. Jones, 1971; Yelling, 1986; Gaskell, 1990. Vgl. zur Kritik an dem moralische (Ab-)Wertungen transportierenden Begriff Slum Gilbert, 1997. Vgl. zur russischen Rezeption Buckler, 2005, S. 171-179. Der Begriff wurde im Viktorianischen England geprägt. Vgl. Koven, 2006; Schwarz u. a., 2007; Lindner, 2004. Für St. Petersburg hat Hubertus Jahn in seiner Habilitationsschrift diesen Prozess der ‚Entdeckung‘ der urban poor nachgezeichnet: Jahn, 2010. 141

Hans-Christian Petersen

Die städtischen Unterschichten waren also in St. Petersburg durchaus präsent – zum einen als Teil dessen, was Hubertus Jahn als die „imaginäre Geographie des ‚anderen‘ Petersburgs“3 bezeichnet hat, zum anderen aber auch ganz konkret, da sich viele der Nachtasyle, Armenhäuser und Slums mitten in der Stadt befanden. Ein sozialräumliches Charakteristikum der Stadt an der Neva war die große Nähe von Arm und Reich,4 was im Falle der Slums bedeutete, dass der größte ihrer Art, die Vjazemskaja lavra, sich nur rund zehn Gehminuten vom Prachtboulevard der Stadt, dem Nevskij prospekt, entfernt befand. Wer sich jedoch im heutigen Petersburg auf die Suche nach diesen Orten der russischen urban poor begibt, wird sie nur schwerlich finden. Keine alte Bausubstanz, kein Schild und auch kein Hinweis in den gängigen Stadtführern führen zu den Stellen, an denen früher Zehntausende von Menschen unter prekären Bedingungen lebten. Handelt es sich also um eine doppelte Marginalisierung derjenigen, die bereits zu Lebzeiten vor allem als Objekte voyeuristischer Geschichten über die ‚dunklen Ecken‘ der Stadt Beachtung fanden? Und wie könnte ein alternativer Umgang mit diesem Teil der Stadtgeschichte aussehen, der die Unsichtbarkeit der Unterschichten überwinden würde? Der Beitrag möchte am Beispiel der Vjazemskaja lavra Antworten auf diese Fragen geben.

Ein „Hort versammelter Regellosigkeit“? Die Vjazemskaja lavra Die Vjazemskaja lavra war im Petersburg des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein Begriff, der schillernde Assoziationen weckte. Dies lag nicht zuletzt an Vsevolod Krestovskij und Fedor Dostoevskij, in deren Romanen die lavra einen zentralen Punkt im Milieu der ‚kleinen Leute‘ rund um den Petersburger Heumarkt (Sennaja ploščad’) bildet.5 Die Motive dieser vielgelesenen Romane wurden von der Petersburger Lokalpresse aufgegriffen und in Form sensationslüsterner Reportagen über spektakuläre Mordfälle und ausschweifende Orgien in der

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Jahn, 2010, S. 122. James Bater hat vor diesem Hintergrund von einer „dreidimensionalen Segregation“ als dem Kennzeichen Petersburgs gesprochen: Bater, 1976, S. 379. Das Werk Krestovskijs erschien zunächst ab 1864 in Fortsetzung in der Zeitschrift Otečestvennye zapiski. Zugleich wurde es mehrfach als Monographie herausgegeben, zuletzt vor wenigen Jahren: Krestovskij, 2011; Dostoevskij, 1994 (russische Erstausgabe 1866).

Doppelte Marginalisierung?

lavra ausgeschlachtet.6 Dabei stellte die Vjazemskaja lavra, deren Name sich am ehesten mit „Vjazemskij-Kloster“ übersetzen lässt, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch ein reguläres Ensemble von insgesamt dreizehn zusammenhängenden Gebäuden dar, die in erster Linie aus Mietwohnungen bestanden. Das gesamte Anwesen erstreckte sich zwischen Heumarkt, Obuchovskij prospekt (dem späteren Zabalkanskij und jetzigen Moskovskij pospekt), Poltorackij pereulok (einer kleinen Gasse, die später in der Gorstkina ulica und heutigen Ulica Efimova aufging) und der Fontanka. (Abb. 1) Eigentümer des Anwesens war seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Fürst Aleksander E. Vjazemskij. Er ließ die Gebäude verkommen, um bei möglichst minimalen Investitionen maximale Einkünfte erzielen zu können. Vor dem Hintergrund der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich zuspitzenden Wohnungsnot in St. Petersburg war dies eine für ihn einträgliche Strategie, von der er sich auch durch polizeiliche, sanitärärztliche, politische und juristische Interventionsversuche nicht abbringen ließ. Vielmehr zog er einen beträchtlichen Profit aus der chronisch überfüllten Anlage, in der nach Berechnungen des Sanitärarztes Fedor Ėrisman zwischenzeitlich bis zu 12 000 Menschen wohnten.7 Sie lebten in den dortigen Zimmern und Fluren, in völlig überfüllten Räumen, mit unzureichender Luftzufuhr, ohne ausreichend Tageslicht, schliefen an feuchten Wänden und auf nassen Böden und hatten nach der Einschätzung von Ėrisman bei einem dauerhaften Aufenthalt an diesem Ort eine drastisch reduzierte Lebenserwartung von nicht mehr als 25-30 Jahren.8 Innerhalb weniger Jahre wurde auf diese Weise aus einem regulären Wohnkomplex in der allgemeinen Wahrnehmung ein „Ort der Unordnung und des Mangels [Hervorhebung im Original – H.-C. P]“9, wie es der Soziologe Loïc Wacquant formuliert hat. Einer jener Orte, von denen die Mehrheitsgesellschaft glaube, so Wacquant, dass ihre Untersuchung „mittels negativer Begriffe [Hervorhebung im Original – H.-C. P] zu befriedigenden Ergebnissen führe, indem [ihre] Unzulänglichkeiten und diejenigen [ihrer] Bewohner aufgezeigt werden und indem näher bestimmt wird, wie (und wie sehr) beide von einer ‚Mehr6 7

8 9

Vgl. u. a. M., Dom Vjazemskogo, 1895, S. 668-670; O. V., 1894, S. 3. Vgl. Ėrisman, 1871, S. 55. Die zeitgenössischen Zahlenangaben sind nicht ganz einheitlich. Krestovskij etwa spricht für Ende 1850er Jahren von rund 10 000 Bewohnern. Einigkeit herrschte jedoch darüber, dass die lavra chronisch überfüllt war. Die durchschnittliche Lebenserwartung des besser gestellten Teils der Bevölkerung lag laut Ėrisman demgegenüber bei rund 70 Jahren. Vgl. Ebd., S. 60. Wacquant, 1998, S. 200. 143

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Abb. 1: Das Areal der Vjazemskaja lavra im schraffierten Bereich mit der Ziffer III, 1867-1870

Foto: Plan policejskich učastov S. Peterburga, 1867-1870. Plan tretjago učastka Spasskoj časti. RNB, Otdel kartografii, Abdruck genehmigt

heits‘Gesellschaft abweichen […].“10 Sie erschienen hierdurch als ein „Hort versammelter Regellosigkeit, Abweichung, Anomie und Atomisierung, vollgepfropft mit Verhaltensweisen, die die allgemeinen Normen von Moral und Anstand verletzen, sei es durch exzessive Handlungsweisen […] oder durch Versäumnisse […].“11 Diese Feststellungen, abgeleitet aus der Untersuchung des Diskurses über das Ghetto in der amerikanischen Gesellschaft und den amerikanischen Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert, beschreiben trotz der räumlichen und zeitli10 11 144

Ebd. Ebd., S. 201.

Doppelte Marginalisierung?

chen Differenz exakt das Bild, das in der Petersburger Öffentlichkeit von Orten wie der lavra gezeichnet wurde. Die Presse der Hauptstadt sprach in einer kolonialistischen Perspektive von den „Aborigines“12 (Aborigenov), die sich dort sammeln würden, und ordnete das Geschehen in der lavra der „Ethnographie“13 St. Petersburgs zu. Blickt man hinter diese Fassade und fragt nach den inneren Strukturen eines Ortes wie der Vjazemskaja lavra, dann wird deutlich, dass eine Beschreibung allein mittels negativer Begriffe dem Gegenstand nicht gerecht wird.14 Was sich für Außenstehende wie ein schwer durchschaubares Gestrüpp darstellte, war für die Bewohner eine funktionierende Struktur, die sie geschaffen hatten und an der sie sich orientierten. Diese Aneignung des Raums spiegelte sich in verschiedenen Bereichen des alltäglichen Lebens in dem Slum wieder. Auf einer ökonomischen Ebene ermöglichte die lavra ihren Bewohnern ein Überleben (wenn auch auf einem sehr niedrigen Niveau) und füllte damit eine Nische, die andernorts nicht abgedeckt wurde. Als Beispiel sei die „Fressmeile“ (obžornyj rjad) genannt, die auf den Fluren des „gläsernen Flügels“ (stekljannyj korridor’), des größten und markantesten Gebäude im Inneren der lavra, existierte. Hier ließen sich Grundnahrungsmittel zu Preisen erwerben, die noch einmal unter denen der Händler auf dem Heumarkt lagen. Solche „Fressmeilen“ waren angesichts der weitgehenden Untätigkeit der Stadt in dieser Frage der einzige Anlaufpunkt für all diejenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht in den städtischen Nachtasylen oder bei einer der Wohlfahrtsgesellschaften unterkamen. Über ihren inneren Raum hinaus war die lavra vielfältig mit dem angrenzenden Heumarkt verknüpft. Händler des Sennaja nutzten Räume in dem Gebäudekomplex zur Lagerung ihrer Waren, und mit Anbruch des Morgengrauens strömten die verschiedenen Gruppen aus der lavra auf den Heumarkt: Die Bäcker, die Verkäufer der Waren aus der Kuttelküche, die Lumpenhändler und die Korbmacher ebenso wie die Bettler, Diebe und Prostituierten. Ab fünf Uhr nachmittags füllten sich die Gebäudeflügel dann langsam wieder.15 Den zahlreichen Bettlern der Stadt diente die lavra zudem als Basis, von der aus sie ihre Touren durch Petersburg unternahmen. 12 O. V., 1893, S. 2. 13 Skorodumov, 1866, S. 4. 14 Eine Studie zu Geschichte und Innenleben der Petersburger Slums im Allgemeinen sowie zur lavra im Speziellen liegt bisher nicht vor. Im Rahmen meiner Habilitationsschrift werde ich das Thema ausführlich behandeln. 15 Vgl. Krestovskij, 2011, S. 915-919; Svešnikov, 1900, S. 8. 145

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Neben dieser ökonomischen Dimension fungierte die lavra als Anlauf- und Fluchtpunkt für diejenigen, die andernorts nicht unterkamen, die aber als Gelegenheitsarbeiter für den Gesamtzusammenhang der Metropole unentbehrlich waren. Nicht nur die von der Boulevardpresse immer wieder angeführten Bettler, Prostituierten, Obdachlosen und (Klein)kriminellen wohnten hier, sondern ebenso Handwerker, Arbeiter, Bauern aus dem Umland, ehemalige Soldaten und Fuhrleute vom nahe gelegenen Heumarkt. Bereits Krestovskij gelangte zu der Feststellung, dass sich in der lavra entgegen der offiziellen Lesart nicht nur „unzuverlässige Elemente“ versammelten, sondern dass sie ebenso als „Zuflucht für Proletarier aller Art und Klassen“ diente, von denen „der größte Teil zur armen Bevölkerung dieser Stadt gehört.“16 Und, um auf das Stichwort der Aneignung des Raums zurückzukommen: Charakteristisch für die lavra war eine „spezifische Mikrotoponymie“17, ein von den Bewohnern geprägtes, alternativ zu den offiziellen Bezeichnungen existierendes System der Namensgebung. Neben dem bereits erwähnten „gläsernen Flügel“ gab es die nach den dort lebenden Korbmachen benannte „Korbfabrik“ (korzinočnyj fligel’), es gab einen als Nikanoricha bezeichneten Gebäudeteil, dessen Name sich von der Besitzerin der dort befindlichen Kneipe (Nikanorovna) ableitete.18 Es gab zudem den so genannten „leeren Hof“ (pustoj dvor), an dessen einer Seite der „Bock“ (Kozel) lag, ein Ort der Selbstjustiz in der lavra, es gab den von Tischlern bewohnten „Tischlerflügel“ (stoljarnyj fligel’) sowie die „Mausefalle“ (Myšelovka) – die vor allem Obdachlosen und Passlosen als Zuflucht diente und die ihren Namen deshalb trug, weil sie bei Polizeirazzien schnell zur Falle werden konnte.19 Und es gab, als bekanntestes und ‚erfolgreichstes‘ Beispiel, die Titulierung der gesamten Anlage als Vjazemskaja lavra. Der Name etablierte sich innerhalb weniger Jahre auch im allgemeinen Sprachgebrauch und war bald deutlich geläufiger als das offizielle Dom Vjazemskogo (Vjazemskij-Haus). Zugleich spricht aus ihm ein gehöriges Maß an Selbstironie und Sarkasmus, war der bezeichnete Ort von einem „Kloster“ doch denkbar weit entfernt. Möglich ist zudem, dass mit der Selbstbezeichnung als lavra die eigene, herausgehobene Stellung innerhalb der Slums St. Petersburgs unterstrichen werden sollte – durften in der Rangfolge der orthodoxen Kirche doch nur die wichtigsten Klöster des Landes diesen Ehrentitel führen.

16 17 18 19 146

Ebd., S. 911. Tereščuk, 2005, S. 668. Vgl. Krestovskij, 2011, S. 904. Vgl. Svešnikov, 1900, S. 8.

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Dies festzustellen bedeutet nicht, einer retrospektiven Romantisierung der prekären Lebensumstände in einem Slum das Wort zu reden. Die Vjazemskaja lavra war keine solidarische Gemeinschaft der Ausgestoßenen der Gesellschaft, sondern ebenso wie andere Orte von Machtstrukturen und Ungleichheiten durchzogen. Das vielgliedrige System von Mietern und Untermietern führte zu Abhängigkeiten und Ausbeutung, vermietet wurden ‚Schlafplätze‘ auf der Hälfte einer Matratze, feuchte und schimmelige ‚Winkel‘ und sogar der Steinboden unter den Pritschen.20 Es gab die einfachen Badehäuser und es gab eine Banja von „beträchtlichem Luxus“21, ausgestattet mit marmornen Wannen, Teppichen und weichgepolsterten Möbeln. Sie war den besser gestellten (Klein)kriminellen vorbehalten, wenn diese einen ertragreichen Tag gehabt hatten. Es gab zutiefst patriarchalische Strukturen und alltägliche Gewalt, die in erster Linie von den Männern der lavra ausging und die Rechte der dort lebenden Frauen massiv einschränkte. Und es gab den bereits erwähnten „Bock“ – ein fensterloses Gebäude in der Nähe der „Korbfabrik“. Hier wurden Personen, die ohne gültigen Pass aufgegriffen wurden, mit einem Strick, an dessen einen Ende sich ein Knoten befand, gnadenlos ausgepeitscht. Für die so Gestraften existierte innerhalb der lavra die Bezeichnung als „Vjazemskier Kadetten“ (Vjazemskie kadety).22 Dieses System der Selbstjustiz (domašnaja rasprava) stellt das vielleicht drastischste Beispiel dafür dar, wie schnell die Aneignung des Raums durch die Bewohner in die Entstehung neuer Hierarchien und in Willkür umschlagen konnte. Nichtsdestotrotz ermöglicht ein solcher Zugang Einblicke in die inneren Strukturen eines prekären Ortes, der zum Fixpunkt für die an ihm lebenden Menschen geworden war. Die Vjazemskaja lavra war der bekannteste Slum Petersburgs. Ihre Größe, vor allem aber ihre Lage im Zentrum der Stadt, am Rande des nicht minder bekannten Heumarktes, sowie der Kontrast zwischen ihrem aristokratischen Äußeren und dem Innenleben prädestinierten sie dafür, zum ‚Vorzeigeslum“ St. Petersburgs zu werden. Vergleicht man sie jedoch mit den spärlichen Informationen, die wir über die anderen Slums der Stadt besitzen, so spricht vieles dafür, dass sie nicht grundsätzlich anders ‚funktionierte‘ als ihre weniger prominenten Pendants. So gab es auf der Vasilij-Insel auf einer früheren Müllhalde mit „Vasjas Dorf“ einen weiteren Truščoba, in dem rund 5000 Menschen lebten. Im Gegensatz zur lavra war „Vasjas Dorf“ weitgehend unbekannt – es lag nicht im 20 Vgl. hierzu, mit zahlreichen Beispielen, Ėrisman, 1871; Krestovskij, 2011; Svešnikov, 1900. 21 Krestovskij, 2011, S. 907f. 22 Vgl. Skorodumov, 1866. 147

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Zentrum Petersburgs, sondern „jenseits des Flusses“ (zarečnoj), wie es zeitgenössisch hieß, weshalb sich mit diesem Slum kein vergleichbarer Umsatz machen ließ wie mit den Geschichten aus der berühmt-berüchtigten Vjazemskaja lavra. Nichtsdestotrotz entwickelten sich auch hier innere Strukturen und eine Identifikation der Bewohner mit ‚ihrem Dorf‘. Seinen prägnantesten Ausdruck fand dieser Prozess an den Wänden der Ansiedlung. Diese waren von den Bewohnern mit zahlreichen Schriftzügen und Darstellungen überzogen worden. Eines dieser Wandgemälde zeigte den Besitzer, Egor Vasil‘ev, wie er „auf seinem gestutzten Rüden mit erhobener Faust heranritt, während aus seinem Mund Rauch aufstieg und er ausrief: ‚Haltet die Kohle bereit, verdammte Bewohner von Vasjas Dorf [Gotov’te gamzu, okajannye vasinoderevency].‘ “23 Die Graffiti lassen sich als Ausdruck eines Prozesses der Identifikation mit dem Gelände deuten, das man als das eigene betrachtete und von dem Besitzer bedroht sah. Zum einen steht das Markieren der Wand als solches für einen Aneignungsprozess des Raums und entspricht Richard Sennetts Charakterisierung von Graffiti „as a writing of the underclass“, mit dem man seine Anwesenheit zum Ausdruck bringt „We exist, and we are everywhere. Moreover, you others are nothing; we write all over you.”24 Zum anderen ist es die Selbstbezeichnung als „verdammte Bewohner von Vasjas Dorf“, die einen Bezug zum Ort wie auch untereinander zum Ausdruck bringt. Der Begriff Vasinoderevency widerlegt die in einer zeitgenössischen Zeitungsreportage25 zum Ausdruck gebrachte Annahme, dass sich die Bewohner des ‚Dorfes‘ nicht füreinander, sondern lediglich für ihr eigenes „Loch“ interessieren würden. Stattdessen hatten sie offensichtlich ebenso wie im Falle der lavra eine gemeinsame Identität entwickelt. Weitere Beispiele ließen sich anführen, etwa das des Obvodnyj Kanal, an dessen Ufern sich mehrere Slums befanden und der in der warmen Jahreszeit zur ‚Datscha‘ der armen Bevölkerung Petersburgs wurde.26 Es spricht somit vieles dafür, dass die am Beispiel der lavra skizzierten Einsichten in die inneren Strukturen dieser Orte nicht singulär sind, sondern vielmehr repräsentativ für die Slums der russischen Hauptstadt stehen.

23 24 25 26 148

Jaškov, 1915, 04.01.1915, S. 3. Sennett, 1990, S. 207. Jaškov, 1915. Vgl. Dosužij, 1901, S. 2.

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Abriss und (Un-)Sichtbarkeit Die lavra existierte bis zum Jahr 1913, dann wurde sie abgerissen. Nachfolgend im Besitz eine Aktiengesellschaft, plante diese die Errichtung eines mehrstöckigen Einkaufszentrums mit unterirdischen Garagen, Restaurants und Ausstellungsräumen. Die bisherigen Bewohner der lavra mussten an andere Orte ausweichen – ein Teil von ihnen in Häuser am angrenzenden Zabalkanskij prospekt, andere an den deutlich weiter entfernten Obvodnyj kanal.27 Das Bauvorhaben der Gesellschaft wurde infolge des Beginns des Ersten Weltkriegs nicht mehr realisiert. Erst die neuen sowjetischen Herrscher ließen Markthallen errichten und verlegten damit zugleich den Heumarkt an den früheren Ort der Vjazemskaja lavra. Der Sennaja ploščad’ wurde zu einem freien Platz umfunktioniert und 1952 in „Friedensplatz“ (ploščad’ Mira) umbenannt.28 Abb. 2: Der Eingang des Heumarktes

Foto: Hans-Christian Petersen, 2010

27 Vgl. Anciferov, 1926, S. 90-96; Tereščuk, 2005, S. 668. 28 1961 folgte der Abriss der der Erlöserkirche (Spas na Sennoj). Vgl. Jurkova, 2011, S. 191-210. 149

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Abb. 3: Das Gebäude mit dem Hotel Dom Vjazemskoj am Moskovskij prospekt Nr. 6 in der Totale

Foto: Hans-Christian Petersen, 2010

Bis heute befindet sich dort, wo einst die lavra stand, der neue Heumarkt (Sennoj rynok). Abgesehen vom Namen des am Ort des früheren Haupteingangs der lavra gelegenen Hotels Dom Vjazemskoj erinnert nichts mehr daran, dass hier einst Tausende von Menschen im größten Slum St. Petersburgs lebten. Das Verschwinden der lavra aus dem Stadtbild korrespondiert mit dem weitgehenden Desinteresse der Historiographie an der Thematik. Während die Vja150

Doppelte Marginalisierung?

Abb. 4: Detailaufnahme des Hotelschildes des Dom Vjazemskoj am Moskovskij prospekt Nr. 6

Foto: Hans-Christian Petersen, 2010

zemskaja lavra zumindest noch partiell, in den Arbeiten von Hubertus Jahn29 und Zoja Jurkova30 sowie in der aktuellen Petersburg-Enzyklopädie31, Erwäh29 Neben Jahn, 2010, ist hier Ders., 1996, zu nennen. Nach wie vor lesenswert ist zudem der Artikel von Bradley, 1984. 30 Jurkova, 2011, S. 162-178. 31 Tereščuk, 2005. 151

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nung findet, sind die übrigen Orte der urban poor St. Petersburgs so gut wie vollständig aus dem historischen Gedächtnis verschwunden. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Slums entsprechen nicht dem Bild, das von der Stadt vermittelt werden soll(te): In sowjetischer Zeit passten die bereits von Marx und Engels abschätzig als „Lumpenproletarier“ bezeichneten Ärmsten der Armen nicht ins teleologische Narrativ der zur Revolution drängenden class of ‚conscious‘ workers, und im postsowjetischen Russland werden eher die hochkulturellen und repräsentativen Seiten der Geschichte St. Petersburgs beleuchtet, als dass man sich länger einem Slum und dessen Bewohnern zuwenden würde. Dies mag verständlich erscheinen, für die Menschen am unteren Ende der städtischen Gesellschaft kommt es jedoch einer zweiten, doppelten Marginalisierung gleich. Wie könnte ein alternativer Umgang mit diesem Teil der Stadtgeschichte aussehen, der die Unsichtbarkeit der Unterschichten überwinden würde? Kehrt man noch einmal zu Loïc Wacquants Kritik an der „Exotisierung des Ghettos“32 zurück, so bietet er nicht nur eine fundierte Auseinandersetzung mit den immer gleichen „Bilderreihen“33, die wir uns von städtischen Armutsvierteln machen, ohne dass wir etwas über die innere Struktur dieser Orte erfahren würden, sondern er zeigt auch auf, wie eine andere Herangehensweise aussehen könnte. Wolle man die Exotisierung überwinden, müsse man „die Arbeit der kollektiven [Hervorhebung im Original – H.-C. P.] Selbsterzeugung untersuchen, durch welche die Ghettobewohner ihrer Welt eine Form, eine Bedeutung und einen Zweck verleihen, statt sich mit der Feststellung zu begnügen, dass dieser Modus sich von denjenigen, die in anderen Bereichen der Gesellschaft gültig sind, schlicht unterscheidet.“34 Dies bedeutet für den Bourdieu-Schüler Wacquant nicht, die gesellschaftlichen Ungleichheiten zu relativieren und in einem möglichst bunten Panorama verschwinden zu lassen. Vielmehr geht es ihm darum, die aktive Auseinandersetzung mit diesen Ungleichheiten mittels kultureller und sozialer Praktiken ‚von unten‘ sichtbar zu machen und damit den Blick auf die Heterogenität und Individualität hinter den Fassaden zu werfen: „Die Ghettobewohner müssen folglich als Handelnde erkannt und näher beschrieben werden, so dass ihre Gewohnheiten und Lebensformen nicht nur als Derivate von Zwängen auftauchen, die sich ‚automatisch‘ an den strukturellen Bedingungen ‚ablesen‘ las-

32 Wacquant, 1998, S. 203. 33 Ebd., S. 200. 34 Ebd., S. 203. 152

Doppelte Marginalisierung?

sen, sondern als das Produkt ihrer aktiven Auseinandersetzung mit den externen und internen sozialen Kräften, die ihre Welt durchkreuzen und formen.“35 Folgt man diesem Plädoyer und wendet es auf das Beispiel St. Petersburg an, so würde ein erster Schritt darin bestehen, Armut und ‚die Armen‘ nicht als ein Stigma zu begreifen, das man möglichst aus dem Blickfeld zu nehmen sucht, sondern sie als einen Teil der eigenen Geschichte zu akzeptieren, der ebenso zur Historie dieser Stadt gehört wie der Winterpalast, die Eremitage und der Nevskij prospekt. Ansätze hierzu gab es in den 1990er Jahren, etwa in Form einer Ausstellung, die 1996 von der Petersburger Stadtverwaltung in Zusammenarbeit mit der Wohltätigkeitsorganisation Nočležka über die Geschichte der Bettler und Obdachlosen in der Stadt gezeigt wurde.36 Hieran anknüpfend und mit Blick auf die zahlreichen Besucher, die jedes Jahr in das „Venedig des Nordens“ strömen, ließe sich darüber nachdenken, die Orte der Unterschichten im Stadtbild wieder sichtbar zu machen – nicht im Sinne einer Wiederbelebung des in anderen Teilen der Welt nach wie vor aktuellen Phänomens des Slumming,37 sondern in Form einer historisch kontextualisierten, kritischen Auseinandersetzung mit den bis heute wirkungsmächtigen Bildern von den vermeintlich ‚anderen‘ Bewohnern unserer Städte. Die aktuell dominierenden und politisch forcierten Geschichtsnarrative lassen allerdings wenig Hoffnung auf die Umsetzung eines solchen Vorschlags aufkommen. Der Weg zu einem anderen, vollständigeren und integrativeren Verständnis unserer Geschichte und Gegenwart scheint nicht nur in Russland noch weit.

35 Ebd., S. 203. 36 Vgl. Jahn, 2010, S. 146f., sowie den kurzen Bericht über die Ausstellung: http:// library.by/portalus/modules/sensation/print.php?subaction=show f u l l &id=1327239358&archive=&start_from=&ucat=&subaction%3Dshowfull %26id%3D1328784863%26archive%3D%26start_from%3D%26ucat%3D%26, 04.08.2015. Zur Arbeit von Nočležka sei auf folgenden Eintrag verwiesen: http:// encblago.lfond.spb.ru/showObject.do?object=2812195507, 04.08.2015. 37 Frenzel u. a., 2012. Der Band ist im Rahmen des Forschungsprojekts „Slumming. Forschungsprojekt zum städtischen Armutstourismus im globalen Süden“ am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück entstanden: www.slumming.de/home.html, 04.08.2015. 153

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Schöne und weniger schöne Repräsentanzen: Deutsche Botschaften in Moskau Benjamin Conrad „Um diese Repräsentationsräume […] wurden wir von allen ausländischen diplomatischen Vertretungen in Moskau beneidet“1, notierte der letzte DDR-Botschafter in Moskau, Gerd König, in seinen Erinnerungen an das 1984 eröffnete neue Botschaftsgebäude der DDR. Dieser Beitrag möchte sich der windungsreichen Geschichte deutscher Botschaften in Moskau widmen, seitdem die Stadt 1918 Hauptstadt Sowjetrusslands, später der Sowjetunion und schließlich der Russländischen Föderation geworden war. Diesem kulturgeschichtlichen Themenkomplex wird in der Forschung, die meist auf Politikinhalte abzielte, kaum Bedeutung beigemessen, zumal zumindest bei manchen Werken auf geringe Ortskenntnis der Autoren geschlossen werden kann. In den Erinnerungen der Botschafter nehmen solche Fragen dagegen oft ein eigenes Kapitel ein. In der Frühen Neuzeit herausgebildet, hatte sich der diplomatische Dienst im 19. Jahrhundert ausgeweitet und im 20. Jahrhundert einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Mit diesem Aufschwung ging eine Professionalisierung einher, die sich kulturgeschichtlich auch in der Repräsentativität und Zentralität von Bauten niederschlug. Dies zeigt nicht nur das eingangs genannte Zitat in puncto Repräsentativität, sondern lässt sich bereits in der Geschichte der preußisch-deutschen Gesandtschaft in St. Petersburg aufzeigen.2 Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Sowjetrussland im Zuge des Friedens von Brest-Litovsk am 3. März 1918 fiel mit der Verlegung der sowjetrussischen Regierungsorgane von Petrograd 1 2

König, 2011, S. 103. Hierzu Hort, 2014, S. 485-578. 157

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nach Moskau zusammen, die von Vladimir Lenin am 22. März 1918 angeordnet wurde. Damit lässt sich Moskau in eine längere Liste neuer osteuropäischer Hauptstädte einreihen, in denen Gesandtschaften im 20. Jahrhundert neu eingerichtet werden mussten. Hinzu kommt die allgemeine Bedeutung des Landes für Deutschland und viele andere Staaten Europas, weshalb sich die angesprochenen kulturhistorischen Fragen nach der Repräsentativität und Zentralität diplomatischer Repräsentanzen anhand des Beispiels Moskau besonders gut untersuchen lassen.

Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg Die deutsche Gesandtschaft fand im Frühjahr 1918 in Moskau in der Denežnyj pereulok 5 im heutigen Rajon Chamovniki etwas südlich des Arbat ihren Sitz. Bei dem zweistöckigen Anwesen handelte es sich um den etwa 1,9 km vom Kreml entfernten, 1897 errichteten Palast des Fabrikanten Sergej Berg. Dieser war in die Schweiz emigriert.3 Der Straßenname des Gesandtschaftssitzes, Denežnyj pereulok (Geldgasse), erscheint als Ironie der Geschichte, da das Deutsche Reich schon 1917 den Transport Lenins nach Russland bezahlt hatte und 1918 die Bolschewiki im Bürgerkrieg weiter finanziell unterstützte. Diese fortdauernden Zahlungen wurden durch den am 2. April ernannten und ab dem 24. April 1918 nach sechstägiger Zugfahrt in Moskau befindlichen ersten deutschen Gesandten, Wilhelm Graf von Mirbach-Harff, maßgeblich befürwortet und durchgeführt.4 Deshalb spielte die deutsche Gesandtschaft gleich 1918 eine wichtige Rolle: Weil die nicht-bolschewistische sozialrevolutionäre Linke die genannte Finanzierung der Regierung Lenin durch Deutschland nicht mehr hatte hinnehmen wollen, beantragte sie auf dem V. allrussischen Sowjetkongress erfolglos eine Kündigung des Friedens von Brest-Litovsk. Nach diesem Misserfolg gelang es am 6. Juli 1918 zwei Mitgliedern der Tscheka unter Führung Jakov Bljumkins, die gleichzeitig den linken Sozialrevolutionären angehörten, unter einem Vorwand Zugang zur Gesandtschaft zu erhalten und Mirbach-Harff zu ermorden. Somit sollte die missliebige Verbindung Sowjetrusslands mit Deutschland been-

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www.ambmosca.esteri.it/Ambasciata_Mosca/Menu/Ambasciata/La_sede, 25.12.2014. Baumgart, 1968, S. 66; Ruland, 1964, S. 86-90.

Schöne und weniger schöne Repräsentanzen

Abb. 1: Erster Sitz der deutschen Gesandtschaft in Moskau war die Berg-Villa in der Denežnyj pereulok 5 im Jahre 1918, die heutige Botschaft Italiens. Rechts im Hintergrund ist die Spitze des in den 1950er Jahren erbauten Hochhauses des sowjetischen bzw. russischen Außenministeriums zu sehen

Foto: Benjamin Conrad, 2015

det und die Regierung Lenin zu einer Kurskorrektur bewegt werden. Nach dem Mord erschien Lenin noch am selben Tag zur Kondolenz in der Gesandtschaft.5 Unter Mirbach-Harffs Nachfolger Karl Helfferich wurden die Sicherheitsmaßnahmen drastisch erhöht und die Denežnyj pereulok deshalb für den Durchgangsverkehr gesperrt. Dennoch entschied Helfferich ohne Genehmigung des Auswärtigen Amtes aufgrund der Sicherheitslage am 6./7. August 1918 das Gros des Personals einschließlich seiner eigenen Person aus Moskau abzuziehen. Übrig blieb eine Rumpfmannschaft, die nach dem militärischen Zusammenbruch Deutschlands und der Aufkündigung des Friedens von Brest-Litovsk durch die sowjetische Regierung am 19. November 1918 aus dem Palais Berg abzog. Da-

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Baumgart, 1968, S. 69, 73; Häfner, 1994, S. 535-558, 630. 159

Benjamin Conrad

mit endeten die diplomatischen Beziehungen vorläufig. Seit 1924 dient das Anwesen – mit Unterbrechung 1941-1949 – als Botschaft Italiens.6 Nachdem im Sommer 1920 wieder erste Verbindungen zwischen den Regierungen des Deutschen Reiches und Sowjetrusslands geknüpft worden waren, wurden die diplomatischen Beziehungen nach dem Sieg der Roten Armee im Bürgerkrieg 1921 auf niederer Ebene und 1922 im Zuge des Rapallo-Vertrags wieder vollständig aufgenommen. Botschafter in diesen Jahren waren der frühere Reichsaußenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau (1922-1928), Herbert von Dirksen (1929-1933), Rudolf Nadolny (1933-1934) und Friedrich Werner Graf von der Schulenburg (1934-1941).7 Das Kanzleigebäude der Botschaft fand seinen Sitz in der Leont’evskij pereulok 10 (1938-1994 ulica Stanislavskogo 10) im heutigen Rajon Presnenskij in etwa 1,3 km Entfernung zum Kreml und nahe dem Sitz der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS. Ähnlich zur Denežnyj pereulok 5 war auch die 1896 errichtete Morozov-Villa in der Leont’evskij pereulok ein Jugendstilbau des ausgehenden Zarenreiches. Zusätzlich zum Kanzleigebäude kam noch als Residenz des deutschen Botschafters ein aus dem 18. Jahrhundert stammendes, im 19. Jahrhundert mehrmals umgebautes Gebäude in der Čistyj pereulok 5 hinzu. Diese Residenz befand sich erneut im heutigen Rajon Chamovniki etwas südlich des Arbats. Brockdorff-Rantzau präferierte die Residenz und nutzte sie auch als faktisches Kanzleigebäude. Das offizielle Kanzleigebäude in der Leont’evskij pereulok mied er.8 Mit dem „Anschluss“ Österreichs am 13. März 1938 übernahm das Deutsche Reich zusätzlich das Gesandtschaftsgebäude Österreichs in der Starokonjušennyj pereulok 1 in nur 200 m Entfernung zur eben genannten Residenz in der 6

7 8

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Hilger, 1956, S. 19, 29; Ruland, 1964, S. 90, 117-120, 132; www.ambmo­sca. esteri.it/Ambasciata_Mosca/Menu/Ambasciata/La_sede, 25.12.2014.  Bringmann, 2001, S. 127, nennt die Gesandtschaft Deutschlands in Sowjetrussland 1918-1921 „nicht geschlossen“, was ein Irrtum zu sein scheint. Ruland, 1964, S. 144, nennt das Palais Berg noch 1921 im Besitz des deutschen Arbeiter- und Soldatenrats Moskaus. Hierbei handelt es sich wohl um eine Überinterpretation einer Textstelle bei Hilger, 1956, S. 41. Hilger, 1956, S. 38-88; Bringmann, 2001, S. 127f. Ruland, 1964, S. 160, Fotografie 10; Hilger, 1956, S. 238; Scheidemann, 1998, S. 584-587; Ljubartovič, 2004; http://liveinmsk.ru/places/a-187.html, 29.12.2014. – Winkelmann, 1997, S. 41 und darauf aufbauend König, 2011, S. 102, nennen 1924 als Bezugsjahr des Kanzleigebäudes.

Schöne und weniger schöne Repräsentanzen

Abb. 2: Das Kanzleigebäude der deutschen Botschaft fand nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen im Zuge des Rapallo-Vertrags seinen Sitz bis 1941 in der Morozov-Villa in der Leont’evskij pereulok 10 (1938-1994 ulica Stanislavskogo 10). 1950-1984 befand sich hier die Botschaft der DDR. Bei Drucklegung dieses Buches 2015 wurde das Gebäude einer Kernsanierung unterzogen

Foto: Benjamin Conrad, 2015

Čistyj pereulok 5. Hierbei handelt es sich um eine 1906 im russischen Neoklassizismus errichtete Villa des Textilunternehmers Nikolaj Mindovskij, die 1927 von der sowjetischen Regierung an die Republik Österreich übergeben worden war. Die Villa wurde zum Gästehaus der deutschen Botschaft. Im August und September 1939 nächtigte hier bei seinen beiden Moskau-Besuchen Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop.9 In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 ging aus Berlin in der deutschen Botschaft eine an den Haaren herbeigezogene Erklärung ein, die Botschafter Schulenburg Außenkommissar Vjačeslav Molotov übergeben sollte. Dies tat Schulenburg eigenmächtig stark verkürzt und wortkarg um 5:30 Uhr

9

Fleischhauer, 1991, S. 51; www.bmeia.gv.at/botschaft/moskau/die-botschaft/geschichte-des-botschaftsgebaeudes.html, 25.12.2014. 161

Benjamin Conrad

Abb. 3: Die Fotografie zeigt links mit dem beflaggten Eingang die ehemalige Residenz des deutschen Botschafters bis 1941 in der Čistyj pereulok 5. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist das Gebäude Stadtsitz des Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche

Foto: Benjamin Conrad, 2015

bei Molotov.10 Diese Ereignisse markierten das Ende der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Botschaft, Gästehaus und Residenz wurden am 24. Juni geschlossen und geräumt, die deutsche Gesandtschaft in die Türkei ausgewiesen. Noch im Krieg wurde die Residenz als Moskauer Stadtsitz des Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche übergeben. Nach dem Krieg wurde das Gebäude in der Starokonjušennyj pereulok 1 an die Republik Österreich restituiert und fungiert bis heute als deren Botschaft.11

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs Als erster der beiden deutschen Staaten knüpfte die DDR am 15. Oktober 1949, also acht Tage nach ihrer Gründung, offiziell diplomatische Beziehungen zur 10 Fleischhauer, 1991, S. 349-358. 11 Hilger, 1956, S. 312f.; Ruland, 1964, S. 347; www.bmeia.gv.at/botschaft/ moskau/die-botschaft/geschichte-des-botschaftsgebaeudes.html, 25.12.2014. 162

Schöne und weniger schöne Repräsentanzen

Abb. 4: 1938-1941 fungierte die vormalige und spätere Gesandtschaft Österreichs in der Starokonjušennyj pereulok 1 als Gästehaus der deutschen Botschaft

Foto: Benjamin Conrad, 2015

Sowjetunion. Zum ersten Leiter der diplomatischen Mission der DDR in Moskau, seit 1953 mit dem Titel eines Botschafters, wurde Rudolf Appelt, ein ehemaliger kommunistischer Abgeordneter der Tschechoslowakei (1935-1938), bestellt.12 Wie zuvor Italien und Österreich wurde der DDR im November 1950 nach Sanierungs- und Renovierungsarbeiten das Gebäude der vormaligen Botschaft des Deutschen Reiches in der ulica Stanislavskogo 10 überlassen, dies zuerst zur Pacht und ab 1957 unentgeltlich. Die seit den Kriegsjahren dort befindliche Nachrichtenagentur Sovetskoe informbjuro, die sicher auch aufgrund der Nähe des Gebäudes der TASS dort untergekommen war, musste umziehen.13 Diese aus späterer Perspektive merkwürdig anmutende Kontinuität des Botschaftsgebäudes vom Deutschen Reich zur DDR erklärt sich aus dem von 1949 bis in die 1960er vertretenen gesamtdeutschen Anspruch der DDR, der auch von 12 Krüger/Schwiesau, 2010, S. 110; Muth, 2001, S. 147, 157, 279; http:// bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424. html?ID=63, 26.12.2014. 13 Giese, 2003, S. 230; Voslensky, 1980, S. 321f.; Winkelmann, 1997, S. 41f.; König, 2011, S. 102. 163

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der Regierung der UdSSR unterstützt wurde.14 Die staatsrechtliche Kontinuität wog also stärker als das ideologisch außerordentlich problematische Erbe des als imperialistisch, kapitalistisch und ab 1933 auch als faschistisch gebrandmarkten Deutschen Reichs. Der Bundesrepublik Deutschland war 1949-1955 nur in dem durch das Besatzungsstatut eng beschränktem Maße eine Außenpolitik möglich. Dies änderte sich mit Wiedererlangung der Souveränität durch den Grundlagenvertrag 1955. Noch im selben Jahr wurde während der Moskau-Reise von Bundeskanzler Konrad Adenauer vom 8.-14. September 1955 mit der sowjetischen Regierung die Aufnahme diplomatischer Beziehung vereinbart. Mangels einer Botschaft fungierte dabei ein Eisenbahnzug als exterritoriales bundesdeutsches Gelände.15 Am 12. März 1956 entsandte die Bundesregierung mit Wilhelm Haas einen Botschafter. Aufgrund der Rolle der Sowjetunion als Hauptsiegermacht des Zweiten Weltkriegs wurde dabei von Seiten Adenauers eine Ausnahme von der Abb. 5: Zwischen 1956 und 1992 befand sich das Kanzleigebäude der bundesdeutschen Botschaft in der Bol’šaja Gruzinskaja ulica 17. Heute gehört das Gebäude zum Komplex des Cereteli-Museums

Foto: Benjamin Conrad, 2015

14 Vgl. hierzu Wentker, 2007, S. 87-96. 15 Ruland, 1964, S. 355-358, 364-377. 164

Schöne und weniger schöne Repräsentanzen

Hallstein-Doktrin – wonach diplomatische Beziehungen sowohl zur Bundesrepublik als auch zur DDR ausgeschlossen sein sollten – gemacht. 1956-1967 war Moskau damit die einzige Hauptstadt der Welt, in dem es sowohl eine Botschaft der Bundesrepublik als auch der DDR gab. Mit der Aufweichung der Hallstein-Doktrin während der ersten Großen Koalition, konkret durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der Bundesrepublik mit Rumänien am 31. Januar 1967, endete diese Sonderstellung Moskaus.16 Für die westdeutsche Botschaft musste ein neues Kanzleigebäude zur Verfügung gestellt werden. Dies geschah nach vorübergehender Einquartierung in Hotels im August 1956 in der Bol’šaja Gruzinskaja ulica 17 etwas nördlich des Moskauer Zoos in einer kleinen Villa aus dem Jahr 1897. Verglichen mit den vorangegangenen Gebäuden befand sich die bundesdeutsche Botschaft mit ihAbb. 6: Seit 1956 ist die ehemalige britische Gesandtschaft in der ulica Vorovskogo 46 (seit 1993 Povarskaja ulica 46) Residenz des bundesdeutschen Botschafters

Foto: Benjamin Conrad, 2015

16 Bringmann, 2001, 128; Baumann, 1999, S. 164-167, 187, 213, 399. Hierbei bleiben wenige Tage im Oktober 1957 unberücksichtigt, die die Bundesrepublik zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien benötigte, nachdem Jugoslawien die DDR anerkannt hatte. 165

