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German Pages 727 [728] Year 2007
Marc Wilhelm Küster Geordnetes Weltbild
Marc Wilhelm Küster
Geordnetes Weltbild Die Tradition des alphabetischen Sortierens von der Keilschrift bis zur E D V Eine Kulturgeschichte
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://niww.d-nb.de abrufbar. ISBN 13: 978-3-484-10899-8
ISBN 10: 3-484-10899-1
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http: / /www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Marc W. Küster Coverabbildung: Emmett Williams »aiphabet square«, konkretionen (1958) Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten im Allgäu
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 1
2
XIII
Grammatologie 1.1 Eine Wissenschaft, die es noch nicht gibt 1.1.1 Die Vision des Ignace J. Gelb 1.1.2 Schrift als Zeichensystem 1.1.3 Bedeutung der Schrift 1.2 Derridas De la Grammatologie 1.2.1 Einleitung 1.2.2 Derridas Analyse der ecriture 1.2.3 Kritik der Metaphysik Derridas 1.2.4 Grammatologie als science positive 1.2.5 Desiderate in der praktischen Forschung 1.3 Realität der Grammatologie 1.4 Was ist Grammatologie? 1.5 Graphetik und Graphemik 1.6 Neuere grammatologische Literatur 1.6.1 Gelb als praktischer Grammatologe 1.6.2 Gelbs Nachfolger 1.6.3 Linguistische Grammatologie 1.6.4 Semiotik der Schrift 1.6.5 Soziale, anthropologische und historische Untersuchungen zur Schriftlichkeit 1.7 Methodik der Grammatologie
1 1 1 2 3 4 4 5 13 15 16 17 19 20 23 23 27 27 32 39 41
Terminologie 2.1 Buchstaben 2.2 Einige Definitionen 2.2.1 Einleitung 2.2.2 Phoneme
43 43 43 43 44
VI
Inhaltsverzeichnis
2.2.3 Buchstaben 2.2.4 Alphabet 2.2.5 Schriftzeichen und Schriftsysteme 2.2.6 Semiotische Zeichen Anordnung Schreibkonventionen Ubersetzungen
44 47 50 51 51 52 53
3
Grammatologie der Anordnung 3.1 Positionierung meiner Arbeit 3.1.1 Sekundäre Charakteristika von Schrift 3.1.2 Die Anordnung von Schriftzeichen 3.1.3 Grammatologie und Wissen 3.1.4 Kultursemiotische Aspekte 3.1.5 Der Mythos »Anordnung« 3.1.6 Der Logozentrismus der Schrift 3.2 Einige Thesen 3.2.1 Anordnung 3.2.2 Die Geschichte unseres Sortierens 3.2.3 Der Mythos als Wörterbuch 3.2.4 Anordnung als linguistisches Phänomen
55 55 55 61 62 63 65 66 67 67 69 70 73
4
Wie es begann
75
5
Die 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
81 81 86 89 95 96 96
2.3 2.4 2.5
6
sumerische Listenkultur Die Entstehung des sumerischen Schriftsystems Sumerische Schrift Lexikalische Listen der archaischen Zeit Sortierung in der sumerischen Gesellschaft Exkurs: Moderne Wissenschaftspraxis 5.5.1 Exkurs: Transliteration und wissenschaftliche Praxis . . 5.5.2 Exkurs: Die Sortierung von Keilschrifttexten in modernen Wortlisten
Lexikalische Listen in Ebla 6.1 Ebla 6.2 Die Berufsliste Lü A 6.3 Weitere monolinguale lexikalische Listen in Ebla 6.4 Die Syllabare 6.5 Bilinguale Listen
97 101 101 104 106 108 111
Inhaltsverzeichnis
6.6
6.5.1 Charakterisierung 6.5.2 Aufbau der Wortlisten 6.5.3 Die Sortierung der Bilinguen Zusammenfassung
VII
Ill 112 114 117
7
Alphabete auf Keilschriftbasis 7.1 Allgemeine Überlegungen 7.2 Das persische Alphabet 7.3 Das ugaritische Alphabet
119 119 120 121
8
Die Entstehung des Alphabets 8.1 Verhältnis der ugari tischen Schrift zum semitischen Uralphabet. 8.2 Akrophonie 8.2.1 Das akrophone Prinzip 8.2.2 Früheste Schriftfunde 8.2.3 Exkurs: Das Alphabet von Wadi el-Höl 8.3 Ägyptische Onomastika 8.3.1 Ägyptische Listenwerke 8.3.2 Das Ramasseum Onomasticon 8.3.3 Das Onomastiken des Amenope 8.3.4 Hieroglyphenverzeichnisse aus ptolemäischer Zeit . . . 8.3.5 Zusammenfassung 8.4 Die Reihenfolge der Buchstaben 8.4.1 Allgemeines 8.4.2 Das Abecedarium von °Izbet Sartah 8.4.3 Die südsemitische Anordnung 8.4.4 Wieso Sortierung? 8.4.5 Wieso diese Sortierung? 8.5 Buchstabennamen 8.6 Semantik der Buchstabennamen 8.7 Überlegungen zur Semantik der Anordnung 8.7.1 Ein Rekonstruktionsversuch 8.7.2 Methodische Probleme
127 127 128 128 130 136 140 140 141 141 143 145 145 145 146 148 156 160 161 162 166 166 170
9
Die 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5
171 171 177 180 181 195
Phönizier Einleitung Die phönizische Schrift Die Sortierung der phönizischen Schrift Akrostichische Gedichte Der Strick fasert auf
VIII
Inhaltsverzeichnis
10 Phönizien und Griechenland 10.1 Φοινικηια γράμματα 10.2 Ort der Übernahme 10.3 Sehr frühe griechische Schriftfunde 10.4 Etwas jüngere Schriftfunde 10.5 Abecedaria 10.5.1 Bedeutung der Abecedarien 10.5.2 Abecedarien im Unterricht 10.5.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede 10.5.4 Griechische Sonderbuchstaben 10.5.5 Die attische Schrift 10.5.6 Die Normierung der Schrift 10.5.7 Musikalische Harmonien 10.5.8 Ionische Abecedarien 10.5.9 Das griechische Alphabet heute 10.6 Buchstaben als Zahlzeichen 10.6.1 Zahlzeichen im Judentum 10.6.2 Griechische Zahlzeichen 10.7 Das Alphabet im Unterricht
197 197 198 200 204 206 206 208 209 215 216 217 223 224 225 225 225 227 231
11 Etrusker und Römer 11.1 Etruskische Abecedarien 11.1.1 Das Alphabetar von Marsiiiana 11.1.2 Verhältnis zur phönizischen Schrift 11.1.3 Alphabet und etruskische Sprache 11.1.4 Der Calamaio aus Cerveteri 11.1.5 Späte Abecedarien und Schriftreform 11.2 Frühe lateinische und faliskische Inschriften 11.3 Spätere Veränderungen des lateinischen Alphabets in römischer Zeit 11.4 Lateinische Buchstabennamen 11.5 Silbenpunktuation im Venetischen 11.6 Oskische und umbrische Abecedarien 11.6.1 Die oskisch-umbrischen Dialekte 11.6.2 Die oskisch-umbrischen Alphabete
241 241 241 245 247 249 253 254 260 265 265 272 272 274
12 Antike Enzyklopädien und Wörterbücher 12.1 Griechische und römische Wörterbücher 12.1.1 Die frühesten griechischen Wörterbücher 12.1.2 Das älteste überlieferte alphabetisch angeordnete Lexikon
277 277 277 279
Inhaltsverzeichnis
12.2 12.3 12.4 12.5 12.6
12.1.3 Das Lexikon des Hesychios von Alexandria 12.1.4 Die Homerglossen des Apion und das Wörterbuch von Claudius Casilonus 12.1.5 Das Werk des Johannes Philoponos und die Behandlung von Homonymen 12.1.6 Das Lexikon des Oros 12.1.7 Das Glossar des Sextus Pompeius Festus 12.1.8 Die Buchstaben des Isidor von Sevilla 12.1.9 Das Glossar des Ansileubus 12.1.10 Das lateinisch-griechische Wörterbuch des Pseudophiloxenus Griechische Enzyklopädien bis ins 1. Jahrhundert v. Chr. . . . . Biobibliographien Römische Enzyklopädien Spätantike Enzyklopädien Die Suda
13 Mittelalterliche Glossare 13.1 Einleitung 13.2 Germanische Buchstabenschöpfungen 13.2.1 Hintergrund 13.2.2 Die Schriftreform Chilperichs 13.2.3 Buchstaben in England 13.2.4 Das Werk des »Ersten Grammatikers« 13.3 Althochdeutsche Glossen 13.3.1 OzrAbrogans 13.3.2 Weitere Glossare 13.4 Exkurs: Behandlung des Mittelhochdeutschen in modernen Wörterbüchern 13.4.1 Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch von Benecke, Müller und Zarncke 13.4.2 Das Schweizerische Idiotikon 13.5 Altenglische Glossen 13.6 Französische Glossare und Wörterbücher 13.6.1 Das Catholicon des Johannes Baibus aus Genua 13.6.2 Französisch-lateinische Glossare 13.6.3 Der Abavus 13.6.4 Die Aalma 13.7 Italienische Glossare und Wörterbücher
IX
281 285 287 291 292 294 301 313 317 320 323 325 327 333 333 334 334 334 337 343 351 351 355 356 356 358 364 367 367 372 374 376 378
χ
Inhaltsverzeichnis 13.7.1 Einleitung 13.7.2 Lateinisch-italienische Bilinguen 13.7.3 Erste einsprachige Wörterbücher
14 Sprachnormierende Wörterbücher 14.1 Italien 14.1.1 Der Beginn der Sprachnormierung - die Grammatichetta 14.1.2 Bembos Prose della volgar lingua 14.1.3 Die ersten gedruckten italienischen Wörterbücher . . . 14.1.4 Das Vocabulario di cinquemila vocabuli Toschi des Fabrizio Luna 14.1.5 Grammatik und Wörterbuch des Alberto Acarisio . . . 14.1.6 Die Wörterbücher des Francesco Alunno 14.1.7 Die Accademia della Crusca 14.1.8 Das Vocabolario toscano dell'arte del disegno 14.2 Frankreich 14.2.1 Frühe französische Wörterbücher 14.2.2 Die Wörterbücher der Familie Estienne 14.2.3 Frühe französische Grammatiken 14.2.4 Wörterbücher Robert Estiennes 14.2.5 Das Wörterbuch von Nicot 14.2.6 Die Wörterbücher der Academie frangaise 14.2.7 Das Wörterbuch von Richelet 14.2.8 Das Dictionaire Critique de la Langue Frangaise von J. F. Feraud 14.3 Deutschland 14.3.1 Einleitung 14.3.2 Frühgeschichte deutscher Lexikographie 14.3.3 Die Teütsch spraach 14.3.4 Die Suche nach dem Hochdeutschen 14.3.5 Adelungs Wörterbuch der >Hochdeutschen Mundart< . . . 14.3.6 Exkurs: Zedlers Universal-Lexikon 14.4 Exkurs: Die Erfindung der spanischen Orthographie 15 L'Encyclopedie und ihre Epigonen 15.1 Die Encyclopedie Diderots und d'Alemberts 15.1.1 Einleitung 15.1.2 Pierre Bayles Dictionnaire des fautes 15.1.3 Ephraim Chambers Cyclopadia 15.1.4 Die Anordnung
378 381 385 387 387 387 393 401 412 416 419 446 454 456 456 457 457 463 467 471 484 487 490 490 491 494 497 499 507 510 519 519 519 521 529 538
Inhaltsverzeichnis
XI
15.1.5 Exkurs: Schriftsysteme in der Encyclopedic 547 15.2 Die Encyclopedic d'Yverdon 551 15.2.1 Ausgangspunkt und Zielsetzung 551 15.2.2 Eine neue Philosophie 552 15.3 Die drei Anordnungsprinzipien 559 15.3.1 Alphabetische Anordnung 559 15.3.2 Der renvoi 563 15.3.3 Der Wissensbaum 564 15.4 Panckouckes Encyclopedic methodique 564 15.4.1 Die Marktlage 564 15.4.2 Die Table analytique et raisonnee des matteres 565 15.4.3 Anlage und Anspruch der Encyclopedie methodique . . . 569 15.4.4 Das Dictionnaire des Beaux Arts 572 15.4.5 Der Prospectus 576 15.4.6 Lamarcks Dictionnaire de Botanique 581 15.4.7 Weitere Teillexika 586 15.5 Alphabetische Anordnung in der philosophischen Debatte . . . 587 15.6 Zusammenfassung 589 16 Wörterbücher und Enzyklopädien des 19. und 20. Jahrhunderts 16.1 Überblick 16.2 Italien 16.2.1 Einleitung 16.2.2 Die Enciclopedia Italiana 16.3 Frankreich 16.3.1 Einleitung 16.3.2 Larousse 16.3.3 Die Encyclopedie frangaise 16.4 Deutschland 16.4.1 Ott Brockhaus 16.4.2 Meyers Enzyklopädisches Lexikon