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rem Sitz im Rajon Presnenskij und einer Distanz von 3 km zum Kreml mehr als doppelt so weit wie die DDR-Botschaft von diesem entfernt und lag vergleichsweise peripher. Etwas zentraler lag die ebenfalls 1956 übergebene Residenz des Botschafters in der ulica Vorovskogo 46 (seit 1993 Povarskaja ulica 46) im Rajon Arbat. Das Gebäude war ursprünglich durch den Kaufmann Jakov Šlosberg kurz vor dem Ersten Weltkrieg errichtet worden und diente später als Sitz der Gesandtschaft Großbritanniens.17 Abb. 7: Ende der 1960er Jahre begann der Bau des „Deutschen Städtchens“ in Moskau am Prospekt Vernadskogo 103 B

Foto: Benjamin Conrad, 2015

Aufgrund der sich intensivierenden ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen wurde das Botschaftsgebäude in der ulica Stanislavskogo 10 mit der Zeit zu klein. Priorität hatte jedoch ab Ende der 1960er Jahre der Bau einer DDR-eigenen Siedlung, bestehend aus vier Plattenbauten mit insgesamt 500 Wohnungen, einem Kindergarten, einer Schule und einem Gästehaus mit 90 Zimmern im Westlichen Verwaltungsbezirk Moskaus. Diese Siedlung mit der Anschrift Prospekt Vernadskogo 103 B, gelegen nahe der 1963 eröffneten Metro-Haltestelle Jugo-Zapadnaja der Linie 1, beherbergte auch die neue Residenz des DDR-Bot-

17 Ehlert, 1967, S. 65-72; Ruland, 1964, S. 382f.; Konstantinova, 2001. 166

Schöne und weniger schöne Repräsentanzen

schafters. Die Siedlung wurde zu Beginn der 1980er Jahre fertiggestellt und wird umgangssprachlich Nemgorodok (Deutsches Städtchen) genannt.18 Erst im Anschluss an Nemgorodok wurde trotz der finanziellen Schwierigkeiten, in der sich die DDR seit den 1970er Jahren befand, der Neubau des Kanzleigebäudes in Angriff genommen. Die Grundsteinlegung des Neubaus der Botschaft der DDR fand am 26. Februar 1981 unter Anwesenheit des Staatsund Parteichefs der DDR, Erich Honecker, am Rande des XXVI. Parteitags der KPdSU statt.19 Dieser Neubau in einer Entfernung von einem Kilometer zum Prospekt Vernadskogo 103 B bedeutete einen radikalen Bruch mit der bisherigen deutschen Botschaftstradition in Moskau. Zum einen entstand der Neubau selbstverständlich nicht als spätzarischer Prachtbau, sondern als dreiteiliger BeAbb. 8: Das neue Kanzleigebäude der DDR-Botschaft wurde 1981-1984 am Leninskij prospekt 95a errichtet. Es wird heute teils als deutsches Generalkonsulat (links) und als Sitz des Goethe-Instituts (rechts) genutzt

Foto: Benjamin Conrad, 2015

18 www.deutscheschulemoskau.de/ 27.12.2014; www.spiegel.de/spiegel/print/d-13489​ 953.​html 27.12.2014; www.neues-deutschand.de/arikel/208527.nemgorodok. html, 27.12.2014; König, 2011, S. 102-106; Winkelmann, 1997, S. 39-41. 19 Krüger, 2010, S. 190; Winkelmann, 1997, S. 41. 167

Benjamin Conrad

tonkomplex. Entscheidende Änderung aber war, dass sich der Gebäudekomplex völlig außerhalb des Moskauer Stadtzentrums im Verwaltungsbezirk Südwest an der Ausfallstraße Leninskij prospekt vom Kreml zum Flughafen Vnukovo befand – und damit in über 10 km Entfernung zum Kreml. Von offizieller Seite wurde der Botschaft die Adresse Leninskij prospekt 95a gegeben. Die Vergabe dieser Adresse dürfte der politischen Symbolik wegen erfolgt sein, denn das Botschaftsgebäude befindet sich tatsächlich in der ulica Akademika Piljugina. Zum Leninskij prospekt hat der Botschaftskomplex nur einen schmalen Zugang am Westrand an einem Parkplatz. Im Herbst 1984 wurde der Neubau seiner Bestimmung übergeben. Während der vorletzte DDR-Botschafter in Moskau, Egon Winkelmann (1981-1987), das Gebäude aus der Retrospektive aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage der DDR als überdimensioniert und ungemütlich betrachtete, so lobte, wie eingangs erwähnt, der letzte DDR-Botschafter, Gerd König (1987-1990), vor allem die gestiegenen Repräsentationsmöglichkeiten.20 Das Gebäude in der ulica Stanislavskogo 10, das mit Unterbrechung 19411950 zwei deutschen Staaten zusammen über 50 Jahre als Botschaft in Moskau gedient hatte, wurde wieder an die Sowjetunion übergeben. Noch einmal war die Symbolik des Gebäudes von Bedeutung: Da es der DDR nie gelungen war, den Pachtvertrag in eigenen Besitz umzuwandeln, drängte Honecker den sowjetischen Botschafter in Ost-Berlin, Vjačeslav Kočemasov, darauf hinzuwirken, dass das sowjetische Außenministerium das Gebäude nicht zur Nachnutzung an die Bundesrepublik abgeben sollte. Die Episode zeigt Honeckers Denken in deutsch-deutschen Konkurrenzkategorien. Das Gebäude wurde von der Sowjetunion zur Nutzung an die Republik Kuba weitergegeben,21 die später aber wieder auszog. Seit 2015 bis voraussichtlich 2017 wird es einer Kernsanierung unterzogen. Die Bundesrepublik hatte übrigens 1984 nie Interesse an dem Gebäude in der ulica Stanislavskogo 10 angemeldet, da sie mit der eigenen Botschaft dasselbe Problem wie die DDR-Botschaft hatte: Aufgrund der mit der Neuen Ostpolitik der Regierung Brandt-Scheel gewachsenen Bedeutung der Hauptstadt der UdSSR für die bundesrepublikanische Außenpolitik schien auch für die westdeutsche Botschaft in Moskau zu Beginn der 1970er Jahre ein größerer Gebäudekomplex nötig. Der Neubau eines Kanzleigebäudes wurde 1974 wechselseitig mit einem neuen sowjetischen Pendant in Bonn vereinbart. Zwischen Vereinbarung und Baubeginn sollten allerdings noch einmal zehn Jahre verge20 König, 2011, S. 102f.; Winkelmann, 1997, S. 39f. 21 König, 2011, S. 102; Winkelmann, 1997, S. 42. 168

Schöne und weniger schöne Repräsentanzen

hen. 1984 wurde in der ulica Mosfil’movskaja 56 – also ebenfalls außerhalb in über 7 km Entfernung zum Kreml und ohne Metro-Anschluss – durch die Bundesbaudirektion mit dem Bau begonnen.22 In der Nachbarschaft befanden sich mit denjenigen Nordkoreas, Bulgariens, Rumäniens, Ungarns und Jugoslawiens die Botschaften zahlreicher damals kommunistischer Staaten. 1990 war der Neubau der westdeutschen Botschaft aufgrund des Mangels an geeigneten Baumaterialien und Facharbeitern nach wie vor nicht abgeschlossen, weshalb immer wieder auf Materialen und Personal aus der Bundesrepublik zurückgegriffen werden musste.23 Ungeplant kam es nun allerdings zu einer Entlastung in der Gebäudesituation: Wie schon am 13. März 1938 mit der Gesandtschaft Österreichs ging am 3. Oktober 1990 mit der Wiedervereinigung der Besitz der DDR in den der Bundesrepublik über. DDR-Botschafter König war bereits am 16. September 1990 abgereist. Der Gebäudekomplex Leninskij prospekt 95a befindet sich bis heute mit dem Status eines Generalkonsulats in staatlicher Nutzung und zwar als Sitz der Rechts- und Konsularabteilung sowie der Visastelle. Des Weiteren ist in den Räumlichkeiten auch die Moskauer Filiale des Goethe-Instituts untergekommen.24 Im August 1992, also im Jahr nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und im Jahr der vollständigen Etablierung der Russländischen Föderation, konnte das insgesamt 3,5 ha große Botschaftsgelände in der ulica Mosfil’movskaja 56 als bis dato größter Botschaftsneubau der Bundesrepublik von Bundesaußenminister Klaus Kinkel seiner Bestimmung übergeben werden. Der ausschließlich aus dunkelroten Klinkerbauten bestehende Gebäudekomplex besteht aus dem Kanzleigebäude, einem Mehrzweckbau und zwei Wohnkomplexen mit 120 Wohnungen.25

22 www.bbr.bund.de/BBR/DE/Bauprojekte/Ausland/BotschaftenKonsulate/Moskau/ moskau.html, 24.12.2014. 23 www.bbr.bund.de/BBR/DE/Bauprojekte/Ausland/BotschaftenKonsulate/Moskau/ moskau.html, 24.12.2014. 24 www.germania.diplo.de/Vertretung/russland/de/02-mosk/4-arbeitseinheiten/ konsulat.html, 24.12.2014; www.goethe.de/ins/ru/mos/ruindex.htm?wt _sc= moskau, 24.12.2014; König, 2011, S. 13; Winkelmann, 1997, S. 39. 25 www.bbr.bund.de/BBR/DE/Bauprojekte/Ausland/BotschaftenKonsulate/Moskau/ moskau.html, 29.12.2014; Winkelmann, 1997, S. 39, nennt als Bauzeit 18 Jahre, womit er den Baubeginn des Botschaftskomplexes ins Jahr 1974 setzt. Dies war allerdings das Jahr der Vereinbarung über den Bau, nicht über den tatsächlichen Baubeginn. 169

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Abb. 9: 1984 in der ulica Mosfil’movskaja 56 mit dem Neubau des Kanzleigebäudes der Bundesrepublik begonnen, das seit 1992 Sitz der Botschaft des wiedervereinigten Deutschland ist

Foto: Benjamin Conrad, 2015

Gemeinsam mit der Grundfläche der direkt benachbarten Botschaft Serbiens bildet diejenige der deutschen Botschaft ein Rechteck, wobei die L-förmige Grundfläche der deutschen Botschaft knapp drei Viertel des Rechtecks einnimmt. Für das alte Botschaftsgebäude in der Bol’šaja Gruzinskaja ulica 17 war – nomen est omen, da der Straßenname übersetzt „Große Georgische Straße“ heißt – zeitweilig eine Übergabe an die nunmehrige Republik Georgien als Botschaft im Gespräch.26 Dieser Plan wurde nicht realisiert. Genutzt wird das Gebäude heute von dem georgisch-russischen Bildhauer Zurab Cereteli. Der Innenhof der ehemaligen Botschaft ist seit 2009 im Rahmen des Cereteli-Museums, das dem Moskauer Museum für zeitgenössische Kunst angehört, für die Öffentlichkeit zugänglich.27

26 Der Spiegel (28.01.1991), www.spiegel.de/spiegel/print/d-13489953.html, 27.12. 2014; Neue Züricher Zeitung (29.08.2008), www.nzz .ch/aktuell/startseite/georgien. schliesst-seine-botschaft-in-moskau--1.819120, 27.12.2014. 27 Vgl. www.tsereteli.ru/mmoma/, 30.04.2015. 170

Schöne und weniger schöne Repräsentanzen

Schluss Anhand des Studiums der deutschen Botschaftsgebäude in Moskau lässt sich abschließend festhalten, dass lange im Laufe des 20. Jahrhunderts möglichst prachtvolle Gebäude in Kombination mit zentralörtlicher Lage angestrebt wurden. In der Denežnyj pereulok (1918), Leont’evskij pereulok bzw. ulica Stanislavskogo (1922-1941, 1950-1984), Čistyj pereulok (1922-1941), Starokonjužennyj pereulok (1938-1941), ulica Vorovskogo bzw. Povarskaja ulica (seit 1956) und mit Abstrichen auch in der Bol’šaja Gruzinskaja ulica (1956-1992) konnten solche auch erlangt werden. Abb. 10: Karte Moskaus, versehen mit den Orten der Abbildungen 1-9

Kartendaten: © OpenStreetMap-Mitwirkende, 2015

Zentralität und Repräsentativität waren Eigenschaften, die universell galten, weshalb in eine leere ehemalige deutsche Botschaft diplomatische Einrichtungen anderer Staaten, wie Italien oder Kuba einzogen oder im Falle der ulica 171

Benjamin Conrad

Vorovskogo die Residenz des deutschen Botschafters vormals Sitz der Gesandtschaft Großbritanniens gewesen war. Politische Nähe oder Distanz zur Sowjetmacht spielten dagegen – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle. Selbst die außerordentlich schweren Bevölkerungs- und Materialverluste während des „Großen Vaterländischen Krieges“ 1941-1945 waren für die sowjetische Regierung kein Grund, bereits in den nachfolgenden Jahren Österreich, Italien und der DDR – hier als Nachfolger des Deutschen Reiches – die vormaligen Botschaftsgebäude zu verweigern. Stattdessen wurde diesen Staaten im Bereich der Diplomatie in Moskau Kontinuität ermöglicht. Dies ist deshalb interessant, weil die Sowjetunion als Siegermacht einen maßgeblichen Beitrag zum Untergang der rechtsnationalen Ideologien des Faschismus und des Nationalsozialismus geleistet hatte, mithin also die Gesandten der DDR, Österreichs und Italiens Ende der 1940er Jahre fast immer weder persönlich noch politisch in Kontinuität zu denjenigen von 1941 und davor standen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschob sich – zumindest in einer Agglomeration wie Moskau – die Priorität von zentralörtlicher Repräsentativität hin zur Funktionalität. Aufgrund der vielfach angestiegenen Möglichkeiten der direkten Kommunikation zwischen Regierungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde beispielsweise die geografische Nähe von Botschaften zu den Regierungsgebäuden des Gastlandes unwichtiger. Dieser und zahlreiche andere Gesichtspunkte ließen DDR und Bundesrepublik in Moskau 1981-1984 und 1984-1992 peripher unansehnliche Gebäudekomplexe errichten, die aber den vielfach gewachsenen und geänderten Arbeitsbedingungen einer Botschaft viel besser gerecht wurden und werden.

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Moderne Parlamentsbauten in Prag und Warschau Zur Rolle von Architektur und Repräsentativität in parlamentarischen Systemen Paul Friedl In nahezu allen Städten Europas zählen Paläste und Sakralbauten wie selbstverständlich zu den kunst- wie kulturhistorisch bedeutsamen Denkmälern. Die Forschung hat ihnen entsprechend viel Aufmerksamkeit gewidmet und die Bedeutung gerade der Palastbauten für die Darstellung eines frühmodernen Herrschafts(selbst)verständnisses deutlich herausgearbeitet. Anders bei den Bauten, in denen nicht monarchische Gewalt oder göttliche Größe zum Ausdruck kommen sollen, sondern moderne Gedanken wie die Herrschaft des Volkes, Gewaltenteilung oder Redefreiheit. Die weniger auf ästhetischen Eindruck oder Überwältigung, als auf rationale Überzeugung und Zustimmung setzenden demokratischen Systeme scheinen eine Beschäftigung mit ihrer sinnlich-räumlichen Präsenz und Erfahrbarkeit entsprechend weniger zu rechtfertigen. Warum also könnte sich eine Beschäftigung mit diesem Thema doch lohnen? Weil jeder Architektur in einem Prozess der Interpretation bestimmte Bedeutungen zugeschrieben werden können, diese dann durchaus als Eigenschaft der Architektur selbst wahrgenommen wird und weil dies auch öffentlichen Bauten demokratischer Staaten passiert. Und der Verdacht liegt nahe, dass dieser Prozess in einer differenzierten, pluralistischen Gesellschaft komplizierter ist.1 Das Ancien Régime war sich seiner Ästhetik noch sicher: Anspruch auf, Besitz von und Repräsentation der Macht fielen mehr oder weniger in eins, die Aristokratie entwickelte eine schlüssige Formensprache, einen gut bekannten

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Brendgens, 2008, S. 13-21. 175

Paul Friedl

Kanon, der über Jahrhunderte behutsam weiterentwickelt wurde.2 Zudem beruhte sie ja eben auf dem verschwenderischen Umgang mit dem von der produktiven Klasse erwirtschafteten Überschuss.3 Die Verausgabung in architektonisch großartigen Werken war nur ein Teil dieser praktischen Rechtfertigung einer gottgegebenen Herrschaft. Anders demokratisch-parlamentarische Systeme, die sich ihre Bestätigung und Rechtfertigung nicht dadurch permanent selbst einholen können, indem sie ihre Großartigkeit darstellen. Sie sind stattdessen auf Wahlen, Überzeugungsarbeit, öffentliche Meinung und dergleichen mehr angewiesen. Gegenwärtig gilt in Deutschland als die einer demokratischen Gesellschaft angemessenste Parlamentsarchitektur gar ein solche, die – durch die Verwendung von möglichst viel Glas – selbst beinahe unsichtbar ist und damit den Gedanken der Transparenz und Öffentlichkeit der Staatsmacht wiederum in ein Sinnbild umwandeln will.4 Andererseits war es im 19. Jahrhundert noch schwer, nicht auf den elaborierten architektonischen Kanon der Frühen Neuzeit zurückzugreifen, auch wenn es um neue Bautypen ging – zumal die neuen Systeme meist aus Revolution oder Krieg hervorgingen, was nie genug Zeit oder Ressourcen für eine bewusste und von langer Hand geplante Lösung der gestellten Aufgabe ließ. Ein unter den Parlamentsbauten häufig anzutreffender Typus ist deshalb der des besetzten, angeeigneten und umgedeuteten Gebäudes. Wir werden sehen, dass beide Herausforderungen, der Umgang mit überkommenem Kanon und das Finden einer neuen angemessenen Sprache, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in Ostmitteleuropa auftauchten. Schließlich tritt als dritte Herausforderungen für einen Parlamentsbau seine Zweckmäßigkeit hinzu. Führen wir uns nur einige Anforderungen an den Plenarsaal vor Augen, so erscheint die Bauaufgabe schnell als eine der anspruchsvollsten: Groß genug für einige hundert Menschen, die dort bequem längere Zeit sitzen, sich gegenseitig sehen und hören müssen. Zugleich soll die Akustik des Saales die Person am Rednerpult problemlos hörbar machen, aber auch Zwischenrufe ermöglichen.5 Untersuchungen, die über eine rein deskriptive Bestandsaufnahme dessen, was zu sehen ist, hinausgehen, sind selten. Zu einigen wenigen markanten Gebäuden, wie etwa dem Berliner Reichstag oder dem Washingtoner Kapitol, liegt eine Fülle von Literatur vor, die stellenweise auch über das einzelne Bauwerk hinausgeht und seine paradigmenbildende Wirkung untersucht. Auch sind einzelne Länder, wie das Deutsche Reich bzw. Bundesrepublik, die USA oder das 2 3 4 5 176

Cullen, 1989, S. 1846; Richter/Zänker, 1988, S. 248. Bataille, 1975, S. 149-155. Brendgens, 2008, S. 12-21. Cullen, 1989, S. 1845, 1886.

Moderne Parlamentsbauten in Prag und Warschau

Vereinigte Königreich deutlich besser erforscht, als beispielsweise die ostmitteleuropäischen Länder, für die in der Literatur oft wenig mehr als Architekturbeschreibungen vorliegen.6 Hervorzuheben ist die Studie von Guido Brendgens zur parlamentarischen Architektur der Bundesrepublik. Um die Frage beantworten zu können, wie Architektur überhaupt zu einem Bedeutungsträger werden kann und welche Akteure an dem Prozess beteiligt sind, schafft sich Brendgens aus publizistischen Quellen und eigenen Erhebungen wie etwa Interviews und Protokollen seiner eigenen Architektur-und Raumerfahrung eine breite empirische Grundlage.7 Dieser Materialreichtum wird zwar für historische Untersuchungen nur in Ausnahmen erreichbar sein, hinter ihren methodischen Anspruch wird man jedoch nicht mehr zurückfallen dürfen. Synthesen und Vergleiche zum Thema des Parlamentsbaus bzw. zur Fortdauer aristokratischer Bauformen im bürgerlichen Kontext sind insgesamt überschaubar. Noch beinahe völlig unbeachtet sind die Fragen, die die Geschichtswissenschaft mehr als alle Ikonographie und Symbolpolitik interessieren muss: Nämlich wie sich der Wandel der Herrschaftsarchitektur mit dem Wandel der politischen Systeme deckt und wo Brüche und Kontinuitäten hier sich auch dort abbilden. Und ob schließlich – so viel Vermutung sei an dieser Stelle erlaubt – ein deutliche Kontinuität in der Selbstdarstellung souveräner Gewalt nicht auch auf verborgene Kontinuitäten in ihrem Wesen hinweist.8 Diese Fragen sollen hier jedoch nicht berührt werden, sondern die Situation in zwei Ländern überschaut werden, für die man schon im Voraus eine in den westlichen Sprachen schlechtere Literaturbasis annehmen darf, da sie in den Bereich des kunsthistorisch traditionell weniger beachteten slawischen Europa fallen: Polen und die Tschechoslowakei. Der folgende Aufsatz beleuchtet das 20. Jahrhundert, was zum einen durch das Thema des Parlamentsbaus in demokratischen Systemen, andererseits durch einige Parallelen in der Geschichte beider Länder selbst nahegelegt wird: Beide gelangten im Ergebnis des Ersten Weltkriegs zu neuer, zuvor verlorener oder geminderter Staatlichkeit; in beiden Ländern existierte dann ein demokratisches System; in beiden gelangte nach der Besetzung durch das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg ein sozialistisches System unter sowjetischer Ägide zur Durchsetzung. Die spezifische Ausprägung dieses Systems als Volksdemokratie mit Parlamenten wird also auch die Frage 6 7 8

Beyme, 1996, S. 32-45; Pevsner, 1998, S. 35-52; Greenberg, 2006. Brendgens, 2008, S. 30-39, 53-96. Beispielhaft dafür könnte sein: Richter/Zänker, 1988, siehe dort insb. 248 f., deren Augenmerk hauptsächlich auf dem Deutschen Reich liegt. Programmatisch dazu: Goverde, 1992, S. 249-258 und passim. 177

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aufwerfen, wie es mit der Rolle der Architektur in dieser Situation steht. Beide Länder verfügten zudem über Jahrhunderte währende ständeparlamentarische Tradition, im Falle Polens in einem solchen Ausmaß, dass der adelige Parlamentarismus als prägendes Moment der gesamten frühneuzeitlichen Geschichte erscheint. Die Unterschiede zwischen beiden Staaten sind selbstverständlich ebenso zu betonen: Die Entwicklung eines autoritären Herrschaftsstils in Polen unter Józef Piłsudski nach den Mai-Putsch von 1926, die große Akzeptanz des Kommunismus in der Tschechoslowakei nach 1945 auf Basis des Wahlerfolgs der tschechoslowakischen Kommunisten 1946 und wiederum seine mangelnde Durchsetzungskraft in Polen, wo die Bevölkerung aus nationalhistorischen und religiösen Gründen viel weniger zur Akzeptanz eines atheistischen, sowjetisch-imperialen Systems zu zwingen war.

Tschechoslowakei Am 28. Oktober 1918, der heute als Unabhängigkeitstag gilt, ordnete der tschechische Nationalausschuss die Räumung des alten Landtagsgebäudes, des Palais Thun-Hohenstein, an, mit dem Ziel, dort eine neue gesetzgebende Versammlung einberufen zu können.9 Auf der Grundlage der am selben Tag erlassenen Übergangsverfassung kam dann tatsächlich am 14. November die „revolutionäre“ Nationalversammlung zusammen. Dort hatte sie ihren Sitz bis 1920, als sie in der neuen Verfassung von einem Zweikammerparlament abgelöst wurde.10 Für diese wurde zwar von Anfang an in Neubau anvisiert, als Interimslösung wurde jedoch erst einmal das Rudolfinum bezogen. Dieses im späten 19. Jahrhundert als Kunsthaus mit Ausstellungs- und Konzertsaal errichtete Gebäude war sowohl unter praktischen als auch repräsentativen Aspekten eine zufriedenstellende Lösung. Direkt an der Moldau gelegen bildet es zusammen mit zwei anderen, ebenfalls sehr repräsentativen Hochschulgebäuden einen harmonisches Ensemble an einem vierseitigen Platz, der nach der Moldau hin unverbaut ist und so den Blick auf den Prager Burgberg, den Hradschin, lenkt. Groß genug für die 300 Mitglieder der Abgeordnetenversammlung war der Bau allerdings nicht, doch waren erste Umbaumaßnahmen in den Jahren 19191922 verhältnismäßig zurückhaltend. Vermutlich rechneten die Parlamentarier noch mit einem zügigen Neubau. Erst 1922 entschieden sie sich zu weitgehenden   9 Pokorný, 2007, S. 347. 10 Amm, 2001, S. 219; Tomeš, 2012, S. 25-27. Im Palais Thun-Hohenstein befindet sich seit 1921 die italienische Botschaft. 178

Moderne Parlamentsbauten in Prag und Warschau

Umbauten, geleitet vom Architekten R. Kříženecký. Er ließ die Orgel aus dem Konzertsaal entfernen, um mehr Platz für das Plenum zu schaffen; im umgebauten Ausstellungssaal fand das Parlamentspräsidium Platz. Auch alle anderen Gebäudeteile erfuhren bis 1931 eine mehr oder weniger große Umgestaltung. Für den Parlamentsneubau wurde währenddessen das unbebaute Gelände des Letná-Berges auf der anderen Moldauseite, gegenüber der Altstadt, ausgewählt und ein Wettbewerb ausgeschrieben. Der 1928 zum Sieger gekürte, streng funktionalistische Entwurf von Josef Štěpánek wurde jedoch nicht ausgeführt. Über Abb. 1: Das Rudolfinum, 1920-1939 Sitz der Abgeordnetenversammlung der Tschechoslowakischen Nationalversammlung und 1945-1946 der provisorischen Nationalversammlung

Foto: Kapras, Jan, Ustava Československé Republiky, in: Československá vlastivěda, Bd. V: Stát, Praha 1931, S. 107-191, hier S. 133

die Gründe lässt sich hier leider nur spekulieren: Sicherlich erschien das Rudolfinum selbst, mit seiner äußerlich unveränderten historistischen Gestalt und den Umbauten im Inneren, als würdiges und recht funktionales Parlamentshaus, so dass keine absolut zwingenden Gründe für einen Umzug vorlagen. Schließlich hatte die Nationalversammlung dort ihren Sitz, bis der Parlamentarismus der Tschechoslowakischen Republik im Dezember 1938 zusammenbrach, wenige 179

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Wochen bevor 1939 der Staat durch den Einmarsch deutscher Truppen aufhörte zu existieren.11 Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die Neubaupläne für die nun unikamerale Nationalversammlung erneut auf den Tisch.12 Auch dieses Mal brachte ein Wettbewerb einen Siegerentwurf hervor, und wieder wurde er nicht realisiert. Das Parlament tagte zu dieser Zeit im ehemaligen Verkehrsministerium, das nach dem Entwurf von Antonín Engel gebaut worden war. Derselbe Architekt leitete zur gleichen Zeit den erneuten Umbau des Rudolfinum, zurück zu seiner ursprünglichen Funktion als Kunsthaus. Kurze Zeit später zog die Nationalversammlung in die ehemalige Wertpapier- und Warenbörse um, ein Gebäude aus den späten 30er Jahren in unmittelbarer Nähe des Wenzelsplatzes, zwischen Nationalmuseum und Smetana-Theater. Dieses wurde schließlich für eine umfangreiche Erweiterung vorgesehen: Der Wettbewerbssieger Karel Prager entwarf ein technisch sehr anspruchsvolles „Gebäude über dem Gebäude“: Das in Stein ausgeführte Börsengebäude sollte von einem aufgeständerten Neubau aus Stahl und Glas gleichsam überdacht werden, was Wuchtigkeit und Höhenentwicklung des Baukörpers deutlich steigerte. Die 1966 begonnenen Arbeiten wurden erst 1974 abgeschlossen und erhielten mit den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen um den Prager Frühling und den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes 1968 einen eigentümlichen Charakter. Eine der zentralen politischen Forderungen der Reformbewegung war die Föderalisierung des Staates, die dem slowakischen Landesteil die formale Gleichberechtigung mit dem tschechischen und seiner Bevölkerung mehr politische Teilhabe eröffnen sollte. Nachdem die sowjetische Führung das für ihren Geschmack deutlich zu weit gehende Experiment des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ unterbunden hatte, ließ sie den verfassungsmäßigen Umbau des Staats in einen Bundesstaat als einziges Zugeständnis an die Bewegung zu.13 Aus der Nationalversammlung wurde mit der neuen Verfassung von 1968 eine Bundesversammlung mit einer Nationenkammer und einer Volkskammer. Dem dadurch stark erhöhten Platzbedarf konnte bei den Bauarbeiten an der Börse keine Rechnung mehr getragen werden. Ursprünglich als Ausstellungsräume vorgesehene Gebäudeteile mussten daher ebenfalls dem Parlament zur Verfügung gestellt werden.14

11 12 13 14 180

www.ceskafilharmonie.cz/rudolfinum-p38.html, 29.8.2015. Amm, 2001, S. 221. Brown, 2008, S. 474-482, 490. www.archiweb.cz/buildings.php?action=show&id=2364&type=26, 29.8.2015.

Moderne Parlamentsbauten in Prag und Warschau

Bei seiner Fertigstellung galt das Gebäude als eines der konstruktiv und ästhetisch spektakulärsten in der Tschechoslowakei.15 Trotz seiner Monumentalität nimmt es aber keinen direkten Anteil am Ensemble des Wenzelsplatzes. Dies verhindert das nicht minder wuchtige Nationalmuseum, das mit seiner historistischen Fassade weiterhin den Platz dominiert. Abb. 2: Das Gebäude der Bundesversammlung, 1973-1992 Sitz der beiden Kammern des föderalen Parlaments der Tschechoslowakei

Foto: Benjamin Conrad, 2015

Das funktionalistische Äußere des neuen Parlaments sollte dem „nüchternen Arbeitsstil“ der Abgeordneten entsprechen, im Inneren verhinderte jedoch der Platzmangel die Umsetzung eines durchkomponierten gestalterischen Konzepts. Die vorhandenen symbolischen Elemente verweisen interessanterweise kaum auf die Idee des mit viel gesetzgeberischem Aufwand umgesetzten Föderalismus, den Parlamentarismus oder die Demokratie, sondern auf den sozialen und technischen Fortschritt im Sozialismus und geographisch-landeskundliche Merkmale der Tschechoslowakei.16 Aufgrund seiner unglücklichen historischen Verbindung mit dem von der Reformbewegung so nicht gemeinten Föderalismus und seiner kompromisslosen und dominanten architektonischen Gestalt zählt der Bau heute zu den umstrittensten in Prag, ähnlich wie etwa der damalige Palast der Republik im wiedervereinten Berlin, mit dem es auch stilistisch durch eine gewisse Ähnlichkeit verbunden ist. 15 Baše, 1995, S. 54. 16 Amm, 2001, S. 231-240. 181

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Polen Auch in Polen galt es nach dem Ersten Weltkrieg und der neugewonnenen Souveränität möglichst schnell geeignete Räumlichkeiten für das schon 1919 gewählte Einkammerparlament zu finden. Das Warschauer Königsschloss, der Ort des alten polnischen Reichstags (poln. Sejm – ebenfalls die Bezeichnung für moderne Parlamente) und damit eine naheliegende Option für das neue polnische Parlament, wurde zu dieser Zeit restauriert. Doch selbst wenn das Königsschloss zur Verfügung geständen hätte – für die Anforderungen eines modernen Arbeitsparlaments wäre aus Platzgründen bald ein Neubau nötig gewesen. Dieser war in der gesamten Zwischenkriegszeit ein ständiges Thema und stets mit dem Willen zum Anschluss an die großen städtebaulichen Konzeptionen des 18. Jahrhunderts, zur Bebauung des noch nicht voll erschlossenen Geländes vom Ujazdowski-Palast, im Süden der Altstadt, zum Weichselufer hinunter verbunden. Der Sieger eines Wettbewerbs von 1927 sah beispielsweise die Anknüpfung an die sogenannte Stanisław-Achse vor, so benannt nach der Zeit und den Architekten des letzten polnischen Königs Stanisław II. August Poniatowski in der Zeit der Aufklärung. Als Übergangslösung hatte der Warschauer Magistrat zunächst den ehemaligen Sitz des sogenannten Adelsinstituts (Instytut szlachecki) an der Ulica Wiejska ausgewählt, einer Mittelschule für adelige Söhne und Töchter. Wie in der Tschechoslowakei auch sollte aus diesem Provisorium eine Dauerlösung werden, mit dem Ergebnis, dass das polnische Parlament bis heute über einen recht unauffälligen Auftritt in der Hauptstadt verfügt. Um zu diesem zentralen Staatsorgan zu gelangen, muss man der repräsentativen Magistrale des Königswegs ein gutes Stück aus dem Trubel heraus nach Süden folgen und am Plac Trzech Krzyży in die eher ruhige Ulica Wiejska abbiegen. Für den zeitweisen Sitz eines Parlaments war das Schulgebäude aber, aufgrund seiner klassizistischen, palastartigen Anlage und seinen großzügigen Innenräumen sicherlich eine gute Wahl. Als Sitzungssaal diente der frühere Speise- und Festsaal. Größere Umbauarbeiten waren nicht nötig, nur der schlichten Innendekoration wurde im Scheitelpunkt der Apsis im Sitzungssaal eine Inschrift hinzugefügt, die der neuen Bestimmung des Ortes Ausdruck verlieh. 1924 wurden dem Sejm schließlich die Mittel für eine Erweiterung des Schulgebäudes zur Verfügung gestellt. Dies war nötig, da das Parlament mit der Verfassung von 1922 auf 460 Abgeordnete vergrößert worden war. Ohne vorhergehenden Wettbewerb fiel die Entscheidung für Kazimierz Skórewiczs Entwurf einer Rotunde in Gestalt eines geringfügig verlängerten Halbkreises, die der nach Süden weisenden Hauptfassade des Altbaus vorgesetzt wurde. In 182

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Abb. 3: Das Instytut Szlachecki, 1919-1927 Sitz der beiden Kammern des polnischen Parlaments

Foto: Mościcki, Henryk/Dzwonkowski, Włodzimierz, Parlament Rzeczypospolitej Polskiej 1919-1927, Warszawa 1928, hier S. 57

diesem, nur durch ein teilverglastes, zylindrisches Dach von Tageslicht beleuchteten Saal tagte die erste Kammer des Parlaments, das Abgeordnetenhaus. Die durch den Anbau fensterlos werdenden Räume des Altbaus wurden ebenfalls mit Oberlichtern versehen und zu einem Saal zusammengefasst, der alte Speisesaal verkleinert und für die Sitzungen des Senats, der zweiten Kammer des Parlaments, bestimmt. Neben seiner reinen Form und seiner durch die Fensterlosigkeit etwas abweisend wirkenden Höhe stellen 16 Flachreliefs, die sich als Fries einmal um das Halbrund ziehen, das auffallendste und einzige ornamentale Gestaltungsmerkmal der Rotunde dar. Die Bildhauer Jan Biernacki und Jan Szczepkowski ahmten dabei in Sandstein die Schnittführung von Holzschnitzereien nach. 14 ihrer Reliefs sind figürlich-symbolische Darstellungen verschiedenster menschliche Werke, wie etwa Kunst, Sport, Handel, Seefahrt oder Fliegerei, die übrigen zwei abstrakte Ornamente, die einmal an Panoplien und einmal an volkstümliche Scherenschnitte erinnern. In seinen großen Formen und seinem Fassadenschmuck klar modern, ja sogar folkloristisch – die stilisierten Panoplien können als einziges Element gelesen werden, das auf die vormoderne, aristokratische Parlamentstradition ver183

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weist17 – unterschied sich der Neubau deutlich vom noch ganz klassizistischen Altbau. Die Rotunde wurde zeitgenössisch von der Architekturkritik gelobt als schlichte und der Arbeit und Würde des Parlaments angemessene Lösung der Bauaufgabe. Der Rotunde südlich benachbart entstand ein mit seinem massiven, schmucklosen Korpus parallel zum Altbau liegendes Funktionsgebäude, das sogenannte Sejm-Hotel mit Unterkünften, Büros und Klubräumen für die Abgeordneten.18 Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieg stellte sich die Lage ganz ähnlich dar wie nach dem ersten – erneut musste ein Parlamentsgebäude gefunden werden, wieder spielten jedoch auch Zeitdruck und, viel mehr als knapp 30 Jahre zuvor, die wirtschaftliche Notlage nach dem Krieg eine Rolle. Die drastische Zerstörung seiner Bausubstanz, unter der Warschau zu leiden hatte, machte andererseits ein Denken in viel größeren stadtplanerischen Maßstäben möglich. Und wieder blieb es beim Denken und Planen – eine vom Architekten Maciej Nowicki erneut durchgespielte Gesamtkonzeption des Geländes vom Königsweg bis zum Weichselufer wurde nicht umgesetzt. Stattdessen fiel 1946 die Entscheidung für den Wiederaufbau des zerstörten Halbrundbaus – von den Vorkriegsbauten stand zu dieser Zeit lediglich noch das Sejm-Hotel. Die Dekoration im Inneren wurde dabei etwas verändert, die Flachreliefs an der Fassade jedoch möglichst originalgetreu wiederhergestellt. An die Stelle des alten Schulgebäudes trat nun jedoch, zusammen mit weiteren Funktionsbauten auf dem Gelände, ebenfalls ein moderner Neubau, der die neue Eingangshalle des Plenarsaals bildete und stilistisch an das Art déco der Vorkriegszeit anknüpfte. Wieder waren Formsprache und Dekoration zurückhaltend, mit erneuten Zitaten aus der Volkskunst. Der verantwortliche Architekt, Bohdan Pniewski, konnte seinen Stil eines gemäßigt modernen Klassizismus aus der Vorkriegszeit im Wesentlichen in den Sozialistischen Realismus hinüberretten.19 In den 1980er und 1990er Jahren durch Neubauten erweitert, ist dieser Komplex heute noch der Sitz der zwei Kammern des polnischen Parlaments. Verglichen mit dem technischen und ästhetischen Kraftakt des tschechoslowakischen Parlaments am Wenzelsplatz wirkt das Ensemble des Sejms viel mehr wie ein gewachsenes Ganzes, das durch zurückhaltende Modernität und Zitate aus dem klassischen Architekturkanon konsensfähiger ist. Und vor allem anderen: 17 Zur vormodernen Gestaltung der Sejmsäle im Königsschloss siehe Lileyko, 1977, S. 91-112. 18 Wierzbicka, 1998, S. 152-159. 19 Ebd., 190-204; Åman, 1992, S. 174 f. 184

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Abb. 4: Abgeordnetensaal und Eingangshalle des polnischen Sejm, Sitz des Parlaments seit 1947

Foto: Benjamin Conrad, 2013

Dessen Herzstück, der Plenarsaal, in seiner Gestalt aus einer Zeit der staatlichen Selbstbestimmung Polens stammt. Anders als in Polen haben denn auch die tschechischen Abgeordneten ihren Arbeitsplatz inzwischen verlegt: Das der volksdemokratischen Zeit entsprungene, der Sache der tschechoslowakischen Föderation gewidmete und damit dem neuen Staat wohl nicht mehr angemessene Gebäude haben sie zugunsten alter Adelspalais auf der Prager Kleinseite verlassen. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten: Beide Bauten resultierten aus der provisorischen Lösung eines drängenden Platzbedarfes bei begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen. Gebäude ursprünglich ganz anderer Zweckwidmung wurden für das Parlament vereinnahmt und schließlich umgestaltet und ausgebaut. Sie sind formal modern bis funktionalistisch und unterscheiden sich damit sowohl vom bis an das Ende des 19. Jahrhunderts üblichen Muster des monumentalen historistischen Parlamentspalastes als auch von den Bürotürmen der Postmoderne. Beide sind in Zeiten sozialistischer Herrschaft ausgebaut bzw. maßgeblich umgestaltet worden. All dies macht sie zum Typus eines Parlamentsgebäudes, der in der Forschung noch kaum gewürdigt wurde. Auch im Rahmen dieses kurzen Themenaufrisses am Beispiel zweier ostmitteleuropäischer Länder konnte nur ein kleiner Teil des sinnlich wahrnehmbaren Gesamtkunstwerks Parlament 185

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angesprochen werden. Vom Gebäudekorpus und seinem Schmuck führen Fragen ins Detail, etwa nach der künstlerischen und programmatischen Gestaltung der Innenräume, der Anordnung der Säle und Büros, der Sitzordnung und des Protokolls.20 Orte wie die beiden hier betrachteten Parlamentskomplexe bieten damit der (interdisziplinären) Geschichtsforschung noch ein weites Betätigungsfeld – und dem Flaneur die Gelegenheit zur Entdeckung verborgener Geschichten und Details.

Literatur Åman, Anders, Architecture and Ideology in Eastern Europe during the Stalin Era. An Aspect of Cold War History, New York u. a. 1992. Amm, Joachim, Die ,deklamatorischenʻ institutionellen Leitideen der CSSR-Föderalversammlung und ihre symbolische Repräsentation, in: Parlamente und ihre Symbolik. Programm und Beispiel institutioneller Analyse, hg. von Werner J. Patzelt, Wiesbaden 2001, S. 217-250. Baše, Miroslav u. a., Česka architektura 1945-1995, Praha 1995. Bataille, George, Der verfemte Teil, in: Ders.: Die Aufhebung der Ökonomie, hg. von Gerd Bergfleth, München 1975, S. 33-234. Beyme, Klaus von, Parlament, Demokratie und Öffentlichkeit. Die Visualisierung demokratischen Grundprinzipien im Parlamentsbau, in: Architektur und Demokratie. Bauen für die Politik von der amerikanischen Revolution bis zur Gegenwart, hg. von Ingeborg Flagge/Wolfgang Jean Stock, 2. Aufl., Ostfildern-Ruit 1996, S. 32-45. Brendgens, Guido, Demokratisches Bauen. Eine architekturtheoretische Diskursanalyse zu Parlamentsbauten in der Bundesrepublik Deutschland (Schriftenreihe Architektur und empirische Wohnforschung 3), Aachen 2008. Brown, Scott, Socialism with a Slovak Face. Federalization, Democratization and the Prague Spring, in: East European Politics & Societies 22,3 (2008), S. 467-495. Cullen, Michael S., Parlamentsbauten zwischen Zweckmäßigkeit, Repräsentationsanspruch und Denkmalpflege, in: Parlamentsrecht und Parlamentspra-

20 Siehe dazu Wefing, 1995, S. 135-195. 186

Moderne Parlamentsbauten in Prag und Warschau

xis in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, hg. von Hans-Peter Schneider, Berlin 1989, S. 1845-1889. Goverde, Henri J. M., Representation of Power in the Built Environment, in: Journal of Housing and the Built Environment 7,3 (1992), S. 249-258. Greenberg, Allan, The Architecture of Democracy. American Architecture and the Legacy of the Revolution, New York 2006. Lileyko, Jerzy, Program ideowy sal sejmowych na Zamku Królewskim w Warszawie w czasach Jana III, in: Studia Wilanowskie 1 (1977), S. 91-112. Pevsner, Nikolaus, Funktion und Form. Die Geschichte der Bauwerke des Westens, Hamburg 1998. Pokorný, Jiří, Der Umsturz als Feier – die ersten Tage der Tschechoslowakischen Republik, in: Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze. Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich, hg. von Rudolf Jaworski/Peter Stachel, Berlin 2007, S. 345-351. Richter, Wolfgang/Zänker, Jürgen, Der Bürgertraum vom Adelsschloss. Aristokratische Bauformen im 19. und 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1988. Tomeš, Josef u. a., Tváře našich parlamentů. 150 let parlamentarismu v českých zemích 1861-2011, Praha 2012. Wefing, Heinrich, Parlamentsarchitektur. Zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bauwerken. Eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses (Beiträge zum Parlamentsrecht 31), Berlin 1995. Wierzbicka, Bożena, Gmachy i wne̜trza sejmowe w Polsce. Warszawa 1998.

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Das belarussische Volk als Opfer und Held Erinnerungspolitik am Beispiel der AllerheiligenGedächtniskirche in Minsk Alena Alshanskaya Nach dem Zerfall der Sowjetunion endete auch ihre staatliche Symbolpolitik. Diese ging in den Verantwortungsbereich der jeweiligen neu gegründeten Republiken über, welche diese Politik unterschiedlich zu gestalten suchten. In einigen Ländern, wie den baltischen Staaten, wurde der Weg des absoluten Verzichtes auf die sowjetische Symbolpolitik und einer strengen Zensur der Erinnerungskultur der sowjetischen Vergangenheit eingeschlagen, während in anderen Ländern mit stark prorussischen und noch größtenteils aus der sowjetischen Nomenklatur stammenden Regierungen – sei es Belarus oder Kasachstan und teilweise auch die Ukraine – früher oder später die Richtung der Aufbewahrung bzw. Wiederbelebung der gemeinsamen symbolischen Verknüpfungen eingeschlagen wurde. Belarus insgesamt und insbesondere seine Hauptstadt Minsk sind ein klares Beispiel dafür, wie maßgeblich die symbolische Politik eines Vorgängerstaates auch nach seinem Untergang prägen kann. Auch wenn in Belarus Anfang der 1990er-Jahre für eine kurze Zeit der Liberalisierung ein gewisses Angebot an Alternativen zur sowjetischen Erinnerungskultur entstanden war, als durch die im Obersten Sowjet in Minsk präsente nationalistische Partei „Belarussische Volksfront“ eine Politik der Belarusizacija (Belarussifizierung) und parallel dazu die Strategie der Viktimisierung des belarussischen Volkes durchsetzen konnte – d. h. die Politik der Besinnung auf das eigene nationalistische historische Narrativ, das weit über die Geschichte der Sowjetunion reichte und diese als eine tragische Unterbrechung auf dem Weg zu sich selbst als souveränen Staat sah – wurde aber keine radikale erinnerungspolitische Wende vollzogen. Nach den Präsidentenwahlen 1994 kam es sogar zu einem Rückschritt: Allmählich wurde die zivilgesellschaftliche Erinnerungskultur, welche hauptsächlich 189

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aus den Vertretern der Politik der Belarusizacija bestand, als nonkonforme, später auch als der staatlichen, offiziellen Erinnerungspolitik feindliche Strömung marginalisiert. Die von den „Nationalisten“ und Oppositionellen selbstorganisierte und verwaltete Gedenkstätte Kuropaty, ein Ort stalinistischer Massenerschießungen, und die jährliche Gedenkprozession Čarnobyl’ski Šljach zur Erinnerung an die vom sowjetischen Staat nach der Katastrophe in Černobyl’ sich selbst überlassenen Menschen in den verseuchten Gebieten wurden von den Staatsorganen entweder ignoriert oder sogar als Ordnungswidrigkeit verfolgt.1 Präsident Aleksandr Lukašenko, ein studierter Geschichtslehrer, hat die Erinnerungspolitik und die symbolische Politik des Staates schon sehr früh nach seinen persönlichen Präferenzen und im Sinne des den sowjetischen Zeiten gegenüber nostalgischen Teils der Bevölkerung umgestaltet. Die nur wenige Jahre in Gebrauch gewesenen staatlichen Symbole – wie die weiß-rot-weiße Fahne und das an die polnisch-litauische Adelsrepublik erinnernde Wappen Pagonja – wurden durch neue, der früheren Fahne und dem Wappen der Belarussischen Sowjetrepublik nachempfundene ersetzt und auch die grundlegende Rolle der belarussischen Sprache gekippt. Durch diese Politik der Resowjetisierung versuchte das neue Regime in Minsk das Volk allein durch das Zurücksetzen der letzten kulturpolitischen und wirtschaftlichen Reformen in eine vermeintlich gewohnte Atmosphäre der sozialen Stabilität, wie man sie aus Sowjetzeit zu kennen glaubte, zu versetzen und auf diese Weise die Konsequenzen der Misswirtschaft und die eigene Unfähigkeit, dem Volk neue zukunftsfähige Ideologeme anzubieten, zumindest teilweise zu nivellieren. Die Anfang der 1990er Jahre weit verbreitete und medial vermittelte Kritik der kommunistischen Vergangenheit und besonders des Stalinismus wurde von der Bevölkerung undifferenziert als Verteufelung der gesamten sowjetischen Vergangenheit empfunden. Daher trafen die Maßnahmen von Lukašenko, welche die antisowjetische Rhetorik der oppositionellen Parteien eindämmten, auf grundsätzliches Verständnis bei einem Großteil der belarussischen Bevölkerung. Je autoritärer der Führungsstil von Lukašenko war, desto mehr wurde von ihm auch die symbolische Politik des Staates beeinflusst: Er setzte dabei einen deutlichen Schwerpunkt auf das Bild des belarussischen Volkes als wesentlichen oder sogar entscheidenden Teil des sowjetischen Siegervolks im Zweiten Weltkrieg. Dank diesem Sieg über den Nazismus sei erstmals die belarussische Staatlichkeit ermöglicht worden.2 Belarus wurde von den Ideologen Lukašenkos zwar zu einer Interventionslandschaft stilisiert und dadurch viktimisiert, dies aber sehr selektiv: So sprach 1 2 190

Mehr dazu: Temper, 2008, S. 253-256. Mehr dazu: Sahm, 2008, S. 229-245; Hansen, 2008, S. 187-196.

Das belarussische Volk als Opfer und Held

man z.  B. über den Zug Napoleons durch belarussische Gebiete, verschwieg bzw. leugnete aber den blutigen Strafzug des Feldherren Suvorov. Die Geschichte von Belarus als Teil des Großfürstentums Litauen wurde zwar nicht aus den Schulbüchern entfernt, aber kaum mehr medial vermittelt. Unter Lukašenko wurde nicht nur die Erinnerungskultur zum Großen Vaterländischen Krieg aus den Sowjetzeiten übernommen, sondern zu einem Schwerpunkt gemacht, was sogar in der UdSSR so nicht der Fall gewesen war: Die damalige Erinnerungspolitik war eher ein Konfliktfeld verschiedener Gruppen innerhalb der kommunistischen Partei der UdSSR. Lukašenko hingegen suchte ein klares und „heiliges“ Bild des Siegervolks zu vermitteln, was unmittelbaren und kritischen Zeugen des Krieges, wie Vasil’ Bykov – einem der größten belarussischen Schriftsteller – zum Verhängnis wurde, da seine Werke diesen Krieg kaum als ehrenvollen Siegeszug thematisierten, weswegen er in den Medien als Leugner des Sieges gebrandmarkt wurde. Auch die belarussische Schriftstellerin Svetlana Aleksievič, die Nobelpreisträgerin für Literatur 2015, passte mit ihren unpathetischen vielstimmigen biographischen Narrativen und ihrer Mikroperspektive der „kleinen Leuten“ nicht in das glorreiche Meisternarrativ des ideologischen Apparates von Lukašenko. Lukašenko ließ besonders die noch aus der Zeit der UdSSR erhaltenen Gedenkstätten an den Vaterländischen Krieg und die mit diesen Orten verbundenen Rituale, wie die Militärparade als aus dem Realsozialismus geerbte Monumentalinszenierungen, pflegen. Gleichzeitig ließ er aber die Erinnerungen an den Aufstand unter Führung von Kastus’ Kalinovskij gegen die Politik des Russländischen Imperiums, an die stalinistischen Repressalien und den Holocaust möglichst aus dem öffentlichen Raum verbannen. Lukašenko ist in seiner Symbol- und Erinnerungspolitik der aktuellen Geschichtspolitik des russländischen Präsidenten Vladimir Putin in wesentlichen Zügen zuvorgekommen: Lukašenko hat für sich schon in den 1990er Jahren die Strategien der historischen Heroisierung und Viktimisierung als wichtigen Faktor der Innen- und Außenpolitik entdeckt und konsequent umgesetzt.

Die Erinnerungspolitik der RussischOrthodoxen Kirche Nicht nur die politische Opposition und die Intelligenzija waren wichtige Akteure der Erinnerungspolitik in der Zeit der Perestrojka und der beginnenden Unabhängigkeit. Auch die Russisch-Orthodoxe Kirche hat sich recht früh als wichtiger Akteur der Erinnerungspolitik etabliert. Die Verfolgungsgeschichte 191

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des orthodoxen Glaubens in der Sowjetunion wurde nicht nur zu einer öffentlichen und politischen Angelegenheit, sondern sie fand sich recht schnell auch in den Geschichtslehrbüchern wieder, und zwar nicht nur in Russland, sondern auch in den nationalen Narrativen der Nachbarländer. Die religiösen Gemeinschaften, welche vor der Revolution 1917 im Russländischen Reich existierten, und besonders die Russisch-Orthodoxe Kirche, knüpften durch die neue Erinnerungskultur an frühere, durch den Bolschewismus zerstörte oder verbotene Formen der Erinnerungskultur an: Traditionelle Attribute der Erinnerungskultur der Orthodoxie, wie durch die Bolschewiki beschlagnahmte Reliquien und Utensilien, wurden zurückgegeben und Erinnerung an bestimmte, durch die sowjetische Erinnerungspolitik vernachlässigte oder systematisch verfolgte Personen, seien es Heilige, bedeutende Staatsdiener oder auch Schriftsteller des Russländischen Imperiums, hervorgehoben. Die neue Erinnerungskultur der Russisch-Orthodoxen Kirche trug also sowohl einen restaurativen Charakter, als die alte Erinnerungskultur in ihren Rechten inklusive ihrer Rolle in der staatlichen Erinnerungskultur wiederhergestellt wurde, als auch einen kompensatorischen Charakter, indem durch alle Medien über einzelne Schicksale der verfolgten und ermordeten Vertreter der christlichen Kirchen durch das kommunistische Regime berichtet wurde. Letzteres erfolgte mit Akzent auf der jeweiligen nationalen Mikrogeschichte. Als allgemeines Leitmotiv für das neue Narrativ gilt die Vorstellung von der Kirche als Opfer staatlicher Willkür, deren Konsequenzen durch die neue Regierung möglichst getilgt werden müsste. Als Beweis für diesen Status wurde der innerkirchliche Prozess der Kanonisierung (Heiligsprechung) der Neumärtyrer medial breit vermittelt, allerdings ohne offensichtliche antisowjetische Rhetorik, da diese zu den Inhalten der staatlichen Erinnerungspolitik besonders unter Putin im deutlichen Widerspruch stehen würde. Eine Opposition gegen den Staat in welcher Form auch immer kommt nämlich für das Moskauer Patriarchat nicht in Frage.

Symbolische Orte in der urbanen Landschaft von Minsk Durch die Restaurierung der Kirchengebäude und durch den Neubau wurde dem Status der Kirche als Opfer des sowjetischen Regimes zum Teil Recht gegeben und allerorts verschiedene Restitutionsmaßnamen unternommen. Dadurch hat die urbane Landschaft der postsowjetischen Städte deutliche Veränderungen erlebt: Die sowjetische Memorialkultur musste den vorher unterdrückten Memorialkulturen, vor allem den religiösen, an vielen Orten weichen. In den letz192

Das belarussische Volk als Opfer und Held

ten zwei Jahrzehnten bekam die Stadt Minsk neue Zentren des kulturellen und politischen Lebens, wodurch das ehemalige „sowjetische“ Zentrum der Stadt mit seinen Bauten und Denkmälern an Bedeutung verlor. Die sich seit der sowjetischen Zeiten im Zentrum befindenden Gebäude wie das Parlamentsgebäude, das Gebäude der Präsidentenadministration und der schon unter Lukašenko gebaute Palast der Republik, spielen im politischen und kulturellen Leben eine zweitrangige Rolle. Dagegen ist der im Jahr 2013 gebaute Palast der Unabhängigkeit, wohin aus dem Zentrum der 2006 neu benannte Prospekt Pobeditelej (Prospekt der Sieger) führt, ein zentraler Ort der politischen Repräsentanz des belarussischen Staatsoberhaupts geworden. Der Palast wurde in Richtung der am nordwestlichen Rande von Minsk liegenden Residenz von Lukašenko, Drozdy, gebaut. In diese Richtung sind auch weitere Neubauten wie z. B. das neue Museum des Großen Vaterländischen Krieg ausgerichtet. Ein anderer neuer Ort des kulturellen und öffentlichen Lebens liegt am Stadtrand von Minsk auf der anderen Seite, wo im Jahr 2006 das neue Gebäude der Nationalbibliothek gebaut wurde. Daneben befindet sich das Handelszentrum Aleksandrov Passaž 3 und ein großes kirchliches Objekt, das sog. Haus der Barmherzigkeit sowie auch die Allerheiligen-Gedächtniskirche, die für sich beansprucht, ein „geistiges gesamtnationales Memorial“ zu sein.4 Diese Gedächtniskirche ist nicht nur der markanteste Ort der neuesten Stadtgeschichte von Minsk, sondern auch ein Knotenpunkt, an dem die staatliche und kirchliche Erinnerungspolitik koexistieren und sich vervollständigen müssen, wobei die offensichtlichen Widersprüche zwichen beiden verschwiegen oder verdrängt werden.

Meilensteine beim Bau der Gedächtniskirche Die Entscheidung über den Bau der „Allerheiligen-Kirche zur Erinnerung an alle in unserem Vaterland unschuldig Ermordeten“ wurde auf der Sitzung des Belarussischen Synods am 29. April 1990 getroffen.5 Diese Entscheidung wurde damit noch vor Lukašenkos Regierungszeit getroffen, was sich sowohl in dem Faktum, wie schnell das Grundstück für Neubau zugewiesen wurde als auch 3 4 5

Aleksandr ist zu einem populären Name in der belarussischen Toponymik während der Amtszeit von Aleksandr Lukašenko geworden. Die Informationen zum Konzept der Gedächtniskirche wurden der offiziellen kirchlichen Medien und einer Führung durch die Kirche am 25. Juli 2015 entnommen. http://exarchate.by/resource/Dir0301/Dir0302/2012/Page4729.html, 31.07.2015. 193

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im ursprünglichen Namen der Gedächtniskirche widerspiegelte. Der Name der Kirche suggeriert ganz deutlich, dass es auch um Landsleute geht, die zum Opfer der staatlichen Repressalien und Verfolgungen wurden, sei es im Russländischen Imperium oder in der Sowjetunion. Im Jahre 2012 erfolgte eine gründliche Revision des Konzeptes der Gedächtniskirche, welche ab nun zu einer der „wichtigsten geistigen und gesamtnationalen Gedenkstätten zum Gedenken an Millionen Belarussen und Menschen belarussischer Abstammung, die durch ReAbb. 1: Die Allerheiligen-Gedächtniskirche in Minsk

Foto: www.minsk.nemiga.info/hram-vseh-svyatyh.htm, 17.09.2015, Abdruck genehmigt

volutionen, Kriege, Zwangsumsiedlungen und Repressalien gestorben sind oder über die ganze Welt zerstreut wurden, die ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Schicksal verlassen haben“6. Die Grundsteinlegung erfolgte am 4. Juni 1991 durch den Patriarchen von Moskau und der ganzen Rus’, Aleksij II., während seiner ersten Pastoralvisitation in Belarus. Der eigentliche Beginn der Bauarbeiten verzögerte sich allerdings. 1996 fand eine „zweite Grundsteinlegung“ statt, dieses Mal aber durch den 1994 in seinem Amt vereidigten Präsidenten Aleksandr Lukašenko: Unter Anwesenheit des Metropoliten Filaret (Vachromeev), dem damaligen Ober6 194

www.patriarchia.ru/db/text/2253088.html, 31.07.2015.

Das belarussische Volk als Opfer und Held

haupt des belarussischen Exarchats der Russisch-Orthodoxen Kirche, von Vertretern der Stadtverwaltung und der Minsker Öffentlichkeit wurde eine Kapsel mit einer Erinnerungsbotschaft an die Nachlebenden unter dem Grundstein der Kirche eingelegt. Der faktische „Schöpfer“ und Gemeindepriester der Kirche ist Fedor Povnyj, der 1994 nach siebenjährigem Aufenthalt in der DDR und dem wiedervereinigten Deutschland nach Minsk zurückgekehrt war. Unter seinem Einfluss und nach seinen Wünschen wurde die Kirche durch den belarussischen Architekten Lev Pogorelov projektiert, der für seine kirchlichen Objekte in Minsk schon bekannt war. Dafür besuchte der Architekt den ehemaligen Dienstort Povnyjs in Leipzig – die St.-Aleksij-Gedächtniskirche, die auch oft Chram-pamjatnik Russkoj Slavy (Gedächtniskirche zur Russischen Ehre) genannt wird. Diese KirAbb. 2: Die St.-AleksijGedächtniskirche in Leipzig

Abb. 3: Die Christi-HimmelfahrtsKirche in Kolomenskoe bei Moskau

Foto: Dirk Goldhahn. https://de.wikipedia.

Foto: Alexander Savin; https://de.wikipedia.

org/wiki/Russische_Ged%C3%A4chtniskir-

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daechtniskirche.jpg, 17.09.2015

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che diente als Vorbild in der äußeren Gestaltung und es bestehen konzeptionelle Parallelen. Die Gedächtniskirche in Leipzig wurde im Jahre 1913 zum hundertjährigen Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig erbaut, in der russische Truppen und ihre europäischen Verbündeten gegen die Truppen Frankreichs unter Napoleon und dessen Verbündeten gekämpft haben. Sie wurde unter der Leitung der einheimischen Architekten Georg Weidenbach und Richard Tschammer nach den Plänen von Professor Vladimir Pokrovskij mit russischen Geldern gebaut. Diese Kirche ist eine freie Nachbildung der zwischen 1530 und 1532 erbauten Christi-Himmelfahrts-Kirche in Kolomenskoe bei Moskau – einer der ersten russischen Zeltdachkirchen. In der Leipziger Gedächtniskirche befinden sich zahlreiche Gedenktafeln. In der Krypta der Kirche sind einige russische Feldherren und die Überreste mehrerer Soldaten begraben. Des Weiteren werden auch originale Standarten aufbewahrt.7 Im Einklang mit diesem Erinnerungskonzept wollte Povnyj auch seine Gedächtniskirche in Minsk gestalten: Ihre Ostseite grenzt an den Moskauer (Ost-) Friedhof von Minsk, wo viele Militär- und Staatsleute begraben sind. Bis zum Jahr 2007 wurde die Kirche in der Straße registriert, die den Namen von Kastus’ Kalinovskij trägt, dem Führer des von Polen ausgehenden antizarischen Januar­ aufstandes von 1863 auf dem Gebiet des heutigen Belarus. Dieser Umstand hätte offensichtlich den russländischen Mitstiftern der Gedenkstätte missfallen können: Kalinovskij wird immer wieder zum Objekt der Kritik seitens der aktuellen nationalistischen Geschichtsschreibung in Russland gemacht.8 Neben der Kirche lag jedoch noch eine Straße, die ohne Namen war und im Jahr 2007 nach der Kirche den Namen Vsechsvjatskaja (Allerheiligen-Straße) erhielt, und konsequenterweise zur neuen Adresse für die Kirche geworden ist. Die Bauarbeiten der Kirche zogen sich aus unterschiedlichen Gründen über eine längere Zeit. Einer davon war, dass der Gemeindepriester noch ein anderes ambitioniertes Projekt in dieser Zeit durchführte – den Bau eines karitativen Zentrums mit Kirche in unmittelbarer Nähe der künftigen Gedächtniskirche, das Haus der Barmherzigkeit. Dieses wurde 2002 fertiggestellt. Gleichzeitig wurde 2006 auf dem der Gedächtniskirche angrenzendem Territorium eine kleine Holzkirche – die Pfingstkirche – gebaut, damit für die Gottesdienste und das Gemeindeleben bereits ein Platz zur Verfügung stand. Der Bau der Gedächtnis7

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www.russische-kirche-l.de/deutsch/l-home-allesd.htm, 31.07.2015;www.monu mente-online.de/14/01/sonderthema/russisch_orthodoxe_kirche_leipzig.php, 31.07. 2015. http://rumol.org/2013/01/30/aleksandr-gronskij-kak-byl-sdelan-belorusskij-gerojiz-uchastnika-polskogo-vosstaniya-1863-1864-gg-kalinovskogo/, 03.08.2015.

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kirche wurde sowohl durch den Staat als auch durch freiwillige Spenden und „freiwillige“ Zuwendungen großer und mittlerer Unternehmen aus ganz Belarus finanziert. Am 26. September 2006 wurden die Pfingstkirche und drei Glocken für die Gedächtniskirche in Anwesenheit des Präsidenten der Republik Belarus und des Metropoliten Filaret eingeweiht und aufgehängt. Die Glocken waren von unterschiedlicher Größe – eineinhalb, drei und fünf Tonnen schwer: Die größte Glocke wurde im Namen des Präsidenten Lukašenko überreicht, die mittlere im Namen des Patriarchen Aleksij II. und die kleinste im Namen des Metropoliten Filaret.9 Am 1. Oktober 2008 wurde die erste Kuppel aufgesetzt. Nach den offiziellen Angaben bestätigte Aleksij II. während seines letzten Besuches in Bela­rus am 25. Oktober 2008 den neuen Namen für die Kirche „Allerheiligen-Gedächtniskirche in Erinnerung an die Opfer, die unserem Vaterland gedient haben“.10 Erst aber auf der Sitzung des Belarussischen Synods am 30. März 2012 (Protokoll 153) wurde entschieden, „zur Willenserfüllung des unvergesslichen heiligen Patriarchen von Moskau und der ganzen Rus’, Aleksij II., zukünftig die Allerheiligen-Gedächtniskirche folgendermaßen zu benennen“, d. h. den neuen Namen in den Gebrauch einzuführen.11 Der alte Name, der noch bis 2012 in den offiziellen Medien in Gebrauch war, wurde offensichtlich postum dem Patriarchen Aleksij II. zugeschrieben. Am 2. Juli 2010, am Vorabend des Unabhängigkeitstags der Republik Bela­ rus, an dem die Befreiung von Minsk von den „deutsch-faschistischen Besatzern“ gefeiert wird, fand in der Kirche unter der Teilnahme des Präsidenten die feierliche Zeremonie des Begrabens der Überreste von drei unbekannten Soldaten statt, die im Vaterländischen Krieg 1812, im Ersten Weltkrieg und im Großen Vaterländischen Krieg gestorben waren. Dabei wurde auch die unauslöschliche Flamme vom aus Jerusalem herbeigebrachten heiligen Lichtfeuer angezündet und auf die zentrale Stelle der Krypta vor der Auferstehungsikone platziert. Diese symbolischen Handlungen bekräftigten die offizielle Eingliederung der Gedenkstätte in die städtische und nationale symbolische Landschaft. Dem Gebäude der Gedächtniskirche stehen zwei Denkmäler bei: eins von Moses und eins des 2008 gestorbenen Patriarchen Aleksij II. Die vier Meter hohe Skulptur von Moses mit der Dekalogtafel in 13 Sprachen vor dem Brunnen symbolisiert den Exodus des hebräischen Volks aus der ägyptischen Sklaverei.12   9 www.interfax-religion.ru/bel/?act=news&div=14204, 31.07.2015. 10 www.patriarchia.ru/db/text/2253088.html, 03.08.2015. 11 http://church.by/sinod/zhurnaly-zasedanija-sinoda-belorusskogo-ekzarhata-ot-30marta-2012-goda, 03.08.2015. 12 http://hramvs.by/stories/vstrechaemsya-vo-vsekhsvyatskom, 04.08.2015. 197

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Die plastische Skulptur der biblischen Figuren oder der Heiligen der Kirche ist für die russische Orthodoxie sehr unüblich. Sie hat sich zwar noch im Russländischen Reich sehr verzögert durchgesetzt, genießt aber erst in den letzten Jahren Popularität im postsowjetischen Raum. Das gleiche gilt noch ausdrücklicher für das Denkmal Aleksijs II., dessen Eröffnung am 14. Oktober 2012 durch seinen Nachfolger, Patriarch Kirill, und in der Anwesenheit des russländischen Botschafters, belarussischer Bischöfe und Vertretern des belarussischen Staates stattfand. Das Denkmal inszeniert die Besuche des Patriarchen während des Baus der Kirche: vom Eckstein führen drei Stufen zur Figur des Patriarchen.13 Damit werden die Besuche der Gedenkstätte durch den Patriarchen symbolisiert und dadurch anscheinend das Ziel verfolgt, der Kirche und ihrem Konzept Legitimation zu verschaffen.

Die symbolische Botschaft der Krypta Außer den drei Gottesdiensträumen und anderen Räumen wie dem Taufzimmer, dem Speisesaal oder dem großen Konferenzsaal, befindet sich im Untergeschoss unter dem Hauptaltar die Krypta, welche eine Besonderheit der Kirche ausmacht. In den offiziellen Quellen rund um die Kirche wird versucht, jedem Baudetail einen besonderen Sinn zu verleihen.14 Dabei wird die traditionelle symbolische Hermeneutik der orthodoxen Sakralarchitektur eigensinnig mit der symbolischen Politik des autoritären Staates, der Belarus heute ist, zusammengeführt. Es fällt aber auf, dass die Schöpfer des Sakralbaus für sich nicht beanspruchen, eine endgültige Deutung aller Elemente und Symbole zu kommunizieren, sondern großen Raum für zukünftige Interpretationen lassen.15 Das kann man sowohl aus den knapp verfassten Inschriften als auch aus dem Inhalt der Rede der Besucherführerin entnehmen, als sie während der Führung immer wieder betonte, die Zuhörer sollen doch verstehen, in welchem Staat sie leben und dass später eine Umdeutung der Erinnerungsobjekte der Krypta stattfinden könne. Die massiven Türen als „Symbol des menschlichen Leids“ eröffnen den Eingang zur Krypta und werden „Tränen von Belarus“ genannt (Abb. 4). Auf 13 www.patriarchia.ru/db/text/2526508.html, 31.07.2015. 14 http://hramvs.by/kripta, 31.07.2015. 15 „… es kommt eine Zeit auch für die Repressierten und Opfer der anderen, ungerecht vergessenen Kriege“. http://sol-churches.ucoz.org/publ/cerkvi/postradavshie_za_ veru/belorusskij_khram_pamjatnik/19-1-0-114, 31.07.2015. 198

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ihnen sind sechs Siegel abgebildet – Symbole für Orte und Ereignisse, die sich nach der Verfasseridee mit dem „höchsten Heroismus und Leid des Volkes“ auszeichneten. Diese sind: die Schlacht von Tannenberg (15. Juli 1410), die Nuklearkatastrophe in Černobyl’ (26. April 1986), die Kämpfe bei Smorgon’ (1915-1917), das von deutschen Besatzern verbrannte Dorf Chatyn’ (22. März 1943), das Vernichtungslager Trostenec (1941-1944) und die Opfer der stalinistischen Repressalien im Lager Solovki (1923-1939). Jedes Siegel besteht aus der Abbildung eines Kranzes und einer Träne bzw. Kerzenflamme, welche die „helle Trauer und ewiges Leben“ symbolisiert. Abgerundet wird die Komposition oben von einem Engel mit Blumen und mit einem Zitat aus der Offenbarung des Johannes „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an“ (LUT Offb 14,13). Das Bild des Lebensbaums, gesegnet vom Heiligen Geist als Taube mit Palmzweig auf der zweiten bzw. Innentür, zeigt die „Kontinuität der Generationen“ auf und wird von einem Ornament aus Elementen umkreist, die wiederum an Tränen bzw. an eine Kerzenflamme oder hier noch an Samen erinnern, die man als „Samen unseres Gedächtnisses“ deuten könnte. Die an dieser Tür abgebildeten Erinnerungsorte deuten das ursprüngliche Konzept und den Namen der Kirche an. Am Eingang der Krypta befindet sich ein Wandmosaik, das mit den Wappen von Minsk und der anderen fünf Großstädte in Belarus sowie dem Kreuz der belarussischen Heiligen Evfrosinija Polockaja die Einheit des irdischen Vaterlands mit dem himmlischen symbolisieren soll. Vor dem Bild befindet sich eine achtkantige Pyramide mit der genannten Inschrift aus der Offenbarung des Johannes und symbolisiert den „Wesenssinn der Krypta“: Die Auferstehung und Unsterblichkeit der Seelen in Christus. Die Krypta selbst besteht aus drei zueinander geöffneten Räumen. Im Gruftraum sind acht Nischen, von denen drei die Überreste der Soldaten aus den drei genannten Kriegen beinhalten, die „in den Schlachten für Glaube, Vaterland und Volk gefallen sind“.16 Der Raum für die Gedenktafeln bildet das räumliche Zentrum der Krypta. Bisher wurden drei Gedenktafeln im Raum installiert. Als erstes wurde eine Gedenktafel zur Erinnerung an die in der Minsker U-Bahn-Station Nemiga tragisch ums Leben gekommenen Menschen aufgestellt. Am 31. Mai 1999 wurden dort während eines Gewitters nach einem Rockkonzert 53 schutzsuchende, meist junge Menschen bei einem Menschengedränge  getötet. Die orthodoxe Kirche betonte nachdrücklich, dass diese Tragödie nicht zufällig geschehen sei, weil das Konzert an einem Ort zwischen drei orthodoxen Kirchen stattfand und zwar während des Gottesdienstes am Pfingstsonntag. Trotzdem wurde den Op16 http://hramvs.by/kripta, 31.07.2015. 199

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fern dieser Tragödie aber eine Gedenktafel gewidmet und auf die Anfrage, wie dieses tragisches Ereignis mit dem Konzept der Gedächtniskirche korreliert, wurde von der Besucherführerin auf die persönliche Erfahrung des Gemeindepriesters Povnyj bei der pastoralen Betreuung der Hinterbliebenen der Opfer verwiesen, als er die sozialen Hintergründe und Abstammung der Gestorbenen kennenlernte und darin eigentlich keinen Grund für Gotteszorn fand. Danach kam er zum Schluss, dass Gott diesen Platz (Konzert) einfach ohne seine majestätische Aufsicht hinterlassen und damit der Gesellschaft ihre Missstände und Sünde aufgezeigt hätte. Dass man die Nemiga-Tragödie auch ohne Bezug auf Gott sehr wohl auf die vernachlässigten Sicherheitsmaßnahmen und damit letztendlich auf die allgemeine Inkompetenz der staatlichen Bürokraten zurückführen kann, wird dagegen (noch) nicht erwähnt. Die Frage, wie die Opfer des tragischen Ereignisses einen Dienst im Sinne eines bewusst selbstlosen Handelns ans Vaterland geleistet haben, wird ohne allgemeinverständliche Antwort gelassen. Etwas deutlicher im Einklang mit zumindest der ursprünglichen Konzeption der Gedächtniskirche steht die Gedenktafel zum Gedenken der Opfer des Terroranschlags vom 11. April 2011 auf die Minsker Metro, infolgedessen 15 Menschen umgekommen sind. In diesem Fall gibt es zwei eindeutig erkennbaren Seiten: Auf der einen Seite befindet sich das Böse (Terroristen) und auf der anderer Seite sind deren Opfer und Verletzte. Die Inschrift ist knapp verfasst und enthält nur die Bezeichnung des Geschehenen als Terrorakt und die Namen der Opfer. Die Auslegung der Gedenktafel liegt wiederum in Händen der Führung durch die Krypta, die sich ähnlich wie mit anderen Tafeln immer wieder auf die Worte des Gemeindepriesters Povnyj bezieht. Auch hier erkennt man den deutlichen Widerspruch zur heutigen Bezeichnung des Kirchendenkmals („Opfer, die unserem Vaterland gedient haben“) und den offensichtlichen Bezug zum ursprünglichen Namen „Allerheiligen-Gedächtniskirche zur Erinnerung an alle in unserem Vaterland unschuldig Ermordeten“. Am 24. Mai 2014 wurde die dritte Gedenktafel „Für die Verewigung des Gedächtnisses der Ermordeten in Afghanistan“ auf Initiative der Soldatenfamilien feierlich aufgestellt. Dabei wurde betont, dass sie ihrem Treueeid folgten, ungeachtet ob dieser Dienst politisch oder humanitär gerechtfertigt war bzw. der Verteidigung des Vaterlandes diente. Das Ereignis selbst wurde von staatlichen Bürokraten zur Selbstaufwertung genutzt: „Es ist bemerkenswert, dass die Erinnerung an jenen Krieg und an den internationalen Heldenmut belarussischer Soldaten nach 25 Jahren immer noch in vielen Herzen wohnt. Das spricht dafür, dass Belarus als Staat einen moralisch und geistig richtigen Entwicklungsweg 200

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Abb. 4: Die Tür der Allerheiligen-Gedächtniskirche aller Heiligen in Minsk

Foto: http://hramvs.by/galereya/kripta, 17.09.2015, Abdruck genehmigt

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geht“, sagte Nikolaj Ladut’ko, Oberbürgermeister von Minsk.17 Keine der installierten Gedenktafeln trägt eine eindeutig religiöse Symbolik, sie wurden aber bei ihrer Installation durch einen Priester in einem Seelenamt geweiht. Die Katastrophe im Atomkraftwerk von Černobyl’ gehört nicht zum Gegenstand der gegenwärtigen staatlichen Erinnerungspolitik in Belarus, nicht zuletzt weil auf die Initiative von Lukašenko hin seit einigen Jahren ein Atomkraftwerk in Belarus gebaut wird. Angesichts dieses „Prestigeobjektes“ werden schon seit Jahren die ökologischen und sozialen Konsequenzen der Katastrophe von Černobyl’ verharmlost und verschwiegen. Viele soziale Leistungen, die vom belarussischen Staat nach 1986 für die Opfer der Katastrophe eingeführt worden waren, wurden in den letzten Jahren ungeachtet der steigenden Todesrate unter den sogenannten Černobyl’cy drastisch reduziert oder gar abgeschafft. Trotz der Politik des Vergessens soll im Jahr 2016 zum 30. Gedenkjahr der Tragödie allerdings eine Gedenktafel installiert werden. Ob dabei die Opfer als Opfer der staatlichen Arroganz und Gleichgültigkeit gekennzeichnet werden, darf bezweifelt werden. Im dritten Raum befinden sich 504 kleine Nischen, in denen Erde oder Überreste aus den Orten bewahrt werden sollen, an denen Belarussen gestorben sind. Zehn Nischen sind bis heute gefüllt geworden: eine mit den Teilen des 2000 in der Barentssee versunkenen U-Bootes Kursk, in dem die aus Belarus stammenden Mitglieder der Besatzung umgekommen sind;18 in eine andere wurden am 14. Februar 2015 Patronenhülsen aus den Särgen der in Afghanistan getöteten Soldaten gebracht, in denen sich die Erde aus fünf Stellungen der sowjetischen Garnisonen in Afghanistan befindet.19 In einer dritten Nische wird seit April 2015 Erde vom Ort eines Panzergefechts nahe bei Gatčina vor Leningrad aufbewahrt, wo am 20. August 1941 unter Führung des Leutnants Zinovij Kolobanov eine kleine Einheit der Roten Armee mehrere Dutzend deutsche Panzer besiegt hat. Kolobanov selbst war kein gebürtiger Bela­russe, lebte aber nach dem Krieg in Minsk, wo er 1994 verstarb.20 Noch sieben weitere Nischen wurden bei der Veranstaltung Molitva za Belarus‘ (Gebet für Belarus) am 2. Oktober 2015, kurz 17 http://hramvs.by/sobytiya/v-khrame-pamyatnike-v-chest-vsekh-svyatykh-otkrylimemorialnyi-znak-ob-uvekovechenii-pamyati-pogibsh, 04.08.2015. 18 http://hramvs.by/sobytiya/v-khrame-pamyatnike-v-chest-vsekh-svyatykhsostoyalas-panikhida-po-pogibshim-moryakam-podvodnikam, 04.08.2015. 19 http://hramvs.by/sobytiya/kapelki-krovi-synovei-rodnoi-s-tekh-mestnevedomykh-dalnikh-vot-i-sverknuli-vy-krasnoi-zvezdoi-dolgo, 04.08.2015. 20 http://hramvs.by/sobytiya/pamyat-podviga-zinoviya-kolobanova-i-tankistov-egoroty-uvekovechena-v-kripte-khrama-pamyatnika-v-ch, 04.08.2015. 202

Das belarussische Volk als Opfer und Held

Abb. 5: Die Krypta der Allerheiligen-Gedächtniskirche in Minsk

Foto: http://hramvs.by/galereya/kripta, 17.09.2015, Abdruck genehmigt

vor der Präsidentschaftswahl, befüllt. Dafür wurde Erde von Grabstätten sowjetischer Soldaten aus sieben europäischen Ländern herbeigebracht, von denen man annimmt, dass dort möglicherweise auch im Zweiten Weltkrieg gefallene Belarussen bestattet liegen. Präsident Lukašenko (in Begleitung seiner drei Söhne) und vier führende Religionsvertreter (ein Orthodoxer, ein Katholik, ein Muslim und ein Jude) leiteten die Zeremonie, die zwar als Gebet bezeichnet wurde21, aber nur wenige religiöse Elemente beinhaltete, nämlich ein kurzes Gebet für die Toten sowie die Besprengung der Nischen mit Weihwasser. Der „säkulare“ Teil des Gebets bestand aus der Ansprache Lukašenkos vor geladenem Publikum und aus Lobreden der Religionsvertreter auf den Präsidenten, die ihn einhellig als Garanten des interethnischen und interreligiösen Friedens in Belarus priesen. Das Thema der „blutigen Konflikte“ in der Welt und des „friedlichen Lebens“ in Belarus hielt sich als Leitmotiv dieser Veranstaltung und der ganzen Wahlkampagne von Lukašenko. 21 Aleksandr Lukašenko sagte in seiner Ansprache: „Das Gebet ist nicht nur das Sichzu-Wenden der Gläubigen zu Gott, sondern auch Ausdruck der aufrichtigen und tiefen Gefühle eines jeden von uns und des ganzen belarussischen Volkes dem Vaterlande gegenüber – unserem gemeinsamen Hause –, auf dessen Wohlfahrt wir jeden Tag bedacht sind“. http://president.gov.by/ru/news_ru/view/torzhestvennoemeroprijatie-molitva-za-belarus-12248/, 11.10.2015. 203

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Warum die Nischen gerade so gefüllt wurden und wie die auf diese Weise verewigten Ereignisse sich auf die Konzeption der Kirche beziehen, kann auch die einzige Besucherführerin nicht erhellen. Bemerkenswert ist, dass die meisten öffentlichen Veranstaltungen in der Krypta mit dem Militär oder der Polizei verbunden waren und sind, insbesondere im Jahr 2015, dem Jahr des 70. Jahrestags des Sieges im Zweiten Weltkrieg. Funktional ist die Krypta nicht nur für Seelenmessen vorgesehen, sondern auch für soldatische Rituale wie z. B. militärische Vereidigungen oder Urkundenverleihungen für die Absolventen der militärischen Abb. 6: Präsident Aleksandr Lukašenko mit seinen drei Söhnen beim Aufstellen von Kerzen während der Veranstaltung Molitva za Belarus‘ am 2.10.2015 in der Allerheiligen-Gedächtniskirche

Foto: http://president.gov.by/ru/photo_ru/getRubric/500997/page/2/, 11.10.2015, gemeinfrei

Ausbildungsstätten. Militär-patriotische Erziehung steht im Zentrum der staatlichen Erziehungspolitik und die Krypta wird zunehmend zu einer Station dieser Politik. Das scheint aber nicht dem primären Ziel der Schöpfer der Gedenkstätte zu entsprechen, da diese alles unternehmen, damit diese Kirche nicht nur ein schöner Ort für Beteiligte an den kirchlichen Zeremonien wird, sondern auch ein Ort, wo das kollektive auf das private Gedächtnis trifft. Die Ikone der Auferstehung und die unauslöschliche Flamme, die vom heiligen Lichtfeuer von Jerusalem angezündet wurde, – die andere „unauslöschliche“ Flamme in Minsk befindet sich seit 1961 auf dem Platz des Sieges – bilden 204

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nach der Vorstellung der Erbauer der Kirche das Zentrum der Krypta. Dabei wird nicht der Antagonismus beider Flammen thematisiert, sondern deren Kongruenz unterstrichen. An den zwei Kerzenständern daneben kann jeder Kerzen für Tote und Lebende anzünden – ein beliebtes Ritual von Präsident Lukašenko, das er bei etlichen Anlässen der letzten Jahre an diesem Ort zelebrierte. Zudem kann jeder Besucher eine Kerze anzünden, ohne dadurch einem ausdrücklich religiösen Ritual zu folgen.

Fazit Die Erinnerungshoheit in Belarus gehört dem Regime Lukašenkos: Die Orthodoxe Kirche ist zwar frei, eine eigene Erinnerungskultur zu pflegen, allerdings nur soweit, bis diese in einem Widerspruch zum offiziellen Erinnerungsdiskurs und zur verbindlichen patriotischen Geschichtsversion gerät und historische Kontingenzerfahrungen zuspitzt, anstatt diese auszugleichen. Daher kann man am Beispiel der Allerheiligen-Gedächtniskirche in Minsk eine gewisse Unabgeschlossenheit und Unausgesprochenheit der dort aufgestellten Symbolik erkennen. Die Kirche in Belarus stellt dem Staat ihre spezifische Erinnerungskompetenz zu Diensten, auch auf die Gefahr hin, die Authentizität eines eigenen Geschichts- und Lebensverständnis zu verspielen. Die Krypta kann man eindeutig zum edukativen Typus der Gedenkstätten zählen, die aus der Geschichte gleichsam moralische und politische Lehren ziehen und sie den Nachlebenden zu vermitteln suchen. Die genuin christlichen Motive bleiben hier aber ganz deutlich am Rande bzw. werden zugunsten der Kontinuität der patriotischen Motive verkürzt. Dennoch ist die Gedächtniskirche unzweifelhaft zu einem wichtigen Objekt sowohl städtischer als auch nationaler Erinnerungskultur geworden und wird weiterhin ein Indikator der Entwicklungen der staatlichen Symbolpolitik bleiben.

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Ritual und Transfer des Ritualorts: Die Krönungen in Preßburg und Budapest Stefan Albrecht „ Notre-Dame de Paris est l’église de la monarchie; Notre-Dame de Reims, celle du sacre. Celle-ci est achevée, contre l‘ordinaire des cathédrales. Riche, transparente, pimpante dans sa coquetterie colossale, elle semble attendre une fête; elle n’en est que plus triste, la fête ne revient plus“, schrieb 1833 Jules Michelet in seiner monumentalen Darstellung der Geschichte Frankreichs.1 Damals war das letzte Sacre in Reims, das Karls X., schon lange Vergangenheit, und Reims war zu einer Provinzstadt unter vielen geworden. Schon lange war auch der Wettstreit zwischen Reims und Paris um die Ehre, den König zu krönen, in Vergessenheit geraten, der im 18. Jh. entstanden war und bis zum Ende des Königtums in Frankreich fortdauerte. Dieser Wettstreit fand seinen Anfang 1722 anlässlich des Sacre Ludwig XV., als das Gerücht ging, der König werde im Invalidendom gekrönt.2 Bei der zweiten Krönung des 18. Jh.s nach der langen Regierung Ludwigs XV. wurde die Königskrönung (an sich und insbesondere) in Reims aus finanziellen Gründen in Frage gestellt. Es war der Generalkontrolleur der Finanzen Anne Robert Jacques Turgot, der versuchte, in einem Memorandum König Ludwig XVI. davon zu überzeugen, dass eine Krönung nicht mehr zeitgemäß sei, und wenn sie schon stattfinden müsse, dass sie aus Kostengründen doch in Paris und in gekürzter Form gefeiert werden könne, was die Pariser gewiss erfreuen würde. Doch Ludwig blieb bei Reims, und so sah die Kirche des hl. Remigius zwischen dem 9. und 15. Juni 1775 eine Krönung ganz in der mittelalterlichen Tradition, doch ohne das erwartet große Publikum, denn „der Hofadel schmollte“, weil er nach Reims reisen sollte3. 1 2 3

Michelet, 1833, 685; Dt. LeGoff, 1997, S. 99. Haueter, 1975, S. 10. LeGoff, 1997, S. 86. 207

Stefan Albrecht

Als sich dann Napoleon I. selbst zum Kaiser krönte, war das in der Hauptstadtkathedrale Notre Dame de Paris, womit er einen deutlichen Bruch mit der Tradition markierte. Nach dem Ende Napoleons pochten folgerichtig die Reimser unterstützt von konservativen Autoren aus ganz Frankreich auf ihr traditionelles Recht als Krönungsstadt. Dabei betonten sie ihre Königstreue und wiesen darauf hin, dass Napoleon Paris als Krönungsort unmöglich gemacht habe. Aber auch andere Argumente wurden ins Feld geführt, namentlich, dass auch in anderen europäischen Ländern, Haupt- und Krönungsstadt nicht identisch seien und dass außerdem die Kathedrale in Reims viel größer sei als die in Paris. Später erklärte noch Erzbischof de Latil, dass ja in Reims die Sainte Ampoule sich befinde.4 Und in der Tat überlegte Ludwig XVIII., sich in Reims krönen zu lassen, später erwog er aber auch St.-Geneviève und St.-Denis in Paris5, um sich schließlich gar nicht krönen zu lassen. Erst Karl X. ließ sich dann 1825 tatsächlich in Reims krönen, nachdem wieder länger darüber debattiert worden war, ob Paris oder Reims der richtigere Ort sei. Danach wurde in Frankreich nie mehr gekrönt; 6 und doch blieb die alte Krönungsstadt immer ein besonderer Lieu de memoire der französischen Nation.