591 591 593 593 594 596 596 597 603 612 612 616
17 Formalisierung der Sortierung 17.1 Einleitung 17.2 Die Anordnung von Bibliothekskatalogen 17.2.1 Die Preußischen Instruktionen 17.2.2 Bibliographische Sortierung in Frankreich 17.3 Sortierung in Archiven 17.3.1 Die ABC-Regeln 17.3.2 DIN 5007
625 625 626 626 629 632 632 634
XII
Inhaltsverzeichnis
17.3.2 DIN 5007 17.3.3 Dit Pratique du classement alphabetique 17.3.4 Italien 17.4 EDV in der Sortierung 17.4.1 Ausgangssituation 17.4.2 Das mehrstufige Sortierverfahren 17.4.3 Exkurs: Internationale Normierung 17.4.4 ISO/IEC 14651 17.4.5 Grapheme und Phoneme 17.4.6 (ENV 13710:2000) European Ordering Rules 17.4.7 Die georgische Schrift 17.4.8 Die armenische Schrift 17.4.9 Reihenfolge der Schriften
634 636 640 641 641 641 644 645 647 649 662 663 664
18 Das geordnete Weltbild
665
Α Anhang: Die Rede des Charon über Trissinos neue Buchstaben
669
Β Bibliographie
673
C Personenverzeichnis
703
D Orts- und Länderverzeichnis
709
Vorwort Diese Studie ist über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden. Die erste Idee für diese Ende 2004 von der Universität Tübingen angenommene Dissertation habe ich, motiviert durch meine Arbeit an der (ENV 13710:2000), 1999 gegenüber Prof. Dr. Kurt Kloocke formuliert. Herr Kloocke hat dieses Konzept als Betreuer bereitwillig angenommen und die Arbeit seither immer unterstützt. Seine Betreuung war eine vorbildliche Mischung aus Nähe und Distanz. Wann immer ich Hilfe gebraucht habe, war er stets mit Rat und Tat zur Stelle. Er hat die Arbeit in ihrem jeweiligen Bearbeitungszustand über die Jahre viele Male gelesen, immer wieder zahlreiche wertvolle Ratschläge gegeben und mir den richtigen Pfad gewiesen. Gleichzeitig hat er mir aber auch jene inhaltliche und zeitliche Freiheit gelassen, ohne die ich mein Werk neben meinen beruflichen Aufgaben nicht hätte realisieren können. Ich hätte mir keine bessere Begleitung wünschen können. Vielen Dank! Sehr danken möchte ich auch meinem Zweitgutachter, Prof. Dr. Paul Sappler, der mir ebenfalls mit Rat und Tat zur Seite stand, sowie Prof. Dr. Tilman Westphalen, der zwar mit dieser Arbeit gar nichts, mit meiner literaturwissenschaftlichen und philologischen Ausbildung dafür um so mehr zu tun hat und der mich in seinem kritischen und direkten Herangehen an jegliche Materie geprägt hat. Prof. Dr. Wolfgang Röllig war trotz seiner zahllosen anderen Verpflichtungen so großzügig, die Teile meiner Arbeit gründlich zu begutachten, die in direktem Bezug zum Vorderen Orient stehen. Ihm verdanke ich neben wertvollen Hinweisen auf neuere Ergebnisse wie die Funde von Wadi el-Höl und das in der halaham-Tradition stehende Abecedarium aus Ugarit, den Arbeiten Lemaires und vielen Korrekturen im Detail vor allem die für mich wichtige Ermutigung, meine grundsätzliche Darstellung und meine Thesen auch für die Zeit bis zur Entstehung des griechischen Alphabets zu vertreten - ebenfalls vielen Dank! Die Teile dieser Arbeit, die Italien betreffen, sind größtenteils auch dort entstanden, konkret während meines mehrmonatigen Aufenthalts am Centro
di Ricerche Informatiche per i Berti Culturali an der Scuola Normale
Superiore
in Pisa. Ohne diese Unterstützung wären mir die exzellente Bibliothek der
XIV
Vorwort
SNS, in der ich viele schöne Wochen verbracht habe, und die frühen Drucke der Universitätsbibliothek Pisa und der Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze verschlossen geblieben. Ich möchte dem ganzen CRiBeCu-Team danken, ganz besonders Michela Benedetti, Matteo Gallo, Elisa Lastella, Daniella Lombardini, Debora Marconcini, Daniele Marotta, Michele Paoli, Antonella Pascucci sowie Professore Ciliberto. Zu Dank verpflichtet bin ich auch dem Institut Benjamin Constant in Laussanne und der Bibliotheque cantonale et universitaire de Lausanne, die mich in jeder Beziehung bei der Erforschung der Encyclopedie d'Yverdon und der Encyclopedie methodique unterstützt haben. Danken möchte ich dabei besonders Dr. Anne und Prof. Dr. Etienne Hofmann sowie Prof. Dr. Alain Cernuschi, der mir netterweise zahlreiche seiner einschlägigen Publikationen als Vorabdrucke hat zukommen lassen. Meine Kollegen in der Normierung Arnold Winkler, Alain LaBonte und Bernard Chauvois haben mir zahlreiche Dokumente zur Geschichte von (ISO/IEC 14651:2001) und (NF Ζ 44-001:1995) zur Verfügung gestellt. Diese überaus interessanten Schriftstücke hoffe ich zukünftig noch vollständiger auswerten zu können, als es in dieser Arbeit angebracht war. Danke! Zu großem Dank verpflichtet bin ich auch dem fluxus artist extraordinaire Emmett Williams, der mir freundlicherweise sein 1983 - als Überarbeitung eines Schreibmaschinengedichtes in Schwarzweiß von 1958 - entstandenes Alphabet Square als Titelbild für diese Arbeit zur Verfügung gestellt hat. In technischer Hinsicht möchte ich Giuseppe Bilotta stellvertetend für das ganze Entwickler- und Supportteam von Aleph danken, dem neuen, freien, Unicode-fähigen TeX-Derivat, mit dem ich diese Arbeit mit ihrer Vielzahl von verschiedenen Schriften und teilweise exotischen Anforderungen setzen konnte. Obwohl alle Teammitglieder sich dieser Thematik nur in ihrer Freizeit widmen können, habe ich immer schnelle, freundliche und kompetente Reaktionen auf meine Fragen und bug reports bekommen. Vor allem die hebräischen und altitalischen Passagen dieser Arbeit nutzen als Font Juan Jose Marcos' großen Unicode-Font Alphabetum. Danken möchte ich auch meinem Kollegen Wolfgang Pempe, der als Altorientalist trotz seiner eigenen Arbeitsbelastung einige der einschlägigen Kapitel kritisch durchgesehen hat. Auch Dr. Richard Waltereit möchte ich für seine Mitwirkung im Kolloquium und für seine Korrekturen italienischer Übersetzungen danken. Schließlich möchte ich mich bei meiner Familie bedanken, zunächst bei meinen Eltern und Schwiegereltern, die uns in jeder Hinsicht unterstützt haben, dann bei meinen drei kleinen Kindern Annika Elisabeth, Marc Arnold und
Vorwort
XV
Frederik Christoph, die oft auf ihren Vater verzichten mussten. Allen voran aber möchte ich meiner Frau Susanne Küster danken. Sie hat nicht nur die jahrelange Arbeit einschließlich des Italienaufenthaltes mitgetragen und mich immer wieder neu motiviert weiterzumachen, sie hat den Text auch viele Male auf Fehler, Formulierungen und innere Konsistenz hin durchgelesen. Vor allem aber gehen die Übersetzungen aus dem Hebräischen und Griechischen, zwei Sprachen, die ich nur sehr rudimentär beherrsche, sowie teils aus dem Lateinischen auf sie zurück. Viele Quellen wären mir ohne ihre Mithilfe verschlossen geblieben. Sie hat so das Werk in dieser Form überhaupt erst ermöglicht. Ihr und dem Gedenken an meinen Großvater Ernst Heinrich Wilhelm Küster, der mich immer zu eigenständigem Denken ermutigt hat, möchte ich diese Arbeit widmen. Worms, im August 2006 Marc Wilhelm Küster
1
Grammatologie
1.1
Eine Wissenschaft, die es noch nicht gibt
1.1.1
Die Vision des Ignace J. Gelb
Selten nur kann man die Geburtsstunde einer Wissenschaft exakt festmachen. Die Grammatologie, die Wissenschaft von der Schrift, ist ein solcher Fall. Einer der führenden Assyrologen seiner Zeit, Ignace Jay Gelb, hat ihre Existenz vor gut fünfzig Jahren zum ersten Mal postuliert. Gelb wählte dazu seine bekannt gewordene Study of Writing, deren erste Auflage (Gelb, 1952) noch den programmatischen Untertitel Foundations of Grammatology trug. The aim of this study is to lay a foundation for a new science of writing which might be called grammatology. While the general histories of writing treat individual writings mainly from a descriptive-historical point of view, the new science attempts to establish general principles governing the use and evolution of writing on a comparative-typological basis.1 In seinem Einleitungskapitel mit dem bezeichnenden Titel Writing signs führt er diesen Gedanken weiter aus:
as a system
of
As there is no general epigraphy or paleography, so there is no general science of writing. This statement may sound preposterous to anyone who remembers the dozens of various books which treat of writing in general. What should be noted, however, is that all these books are characterized by a common historical-descriptive treatment. Such a simple narrative approach to the subject does not make it into a science. It is not the treatment of the epistemological questions what?, when? and where? but that of how? and, above all, why? that is of paramound importance in establishing the theoretical background of a science. Disregarding a few notable exceptions in the case of individual systems, such questions have rarely, if ever, been posited and answered in the general field of writing. [...] The aim of this book is to lay a foundation for a full science of writing, yet to be written. To the new science we could give the name >grammatologydisembodied words< mean absolutely nothing and that for a linguist >les idees ne viennent qu'en parlantsignifiantpropre< et courant« und benutzt den Ausdruck ecriture au sens courant dann immer wieder. Derrida ist zu gewieft, um den letzten Schritt zu gehen und die Schrift zu einem Symbol des Ursinnlosen zu machen, denn diese Aussage wäre natürlich wieder metaphysisch und ließe sich leicht dekonstruieren.