*** Auch in den anderen aufgeklärten bzw. modernen konstitutionellen Monarchien Europas hielt man die Krönung mehr und mehr für eine unnötige Nebensächlichkeit, ja als letztlich verfassungswidrig. In den neubegründeten Monarchien der Niederlande und Belgiens verzichtete man von Anfang an darauf, die Monarchen zu krönen. In anderen Teilen des Kontinents wurde dieser sakrale Ritus jedoch bis ins 19. Jh. beibehalten oder sogar neu belebt. Im Mai 1873 wurde in der Storkyrkan zu Stockholm mit Oskar II. letztmalig ein König von Schweden gekrönt, 1906 sah der Nidarosdom zu Trondheim zum letzten Mal eine Königskrönung, nämlich die Haakons VII.7 In der Westminster Abbey, der Festkirche der britischen Monarchie, setzte man Georg IV., Wilhelm IV. und Viktoria I. die Krone auf.8 Und auch der Zar wurde auch im 19. Jh. und bis zum 4 5 6 7 8 208

Haueter, 1975, 10f. vg. Brühl, 1950, S. 13 Schnettger, 2004, S. 167. Wenn auch 1858 anlässlich eines Besuches Napoleons III. in Reims Spekulationen darüber ins Kraut schossen, dass er sich dort salben oder krönen lassen werde. Schramm, 1956, S. 1062. Jenkyns, 2011, S. 164-180.

Ritual und Transfer des Ritualorts

Ende des Zarenreichs immer in Moskau in der Uspenskij-Kathedrale gekrönt.9 In der Tradition Friedrichs I. setzte sich schließlich 1861 König Wilhelm I. von Preußen als erster König seit 160 Jahren in der Königsberger Schlosskirche die Krone selbst aufs Haupt und betonte damit zugleich das Gottesgnadentum seiner Herrschaft gegenüber der konstitutionellen Idee.10 Die Wahl der Krönungskirche bzw. der Krönungsstadt war zusammen mit dem Krönungsritual selbst zugleich immer Verbindung mit der Origo des Landes und seines Volkes11, Symbol eines vormodernen und zugleich nationalromantischen Verständnisses von Königtum, wie sich besonders gut dort sehen lässt, wo die Hauptstädte von den Krönungsorten verschieden waren (Berlin / Königsberg, St. Petersburg / Moskau, Oslo / Trondheim). Gewiss waren die Krönungen selbst auch „Demonstrationen gegen den Zeitgeist“, jedenfalls gegen den des Liberalismus12. Doch vor allem in Ungarn war die Forderung nach der Krönung des Herrschers eine Frage, mit der die Nationsbildung auf sehr moderne Weise verbunden war.13 Die Diskussionen über die Wahl des Ortes für das alte Ritual ließen dabei erkennen, welches Verständnis von Königtum bevorzugt wurde.

In Ungarn St. Martin ist keine Kirche „contre l‘ordinaire des cathédrales“. Die gotische Domkirche von Preßburg ist auch nicht „kostbar, durchscheinend, verführerisch in ihrer kolossalen Koketterie“. Und dennoch war sie nach der Eroberung der mittelalterlichen Krönungsstadt Stuhlweißenburg durch die osmanischen Truppen zum Ort geworden, an dem fast alle ungarischen Könige aus dem Hause Habsburg(-Lothringen) nahe ihrer Residenz Wien mit der Stephanskrone zu Königen Ungarns gekrönt wurden.14 St. Martin kommt in seiner architektonischen Bedeutung kaum Notre Dame in Reims gleich. Darüber, ob die Kirche überhaupt geeignet für die Krönung sei,   9 Wortman, 2006, passim. 10 Sellin, 2001, S. 96 11 Man denke an Trondheim, wo der Schrein des heiligen Olaf steht, oder an Reims, wo der Legende nach der hl. Remigius König Chlodwig I. getauft und gesalbt hatte. 12 Sellin, 2011, S. 87. 13 Zur Idee der Stephanskrone vgl. László, 2003. 14 Holčík 1988. 209

Stefan Albrecht

war man daher im 19. Jh. durchaus geteilter Meinung. Der Baedeker etwa sprach der Krönungskirche St. Martin jede Repräsentativität ab: „Die Domkirche mit neuem Thurm, vom hl. Ladislaus gegründet (?), 1452 geweiht, Krönungskirche, entspricht weder durch Bau noch Ausstattung dieser Bestimmung“. Der belgische Baron Jules de Saint-Genois schrieb seinem Freund Émile 1843 über Preßburg, „Le couronnement des empereurs d’Autriche comme rois de Hongrie, a lieu dans la cathédrale de Presbourg, qui n’est pas très-remarquable comme monument d’architecture […]. Au reste, mon très-digne ami, Presbourg est une grande ville, triste et déserte, comme toute cité qui n’a pas une population en harmonie avec son étendue […] “, ein Eindruck, der dieselbe Atmosphäre atmete, wie der, den 1838 Victor Hugo von Reims erhalten hatte. Andere Reise- und Kunstführer sahen dies durchaus anders: J. V. Richard schrieb 1850 über St. Martin, « La Cathédrale, remarquable par la hauteur de sa belle tour et sa noble architecture [...]. » Franz Tschischka 1834 hielt die Kirche für „[…] ein ehrwürdiges Denkmal aus dem Mittelalter, mit einem reichvergoldeten Thurme aus neuerer Zeit [...] worin die unger. Könige gekrönt werden [...]“15. Doch ästhetische Argumente wurden nicht ausgetauscht, als Ende des 18. Jh.s erstmals die Frage aufgeworfen wurde, ob man nicht die ungarischen Könige in Ofen (Buda) oder Pest krönen könne. Denn Ofen, das unter Matthias Corvinus glänzende Renaissance-Hauptstadt Ungarns gewesen war, bevor es von den siegreichen osmanischen Truppen 1541 größtenteils zerstört wurde, Ofen war zu diesem Zeitpunkt bereits immer mehr zur Hauptstadt Ungarns geworden. Nach der Rückeroberung 1686 unter dem Oberbefehl von Karl Herzog von Lothringen und Kurfürst Maximilian waren hier zwar erst nur zögerlich Neubauten entstanden. Der Charakter einer Metropole oder gar einer Hauptstadt stellte sich dann aber doch Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr ein, und mit der Verlegung der Universität von Tyrnau 1777 nach Ofen sowie der sukzessiven Konzentration weiterer Institutionen, die zumeist aus Preßburg abgezogen wurden (wie 1783 die Statthalterei und 1784 die Hofkammer) wurde Ofen zur ungarischen Residenzstadt, Pest aber eine selbständige und immer mehr prosperierende Handelsstadt. Mit der Theresienstadt (1767), der Josephstadt (1777), oder mit der Leopoldstadt (1790) entstanden neue Stadtteile, in denen Kauf­leute, Beamte 15 Baedeker, 1842, S. 215 (so auch unverändert in den Ausgaben von 1855, S. 275, 1864, S. 225); Krebel, 1783, S. 223; Richard, 1850, S. 401 « La Cathédrale, remarquable par la hauteur de sa belle tour et sa noble architecture [...]. »; Tschischka, 1834, S. 360: St. Martin, „ein ehrwürdiges Denkmal aus dem Mittelalter, mit einem reichvergoldeten Thurme aus neuerer Zeit [...] worin die unger. Könige gekrönt werden.“ 210

Ritual und Transfer des Ritualorts

Abb. 1: Westwerk des Pressburger Doms St. Martin

Foto: Beatrix Albrecht, 2015

und Akademiker, vor allem aber Aristokraten ihre Palais errichteten. Aber erst mit der Revolution von 1848 wurde die Doppelstadt endgültig politischer Mittelpunkt Ungarns.16 Angesichts dieser Stärkung der Zentralstellung Ofen-Pests war es nur natürlich, dass die in Ofen und Pest ansässigen Adligen mit dem ausgehenden 18. Jh. danach verlangten, dass auch die Krönung des ungarischen Königs ebenda stattfände. Damals fand in Wien eine ähnliche Diskussion über den Sinn der Krönung statt, wie in Paris. Joseph II. kam zum Entschluss, auf eine Krönung mit der Stephanskrone zu verzichten. Er ließ die Krone sogar nach Wien verbringen, 16 Somogyi, 1994, S. 29-32. 211

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was in Ungarn als eine schwere Demütigung empfunden wurde. Dass sich sein Nachfolger Leopold II. wieder mit der kurz vor dem Tode Josephs II. (1792) nach Ungarn zurückgebrachten Krone krönen ließ, half, die Monarchie zu stabilisieren, insbesondere nachdem ständische Forderungen nach einer Änderung des Krönungdiploms gescheitert waren. Daher wurden symbolische Aspekte, wie die Wahl des Krönungsortes und die Frage nach der dauerhaften Aufbewahrung der Krone wichtig. Eine Krönung in Ofen wäre ein großer Sieg der Stände gewesen, denn Ofen galt als Symbol für die Machtentwicklung der Stände im 15./16. Jh. unter Matthias Corvinus und den Jagiellonen, stand aber auch für den Nationalstaatsgedanken.17 Am Hof in Wien suchte man daher eine Krönung in Ofen zu vermeiden. Der ungarische Staatsrat Jozsef Izdenczy18 argumentierte so: „Beide letztgenannten Stätte liegen in Mitte des Landes […] auch mitten dem mit höchsten Rescripten so unzufriedenen Pester, Neugrader, Honther, Borssoder, Biharer und anderer Gespanschaften“19. Außerdem berief er sich auf die Krönungstradition in Preßburg. Die Mitglieder des ungarischen Landtags waren nachgerade erschüttert, als der Monarch dann tatsächlich den zunächst nach Ofen beorderten Landtag für die Königskrönung und zwecks weiterer Verhandlungen nach Preßburg verlegte.20 Die Enttäuschung war gewiss auch deswegen so groß, weil so viele mit der Krönung in Ofen gerechnet hatten. Es war auch bereits eine Broschüre gedruckt worden, die die Einzelheiten der Krönung erklären wollte, von der man ausging, dass sie am 24. Juni stattfinden werde.21 In einem Diskussionsbeitrag zur ungarischen Verfassungsfrage erklärte der Käsmarker Rektor Adam Potkonitzky, dass „Zufolge einer neuen Privatnachricht […] die Krönung in der Festung in der Franziskanerkirche, der Ritterschlag in der Ofner Stadtpfarrkirche, und die Ablegung des besonderen Eides auf dem Kapuzinermarkte vor sich gehen [sol17 Barcsay, 2002, 212-215. Daher verfasste bei Gelegenheit der Krönung Franz I. in Ofen László Szentjóbi Szabó das Theaterstück: Mátyás király, vagy a‘ nép‘ szeretete jámbor fejedelmek‘ jutalma, Ofen 1792 dt.: Mathias Corvinus, oder Volksliebe ist edler Fürsten Lohn. 18 Zu József Izdenczy, dem ersten ungarischen Mitglied des Staatsrats seit 1785, vgl. Bahlcke, 2005, S. 317 mit weiterführender Literatur. 19 Barcsay, 2002, S. 213. 20 In einem Brief an den ungarischen Hofkanzler Graf Pálffy sprach der Landesrichter Graf Zichy nicht nur von der Enttäuschung der Menschen aus den „umliegenden Gegenden“, sondern er wies ganz im Sinne Turogts auf die Kosten der Verlegung hin. Barcsay, 2002, S. 213. 21 O. V., 1790. 212

Ritual und Transfer des Ritualorts

le].“ 22 Nach der Krönung in Preßburg baten die Stände darum, dass „aus diesem besonderen Falle keine Folge in Rücksicht künftiger Krönungen und Landtäge, selbe nämlich an die Gränze des Landes zu verlegen, gezogen werde.“23 Sie taten also so, als ob eine Krönung in Preßburg die Ausnahme und nicht die Regel gewesen wäre. Ein unbekannter Autor formulierte in seiner Schilderung der Krönung Leopolds II. im selben Tenor: „Der Ort, wo die Krönung geschieht, ist nicht bestimmt; ehedem war es Stuhlweißenburg, dann Ofen, dann Preßburg. Geschieht die Krönung in Ofen, so ist der zu dieser Feyerlichkeit bestimmte Ort die ehemalige Franziskanerkirche, geschieht sie aber in Preßburg, so ist es die Kirche St. Martins oder Domkirche, und in dieser geschah sie auch dies mal.“24 Doch Leopold II. erhob die Frage des Krönungsortes keineswegs zum Prinzip. Er kam den ungarischen Ständen nicht nur darin entgegen, dass er die Krone nach Ofen zur dauerhaften Aufbewahrung überbringen und alle Privilegien Preßburgs in dieser Hinsicht fallen ließ, sondern erklärte auch, dass die Entscheidung gegen Ofen mehr witterungsbedingt als politisch gewesen sei: „Wir hätten gewünscht, daß Unsere Krönung in Ungarn vor der Kaiserlichen hätte geschehen können; da aber dieser Unser Wunsch durch die bisherige Zögerung der getreuen Stände vereitelt worden […,] so bleibt uns nichts anders übrig, als die erwähnte Krönung bis nach Unserer Zurückkunft von Frankfurt zu verschieben, welche hernach, wenn sie, wie die späte Jahreszeit es schlechterdings nothwendig macht, zu Preßburg vorgenommen wird, höchstens bis zum 15. November geschehen kann, und geschehen soll.“25

Als Leopold II. nach kurzer Herrschaft starb, ließ sich Franz I. dann angesichts der Revolutionskriege ohne längere Diskussion in Ofen krönen. Er wurde am 6. Juni, dem Tag der Krönung Maria-Theresias, in der Ofner St. Johannes-Evangelist-Kirche gekrönt, von wo der Krönungszug zur Liebfrauenkirche ging, in der er mehreren Adligen den Ritterschlag erteilte. Der Krönungszug führte da22 Potkonitzky, 1790, 73 (m) zur bevorstehenden Krönung in Ofen 1790. 23 Barczay, 2002, 214. 24 Vollständige Beschreibung aller Feyerlichkeiten bey den Krönungen und Huldigungen Leopolds II. im Jahre 1790, Wien 1790, S. 131. Später tat J. Wildner Edler von Maithstein sogar so, als ob die Krönung in Preßburg durchaus keine Gewohnheit sei, dass es vielmehr – ganz der französischen Argumentation folgend – der freien Disposition des Königs unterliege, wo er gekrönt werden wolle. Maithstein, 1843, S. 315f. 25 Viktor, 1791, S. 60f.; Wolfsgruber, 1899, S.165. 213

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nach durch das damalige Wassertor weiter auf den Kapuzinerplatz zum Krönungshügel. Diese Kirche, die im Mittelalter unter dem Patrozinium der hl. Maria von Magdala als Pfarrkirche der Ungarn fungiert und das neue Patrozinium erst als Franziskanerkirche 1733 erhalten hatte, war zu diesem Zeitpunkt unter Joseph II. 1787 profaniert worden und musste erst neu geweiht werden. Kirche und Kloster, die als Archivstandort vorgesehen waren, standen vor und nach der Königskrönung leer, die Kirche wurde erst 1817 wieder unter Erzherzog Ferdinand als Garnisonskirche der gottesdienstlichen Nutzung zugeführt.26 Ofen war so hac vice zur Krönungsstadt Ungarn geworden, ohne dass sich irgendjemand für die älteren Rechte Preßburgs in die Bresche geworfen hätte. Vielmehr wurde die Krönung auch in Preßburg in der alten Krönungskirche feierlich unter Beteiligung des Adels, des Magistrats und der Bürgerkompanien begangen und abends mit Theatervorstellung, Nachtmusiken und Illuminationen gefeiert.27 Doch damit hatte Ofen sich nicht endgültig als Zentrum und Krönungsstadt durchgesetzt. Die drei nächsten Krönungen fanden wieder in Preßburg statt, nämlich die Krönungen von Maria Ludovike 1808, von Karoline Auguste 1825 sowie 1830 von Ferdinand V. vivente rege. Andererseits schien der eigentliche Vorrang Ofens akzeptiert zu sein, da es vielfach als Ausnahme galt, „wenn die Krönung nicht zu Ofen Statt hat“ wo die Krone aufbewahrt wurde.28 Auch gab es bereits 1830 verhaltene Kritik an der Krönung in Preßburg, die dann mit der Revolution 1848 erneut aufkam. Die Praxis, anstelle in Stuhlweißenburg und Ofen zu krönen, dies in Preßburg zu tun, wurde sogar als Ergebnis der Politik Metternichs erklärt. 29 Schon bevor im Dezember des Revolutionsjahres 1848 Ferdinand V. zugunsten seines Neffen Franz Joseph I. abdizierte, stand auch die Frage der Krönung wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit und damit auch die Frage des Krönungsortes. Es gingen bald Gerüchte, dass der junge Thronfolger nach sei26 Zu dieser ersten Ofener Krönung und den beiden folgenden bietet einen schönen Überblick: Soós 2004. Das leere Klostergebäude und die Kirche waren schon 1790 als Ort des Landtages bzw. als Krönungskirche und Ort des Ritterschlages vorgesehen gewesen. Szebeni/Végh 2002, S. 436; Paulinyi 1938, S. 40. 27 Preßburger Zeitung, 8. Juni 1792, S. 515. 28 O. V., 1817. 29 Reisinger, 1849, 11f. Die Feier wurde bei sehr schlechtem Wetter begannen, „so daß, wer Preßburg’s und besonders des Krönungshügel’s Lage kennt, sich leicht vorstellen kann, wie, trotz der gold- und edelsteinbedeckten Magnaten, die ganze Geschichte ein kothiges Ansehen hatte.“ 214

Ritual und Transfer des Ritualorts

nem 18. Geburtstage nach Ofen reisen werde, um sich dort wie schon sein Onkel vivente rege krönen zu lassen.30 Denn auch für Ofen gilt Raillats Dictum, « un sacre dans la capitale était sans doute plus conforme à la mentalité post-révolutionnaire ».31 Im März 1849 sprach sich dann angesichts der andauernden Gewalt im Unabhängigkeitskrieg die Mehrheit der Repräsentanten in Pest gegen die Politik Kossuths dafür aus, dass sich Franz Joseph in Ofen (bzw. Pest) krönen lasse, unter der Bedingung, dass die 1848 von Ferdinand V. eingeräumten Zugeständnisse mutatis mutandis aufrecht erhalten würden.32 Doch nach dem Sieg des Neoabsolutismus war eine Krönung in weite Ferne gerückt. Gleichwohl oder gerade deshalb hielt das politische Ungarn daran fest, dass die Krönung zentrale Bedeutung für die Verfassung habe, ja, dem ungekrönten König wurde Usurpation vorgeworfen, oder doch wenigstens das Recht abgesprochen, Gesetze zu erlassen und überhaupt zu regieren.33 In der 18 Jahre dauernden Verfassungskrise war auch die Frage des Krönungsortes ein populärer – wenngleich nicht zentraler – Teil der Diskussionen. 30 Es ist dem Unvermögen des Autors geschuldet, dass er hier und im Folgenden keine ungarischsprachigen Organe zitiert, deren Durchsicht in jedem Fall ein dichteres Bild ergeben würde. Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von staats- und gelehrten Sachen, Nr. 181, 6. August 1848. Erste Beilage zur Königl. privilegirten Berlinischen Zeitung 1848, S. n. pag. 31 Raillat, 1991, 46 „[…] un sacre dans la capitale était sans doute plus conforme à la mentalité post-révolutionnaire.“ Zit. nach Schnettger, 2004. 32 Deutsche Zeitung aus Böhmen. Hrsg. vom deutschen Vereine in Prag, Nr. 70, 12. März 1849, S. 528. Das Ausland. Ein Tagblatt für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland 22, Stuttgart und Tübingen 1849, S. 786: Zur Forderung nach Krönung des Königs in Buda-Pest. zu den übrigen Friedensbedingungen der Ungarn der österreichischen Regierung gegenüber, bevor sie von dem Bündnis mit Russland Nachricht erhielten. Nazional-Zeitschrift. Rundschau der wichtigsten politischen Ereignisse. Wien, 5. Mai 1849, Nr. 60, S. 233: Die Grundlagen, auf denen Ungarn mit Oesterreich zu unterhandeln bereit sei, sind unter anderem „Ungarn bleibt so lange unter der Regierung einer provisorischen aus dem Reichstage hervorgegangenen Exekutivgewalt, bis die Thronfolge wird gesetzlich hergestellt sein und der zu erwählende König in Buda-Pesth gekrönt ist.“ 33 Zur Diskussion vgl. beispielhaft der Schlagabtausch: Ludvigh, 1861, der seine Frage verneinte, mit O. V. 1861 (der die Verehrung der Stephanskrone bei den Ungarn als barbarisch bezeichnete, und die Krönung eine teure Zeremonie, die leicht unterbleiben könne). 215

Stefan Albrecht

Ende 1860, als Wien zunehmend bereit war, auf die ungarischen Forderungen einzugehen, las man etwa, dass der konstituierende Landtag in Preßburg zusammentreten werde, wo allerdings nur Krönung und Eidesleistung stattfinden solle, danach solle das Parlament nach Pest verlegt werden.34 Diese Nachricht deckte sich mit der Forderung des Grafen Emil Dessewffy (1814-1866), einer der hervorragenden konservativen Politiker Ungarns, die er im Zusammenhang mit dem Oktoberdiplom von 1860 in einem Memorandum Ministerpräsident Johann Bernhard Graf von Rechberg übergeben hatte, in dem er u. a. die Krönung des Monarchen sowohl in Preßburg als auch für Böhmen in Prag verlangte.35 Anfang 1861 verdichteten sich dann die Nachrichten, dass es endlich zur Königskrönung kommen werde, wobei nach anfänglichen Erwägungen36 Preßburg nicht mehr weiter als Krönungsstadt in Frage kam. Denn nachdem Franz-Joseph am 14. Februar für den 2. April einen Reichstag nach Ofen einberufen hatte, auf dem auch seine Krönung vorbereitet werden sollte, stand nur noch Ofen zur Auswahl.37 Die Krönung schien so nahe gerückt, dass im März 1861 der französische Gesandte in Wien, Marquis Lionel de Moustier, ankündigte, dass er „in amtlicher Eigenschaft“ der Krönung in Ofen beiwohnen werde.38 Die „Musical Review and Musical World“ wusste sogar zu berichten, dass Kaiser Franz-Joseph den von ihm verehrten Richard Wagner zu seiner Krönung – aber nach Pest eingeladen habe.39 34 Das Vaterland, Nr. 6, 19. November 1860. 35 Eisenmann, 1904, 212f. 36 „Wie nämlich mit Gewißheit behauptet wird, findet die Krönung Sr. Majestät des Kaisers weder in Pest oder Ofen, sondern in Preßburg statt, wo die erhabenen Vorfahren des Monarchen gleichfalls als König von Ungarn gekrönt wurden.“ Klagenfurter Zeitung, 29. Januar 1861, S. 1. („Ungarische Briefe“, Preßburg, 25. Jänner). 37 Leist, 1861, 399f. „Die feierliche Handlung der Krönung, welche zuletzt längere Zeit hindurch in Preßburg stattfand, nächstens aber in Ofen vollzogen werden wird […].“ 38 Innsbrucker Nachrichten 2. April 1861, S. 639 (Korrespondent aus Paris, 25. März). 39 Musical Review and Musical World. A Journal of secular and sacred music 12, 1861, 149. „The late reception given to Richard Wagner in Paris seems to have been made a national affair in Germany. Since then he has been more honored than ever before. The Emperor of Austria has invited him to be present at the coronation in Pesth, and the latest mark of esteem he has received is from Prince Metternich […].“ Wobei es freilich sein kann, dass der Autor nicht zwischen Ofen und Pest unterscheiden konnte. 216

Ritual und Transfer des Ritualorts

Tatsächlich begannen im März 1861 die Vorbereitungen für die Krönung in Ofen, als das Obersthofmeisteramt die für die Krönungsfeierlichkeiten nötigen bzw. verwendbaren Örtlichkeiten besichtigte und Vorschläge für die „Wahl und Ausschmückung der Krönungskirche, für die Aufführung des Krönungshügels, und auch die Herstellung der für 1000 Gedecke berechneten Krönungstafel zur allerhöchsten Schlußlassung“ vorbereitete.40 Die liberale „Kronstädter Zeitung“ wusste ferner zu vermelden, dass „Die Krönung […] einem weiteren Gerüchte zufolge in der Garnisonskirche in der Ofner Festung stattfinden [werde]“, wonach der Landtag nach Pest verlegt werden solle.41 Es sollte also offensichtlich , an die Krönung Franz  I. 1792 angeknüpft werden. Doch solange die Verfassungsfrage nicht gelöst war, solange wurde immer neu ein Termin für die Königskrönung gesucht, und damit verknüpft ein geeigneter Ort. Im Spätsommer 1865 brachte der radikal magyarisch denkende Graner Domherr August Graf Forgach die Idee auf, die Krönung in Gran als jenem Ort stattfinden zu lassen, „wo unser erster König, der heilige Stephan, gekrönt worden ist“, eine Idee, die vom ungarischen Primas und Erzbischof von Gran Johannes Scitovszky aufgenommen, aber wohl nicht nur aufgrund dessen unbeugsamen Festhalten an seinen Primatialrechten gegenüber Wien nicht weiter verfolgt wurde.42 Aber auch Preßburg, wo gerade mit der Restaurierung der Krönungskirche begonnen war43, wurde wieder als Krönungsstadt gehandelt, wie

40 Kronstädter Zeitung, 23. März 1861, Nr. 46, S. 307. 41 Kronstädter Zeitung, 27. März 1861, Nr. 48, S. 324; Klagenfurter Zeitung 27. März 1861, S. 282. Beide hatten ihr Gerücht aus der amtlichen Prager Zeitung. Die gleichlautende Nachricht der Innsbrucker Nachrichten, Nr. 70, 27. März 1861 war zum 22. März aus der Österreichischen Zeitung entnommen worden. 42 Die Debatte, 23. August 1865, S. 1. Die Debatte 1. September 1865, Nr. 241, S. 1. 43 Die Restaurierung wurde vom Wiener Architekten Joseph Lippert durchgeführt, der 1864 vom Dombauverein in Preßburg zum Dombaumeister der Krönungskirche bestellt worden war. 1865 legte er die Pläne vor, die er dem Pariser Denkmalpfleger Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc, der auch die Kirche zu Reims restauriert hatte, vorgelegt hatte. Die Restaurierung fand in Cis- und Transleithanien großes Interesse, „weil diese Kirche als Krönungskirche der Könige von Ungarn eine ganz besondere Beachtung verdient“ (Wiener Zeitung 6. Juli 1865, 606). Nicht zuletzt dokumentierte der neue Hochaltar mit seinem Tabernakel, über dem zwei Engel die Stephanskrone halten, den Anspruch als Krönungskirche. Dem daher letztlich auch der ungarische Primas zugestimmt hatte. Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der Deutschen Geschichts- und Alterthums-Vereine, 13, 1865, S. 14. Vgl. Buran, 217

Stefan Albrecht

zu Weihnachten 1865 der Korrespondent der konservativen und regierungsnahe Tageszeitung „Die Presse“ aus Pest schrieb: „Die große Frage, die jetzt alle Gemüther beschäftigt, ist die, ob die Krönung in Pest oder in Preßburg, der ehemaligen ungarischen Metropole und Krönungsstadt, vor sich gehen wird? Diese Frage – so fern sie auch noch augenblicklich liegt – wird voraussichtlich zu einem erbitterten Streite nicht nur zwischen den beiden candidirenden Städten, sondern wie im Jahre 1861 die Frage, ob die Landtags-Eröffnung in Pest oder in Ofen stattzufinden habe, auch zwischen den Parteien im Landtage führen, und dürfte der von Jokai zu wiederholtenmalen angedeutete Vorsatz ‚der Partei-Absonderung eines Princips halber‘ vielleicht schon anläßlich dieser Angelegenheit eintreten. In neuerer Zeit sah Preßburg seine ehemaligen Herrlichkeiten Stück für Stück dahinschwinden, und muß es seinen patriotischen Einwohnern als ein schönes Verdienst angerechnet werden, daß sie bei Gelegenheit der Debatten über die Verlegung des Landtages nach Pest in Erwägung dessen, daß letzere Stadt der Centralpukt Ungarns zu werden berufen ist, mit Hintansetzung ihrer persönlichen Interessen durch ihre Vertreter für die Übersiedlung des Landtages nach Pest stimmten. Die Billigkeit würde wohl fordern, daß wir nun der guten Stadt Preßburg nicht noch den letzten Schimmer ihres alten Ruhmes, das Recht, die Krönung der ungarischen Könige in ihren Mauern zu feiern, streitig machen mögen; doch zweifeln wir sehr, ob diese Billigkeits-Rücksichten in unserer vom großstädtischem Ehrgeize erfüllten Stadt zur Geltung werden kommen können.“44

Preßburg galt also immer noch in einigen konservativen Kreisen als die Krönungsstadt.45 Dahingegen wusste der Korrespondent der liberalen „Neuen Freien Presse“ in seiner Berichterstattung über dieselbe Diskussion nichts von Preßburg als Kandidatin für die bevorstehende Krönung:

2013, S. 159-161; Haľko/Komorný 2010, Zum Altar Lipperts insbesondere S. 49115, zur Krönungskirche im Allgemeinen S. 164-197. 44 Die Presse, 27. Dezember 1865, Nr. 356, S. 2. („Original Correspondent aus Pest“, 25. Dezember). 45 Und auch den Preßburger Bürgern selbst. Noch im März 1867 baten 400 Preßburger in einem Majestätsgesuchen um die Abhaltung der Krönung in ihrer Heimatstadt. Fremdenblatt 11. März 1867, Nr. 69, S. 5. 218

Ritual und Transfer des Ritualorts „Bei solcher Lage der Dinge darf es nicht überraschen, daß die Krönung des Monarchen als eine kaum sehr fern liegende Eventualität eifrig discutirt wird. Nachdem die Localität für den zu errichtenden Krönungshügel entweder erledigt oder fallen gelassen46 – ich weiß nicht, was das Richtige ist – werden die historischen Anrechte gewisser Kirchen als Krönungsorte beleuchtet. Die Einen verlangen die Graner Basilica, weil der heilige Stephan dort gekrönt worden, Andere die Ofener Festungskirche, in der Mathias Corbinus die Krone empfangen, Andere endlich die Pester Pfarrkirche, weil Pest durch die 1848er Gesetze zur Hauptstadt des Landes und die Kirche somit zur Hauptkirche geworden. Also auch hierin, wie es scheint, principielle Differenzen! Die Altconservativen für Gran, die Liberalen für Ofen und die Radicalen für Pest – die Parallele ließe sich schon durchführen!“47

Als Anfang 1867 der Ausgleich endgültig kommen und mit der Krönung Franz-Josephs besiegelt werden sollte, war die Frage des Krönungsortes deswegen doch noch keineswegs entschieden, da die Ungarn, insbesondere der Landtag, wohl mehrheitlich Pest als Krönungsstadt wünschten, der Hof aber Ofen.48

46 Da dem „politischen Eid“ des Königs und dem Ritt auf den Krönungshügel eine besondere Bedeutung zugesprochen wurde, wurde nicht nur der Ort der Krönung, sondern auch der der Schwertstreiche lebhaft diskutiert. Es wurden zahlreiche Alternativen in Erwägung gezogen, die teils an die Königskrönung Franz I. 1792 anknüpften und den Krönungshügel auf dem Kapuzinerplatz in Ofen (Neues Fremdenblatt, 8. Januar 1866, Nr. 6 S. 4), teils die Generalwiese ebenda vorschlugen; der Pester Lloyd wollte aus Gründen des Proporzes die Krönung in Ofen vollzogen, den Krönungshügel dafür aber in Pest, und zwar auf dem Franz-Josephs-Platz „wo besonders viele zuschauen könnten und wo besonders schön die Dekoration erfolgen könne“, errichtet sehen. (Innsbrucker Nachrichten 1. März 1866, Nr. 49, S. 446) Schon bald kam man aber von der Generalwiese ab, und in Regierung und Landtag wurde das Rakos-Feld vorgeschlagen, das einst der Ort der „öffentlichen Landtage, Krönungen und Krönungsmahle“ gewesen sei. Die Erde für den Krönungshügel sollte von eigens dazu gewählten Deputierten aus den einzelnen Komitaten hierher gebracht werden (Neues Fremden-Blatt 27. Februar 1866, S. 2 „So viel ist indeß bestimmt, daß die Krönung jedenfalls auf dem Rakos stattfinden wird.“). 47 Neue Freie Presse 22. Dezember 1865, Nr. 474, S. 3. Es ist bemerkenswert, dass Stuhlweißenburg nie als Krönungsstadt diskutiert wurde. 48 Neue Freie Presse, 11. Februar 1867, Nr. 880, S. 2 219

Stefan Albrecht

Letzten Endes wurde die Lösung gefunden, dass der sakrale Akt der Krönung in der Liebfrauenkirche vollzogen, der Ritterschlag in der Garnisonskirche, an deren Rolle als Krönungskirche 1792 die Ungarische Akademie der Wissenschaften noch 1866 mit einer Gedenktafel gedacht hatte49, geleistet werden (also in umgekehrter Reihenfolge wie bei Franz I.). Der als weltlich verstandene Eid aber vor der Pester Stadtpfarrkirche und der finale Akt mit den vier Schwertstreichen auf dem Krönungshügel auf dem späteren Franz-Josephs-Platz bei der Kettenbrücke stattfinden sollte. Als Krönungskirche hatte man sich diesmal also die 1247 erstmals erwähnte Hauptkirche des Ofener Burgbezirks ausgewählt, die Liebfrauenkirche, die der Baedeker und die anderen oben genannten Reiseführer genauso wenig wie die Garnisonskirche eines eigenen Eintrages, der über eine bloße Erwähnung hinausginge, gewürdigt hätte. Diese Kirche hatte im Mittelalter als Pfarrkirche für die deutsche Bevölkerungsmehrheit gedient. Die Bedeutung der Kirche war keineswegs gering. Sie war häufig Zeuge königlicher Präsenz, insbesondere etablierte sich im 14. Jh. die Gewohnheit, dass hier die toten Könige vor ihrem Begräbnis aufgebahrt wurden. 1309 wurde Karl I. von Anjou hier gekrönt, wo schon zuvor die in Stuhlweißenburg gekrönten Herrscher präsentiert worden waren. Hier feierte man außerdem die königlichen Hochzeiten des Königs Matthias. Nach der osmanischen Eroberung wurde die Kirche als Moschee genutzt. Relativ wenig beschädigt kam sie nach der Rückeroberung Ofens 1686 erst in die Hände der Franziskaner, und sodann in die der Jesuiten, die dort bis zur Auflösung der Gesellschaft Jesu 1773 ein Kloster unterhielten. 1785 wurde die von den Jesuiten eingebrachte Innenausstattung der Kirche auf Befehl Josephs II. versteigert.50 Als Franz I. gekrönt wurde, fand hier der Ritterschlag statt. Erst einige Jahre nach der Krönung Franz-Josephs, nämlich 1873, beauftragte der König den Architekten Frigyes Schulek damit, die wenig monumentale Liebfrauenkirche, die seit etwa dieser Zeit immer mehr unter dem Namen „Matthiaskirche“ bekannt wurde, umfangreich zu renovieren und umzugestalten. Die Bauarbeiten dauerten von 1874-1896 und gaben der Kirche das heutige neugotische Aussehen und hoben sie im Architekturensemble der Burg deutlicher hervor, in der noch heute ein Fresko und die Fahnen an die Krönung Franz-Josephs und Elisabeths erinnern.51 Anders als die Garnisons49 Durch die Magyar Tudományos Akadémia Régészeti Bizottsága; Szebeni/Végh, 2002, S. 438. 50 Balázs/György, 2003. 51 Szvoboda Domanszky, 1996. Schulek versuchte zwei Aspekte zu vereinen, einerseits wollte er eine original ungarische gotische Kathedrale renovieren, ande220

Ritual und Transfer des Ritualorts

Abb. 2: Die Liebfrauenkirche vor der Restaurierung

Aggházy Gyula, A Mátyás-templom (Budavári Nagyboldog assony-templom, 1884, nach Gábor 2006, Abb. L.1, S. 150

kirche wurde die im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte Liebfrauenkirche 1950 bis 1960 unter Berücksichtigung der Pläne Schuleks wieder aufgebaut. rerseits wollte er die historischen und legendären Szenen und Personen darstellen, die die ungarische Nation mit dem Christentum verbanden. 221

Stefan Albrecht

Abb. 3: Die Liebfrauenkirche nach dem Umbau

Foto: Divald Károly, Privatbesitz

Die Erinnerung daran, dass die Kirche Schauplatz der beiden letzten Königskrönungen Ungarns geworden war, blieb ungemindert bestehen und ist auch heute ein wichtiger Faktor in der (Selbst-)Darstellung der Kirche.52 Gleichwohl ist es die heutige Kathedralkirche der slowakischen Hauptstadt, in der der Mythos einer einstigen Krönungsstadt vorrangig bis zum heutigen Tage weiterlebt. Dabei wurde die Erinnerung an die Krönung zunächst gar nicht so sehr von der größtenteils nicht-magyarischen Bevölkerung Preßburgs getragen, als von den Magyaren und der Regierung in Budapest. Dies zeigt sich namentlich am Umgang mit dem alten Krönungshügel53, den Maria Theresia 1776 hatte errich52 http://www.btm.hu/?q=matyastemplom, 26.10.2015. 53 Schriefer, 2007, S. 221. „Hier fallen vor allem die Berichte um die Krönung des Königs und speziell um den in Preßburg sinnlos gewordenen Krönungshügel auf. Die Diskussion, was damit zu geschehen habe, erscheint symptomatisch“. Zur Symbolik des Krönungshügels in der Zeit des Dualismus vgl. allgemein Pál 2012, 222

Ritual und Transfer des Ritualorts

Abb. 4: Das Titelbild der populären „Geschichte Pressburgs“ von Th. Ortvay machte die enge Verbindung von Stadt und Burg Pressburg und der ungarischen Krone sichtbar

Ortvay 1892, Umschlag

zu der Frage der Siebenbürger Sachsen, ob sie Erde zum Krönungshügel beisteuern wollten: Pál 2008, Babejová, 2003, S. 161-164. Gar keinen Erinnerungswert 223

Stefan Albrecht

ten lassen. Der in Verfall geratene Hügel wurde 1846 in Ordnung gebracht, von Donauhochwassern aber stark beschädigt. Die Stadt beantragte schon 1867, den Hügel aus städteplanerischen Gründen abzutragen, wohingegen die zuständige Finanzdirektion darauf bestand, ihn als Denkmal zu erhalten. Die Abtragung wurde dann unter der Bedingung erlaubt, dass ein Denkmal errichtet werde. Der Krönungshügel wurde daraufhin 1870 entfernt, ein Denkmal aber nicht aufgestellt. Erste Überlegungen für ein Denkmal wurden erst 1874 und 1880 auf Erinnerung der Finanzbehörde angestellt, sie hätten im Wesentlichen eine Säule oder einen Obelisk vorgesehen. Erst anlässlich des Krönungsjubiläums 1892 beschloss die Stadt, nun doch ein Denkmal bauen zu lassen. Die ursprünglich favorisierte Idee des Stadtarchivar Nepomuk Batkas54 war es, einen überlebensgroßen Bronzelöwen mit Stephanskrone und den Krönungsinsignien in seiner Pranke aufstellen zu lassen, dessen Sockel mit den Medaillons der hier gekrönten Könige und Königinnen versehen werde. Der ursprünglich beauftragte Bildhauer Viktor Tilgner lehnte ab. Johann Fadruß (János Fadrusz), wie Tilgner ein gebürtiger Preßburger, übernahm es dann, einen ganz anderen Entwurf zu präsentieren: Das von ihm konzipierte insgesamt 11 m hohe Denkmal zeigte auf einem Sockel mit der Aufschrift Vitam et sanguinem eine reitende Maria-Theresia in Begleitung ungarischer Husaren. Der Sockel ruht auf einem Erdhügel, zu welchem, wie es sich für den Krönungshügel gehörte, sämtliche Munizipien des Landes eine bestimmte Menge Erde beigesteuert hatten.55 Bei der feierlichen Einweihung war die gesamte Spitze des Reiches anwesend: König Franz-Joseph I. sowie zahlreiche Vertreter des Erzhauses, der ungarische Ministerpräsident Baron Bauffy, die ungarischen Minister Baron Daniel, Wlassics, Erdély und Lukács, Perczel, Josipovich, Darányi, die gemeinsamen Minister der Doppelmonarchie Außenminister Graf Goluchowski, Finanzminister Kallay, Kriegsminister Krieghammer, der Fürstprimas Vaszary und zahlreiche

der Krönung sieht Tancer, 2007, hier spielt Krönungsstadt keine Rolle. Eine andere Perspektive auf diesen Erinnerungsort hat: Csáky, 2010, S. 308 „Der ehemalige Krönungshügel nahe der Donau [...] war für Preßburg ein symbolträchtiger, fast sakraler Erinnerungsort. Hier wurde 1897 von Ján Fadrusz ein Maria-Theresien-Denkmal errichtet, das später einer Reihe von verschiedenen anderen Denkmälern weichen musste.“ 54 Zu Batkas Denkmalfaible vgl. Mannová, 2007, S. 206. 55 Eine ausführliche zeitgenössische Darstellung der Planungen zum Krönungshügeldenkmal findet sich in Preßburger Zeitung, Nr. 135, 16. Mai 1897, 134. Jahrgang. „Der Preßburger Krönungshügel und seine Geschichte“ S. 2-5. 224

Ritual und Transfer des Ritualorts

andere hochrangige Vertreter aus Staat, Kirche und Gesellschaft.56 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde dieses Denkmal 1921 zerstört, 1973 wurde hier ein Ľudovít Štúr-Denkmal aufgestellt. Doch 1991 besann man sich wieder auf die Tradition der Krönungsstadt, als anlässlich des 250jährigen KrönungsjuAbb. 5: Maria-Theresien-Denkmal auf dem Krönungsplatz in Pressburg von J. Fadrusz

Weinwurm Antal, A Pozsonyi Koronázási emlékszobor, Vasnárnapi ujság, 21, 1897, 44, S. 334

56 Pester Lloyd 15. Mai 1897, „Die Enthüllung des Preßburger Krönungsdenkmals“. 225

Stefan Albrecht

biläums Maria-Theresias unter dem Ehrenschutz des Bürgermeisters von Bratislava ein kostümierter Krönungszug den Krönungsweg bis zum Krönungshügel zog. Dieser Umzug war der Vorläufer einer 2003 ins Leben gerufenen neuen Tradition, die seit dem in jedem Jahr die Krönungsfeierlichkeiten in einem großen sommerlichen Spektakel nachstellt.57 Auch die slowakische Europapolitik knüpfte an die Tradition der Krönungsfeierlichkeiten an, als man anlässlich des Beitritts der Slowakei zur Europäischen Union in der Nähe des alten Krönungshügels einen „Integrationshügel“ errichtete, für den nicht wie ehedem für den Krönungshügel die Delegationen der Komitate Ungarns, sondern die Botschafter der Mitgliedstaaten der Europäischen Union je eine Handvoll Erde aus ihrem Heimatland beitrugen,58 indem sie dadurch die Idee des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ungarns mit seinen vielen friedlich miteinander lebenden Völkerschaften feierten.59 In Budapest gelang es trotz der monumentalisierenden Umbaumaßnahmen Schuleks und trotz der zweimaligen Krönung (1867 und 1916) weder, aus der Liebfrauenkirche die église de sacre60, noch etwa die église de la monarchie zu machen. Zwar war der Wegzug aus Pressburg nicht allzu schwer gefallen, war die Krönung doch erst aus Not dorthingezogen. Aber keine Kirche in Budapest war mit den Anfängen Ungarns verbunden, keine Kirche konnte sich mit einem Origo-Mythos verbinden, barg einen Schrein eines heiligen Königs oder nahm für sich in Anspruch, die ursprüngliche, eigentliche Krönungskirche zu sein. Keine konnte mit der bescheidenen Monumentalität der Preßburger Kirche mithalten, die immerhin durch ihr Patronat eine enge Verbindung mit der ältesten Geschichte Pannoniens aufweisen konnte, weswegen sie dann doch als die „alte“ Krönungskirche hochgehalten wurde.