1.2. Derridas De la
Grammatologie
9
desir exigeant, puissant, systematique et irrepressible, dun tel signifie [= d u n signifie transcendantal]22
Der Logozentrismus muss daher der Schrift, dem Urkonventionellen, der »chute dans l'exteriorite du sens« (S.24), der arbiträren Verknüpfung von Signifikant und Signifikat feindlich gegenüberstehen und sie als gefährliches Substitut, als »menance de l'ecriture« (a. a. O.) bekämpfen, gegen die es »un systeme de defense exemplaire« (S. 149) zu errichten gelte. Was setzt nun Derrida als Gegenmodell gegen den Logozentrismus? Zunächst einmal nichts, jedenfalls nicht die Idee einer plakativen graphozentrischen Philosophie. Derrida vermeidet es geschickterweise, eine einfache positive Aussage zu machen und etwa das Ende des Logozentrismus anzukündigen. Im Gegenteil, das Ende des Logozentrismus ist nicht absehbar, ja wird möglicherweise nie realisiert werden. Wir können nach Derrida im Übrigen auch gar nicht anders denken als in dieser Tradition. Wir können den Logozentrismus maximal als Phänomen einer, unserer Geschichtsepoche, also in seiner geschichtlichen Begrenztheit erkennen.23 Wenn es ein Gegenbild zum Logozentrismus gibt, dann das des Spiels (jeu), der Wechselwirkung von Signifikanten ohne einen ultimativen, einen transzendentalen Sinn außerhalb der Grenzen des Spiels selbst. Oder wie es Derrida in seinem sehr speziellen Stil ausdrückt: On pourrait appeler jeu l'absence du signifie transcendental comme illimitation du jeu, c'est-ä-dire comme ebranlement de l'onto-theologie et de la metaphysique de la presence. [...] II faudra ici penser que l'ecriture est le jeu dans le langage. (Le Phedre (277 e) condamnait precisement l'ecriture comme jeu - p a i d i a — et opposait cet enfantillage ä la gravite serieuse et adulte (spoude) de la parole).24
Saussure Wenn der Logozentrismus eine Philosophie der Einheit und der Präsenz, der »voixpresente ä soi« (S.46), ist, so ist Derridas Antwort die trace, ein Programm von Differenz und Geschichtlichkeit. (Derrida, 1967), S.71f. Derrida diskutiert an dieser Stelle die Zeichentheorie von Peirce, die für ihn sehr nahe an die Dekonstruktion des finalen Signifikats, des letztendlichen Sinnes kommt. 23 »Biert entendu, il ne s'agit pas de >rejeter< ces notions [du logocentrisme]: elles sont necessaires et, aujourd'hui du moins, pour nous, plus rien n'est pensable sans elles. II s'agit d'abord de mettre en Evidence la solidarite systematique et historique de concepts et de gestes de pensie qu'on croit souvent pouvoir separer innocemment. Le signe et la divinite ont le meme lieu et le meme temps de naissance. Lipoque du signe est essentiellement theologique. Elle ne finirapeut-etre jamais. Sa cloture historique [von mir oben als geschichtliche Begrenztheit wiedergegeben] estpourtant dessinte«, (Derrida, 1967), S.25. 24 (Derrida, 1967), S.73. (Kristeva, 1975) stößt in die selbe Richtung, wenn sie in The System and the Speaking Subject bedauert, Sprachwissenschaften und Semiotik blendeten alle Aspekte von Sprache aus, die mit »play, pleasure or desire« zu tun hätten (S.48). 22
10
1. Grammatologie
Derrida entwickelt sein Konzept der Spur im direkten Dialog mit Saussure, dessen Strukturalismus er letztlich nur radikalisiert. Vorher aber einige Worte zur Zeichentheorie Saussures, ohne die Derridas Überlegungen nicht verstanden werden können: Da ist zum einen das Konzept | Zeichen | an sich, das sich zusammensetzt aus |Signifikant| ( . ü g n i f i a n t ) und |Signifikat| (.signifiee). Der Signifikant ist ein Lautbild, eine » i m a g e acoustique«, das Signifikat ein kulturell bestimmtes Konzept.25 Signifikant und Signifikat sind rein konventionell aufeinander bezogen, es gibt α priori keine Verbindung zwischen beiden (das Prinzip des arbitraire du signe, siehe (Saussure, 1972), S. 100). Das Signifikat ist nun für Saussure nicht etwa eine positive Definition, etwa ein |Hund| als ein vierbeiniges Säugetier, das bellt, sondern eine rein negative Definition durch Abgrenzung von anderen Begriffen: [D]ans la langue il n'y a que des differences. Bien plus: une difference suppose en general des termes positifs entre lesquels eile s etablit; mais dans la langue il n'y que des differences sans termes positifs. Qu'on prenne le signifie ou le signifiant, la langue ne comporte ni des idees ni des sons qui preexisteraient au systeme linguistique, mais seulement des differences conceptuelles et des differences phoniques issues de ce systeme. [...] Un systeme linguistique est une serie de differences d'idees; mais cette mise en regard dun certain nombre de signes acoustiques avec autant de decoupures faites dans la masse de la pensee engendre un systeme de valeurs; et c'est ce systeme qui constitue le lien effectif entre les elements phoniques et psychiques ä l'interieur de chaque signe.26 Saussure demonstriert diese These nicht etwa anhand von Sprache, sondern von Schrift. Er erläutert sein Verständnis vom Funktionieren eines Schriftsystems: 1 ° les signes de 1 ecriture sont arbitraires; aucun rapport, par exemple, entre la lettre t et le son quelle designe; 2° la valeur des lettres est purement negative et differentielle; [...] 3° les valeurs de 1 ecriture n'agissent que par leur opposition reciproque au sein d'un systeme defini, compose dun nombre determine de lettres. Ce caractere, sans etre identique au second, est etroitement lie avec lui, parce que tous deux dependent du premier. Le signe graphique etant arbitraire, sa forme importe peu, ou plutöt n'a d'importance que dans les limites imposees par le systeme; 4° le moyen de production du signe est totalement indifferent, car il n'interesse pas le systeme.27 25
26 27
Vergl. (Saussure, 1972), S. 99. Das Lautbild ist für Saussure nicht mit dem übertragenen Laut identisch, sondern eine psychische Realität. Ebenso ist das Signifikat nicht α priori in seiner Bedeutung ersichtlich (Derrida verwendet Kants Begriff |transzendental|), sondern seine Beherrschung ist Teil des Sprachlernprozesses. (Saussure, 1972), S. 166. Hervorhebungen im Original. (Saussure, 1972), S. 165f.
1.2. Derridas De la
Grammatologie
11
Die Urschrift Um nun seinen Begriff von ecriture in dieses Schema einpassen und seine These von der Urschrift bestätigen zu können, braucht Derrida ein entsprechend weites Verständnis von | Schrift |: Si >ecriture< signifie inscription et d'abord institution durable d'un signe (et c'est le seul noyau irreductible du concept decriture), lecriture en general couvre tout le champ des signes linguistiques.28
Derrida argumentiert also, dass es das innerste Wesen {»noyau irreductible«) der Schrift sei, ein konventionelles Zeichensystem zu sein. Damit wird Schrift wieder zu dem urkonventionellen Zeichensystem schlechthin. Er geht aber noch einen Schritt weiter, indem er die Begriffe | Schrift | und | (konventionelles) Zeichensystem | gleichsetzt. Schrift ist hierbei nicht nur ein prominentes Beispiel für ein konventionelles Zeichensystem, es ist dazu synonym. Da aber Sprache (nur) ein Beispiel für ein konventionelles Zeichensystem ist, ist für Derrida jede Sprache Schrift. Als Beobachtungsaussage in Derridas Kontext mag dieser Satz seine Berechtigung haben. Als philosophische These ist sie ein logisches Husarenstück, denn Derrida behauptet hier nichts weniger als, scholastisch gesprochen, die Essenz des Begriffes |Schrift| bestimmt zu haben, nur leicht verbrämt als »noyau irreductible du concept«. Der Glaube an die Essenz, also an das ultimative und von allen Akzidentien gereinigte Signifikat eines Begriffes postuliert nichts anderes als die Existenz eines transzendentalen Signifikaten - der von Derrida dekonstruierte Logozentrismus im Reinformat. Nehmen wir Derridas Verständnis trotzdem für den Augenblick als Prämisse hin, dann erwächst daraus logisch sein Konzept der Spur. Ein Satz wie »avant d'etre ou de n'etre pas >noterepresentefigure< dans une >graphie le signe linguistique implique une ecriture originaire« (S.77) ist natürlich nur eine tautologische Folgerung dessen, dass alle Sprachsysteme eben ecriture seien. Dasselbe gilt auch für die archi-ecriture, die Urschrift, die Derrida postuliert. Aber schauen wir uns eine diesbezügliche Passage näher an: Nous voudrions plutöt suggerer que la pretendue derivation de 1 ecriture, si reelle et si massive quelle soit, n'a ete possible qua une condition: que le langage >originelnaturelhier links abbiegen< akzeptiert (S. 83). Zeichen sind in dieser Sichtweise immer Schnittstellen zwischen den verschiedensten menschlichen Aktivitäten, aber gleichzeitig immer auch Produkte dieser Integration zwischen den Tätigkeiten (warum das so sein soll, darüber schweigt Harris). An anderer Stelle betont er, ein Zeichen sei nur dadurch Zeichen, dass es eine bestimmte »Integrationsfunktion« zwischen Sender und Empfänger ausübe 68 . Es ist weder klar, was | Integrationsfunktion | genau bedeutet, noch warum es zu dem Vorgenannten 67
68
(Harris, 2003), S. 82f. Übersetzung: »Unsere Erfahrung sagt uns, dass wir Bedeutungen Dingen und Ereignissen zuweisen, unabhängig davon, ob eine entsprechende Konvention existiert oder nicht. Deshalb ist es gar nicht notwendig, dass die Zeichen eine soziale Dimension haben, und diese Aussage ist gleichzeitig ein fundamentaler Unterschied zwischen der integrationalen Semiologie und der Saussures: der integrationale Theoretiker akzeptiert nicht, dass als Semiotik >nur diejenigen Teile der Phänomene, die sich in der Form eines sozialen Produkts manifestierenIch brauche ein Taschentuch< (um mir die nicht vorhandenen Tränen abzuwischen), aber es hat auch eine konventionelle Bedeutung, ein »significato convenzionale«, die jeder Deutschsprachige teilt, die nämlich eines quadratischen Tuches, das man in der Tasche trägt und mit dem man sich bei Bedarf die Nase putzt. Sowohl die situationsabhängige als auch die konventionelle Bedeutung entstehen ohne jede direkte Vereinbarung gemeinsamer integrativer Handlungsanweisungen. Damit sind wir aber bei dem Hauptproblem der integrationalen Semiologie. Es fällt schwer zu sehen, wie in diesem Modell überhaupt Kommunikation mit anderen möglich sein soll, jedenfalls nicht, ohne in die Falle eines naiven Nomenklaturismus zu tappen, den Harris ausdrücklich ablehnt. Eco hat diese Idee in II Nome della Rosa in der Figur des Salvatore karikiert, der sich seine eigene Sprache aus allen Sprachen zusammengezimmert hat, mit denen er in Kontakt gekommen ist. Was herauskommt, ist eben keine Sprache, oder, um den Erzähler Adso zu zitieren: »Salvatoreparlava tutte le lingue, e nessuna«74. Für Harris' Anwendung auf die Schrift gilt dasselbe: If the f o r m o f the written sign is completely arbitrary, o n e can imagine a c o m m u n i t y o f writers in which everybody would invent their own personal alphabets, to the point to which all c o m m u n i c a t i o n would break down, thus annihilating the very value o f the written letter as a sign. (I can always claim that " ( 7 6 ; χ " A " r e p r e s e n t s m y own opinion o f Rethinking Writing, cant I?). Signs, as Harris argues, only f u n c t i o n within the limits o f a >communicational p r o g r a m m e s and the logical consequence o f such a statement is that, while handwriting m a y be idiosyncratic, alphabets, as a complete structure, are not, at least once they have been established and accepted within the larger limits o f a community. T h i s is the case even if the particular notation o f a letter is, in itself, arbitrary, in that there is no relationship between the shape o f a letter, a n d the s o u n d it supposedly represents. T h i s would however, return Harris back to the Saussurean semiology he has just rejected, and also to the speech act theory he has all but ignored. 7 5
Es fällt auf, wie Ionita mit Bezug auf die speech act Theorie von John Langshaw Austin, John R. Searle und Grice feststellt, dass Harris sich bei der Entwicklung seiner integrationalen Semiologie kaum mit alternativen, ausgefeilteren Theorien auseinandersetzt. Neben dem obligatorischen Saussure zitiert er praktisch nur seine eigenen und von ihm selbst herausgegebenen Publikationen. Die Thesen, die er Peirce unterstellt, sind derart holzschnittartig und selektiv, dass sie dem 73
74 75
(Eco, 1986), S.65. Eco bezieht sich an dieser Stelle auf die Sprechakttheorie von Herbert Paul Grice. (Eco, 1998), S. 54. Übersetzung: »Salvatore sprach alle Sprachen und keine«. (Ionita, 2001).
38
1. Grammatologie
amerikanischen Denker an keiner Stelle gerecht werden, ja man sich manchmal fragt, ob sich Harris überhaupt je ernsthaft mit Peirce auseinandergesetzt hat. Ecos extrem einschlägige Thesen zu den Bedeutungen des Signifikats 76 fehlen genauso wie eine Auseinandersetzung mit Derridas Grammatologie. Selbst Harris' Einwurf, Saussures Strukturalismus könne nicht erklären, warum jemand anderes einen Buchstaben falsch lese, kann nicht überzeugen. Es ist sehr gut möglich, dass einem Leser die Differenzen zwischen den Buchstaben in einer fremden Handschrift nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Diese Situation ist völlig analog zur Sprache: es ist wohlbekannt, dass Leute lispeln, dass Kleinkinder einzelne Konsonanten noch nicht beherrschen oder dass Phoneme nach einem feucht-fröhlichen Abend manchmal nicht mehr klar unterscheidbar sind. Wenn das zu Wortverwechslungen führt, so ist das aber kaum ein Argument gegen Saussures These, ganz im Gegenteil: die sozial vereinbarten Differenzen innerhalb des Zeichensystems sind nun für den oder die Rezipienten der Botschaft nicht mehr erkennbar. Gerade dadurch, so würde Saussure antworten, gerät das Äquilibrium ins Rutschen. Ahnliches gilt für die Homophonie nicht homographer Wörter. Saussure selbst bietet solche Beispiele, mit denen er darauf hinweist, dass Sprache und Schrift zwei unterschiedliche Zeichensysteme sind, die beide ihre Berechtigung haben: L'image de ce mot acquiert pous nous une valeur ideographique. Ici l'orthographe traditionelle peut revendiquer ses droits: il est utile de distinguer tant et temps, - et, est et ait, - du et du, — il devait et ils devaient, etc.77
Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass die integrationale Semiologie bisher weder in der Semiotik noch in der Linguistik Rückhalt gefunden hat. Es ist etwas deprimierend, dies über das einzige Buch zur Semiotik der Schrift seit Derrida sagen zu muss, aber man kann eigentlich nur hoffen, dass sein Einfluss auf die Entwicklung der Grammatologie weiterhin gering bleiben wird. Das heißt nicht, dass (Harris, 2003) nicht auch seine Stärken hätte. Die Trennung von | Notation | und |Schrift| ist wichtig, wenn auch nichts spektakulär Neues. 78 Nicht einleuchtend ist allerdings, warum eine Notation oder ein Emblemystem für Harris eindeutig angeordnet sein müssen. Schon die Beispiele, die Harris selbst für Emblemsysteme bringt - An- und Abschalten von Licht, Ampel u. ä. (S. 120) - haben keine Anordnung, von anderen notationsähnlichen Gebilden ganz zu schweigen. So gehören zur üblichen mathematischen Notation 76 77 78
So zum Beispiel in (Eco, 1986), Isignificati delsignificato, S. 55-72. (Saussure, 1972), S. 57. In meiner Arbeit verwende ich eine andere Terminologie, die von |Schrift| im Sinne des englischen script und |Schriftsystem| (s.Kapitel 2.2).
1.6. Neuere grammatologische Literatur
39
nicht nur die zehn Ziffern {0}-{9}, die eine akzeptierte Binnenanordnung haben, sondern auch Operatoren wie {+ } und {-}, denen eine solche abgeht. In der Tat haben nicht einmal alle Schriftsysteme eine Anordnung. Lassen wir Maria Ionita das letzte Wort: This is not to say that Roy Harris' book is not without its merits. First of all, it successfully counters any vestigial remains of theories of writing that see it as a reproduction of oral linguistic patterns. The chapter on ideographs, inspiredly entitled ideographic Hallucinations1 have been told that you are dealing with the history of the alphabet. Can you tell me which alphabet you mean - the Egyptian, the Hebrew, the Latin, the Arabic, the Chinese? < I explained — as I have done in the Introduction to this book — why the Egyptian, the Chinese and other similar systems of writing should not be termed alphabets. And I added that in dealing with the history of the alphabet, I include all the alphabets, because all of them are probably derived from one original alphabet. 16
In seinem Vorwort finden wir als »Definition« »The alphabet is the last, the most highly developed, the most convenient and the most easily adaptable system of writing« und »now universally employed by civilized people« (S. 13) - Ausdruck eines aus unserer Sicht überholten Wertesystems, und auf jeden Fall eine nur schwer operationalisierbare Definition, da völlig vom Wertekanon des Interpreten abhängig (ein chinesischer Leser wird zum Beispiel legitimerweise der Meinung sein, dass sein Schreibsystem bequem und obendrein das eines zivilisierten Volkes ist, folglich ja wohl alphabetisch). Die Definition von (Gelb, 1974) als »a system of signs expressing single sounds of speech« (S. 166) läuft darauf hinaus, ein Alphabet als eine Menge von Buchstaben im Sinne von (Wahrig, 1997) zu fassen, und ist aus denselben 14
15 16
(Accademia della Crusca 1612), s. v. |alfabeto|. »Alphabet: Name der Menge von Sprachelementen, so genannt nach den ersten beiden griechischen Buchstaben {α} {β}. Wir nennen das unsrige Alphabet häufiger nach seinen ersten drei Buchstaben ABC. Lateinisch |Alphabetum|.« Vergl. (Johnson, 1834), s.v. |alphabet|. (Diringer, 1968), Bd. 1, S. 145, Hervorhebungen im Original. Das »one original aiphabet« ist für Diringer das semitische Uralphabet.
2.2. Einige Definitionen
49
Gründen unbrauchbar. (DeFrancis, 1989), S.277 mit »terms referring to symbols, like our English letters, which represent phonemes « ist nicht besser. Schauen wir also doch zurück zu Johnson und seiner Beschreibung von | Buchstaben) als »one of the elements of syllables«. Inspiriert davon hier mein Ansatz einer Definition: Ein Alphabet ist die kleinste Menge als distinkt wahrgenommener visueller Zeichen, mit denen es möglich ist, alle Wörter einer Sprache gemäß einer definierten Konvention (Orthographie) zu verschriftlichen. Die Menge muss obendrein folgende Bedingungen erfüllen: • Die Menge enhält zumindest Elemente, die für sich genommen konventionell nicht als eine Silbe interpretiert werden können (|Konsonanten|). • Sie kann optional Elemente enthalten, die für sich genommen als eine Silbe interpretiert werden können (|Vokale|). Allerdings muss es dann in derselben Menge für jeden Vokal Konsonanten geben, so dass durch die Kombination eines oder mehrerer Konsonanten mit dem Vokal erneut eine gültige Silbe entsteht. • Die Menge darf keine Elemente enthalten, die für sich genommen als mehr als eine Silbe interpretiert werden können. Ausnahmen von der letztgenannten Regel können allenfalls solche Schriftzeichen sein, die eine gleichwertige Verschriftlichung mittels Konsonanten und Vokalen besitzen (Abkürzungen / Abbreviaturen). Im Klartext heißt das, dass ein Alphabet in meinem Verständnis eine rein konventionelle, aber nicht idiosynkratische Ansammlung von bestimmten Zeichen - Schriftzeichen - ist, zwingend Konsonanten, aber nicht notwendig Vokale enthält 17 und keine Zeichen existieren, die für sich genommen für mehr als eine Silbe stehen (also zum Beispiel keine Wortzeichen). Die einzige Ausnahme von der letzten Regel sind eventuell im Alphabet etablierte Abkürzungen, etwa 7 in einigen angelsächsischen Alphabeten. Dann muss es eine genauso etablierte Vollform dieser Abkürzungen geben, im Falle von ~7 zum Beispiel |et|. Es gibt auch Alphabet-Reihungen, die graphische Zeichen enthalten, die in der Orthographie nicht mehr aktiv eingesetzt werden. Alle Schriftzeichen zusammengenommen müssen im Sinne Saussures ein System von Differenzen bilden. 17
Anders (Daniels, Bright, 1996), S. xxxix, für die ein Alphabet »a type of writing system that denotes consonants and vowels« ist, während für rein konsonantische Systeme der Begriff |abjad| reserviert ist. Diese Differenzierung erklärt sich aus der Auseinandersetzung mit der Terminologie Gelbs und ist für mich wenig fruchtbringend.
50
2. Terminologie
In seinen praktischen Konsequenzen entspricht dieses Verständnis grob dem Konzept der Notation, das (Harris, 1993), Kapitel 3 und (Harris, 2003), S. 108ff. erläutern. Ein Alphabet ist auch bei mir zunächst einmal eine Notation, also eine Menge graphischer Zeichen. Meine Definition betont allerdings, dass diese Notation mit einem Ziel eingesetzt wird, nämlich Sprache auf eine bestimmte Weise zu fixieren. Nebenbei möchte ich daraufhinweisen, dass auch |Wort| und (in geringerem Maße) | Silbe | keineswegs für alle Sprachen offensichtliche Signifikate haben, sondern sprach- und kulturabhängige Konzepte sind. Glücklicherweise sind die davon aufgeworfenen Probleme für diese Abhandlung nicht einschlägig und die hier verwendete naive, aber nicht falsche Anschauung dieser Begriffe reicht aus. Es ist auch nicht zwingend notwendig, dass die Konzepte |Wort| und | Silbe mit phonologischen Realitäten übereinstimmen, auch wenn das oft der Fall sein wird.18 2.2.5
Schriftzeichen und Schriftsysteme
Im selben Geist definiere ich auch die Begriffe | Schriftzeichen | und | Schriftsystem |. Ein |Schriftsystem| ist eine Menge als distinkt wahrgenommener visueller Zeichen - also ein Differenzsystem - , mit denen es möglich ist, Wörter einer Sprache gemäß einer definierten Konvention (Orthographie) in einem dauerhaften Medium zu fixieren. Ein |Schriftzeichen| ist ein Element dieser Menge. Die Unterscheidung zwischen allen Wörtern einer Sprache in der Definition des Alphabets und Wörtern einer Sprache ist beabsichtigt. Ein Alphabet muss per Definition in der Lage sein, alle möglichen Wörter einer Sprache zu verschriftlichen, während bei einem allgemeinen Schriftsystem eine (hinreichend große) Untermenge aller Wörter ausreicht. So war zum Beispiel das frühe Sumerische daraufhin ausgelegt, die für das Verständnis zentralen Wörter zu verschriftlichen, während ergänzbare Informationen zunächst keine schriftliche Entsprechung hatten (s. S. 87). In diesem Sinne umfasst |Schriftsystem| auch Teile von dem, was (DeFrancis, 1989), S. 5 als |partial writing! klassifiziert. Ebenso kann ein Schriftsystem weitere visuelle Zeichen enthalten, die in ihm eine andere Funktionen haben als Wörter zu fixieren. Aus der Definition ist klar, dass jedes Alphabet ein Schriftsystem und somit jeder Buchstabe ein Schriftzeichen ist, aber nicht umgekehrt. Beispiele von 18
Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Ausdruck |les amis], der lautlich als /le/, /za/, /mi/ in Silben zu trennen wäre, während intuitiv fast alle nicht-Phonetiker unter dem Einfluss der Graphie die Silben als /lez/, /am/, Iii bestimmen würden.