57 http://www.kroenung.sk, 25.10.2015. 58 Mannová, 2007, S. 210. 59 2011 wurde sogar ein neues Maria-Theresia-Denkmal aufgestellt, das an das niedergerissene Krönungshügel-Denkmal erinnern soll. 60 Nicht einmal der Name Krönungskirche [Koronázó templom] etablierte sich auf Dauer, vielmehr wurde die Kirche von jetzt bis heute mit dem Renaissancekönig Matthias Corvinus verbunden. Auf Postkarten bis zur Mitte des 20. Jh.s war der Name Krönungskirche allerdings zuweilen immer wieder vertreten, vornehmlich auf solchen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Die überwiegende Mehrheit der Postkarten nannte die Kirche jedoch Matthiaskirche. http://postcards. hungaricana.hu/en/, 30.10.2015. 226

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„Bakou est généralement consideré comme le centre de la varieté musulmane du Bolchevisme“ 1 – Sowjetamnesien in der Stadtgeschichte Bakus Andreas Frings Stadtgeschichte ist bebaute Geschichte. Sie ist in Objekten erfahrbar: in Häusern, Plätzen und Denkmälern. Diese Geschichte kann aktiv bespielt werden. Auch Leerstellen können hierfür nutzbar gemacht werden: Städte können in ihren Brüchen und Spannungen so erzählt werden, dass dem „intendierten Leser“ (Wolfgang Iser) nahegelegt wird, sie auf eine bestimmte Weise zu lesen. Es gibt jedoch auch Leerstellen, die nicht gelesen werden sollen, die der Flüchtigkeit kurzlebiger historischer Prozesse zu verdanken sind, die sich nicht in Form von Objekten in die gebaute Geschichte eingefügt haben. Sie sind mitunter nur noch in Spuren greifbar. Nicht selten werden sie auf der Ebene der erzählten Stadt von deutlicher markierten Perspektiven auf die Stadtgeschichte überlagert. Das gilt beispielsweise für die frühe Sowjetphase, in der Baku für bestimmte Fragen des internationalen und des innersowjetischen Sozialismus eine zentrale Rolle spielen sollte. In dieser Zeit gewann Baku an Vorrang vor anderen Städten, insbesondere Tiflis, dem vorrevolutionären Zentrum des russischen Kaukasus, und Kazan’, dem vorrevolutionären „Fenster zum Osten“ (Robert P. Geraci). Das hatte eine Reihe von Ursachen. Zum einen war es früh in die sowjetische Einflusssphäre gelangt. Während in Tiflis im Mai 1918 eine Demokratische Republik etabliert worden war, die bis in das Frühjahr 1921 Bestand hatte, hatten sich die Herrschaftsformen in Baku seit 1917 mehrfach geändert. Schon 1917 hatten Bolschewiki in Baku eine Kommune errichtet. Im März und April 1918 1

Aus einem Bericht im Diplomatischen Archiv am Quay d’Orsay aus Konstantinopel, Türkei, 20.09.1920. Zit. ohne weitere Angaben in Chaqueri, 1981, S. 197. 231

Andreas Frings

verübten Einheiten der armenischen Daschnakzutjun und der Roten Armee im Zuge der sog. „März-Ereignisse“ Massaker an der aserbaidschanischen Bevölkerung Bakus. Ende April 1918 gründete sich ein Rat der Volkskommissare unter der Leitung von Stepan Šaumjan, einem armenischen Bolschewik, der während der März-Ereignisse u. a. auch Einheiten der Daschnakzutjun angeführt hatte. Der Rat der Volkskommissare war mit Vertretern unterschiedlicher Ethnien und Konfessionen besetzt, bestand aber politisch fast ausschließlich aus Bolschewiki. Im Juni und Juli 1918 eroberten türkische Einheiten die Stadt; der Rat der Volkskommissare wurde durch die kurzlebige „Zentralkaspische Diktatur“ abgelöst. Nach einem kurzen Intermezzo in Haft gelang einer Gruppe politischer Akteure (den „26 Kommissaren“) die Flucht über das Kaspische Meer; sie wurden jedoch in Krasnovodsk durch eine britische Militärmission festgenommen und kurz darauf getötet. Im September übernahm die osmanische „Armee des Islam“ unter Nuri Pascha (einem Halbbruder Enver Paschas) die Kontrolle in Baku. Die Aserbaidschanische Demokratische Republik, die schon im Mai 1918 paradoxerweise in Tiflis gegründet worden war, erweiterte ihren Herrschaftsbereich auch auf die neue Hauptstadt Baku. Im Frühjahr 1920 marschierte jedoch die Rote Armee in Aserbaidschan (Ende April auch in Baku) ein. Das Parlament wurde aufgelöst und eine Räterepublik etabliert.2 Die folgende Skizze wird den zum Lesen nicht mehr angebotenen Spuren der frühen Sowjetunion in Baku nachspüren. Sie wird dabei zwei große Kulminationspunkte des sowjetischen Baku in den 1920er Jahren in den Blick nehmen. Ziel des Artikels ist es, Baku durch die Augen der zeitgenössischen Akteure zu sehen, die mitunter sowohl Akteure der Inszenierung als auch Rezipienten derselben waren.

Erster Kongress der Völker des Ostens, September 1920 Das heutige Aserbaidschanische Staatliche Akademische Opern- und Balletthaus Achundov ist in einem Haus untergebracht, das erst 1910 binnen zehn Monaten – unter Umgehung baurechtlicher Bestimmungen – von den Brüdern Mailov in der Torgovaja gebaut worden war. Es handelte sich um einen der voluminösen Baukörper in Baku, eines der wenigen Gebäude, dem man 1920 die anvisierte Zahl von über 2000 Delegierten für einen internationalen Kongress 2

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Sehenswerte Fotos aus dieser Phase 1918-1920 findet man z. B. im Portal des Imperial War Museum: www.iwm.org.uk, 11.08.2015.

„Bakou est généralement consideré ...“

der Komintern zumuten konnte. Diesen Kongress hatte der 2. Komintern-Kongress gewissermaßen als Fortsetzung und mit geplanter Beteiligung von Vertretern der kolonial unterdrückten Völker kurz zuvor beschlossen. Am Ende waren es offiziell 1891 Besucher. Von diesem Großereignis, das Kongresszentren auch heute noch herausfordern würde und das zu seiner Zeit das wohl größte Treffen politischer Vertreter aus dem, was man seinerzeit diffus „Orient“ nannte, war, erfährt man am Ort heute nichts mehr. Abb. 1: Das Aserbaidschanische Staatliche Akademische Opernund Balletthaus

Foto: http://tinyurl.com/pn4e69w, Original-URL kyrillisch kodiert, 11.09.2015, gemeinfrei, CC BY-NC-SA 3.0

Schon kurz nach der Eroberung Bakus hatte das Exekutivkomitee der Komintern zum 15. August 1920 eine Einladung an die „versklavten Volksmassen von Persien, Armenien und der Türkei“ ausgesprochen, die sich aber ganz grundsätzlich an alle imperial unterdrückten Völker richtete. Im russisch beherrschten Einflussbereich wurden Agitationskampagnen durchgeführt; Agit-Züge und Agit-Schiffe wurden in Bewegung gesetzt. Der Kongress selbst sollte gewissermaßen eine Verlängerung der Diskussionen des Zweiten Komintern-Kongresses über die nationale und koloniale Frage sein. Eingeladen waren auch westliche Kommunisten v. a. aus jenen Ländern, die Kolonien besaßen (u. a. Tom Quelch, Alfred Rosmer, Jan Proost Jansen und John Reed). Die Konzentration auf Baku als Austragungsort der Konferenz offenbart die sowjetische Wahrnehmung des Orients: Die unmittelbar an Aserbaidschan an233

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grenzenden Länder Armenien, Persien und Türkei, die auch in der Kongresseinladung direkt angesprochen worden waren, bildeten den engen Kreis jener Länder, die aus weltrevolutionärer Perspektive am ehesten ein Überspringen der revolutionären Flamme versprachen.3 Gerade Baku hatte sich neben Moskau zum Zentrum exilkommunistischer Aktivitäten von persischen und türkischen Kommunisten entwickelt.4 Es war eher die muslimische Welt, auf die sich der Kongress konzentrierte. Das reichte bis in Metaphern eines Heiligen Krieges gegen die imperiale Unterdrückung hinein, ein Bild, das auch schon den osmanischen (und von Deutschland unterstützten) Dschihad 1914 geprägt hatte. Da die junge Sowjetmacht in den muslimischen Peripherien aber gerade selbst erst als erobernde Macht aufgetreten war, war dies eine riskante Taktik, und die Reden von Tashpolad Narbutabekov und anderen bewiesen, dass der Kongress sich auch gegen imperial-sowjetische Ambitionen wenden konnte. Ohnehin ließ sich die religiöse Komponente nicht aus dem Kongress fernhalten (und das war sicher auch nicht gewollt5): Muslimische Delegierte gingen zum Gebet aus dem Saal, andernorts wurden zu Ehren des Kongresses Kühe und Schafe geschlachtet. Ausgerechnet am Freitag (3. September) wurde eine Parade abgehalten, in deren Verlauf auch eine Karl-Marx-Büste auf dem Freiheitsplatz eingeweiht wurde. Nicht weit entfernt waren Puppen von David Lloyd George, Alexandre Millerand und Woodrow Wilson aufgebaut, die anschließend angezündet wurden6: „Auf der Mitte des Platzes waren Attrappen aufgebaut, die Lloyd George, Millerand und Wilson darstellten. Es waren sehr gute Imitationen mit schwarzen Anzügen, Auszeichnungen und Bändern, und ein neugieriger Wind wehte durch ihre Gewänder. Der Henker saß nahe bei ihnen, mit einer Flasche Benzin in der Hand. Als er das Startzeichen des Tribunals erhalten 3 4 5

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So war etwa im Sommer 1920 in Nordpersien eine kommunistische Republik ausgerufen worden. Vgl. dazu auch Gökay, 2006, S. 22. Vgl. u. a. Dumont, 1977; Blank, 1980; sowie zur Vorgeschichte Dailami, 1990. Die Kongresseinladung erinnerte die Eingeladenen etwa an die Hidschra: „You march year in and year out through the deserts to the holy places where you show your respect for your past and for your God. Now march through deserts, over mountains, and across rivers in order to come together to discuss how you can escape from the bonds of slavery, how you can unite as brothers, so as to live as men, free and equal.” Zit. nach O. V., Russia’s Soviet Propaganda, 1920, S. 322. Diese Einladung wurde in unterschiedlichen westlichen Publizistika abgedruckt. Vgl. White, 1974.

„Bakou est généralement consideré ...“ hatte, ließ er die drei Attrappen das Öl schnuppern, das sie so gerne aus Baku erhalten hatten. Dann warf er das Benzin in ihre Gesichter, und sie begannen zu brennen. Die Brieftasche von Lloyd George war voll unbrennbaren Materials; sie fiel unter dem Gelächter der Menge zu Boden.“7

Enver Pascha, der ehemalige Kriegsminister des Osmanischen Reiches, der nach 1918 aus dem deutschen Exil heraus eine Zusammenarbeit mit den Bolschewiki anstrebte, um den Kampf gegen Großbritannien fortzusetzen, hatte die Gelegenheit, diesen Kongress zu besuchen, nicht ungenutzt gelassen. Er war zwar nicht zu den eigentlichen Verhandlungen zugelassen worden; lediglich das Verlesen einer Botschaft war ihm zugestanden worden. Er hielt sich jedoch mit einigen Mitarbeitern vor Ort auf und suchte Anlässe, den Kongress für seine eigenen Ziele zu nutzen. Die Demonstration am Freitag verfolgte er auf einem Pferd am Rande, offenbar mit Erfolg; der französische Kommunist Alfred Rosmer schrieb später: „Enver glaubte, das ausnutzen zu können, indem er sich als den Helden der Demonstration darstellte. Zu Pferde auf eine kleine Anhöhe geklettert, die an der Ecke des Platzes lag, wo der Zug wenden musste, zog er Zurufe und sogar Beifall auf sich.“8 Selbst Grigorij Zinov’ev musste auf dem Parteitag der USPD in Halle im Oktober 1920 zugeben: „In Baku war der Einfluss eines Enver bei einem Teil der mohammedanischen Bevölkerung so groß, dass man ihm in den Straßen Hände und Füße küsste.“9 Doch auch die kommunistische Propaganda zog aus dem Geschehen ihren Profit. So war die Frauenfrage eines der beherrschenden Themen des Kongresses. Die Öffentlichkeit dieses Kongresses, an dem 55 Frauen teilnahmen, bewies zugleich, dass Frauen und Öffentlichkeit, Frauen und Politik keine getrennten Sphären mehr waren. Mehr noch: „Ich erinnere mich, welch gewaltigen Eindruck auf die Kongressteilnehmer eine Gruppe einheimischer Frauen machte, die den Schleier noch nicht abgelegt hatten, aber bereits in den Reihen der Demonstranten marschierten und sich an allen Beratungen des Kongresses beteiligten.“10 Was sich kaum verhindern ließ und was jedenfalls im Erscheinungsbild sicher auch gewollt war, war eine gewisse orientalische Exotik. Ein Beobach7 8 9

Aus der Zeitung „Kommunist“ (Baku). Zit. nach ter Minassian, 2014, S. 131. Rosmer, 1989, S. 92. Sinowjew, 1920, S. 33. Zu ergänzen wäre, dass offenbar auch Velimir Chlebnikov von Enver beeindruckt war; jedenfalls figuriert er in Gedichten jener Zeit. Vgl. Hacker, 2006. 10 Stassowa, 1979. 235

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ter beschrieb den Kongress als „eigenartige Versammlung, alle heiß und eifrig. Es war weniger eine Versammlung als vielmehr ein bunt zusammengewürfeltes Konglomerat von Leuten.“11 Auch Rosmer war beeindruckt: „Der Saal war außerordentlich malerisch; alle orientalischen Kostüme, die hier versammelt waren, zeichneten ein Bild von erstaunlicher und reicher Farbenfreudigkeit.“12 Zuweilen schlug diese Exotik jedoch auf eine Art und Weise um, die den Organisatoren nicht wirklich recht war. So berichtete Elena Stasova: „Unter den Delegierten waren Khane und Beis, die die Fahrt nach Baku zu verschiedenen Handelsgeschäften nutzen wollten: für den Verkauf von Teppichen, Ledererzeugnissen usw. Die Spekulation war offenkundig, und einige der Delegierten hätte man sofort entfernen müssen, doch damit hätte man, da sie Delegierte des Kongresses waren, den Kongress selbst diffamiert.“13

Ein zentrales symbolisches Motiv des Kongresses war der entstehende Kult der 26 Kommissare. Der erste Jahrestag der Ermordung der Kommissare 1919 kollidierte mit der Erinnerung an die Märzereignisse von 1918 und hatte in der Demokratischen Republik nicht öffentlich gefeiert werden können.14 Die Rücküberführung der Leichname der Kommissare im Rahmen des Kongresses der Völker des Orients wurde symbolisch daher neu eingerahmt: Betont wurde nicht so sehr der kommunistische als vielmehr der polyethnische Charakter dieses Rates von Volkskommissaren. Gedacht wurde vor allem des armenischen Kommunisten Stepan Šaumjan, des Georgiers Prokopius Džaparidze, des Aserbaidschaner Mešadi Azizbekov und des Russen Ivan Fioletov. In einer regelrechten Prozession waren die menschlichen Überreste der Kommissare in Leichenwagen mit revolutionären Slogans von Aschchabad über Krasnovodsk zurück nach Baku gebracht worden; dort wurden sie während des Ersten Kongresses der Völker des Ostens feierlich erneut beigesetzt. Der Platz 11 Shaukat Usmani, From Peshawar to Moscow (Benares, 1927). Zit. nach White, 1974, S. 507. Anders als Shaukat Usmani schätzte der indische Kommunist Manabendra Nath Roy den Kongress eher gering ein: „Ich widersetzte mich hartnäckig dem Plan das Baku-Kongresses, den ich als übermütige Verschwendung von Zeit, Energie und materiellen Ressourcen in leichtsinniger Agitation einschätzte, und ging so weit, ihn ‚Zinov’evs Zirkus‘ zu nennen.“ (Roy, 1964, S. 392.) Er sprach von einer pittoresken Kavalkade. 12 Rosmer, 1989, S. 90. 13 Stassowa, 1979, S. 188. 14 Vgl. hierzu und zum Folgenden Smith, 2001. 236

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der Freiheit war zu diesem Zweck mit schwarzen Tüchern abgehangen worden. Es war Nariman Narimanov15 selbst, der diese zeremonielle Handlung mit Bedeutung auflud: „Heute bringen wir die Besten unter uns ins sowjetische Aserbaidschan zurück, unsere teuren Kameraden, die der revolutionären Mission bis zum Ende treu geblieben sind. Diese unbeugsamen und aufrechten Helden wurden durch die Hand Englands zerstört, jenes Englands, das immer von Humanität spricht. Dies ist das Ergebnis dieser Humanität: 26 Gräber. Hier kann der Osten deutlich sehen, aus was diese Humanität beschaffen ist. Möge der Osten daraus lernen! Aber die Stunde der Strafe ist gekommen. Gestern hat der Osten, auf unserem Kongress vereint, geschworen, seine Kräfte zu bündeln, um diese Weltverschwörer zu überwinden, und bald wird der geplünderte Osten erwachen und das Joch von seinen Schultern abwerfen.“16

Zugleich konnte der Kongress kaum zur Klärung der eigentlich interessierenden theoretischen und praktischen Fragen der Revolutionierung des „Orients“ beitragen. Dazu trugen Übersetzungsprobleme zwischen den Delegierten aus vielen Dutzend Ländern genauso bei wie der fehlende gemeinsame Sozialisationshintergrund. Ein Beobachter notierte: „Von den zahlreichen Reden wurde nicht die geringste Notiz genommen, da die Delegierten viel mehr gegenseitig an den Schwertern und Revolvern der anderen interessiert waren. Während der Sitz­ ungen gab es ein ständiges Kommen und Gehen, und die Beratungen wurden immer wieder für das ‚namaz‘ [turksprachig für das rituelle Gebet Salāt] oder andere Gebete unterbrochen.”17

15 Nariman Narimanov war schon 1905 der muslimisch-sozialdemokratischen Partei Hümmət und der Russischen Sozialdemokratie beigetreten. Nach dem Sturz der Kommune von Baku hatte er im Moskauer Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten gearbeitet. Er war der erste Ministerpräsident der Sozialistischen Sowjetrepublik Aserbaidschan und gilt als Vertreter weit reichender nationaler Autonomien. 16 Zit. nach ter Minassian, 2014, S. 130. Vgl. auch Rosmer, 1989, S. 90f. 17 Public Record Office, FO 371/5178 (E13412/345/44). Zit. nach Yilmaz, 1999, S. 50. Natürlich äußert sich hier auch die Überheblichkeit des augenscheinlich britischen Beobachters. Wichtiger als die Reden selbst war wahrscheinlich der Umstand, dass zum ersten Mal nicht nur erfahrene Kommunisten wie Zinov’ev, sondern auch Delegierte aus dem „Orient“ sprachen. 237

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In medialer Hinsicht nutzten die Bolschewiki den Kongress sehr intensiv: Der Erste Kongress der Völker des Ostens war „eines der meist fotografierten und veröffentlichten Ereignisse der Bürgerkriegszeit“.18 Azerkino, die aserbaidschanische Filmbehörde, hatte bereits ein wenig Erfahrung mit dokumentarischem Filmen gemacht und drehte nun auch von diesem Kongress einen Dokumentarfilm. Herbert George Wells kommentierte ihn mit den Worten: Ich sah nicht nur einen fünfteiligen Film dieses bemerkenswerten Festivals, als ich den Petersburger Rat besuchte, sondern brachte den Film dank Zorin auch mit mir zurück. Er muss mit Vorsicht gehandhabt und darf nur Erwachsenen gezeigt werden. Er enthält Teile, die Mr. Gwynne von der Morning Post oder Mr. Rudyard Kipling im Schlaf schreien lassen würden.”19

Der Kongress der Völker des Ostens hatte Baku als Sprungbrett einer „Weltrevolution über die Revolutionierung des Orients“ inszeniert. Der revolutionäre Impuls, den die junge Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik über die eigenen Grenzen hinaus in die koloniale Welt tragen wollte, erlahmte jedoch schon kurz nach dem Kongress. Im März 1921 wurde eine sowjetisch-britische Handelsvereinbarung abgeschlossen, die einer anti-britischen Politik zuwiderlief. Auf Grund der internationalen Entwicklungen blieb dieser gigantische Kongress eine Episode; er entfaltete kaum unmittelbare Wirkungen.20 Schon von Zeitgenossen wurde er als Intermezzo aufgefasst. So schrieb H.G. Wells 1920: „Es war eine Art Reisegesellschaft, ein Festumzug, ein Beano [ein Festmahl; bean-feast]21 Und Narimanov erklärte später kritisch: „Wir wollten den

18 Smith, 1997, S. 649. 19 Wells, 1921, S. 97. Vgl. dazu auch Smith, 1997, v. a. S. 650. Der auf Youtube einsehbare Film (https://youtu.be/VEAFlK8n-5I, 04.08.2015) mit insgesamt 0:47 min. Sendezeit stellt wohl einen Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm dar. 20 In der Forschung ist bisher jedoch nicht danach gefragt worden, inwiefern dieser Kongress – und ggf. auch der osmanische Dschihad von 1914 – zu dem beigetragen haben, was Erez Manela den Wilsonian Moment genannt hat: Manela., 2007. Hier gibt es m. E. noch Forschungspotential. Dass etwa Enver Pascha Kontakte zu sowjetischen Nationalkommunisten wie Mirsaid Sultan-Galiev knüpfte, gehört in diesen Zusammenhang. 21 Wells, 1921, S. 99. The Beano war eine seit 1938 erscheinende Comic-Zeitschrift. 238

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Vertretern des Ostens zeigen, wie schön wir reden können, und wie lange wir das können … und nichts weiter.“22

Erster Allunionskongress für Turkologie, Frühjahr 1926 Die Hauptverwaltung der aserbaidschanischen Akademie der Wissenschaften logiert heute in einem Gebäude, das schon beim ersten Anblick Eindruck macht: Den Ismailija-Palast ließ der Millionär Musa Nagiev im Andenken an seinen verstorbenen Sohn Ismayil zwischen 1908 und 1913 an der Nikolaevskaja (heute Istiglaliyyat – damals und heute eine der wichtigsten Straßen der Stadt) bauen. Nagiev hatte diesen Palast der Muslimischen Wohltätigkeitsgesellschaft zur Verfügung gestellt: „Es war der große Mäzen Hajji Taghiyev, der seinen Freund, den Ölbaron Agha Musa Naghiyev, dazu überredete, in Erinnerung an dessen einzigen Sohn Ismail, der an Tuberkulose gestorben war, einen Palast bauen zu lassen. Dort sollte ein muslimischer Wohltätigkeitsverband residieren. Neben der von Taghiyev zuvor gestifteten Mädchenschule entstand in sechs Jahren der Ismailiya-Palast, eines der schönsten Gebäude der Stadt. Der aus Polen stammende Architekt Josef Ploschko hatte sich den Palazzo Contarini in Venedig als Vorlage genommen und orientalische Bautraditionen mit europäischen Stilelementen kombiniert. […] 1918 wurde das imposante Gebäude von armenischen Revolutionären und russischen Bolschewiken angezündet.“23

1920 hatte dieser Palast für den Kongress der Völker des Ostens nicht zur Verfügung gestanden.24 Erst 1923 war der Palast wieder aufgebaut worden.

22 Narimanov, Nariman [1923]. Zit. nach: Rustamova-Sohidi, 1996, S. 80. Hier äußert sich selbstverständlich auch Kritik Narimanovs, der Einiges am Kongress nicht wirklich goutierte. Andere Kommunisten hatten den Kongress deutlich ernster genommen, etwa der Orientalist Michail Pavlovič. Vgl. dazu Kemper, 2010. 23 Johenning, 2016. Ich danke der Autorin herzlich für die Möglichkeit, aus diesem bisher nicht veröffentlichen Band zu zitieren, und Elnura Jivazada für die Vermittlung. 24 Fotos des abgebrannten Palastes findet man u. a. bei Rustamova-Tohidi, 2012, S. 44-46. 239

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Abb. 2: Der Ismailija-Palast in Baku

Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Isamailliya_baku.JPG, 11.09.2015, gemeinfrei

Im Gegensatz zum Kongress der Völker des Ostens, der der Revolutionierung der Welt über die Befreiung der kolonial unterdrückten Völker dienen sollte, hatte der Erste Turkologische Allunionskongress, der im Frühjahr 1926 hier abgehalten wurde, keine grenzüberschreitenden Ambitionen. Dem Wandel sowjetischer Paradigmen folgend, zielte er vielmehr auf eine kulturelle Fortentwicklung der nationalen Minderheiten und der Völker innerhalb der Sowjetunion: „Der geplante Kongress war, wie nicht scharf genug betont werden kann, ein rein russischer Kongress, eine Tagung der Vertreter aller Turkstämme des Rätebundes, unter Zuziehung einer Anzahl russischer und ausländischer Gelehrter als Sachverständige.“25 Der Ansatzpunkt hierfür war ein Austausch über die türkischen Sprachen und Schriften (insbesondere über die Alphabete) der Sowjetunion. Dabei war es nicht Moskau, von dem die Initiative ausging, sondern Aserbaidschan, das über den Kongress und die Alphabetfrage auch eine Führungsrolle in der turksprachigen und muslimischen Welt der Sowjetunion anstrebte.26

25 Menzel, 1927, S. 13. 26 Ausführlicher zum Kongress und den politischen Auseinandersetzungen Frings, 2005; Ders., 2007; Ders., 2009. 240

„Bakou est généralement consideré ...“

Natürlich hatte gerade die Alphabetfrage grenzüberschreitende Implikationen. Die Frage, ob man die sowjetischen Turksprachen eher in einem reformierten arabischen oder einem lateinischen Alphabet schreiben sollte, wurde in ähnlicher Form in der Republik Türkei ja auch für das Türkische diskutiert. Entscheidend war jedoch etwas anderes: Der Kongress 1920 hatte das Ziel gehabt, die Revolution über die Grenzen der schon sowjetischen Welt hinauszutragen. Dem Kongress 1926 fehlte ein solcher missionarischer Impuls. Ob das Türkeitürkische nun ebenfalls auf ein lateinisches Alphabet umgestellt werden würde, wurde weder in der Kongressöffentlichkeit noch in den Sitzungen der kommunistischen Fraktion ernsthaft diskutiert. Es ging ausschließlich um eine innersowjetische Verständigung. Optisch war der Kongress nicht mit dem bunten Geschehen sechs Jahre zuvor vergleichbar. Obwohl der deutsche Teilnehmer Paul Wittek „die reiche Schau über das aus diesem Anlass zusammengebrachte Material – alles Früchte des allenthalben im türkischen Bereich erwachten Interesses am eigenen Volkstum“27 hervorhob, ging es nicht darum, ein Bild des exotischen Orients aufzubauen. Insbesondere der deutsche Turkologe Theodor Menzel verwahrte sich gegen eine Deutung des Kongresses „als eine Art Hagenbeckscher Völkerschau“28. Hatte also der Kongress der Völker des Ostens noch durchaus explizit den Orient inszeniert und hierfür auch symbolische Ausdrucksformen gefunden, war die Atmosphäre 1926 in dieser Hinsicht nüchterner: „Der Anblick des Kongresses bot wenig Orientalisches und musste den enttäuschen, der ein Bild der malerischen zentralasiatischen Trachten erwartet hatte. Ist doch Baku selbst, seinem Äußeren nach, nur sehr bedingt als orientalische Stadt anzusprechen, außer der alten Stadt in der Festung und den malerischen Ruinen. […] Nur einige Festlichkeiten boten Anlass, orientalisches Leben zu zeigen, und über die Schlusssitzung goss die Zeremonie der Verleihung von Ehrengewändern einen echt orientalischen Schimmer aus.“29

Medial wurde ähnlich aufwändig gearbeitet wie 1920: Es gab Filmaufnahmen mit einer Vorführung zu Ende des Kongresses30, und es gab ein großes Bankett 27 28 29 30

Wittek, 1926, S. 1. Menzel, 1927, S. 2. Menzel, 1927, S. 29. Zu Filmaufnahmen vgl. die entsprechenden dokumentarischen Filme auf Youtube: www.youtube.com/watch?v=6iTDyjSdULw, 04.08.2015; sowie identisch: https:// youtu.be/6iTDyjSdULw. 241

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im Foyer des Aserbaidschanischen Operngebäudes, einen Dagestaner Abend im Operntheater und einen aserbaidschanischen Abend im Pädagogischen Institut. Technisch inszenierte sich die Sowjetunion hier sehr modern: „Es fehlte keine technische Errungenschaft, die zur Popularisierung des Kongresses beitragen konnte, wie es ja bei der großen Kongress-Praxis des Sowjet-Bundes nicht anders zu erwarten war: Eine Lautsprecheinrichtung übermittelte vom Redepult und dem Präsidentensitz aus alle Reden den auf dem Sabir-Platz […] den Verhandlungen folgenden Neugierigen. Es wurde andauernd gefilmt und photographiert, wie ja die technischen Neuerungen im Rätebund jetzt überall die breiteste Anwendung finden.“31

Damit wurde auch der wissenschaftliche Charakter dieses zutiefst politischen Kongresses unterstrichen, der etwa auch in der Ausstellung der verschiedenen historischen Alphabete der Turksprachen32 sowie in der Ausstellung zum turksprachigen Buchdruck zum Ausdruck kam. Um diesen Fokus auf Bildung und Fortschritt zu betonen, wurde ein Gebäude gewählt, das für muslimische Wohltätigkeitsaktivitäten und eine auch visuell markante Betonung von Bildung bekannt war. Der Ismailija trug ursprünglich einen Aufruf zur muslimischen Bildungsarbeit in goldenen Buchstaben auf der Fassade. Dort hieß es u. a.: „Von der Geburt bis zum Tod soll der Mensch lernen! Muslime! Eure Zeit geht mit Euch zu Ende, bereitet Eure Kinder auf eine neue Zeit vor!“ Im Wiederaufbau waren diese Inschriften zwar entfernt und durch (nicht allzu plakative) rote Sowjetsterne ersetzt worden. Die Zweckbestimmung des Gebäudes war jedoch noch präsent. Auch auf Theodor Menzel machte der Bau Eindruck: „Die Sitzungen fanden in dem großen Saale der Ismailije statt, jetzt ‚Palast der türkischen Wissenschaft‘ genannt, eines prächtigen […] Gebäudes, das während des Bürgerkrieges durch die Armenier eingeäschert und erst vor kurzem mit großer Pracht wiederhergestellt worden ist und das wohl im Augenblick seinesgleichen bei den anderen Türkvölkern kaum haben dürfte. […] Im großen Sitzungssaal waren die Tische mit rotem Atlas bespannt. Die Embleme: Hammer und die als Halbmond stilisierte Sichel (der Halbmond

31 Menzel, 1927, S. 24. 32 Vgl. O. V., Putevoditel’, 1926. 242

„Bakou est généralement consideré ...“ mit Stern ist auch das Wappen von Azerbajdschan [sic]) fehlten so wenig, wie Lenins Portrait.“33

Mit dem Kongress der Völker des Ostens teilte der Turkologische Kongress den gezielten Einsatz symbolischer und medialer Mittel wie auch den Charakter eines Massenkongresses (einen turkologischen Kongress von dieser Größe hatte es bis dahin nicht gegeben). Und beide endeten nicht, wie intendiert, mit einem Baku als neuem Zentrum eines je unterschiedlich imaginierten Orients. Obwohl das lateinisch-aserbaidschanische Alphabet aus dem Kongress als Sieger hervorging, gelang es Baku nicht, daraus eine kulturelle Führungsrolle für den „sowjetischen Orient“ zu entwickeln.

Fazit Das Bild, das die Sowjetunion selbst in den 1920er Jahren in Baku inszenieren wollte, war eines der antikolonialen Bemühungen des internationalen Sozialismus. Es sollte zugleich die Leistungsfähigkeit des Sozialismus an einer zentralen Schnittstelle zwischen der entstehenden Sowjetunion und den Ländern des kolonial unterdrückten „Ostens“ bzw. den „orientalischen“ Republiken der Sowjetunion demonstrieren. Insofern war es nicht verwunderlich, dass Besuchern nicht so sehr die Schwarze Stadt oder Balachany gezeigt wurden, die für die frühe revolutionäre Erinnerungsliteratur noch eine zentrale Rolle spielten.34 Die kurze Zeitspanne, in der der Sozialismus noch auf eine epidemische Ausbreitung hoffen mochte, hat in der Stadtgeschichte Bakus – also in einer Stadt, die für diese Ausbreitung eine wichtige Rolle spielen sollte – kaum Spuren hinterlassen. Es sind zwei Gründe, die hierfür ausschlaggeben sein dürften. Zum einen hat der im Auflösungsprozess der UdSSR ausgebrochene armenisch-aserbaidschanische Krieg einen Nationalisierungsschub ausgelöst. Dies bewirkte auch eine Aufwertung der Aserbaidschanischen Demokratischen Republik, der ersten demokratischen Staatsform auf aserbaidschanischem Boden, 33 Menzel, 1927, S. 23f. 34 Vgl. etwa Broido, 1931, S. 120: „Endlich kam ich nach Baku. Ich hatte eine Adresse in Balachany und begab mich gleich dorthin. Zum ersten Male in meinem Leben kam ich in einen Mittelpunkt von Arbeit und Ruß. Ich dachte mir, dass der Weg zur Hölle der Straße gleichen müsse, die ich fuhr.“ Eine weniger ideologisch geprägte Beschreibung Bakus aus dieser Zeit, die ebenfalls die Kontraste im städtischen Erscheinungsbild thematisiert, findet sich bei Ross, 1924, S. 69-86. 243

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die im Mai 1918 gegründet worden war und als deren Rechtsnachfolger sich die heutige Republik Aserbaidschan (die man wohl eher als erbdemokratisch einstufen muss) betrachtet. Hinzu kam die Betonung einer anderen Lesart der Stadtgeschichte: der Bezug der Stadt zum Erdöl. Das wird an der Inszenierung der im Stadtbild zentralen repräsentativen Häuser ehemaliger Ölbarone oder an der architektonischen Stilblüte der Flame Towers deutlich.35 Auffällig ist das auch deshalb, weil sowohl Opernhaus als auch Ismailija für eine andere – und durchaus positive – Lesart der Bakuer Moderne stehen könnten. Nach der Revolution beherbergte der Ismailija die Gesellschaft für Landeskunde Aserbaidschans, die Archäologische Kommission, die Gesellschaft für türkische Kultur und die Handschriftensammlung sowie gegenwärtig das Präsidium der Akademie der Wissenschaften. Das Opernhaus hingegen konnte schon in den 1920er Jahren auf eine lange aserbaidschanische Tradition im Drama (z. B. Mirza Fatali Achundov) verweisen. Baku nutzt die Chance, an diese Lesart anzuknüpfen, die zugegebenermaßen einige sowjetische Facetten mit einkaufen würde, bisher nicht. Im Gegenteil: Baku hat sich nach 1991 der nicht-aserbaidschanischen Elemente der städtischen Erinnerungskultur Schritt für Schritt entledigt.36 Als John Reed im Herbst 1920 auf dem Kongress der Völker des Ostens die Zuhörer fragte: „Wisst Ihr nicht, wie sich Baku auf amerikanisch ausspricht?“, beantwortete er sich die Frage selbst: „Es lautet oil!“37 An diese Tradition knüpft Baku heute wieder an.

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35 Ein popkulturelles Beispiel für die Wirkmächtigkeit des Baku-Öl-Topos ist der James-Bond-Film „The World Is Not Enough“, der u. a. am Rande von Baku in Bibiheybət gedreht wurde; es gibt Szenen in der Nacht mit brennenden Feuern, und man sieht (wenn auch nachgestellt) die berühmten Offshore-Felder von Neft Daşları, die man im Original auch im Dokumentarfilm „Am Rande der Zeit. Männerwelten im Kaukasus“ von Stefan Tolz sehen kann. Vgl. dazu auch den Beitrag von Elnura Jivazada in diesem Band. 36 Vgl. Kreiser, 2009. 37 Anekdote bei Rosmer, 1989, S. 90. 244

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Multikulturalität im urbanen Raum

Auf dem Weg zum Tor der Morgenröte



Eine Geschichte konfessioneller Verflechtung auf 260 Metern Martin-Paul Buchholz Wer als Besucher in Vilnius seinen Stadtrundgang in der Mitte der Altstadt an der St. Stanislaus-Kathedrale beginnt und sich dann über eine der Hauptachsen des mittelalterlichen Straßennetzes der Altstadt nach Süden über die Pilies gatve und die Didžioji gatve am Rathaus vorbei bewegt, wird nach einiger Zeit auf die Aušros Vartų gatvė (auf Deutsch: Straße des Tores der Morgenröte) stoßen, den letzten Straßenabschnitt vor dem letzten noch erhaltenden Stadttor, dem er seinen Namen verdankt. Über diesen schrieb der litauische Dichter Tomas Venclova: „Die kleine Straße, die zum Tor führt, gilt als Kirche unter freiem Himmel, das Schiff ist das Pflaster, das Dach der Himmel und die Sterne.“1 Die Sakralarchitektur in der Aušros Vartų gatvė vor dem Stadttor beherbergt heute die katholische, die orthodoxe und die griechisch-katholische Kirche. Kommt man vom Stadtzentrum aus, passiert man rechterhand ein barockes Hofportal hinter welchem sich die Basilianerkirche der Heiligen Dreifaltigkeit nebst einem dazugehörigen Klosterkomplex befindet. Wenige Meter weiter auf der linken Seite passiert man den Eingang zum orthodoxen Kloster und der orthodoxen Heilig Geist-Kirche und direkt anschließend an das orthodoxe Klostergelände folgt der Klosterkomplex der Karmeliterinnen mit der Theresienkirche. Das Tor der Morgenröte bildet den Abschluss der Altstadt, gekrönt mit dem Bild der Heiligen Madonna, welches sich in einer Kapelle oberhalb des Tores befindet und den wichtigsten Wallfahrtsort der Stadt bildet. Das Tor der Morgenröte selbst stellt einen Kulminationspunkt interkonfessioneller Verehrung dar. Der Straßenabschnitt ist gerade einmal 260 Meter lang. Im polnischen ist sie als ulica Ostrobramska ebenfalls nach dem Stadttor benannt, welches auch als 1

Venclova, 2006, S. 88. 249

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spitzes Tor bezeichnet wird. Die Straße, die durch das Tor verläuft, führt nach Osten in Richtung Minsk. Damit liegt der Ort an der Peripherie der Altstadt und hier bildeten sich erst spät Prozesse einer Monumentalisierung heraus. Was an diesem Altstadtabschnitt besonders erscheint, ist nicht nur das konfessionelle Nebeneinander, eine durch den Stil des Barock sakralarchitektonische Einheit von versöhnter konfessioneller Verschiedenheit, sondern eine konfessionelle Verflechtung, womit hier im Folgenden ein Prozess gemeint ist, der auf die konfessionellen Wechselbeziehungen im Laufe der letzten Jahrhunderte abzielt. Die Sakralbauten der Aušros Vartų gatvė erzählen eine Geschichte der konfessionellen Verflechtung dreier Konfessionen, der Orthodoxie, der griechisch-katholischen Kirche und des Katholizismus, die noch durch eine proAbb. 1: Die Nordseite des Morgenröte-Tors, beschriftet mit Kaplica Ostrobramska (Kapelle des Morgenröte-Tors)

Abb. 2: Die Nordseite des Tores der Morgenröte mit Kapelle heute

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1 Samuel Orgelbrands Encyklopedja Powszechna, Bd. 15. Warszawa 1903, S. 343

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Foto: Martin-Paul Buchholz, 2014

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testantische Komponente bereichert wird. Die konfessionelle Verflechtung ist für den Besucher nicht an der Oberfläche der Stadtarchitektur ersichtlich, sondern verbirgt sich oftmals hinter hohen Mauern. Diese Verflechtung im Kontext konfessioneller und politischer Dynamik exemplarisch anhand eines Altstadtabschnitts kirchen- und konfessionsgeschichtlich freizulegen und aufzuzeigen, wie sich in der Altstadt im Laufe der letzten Jahrhunderte diese Prozesse widerspiegeln ist bereits am vorliegenden Straßenzug möglich. Die Aušros Vartų gatvė gehört zu einer der stadtplanerischen Achsen der Altstadt, welche von der Burg und der Kathedrale nach Süden bis zum Tor der Morgenröte führt und die Stadt topographisch-konfessionell in einen östlichen Teil, der vorwiegend von Orthodoxen bewohnt wurde, und einen westlichen Teil, in welchem die katholische und protestantische Einwohnerschaft dominierte, teilte.2 Die Bebauung der Altstadt von Vilnius war eher willkürlich als geplant. Erst im 16. Jahrhundert begann man unter dem damaligen Großfürsten Sigismund dem Alten (ab 1507 König Sigismund I. von Polen) die Bebauung der Innenstadt zu regeln. Das Jahrhundert war in Vilnius durch rege Bautätigkeit bestimmt. Gleich zu Beginn des 16. Jahrhunderts begann man mit dem Bau einer Stadtbefestigung. Im Jahre 1522 wurde die städtische Wehrmauer vollendet. 1536 befahl Sigismund der Alte Häuser in Reihen zu bauen. Vom Magistrat mussten dazu vorher Karten ausgearbeitet werden.3 Nur Hauptachsen sind früh zu erkennen. Die älteste Stadtansicht aus der Vogelperspektive zeigt Vilnius im Jahre 1567 und befindet sich im Kölner Städtebuch von Georg Braun und Frans Hogenberg von 1581.4 Sie geht zurück auf eine Zeichnung aus der Zeit von 1540-1551.5 In der Mitte der Stadtanlage erkennt man Residenz und Dom, doch sonst ist jegliche Sakralarchitektur unscheinbar bzw. unsichtbar. Eine der städtebaulichen Hauptachsen vom Dom bis zum Tor der Morgenröte ist erkennbar, aber noch ohne sakrale Bebauung, die in der Stadtansicht hervorstechen würde. Karl Schlögel schrieb in einem Aufsatz über Vilnius: „Nur in ganz wenigen Städten gibt es eine solche Aufgipfelung der Frömmigkeit, eine solche Massierung von Orten inbrünstiger Verehrung.“ 6 Die Orte inbrünstiger Verehrung 2 3 4 5 6

Mickūnaitė, 2013, S. 378. Tauber/Tuchtenhagen, 2008, S. 76, 125f. Civitater Orbis Terrarum, Bd. 3 (1581), S. 59, online unter: http://historic-cities. huji.ac.il/lithuania/vilnius/maps/braun_hogenberg_III_59.html, 15.08.2015. Reklaitis, 1995, S. 280. Schlögel, 2001, S. 57. 251

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in Form von Sakralarchitektur bestimmen jedoch erst verhältnismäßig spät den öffentlichen Raum der Stadt. Früh lassen sich hingegen sakrale Orte ausmachen, die mit ersten kleinen Holzkirchen besetzt wurden. Dies lässt sich bereits für das 14. Jahrhundert festmachen, als vor Ort noch das Heidentum vorherrschte. Die sakrale Monumentalisierung, die zu den heute die Altstadt prägenden großen Sakralbauten mit kunstvollen Portalen und kostbaren Innenausstattungen – meistens im Stil des Barock – führte, begann erst viel später.