2.3. Anordnung
51
Schriftsystemen, die keine Alphabete sind, sind zum Beispiel die sumerische Keilschrift und das äthiopische Syllabar. Aber auch in prinzipiell alphabetischen Schriftsystemen gibt es Schriftzeichen, die keine Buchstaben sind, zum Beispiel Ziffern und Interpunktionszeichen. Mit dieser Definition verknüpfe ich | Schriftsystem | untrennbar mit Sprache. Ich verlange aber weder, dass beide Zeichensystemen den gleichen internen Spielregeln gehorchen müssen oder gar eine Eins- zu Einsabbildung zwischen ihnen bestünde, noch, dass es die einzige oder auch nur die hauptsächliche Funktion von Schriftsystemen sei, Sprache wiederzugeben. Ich lege nur fest, dass Zeichensysteme, die nicht in der Lage sind, Wörter einer Sprache dauerhaft zu fixieren, in meiner Terminologie keine Schriftsysteme sind. Ich beschränke | Schriftsysteme | also auf Derridas ecriture au sens courant. Die Definition ist in dieser Form neu, entspricht im Effekt aber dem Verständnis der meisten Grammatologen, seien es nun Coulmas, Daniels und Bright oder Ong. In der Arbeit benutze ich |Graphem| als Synonym zu |Schriftzeichen|. 2.2.6
Semiotische Zeichen
Den Begriff der | (semiotischen) Zeichen | verwende ich im Sinne von (Eco, 1984), passim. Unglücklicherweise tauchen in meiner Arbeit aufgrund ihres Themas viele Verbindungen mit dem Wort | Zeichen | in einer anderen als der semiotischen Lesart auf - Schriftzeichen, graphische Zeichen, diakritische Zeichen usw. Diese Gebilde sind keineswegs allesamt Zeichen im Sinne der Semiotik oder es steht, selbst wenn sie es im Einzelfall sein sollten, ihre Zeichenhaftigkeit nicht immer im Mittelpunkt der Betrachtungen. Eine einheitliche Verwendung des Wortes | Zeichen | ausschließlich im semiotischen Sinne ließe sich nur um den Preis eines unnötig verzwungenen Stils durchhalten. Ich hoffe, dass es an jeder Stelle aus dem Kontext klar ist, welche Sicht von »Zeichen« gerade gemeint ist. Im Zweifelsfall vereindeutige ich die Verwendung durch Ausdrücke wie | semiotische Zeichen | oder |Zeichen imSinne der Semiotik|, wohl wissend, dass diese Ausdrücke eigentlich Pleonasmen sind.
2.3
Anordnung
Diese Arbeit dreht sich um eine Eigenschaft, die viele, aber keineswegs alle Schriftsysteme haben, dass nämlich die Schriftzeichen untereinander eine definierte und allgemein akzeptierte |Anordnung| haben. Formalisiert besagt diese Eigenschaft, dass ein Schriftsystem S eine vollständig angeordnete Menge ist (nicht aber notwendigerweise eine wohlgeordnete Menge, da es Schriftsysteme
2. Terminologie
52
gibt, in denen Elemente f ü r die A n o r d n u n g als äquivalent angesehen werden, etwa {e} u n d {e} in einzelnen Alphabeten). 1 9 In der Realität muss m a n vor allem bei einigen historischen Schriftsystemen wie der sumerischen Keilschrift gewisse Abstriche machen u n d die Anforderung der vollständigen A n o r d n u n g nur an nicht-leere (und, u m ein bewusst subjektives Kriterium zu verwenden, »vernünftig« große) Untermengen U c S stellen, sei es, weil es die eine übergreifende A n o r d n u n g aller Zeichen nie gegeben hat (nicht zuletzt, weil nie alle Zeichen überhaupt gleichzeitig verwendet wurden), sei es, weil uns nicht alle Anordnungen überkommen sind. In diesem Fall genügt das Schriftsystem der Definition einer schwach angeordneten Menge. 2 0 (Anordnen| ist die Aktivität, eine A n o r d n u n g von Schriftzeichen herzustellen. Den Begriff des |Sortierens| verwende ich oftmals synonym zu |Anordnen|.
2.4
Schreibkonventionen
In diesem Werk verwende ich durchgehend einige Schreibkonventionen: • Einzelne in geschweifte Klammern eingeschlossene Schriftzeichen stehen f ü r das Schriftzeichen selbst: {a} bezeichnet also das fragliche Graphem oder dessen konkrete Realisierung als Glyphe. Von dieser Konvention weiche ich der besseren Lesbarkeit halber oft ab, wenn es etwa im Kontext ganzer Abecedarien oder bei nicht-lateinischen Buchstaben unmittelbar klar ist, dass nur Schriftzeichen gemeint sein können. Will ich an einer bestimmten Stelle betonen, dass Digraphen in einem bestimmten Kontext, als untrennbare Einheiten gesehen werden, so schreibe ich {st}. Ist in Bezug auf ein Zitat unklar, ob der Autor von Buchstaben oder Lauten redet, so sehe ich im Zweifelsfall von einer Markierung ab. • Enstprechend der Konvention von (Eco, 1975) kennzeichne ich einen Signifikanten in geraden Strichen, also etwa | H u n d | als Signifikant mit dem Signifikat domestizierter bellender Vierbeiner. • Phoneme stehen entsprechend der üblichen Konvention in geneigten Strichen, also /a/ f ü r das entsprechende Phonem. In den seltenen Fällen, wo ich tatsächlich einen Laut kennzeichnen muss, verwende ich wie üblich eckige Klammern, also zum Beispiel [a]. 19
20
Für die Definitionen von |totally ordered set| und |well-ordered set| vergl. (Skornyakov, 1993) und (Efimov, Fofanova, 1993) sowie (Hungerford, 1974), S. 13. Für die Definition vergl. (Skornyakov, 1991).
2.5. Übersetzungen
53
• Semantische Cluster und Kategorien werden durch Kapitälchen gekennzeichnet.
2.5
Übersetzungen
Normalerweise bringe ich Zitate in ihrer Originalsprache, wobei ich offensichtliche reine Verschreibungen oft stillschweigend korrigiere, wenn sie mir ohne jedes Interesse zu sein scheinen. Dabei bleiben englische und französische Texte unübersetzt, ebenso Lemmata, die als Beispiele primär für Anordnungskriterien angeführt werden sowie deren Interpretamente, es sei denn, diese würden ihrerseits zum Diskussionsgegenstand. Unübersetzt bleiben üblicherweise auch Buchtitel und kurze Fragmente, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie von einem Leser mit Französisch- oder Lateinkenntnissen im Kontext unmittelbar erschlossen werden können. Alle anderen Passagen werden übersetzt, soweit zugänglich nach einer dann zitierten Veröffentlichung, im Falle des Griechischen, Hebräischen und teilweise des Lateinischen dankenswerterweise von meiner Frau, in den übrigen Fällen von mir. Da ich die Ausgangstexte fast immer zitiere und diese somit jederzeit im Zugriff des Lesers sind, erlaube ich mir bei den Ubersetzungen um der besseren Verständlichkeit willen teilweise eine gewisse Freiheit des Ausdrucks. Nicht übersetzt ist der Text im Anhang.
3
Grammatologie der Anordnung
3.1
Positionierung meiner Arbeit
3.1.1
Sekundäre Charakteristika von Schrift
Eine Taxonomie der sekundären Charakteristika Diese Arbeit widmet sich einem Thema der praktischen Grammatologie, das bisher von der Forschung, auch der grammatologischen Forschung, vollständig ausgeblendet wurde - der Untersuchung eines sekundären Charakteristikums von Schrift, konkret der internen Anordnung ihres Zeichenrepertoires. Den Begriff |sekundäres Charakteristikum! habe ich zum ersten Mal 2004 eingeführt und bezeichne damit solche Charakteristika von Schrift, die keine direkten Entsprechungen in gesprochener Sprache haben und die nicht dem Primärziel dienen, gesprochene Sprache dauerhaft zu fixieren. Zu diesen gehören nach einer vorläufigen Taxonomie 1 : 1. Die relative Anordnung von Schriftzeichen in Schriftsystemen; 2. |glyph variants| 2 , d. h. Varianten von Typformen wie: (a) Zeichenformen, zum Beispiel in unterschiedlichen Fonts oder die verschiedenen Formen chinesischer Zeichen in China, Japan und Korea (einschließlich historischer Zahlzeichen wie dem Gegensatz zwischen arabischen und römischen Zahlen); (b) Verwendung unterschiedlicher Schriftschnitte wie Fettdruck, Kursivierung oder auch unterschiedliche Fontgrößen; 1
2
Diese Sektion orientiert sich an (Küster, 200?), einem Vortrag im Rahmen der Jahrestagung Signs of the World der International Association for Semiotic Studies in Lyon 2004. Die zugehörigen Proceedings sind noch nicht erschienen, die Überlegungen aber instruktiv für den den Vergleich zwischen den sekundären Eigenschaften und auch für deren Terminologie. Daher referiere ich an dieser Stelle die wesentlichen Ergebnisse. Die Terminologie |glyph| und Iglyph variants| ist im Kontext von (ISO/IEC 10646:2000) und (Unicode Consortium 2003) sehr verbreitet.
56
3. Grammatologie der Anordnung
(c) Nutzung (oder Nicht-Nutzung) bestimmter Ligaturen oder Ligaturengruppen; (d) Horizontale oder vertikale Ausrichtung von Wörtern und Zeilen (einschl. Schriftrichtung); (e) Farbnutzung. 3. Generelle Aspekte des Seitenlayouts. Ich habe in (Küster, 200?) gezeigt, dass die sekundären Charakteristika bei der Sinnkonstitution eines Textes genau wie die primären, sprachgebundenen Charakteristika eine zentrale Rolle spielen. Die verschiedenen Gruppen von sekundären Charakteristika unterscheiden sich in ihrem Alter und ihrer »Ursprünglichkeit«. Die meisten der glyph variants im Westen datieren ersten Einschätzungen nach in die römische Spätantike, erstaunlicherweise etwa zeitgleich übrigens zur Formalisierung der chinesischen Kalligraphie.3 Viele konkrete Ausprägungen sind aber viel jüngeren Datums und gehen auf die Erfindung des Buchdrucks, das Aufkommen der Boulevardpresse Ende des 19. Jahrhunderts oder gar erst auf die Entwicklung EDV-gestützter Satzsysteme zurück. Glyph variants in der lateinischen Schrift Die semiotische Funktion sekundärer Charakteristika und auch deren generelle Auswahl unterscheidet sich stark zwischen den Schriften. In der lateinischen Schrift mit ihrer geringen, wenn auch von Alphabet zu Alphabet variablen Anzahl von Buchstaben sind die verschiedenen Buchstaben gut unterscheidbar - und es ist natürlich diese »valeur [...] purement negative et d i f f e r en tie lie«4 die es uns erlaubt, einen bestimmten Buchstaben zu identifizieren. Daher ist die lateinische Schrift tolerant gegenüber Buchstabenvarianten und kann diese Buchstabenvarianten benutzen, um weitere Bedeutungsebenen zu vermitteln. In anderen Worten, nicht nur der Buchstabe kann ein semiotisches Zeichen mit seiner spezifischen valeur differentielle sein, auch die glyph variants können ihre ganz eigenen valeurs differentielles haben. Diese generelle Aussage wäre mit vielen konkreten Ausdrucksformen kompatibel. Diejenigen, die heutzutage tatsächlich realisiert werden, beziehen sich auf Fonts, Schriftschnitte und Schriftgröße. So kann ein bestimmter Buchstabe 3
4
Die ersten chinesischen Traktate zur Kalligraphie beginnen im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, (Qianli, Kui, 1995), S. ix. Shupu, Traktat über die Kalligraphie von Sun Qianli, bis heute einer der Klassiker auf dem Gebiet, erschien 687 n. Chr. Die Frage, ob es überhaupt einen Zusammenhang gibt und ggf. warum beide Phänomene etwa zeitgleich auftraten, hat meines Wissens bisher noch niemand untersucht. (Saussure, 1972), S. 165.