Zur Religions- und Kirchengeschichte Vilnius’ Die Geschichte des Christentums in Litauen begann mit einer katholischen Taufe. Im Jahre 1253 ließ sich der litauische Fürst Mindaugas7 katholisch taufen. Damals fand die Stadt Vilnius noch keine Erwähnung in Quellen, auch wenn man aufgrund von Ausgrabungen eine frühere Besiedlung nachweisen kann. Mindaugas erhielt vom Papst sogar die Königswürde. Nach seiner Ermordung folgte wieder ein Rückfall zum Heidentum. Das Heidentum begünstigte die ethnisch-kulturelle und damit einhergehend auch die konfessionelle Vielfalt. Im Jahre 1323 wurde die Stadt Vilnius erstmals in Briefen des Großfürsten Gediminas8 erwähnt, der in seinen Schreiben um Fachpersonal warb und diesem Religionsfreiheit zusicherte. Die Multikonfessionalität in Vilnius lässt sich durchgehend nachweisen, gleichzeitig mit Perioden konfessioneller Dominanz der katholischen bzw. der orthodoxen Seite. Zu den historischen Völkern von Vilnius gehörten auch die Ruthenen. Dem orthodoxen Glauben angehörig, bauten sie in ihrer noch heidnischen Umgebung erste orthodoxe Kirchen, welche damals zum Patriarchat von Konstantinopel gehörten.9 Die endgültige Wende Litauens zum Christentum kam erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts. Der Litauische Großfürst Jogaila, 1386 getauft, leitete eine Wende in Osteuropa ein, als er als Władysław II. Jagiełło10 den polnischen Thron bestieg, die Dynastie der Jagiellonen begründete und der katholische Glaube offiziell im ethnischen Litauen eingeführt wurde11 .   7 Mindaugas wurde um 1203 geboren und regierte von 1238 bis zu seinem Tode im Jahre 1263, zuerst als litauischer Fürst und später als Großfürst.   8 Gediminas (* um 1275; † Dezember 1341) ab 1316 Großfürst von Litauen.   9 Venclova, 2006, S. 25. 10 Władysław II. Jagiełło (ca. 1362-1434) war von 1377 bis 1381 und von 1382 bis 1401 Großfürst von Litauen und von 1386 bis zu seinem Tode König von Polen. 11 Langer, 2002, S. 13. 252

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Im Jahre 1387 wurde in Vilnius das katholische Bistum eingerichtet mit Kathedrale. Der orthodoxen Bevölkerung, die die Mehrheit der Untertanen darstellte, wurde die Errichtung einer orthodoxen Metropolie verwehrt. Konfrontation und Koexistenz zwischen Ost- und Westkirche bestimmten die Geschichte des Landes mit. Władysław II. Jagiełło veranlasste noch weitere Einschränkungen wie dem Verbot neue orthodoxe Kirchen zu errichten bzw. alte zu renovieren.12 Sein Vetter Vytautas, der in Vilnius residierte, vertrat eine nicht ganz so strikte Religionspolitik. Zusammen mit seinem Vetter ließ er die heidnische Oberschicht taufen, doch er selbst empfing dreimal die Taufe. Er verbündete sich als Katholik mit den Ordensrittern, trat später zum orthodoxen Glauben über und ließ sich dann noch einmal katholisch taufen.13 Mit religiösen Überzeugungen hatte diese konfessionelle Dynamik nicht viel zu tun. Der konfessionelle Wechsel sollte später zu einem prägenden Element in der Stadtgeschichte für die Sakralbauten in Vilnius werden. In den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts entstanden nicht nur viele katholische, sondern auch viele neue bzw. umgebaute orthodoxe Kirchen. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts waren es zwölf orthodoxe Pfarreien.14 In diesem Jahrhundert änderte sich gleichzeitig die religiöse Landschaft. West- und Mitteleuropa wurde von der Reformation und damit einhergehenden Kriegen zwischen Katholiken und Protestanten erschüttert. Auch Vilnius wurde von der Reformation erreicht, die sogar zeitweise zu einer Hinwendung des Adels zum Protestantismus führte.15 Heftige Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten sind für die Jahre 1611 und 1639 verzeichnet. Insgesamt herrschte jedoch eine „Atmosphäre der Toleranz“ 16. Eine Phase der Intoleranz folgte erst nach dem Siegeszug der Gegenreformation, die von der polnischen Krone forciert und im Zuge derer der Katholizismus zur dominierenden Konfession wurde. Unzählige katholische Kirchen und Klöster entstanden in dieser Zeit. Die Bekenntnisvielfalt blieb hingegen vorerst bestehen. Mit der Union von Lublin war 1569 der Staatenbund Polen-Litauen gegründet worden. Vilnius blieb neben Krakau Regierungssitz, verlor aber politisch an Bedeutung. Der Katholizismus wurde noch einmal bestärkt. Eine gleichberechtigte Religionsfreiheit konnte mit der Warschauer Konföderation von 1573 zumindest für die Angehörigen der Szlachta geschaffen werden. Der 12 13 14 15 16

Ebd. Venclova, 2006, S. 51. Langer, 2002, S. 16. Tauber/Tuchtenhagen, 2008, S. 85-95. Garleff, 2006, S. 124. 253

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Adel konnte daraufhin – zumindest bis zu den Teilungen Polens – „den Bestand der multikonfessionellen Gesellschaft“ garantieren.17 Der Versuch die Lubliner Union auch konfessionell zu festigen gelang nicht. 1595 wurde zu diesem Zweck die Union von Brest beschlossen, die jedoch nur zu einer weiteren Spaltung der Orthodoxie führte. Der neue Zweig der entstanden war, war die unierte bzw. die griechisch-katholische Kirche, welche nun staatlicherseits bevorzugt wurde. Die orthodoxen Kirchen der Stadt wurden geschlossen, viele Klöster der neu gegründeten griechisch-katholischen Kirche übergeben. Erst 1636 erkannte Władysław IV. Wasa die orthodoxe Kirche wieder an.18 Die Spannungen zwischen Protestanten und Katholiken wurden ab der Mitte des 17. Jahrhunderts überlagert. 1655 marschierten Moskauer Truppen durch das Aušros-Tor in die Stadt – mit ihnen Zar Aleksej Michajlovič, der sich von nun an als litauischer Großfürst titulierte.19 Kirchen wurden geplündert und die Vorherrschaft des Katholizismus war gebrochen. Vilnius wurde vom russischen Zaren für sechs Jahre besetzt. Damit endete auch der „gegenreformatorische Schwung“ 20. Für die sakrale Innenausstattung der Kirchen war die Zeit der Besetzung prägend. Nicht nur Schlösser, sondern auch Kirchen wurden von den russischen Truppen besetzt und ausgeraubt, Epitaphe und Altäre zerstört oder stark beschädigt. Die Truppen des Zaren hatten somit keinen geringen Anteil an den neuen Ausstattungen, welche zum größten Teil barocker Prägung waren und die Innenausstattung bis heute stilistisch dominieren.21 Litauen war bis 1795 Teil des polnisch-litauischen Staates, danach folgte die Übernahme des Großfürstentums Litauens in das russische Staatsgebiet. Bis 1912 residierte in Vilnius der Generalgouverneur und die Stadt war Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements. Als eines der ersten Handlungen der neuen Verwaltung wurden die Stadtmauern geschliffen. Einzig das Tor der Morgenröte blieb verschont. Obwohl es sich nicht durch architektonischen Wert auszeichnete, war es doch zur Wallfahrtsstätte geworden. Der römisch-katholischen Kirche wurde die Ausübung ihrer Religion zugesagt, die griechisch-katholische Kirche wurde hingegen zurückgedrängt, bis sie im Jahre 1839 ganz im Russländischen Reich verboten wurde. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde der katholischen Dominanz ein jähes Ende bereitet. Klöster wurden aufgelöst und katholische Kirchen in orthodoxe 17 18 19 20 21 254

Langer, 2002, S. 13; Niendorf, 2006, S. 124f. Langer, 2002, S. 18. Venclova, 2006, S. 79f. Tauber/Tuchtenhagen, 2008, S. 101. Reklaitis, 1995, S. 280.

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umgewandelt.22 Anfang des 20. Jahrhunderts war Vilnius somit ein Beispiel für Heteroglossie und Paradoxie: „Lithuania was virtually a Russian colony, governed by Russians, in which Russian was the official language and Russian Orthodoxy the official religion. The majority of the population, however, were either Poles or Lithuanians, who were Roman Catholic by faith and quite hostile to Orthodox Russians.“ 23 Im Ersten Weltkrieg kamen die Deutschen, danach wurde Litauen 1918 erstmals wieder unabhängig. Die staatsrechtliche Zugehörigkeit der Stadt Vilnius blieb zwischen Polen und Litauen in der ganzen Zwischenkriegszeit umstritten. International wurde allerdings 1923 ihre Zugehörigkeit zum polnischen Staat anerkannt, dem die Stadt auch tatsächlich angehörte.24 In den 1920er und 30er Jahren wurden viele Kirchen instand gesetzt, darunter auch die orthodoxe Kirche und das Basilianerkloster. Nach 1944/45, als Litauen Teil der Sowjetunion war, wurden keine Renovierungsmaßnahmen an den Kirchen durchgeführt. Die Theresienkirche und die Heilig Geist-Kirche konnten diese Zeit dennoch fast unbeschadet überstehen. Die Kirche der Heiligen Dreieinigkeit, die inzwischen der katholischen Kirche oblag, hingegen wurde ihrer Bestimmung beraubt und verlor ihre Innenausstattung. Heute ist die Stadt Sitz des Apostolischen Nuntius für die baltischen Staaten, Sitz eines römisch-katholischen Bischofs und eines orthodoxen Erzbischofs. Die Griechisch-Katholische-Kirche erhielt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Kirche der Heiligen Dreieinigkeit zurück.

Die Aušros Vartų gatvė als Symbol der Multikonfessionalität Die genannten politischen Veränderungen bedingten im Laufe der Jahrhunderte auch die konfessionelle Dynamik und Verflechtung, welche ihre Spuren auch in der Aušros Vartų gatvė hinterließ.

22 Dies betrifft die Trinitarierkirche und die Visitantinnenkirche Herz Jesu, die Jesuitenkirchen St. Kasimir und St. Ignatius von Loyola, die Bernhardinerinnenkirche St. Michael, die Augustinerkirche zur hl. Jungfrau Maria der Trösterin und die Dominikanerkirche St. Jakobus und Philippus. Ausführlicher hierzu vgl. Kalamajska-Saeed, 2002, S. 65. 23 Clark/Holquist, 1984, S. 22. 24 Vgl. dazu Conrad, 2014, S. 253-274, 283-285. 255

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Neben dem hl. Kasimir25, dessen Verehrung im Zentrum der Altstadt am Dom verortet werden kann, hat auch die Aušros Vartų gatvė ihre Heiligen und Wallfahrtsorte.26 Einer Legende nach wurden im Jahre 1347 drei orthodoxe Christen an einer Eiche aufgehängt, weil sie sich weigerten, heidnische Kulte zu praktizieren. Es sind die drei heiligen Märtyrer Antonius, Eustachius und Johann.27 Der Feiertag liegt sowohl für die orthodoxe als auch für die katholischen Kirchen am 14. April, welcher als Todestag gilt. Damals befand sich der Ort der Hinrichtung noch außerhalb der Stadt. Der Legende nach wurde an der Stelle ihrer Hinrichtung später eine hölzerne orthodoxe Kirche durch Ul’jana von Tver’ errichtet, dort, wo sich heute die Kirche der Heiligen Dreieinigkeit und das Basilianerkloster befinden. Damit war ein sakraler Ort geschaffen, den sich die Stadt einverleibte. Nachdem die Wehranlagen mit der Stadtmauer keine zweihundert Jahre später fertiggestellt waren, befand sich der Ort innerhalb der Stadt und wurde im Laufe der Jahrhunderte sakral monumentalisiert. Im Jahre 1514 wurde von dem orthodoxen Fürsten Konstanty Ostrožski eine Steinkirche gestiftet, welche die hölzerne ersetzte und in deren Krypta die sterblichen Überreste der drei Märtyrer beigesetzt wurden.28 Erst um die Jahrhundertwende vom 15. auf das 16. Jahrhundert ist dann die Gründung eines Mönchsklosters belegt.29 Eine Gedenktafel an der Kirche der Heiligen Dreieinigkeit erinnert noch heute an das Gründungsereignis: „An der Stelle dieser Kirche in dem hier in der Mitte des 14. Jh.s befindlichen Eichenhain fanden die hll. Märtyrer Litauens, die Wilnaer Wundertäter Antonius, Johannes und Eustathios den Märtyrertod für ihren christlich-orthodoxen Glauben.“ 30 Die Reliquien der drei Märtyrer werden bis heute in Vilnius verehrt, doch befinden sich diese nicht mehr an ihrem ursprünglichen Ort. Nach der Union von Brest wurde die Kirche der Heiligen Dreieinigkeit geschlossen, doch die orthodoxe Bruderschaft erhielt die Erlaubnis eine neue Kirche zu errichten. Das Grundstück, das ihr von zwei Privatpersonen zur Verfügung gestellt wurde und auf dem sie im Jahre 1597 eine 25 Kasimir (1458-1484), Sohn des polnischen Königs Kasimir IV., wurde im frühen 17. Jahrhundert vom Papst zum Schutzpatron von Litauen ernannt. 26 Tauber/Tuchtenhagen, 2008, S. 47f. 27 Auch wenn das ökumenische Heiligenlexikon das Todesjahr von Johannes mit dem Jahr 1342 angibt. Siehe: www.heiligenlexikon.de/BiographienJ/Johannes_ von_Litauen.html, 15.08.2015. Entscheidend ist die Legende. 28 Vitkauskienė, 2002, S. 151. 29 Tauber/Tuchtenhagen, 2008, S. 49. 30 Bild mit Text und Übersetzung unter: http://kodeks.uni-bamberg.de/Lithuania/ ThreeMartyrsPlate.htm, 15.08.2015. 256

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Holzkirche, die orthodoxe Heilig Geist-Kirche errichtete, befand sich auf der anderen Straßenseite gegenüber der Dreifaltigkeitskirche. Im Jahre 1609 wurde das heutige Basilianerkloster und die Dreifaltigkeitskirche der damals noch jungen griechisch-katholischen Kirche übertragen, welche sie bis 1821 nutzen Abb. 3: Das von Johann Christoph Glaubitz entworfene barocke Eingangsportal zum Territorium des Basilianerklosters

Foto: Martin-Paul Buchholz, 2014

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konnte, dann wurde der Basilianerorden gewaltsam aufgelöst und der Komplex wieder der orthodoxen Kirche übertragen.31 Die steinerne Heilig Geist-Kirche, eine dreischiffige Basilika mit Vierungskuppel entstand von 1624 bis 1638 unter westlich katholischem Einfluss aus Rom. Die Kirche erhielt als Grundriss ein lateinisches Kreuz und war architektonisch an der römischen Kirche Il Gesù ausgerichtet, in welcher die Beleuchtung des Inneren und der Kuppel besondere Bedeutung zukam.32 Die drei Apsiden des Chorabschlusses weisen einzig auf eine orthodoxe Kirche hin. Der Bau konnte nur aufgrund der Toleranz des Königs Władysław IV. Wasa in Angriff genommen werden. Die drei Märtyrer bekamen ab dem Jahr 1655, dem Beginn der russischen Besatzung, eine neue Ruhestätte in der Heilig Geist-Kirche.33 1852 wurden die Reliquien feierlich in die Krypta überführt, wo sie bis zum Ersten Weltkrieg aufbewahrt wurden und wohin sie nach einer Evakuierungsphase – man überführte sie zum Schutz vor den Deutschen zwischenzeitlich nach Moskau – 1946 durch einen Sondererlass Stalins auch wieder zu bewundern sind.34 Der Vorgang kann heute als konfessionelle Transformation sakraler Verehrungspraxis bezeichnet werden. Eine konfessionelle Transformation der Heiligenverehrung lässt sich auch am Tor der Morgenröte selbst ausmachen. Das stellt mit seiner Kapelle und dem Bildnis der Mutter Gottes einen interkonfessionellen Kulminationspunkt der Straße dar, bzw. den Ort interkonfessioneller Verehrung. Die Ikone der heiligen Mutter Gottes verband und verbindet noch heute Katholiken und Orthodoxe. Das Tor der Morgenröte ist zugleich Endpunkt der Altstadt und Fluchtpunkt der Frömmigkeitspraxis der drei Konfessionen der Aušros Vartų gatvė. Die Bildnisbzw. Heiligenverehrung ist hier ökumenische Praxis. Dem Tor der Morgenröte und der Schwarzen Madonna von Vilnius kommt daher aus religiöser Sicht besondere Bedeutung zu. Das einigende Element ist der Marienkult. Die heilige Jungfrau ist sowohl Schutzpatronin der Litauer als auch der Weißrussen. Ihr Bildnis im Tor der Morgenröte stellt für polnische Katholiken einen der wichtigsten Pilgerorte dar. Die Verehrungspraxis setzt jedoch auch hier nicht gleich mit der Errichtung des Tores ein. Wann das Bildnis erstmal am Tor erschien, ist nicht bekannt. Anfangs hing es in einer Tornische, die erste Kapelle für das Bildnis wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts errichtet und erst im 31 Vitkauskienė, 2002, S. 150; Tauber/Tuchtenhagen, 2008, S. 103. 32 Vitkauskienė, 2002, S. 187. 33 www.vilnius.skynet.lt/hramy20.html, 15.08.2015. Die genauen Details der Überführung sind nicht überliefert. 34 Vitkauskienė, 2002, S. 188. 258

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Abb. 4: Die Heilig Geist-Kirche

Foto: Benjamin Conrad, 2009

18. Jahrhundert lässt sich eine „gewisse Professionalisierung der Marienverehrung“ 35 ausmachen. Einen Höhepunkt für die Katholiken und die Verehrung der Madonna stellte die Krönung des Marienbildes durch eine päpstlichen Anordnung Pius’ XI. im Jahre 1927 dar.36 Die Geschichte der katholischen Theresienkirche begann ebenfalls erst im 17. Jahrhundert. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erhielten die Barfüßigen Karmeliterinnen ein Kloster an der Stadtmauer unmittelbar neben dem orthodoxen Kloster und der Heilig Geist-Kirche. 1627 wurde auf dem Klosterterritorium eine hölzerne Kirche errichtet. Ein steinerner Kirchenbau – eine dreischiffige Basilika – wie ihre orthodoxe Nachbarkirche entstand erst zwischen den Jahren 1633 und 1654.37 1654 wurde die Kirche der hl. Theresia von Ávila geweiht, ein Jahr bevor der Katholizismus durch den Einmarsch der russischen Truppen eine Niederlage erfuhr. 1844 wurde das Kloster geschlossen und den orthodoxen Mönchen des benachbarten Heilig Geist-Klosters übergeben. Ein architektonischer Einschnitt in der Sakralarchitektur, der das Stadtbild nachhaltig geprägt hat, ist der Siegeszug des Barock. Einhergehend mit der 35 Schulze Wessel/Götz/Makhotina, 2010, S. 138. 36 Mickūnaitė, 2013, S. 381. 37 Siehe hierzu: www.ausrosvartai.lt/index.php?option=com_content&task=view &id=232&Itemid=242, 15.08.2015, und www.vilnius.skynet.lt/hramy15.html, 15.08.2015. 259

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Gegenreformation hielt er durch die Jesuiten Einzug und wurde dominierend im Stadtbild durch die Dominanz in der äußeren Form der Sakralarchitektur; gleichzeitig eroberte er die Kircheninnenräume. Der Barock ist jedoch weniger einer konfessionellen Dominanz geschuldet als vielmehr dem westeuropäischen Architekturdiskurs der Zeit. Abb. 5: Blick auf die Theresienkirche, dahinter rechts das Tor der Morgenröte, ganz links der Eingang zur Heilig-Geist-Kirche

Foto: Benjamin Conrad, 2009

Die Gegenreformation führte dazu, dass viele litauische Adelsfamilien sich im 17. Jahrhundert wieder der katholischen Kirche zuwandten und zahlreiche neue Klöster bauen ließen. Selbst die Innenausstattung der Kirchen weist die charakteristischen Merkmale typischer mitteleuropäischer Kunst auf. Der architektonisch westlich geprägte Stil des Barock wurde zur multikonfessionellen Herausforderung seiner Architekten. Der aus Schlesien stammende und in Böhmen ausgebildete Baumeister Johann Christoph Glaubitz (1700-1767) wurde zum Hauptarchitekten des Vilniuser Barock. Glaubitz kam um 1737 nach dem großen Stadtbrand nach Vilnius. Er war Protestant und gehörte zum Vorstand der lutherischen Gemeinde, von der er seinen ersten Auftrag erhielt, die evangelisch lutherische Kirche neu zu bauen.38 Glaubitz baute nicht nur für seine Konfessi-

38 Reklaitis, 1995, S. 281. 260

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on. Auch die Synagoge bekam von ihm eine neue Fassade und er erhielt ebenso von katholischen Orden, der griechisch-katholischen und der orthodoxen Kirche Aufträge.39 Er erneuerte ältere Bauten und modernisierte vorhandenes, indem er es barockisierte. Obwohl er letztendlich keine Kirchen neu erbaute, prägte er durch die Fülle seiner Aufträge das Stadtbild von Vilnius und insbesondere den Straßenabschnitt vor dem Tor der Morgenröte. Das markanteste Objekt und zugleich bedeutendes Denkmal des Spätbarocks ist der Torbogen, der zum Klosterkomplex des Basilianerklosters führt (Abb. 3). Eingeengt zwischen Häuserfronten lässt er durch eine dreigeschossige Vorderseite mit kunstvollen Gesimsen und dem Giebelrelief der Heiligen Dreifaltigkeit auf die Sakralbauten im Innenhof schließen. Die bewegte Umriss- und Oberflächengestaltung waren ebenso charakteristisch für die Architektur des Spätbarocks in Vilnius wie die gezackten Bogen. Wahrscheinlich gab es früher über dem Tor eine Kapelle, ähnlich wie über dem Stadttor.40 Auf dem gegenüberliegenden Territorium lässt sich sein Wirken auch in der orthodoxen Kirche ablesen. Die orthodoxe Heilig-Geist-Kirche war nach einem Stadtbrand 1749 stark beschädigt worden. Glaubitz wurde beauftragt, Entwürfe für die Innenausstattung zu fertigen. Die Ikonostase, die er im barocken Stil entwarf und welche mit vielen Säulen und einem viergeschossigen sich nach oben verjüngendem Aufbau die Kirchenfassade imitiert, weicht vom traditionellen Schema der orthodoxen Ikonostasen ab.41 Die Latinisierung der orthodoxen Kirche, die schon beim Grundriss ansetzt, setzte sich somit im Innenraum fort. Die Ausstattung der Theresienkirche wurde ebenfalls durch Glaubitz geprägt. Die Kirche hatte 1748, 1749 und 1764 gebrannt und wurde nun nach seinen Vorschlägen barock neu ausgestattet. Damit hatte es ein Architekt protestantischer Konfession geschafft, einen Stadtabschnitt mit verschiedenen Konfessionen architektonisch mitzuprägen.

Schluss Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich anhand der Aušros Vartų gatvė ein Altstadtabschnitt erkennen lässt, der sich zwischen orthodoxer und katholisch wechselnder Dominanz zur Multikonfessionalität mit westlicher Prägung ent39 Kowalczyk, 2002, S. 30. 40 Vitkauskienė, 2002, S. 150. 41 Der Entwurf stammt von Johann Christoph Glaubitz. Ob er bei der Ausführung beteiligt war, ist hingegen nicht überliefert. 261

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wickelte. Die Kirchen des Straßenabschnittes sind heute Repräsentanzen der für Vilnius typischen Multikonfessionalität in barocker Fassade. Sie präsentieren aber nicht nur eine architektonisch barocke Einheit in versöhnter konfessioneller Verschiedenheit, sondern zeigen in ihrer Geschichte auch Verbindungen zueinander auf. Zum einen durch konfessionelle Transformationsprozesse wie konfessionell transformierte Heiligenverehrung, die auch zu einer gemeinsamen Verehrung führen kann und zum anderen durch architektonisch manifestierte konfessionelle Verflechtungen. Die räumlich dicht beieinander angeordneten Konfessionen kommunizieren architektonisch miteinander. Die beschriebenen Sakralbauten können zudem auf eine chronologisch abfolgende multikonfessionelle Nutzungsgeschichte zurückblicken, welche auf die sich häufig ändernden politischen Umstände zurückzuführen ist, welche die konfessionellen Verflechtungen erst hervorrufen Abb. 6: Karte der Aušros Vartų gatvė mit dem Tor und der genauen Lage der Basilianerkirche, der Heilig-Geist-Kirche und der Theresienkirche

Kartendaten: © OpenStreetMap-Mitwirkende, 2015, CC BY-SA

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konnte. Die konfessionelle Verflechtung lässt sich städtebaulich heute nicht mehr chronologisch ersehen. Der Betrachter steht vor keinem chronologisch geordnetem Nacheinander, sondern vor einem Durcheinander baulich manifestierter konfessioneller Prägung, die durch den Barock eine allgemeine Angleichung gefunden hat.

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Tauber, Joachim/Tuchtenhagen, Ralph, Vilnius, kleine Geschichte der Stadt, Köln 2008. Venclova, Tomas, Vilnius. Eine Stadt in Europa, Frankfurt/Main 2006. Vitkauskienė, Rūta Birutė, Katalog, in: Barocke Sakralarchitektur in Wilna. Verfall und Erneuerung, hg. von Andrea Langer/Dietmar Popp, Marburg 2002, S. 77-198.

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Hermannstadt und Iaşi – Zur Multikulturalität zweier Städte in Rumänien Hans-Christian Maner Die Vielfalt der verschiedenen Stadttypen hat in der Forschung bislang nicht dazu geführt, genauere Strukturmerkmale einzelner ostmittel-, südost- oder osteuropäischer Städte festzuschreiben. Trotz der Unterschiedlichkeit der Städte als verdichtete Zentren, in denen sich politische, gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Konzepte spiegeln, ist ein grundlegendes verbindendes Merkmal die Multiethnizität und -kulturalität bzw. die komplexe ethnokonfessionelle Gemengelage.1 Obwohl die historische Entwicklung der Städte Hermannstadt/Sibiu und Iaşi/Jassy und ihrer Stadtbilder unterschiedlich verlief, z. B. was das Vorhandensein oder Fehlen eines zentralen öffentlichen Platzes anbetrifft, so spielt dennoch die kulturelle Vielfalt in beiden Fällen eine grundlegende Rolle. Im Folgenden sollen markante Entwicklungsschritte der siebenbürgischen und der moldauischen Stadt nachgezeichnet werden. Außerdem werden in einem weiteren Schritt historische Aspekte der urbanen Räume aus der Perspektive von zwei bekannten Persönlichkeiten dieser Städte erzählt. Was verbindet zwei Städte in Rumänien wie Hermannstadt und Iaşi? Welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede lassen sich ausmachen?

Hermannstadt Die Stadt in Südsiebenbürgen geht auf eine Gründung im 12. Jahrhundert zurück. Um 1150 gründeten Siedler, in den Quellen als „Flandrenses“ und „Theu1

Vgl. konzeptionell Baumeister, 2010, S. 13-28; Hausmann, 2010, S. 29-66; Höpken, 2010, S. 67-91. 265

Hans-Christian Maner

tonici“ bezeichnet, einen Ort, der in den Urkunden mit villa Hermanni benannt wird. Ein Lokator namens Hermann gab Hermannsdorf, das sich erst allmählich zur Stadt entwickelte, den Namen.2 Nicht allein die Lage an der Kreuzung von zwei Fernwegen, die Nähe zum Zibinsfluss und anderen Gewässern und die gute Zugänglichkeit unweit des Karpatendurchbruchs am Roten-Turm-Pass begünstigten eine schnelle Entwicklung. Insbesondere die im Goldenen Freibrief von König Andreas II. von 1224, dem Andreanum, gewährten besonderen Freiheiten, die Schaffung der Hermannstädter Grafschaft an der Spitze mit einem Grafen oder Comes, legten die Grundlagen für den politischen und wirtschaftlichen Aufbau. Dieser wurde durch den verheerenden Mongolensturm 1241 stark beeinträchtigt, aber nicht gestoppt. In den nächsten Jahrhunderten entwickelte sich der Ort zu einem Handelszentrum, in dem neben Handwerkern in der am Zibinsfluss gelegenen Unterstadt Kaufleute, Patrizier und Geistliche in der Oberstadt hinzukamen.3 Von den zahlreichen Zünften4 in der Stadt zeugen heute noch das Zunfthaus am Kleinen Ring sowie die Türme der Festungsanlage, die jeweils die Namen von Zünften tragen. Der Name Hermannstadt taucht erstmals in einer Urkunde des Jahres 1366 auf. Hermannstadt entwickelte sich zu einem politischen und geistlichen Zentrum der Siebenbürger Sachsen: Es war Sitz des Verwaltungsbezirks (Hermannstädter Stuhl) sowie des Kirchenkapitels (das dem Erzbischof in Gran/Esztergom unterstellt war). Im 16. Jahrhundert setzte sich die Reformation durch. Während der osmanischen Oberherrschaft im 16. und 17. Jahrhundert konnte die häufig belagerte Stadt trotz der für feindliche Heere günstigen Lage nicht eingenommen werden. Nach der Eroberung Siebenbürgens 1688 und dem Anschluss an die Habsburgermonarchie wurde Hermannstadt zum Sitz des Guberniums (Landesverwaltung) – 1692 fand der erste Landtag statt. Auch wenn Gubernium und Landtag nach 1792 in Klausenburg angesiedelt waren, wurde Hermannstadt bis 1849 als Landeshauptstadt angesehen, in der noch mehrere Behörden ihren Sitz hatten.5 Eine besondere Bedeutung für die Gestaltung der Stadt und die Kulturszene hatte der Gouverneur Samuel von Brukenthal, der einzige Siebenbürger Sachse, der dieses Amt innehatte (1777-1787). 2

3 4 5 266

Roth, 2007, S. 5. Die rumänische Bezeichnung „Sibiu“ sowie das Ungarische „Nagyszeben“ stammen vom Lateinischen „Cibinum“. Zu kurzgefassten Geschichten von Hermannstadt s. u. a. auch Miclea, 1972; Eichler, 2007; Franke, 2012. Gündisch, 1993. Maner, 1987, S. 146-154. Roth, 2007, S. 156.

Hermannstadt und Iaşi

Am Großen Ring, dem großen Platz der Stadt, entstanden mehrere repräsentative Gebäude, u.  a. das Brukenthal-Palais, das ab 1817 als Museum die Kunstsammlung des Gouverneurs beinhaltete, das Blaue Stadthaus, das bereits vorher bestand, aber nach 1769 umgebaut wurde und wo Theateraufführungen und festliche Veranstaltungen stattfanden6. Das erste Theater der Stadt, die erste Buchhandlung Siebenbürgens, das erste Periodikum „Theatral-Wochenblatt“ und der „Siebenbürger Bote“ gehen auf den Buchdrucker Martin Hochmeister zurück.7 Er gilt als „Wegbereiter“ der Publizistik in Siebenbürgen. Als Hauptstadt Siebenbürgens entwickelte sich Hermannstadt zu einer weltoffenen Stadt. Dazu trug insbesondere das Konzivilitätsreskript Kaiser Josephs II. bei, das es allen freien Einwohnern Siebenbürgens ermöglichte, sich u. a. in sächsischen Städten niederzulassen, Besitz und das Bürgerrecht zu erwerben. Das sächsische Hermannstadt erhielt in den nächsten Jahrzehnten eine deutlich wahrnehmbare rumänische Minderheit. Außerdem erhielten ungarische, armenische, griechische und italienische Handwerker Niederlassungsrecht. Neben repräsentativen Gebäuden, wie dem nach 1786 errichteten kleinen Stadtpalais der Witwe des Grafen Georg Bethlen, auch „Haus mit den Karyatiden“ der „steinernen Jungfrauen“ genannt8, entstanden eine ganze Reihe von Sakralbauten. Neben der im 14. und 15. Jahrhundert erbauten monumentalen gotischen evangelischen Stadtpfarrkirche (ursprünglich eine Marienkirche) entstanden griechisch-orthodoxe, griechisch-katholische Gotteshäuser und eine ungarische reformierte Kirche. Bereits kurze Zeit nach Einnahme Siebenbürgens durch die Habsburger wurde auf dem Großen Ring eine imposante barocke römisch-katholische Pfarrkirche erbaut (1721-1733) und so ein Kontrapunkt gegen die überwiegend evangelisch geprägte Stadt gesetzt.9 Einen gewissen Schlusspunkt sakraler Bautätigkeit setzten die 1899 erbaute große Synagoge10 sowie die zwischen 1902 und 1906 nach dem Vorbild der Hagia Sophia entstandene orthodoxe Kathedrale „Hl. Dreifaltigkeit“. Sie ersetzte die Vorgängerkathedrale und war Mittelpunkt der Mitropolie Siebenbürgens.11

  6 Das Blaue Stadthaus erhielt seinen Namen 1815 aufgrund der in Siebenbürgen selten anzutreffenden blaugetünchten Fassade. Heute ist das Gebäude Teil des Brukenthal-Museums. Bota, 2012, S. 154-156; Fabritius-Dancu, 1983, Nr. 33.   7 Bota, 2012, S. 164-168.   8 Fabritius-Dancu, 1983, Nr. 37.   9 Fabritius-Dancu, 1983, Nr. 31. 10 Bota, 2012, S. 94-96. 11 Soroștineanu, 2006, S. 33-36. 267

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Abb. 1: Die Silhouette von Hermannstadt mit folgenden Kirchtürmen von rechts nach links: orthodoxe Kathedrale, reformierte Kirche, römisch-katholische Kirche, evangelisch-lutherische Kirche

Foto: Hans-Christian Maner, 2015

Die evangelisch-sächsische Gemeinde ließ in ihren kulturellen Bestrebungen nicht nach und positionierte sich durch einen repräsentativen barocken Neubau ihrer deutschen Schule 1781. Seit 1921 hieß die Institution Brukenthalschule und war ein evangelisches Jungenlyzeum. Seit 2001schließlich trägt die Schule den Namen Nationalkolleg „Samuel von Brukenthal“; in deutscher Sprache werden überwiegend rumänische sowie noch einige wenige deutsche Schüler unterrichtet.12 Während des Jahrhunderts der Herausbildung der modernen Nation wurde Hermannstadt auch zum kulturellen Zentrum der Rumänen. Am 4. November 1861 wurde die „Siebenbürgische Gesellschaft für Literatur und Kultur des rumänischen Volkes“ ASTRA (Asociația transilvană pentru literatură și cultura poporului român) gegründet. Diese versammelte im 19. Jahrhundert die intellektuelle Elite der Rumänen Siebenbürgens. Um auch die Gesellschaft im Stadtbild sichtbar werden zu lassen, konkretisierte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Gedanke eines „Hauses der Nation“. Da die ungarischen Behörden die Begriffe „national“ oder „Siebenbürgen“ in der Bezeichnung untersagten, entstand zwischen 1903 und 1905 der sogenannte „ASTRA-Palast“ als „histo12 S. dazu die Homepage der Schule: Popa, 2015. 268

Hermannstadt und Iaşi

risches und ethnographisches Museum“. In dem repräsentativen Gebäude sind tatsächlich ein historisches und ethnographisches Museum, aber auch eine Bibliothek, ein Vortragssaal und Versammlungsräumlichkeiten der Gesellschaft untergebracht.13 Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 verlor Hermannstadt endgültig seine zentrale politische Stellung14, allerdings blieb die Stadt nach wie vor ein wichtiges kulturelles Zentrum insbesondere der deutschen und rumänischen Bevölkerung. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Angliederung Siebenbürgens an Rumänien musste sich Hermannstadt im 20. Jahrhundert völlig neu orientieren, blieb aber ein multiethnischer Ort. Die Bevölkerungsentwicklung und ethnische Zusammensetzung vom 19. bis 21. Jahrhundert sah wie folgt aus:15 Jahr

Gesamt

Rumänen

Ungarn

2089 (16%)

977 (8%)

Deutsche Juden

1850

12 765

1930

49 345

1977

151 005

119 507 (79%)

5111 (3%) 25 403 (17%)

1992

169 610

158 863 (94%)

4163 (3%)

2011

147 245

130 998 (89%)

2169 (1%)

Roma

8790 (69%)

5

527

18 620 (39%) 6521 (14%) 21 598 (45%)

1308

285

111

511

5605 (4%)

49

688

1561 (1%)

23

582

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Die Gesamtbevölkerung nahm bis in die 1990er Jahre deutlich zu, ebenso auch die Zahl der rumänischen Bevölkerung. Nach einer deutlichen Zunahme der ungarischen Bevölkerung nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich, ging sie bis ins 21. Jahrhundert kontinuierlich zurück. Einen ebenso kontinuierlichen, allerdings drastischen Rückgang verzeichnen die deutschen Einwohner. Dieser ist bis zum Zweiten Weltkrieg bedingt durch Emigrationen nach Österreich und Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg führten Deportationen in die Sowjetunion und dann vor allem ab den 1960er Jahren erneute Emigrationen nach Österreich und Deutschland, die sich nach 1990 zum Exodus steigerten.

13 Dabu, 2011; Pantea, 2011, S. 203-214; Vaşca, 2011, S. 197-202; Moga, 2003; vgl. auch die Internetpräsenz der ASTRA-Bibliothek: www.bjastrasibiu.ro/istoric.htm, 28.3.2015. 14 Mit Ausnahme der Revolutionsjahre 1848/49 blieb Hermannstadt bis 1867 Landeshauptstadt. 1850 wurde die Stadt zum Sitze einer kaiserlich-königlichen Statthalterei. Vgl. auch Chronologie in: Nussbächer, 2007, S. 108. 15 Varga, 2015. 269

Hans-Christian Maner

Trotz rückläufiger Bevölkerungszahlen setzte nach dem Ende des sozialistischen Regimes 1989, vor allem aber zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Hermannstadt eine rasante Entwicklung von „der vergessenen Provinzstadt zur europäischen Kulturhauptstadt“.16 Besonders geprägt wurde die Stadt durch die 14-jährige Bürgermeistertätigkeit des Siebenbürger Sachsen Klaus Werner Johannis zwischen 2000 und 2014. Wie erscheint Hermannstadt durch die Feder von Johannis? Gleich zu Beginn seiner Autobiographie macht er deutlich, dass ihn Hermannstadt geprägt und geformt hat. Er bezeichnet die Stadt als durchgehende Konstante in seinem Leben: „Über Hermannstadt kann ich sagen, dass es der Ort ist, von welchem aus ich gestartet bin und zugleich der Ort zu dem ich zurückgekehrt bin: Nicht aus Bequemlichkeit, sondern nachdem ich hier die Kindheit und Jugend verbracht habe, habe ich festgestellt, dass Hermannstadt die Stadt ist, mit der ich die meisten Gemeinsamkeiten habe.“17 In seinem Buch bezeichnet Johannis Hermannstadt „eine der bedeutendsten Persönlichkeiten“ für seine Biographie, die dadurch „Form und Sinn“ erhalten habe. Alles in seinem Leben, in seinen Überzeugungen hänge mit der Stadt zusammen.18 Die Eigenheiten der Stadt verweben mit der Kindheit und der familiären und schulischen Erziehung Johannis’, nämlich Ruhe, Vertraulichkeit und Verschwiegenheit, Verständnis, Organisation, Gutgläubigkeit, Disziplin, Harmonie und Freude, eine Arbeit zu Ende zu führen. Sein Umfeld hat Johannis sehr wohl einprägsam wahrgenommen. Neben seinem sächsischen Elternhaus erinnert er sich an die sehr gemischte Gemeinschaft: „Der größte Teil der Freunde mit denen ich draußen spielte, waren Rumänen.“ Dennoch wuchs Johannis in einer ausgeprägten siebenbürgisch-sächsischen Tradition auf. Dazu zählt vor allem das historische Bewusstsein, das aus den Erinnerungen spricht, wenn Beschreibungen der Häuser und Straßen des historischen Kerns eingeflochten werden. Ein weiterer Faktor der historischen Tradition ist die schulische Ausbildung. Dort war das Milieu ein anderes als beim Müßiggang auf der Straße, es gab sehr wenige rumänische Kollegen: „Sowohl im Kindergarten als auch in der Schule war ich in der deutschen Abteilung eingeschrieben, […] dort lernte ich fast nur mit Kindern der deutschen Ethnie.“ Dies betraf die weiterführende Schule in besonderer Weise: „Für einen Sachsen in Hermannstadt stellte sich die Frage gar nicht, ein anderes Gymnasium als das Brukenthal zu besuchen.“ Johannis Reflexionen gehen allerdings mehrfach über den ethnischen Charakter hinaus: 16 Roth, 2007, S. 190-218. 17 Iohannis, 2014, S. 9. 18 Ebd., S. 7. 270

Hermannstadt und Iaşi

Das Gymnasium, das die älteste Schule nicht nur Hermannstadts, sondern auch Rumäniens sei, sei in Bezug auf Werte und Tradition besonders gefestigt. Johannis macht vielmehr deutlich, dass zwar die sächsische Tradition ihn geprägt habe, doch zugleich betont er, die elterliche und schulische Erziehung nicht an ein bestimmtes ethnisches Erbe binden zu wollen. „Ich glaube nicht an so etwas“, so Johannis, der das gemischte ethnische Milieu selbst erlebt hat. „Ich glaube, dass jedes Individuum in seiner Art einzigartig ist und dass bestimmte Qualitäten eher durch Erziehung als durch Erbe erlangt werden.“ Johannis attestiert den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt eine besondere Offenheit und Toleranz: Rumänen, Ungarn, Roma und Juden haben gemeinsam mit Vertretern der deutschen Minderheit zum Aufbau der Stadt beigetragen. Diese Nähe zu Hermannstadt hat natürlich auch mit den beruflichen Leistungen von Johannis als Bürgermeister in und für die Stadt am Zibinsfluss sehr viel zu tun, nämlich mit der Erfüllung des Projekts „Europäische Kulturhauptstadt 2007“. Bei der Vorbereitung des Ereignisjahres 2007 unterstanden alle Projekte dem Konzept der Kultur. Kultur versteht Johannis als „Lebensmodell“. Hermannstadt sei eine kulturelle Adresse, ein kulturelles Zentrum schlechthin. Dieses verwertete die Geschichte der Stadt als Reichtum und Erbe. Besondere Highlights waren die barocke Tradition des 18. Jahrhunderts, „Hermannstadt als Stadt der Zünfte“ oder „die sächsische Festungsarchitektur in Siebenbürgen“. Die Kultur versteht Johannis nicht lediglich als schmückendes Beiwerk; die kulturelle Tradition beinhaltet ein reichhaltiges historisches Erbe, das die Gegenwart und Identität der Menschen in Hermannstadt prägt. Dies sollte auch für die Touristen wertvoll und sichtbar gemacht werden. „Die Geschichte, die Gegenwart und die Menschen machen aus Hermannstadt jenen besonderen Ort, in dem sich sehr viele wünschen würden zu leben.“ Johannis benennt Aspekte der Geschichte und der Tradition der Stadt „unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit oder der Religion ihrer Bewohner“. Ein Beispiel dafür seien die sich auf kleinster Fläche – dem 70 ha großen historischen Zentrum – befindlichen Kirchen der verschiedenen Religionen: die orthodoxe Kathedrale, die evangelische Stadtpfarrkirche, die Synagoge, die reformierte, die römisch-katholische und die griechisch-katholische Kirche.19 „Die Kirchen sind sehr stark am Gemeinschaftsleben beteiligt und das Prinzip der religiösen Toleranz ist in Hermannstadt eine tagtägliche Wirklichkeit, die soziale und kulturelle Wohltaten erzeugt.“ Johannis versteht Hermannstadt als Ort der Multikulturalität. Diese Silhouette der einträglich nebeneinander stehenden Kirchtürme der verschiedenen Konfessionen ist auch für den Pfarrer 19 Siehe hierzu die Abb. 1 mit der Silhouette von Hermannstadt. 271

Hans-Christian Maner

und Erfolgsautor Eginald Schlattner ein Zeichen der „siebenbürgischen Vielvölkergemeinschaft“.20 Diese Vielfalt, so Schlattner, wird für jeden Ankommenden an den Ortsschildern bereits deutlich, wo unter der rumänischen Bezeichnung Sibiu auch der deutsche Name Hermannstadt steht. Und in der Stadt selber finden sich das Wappen und die beiden Namen auf jedem Kanaldeckel.21 Mit einer Besonderheit weiß Hermannstadt noch aufzuwarten, wie Schlattner weiterhin berichtet: „In […] Hermannstadt residiert heute noch die Dynastie des Königs Cioaba, des monarchischen Oberhaupts aller Roma […]. Cioabas Vater ist unlängst mit allem Pomp als Tempelritter begraben worden, seine Schwester Luminitza hat Philologie studiert, sie dichtet in drei Sprachen. Luminitzas majestätische Mutter kauert manchmal auf dem Großen Ring vor dem Evangelischen Bischofspalais, wohl verpackt in ihre sieben roten Röcke, schmaucht Pfeife und hält die literarische Roma-Zeitschrift ihrer studierten Tochter feil. Und in Sichtweite von der Hofhaltung König Cioabas sticht der Palast des selbsternannten Roma-Kaisers Iulian ins Auge, ein Gebäude wie aus 1001 Nacht.“22

Iaşi Iaşi in der Nordmoldau wird erstmals im Jahr 1408 urkundlich erwähnt,23 auch wenn der Marktflecken um einiges älter sein dürfte. Nicht geklärt ist die Herkunft des Namens. Ist er von den um 1237 vor den Mongolen nach Westen flüchtenden Alanen und dem sich herausbildenden Stamm der Jassen (Jász)24 abzuleiten, oder geht die Bezeichnung von einem Gründer Iaş (Derivat von Ion oder Iacob) aus? Ein alter deutscher Name „Jassenmarkt“ hängt mit dem Begriff „Markt“ zusammen.25 Am wahrscheinlichsten scheint der Zusammenhang mit den Jassen.