3.1. Positionierung meiner Arbeit
57
viele verschiedene Formen annehmen, etwa durch unterschiedliche Fonts oder Schriftschnitte. Diese Varianten können in der heutigen Kommunikation eine Rolle spielen, die in vielem analog ist zu Stimmmodulationen und begleitender Gestik (informell, wissenschaftlich, witzig etc.), aber das ist nur ein kleiner Teil des Ganzen. Sie werden auch verwendet, um Metainformationen zu übermitteln, die gesprochene Sprache nur schwer übermitteln kann (zum Beispiel >dies ist ein Zitat« oder >dies ist ein Buchtitelseriöse< Literatur von Groschenromanen zu unterscheiden. Diese Hinweise sind in unserer Kultur so stark verankert, dass wir niemals eine tiefschürfende philosophische Analyse in einem Blatt suchen würden, das sich im Layout an der yellow press orientiert - und da diese Erwartung sowohl für Sender als auch Empfänger wirkt, müssen wir auch kaum mit Überraschungen rechnen. Alle diese durchaus (im Peirceschen Sinn) deiktischen Eigenschaften des semiotischen Systems >Schrift< haben keine direkte Entsprechung in der Sprache.5 Glyph variants in der arabischen Schrift Diese Verweise durch Zeichenformen stammt aus Westeuropa und den USA und ist obendrein in seiner heutige Form noch recht jung. 6 Es passt nicht gut auf die Schriften, die in deren kultureller Tradition die Marker anders verwendet werden oder in denen gänzlich andere Formen herangezogen werden. Im Arabischen zum Beispiel existieren verschiedene Schriftarten, von denen die populärsten wie Kufi und Nasch eine mehr als tausendjährige ununterbrochene Tradition haben. Sie bringen kulturell akzeptierte Konnotationen mit, so >edel< und >altehrwürdigelegant< für Kufi. Andererseits kennt die arabische Schrift traditionell weder die Unterscheidung zwischen kursiven und recte Schnitten noch zwischen proportionalen und nichtproportionalen Schriften. Im Arabischen werden Wörtern aus Clustern von sich meist verbindenden Buchstaben gebildet wie man etwa bei Damaskus (jjiTmj ) sehen kann. In der Tat existieren die meisten Buchstaben in vier unterschiedlichen Formen. So hat etwa der Buchstabe Bä /b/ eine isolierte Form ), eine andere 5
Diese Überlegungen beziehen sich auf die gedruckte Version der lateinischen Schrift. In der Handschrift gibt es keine »natürlichen« Schriftschnitte. W i l l man sie verwenden, so muss man sie nachstellen, zum Beispiel Kursivierung durch Unterstreichung. Im Gegenzug erlaubt Handschrift andere Arten sekundärer Bedeutungsübermittlung, die keine Entsprechung im Druck haben.
6
Die ersten Boulevardzeitungen erschienen etwa vor 1 5 0 Jahre, wobei die exakten Daten von der Definition des Begriffes abhängen. Sie konnten dabei auf einen schon existierenden typographischen C o d e zurückgreifen.
58
3. Grammatologie der Anordnung
am Wortbeginn ( c a L ), eine dritte in der Wortmitte ) und eine vierte am Wortende (Ι_»Λ. ). Diese Buchstabenformen nicht zu verwenden würde zwar die reine Lesbarkeit nicht beinträchtigen, gilt aber als ästhetisch inakzeptabel. Zusätzlich spielen Ligaturen eine zentrale Rolle, um die Botschaft eines Textes zu übermitteln. Es existiert ein Kanon von einigen tausend Ligaturen, der von einfachen Ligature wie J als Ligatur von Lam (J) und Yah ) bis hin zu ganzen Sätzen wie dem berühmten Beginn der ersten Sure des Korans reicht. Einige der Ligaturen sind in allen außer den allereinfachsten Anwendungen vorgeschrieben, andere werden üblicherweise im anspruchsvollen Druck herangezogen, noch andere werden nur in bestimmten Zusammenhängen oder bestimmten Sprachen verwendet oder gelten heute als obsolet. Die Nutzung oder Nichtnutzung dieser Ligaturen hat auf den textuellen Inhalt der Botschaft keinen Einfluss, spannt aber, um einen neuen Begriff einzuführen, eine matrice differentielle auf, zu der es in der lateinischen Schrift kein direktes Äquivalent gibt. Den Ligaturen können ästhetische Erwägungen zugrunde liegen - Kalligraphie hat in der arabischen Kunst immer eine Rolle gespielt, die in Europa seit der Erfindung des Buchdrucks unbekannt ist —, sie können aber ebenso Ausdruck religiöser oder nationaler Selbstverortung sein. Es läge bei den Arabisten, eine solche Matrix im Detail zu erarbeiten, aber es wird aus diesen Beispielen hoffentlich deutlich, dass die sekundären Charakteristika der arabischen Schrift eine gänzlich andere Matrix aufspannen als diejenigen der lateinischen Schrift. Schlussendlich sind auch glyph variants vom Typ 2d wichtig, um den Eindruck von Eleganz, Schönheit und damit auch gründlicher Überlegung und Ernsthaftigkeit zu vermitteln. Traditionell werden arabische Ausdrücke - semantische Einheiten, nicht notwendig Wörter - selbst dann zu einer visuellen Einheit, wenn sie nicht durch eine Ligatur verbunden sind. Diese wird dadurch erreicht, dass man jeden Ausdruck auf seine eigene kleine Linie setzt, die in einem Winkel zu der Hauptschreibrichtung steht.
Abbildung 3.1: Traditionelle Laufrichtung arabischer Schrift (der Winkel ist überzeichnet, in der Realität ist er nach (Milo, 2000), TB5-3 ca. 5 Grad).
Dieses Charakteristikum der traditionellen arabischen Schrift erlaubt es dem Schreiber, seine Wahrnehmung semantischer Einheiten zu kennzeichnen, die
3.1. Positionierung meiner Arbeit
59
sonst für den Leser nicht erkennbar wären. Diese Wahrnehmung kann auch nur auf Teile des Textes angewandt werden, zum Beispiel Überschriften oder ausgewählte Wörter oder Sätze.
Abbildung 3.2: Beispiele traditioneller arabischer Typographie Quelle: (Smitshuizen AbiFares, 2001), S. 231. Mit freundlicher Genehmigung von Saqi Books.
In der heutigen arabischen Schrift hat diese Eigenschaft an Bedeutung verloren und ist in den meisten Publikationen ganz verschwunden, oftmals schon als Antwort auf die Einschränkungen der Druckerpresse. 7 Glyph variants in der chinesischen Schrift Viele Züge der sekundären Charakteristika der arabischen Schrift lassen sich auf eine Manuskripttradition zurückführen, die anders als die westeuropäische noch sehr präsent ist. Dasselbe gilt auch für die andere große kalligraphische Tradition, die chinesische. Weit in das kommunistische Zeitalter hinein wurde ein großer Teil der offiziellen Korrespondenz, Verträge und Literatur von Hand geschrieben, oder exakter mit dem Pinsel, den die chinesische Kalligraphie seit jeher benutzt. Mao Zedong selbst war ein bekannter und innovativer Kalligraph, dessen berühmtes Rotes Buch seine Botschaften nicht nur im Druck, sondern parallel dazu auch in seiner Handschrift bot. 8 Führende Revolutionäre stritten sich darum, die Kopfzeilen der großen Zeitungen und wissenschaftlichen Zeitschriften zu gestalten - eine Praxis, die übrigens immer noch aktuell ist. Kurz gesagt, obwohl China das Land sein mag, in dem bewegliche Typen zuerst 7
8
Diese Eigenschaft ist in den nicht-arabischen Sprachen, die in arabischer Schrift geschrieben werden, noch lebendiger, vor allem in Urdu und (in geringerem Maß) im Persischen. Siehe dazu (Barrass, 2002), S. 114.
60
3. G r a m m a t o l o g i e der A n o r d n u n g
verwendet wurden, überlebt Handschrift selbst in den formellsten Kontexten bis weit in die 1970er, wenn nicht länger. Selbst wenn wir uns auf Festlandchina beschränken, werden in der chinesischen Schrift verschiedene Zeichenformen verwendet. So gibt es unter anderem kursive, verbundene und recte Schrifttraditionen, die sich kontinuierlich über die letzten 1700 Jahre entwickelt haben und die ihre jeweils spezifischen semiotischen Funktionen sowohl in Kalligraphie als auch im Druck haben. Allerdings haben Begriffe wie »kursiv« nur wenig mit unseren Konzepten dieser Wörter zu tun - chinesische Zeichen werden fast immer und in allen Schrifttraditionen gedacht als in einem virtuellen Quadrat platziert, das jedem Zeichen unabhängig von seiner internen Komplexität denselben Platz zuweist. Weder werden Wortgrenzen markiert noch kennt die chinesische Schrift traditionell Äquivalente zu unseren Interpunktionszeichen (heute werden allerdings Interpunktionszeichen nach westlichem Vorbild genutzt). Das bewirkt ein sehr geordnetes und reguläres Aussehen längerer chinesischer Texte, das sich sehr von dem Erscheinungsbild solcher Texte in lateinischer oder arabischer Schrift unterscheidet. Die unterschiedlichen Schrifttraditionen bringen ihre eigene Geschichte und ihre eigene Botschaft mit sich.9 Integriert in Traditionen kann die Kalligraphie ihre Botschaften übermitteln. Oft ist es das Aussehen des Zeichens an sich, das zur Bedeutung werden kann - die Grenzen zwischen Zeichen und Bilder verschmelzen in einer Weise, wie man sie im Westen seit dem Mittelalter nur noch ausnahmsweise antrifft. Eine der spektakulärsten und kontroversesten Kalligraphien der letzten Jahrzehnte war Li Luogongs Interpretation von Maos
Gedicht Ich verlor meine stolze Pappel dar, »that made it seem as if the rain were a cascade of tears« 10.n Die Variationen in den Zeichenformen werden begrenzt dadurch, dass die Zeichen wenigstens in einer Schrifttradition unterscheidbar bleiben mussten angesichts von einem Zeichenrepertoire von etwa 60.000 Zeichen, von denen allerdings »nur« etwa 2.400 für grundlegende Lesefertigkeiten benötigt werden.12 In der Kalligraphie werden hingegen sekundäre Charakteristika verwendet, die keine Entsprechung in der lateinischen Schrift haben. Eine Matrix von Bedeu9
10 11
12
Wozu man die Unterscheidung zwischen den vereinfachten chinesischen Zeichen der Volksrepublik China und den in Taiwan und anderswo genutzten traditionellen Formen hinzufügen könnte — eine Unterscheidung, die natürlich viele politische Zwischentöne hat. (Barrass, 2002), S. 128. Das impliziert nicht, dass die chinesische Schrift ideographisch wäre, wie im Westen von Gottfried Wilhelm Leibniz bis Ezra Pound viele Denker fälschlicherweise angenommen haben. Für die Zahlen vergleiche (Daniels, Bright, 1996), S. 200. Bei vielen dieser Zeichen sind sowohl die Bedeutung als auch ihr phonetischer Wert mittlerweile unbekannt. Sie wurden zu Signifikanten, die zwar weiterhin als Teil des chinesischen Schriftsystems beibehalten werden, aber über ihre Existenz selbst hinaus nichts mehr bedeuten.
61
3.1. Positionierung meiner Arbeit
tungen wird allein aufgespannt durch die Auswahl von Pinsel, Pinseltechnik und Tinte, durch den Druck beim Zeichnen und ähnliche Kriterien. Auch die Schreibrichtung kann zu einer Aussage an sich werden: traditionell wird Chinesisch von oben nach unten und von rechts nach links geschrieben. Nach dem Modell der lateinischen Schrift schreibt man heute regelmäßig von links nach rechts und von oben nach unten. In Dichtung und einigen anderen Zusammenhängen wird die alte Tradition aber bis heute angewandt (s. u. Abbildung 3.3).
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Abbildung 3.3: Schriftrichtung in chinesischer Dichtung Quelle:: Peoples Daily (Auslandsausgabe), 2004-06-04, S. 8. Die in Beijing erscheinende Peoples Daily ist die auflagenstärkste Zeitung der Volksrepublik China.
Alle diese Mittel können verwendet werden, um starke politische Botschaften zu übermitteln, die von traditionell zu progressiv, von poetisch zu nüchtern reichen können. 13 3.1.2
Die Anordnung von Schriftzeichen
Das Angeordnetsein von Schriftzeichen ist das Älteste aller sekundären Charakteristika. Es ist, wie wir in Kapitel 4 sehen werden, deutlich älter sogar als die Funktion von Schrift, gesprochene Sprache vollständig wiederzugeben. Die Anordnung von Schriftzeichen ist somit ein grammatologisches Thema par excellence, ein Thema, das sich zunächst mit internen Gesetzmäßigkeiten des Zeichensystems |Schrift| befasst. Diese Arbeit analysiert vor allem, wie die Anordnung von Schriftzeichen verwendet wird, Aussagen zu machen und Bedeutungen auszudrücken, die in der gesprochenen Sprache so fehlen oder über sie hinausgehen. Erstaunlicherweise 13
Siehe (Barrass, 2002), S. 105-117 für eine exzellente Analyse, wie Mao sich die sekundären Charakteristika des chinesischen Schriftsystems in seiner politischen Karriere und insbesondere während der Kulturrevolution zu Nutze machte.
62
3. Grammatologie der Anordnung
erlaubt diese Analyse aber in Einzelfällen auch Rückschlüsse auf die hinter den Texten stehende Sprache, die durch die primären Charakteristika der Schrift nicht erlangt werden können. Da das Gebiet bislang unbearbeitet ist - es gibt bisher keinerlei entsprechende Uberblicksliteratur und nur wenig für die einzelnen Teilbereiche und Epochen — beschäftigt sich die Arbeit notwendig auch und von der reinen Quantität sogar überwiegend mit der Faktengeschichte der Sortierung. Denn ohne die Fakten vorher zu etablieren, schwebten alle Schlussfolgerungen in der Luft. In dieser grammatologischen Studie berühre ich verschiedenste Gebiete des etablierten Wissenschaftskanons: Assyriologie, Hebraistik, klassische Philologie, Etruskologie, Mediävistik, Romanistik (primär Italianistik, Frankoromanistik), Germanistik, Skandinavistik, Anglistik, Informatik, ganz zu schweigen von den Querschnittswissenschaften Geschichte, Semiotik, Linguistik und Philosophie. Es ist offensichtlich, dass ich nicht in all diesen Bereichen und geschichtlichen Epochen gleichermaßen Experte bin. Es ist gut möglich, dass ich Fehler gemacht habe, die einem Fachwissenschaftler nicht unterlaufen wären. Gleichzeitig habe ich aber auch an verschiedenen Stellen eben durch meine Expertise in den spezifisch grammatologischen Fragestellungen für die einzelnen Teilbereiche neue Erkenntnisse gewonnen, die für einen reinen Fachwissenschaftler so kaum zu erzielen gewesen wären. Wenn die grammatologische Fragestellung, wenn die Visionen von Gelb, Derrida, Ong, Goody und anderen überhaupt tragfähig sind, dann muss ich das Wagnis dieser Methodik eingehen. 3.1.3
Grammatologie und Wissen
Während der Erstellung dieses Werks hat sich gezeigt, dass meine grammatologische Arbeit auch, und ohne das eigentlich anzuvisieren, zu einer Ιστορία των γραμμάτων im vollen Wortsinn geworden ist, zu einer Studie der Elementarkenntnisse und der Wissenschaften oder zumindest zur Präsentation des Wissens in Nachschlagewerken. Schreiben- und Lesenlernen führte über viele Jahrtausende - und führt aktuell in vielen Schulen wieder - über die alphabetische Anordnung von Schriftsystemen, der Basis fast allen Wissens in einer verschriftlichten Gesellschaft. Seit dem Hellenismus wurde die alphabetische Sortierung von Wortlisten zu einem der zentralen Mechanismen zur Verwaltung und Präsentation von Wissen. Es entstanden zunächst Wörterbücher und später Enzyklopädien, die Wissen linearisierten, um es greifbar zu machen. Die Cyclopaedia von Ephraim Chambers und vor allem die Encyclopedic von Denis Diderot und Jean Baptiste d'Alembert haben dieses Prinzip radikal umge-
3.1. Positionierung meiner Arbeit
63
wertet, indem sie die Linearität der Wissenspräsentation zu einem Mittel seiner Vernetzung umfunktioniert und zum ersten Mal bewusst die Geschlossenheit des Buches (im Sinne Derridas) durchbrochen haben - nur, um diese Geschlossenheit wenige Jahrzehnte später, symbolisiert von Männern wie Charles-Joseph Panckoucke und Auguste Comte, wieder herzustellen. In marxistischer Terminologie beschrieben sieht man, wie sich die episteme mit dem Entstehen des revolutionären Bürgertums öffnet und mit dessen Sieg wieder schließt. 3.1.4
Kultursemiotische Aspekte
Für mich ist Schrift und speziell Anordnung im Sinne Derridas mehr als nur ein schrifthistorisches Thema - es ist ein Beispiel für Entstehung und Transmission kultureller Konventionen ganz allgemein. |Kultur| möchte ich dabei im Sinne der
UNESCO verstanden wissen als »Gesamtheit geistiger, materieller, intellektueller und emotionaler Aspekte der Gesellschaft oder sozialer Gruppen und beinhaltet darüber hinaus Kunst und Literatur, Lebensstil, Formen des Zusammenlebens, Wertsysteme, Traditionen und Überzeugungen«^. Semiotisch lässt sich eine Kultur idealtypisch als eine (sehr große) Menge zusammenhängender Zeichensysteme (Codes) und -prozesse fassen, in und mit denen ein Mitglied dieser Kultur agiert. Zu diesen Codes gehören Sprache, Schrift (so vorhanden), Religion, Kleidung, Sitten, bildende Kunst, Architektur, um nur einige willkürlich herausgegriffene Beispiele zu bringen. Alle diese Codes sind ständig im Fluss, einige wie Kleidung in Europa rapide, andere wie Sprache weniger schnell, noch andere wie die Schrift oft nur langsam, fast unmerklich. Innerhalb von Kulturen gibt es oft Subkulturen, für die wiederum Ahnliches gilt. In diesem Sinne betrachtet Claude Levi-Strauss Kultur 15 , aber auch der klassische Aufsatz (Lotman, Uspenskij, Ivanov, Toporov, Pjatigorskij, 1975), der Kultur als System, ja sogar als eine Hierarchie von semiotischen Systemen ansieht, als die Summe aller »Texte« in einem Kontext, wobei |Text| hier im Sinne von (Eco, 1975*), S. 16 als komplexes Zeichen zu lesen ist. 16 (Posner, 2006), der sich ausdrücklich auf Lotman beruft, legt den Schwerpunkt 14
15
16
So Artikel 4.1 des Entwurfes eines Übereinkommens zum Schutz der Vielfalt kultureller Inhalte und künstlerischer Ausdrucksformen der UNESCO vom Juli 2004. »Ogni cultura puo essere considerata come insieme di sistemi simbolici in cui, al primo posto, si collocano il linguaggio, le regele matrimonali, i rapporti economici, l'arte, la scienza, la religione«, »Jede Kultur kann betrachtet werden als eine Menge von Symbolsystemen, zu der insbesondere die Sprache, die Heiratsregeln, die wirtschaftlichen Beziehungen, die Kunst, die Wissenschaft, die Religion gehören«. Zitiert nach (Eco, 1984), S.206. S. (Lotman, Uspenskij, Ivanov, Toporov, Pjatigorskij, 1975), S.73. Für |Text| siehe auch (Eco, 1975), S.86f., wo Eco den Begriff als einen »discorso α piü livelli«, als einen »Diskurs auf mehreren Ebenen«, beschreibt, der mehrere, miteinander verknüpfte Inhalte transportiert.
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3. Grammatologie der Anordnung
anders. Er identifiziert Kultur mit gemeinsamen Traditionen, die er wiederum als »conventionalized codes passed on over several generations«17 versteht. Damit lenkt er den Blick gleichzeitig auf eine essentielle Wesensart von Kultur, ihre historische Gebundenheit - eine Sichtweise, die einem synchronen Blick auf eine Kultur nicht entgegensteht. Jede Kultur hat ein Gestern - auch wenn wir in Kapitel 17.4.6 Beispiele sehen werden, wo das Gestern künstlich geschaffen wurde - , das seine aktuelle Beschaffenheit beeinflusst. Jede Kultur ist damit aber auch im permanenten Wandel. Schon zu einem gegebenen Zeitpunkt sind die eine Kultur definierenden Traditionsstränge oft nicht leicht zu benennen, noch schwieriger zu beobachten, selbst wenn man mit | beobachten | »nur« eine Faktengeschichte der zugehörigen Signifikanten meint. Uber fünfeinhalb Jahrtausende hinweg gar lassen sich kontinuierliche Traditionen nur überaus selten ausmachen und beschreiben. Ein solcher Fall ist die interne Anordnung von Schriftzeichen im jeweiligen Schriftsystem, bei denen zumindest die Signifikanten seit dem vierten Jahrtausend v. Chr. gut überliefert sind. Sortierung ist in den Schriftkulturen sumerisch-phönizischer Provenienz von Anfang an derart verankert, dass sie bis heute gar nicht als semiotische Fragestellung wahrgenommen wird. Nichtsdestotrotz war die Sortierung in Vorderasien und Europa von den Anfängen der Schrift an permanent präsent. Erst die EDV und die Notwendigkeit, Rechnersysteme zu Medien der Aktualisierung einschlägiger Traditionen zu machen, haben dazu geführt, dass dieses Phänomen der Alltagskultur überhaupt wieder in den Blick gekommen ist. Rechnersysteme müssen anders als Menschen mit eindeutigen Regeln gefüttert werden, um Resultate liefern zu können, und diese Regeln müssen dazu zunächst einmal expliziert werden. In diesem Sinne ist die Geschichte der Anordnung eine exemplarische Analyse der Geschichte eines kulturdefinierenden Zeichenprozesses in seiner Entwicklung über fast 5500 Jahre. Die Analyse demonstriert, unter welchen Rahmenbedingungen eine bestimmte kulturelle Tradition entstehen und über einen derartigen Zeitraum hinweg übermittelt werden kann. Sie zeigt auf, wie die Übermittlung die Tradition gleichzeitig konserviert und modifiziert, sie immer wieder neu für ihren jeweils eigenen geschichtlichen Bezugsrahmen interpretiert. Sortieren wird damit zu einer greifbaren Metapher für die geschichtliche Transmission von Kultur insgesamt.
17
(Posner, 2006), S. 4.