20 21 22 23 24

Schlattner, 2007. Ebd. Ebd. Bădărău/Caproşu, 2007; Cihodaru/Platon, 1980. Die Jassen (sing. Jász, pl. Jászok) ließen sich in der Pannonischen Tiefebene und östlich der Karpaten nieder. Zum Namen vgl. Alemani, 2000, S. 5f.; zu den Alanen und ihrer Entwicklung vgl. Lebedynsky, 2003. 25 Göckenjan, 2004, S. 316f.

272

Hermannstadt und Iaşi

In einem neuen Sammelwerk zur 600-jährigen Geschichte von Iaşi betont Gheorghe Nichita, der Bürgermeister der Stadt, „das beeindruckende kulturelle Erbe“, das die Stadt in ein „wahres Freilichtmuseum“ verwandle. Im Zentrum stehe das religiöse Erbe, „vertreten von über 50 Kirchen“, die Iaşi zu einem internationalen orthodoxen Wallfahrtsort auszeichneten.26 Zugleich sei Iaşi eine multikulturelle Stadt, in der „mehrere fremde Kulturzentren aktiv“ seien.27 Bereits vom Beginn der dokumentarischen Erwähnung finden sich im Umkreis des Fürstenhofes neben der orthodoxen Bevölkerung eine relevante deutsche und armenische Gemeinschaft. Eine „russische Straße“ verweist auch auf die Anwesenheit von Russen und Ruthenen. Zu den ersten Sakralbauten in Iaşi zählt neben der orthodoxen Kirche „Sf. Nicolae Domnesc“ (1492, aus der Zeit Fürst Stefans des Großen) auch die armenische Kirche, wahrscheinlich noch aus dem 14. Jahrhundert.28 Auf den sieben Hügeln, auf denen der lokalen Tradition zufolge die Stadt erbaut worden sein soll, entstanden zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert markante orthodoxe Klosteranlagen: Galata (1582), Hlincea (1587), Cetăţuia (1668), Podgoria Copou (1638) und Bucium (1863). Fürst Alexandru Lăpuşneanu wählte Iaşi ab 1564 zum dauerhaften Fürstensitz. Bis 1862 sollte der Ort Hauptstadt der Moldau bleiben. Die eher langsame Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert ist durchaus auch auf die Exponiertheit der Stadt zurückzuführen: Angriffe, Verwüstungen, Seuchen, Hungersnöte, Brände und Erdbeben waren nicht selten: Einfälle der Tataren und Osmanen 1513, 1538, 1574, Kosaken- und Tatareneinfälle 1650, Poleneinfall 1686, Feuersbrünste 1723 und 1785, Seuche 1734, Osmaneneinfall 1822. Die Stadt wurde dabei stets größtenteils zerstört, nur einzelne Gebäude sind erhalten geblieben, zumal die Häuser überwiegend aus Holz gebaut waren.29 Infolge der Restriktionen gegenüber den zum Protestantismus übergetretenen Gruppen ging der Anteil der deutschen Bevölkerung zurück. An ihre Stelle traten vornehmlich Ungarn.30 Ab dem 18. Jahrhundert nahm die Zahl der Juden und der Lipovaner zu. Schätzungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts gehen von insgesamt etwa 20 000 Einwohnern im Jahr 1820 aus.31 Im Anschluss entwi-

26 Iacob, 2008, S. 7. 27 Ebd. 28 Zur armenischen Kirche und der Datierung vgl. Pădurariu, 2013; Mihalache, 2008. 29 Rădvan, 2007. 30 Iacob, 2008, S. 29. 31 Platon, 2002. 273

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Abb. 2: Das orthodoxe Kloster Cetăţuia, Iaşi

Foto: Hans-Christian Maner, 2015

Abb. 3: Die orthodoxe Kirche Sf. Sava, im Hintergrund die armenische Kirche Surb Mariam, Iaşi

Foto: Hans-Christian Maner, 2015

274

Hermannstadt und Iaşi

ckelte sich die Einwohnerzahl stetig nach oben. 1832 gab es 48 314 Einwohner, davon 17 032 Juden. Zu der Entwicklung vom 19. bis 21. Jahrhundert:32 Jahr

Gesamt

Rum.

Juden

Deut.

Russ.

Ung.

Roma

Armen.

1888

59 427

24 780

31 829

1533

728

50

k.A.

k.A.

1930

102 872

63 168

35 465

980

918

543

340

170

2011

290 422

258 296

215

80

197

101

1376

k.A.

Die demographische Entwicklung von Iaşi belegt, dass neben armenischer Bevölkerung ab dem 15. Jahrhundert auch jüdische Einwohner im Ort unweit des Pruth lebten. Während die Zahl der Armenier eher stagnierte und mit der Zeit zurückging, stieg die Zahl der Juden so stark, dass sie die zweitstärkste Gruppe nach den Rumänen bis zum Zweiten Weltkrieg darstellte. Die große Synagoge aus dem Jahr 1682 ist als einzige bis heute erhalten. Aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, dem qualitativen und quantitativen Höhepunkt jüdischen Lebens, werden neben 44 orthodoxen Kirchen, je einer römisch-katholischen, protestantischen, lipovanischen und armenischen Kirche, sowie einigen neoprotestantischen Gebetshäusern, 108 Synagogen und jüdische Gebetshäuser erwähnt.33 Ab dem 19. Jahrhundert entfaltete sich ein blühendes Kulturleben, das sich zum einen durch das Erscheinen von chassidischer Literatur auszeichnete. Auf der anderen Seite prägte die Haskala die Kulturentwicklung: 1876 öffnete in Iaşi das erste Theater in jiddischer Sprache.34 Ein Beleg der sehr großen jüdischen Gemeinschaft ist der ausgedehnte und größtenteils vernachlässigte jüdische Friedhof am westlichen Rand der Stadt.35 Iaşi war und ist zugleich Zentrum rumänischer Kultur. Zunächst kann Iaşi als Stadt der Kirchen und Sakralbauten bezeichnet werden. Neben der bereits erwähnten Krönungskirche „Sf. Nicolae Domnesc“ aus dem 15. Jahrhundert entstand die filigran gearbeitete Klosterkirche der „heiligen drei Hierarchen“ (Sf. Trei Ierarhi) 1637-1639. In der gleichen Straße stehen unweit die römisch-katholische Kathedrale (erbaut 1782-1789) sowie die Kathedrale der Mitropolie der Bukowina und der Moldau (1833-1839). Gesäumt wird die breite Straße, der 32 Iacob, 2008, S. 145f. 33 Iacob, 2008, S. 232. Laut jüdischen Angaben waren im Jahr 1939 in Iaşi 137 Synagogen und jüdische Gebetshäuser. Information auf der Internetseite der Federaţia Comunităţilor Evreieşti din România, 2014. 34 Primul teatru evreiesc din Iasi, din Romania, din lume, 2011; Svart-Kara, 2006. 35 Horeanu, 2012. 275

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Abb. 4: Die Große Synagoge, Iaşi

Foto: Hans-Christian Maner, 2015

Abb. 5: Die orthodoxe Klosterkirche Trei Ierarhi, Iaşi

Foto: Hans-Christian Maner, 2015

276

Hermannstadt und Iaşi

Boulevard Stefan der Große und Heilige, auf der sich die großen Kirchen aneinanderreihen, von markanten Palästen, wovon der Kulturpalast (eröffnet 1926) der imposanteste ist. Iaşi ist zugleich auch der Ort, in dem im 17. Jahrhundert die erste rumänische Druckerei und die erste rumänische Schule gegründet wurden. 1829 erschien die erste rumänischsprachige Tageszeitung. Schließlich wurde in Iaşi 1860 die erste rumänische Universität gegründet. Im 20. Jahrhundert erfuhr die Stadt radikale Veränderungen. Ein weiteres Aufblühen der rumänischen Kultur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ging einher mit einem seit dem 19. Jahrhundert sich ausbreitenden rassistischen Antisemitismus in Iaşi, der einer der Ursachen des Holocausts war.36 Zur Geschichte der Stadt gehört auch das Pogrom vom 27.-29. Juni 1941, bei dem 13 266 Juden ermordet wurden.37 Das fast gänzliche Verschwinden der jüdischen Bevölkerung und damit der jüdischen Kultur wurde später durch die Auswanderung der Überlebenden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Israel besiegelt. Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, womit eine traurige „Tradition“ der Zerstörung fortgesetzt wurde. Während des Kommunismus entwickelte sich die Stadt als kulturelles und Industriezentrum im Nordosten Rumäniens. Nach dem gesellschaftspolitischen Umbruch 1989 suchte die Stadt Anknüpfungspunkte und fand diese im kulturellen Erbe. Iaşi profilierte sich als Zentrum der Erziehung mit gleich mehreren Universitäten, als Mittelpunkt der Orthodoxie durch die internationale Wallfahrt zu den Reliquien der Hl. Paraschiva. Die ehemalige Hauptstadt des Fürstentums der Moldau strebt den Platz einer kulturellen und geistigen Kapitale Rumäniens an.38 Wie für Johannis Hermannstadt ist für Leon Volovici Iaşi die Heimatstadt, in der er die Kriegszeit und Jahre des Kommunismus erlebt hat, bevor er 1984 nach Israel emigrierte.39 Volovici entstammt einer traditionellen jüdischen Familie, die sich vor vier bis fünf Generationen in Iaşi niedergelassen hatte. Eltern und Großeltern sprachen zu Hause Jiddisch, während die Kinder mehr Rumänisch sprachen. Bei der eher weltlichen Generation von Leon Volovici fanden sich auch die religiösen Traditionen nicht mehr in dem Maße, obwohl bestimmte

36 37 38 39

Hierzu grundlegend u. a. Heinen, 2007; Volovici, 1991. Ancel, 2005; Pogromul de la Iași 2006. Iacob, 2008, S. 427-439. Leon Volovici ist am 1. Dezember 2011 in Jerusalem gestorben. Vgl. www.observatorcultural.ro/La-moartea-lui-Leon-Volovici-(1938-2011)*articleID_26232-articles_details.html, 3.9.2015. 277

Hans-Christian Maner

Feiertage, wie der Sabbat, eingehalten wurden.40 Die ersten Erinnerungen von Volovici an seine Heimatstadt sind von Krieg und Vernichtung geprägt: das Pogrom im Juni 1941, der Kriegsbeginn Rumäniens und das sowjetische Bombardement der Stadt. Zugleich erinnert Volovici auch an helfende christliche Nachbarn während der gewaltsamen Ausschreitungen. „Meine ersten Erinnerungen und meine ersten Bildern sind aus Kellern und Schutzräumen […] vor allem vom letzten Teil des Krieges, als die Russen sich näherten und die Deutschen sich zurückzogen.“41 Das Pfeifen der Kugeln ist sozusagen ein „Grundgeräusch“ seiner Kindheit. Die Stadt hat Volovici dann erst nach dem Krieg „in Besitz“ genommen. Aus einem vorrangig jüdischen Viertel kommend sieht er als erstes das Zentrum, den Boulevard mit den Kirchen und Palästen. Unweit davon setzt Volovici seine Beschreibung fort: „Dies war viele Jahre eine Gegend wohlhabender Juden, einige von ihnen geradezu reich. Eine Kategorie, die nach dem Krieg und der berühmten ‚Nationalisierung‘ verschwunden ist.“ Weiter dem Straßenverlauf folgend kam man zur großen Synagoge, dem Herz des alten jüdischen Viertels. Dort war die Grenze zum Wohnviertel der ärmeren jüdischen Bevölkerung, aber auch die Grenze zum christlichen Viertel. Dort wohnte die Familie.42 In einer ehemaligen alten jüdischen Schule belegte er die ersten Klassen, in denen er bis zum Verbot 1948 auch noch Jiddisch und Hebräisch lernte. Danach war die schulische und universitäre Erziehung eine rumänische. Volovici studierte in Iaşi rumänische Sprache und Literatur, unterrichtete danach in einem Dorf am Ufer des Pruth als Rumänischlehrer. Nach zwei Jahren kehrte er nach Iaşi zurück, wo er im Institut für Philologie als Literaturhistoriker arbeitete und zur rumänischen Sprache und Literatur veröffentlichte. Die Erinnerungen werden überwölbt durch das allgegenwärtige Pogrom von 1941. Das Gefühl, an einem gefährlichen Ort zu leben, das Trauma des Krieges bzw. des Holocaust führte in den 1940er und 1950er Jahren zu einem regelrechten Exodus nach Palästina und dann nach Israel. Auch für Volovici ist der Antisemitismus eine durchgehende Konstante während seines Lebens in Iaşi. Antisemitische Äußerungen konnte er allerdings auch während seines Besuchs in Iaşi nach 1990 erleben.43 Im rumänischen Gedächtnis ist, so Volovici, die Tragödie des Pogroms nicht verinnerlicht.

40 41 42 43 278

Volovici, 2007, S. 10-22. Ebd., S. 24. Ebd., S. 30. Ebd., S. 67-83.

Hermannstadt und Iaşi

Das Leben in Jerusalem, die Arbeit in Yad Vashem prägten Volovici, und sein Blick zurück auf die Stadt auf und zwischen den Hügeln in der Nähe des Pruths ist differenziert: „Iaşi erscheint mir wie eine wunderbare Stadt durch ihr Alter und ihren kulturellen Reichtum, ein rumänischer kultureller Raum in dem ich mich gut und ‚zuhause‘ gefühlt habe. Es ist auch eine Stadt mit einer beeindruckenden jüdischen kulturellen Tradition, einschließlich einer ihrer rumänischen Komponenten. […] In Iaşi treffen sich […] ‚die beiden Rumänien‘, das liberale […] und das dunkle, nationalistische, antisemitische. Und es gibt noch, dem können wir nicht ausweichen, ‚die Stadt des Pogroms‘.“44

Fazit Hermannstadt lebt sehr stark vom Gestern und zugleich auch in einem Zwiespalt zwischen gestern und heute. Die Stadt am Zibin leuchtet in den Erinnerungen von Klaus Johannis, natürlich im Kontext des Kulturhauptstadtereignisses von 2007, in bunten Farben. Multikulturalität, Vielvölkerlandschaft sind positiv besetzte, kreative und zukunftsorientierte Kategorien. Ohne Zweifel sind dabei auch Mythen und Nostalgien am Werk: der Mythos der „heilen Welt“ auch durch das Leben und die Arbeit der deutschen Bevölkerung in der Stadt; dunkle Kapitel der 1930er Jahre werden dabei weniger stark gewichtet. Welche Langwirkungen solche Mythen und Nostalgien haben – der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung ist nach der massiven Emigration fort –, bleibt abzuwarten. Im Gegensatz zu Hermannstadt mit seiner Ringmauer war Iaşi keine befestigte Stadt. Sie war allen Widrigkeiten der Geschichte ausgeliefert. Dennoch, auch Iaşi hat eine von Vielfalt geprägte Vergangenheit. Die Multikulturalität von Iaşi ist allerdings zum größten Teil bereits mit dem Zweiten Weltkrieg untergegangen und in der Erinnerung der Mehrheitsbevölkerung nicht vorhanden. Heute sucht Iaşi nach seinem Erbe, an das erinnert werden kann. Die kulturellen Traditionen, die im Gedächtnis der Gegenwart verankert werden, sind vornehmlich orthodoxe. Die Erinnerungen an das jüdische Erbe finden darin nur bedingt Platz.

44 Ebd., S. 152. 279

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282

Lemberg im Lichte seiner Städtepartnerschaften Christof Schimsheimer „Zeig mir deine Freunde, und ich sage dir wer du bist“, so lautet ein Sprichwort, dem nach gängigem Verständnis die Annahme zugrunde liegt, die Beobachtung der zu einem Individuum in einem freundschaftlichen Verhältnis stehenden Personen, lasse wiederum Rückschlüsse auf das Wesen des Ersteren zu. Das Ich verspricht also, sein Gegenüber zu klassifizieren – durch die Erfahrung eines wichtigen Teils von dessen sozialem Umfeld. Voraussetzung ist dabei, dass auf eben jene Freunde zuvor erkennbar verwiesen wurde. Lemberg, ukrainisch L’viv, unterhält teils langjährige Partnerschaften mit Städten wie Freiburg im Breisgau, Rzeszów in Polen oder mit der georgischen Hauptstadt Tiflis. Doch wie kamen diese Verbindungen überhaupt zu Stande und in wie weit sind sie nicht bloß wohlfeile Deklarationen auf dem Papier und im Stadtbild, sondern werden tatsächlich gelebt? Welche Rolle spielen dabei die jeweilige politische Situation, sowie historische Anknüpfungspunkte? Und schließlich: In wie weit lässt sich Lemberg als urbanes Zentrum der Westukraine in Eigen- und Fremdwahrnehmung vor dem Hintergrund dieser institutionalisierten Partnerschaften kulturell verorten? Es scheint verständlich, dass, um diese Stadtgeschichte zu erzählen, eine bloße Betrachtung der „Freunde“ nicht ausreicht und selbstverständlich nicht von einem Individuum die Rede ist, sondern von Städten mit ihren Bürgern, ihrer Geschichte und Kultur, ihren Institutionen, Organisationen und politischen Rahmenbedingungen. Vielmehr soll es hier um die Verbindungen an sich, deren Genese und Inszenierungen im öffentlichen Raum gehen. So suchen die Städte zunächst einmal einander, erste Kontakte werden geknüpft bevor man in die Konsolidierungsphase übergehen kann aus der dann eine Partnerschaft entsteht, die nach außen hin präsentiert wird. Das Sprichwort lässt sich denn auch, gerade 283

Christof Schimsheimer

in diesem erweiterten Rahmen, anders deuten: Entscheidend für eine Bestimmung sind weniger die Freunde, als vielmehr der Vorgang ihres Zeigens.

Der Beginn kommunaler Kooperationen nach dem Zweiten Weltkrieg Bereits in der Weimarer Republik waren kommunale Partnerschaften gegründet worden,1 moderne Städtekooperationen nach heutigem Verständnis entwickelten sich jedoch erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Nach Annina Lottermann bestehen solche Städtepartnerschaften zumindest dann, wenn ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet wurde und wenn es sich „um eine freundschaftliche und dauerhafte Beziehung von mindestens zwei Partnern handelt, die nicht nur für Politiker, sondern auch für die Zivilgesellschaft zugänglich ist“2. Zu den Bedingungen für eine Städtepartnerschaft innerhalb Europas zählt die Autorin auch das erklärte Ziel der europäischen Integration.3 Neben den ersten deutsch-amerikanischen Partnerschaften, wie die 1947 geschlossene zwischen Crailsheim/Württemberg und Worthington/Minnesota, wurden im Jahre 1948 durch Schweizer Vermittlung deutsche und französische Gemeinden zusammengeführt. Nachdem man zwischen den Kommunen Kontakte auf politischer und Vereinsebene geknüpft hatte, bestätigten beide Seiten die Partnerschaften in einem nächsten Schritt per Beschluss. 1949 war die erste deutsch-französische Städtepartnerschaft geschlossen, heute sind es weit über 2000.4 Das Netzwerk europäischer Städte und Gemeinden beschränkt sich bei weitem nicht auf die Europäische Union und Europa, sondern erstreckt sich über die ganze Welt. Die positiven Effekte solcher Partnerschaften sind zahlreich, sie ermöglichen etwa den Kommunen unmittelbar internationale Beziehungen zu knüpfen und auszubauen, sie fördern, aus europäischer Perspektive, zudem das Ansehen Europas in der Welt.5 Gleichzeitig stellt Fiedler im Hinblick auf die Städtepartnerschaft jedoch fest, ohne dabei deren grundlegende Bedeutung für die Friedenssicherung und Festigung europäischer Strukturen in Frage zu stellen:

1 2 3 4 5 284

Vgl. Bock, 1994, S. 13-35. Lottermann, 2009, S. 218. Vgl. Ebd. Baier, 2007, S. 63; Picht, 1983, S. 16; Woesler, 2006, S. 412f. Fiedler, 2006, S. 397.

Lemberg im Lichte seiner Städtepartnerschaften „Eine besondere innovative Kraft kann ihnen allerdings auch nicht bescheinigt werden, vor allem wenn es um Partnerschaften innerhalb der EU geht, die nicht mehr den Charme des Nord-Süd-Dialogs verströmen, sondern in denen es im Alltag eher um die 25-Jahr-Feier einer Feuerwehrpartnerschaft geht.“6

Freilich galt es gerade in den ersten Jahren kommunaler Kooperationen zahlreiche Hindernisse zu überwinden, die europäische Integration stand gerade an ihrem Anfang und der Krieg lag noch nicht lange zurück. Damals wie heute hängt zudem die Lebendigkeit der Partnerschaften von Städten und Gemeinden stark von den Initiativen und dem Engagement einzelner Personen in beiden Kommunen ab, die sich mit einander vernetzen und in freundschaftlicher Verbindung zueinander stehen. Kommunale Partnerschaften verfügen dennoch über großes Potential: Durch die Kontakte ist ein intensiver Austausch auf den Feldern der Kultur, Politik, Wirtschaft oder etwa im Naturschutz möglich. Wissenstransfer, gegenseitige Unterstützung und gesellschaftliche Annäherungen werden gefördert.

Lembergs Kooperationen Auf der Internetseite des Lemberger Stadtrates sind für die über700 000 Einwohner zählende Hauptstadt der Lemberger Oblast’, 13 Partnerstädte verzeichnet.7 Auf dem Informationsportal der Abgeordneten des Lemberger Stadtrates werden hingegen 28 Kooperationen aufgeführt.8 Städtepartnerschaften in engerem Sinn, das heißt es wurden Abkommen unterzeichnet, existieren demnach mit folgenden Kommunen, geordnet nach Dauer der Kooperation:   1. Winnipeg, Kanada, Abkommen getroffen am 26. November 1973, er- neuert am 27. November 2003   2. Corning, NY, USA, Abkommen getroffen am 25. August 1987, Absichtserklärung für weitere Zusammenarbeit 2004   3. Freiburg im Breisgau, Deutschland, 24. Januar 1989   4. Rzeszów, Polen, 4. April 1992   5. Rochdale, Großbritannien, 26. August 1992 6 7 8

Ebd. http://city-adm.lviv.ua/lmr/partner-cities, 04.09.2015. http://lvivrada.gov.ua/deputaty/2013-12-02-11-38-10/itemlist/category/334-mista-partnery?limitstart=0, 04.09.2015. 285

Christof Schimsheimer   6. Rischon LeZion, Israel, 25. Januar 1993   7. Budapest, Ungarn, 18. Oktober 1993   8. Przemyśl, Polen, 10. Juni 1995, Verlängerung 4. März 2005   9. Krakau/Kraków, Polen, 23. Oktober 1995 10. Novi Sad, Serbien, 30. Juni 1999 (Absichtserklärung), 7. Mai 2005 (Abkommen) 11. Samarkand, Usbekistan, Absichtserklärung 2000 12. Kutaissi, Georgien, 16. Oktober 2002 13. Breslau/Wrocław, Polen, 28. November 2003 14. Lodz/Łódź, Polen, 28. November 2003) 15. Lublin, Polen, 15. Januar 2004 16. Banja Luka, Bosnien-Herzegowina, 22. September 2004 17. St. Petersburg, Russland, 30. September 2006 18. Tiflis/Tbilisi, Georgien, 6. Oktober 2013 19. Wilna/Vilnius, Litauen, 7. März 2014

Darüber hinaus werden folgende Städte genannt, mit denen Lemberg eingeschränkt kooperiert:   1. Innsbruck, Österreich   2. Porto, Portugal   3. Salzburg, Österreich9   4. Wien, Österreich

Mit den übrigen Kommunen sind oder waren Partnerschaftsabkommen geplant:   1. Lyon, Frankreich, Absichtserklärung 12. Februar 2007   2. Århus, Dänemark, Absichtserklärung 15. März 2007   3. Jerusalem, Israel, Absichtserklärung März 2008   4. Riga/Rīga, Lettland, Absichtserklärung 27. Juni 2008   5. Portland, OR, USA  6. Parma, OR, USA, 3. Juni 2013 (Verabschiedung einer Resolution durch die Stadt Parma10)

  9 Auf http://lvivrada.gov.ua/deputaty/2013-12-02-11-38-10/item/2965-zaltsburh-federatyvna-respublika-nimechchyna, 04.09.2015, wird Salzburg fälschlicherweise als Stadt in Deutschland aufgeführt. 10 http://cityofparma-oh.gov/pdf_Parma/en-US/council/2013/res14413.pdf, 04.09.2015. 286

Lemberg im Lichte seiner Städtepartnerschaften

Winnipeg ist damit die Stadt, die am längsten mit Lemberg im Rahmen einer Städtepartnerschaft verbunden ist – sie wurde bereits am 26. November 1973 unterzeichnet.11 Zusammen mit Corning und Freiburg gehört sie zu den drei Städten, deren Partnerschaften mit Lemberg noch zur Zeit der Sowjetunion ins Leben gerufen wurden. Im zweiten „Sister City Agreement“, das Lemberg unterzeichnete und es mit Corning am 25. August 1987 partnerschaftlich verband, ist zu lesen: „Prompted by the aim of strengthening friendly ties between L’vov, Ukrainian, S.S.R., U.S.S.R., and Corning, New York, U.S.A., for creating friendship and mutual understanding between U.S.A. and U.S.S.R.; acknowledging that sister city relations are an important contribution to the cause of peace and understanding; the city council of Corning an the executive committee of the L’vov Soviet of People’s Deputies sign the present agreement establishing sister city relations between our two cities on behalf of our citizens.“12

Mit sechs Kooperationspartnern bilden polnische Partnerstädte heute die größte Gruppe unter den 19 eigentlichen Partnerstädten, von denen wiederum insgesamt 14 Kommunen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetrepubliken, anderer Länder des Warschauer Paktes oder des ehemaligen Jugoslawiens liegen. Recherchiert man darüber hinaus im Internet Partnerstädte Lembergs, werden noch zusätzliche Kommunen angeführt, doch liegen diesen Zuschreibungen offensichtlich einmal mehr unterschiedliche Definitionen dessen, was unter Partnerstädten verstanden wird, zugrunde. Beispielsweise bezeichnet sich die polnische Kleinstadt Oleszyce an der Grenze zur Ukraine ebenfalls als „Partnerstadt“ Lembergs. Tatsächlich haben Oleszyce und vielmehr die Lemberger Bezirksadministration mit Sitz in Lemberg einen Vertrag über Zusammenarbeit u. a. in den Bereichen Handel, Umweltschutz, Kultur, Sport und Gesundheitsschutz abgeschlossen.13 Auch werden auf den Seiten der Lemberger Stadtregierung Städte als Partnerstädte geführt, obwohl mit ihnen keine Kooperation besteht. Insgesamt muss bei den bisher erwähnten, hier im Folgenden allerdings nicht weiter besprochenen Partnerschaften offen bleiben, in welchem Maße die Kooperationen überhaupt praktiziert werden, bzw. in wie weit eine Zusammenarbeit auch ohne eine formalisiertes Abkommen stattfindet. 11 Siehe dazu auch das „Municipal Manual“ der Stadt Winnipeg von 2013 http://winnipeg.ca/clerks/pdfs/2013MunicipalManual.pdf, 04.09.2015, S. 41. 12 www.sister-cities.org/sites/default/files/LVIV.pdf, 22.09.2015. 13 www.oleszyce.pl/pl/4510/0/Lwow.html, 04.09.2015. 287

Christof Schimsheimer

Anhand zweier Beispiele soll nun die Entstehung und Entwicklung von Städtepartnerschaften der Stadt Lemberg nachgezeichnet werden. Beim ersten handelt es sich um die Kooperation zwischen Lemberg und Freiburg, da sie noch während der Sowjetunion ins Leben gerufen wurde und Freiburg dem westlichen Bündnissystem angehörte. Das zweite ist die Verbindung Lemberg-Rzeszów, die ebenfalls bereits zu den langjährigen Partnerschaften zählt, aber zwischen zwei postsozialistischen Staaten während der Transformation ausgebaut wurde. Rzeszów gehört dabei als polnische Stadt zu dem Land, aus dem vergleichsweise am häufigsten Kommunen Partnerschaften mit Lemberg geschlossen haben.

Ein „Habsburg-Tick“? Die Städtepartnerschaft Freiburg-Lemberg Die erste Partnerschaft einer westdeutschen mit einer sowjetischen Stadt wurde 1957 ins Leben gerufen: Hamburg und Leningrad nahmen Beziehungen miteinander auf, die allerdings nicht vertraglich bestätigt wurden. Eine erste formalisierte Städtepartnerschaft und die zweite Verbindung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion überhaupt, entstand dann 1975 zwischen Saarbrücken und Tiflis.14 Die durch den Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 und die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vom 1. August 1975 eingeleitete Entspannung, hatte diese Annäherung befördert. Doch kamen darüber hinaus zunächst einmal keine Kooperationsverträge mehr zu Stande, da der Deutschen Städtetag noch im selben Jahr empfohlen hatte, keine weiteren Partnerschaftsabkommen mit Städten der Sowjetunion zu unterzeichnen. Diese Position war eine Reaktion auf die Weigerung der Sowjetunion, West-Berlin als vollwertiges Mitglied des Städtetages anzuerkennen.15 Als der Oberste Sowjet am 10. November 1985 jedoch den Beschluss gefasst hatte, die Bildung von Städtepartnerschaften gezielt zu unterstützen, gingen daraus unmittelbar Verbindungen hervor.16 Wenige Jahre später nahm dann auch die Kooperation zwischen Freiburg und Lemberg, die am 24. Januar 1989 durch die Unterzeichnung eines Vertrages formalisiert wurde, ihren Anfang. Der kunstschaffende und politisch engagierte Walter Mossmann (auch Moßmann) äußerte sich im Rahmen eines am 19. Februar 2013 gesendeten Radiointer14 Wagner, 1995, S. 126. 15 Ebd., S. 126, 133f. 16 O. V., 1987, S. 23. 288

Lemberg im Lichte seiner Städtepartnerschaften

views zum Zustandekommen der Kooperation. Mossmann, der sich beträchtlich im Rahmen der Städtepartnerschaft Freiburg-Lemberg engagierte, erinnert sich: „Zustande gekommen ist diese Partnerschaft mit der damals sowjetischen Stadt Lvov deshalb, weil unser damaliger Oberbürgermeister ein Habsburg-Tick hatte – zum Glück. Er […] wir wollten unbedingt von Freiburg aus zu den verschiedenen Partnerstädten eine sowjetische Stadt dazu haben. Das war immer sozusagen eine Grenzüberschreitung mit der Idee, dass es Frieden stabilisieren könnte. Also die Autoritäten in der Sowjetunion haben ihm angeboten verschiedene Städte, und dabei war eben auch Lvov, und dann hat er gesehen: ‚Ach, das is’ ja Lemberg und das ist die ehemals östlichste Stadt des Habsburgimperiums. (Wir waren die westlichste Stadt des Imperiums.) Wunderbar.’ Und so fiel die Wahl auf L’viv.“17

Somit hätten, laut Mossmann, verschiedene Städte zur Auswahl gestanden und letztendlich habe die historische Zugehörigkeit beider Städte zu Habsburg für den damaligen Oberbürgermeister von Freiburg, Rolf Böhme (SPD), den Ausschlag gegeben. Weder war Lemberg jedoch die östlichste Stadt der Donaumonarchie, noch Freiburg die westlichste. Die Kontakte deutscher mit sowjetischen Kommunen unterlagen außerdem der Kontrolle des „Verbands der sowjetischen Gesellschaften für Freundschaft und kulturelle Beziehungen mit dem Ausland“ (SSOD).18 Zwar spielte das habsburgische Erbe beider Städte keine ganz unerhebliche Rolle, wie noch deutlich wird, dennoch ist es unwahrscheinlich, die deutsche Seite habe sich einfach den Partner auswählen können. Dem wird im Folgenden auch von Günter Burger, dem Leiter des Referats Internationale Kontakte der Universität Freiburg widersprochen. Bereits 1986 hatte man sich auf die Suche nach einer Partnerstadt in den USA und in der Sowjetunion gemacht, mit dem Ziel trotz aller Schwierigkeiten eine „Dreieckspartnerschaft“ ins Leben rufen zu können.19 Während bald Madison (Wisconsin) als Kooperationspartner in den USA gefunden war, dauerte die Suche nach einer sowjetischen Partnerstadt wesentlich länger. Zunächst sei Pja17 https://rdl.de/beitrag/lviv-freiburg-%C3%BCber-eine-partnerschaft-nicht-vonder-stange, Sendetermin 19.02.2013, abgerufen 04.09.2015, transkribiert durch C. S. 18 O. V., 1987, S. 24. 19 Burger, 2007. Bei dem Text handelt es sich um einen am Johannes-Künzig-Institut in Freiburg gehaltenen Vortrag, der dem Autor freundlicherweise vom Referenten Günter Burger zugesandt wurde. 289

Christof Schimsheimer

tigorsk in Frage gekommen, doch kam kein Abkommen trotz Freiburger Delegationsreise in den Nordkaukasus zustande. Nachdem es auch mit Irkutsk nicht geklappt hatte, sei schließlich durch Vermittlung des sowjetischen Botschafters in der Bundesrepublik, Julij A. Kvicinskij, der auf Besuch in Freiburg gewesen war, eine Entscheidung für Lemberg gefällt worden: „Das ‚endgültige Angebot‘ der sowjetischen Seite mit der Stadt Lwow […] ließ zwar einerseits keine weitere Diskussion mehr zu, war andererseits für Freiburg aber gut passend und daher akzeptabel. Die alte Universitätsstadt war zeitweise unter dem Namen Lemberg Sitz der Regierung der k. u. k. österreichischen Provinz Galizien – und damit zur […] Tradition der Habsburger Städte passend.“20

Die „Odyssee“21 der Suche nach einem sowjetischen Kooperationspartner war damit zwar beendet, doch wurde diese neue Partnerschaft nun erheblich geprägt durch die politischen Ereignisse. Als eine Freiburger Delegation 1990 zur Gegenzeichnung des Vertrags von 1989 nach Lemberg gekommen war, wurde der politische Wandel schnell spürbar. Burger erinnert sich: „Die ukrainische Seite verband mit dem Besuch der Freiburger Delegation auch eine wichtige politische Aussage: der Kontakt in die westliche Welt wurde nun geschlossen, die Zugehörigkeit zur noch bestehenden Sowjetunion wurde in den Hintergrund gedrängt. […] Die von der Delegation aus Freiburg mitgebrachte Dolmetscherin für russisch verstand nur noch wenige Begriffe, es wurde nun als Zeichen des neuen politischen und unabhängigen Denkens nahezu ausschließlich ukrainisch gesprochen.“22

Somit war es nur konsequent, dass nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine 1991 alsbald „im Rheinkieselwappen vor Freiburgs Rathaus […] das ‚O‘ [in ‚Lvov‘] einem ‚I‘“23 wich. Schon früh hatte die Partnerschaft mit Lemberg in Freiburg also auch an prominenter Stelle ihren visuell erfahrbaren Ort im Zentrum der Stadt und ihm war nun eine politische Aktualisierung widerfahren. Mossmann, der 1993 zum ersten Mal nach Lemberg gekommen war, die Idee für einen im selben Jahr produzierten Dokumentarfilm „Lemberg – geöff20 21 22 23 290

Ebd. www.freiburg.de/pb/,Lde/208844.html, 04.09.2015. Burger (wie Anm. 15). Lessner, 2005.

Lemberg im Lichte seiner Städtepartnerschaften

nete Stadt“ hatte und der selbst längere Zeit in Lemberg leben sollte, schilderte seine Eindrücke: „Und da war so etwas wie die Partnerschaft mit L’viv war viel viel interessanter als alle anderen Partnerschaften, die es gibt, zum Beispiel Frankreich oder Italien. Brauchen wir alle keine Partnerschaft, Städtepartnerschaft um da hinzufahren. Während in die postsowjetische Stadt L’viv zu fahren, das waren zunächst nur Menschen über diese Städtepartnerschaft.“24

Umgekehrt bestand auch von Lemberger Seite ein großes Interesse an dem neuen Partner, wie sich Uljana Levčyšyn, zuständig für Lembergs internationale Kontakte, in einem Interview bei „Radio Ech“, einem russisch- und ukrainischsprachigen Programm des unabhängigen deutschen Senders „Radio Dreyeckland“, erinnert: „Das war sehr interessant, das war etwas ganz Neues, denn es war die Bundesrepublik Deutschland und nicht die DDR.“25 Auch erwähnt Levčyšyn die beiderseitige Zugehörigkeit zum Habsburger-Imperium und hebt in ihren Ausführungen vor allem auf die fruchtbare Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Kultur, wie etwa Musik und Tanz, und Wissenschaft ab. Unter anderem am Beispiel der Waldwirtschaft, macht sie einen Wissenstransfer von Freiburg nach Lemberg aus. Wie gestaltete sich die kommunale Partnerschaft in den folgenden Jahren in der Praxis? Lessner, der auf die Freiburger Unterstützung Lembergs verweist, fasst sie folgendermaßen zusammen: „Partnerschaft als soziale Einbahnstraße? Fast schien es so. Der Archiv-Aktenordner mi BZ-Beiträgen [gemeint ist die ‚Badische Zeitung‘] über Lwow, Lviv oder Lemberg nahm im Laufe der 90er-Jahre bald mehr Gewicht an als die Sammelbände mit Artikeln über so altvertraute Partnerstädte wie Innsbruck oder Padua zusammen, und viele dieser Beiträge schilderten den Bau von Hilfsbrücken von hüben nach drüben. Gottlob aber gibt’s auch eine Fahrspur von drüben nach hüben. Und die westukrainische Stadt muss sich längst nicht mehr mit der Bettlerrolle abfinden. Etliche Folkloregruppen, Instrumentalensembles und Chöre aus Lviv haben in den zurückliegenden Jahren das kulturelle Leben Freiburgs bereichert.“26 24 https://rdl.de/beitrag/lviv-freiburg-%C3%BCber-eine-partnerschaft-nicht-vonder-stange, 04.09.2015. 25 www.freie-radios.net/56139, 04.09.2015, transkribiert und übersetzt durch C. S. 26 Lessner, 2005. 291

Christof Schimsheimer

Lessner, der Mossmann darin bestätigt, auf welch großes Interesse die neue Partnerstadt auf deutscher Seite stieß, reduziert den Kontakt in seinem Artikel allerdings nicht auf Freiburger Hilfeleistungen und ukrainische Folklore; an späterer Stelle verweist er auch auf die universitären und gewerblichen Kontakte. Die sind es im Besonderen, verbunden mit der Zusammenarbeit auf politischer und kultureller Ebene, oder etwa dem Schüleraustausch, die die Partnerschaft in der Vergangenheit weiter intensivierten und persönliche Verbindungen knüpften. So denkt man hierbei etwa an den mit Lemberg verbundenen Jurij Andruchovyč und an Jurij Prochas’ko, die mit dem im Mai 2015 verstorbenen Mossmann Freundschaft pflegten, oder an den ehemaligen Freiburger Oberbürgermeister Böhme, dem 2006 von der Nationalen Forstwissenschaftsuniversität der Ukraine die Ehrendoktorwürde verliehen wurde.27 Ein eigens zum Zwecke des Austauschs einerseits mit Russland und andererseits mit der Partnerstadt Lemberg bestehender Verein, der „West-Ost-Gesellschaft Südbaden e.V.“, dem unter anderem der Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD), vorsteht, bemüht sich zudem seit Beginn der Kooperation um eine fruchtbare Zusammenarbeit beider Städte. Dennoch stellt die soziale Unterstützung Lembergs durch Freiburg eine wichtige Konstante dar. Ein in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch Hilfeleistung geprägter Kontakt zwischen deutschen und postsowjetischen Partnerstädten ist dabei keine Ausnahme: „Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation ist das ökonomische Entwicklungsgefälle, sind die Probleme in den osteuropäischen Staaten so groß, daß wirtschaftliche Hilfs- und Kooperationsanliegen auf absehbare Zeit die kommunalen Partnerschaften unmittelbar prägen werden. Dabei geht es neben materieller Soforthilfe vor allem um einen umfassenden KnowHow-Transfer in Wirtschaftsunternehmen, in das Bildungssystem und in die Kommunalverwaltungen.“28

So existierte zum Beispiel bis ins Jahr 2009 eine durch Freiburg finanziell getragene, täglich geöffnete Suppenküche für hilfsbedürftige Lemberger.29 Die soziale Krise erfuhr nun, ausgelöst durch den Krieg im Donbas, erneut eine starke Politisierung. Schon als man noch auf eine Ratifizierung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine durch den damaligen ukrainischen 27 www.rolfboehme.de/archiv.html, 04.09.2015. 28 Wagner, 1995, S. 174f. 29 www.frsw.de/lviv.htm, 04.09.2015. 292

Lemberg im Lichte seiner Städtepartnerschaften

Präsidenten Janukovyč hoffte, appellierte der Lemberger Stadtrat am 19. September 2013 an die Partnerstädte in ihren Ländern politische Lobbyarbeit zu leisten: „Wir, die glühendsten Unterstützer der europäischen Integration der Ukraine, wenden uns an Sie mit der innigen Bitte den Wunsch des ukrainischen Volkes auf Rückkehr in die europäische Familie zu unterstützen. Angesichts dessen, dass unsere Städte Partnerstädte sind, bitten wir Sie sich an die Parlamente und Regierungen Ihrer Länder mit dem Vorschlag zu wenden die Ausarbeitung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der Europäischen Union zu unterstützen.“30

Am 17. Februar 2014 wandte sich der Oberbürgermeister Freiburgs, Dieter Salomon (Grüne), an seinen Lemberger Amtskollegen Andrij Sadovyj (Samopomič (Selbsthilfe)). Unter dem Eindruck der seit Monaten anhaltenden Proteste und unmittelbar vor der blutigen Eskalation ab dem 18. Februar schrieb er: „Soweit ich es den Medien aber auch aus persönlichen Schilderungen Betroffener entnehmen konnte, ist es in unserer Partnerstadt Lviv bisher nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen. Innerhalb der Stadtverwaltung und Bevölkerung besteht jedoch große Bereitschaft, die Proteste in Kiew in Rahmen des Möglichen zu unterstützen […]. In dieser schwierigen und angespannten Situation möchte ich Ihnen die ausdrückliche Solidarität der Stadt Freiburg und der Menschen der Region versichern.“31

Somit steht die Partnerschaft, die durch die Gegenzeichnung in Lemberg im Jahre 1990 bereits 25 Jahre besteht, erneut im Schatten der politischen Ereignisse 30 „Ми, будучи найпалкішими прихильниками євроінтеграції України, звертаємось до Вас зі щирим проханням підтримати прагнення українського народу до повернення в європейську родину. Враховуючи те, що наші міста є побратимами, просимо Вас звернутися до парламентів та урядів своїх країн з пропозицією підтримати укладання угоди про Асоціацію між Європейським співтовариством та Україною“, siehe: „Звернення міської ради щодо пропозиції підтримання укладання угоди про Асоціацію між Європейським співтовариством та Україною парламентами та урядами міст-побратимів“ vom 19.09.2013, http://old. lvivrada.gov.ua/home/zvernenya, 04.09.2015. 31 Offizieller Brief des Oberbürgermeisters von Freiburgs, Dieter Salomon, an seinen Lemberger Amtskollegen Andrij Sadovyj vom 17. Februar 2014. 293

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– durch den Krieg mehr denn je. Allerdings hatte sie bereits in den Jahren davor die Dynamik der 90er Jahre eingebüßt. Wie Günter Burger in einem Interview vom Mai 2013 einräumt, sei die Anzahl der Projekte rückläufig, sodass man zurzeit nur noch im Bereich Kultur und zwischen Schulen zusammenarbeite.32 Neben dem Lemberger Wappen erinnert in Freiburg im öffentlichen Raum noch die Lembergallee an die Partnerschaft, wiederum in Lemberg seit Kurzem das Freiburger Wappen vor dem städtischen Rathaus, und am 17. Mai 2014, dem Lemberger „Europatag“, waren Graffitikünstler aus den Partnerstädten geladen, die auf einer Wand an der Straßenbahnhaltestelle Rusalka Dnistrova ihre Städte abbildeten. Auch hierbei sei es darum gegangen „Europa symbolisch [an Lemberg] anzunähern“33. Darüber hinaus fehlt es in der Stadt an einem zentralen Ort aber an einer leicht auffindbaren Installation, wie es etwa in Rzeszów oder Stanislau (Ivano-Frankivs’k) der Fall ist. Fasst man die Kooperation beider Städte zusammen, so treffen verschiedene Ebenen aufeinander. In der Fremdwahrnehmung Lembergs durch den Freiburger Partner, sind es das gemeinsame historische Habsburger Erbe an das man gerne anknüpft, aber tatsächlich stehen häufig die wirtschaftlichen Probleme im Vordergrund, die durch materielle Unterstützung vermindert werden sollen. Doch besteht auch ein Interesse an dem Anderen und dem damit verbundenen Wunsch nach kulturellem Austausch, der für beide Seiten eine Bereicherung darstellen kann. Für Lemberg hingegen bedeutet die Kooperation neben der erfahrenen Unterstützung auch über die Jahre hinweg eine Modernisierungspartnerschaft, auf politischer Ebene wird sie aber vor allem als Anker für eine Westintegration Lembergs und der Ukraine betrachtet.

Von biznes und Heiligen: die Städtepartnerschaft Lemberg-Rzeszów Am 4. April 1992 wurde in Lemberg der „Vertrag zur wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit zwischen den Städten Lemberg, Ukraine, und Rzeszów, Polen“34 durch den Lemberger Oberbürgermeister Vasyl’ Špicer und

32 www.freie-radios.net/56139, 04.09.2015. 33 http://gazeta.lviv.ua/news/2014/05/16/29354, 04.09.2015. 34 Eine Kopie des Dokuments ist hier einsehbar: www.rzeszow.pl/miasto-rzeszow/ wspolpraca-miedzynarodowa/podpisanie-umow-partnerskich, 04.09.2015. 294

Lemberg im Lichte seiner Städtepartnerschaften

Abb. 1: Das große Hinweisschild im ukrainischen Stanislau (Ivano-Frankivs’k) leistet einen erheblichen Beitrag zur Sichtbarkeit der Städtepartnerschaften. An zweiter Stelle von oben steht auf der Liste der Partnerschaften Rzeszów (ukr. Žešuv), das ebenfalls eine Partnerschaft mit Lemberg hat

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dessen polnischen Kollegen Mieczysław Jankowski (Akcja Wyborcza Solidarność (Wahlaktion Solidarność)) unterzeichnet. Beide Städte knüpften an vorangehende Kontakte an. Nicht ohne Grund fand im Partnerschaftsabkommen die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft und Handel gleich zu Beginn ihre Erwähnung. Betrachtet man sich die Kontakte zwischen beiden Städten in den 90er Jahren, so geht es vor allem um Fragen der Finanzwirtschaft, lokalen Wirtschaftsförderung, Infrastrukturvorhaben, Energieversorgung, die Organisation von Messen, wie etwa eine 1995 in Rzeszów stattfindende Bauindustriemesse. Auch fanden der Kongress „Polen, Ukraine – wirtschaftliche Zusammenarbeit“ oder der Polnisch-Ukrainische Wirtschaftsgipfel in Rzeszów, Letzterer in den Jahren 1998, 1999 und 2000, statt.35 Der Austausch war zwar nicht nur auf wirtschaftliche Aspekte beschränkt, doch schien er stets eine wichtige Rolle zu spielen. So mag dann auch die Notiz zum Besuch des Lemberger Oberbürgermeisters Vasyl’ Kujbida (Narodnyj Ruch Ukraïny [Volksbewegung der Ukraine]) im September 1995 hinsichtlich der Verquickung von Sacrum und Profanum als plakatives Beispiel dienen: „Besuch des Bürgermeisters von Lemberg in Rzeszów aus Anlass der Feierlichkeiten zum 150. Geburtstag des hl. Bruder Alberts, sowie der zur selben Zeit stattfindenden Bauindustriemesse ‚InterRes‘ “36. Rzeszów war in dieser Zeit der federführende Partner von beiden, wie etwa die Veranstaltungen belegen, die vor allem in Rzeszów ausgerichtet wurden. Zweifelsohne lag das daran, dass Polen die wirtschaftliche Transformation besser gelang als der Ukraine, dennoch dürfen andere Aspekte der Zusammenarbeit und des Austauschs nicht übergangen werden. Zwar sind beide Städte durch ihr galizisches und damit ebenfalls habsburgisches Erbe verbunden, doch bestehen weitere bedeutende historische Anknüpfungspunkte: Lemberg als ehemals polnische Stadt ist Teil polnischer Identität: Zu Beginn des Jahres 1995 schenkte die polnische Delegation Computer an eine ukrainische Schule und an polnische Schulen in Lemberg. Die geographischen Nähe, die auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit attraktiver macht, sowie geringe sprachliche Barrieren befördern zudem eine intensive Zusammenarbeit zwischen den Universitäten beider Städte. In Rzeszów 35 www.rzeszow.pl/miasto-rzeszow/wspolpraca-miedzynarodowa/informacjao-wspolpracy-rzeszowa-z-miastami-partnerskimi/wspolpraca-rzeszowa-zmiastami-partnerskimi-do-2002-roku, 04.09.2015. 36 „[W]izyta mera Lwowa w Rzeszowie z okazji obchodów 150 rocznicy urodzin św. Brata Alberta oraz odbywających się w tym samym czasie Targów Budownictwa ‚InterRes‘”, ebd. 296

Lemberg im Lichte seiner Städtepartnerschaften

Abb. 2: Wappen der Partnerstädte am Rathaus in Rzeszów. Das Wappen Lembergs findet sich hier unter dem polnischen Namen Lwów

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gastieren darüber hinaus Lemberger Künstler und Musiker. Und wie das bereits erwähnte Beispiel zeigt, ist es auch die katholische Kirche, die einen Anknüpfungspunkt für die Partnerschaft darstellt: Im Jahre 2001 trafen sich beide Stadtoberhäupter in Lemberg im Rahmen des Besuches von Papst Johannes Paul II. In den darauffolgenden Jahren begannen zunehmend andere Bereiche des partnerschaftlichen Austauschs in den Vordergrund zu rücken, so wurde der Jugendaustausch, die wissenschaftliche Zusammenarbeit, künstlerische Projekte und der Tourismus gefördert. Wirtschaftlich bedeutsam war wiederum ein Investitionsforum, das 2007 in Lemberg stattfand und der Weiterentwicklung der Region vor der Europameisterschaft 2012 dienen sollte.37 Rzeszów begann zudem sein Engagement in der Ukraine zunehmend zu bündeln, da es neben Lemberg auch mit den ukrainischen Städten Stanislau und Luc’k partnerschaftlich verbunden ist.38 Am Rzeszówer Rathaus ist das Lemberger Wappen neben dem der anderen Partnerstädte angebracht, doch haben sich hinter den Mauern die Akzente verschoben: Was Rzeszów mit Polen durch den EU-Beitritt 2004 gelang – die „Rückkehr nach Europa“ – betrachte man in Lemberg weiterhin als noch unerfüllten „Wunsch des ukrainischen Volkes“. Rzeszów blickt schon lange verstärkt nach Westen und Asien, ohne freilich seinen östlichen Nachbarn ignorieren zu wollen. An bewährte Projekte wird angeknüpft, doch ist auch hier die Aufbruchsstimmung der 90er Jahre verflogen und das wirtschaftliche Gefälle hat in hohem Maße zugenommen.

Exkurs: ein Ende der Partnerschaft mit St. Petersburg? Sie besteht seit dem 30. September 2006: die Städtepartnerschaft zwischen Lemberg und St. Petersburg. Der Lemberger Oberbürgermeister Sadovyj und die damalige Gouverneurin von St. Petersburg, Valentina Matvinenko, seit 2009 Mitglied der Kreml-Partei Edinaja Rossija (Einiges Russland)39, hatten den Kooperationsvertrag unterzeichnet. Am 3. November 2014 appellierte der Lemberger Stadtrat in einem offiziellen Schreiben an Sadovyj die Partnerschaft 37 www.rzeszow.pl/miasto-rzeszow/wspolpraca-miedzynarodowa/informacja-o-wspolpracy-rzeszowa-z-miastami-partnerskimi/wspolpraca-rzeszowa-z-miastami-partnerskimi-2003-2009/wspolpraca-z-miastem-lwow-2003-2008, 04.09.2015. 38 www.rzeszow.pl/miasto-rzeszow/wspolpraca-miedzynarodowa/archiwum/2011-r/ ukrainscy-dyplomaci-z-wizyta-w-rzeszowskim-ratuszu, 04.09.2015. 39 http://www.fontanka.ru/2009/11/21/001/, 23.09.2015. 298

Lemberg im Lichte seiner Städtepartnerschaften

unverzüglich aufzukündigen. Als Begründung führten die Vertreter des Stadtrates Matvinenko selbst an: „Schon mehr als ein halbes Jahr leidet die Ukraine unter der russischen Aggression, in deren Ergebnis ein Teil unseres Staates annektiert worden ist. Dagegen unterstützte Valentina Matvinenko nicht nur öffentlich die Okkupation des Gebietes der Autonomen Republik Krim, sondern auch als Oberhaupt des Föderationsrates der Föderationsversammlung der Russländischen Föderation unterschrieb sie die Erlaubnis für Vladimir Putin, Streitkräfte der Russländischen Föderation auf das Territorium der Ukraine zu entsenden.“40

Ob diese Städtepartnerschaft als Folge dieses Appels endgültig beendet werden wird oder nicht, bleibt offen. Statt dass durch kommunale Kooperation die Grundideen der Völkerverständigung und Friedenssicherung gelebt werden, ist sie im Angesicht des Krieges selbst zum Politikum geworden.

Schlussbemerkung Am Beispiel der Städtepartnerschaften Lemberg-Freiburg und Lemberg-Rzeszów wurde deutlich welche große Bedeutung Kooperationen auf kommunaler Ebene einnehmen können. In den ersten Jahren der Partnerschaft weckte Lemberg in Freiburg ein viel größeres Interesse als es die etablierten Städtepartnerschaften taten. Entscheidend dafür war einerseits die wirtschaftliche Notlage in der sich die Ukraine befand und die nach Hilfe verlangte, andererseits die beidseitige Neugier auf eine wenig bekannte Wirklichkeit mit seinen Menschen und seiner Kultur. Der eigentliche Grundgedanke der Freiburger, mit einer 40 „Вже понад півроку Україна потерпає від російської агресії, внаслідок якої було анексовано частину території нашої держави. Натомість, Валентина Матвієнко не лише публічно підтримала окупацію території Автономної Республіки Крим, але і як Голова Ради Федерації Федеральних зборів Російської Федерації підписала дозвіл для Володимира Путіна на введення збройних сил Російської Федерації на територію України.“, aus „Звернення міської ради щодо невідкладного вжиття заходів для припинення дії будь-яких документів про співпрацю м. Львова із м. Санкт-Петербург (Російська Федерація), позбавлення статусу міста-побратима Львова м. Санкт-Петербург“ vom 23.10.2014, http://old. lvivrada.gov.ua/home/zvernenya, 04.09.2015. 299

Christof Schimsheimer

deutsch-nordamerikanisch-ukrainischen Dreieckspartnerschaft einen Beitrag zur Völkerverständigung in einer durch zwei Blöcke getrennten Welt zu leisten, war dabei in ungeahnter Geschwindigkeit von den Ereignissen überholt worden. Auch wenn Polen und die Ukraine Nachbarn sind, besuchen konnten sich die Bewohner beider Länder im Sozialismus nur wenig. Dennoch hatten die Einwohner Rzeszóws und Lembergs nach der Wende vor dem Hintergrund ihrer politischen Vergangenheit nicht das jeweils große Unbekannte vor sich. So dominierte in der Partnerschaft zwischen beiden Städten, die direkt regional kooperieren konnten, zu Beginn die Hoffnung auf wirtschaftliche Vorteile. Aus Lemberger Perspektive kam noch ein weiterer Aspekt hinzu: In der Verbindung mit Freiburg sah man schnell die Möglichkeit einer verstärkten Westanbindung und der Austausch wurde damit zum performativen Akt für eine Stadt, die sich in einem gerade unabhängig gewordenen Staat befand. Spätestens nach dem Beitritt Polens zur EU nimmt zudem Rzeszów die Rolle Polens als Integrator der Ukraine in den Westen auf regionaler Ebene ein. Zunächst Freiburg, später aber in höherem Maße Rzeszów, galten Lemberg als Modernisierungspartner. Wichtig sind dabei aber auch die Kooperationen im universitären Bereich, auf schulischer Ebene und auf dem Feld der Kultur. Es ist der Austausch von jungen Menschen, der Perspektivwechsel in der Wissenschaft und die Bereicherung durch Literatur, Kunst und Musik, der zur Verständigung beiträgt und eine Städtepartnerschaft lebendig werden lässt. Wenn aber, so wie es zurzeit für Lemberg und Freiburg zutrifft, ein zur Routine gewordener Schüleraustausch und einige kulturelle Veranstaltungen die Partnerschaft ausmachen, dann erlahmt sie. Lemberg und Rzeszów kooperieren hingegen intensiver miteinander, für beide ist dabei auch ein grenzüberschreitender Tourismus von Bedeutung. Alle drei Städte teilen das historische Erbe des Habsburgerreiches. Lemberg, als Hauptstadt des früheren Galiziens und als ehemals kulturelles Zentrum Ostpolens, ist dadurch aber noch einmal in besonderer Weise mit Polen verbunden, ohne dass historische Streitpunkte gerade die Partnerschaft beschädigen würden. Während Freiburg und Rzeszów schon seit Jahren in den Stadtzentren ihre Partnerstädte vorzeigen, waren im Falle Lembergs Hinweise auf seine Partnerschaften vor allem auf den städtischen Internetseiten zu finden. Das Beispiel der eingeladenen Graffitikünstler hat die europäischen Partnerschaften auch im städtischen Raum Lembergs sichtbarer werden lassen. Spannend wäre es zudem, die anderen Kooperationen genauer in den Blick zu nehmen; Lodz etwa investiert viel in seine Partnerschaften und der Austausch zwischen Lemberg, den georgischen Städten Kutaissi und Tiflis, oder mit den USA böte einen weiteren Perspektivwechsel. 300

Lemberg im Lichte seiner Städtepartnerschaften

Literatur Baier, Martin, Crailsheimer Chronik 1945-1955. Die Nachkriegs- und Wiederaufbaujahre, Crailsheim 2007. Bock, Hans Manfred, Europa von unten. Zu den Ursprüngen und Anfängen der deutsch-französischen Gemeindepartnerschaften, in: Gemeindepartnerschaften im Umbruch Europas, hg. von Annette Jünemann/Emanuel Richter/Ulrich Hartmut, Frankfurt/Main 1994, S. 13-35. Fiedler, Thomas, Regionale Vernetzung – Innovative Städtekooperationen, in: Europafähigkeit der Kommunen. Die lokale Ebene in der Europäischen Union, hg. von Ulrich von Alemann/Claudia Münch, Wiesbaden 2006, S. 395-411. Lessner, Reinhard 06.09.2005. Lwow, Lviv bzw. Lemberg und Freiburg. Zitiert nach www.frsw.de/lviv.htm, Badische Zeitung Online, 04.09.2015. Lottermann, Annina, Von bilateralen Initiativen der Völkerverständigung zu multilateralen Foren der praktischen Kooperation – städtepartnerschaftliche Zusammenarbeit in Europa gestern und heute, in: Entwicklungsfaktor Kultur. Studien zum kulturellen und ökonomischen Potential der europäischen Stadt, hg. von Gudrun Quenzel, Bielefeld 2009, S. 213-236. Picht, Robert, Städtepartnerschaften und deutsch-französische Beziehungen, in: Städte-Partnerschaften. Kulturelle Beziehungen, hg. von Hans-Günter Brüske, Bonn 1983, S. 16-20. Wagner, Beate, Partnerschaften deutscher Städte und Gemeinden. Transnationale Beiträge zur internationalen Sicherheit, Münster 1995. Woesler, Ditmar, Städtepartnerschaften in neuem Licht, in: Europafähigkeit der Kommunen. Die lokale Ebene in der Europäischen Union, hg. von Ulrich von Alemann/Claudia Münch, Wiesbaden 2006, S. 412-433. O. V. (Hg.), West-Ost-Beziehungen auf kommunaler Ebene. Eine Dokumentation, Recklinghausen 1987.

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Zum Schluss: Exkursionen – vom Lernen zum Forschen Meike Hensel-Grobe Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich unter kulturgeschichtlichen Fragestellungen mit der Geschichte von Städten und dem Umgang mit dieser Geschichte. Dabei legen sie beredtes Zeugnis davon ab, wie sehr Exkursionen auch den Fachwissenschaftler prägen, Forschungen und Fragenstellungen inspirieren und um erinnerungsgeschichtliche Blickwinkel erweitern. Städteexkursionen werden in vielen historischen Seminaren und Instituten angeboten und durchgeführt. Dabei variieren die Schwerpunkte in Bezug auf Epochen oder Aspekte genauso wie die Bandbreite der Zielorte. Der Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte an der Universität Mainz hat in einem besonderen Maße die Exkursion zu einer die Zusammenarbeit prägenden Veranstaltung entwickelt, die Lehre und Forschung miteinander verbindet.1 Den Städten kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da sie Erinnerungs- und Raumkonzepte in verdichteter Form erzählen und den Historikern so auf engem und zum Teil überlagertem Raum die Möglichkeit bieten, diese Narrative wahrzunehmen, zu analysieren und zu reflektieren. Diese Überlegungen sind sicher nicht neu: Mit der Rückkehr des Raumes in die kulturwissenschaftliche und in die historische Forschung fand auch die Exkursion wieder eine inhaltliche Verankerung in der Fachdisziplin. Obwohl historische Exkursionen große Konjunktur haben und spätestens mit Schlögels ‚Flaneur‘ in engen Verbindungen zum spatial turn der Kulturgeschichte gedacht werden, sind systematische Beschäftigungen mit dem fachspezifischen ‚Hinausgehen‘ noch eher spärlich gesät. Vieles rund um die Exkursion als Methode mit Ausweitungsperspektive als Feldforschung bleibt noch in der Selbstverständ1

Eine kurze, aber nicht lückenlose Dokumentation findet sich auf: www.osteuropa. geschichte.uni-mainz.de/190.php, 01.11.2015. 303

Meike Hensel-Grobe

lichkeit stumm, die dadurch entsteht, dass Lehrende ihre eigene Expertise zur historischen Erkundung des Raumes meist nur durch die gelebte Praxis weiterreichen. So finden sich zu historischen Exkursionen viele Berichte, aber wenige Erklärungen zu den vor Ort angewandten Arbeits- und Erschließungsmethoden. Eine gründliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Gestaltung einer Exkursion in Lehre und Forschung kann und soll an dieser Stelle nicht erfolgen. Im Sinne eines Schlusswortes soll es vielmehr darum gehen, einen kleinen Streifzug durch die Möglichkeiten von historischen Exkursionen im Hinblick auf Lehren, Lernen und Forschen in verschiedenen Alters- und Bildungsstufen zu unternehmen.

Historische Exkursionen im schulischen Lernen Die Beschäftigung mit dem Raum war v. a. durch den Missbrauch des Konzeptes in der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur in der Geschichtswissenschaft, sondern auch in der Geschichtsdidaktik lange Zeit marginalisiert.2 Auch in der schulischen Praxis wandte man sich vom Raum ab und fokussierte die Zeit als grundlegende Kategorie. Dem Unterrichtsgang wurde eine motivierende, auflockernde und vor allem soziale Funktion zugeschrieben, aber nur selten wurde historisches Lernen und das Arbeiten mit Raumkonzepten als Ziel definiert.3 Mit der paradigmatischen Wende in der allgemeinen Didaktik und Pädagogik und mit dem Aufblühen der geschichtsdidaktischen Disziplin Ende der 1970er Jahre wurde die Exkursion für die Schule wiederentdeckt. In der Geografie entwickelte sich die Exkursionsdidaktik zu einem eigenen Schwerpunkt.4 Aber auch in der Geschichtsdidaktik gehört es zu einem der wenigen Grundkonsense des Faches, ‚Außerschulischen Lernorten‘ und ‚Geschichte vor Ort‘ eine große Bedeutung für das historische Lernen zuzuschreiben.5 Dabei gehen die di2 3 4 5

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Schlögel, 2006, S. 52-59. Ebeling, 1953, S. 54-57. Hemmer, 2009, S. 39-50. Zusammenfassend: Kuchler, 2012. In jedem der durchaus zahlreichen Handbücher und Überblickswerke zur Geschichtsdidaktik findet die Exkursion bzw. der Umgang mit außerschulischen Lernorten Raum. Nur in Auswahl seien in chronologischer Reihenfolge einige Beispiele genannt: Hey, 1997, S. 727-729; Pleitner, 2012, S. 290-307; Sauer, 2013, S. 139. Das Einbeziehen von Exkursionen, Lernen vor Ort, Unterrichts- bzw. Lerngängen wird auch von staatlicher Seite, von den Schulträgern und Lehrerfortbildungsinstituten empfohlen und angeregt:

Zum Schluss: Exkursionen – Vom Lernen zum Forschen

daktischen Reflexionen immer intensiver auf die Entwicklung des historischen Denkens ein, die Exkursion und der außerschulische Lernort als ihr Ziel haben einen wichtigen Stellenwert in Überlegungen zur Kompetenzentwicklung.6 Die Vorteile liegen dabei auf der Hand: Zunächst verkörpert der historische Ort eine Originalität und Authentizität, die Schüler umfassender anspricht als dies Abbildungen, Fotostrecken oder auch Filme des historischen Ortes tun könnten. Diese direkte Anschaulichkeit trägt unter Umständen etwas zu einer Nivellierung der Rezeptionsvoraussetzungen in heterogenen Lerngruppen bei, da die Unmittelbarkeit des Erlebens, Anfassens, des Beeindrucktseins, des Fragen-Stellens allen Schülern gleichermaßen eröffnet wird. Der Lebensweltbezug wird für alle Schüler ermöglicht. Dies hat nichts mit bereits überholten Überlegungen zu tun, die in der Exkursion eine Möglichkeit der realen und objektiven Primärerfahrung eines Raumes sahen. Die Bedeutung individueller oder gruppenspezifischer Wahrnehmungen wird dabei nicht vernachlässigt, sondern die besondere Lernsituation einer Auseinandersetzung über mehrere Sinne im Vergleich zum normalen Klassenunterricht hervorgehoben. Dabei zeigt sich in der geschichtsdidaktischen Literatur noch ein wenig Unklarheit darüber, was eigentlich unter dem Begriff der Exkursion zu fassen ist. So sah ein älterer Ansatz die Exkursion auf die Erkundung von historischen Orten beschränkt, der Ort sollte als Quelle untersucht werden.7 Andere Ansätze definierten den Begriff als eine Organisationsform des historischen Lernens anhand möglichst originaler Quellen außerhalb des Schulgebäudes, so dass Archiv- und Museumsbesuch hier gleichermaßen einbezogen waren.8 Diese Definitionen werden heute in den aktuellen Ansätzen durch die Unterscheidung verschiedener Exkursionstypen entsprechend der zu entwickelnden Kompetenzen eingebunden. Schreiber etwa unterscheidet nach drei Arbeits- und Denkprozessen, die die Schüler vor Ort leisten müssen: Erstens die Erkundung historischer Stätten als Quellen, so dass die Arbeit mit Sachquellen im Vordergrund steht.

6

7 8

Geschichte vor Ort, 1999. Stauss, 2011. Selbst multimediale Angebote werden mit Exkursionsbezügen beworben: Virtuelle Exkursionen im Geschichtsunterricht. Einsatz von Software im Unterricht, Klett-Verlag www2.klett.de/sixcms/media. php/273/29_30.286365.pdf, 10.09.2015. An dieser Stelle soll auf die Debatte nicht näher eingegangen werden. Überlegungen zur Kompetenzentwicklung anhand von Exkursionen zu historischen Orten hat in jüngerer Zeit beispielsweise Christian Kuchler anhand des Kompetenzmodells von Gautschi entwickelt: Kuchler, 2012, S. 47-50. Ziegler, 1977, S. 109. Hey, 1986, S. 338. 305

Meike Hensel-Grobe

Zweitens eine umfassendere Rekonstruktionsarbeit, die zwar am originalen Ort stattfindet, aber auch auf dort nicht (mehr) vorhandene Quellen zurückgreift. Drittens das Hinterfragen gedeuteter Geschichte als Dekonstruktionsprozess unter geschichtskulturellen Fragestellungen.9 Zunehmend widmen sich didaktische Reflexionen und Projektvorschläge auch der Stadterkundung, wenn auch eine dahingehende Exkursionsmethode als ‚Feldforschung‘, wie sie die Geografie entwickelt hat10, noch nicht ausgearbeitet ist. Dabei werden zwei gegensätzliche Elemente deutlich, die es bei jedem neuen Konzept gegeneinander auszugleichen gilt: Einerseits stellen sich einer Städteexkursion hohe Hürden entgegen, wenn man mit jungen, noch wenig eingearbeiteten Lerngruppen ein so verdichtetes Geflecht erkundet, in dem die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in einem Neben- und Übereinander und auch dem nicht mehr Sichtbaren besteht, und daraus triftige historische Erzählungen entwickeln möchte.11 Auf der anderen Seite bieten historische Stadterkundungen in besonders hohem Maße die oben beschriebenen Vorteile von Exkursionen. In Verbindung mit der Einbeziehung der Regionalgeschichte mit häufigeren Unterrichtsgängen bieten sie einen zwar nicht leichten, aber funktionierenden „Schlüssel zur Geschichte“ an.12

Die Bedeutung von Exkursionen in Lehre und Forschung Exkursionen spielen in den historischen Seminaren der Universitäten eine bedeutende Rolle. Die gemeinsame Gestaltung und der Arbeitscharakter mit Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung sind dabei wichtige Bestandteile.13 Von den Studierenden wird im Rahmen der Vorbereitung eine intensive Einarbeitung in die Geschichte der Städte erwartet. So beginnt die Vorbereitung in der Bibliothek und am Schreibtisch, um dann im Seminar gemeinsam besprochen und im Sinne einer Expertenbildung vertieft zu werden. Dabei sollte bei allen inhaltlichen Einarbeitungen die Schärfung der Fragestellung für die Exkursion im Blick behalten werden, so dass über den Erkundungs- und Anwendungscharakter hinaus auch die Aufmerksamkeit bezüglich des aktuellen Umgangs mit   9 10 11 12 13 306

Schreiber, 1998, S. 213-226. Neeb, 2010, S. 28. Heuer, 2011, S. 1. Kuchler, 2010. Kröll, 2009, S. 108.

Zum Schluss: Exkursionen – Vom Lernen zum Forschen

der eigenen Geschichte in den Städten geschärft wird.14 Die Exkursion dient aus Perspektive der Studierenden mehreren Funktionen. Die Einarbeitung in die Geschichte der Region oder der Stadt wird durch die Erfahrung des realen Ortes vertieft, das angelesene Wissen wird unter neuen Aspekten abgerufen und somit neu strukturiert. Das eigene Expertentum erhält eine performative Dimension und gleichzeitig werden die Spuren und Indizien der aktuellen Erinnerungskultur wahrgenommen und analysiert. Die Fragen nach Inszenierungen, Monumentalisierungen und Musealisierungen und nach der Repräsentativität und Akzeptanz von Erinnerungspolitik und -kultur müssen dabei von den Studierenden bedacht werden, während sie eigentlich noch mit der Erfassung der historischen Erzählungen selbst befasst sind. Dies lässt sich nur in den für Exkursionen typischen unterschiedlichen Handlungsmustern gestalten. Intensive Besichtigungsphasen kombinieren sich mit vielfältigen Gesprächs- und Diskussionsmöglichkeiten, so dass die eigenen Wahrnehmungen und Erkenntnisse nicht isoliert bleiben, sondern sich im Diskurs weiterentwickeln können. Dies gilt in einem besonderen Maße dann, wenn ein Arbeitsbereich in der Vielfalt seiner Mitglieder gemeinsam auf Exkursion geht, so dass sich die unterschiedlichen Erfahrungsstufen abbilden: Vom Studierenden in den ersten Fachsemestern über den jungen Mitarbeiter bis hin zu den bereits arrivierten Wissenschaftlern. Die neuen Erkenntnisse lassen sich in gemeinsamen Diskussionen ordnen, vertiefen und anreichern. Wichtig für die Überlegungen zur Einbettung der Exkursionen in die Lehre ist die Nachbereitung, die explizite Zusammenführung von Theorie und Empirie. Auf dieser Basis sind letztendlich schon viele Forschungsperspektiven gereift. Die Aufgabe, die sich dem Fachwissenschaftler immer wieder stellt und in die er die Exkursion als Erkenntnismethode einfügen muss, ist die Amalgierung von Wahrnehmung und eigener Erfahrung mit wissenschaftlichen Fragestellungen und reflektierter Methodik in einem historiografischen Narrativ. Diese Überlegungen hat Schlögel exemplarisch an der Entstehungsgeschichte von „Moskau lesen“ illustriert. Ein Historiker kommt schon mit viel Wissen an einen Ort, er hat sich intensiv in die Geschichte eingelesen und so schon eine genaue Vorstellung und eine mental map, die er in einem bewussten Vergleichsund Erkenntnisprozess beim Erkunden der Stadt bearbeiten muss. Entscheidend dabei ist der volitionale Aspekt, das Oszillieren zwischen der Dimension der Vorstellung und der Konfrontation des Sehens, Wahrnehmens, Hörens vor Ort. Schlögel kennzeichnet diese Denkoperation aus der Perspektive des Forschers: 14 www.geog.uni-heidelberg.de/md/chemgeo/geog/lehrraum/veranstaltungsbausteine/zademach_exkursionen.pdf. 307

Meike Hensel-Grobe „Städte sind natürlich nicht so lesbar wie Texte, sondern etwas ganz anderes – man schlägt nicht einfach auf, sondern muss eben herumgehen; das ist eine andere Bewegungsweise. Man muss ein sehr geschärftes, ein geübtes Auge und etwas im Kopf haben, damit man überhaupt gerüstet ist. Aber das ist nur der erste Schritt und die erste Hälfte. Das Zweite ist, dass das Herumgehen noch mal alles in Frage stellt, alles wegwischt und die Gegenwartsschicht hinzufügt“.15

Schlögel sieht in seiner Denkfigur zur „Exkursion“ den Historiker als Archäologen der Erinnerung. Im Herumgehen wird die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit hergestellt, der Umgang einer Stadt mit ihrer Geschichte erfasst, ergraben, durchdacht. Die Erinnerungskultur kann nicht einfach in der Stadt gelesen werden. Im Gegenteil muss gerade die „Aura des Authentischen“16, die historische Orte ausstrahlen, dekonstruiert werden, um die Zuschreibungsprozesse erkennen zu können, die auf die Orte geladen wurden. Für die Beiträge ausgewählt wurden unterschiedliche Schwerpunktaspekte, die gemeinsam einen Einblick in die große Breite der Annäherungsmöglichkeiten repräsentieren. Einige Beiträge führen den Leser dabei auf größere Stadtrundgänge, während andere sich auf zentrale Plätze, Straßenzüge oder einzelne Orte konzentrieren. Lisa Bicknell analysiert die Rezeption und den Umgang mit dem ‚Kniefall von Warschau‘ in Polen und zeigt auf, wie die Monumentalisierung im Prozess der Verarbeitung und Aussöhnung angelegt ist. Maike Sach wählt die vergleichende Perspektive zwischen den beiden Städten Gori und Tiflis, um nach den Unterschieden in der Musealisierung und Monumentalisierung Stalins zu fragen, versteckte Deutung in mündlichen Erzählungen herauszufiltern und zu vergleichen. Svetlana Bogojavlenska und Elnura Jivazada nehmen ihre Leser mit zu sehr unterschiedlich geprägten Orten. Bogojavlenska sucht die Orte auf, die sich mit der jüdischen Gemeinde verbinden und beschäftigt sich mit dem Entstehungsprozess und der Veränderung von Erinnerungsnarrativen in Bezug auf den Holocaust. Jivazada folgt den Inszenierungen in Baku, die der Stadt auf den Spuren des Erdöls durch Transformationen alter Mythen eine lange Tradition als ressourcenreiches Land zuschreiben. Die Musealisierung dieses Erinnerungsnarratives ist im Entstehungsprozess. In der Sektion „Repräsentativität und Inszenierung“ eröffnet Andreas Frings einen anderen Blick auf Baku. Raum als gestaltetes und als zu gestaltendes 15 Schlögel, 2004, S. 405. 16 Sabrow, 2012, S. 5. 308

Zum Schluss: Exkursionen – Vom Lernen zum Forschen

Konstrukt wird durch eine Beschäftigung mit nicht mehr vorhandenen und bewusst verdrängten Erscheinungsformen explizit deutlich. Die mental maps gilt es ebenfalls zu reflektieren, indem z. B. die gelöschten Bereiche in die Sichtbarkeit zurückgeholt werden. Andreas Frings macht dies schon mit dem Untertitel „Sowjetamnesien in der Stadtgeschichte Bakus“ deutlich. Seine Intention ist es, den Leser mit auf eine Exkursion durch Baku in den 1920er Jahren zu nehmen, um die Stadt durch die Augen zeitgenössischer Akteure und Rezipienten der sowjetischen Inszenierung in Baku sehen zu können. St. Petersburg rückt unter zwei unterschiedlichen Aspekten in den Mittelpunkt: Die äußere Wahrnehmung der Stadt wird durch repräsentative Bauten geprägt. Das ist die Intention der im Stadtbild dargebotenen Erzählung, die gleichzeitig die Frage nach dem in dieser Form nicht mehr Erzählten aufwirft. Zum einen geht es um das Taurische Palais, das die Wahrnehmung der Stadt als politischer Raum mitprägt (Alexander Bauer). Komplementär schaut Hans-Christian Petersen auf die andere, die verborgene Seite der Stadtgeschichte. Die Exkursion führt zu dem historischen Armenviertel Petersburgs, das nach dem Abriss 1913 bis heute nicht mehr sichtbar ist. Es erfuhr in zwei Erinnerungskonzepten eine Marginalisierung. In der sowjetischen Zeit entsprach es dem zu vermittelnden teleologischen Narrativ ebenso wenig wie in der postsowjetischen Phase der Betonung des Hochkulturellen und Repräsentativen. Veränderungen in der Architektur und der Nutzung von Gebäuden innerhalb einer definierten Zeitspanne sind weitere Beobachtungsfelder einer Exkursion, die dann anhand von Quellenrecherchen auf die ihnen zugrundeliegenden Prozesse zurückzuführen sind. Die Reise zu den Botschaften deutscher Staaten in Moskau (Benjamin Conrad) führt den Leser von der Repräsentativität und Zentralität zur Funktionalität als Gestaltungsprinzip des politischen Raumes im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Paul Friedl nimmt die Bedeutungszuschreibungen an Architektur im Hinblick auf Parlamentsbauten in Polen und der Tschechoslowakei in den Blick und lädt damit zu einer vergleichenden Städtereise ein, während Alena Alshanskaya die weißrussische Erinnerungspolitik an einem Kristallisationspunkt, der Allerheiligen Gedächtniskirche in Minsk, beobachtet. Auch Martin-Paul Buchholz wählt einen geographisch kleinen Raum aus, die Aušros Vartu gatvė in Vilnius, ein 260 m langes Straßenstück. Dabei werden die engen, z. B. architektonischen Bezüge zwischen den Sakralbauten verschiedener Konfessionen deutlich, die sich in der Raumwahrnehmung zu einer multikonfessionellen Erzählung vernetzen. Hans-Christian Maner durchstreift Hermannstadt und Iaşi und bezieht in diese Rundgänge die Raumkonzepte zweier Akteure im politischen Diskurs ein. Dabei geht es um die Semantisierung von Veränderungen in der gesellschaftli309

Meike Hensel-Grobe

chen, religiösen und kulturellen Vielfalt dieser Städte. Christof Schimsheimer verdeutlicht am Beispiel von Lemberg, wie sich kulturgeschichtliche Identifikationen in Manifestationen von Städtepartnerschaften im öffentlichen Raum ausdrücken können und so politische Programme kommunizieren. So bietet der Band ein breites Spektrum an Annäherungen an osteuropäische Stadtgeschichten. Unter unterschiedlichen Zugriffen wird das große Geflecht der pränarrativen Deutungsangebote, die sich zeitlich und räumlich überlagern, an exemplarisch bedeutsamen Knotenpunkten aufgefächert und durchleuchtet. Dabei wird deutlich, dass diese kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Raum- und Erinnerungskonstrukten die Historiker nicht nur in Bibliotheken und Archiven, sondern eben auch auf Reisen durch ihre Forschungsobjekte, durch die Städte, zeigt. Die Beiträger in diesem Band nehmen uns als Leser mit auf eine Entdeckungs- und Reflexionstour ihrer Wahrnehmungen, sie diskutieren Raumkonzepte und eröffnen so einen weiten Blick auf die Kulturgeschichte osteuropäischer Städte von Riga bis Hermannstadt, von Prag und Warschau bis Irkutsk und Baku.

Literatur Ebeling, Hans, Methodik des Geschichtsunterrichts, Hannover 1953, S. 54-57. Handro, Saskia/Schönemann, Bernd (Hg.), Raum und Sinn. Die räumliche Dimension der Geschichtskultur (Geschichtskultur und historisches Lernen 12), Münster u. a. 2014. Hemmer, Michael/Uphues, Rainer, Zwischen passiver Rezeption und aktiver Konstruktion, in: Vielperspektivität und Teilnehmerzentrierung: Richtungsweiser der Exkursionsdidaktik, hg. von Mirka Dickel/Georg Aslze, Münster 2009, S. 39-50. Heuer, Christian, Die Stadt als Ort historischen Lernens?, in: Lernen aus der Geschichte 8 (2011) http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-undLehren/content/9784, 01.11.2015. Hey, Bernd, Die historische Exkursion. Zur Didaktik und Methodik des Besuchs historischer Stätten, Museen und Archive, Stuttgart 1978. Ders., Das Museum draußen: Historische Lehrpfade, Geschichtsstraßen und Lernlandschaften, in: Geschichtsdidaktik 11 (1986), S. 336-348. Ders., Stadt als Museum – Museum als Stadt, in: Heimatmuseum 2000. Ausgangspunkte und Perspektiven, hg. von Joachim Meynert/Volker Rodekamp, Bielefeld 1993, S. 183-194. 310

Zum Schluss: Exkursionen – Vom Lernen zum Forschen

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Meike Hensel-Grobe

Ziegler, Walter, Die historische Exkursion, in: Landesgeschichte und Exkursion im GU, hg. von Rudolf Hasch, Donauwörth 1977, S. 109-126.

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Autorinnen und Autoren Stefan Albrecht, Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz Alena Alshanskaya, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Alexander Bauer, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Lisa Bicknell, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Svetlana Bogojavlenska, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Martin-Paul Buchholz, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Benjamin Conrad, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Paul Friedl, Berlin Andreas Frings, Studienbüro Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Meike Hensel-Grobe, Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Elnura Jivazada, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz 313

Autorenverzeichnis

Hans-Christian Maner, Arbeitsbereiche Osteuropäische Geschichte und Geschichtsdidaktik, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Hans-Christian Petersen, Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg/Oldbg. Julia Röttjer, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz Maike Sach, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Christof Schimsheimer, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

314

Mainzer Historische Kulturwissenschaften Verónica Ada Abrego Erinnerung und Intersektionalität Frauen als Opfer der argentinischen Staatsrepression (1975-1983) März 2016, 558 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3087-9

Julia Brühne, Karin Peters (Hg.) In (Ge)schlechter Gesellschaft? Politische Konstruktionen von Männlichkeit in Texten und Filmen der Romania 2015, 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3174-6

Carsten Jakobi, Christine Waldschmidt (Hg.) Witz und Wirklichkeit Komik als Form ästhetischer Weltaneignung 2015, 488 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2814-2

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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Jutta Ernst, Florian Freitag (Hg.) Transkulturelle Dynamiken Aktanten – Prozesse – Theorien 2014, 376 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2563-9

Alina Bothe, Dominik Schuh (Hg.) Geschlecht in der Geschichte Integriert oder separiert? Gender als historische Forschungskategorie 2014, 268 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2567-7

Ute Frietsch, Jörg Rogge (Hg.) Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens Ein Handwörterbuch 2013, 520 Seiten, Hardcover, 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2248-5

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