3.1. Positionierung meiner Arbeit
3.1.5
65
Der Mythos »Anordnung«
Nur scheinbar anders ist die Herangehensweise von Roland Barthes in seinen 1957 erschienenen Mythologies. Barthes interessiert sich an der Oberfläche zunächst einmal für Gegenwartsphänomene seiner Zeit, seien sie nun das Gesicht von Greta Garbo, Filme, Kinderspielzeuge, der Citroen D. S. 19 alias deesse oder Pariser Striptease-Einlagen. Er will dabei aber keine stilistisch geschliffenen Kurzessays verfassen, auch wenn er heute primär als Essayist gelesen wird. Er möchte vielmehr die ideologischen Aussagen entlarven, die mit diesen bourgeoisen Alltagserscheinungen gesellschaftlich verknüpft sind. In anderen Worten, er möchte sie als Produkte einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation enttarnen, als Mythen der Jetztzeit. Barthes' Mythosbegriff ist zugleich eminent semiotisch und eminent politisch. Aus rein semiotischer Sicht sieht Barthes einen | Mythos | als ein »systeme semiologique second«18, als ein doppelt gegliedertes semiotisches System. Darunter versteht er ein Zeichen, das seinerseits wieder als Signifikant eines anderen Zeichens fungiert. Seine Beispiele illustrieren das besser als diese theoretische Aussage, so ein Bild aus einer bis heute populären französischen Illustrierten, Paris Match-, die einen farbigen französischen Soldaten zeigt, der die Trikolore grüßt. Dabei ist die Photographie das erste Zeichen (Signifikant: das Photo an sich, Signifikat: der salutierende Soldat). Es ist ein vollständiges Zeichen, das für sich lesbar ist. Gleichzeitig ist es aber auch Signifikant eines tieferliegenden Signifikats, nämlich der französischen Größe, der »imperalite frangaise« (S. 226). Dieses zweite Signifikat gibt sich beim Mythos aber nicht als Vorschlag oder Schlussfolgerung im engeren Sinne, konstatiert also nicht offen seine Intention, sondern dient sich dem Leser im Gegenteil als »natürliches«, »ewiges« Faktum an. Der unkritische Leser erkennt das Signifikat nicht als geschichtlich und wirtschaftlich konditioniertes Interpretationsangebot, sondern akzeptiert es als zeitlos gültige Tatsachenfeststellung - Frankreich war, ist und bleibt so groß, dass sogar jener Negersoldat ihm begeistert die Ehre erweist (S. 231). Damit ist der Mythos für Barthes etwas außerordentlich Politisches, das sich unpolitisch gibt. »Le my the est une parole depolitisee« (S. 251), etwas, dem man das Politische und Historische quasi ausgesaugt hat und das sich jetzt als naturgegeben und immerwährend darstellt: Dans le cas du negre-soldat, par exemple, ce qui est evacue, ce nest certes pas l'imperialite franchise [...]; c'est la qualite contingente, historique, en un mot: fabriquee, du colonialisme. Le m y t h e ne nie pas les choses, sa fonction est au contraire d e n parier; simplement, il les purifie, les innocente, les fonde en nature et en eternite. 1 9 18 19
(Barthes, 1957), S. 221. (Barthes, 1957), S.252.
66
3. Grammatologie der A n o r d n u n g
Der Mythos versteckt also seine politische Botschaft so geschickt unter dem Deckmantel des Natürlichen und ewig Wahren, dass sie (scheinbar) völlig verschwindet. Gerade das macht ihn in Barthes' Augen so gefährlich. Auch die Sortierung kann als Mythos fungieren. Auf der ersten Ebene ist ihr Signifikant leicht zu beobachten, ihr Signifikat ist die Anordnung selbst. Anders gesagt, in der Anordnung des klassischen lateinischen Alphabets hat der Signifikant {b} zunächst einmal das (scheinbar banale) Signifikat zweiter Buchstabe des Alphabets, und genau diese Interpretation liegt der Verwendung des Zeichens etwa in Aufzählungen zugrunde. Diese als Zeichen betrachtete Anordnunng kann nun aber auf der zweiten Ebene mit weiteren Bedeutungen aufgeladen werden, und in diesem Augenblick wird die Sortierung zum Mythos. Wir werden viele Beispiele sehen, wo eben dies stattfindet. Sortierung entstand vor 5500 Jahren als Mythos, das semitische Alphabet wurde zum Mythos und selbst heute hat die Sortierung noch solche Züge, indem das |ABC| in vielen Sprachen für das Elementarwissen steht, den Grundkanon, den wir im Deutschen auch mit einer anderen Metapher als | Einmaleins | bezeichnen, Basis unseres Wissens und unserer Zivilisation. In meiner Arbeit bemühe ich mich, genau diese Mythenbildung aufzuzeigen. Nota Bene: Ich behaupte nicht, dass Sortierung immer und unter allen Umständen Mythos war oder ist. Oftmals wurde und wird sie nur als Anordnung verwendet, ohne dass eine zweite Stufe der Signifikation sichtbar wäre. Und in vielen Fällen, wo sie als Mythos fungiert haben mag, können wir mangels eines dokumentierten Kontextes nur noch die Sortierung selbst, also das Zeichen erster Stufe greifen. In diesen Fällen bemühe ich mich nicht, Mythen zu (re)konstruieren, die es möglicherweise nie gegeben hat und die uns jedenfalls nicht mehr zugänglich sind, sondern begnüge mich damit, die Sortierung zu beschreiben. 3.1.6
Der Logozentrismus der Schrift
Die Anordnung von Schriftzeichen in einem Schriftsystem lässt sich im Gegensatz zur Anordnung von Zeichenketten problemlos mit Saussures Modell der Differenzen beschreiben - der Platz eines jeden Schriftzeichens definiert sich relativ zu den anderen Schriftzeichen.20 Der »Sinn«, wenn man es nach Derrida denn so nennen will, den die trace dabei über das Spiel der Differenzen konstruiert, ist nichts anderes als die absolute Position des Schriftzeichens. Nun aber zum angekündigten Einwurf zu Derrida. Obwohl Schriftsysteme 20
Ich ignoriere hier die Frage, ob es sich in Saussures Sinne um positive oder negative Differnzen handelt, vergl. (Saussure, 1972), S. 166.
3.2. Einige Thesen
67
prinzipiell konventionell sind, werden wir in dieser Arbeit sehen, dass bestimmte historische Schriftsysteme selbst in ihrer Binnenstruktur eine Tendenz zu einer weitergehenden Sinnstiftung haben, und zwar sowohl nicht-phonetische Systeme wie das sumerische als auch alphabetische wie das Griechische und das Hebräische. Insbesondere die Anordnung der Schriftzeichen untereinander bleibt nicht nur der trace unterworfen, ist also mehr als nur eine Sequenz s i . . . s n von Schriftzeichen, sondern war in bestimmten, in der sumerischen Tradition stehenden Kulturen ursprünglich auch und sogar in erster Linie eine Maschinerie, um eine ansonsten ungeordnete Umwelt mit Sinn aufzuladen und dadurch beherrschbar zu machen. Wenn Logozentrismus nun nach Derrida nichts anderes ist als »le desir exigeant, puissant, systematique et irrepressible« nach einem transzendentalen Signifikaten, dann ist der sumerische und post-sumerische Wunsch nach einer sinnhaltigen Anordnung der Schriftzeichen als einem Sinn in der Schrift nichts anderes als eben Logozentrismus - in seinen ersten Erscheinungsformen dreitausend Jahre vor den ersten Präsokratikern in Griechenland. Anders gesagt, Schrift war mittels ihrer Anordnung zumindest in der sumerischen Traditionslinie immer mehr als nur der urkonventionelle Signifikant, den Derrida in ihr sieht. Sie war zugleich auch ein Mittel zur Sinnstiftung und zur Organisation der Welt. Insofern ist die Geschichte der alphabetischen Anordnung nichts anderes als die Geschichte des Logozentrismus der Schrift. 3.2 3.2.1
Einige Thesen Anordnung
Anordnung ist eine sekundäre Eigenschaft vieler Schriftsysteme. Angeordnet sind zum Beispiel die sumerische Keilschrift (mit den oben genannten Einschränkungen) und, so weit ich sehe, alle aktuell verwendeten Alphabete. Nicht angeordnet sind hingegen traditionell das chinesische und das ägyptische Schriftsystem, um zwei Beispiele herauszugreifen. Von vielen historischen Schriftsystemen können wir mangels geeigneter Belege keine informierte Entscheidung treffen, ob sie angeordnet waren oder nicht. Α priori besteht kein Grund zur Annahme, dass sie es waren, es sei denn, es gibt klare Indizien dafür. Genau wie die Schriftsysteme selbst ist ihre Anordnung zeit- und sprachabhängig. Oftmals hört man den Wunsch nach einer »natürlichen« Anordnung von Schriftzeichen im Gegensatz zu der willkürlichen, die den allermeisten Schriften zugesprochen wird. Als Beispiel werden die von der Devanagari abgeleiteten indischen Schriften und die wiederum davon abstammenden japanischen
68
3. Grammatologie der Anordnung
Syllabare Katakana und Hiragana herangezogen, die nach phonetischen Kriterien angeordnet sind. In der Devanagari etwa beginnt die Anordnung mit den einfachen Vokalen, gefolgt von den (heute größtenteils monophthongisierten) Diphthongen, nach denen dann in einer phonetisch strukturierten Reihenfolge die Konsonanten folgen (velar, palatal, retroflex, dental, labial, jeweils unterteilt in nicht-aspiriert und aspiriert).21 Das in dieser inneren Systematik zum Ausdruck kommende Wissen um die Phonologie des Sanskrit ist beeindruckend. Die Anordnung bleibt aber trotzdem eine willkürliche Setzung (Warum zuerst Vokale? Wieso velare vor palatalen Konsonanten? usw.) Derridas Warnung vor dem scheinbar »Natürlichen« greift auch hier. Es wurden historisch drei unterschiedliche interne Anordnungssystematiken realisiert, die meistens gemischt auftreten: 1. nach phonetischen Gesichtspunkten (v. a. in den indischen Schriften wie Devanagari und ihren Abkömmlingen); 2. nach Aussehen (Leon Battista Alberti für das Italienische, eine Sortierpraxis im Chinesischen); 3. nach semantischen Kriterien (Sumer, Uralphabet). Daneben gibt es solche, die keinerlei heute noch auf den ersten Blick erkennbare innere Systematik haben. Gleichzeitig sind die Prinzipien der Anordnung aber erstaunlich konservativ, auch über die Grenzen von Schriftsystemen hinweg. So wurden die sumerischen Anordnungsregeln, die lexikalischen Listen, mit der Schrift an alle anderen Nutzer der Keilschrift weitergegeben, selbst wenn sie dort objektiv gesehen keinen Sinn hatten, und so beginnen die meisten Alphabete ihre Anordnung mit einem Derivat des phönizischen Alef, gehen dann zu einem Derivat des Bet über usw. Ich konzentriere mich bei meiner Untersuchung auf die Anordnungen der im westeuropäischen Raum üblichen Alphabete, insbesondere auf die des Deutschen und auf die der romanischen Sprachen, dort wiederum insbesondere auf die des Lateinischen, Italienischen und Französischen. Diese Auswahl ist im Wesentlichen von meinen subjektiven Interessen bestimmt. Sie ist somit einerseits willkürlich, anderseits aber für einen Westeuropäer nicht absurd, denn die vier genannten Sprachen dominierten im Mittelalter und bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein den literarischen und wissenschaftlichen Diskurs in einem der zentralen Kulturräume der Welt. 21
Nach (Bright, 1996), passim.
3.2. Einige Thesen
69
Dabei betrachte ich aber die ganze Kontinuitätslinie, die von den den ersten Anfängen von Anordnung in den frühesten Belegen des Sumerischen über das Phönizische, Griechische, Etruskische und Lateinische bis hin zur von mir mitbewegten Formalisierung von Anordnungsregeln für die EDV führt — immerhin ein Zeitraum von weit über fünftausend Jahren. In Einzelfällen lasse ich mich nicht davon abhalten, auch die Sortierung anderer europäischer Alphabete zu beleuchten, wenn dabei interessantes Vergleichsmaterial zu finden ist. Dabei ist das Problem der Anordnung in einem Alphabet zunächst einmal genau das, was die obige Definition aussagt - die Frage nach der Anordnung von Buchstaben. Unsere heutige Hauptanwendung dieses Phänomens, nämlich die Anordnung nicht nur von Buchstaben, sondern ganzer Wörter aufgrund einer (scheinbar trivialen, in Wirklichkeit aber komplexen) Extension des Prinzips auf ganze Zeichenketten (oft Wörter) folgte erst mit tausendjähriger Zeitverzögerung den ersten angeordneten Alphabeten nach. Ich beleuchte dieses Prinzip in seinen ersten Erscheinungen im Griechischen und seine Auswirkung auf die aufkeimende lateinische und später nationalsprachliche Lexikographie. Dabei vergleiche ich die Methodik der alphabetischen Anordnung in der Lexikographie mit bewussten Alternativstrategien dazu. Die volle Komplexität der Sortierung ganzer Zeichenketten {strings) hat sich wieder bei der Formalisierung entsprechender, an die konkreten Bedürfnisse verschiedener Sprachen anpassbarer Mechanismen für die EDV gezeigt. An dieser Stelle werde ich dann auch eine formale Definition von |Quasihomographie| liefern, von Zeichenketten, die nach üblichem Verständnis >fast< gleich geschrieben sind, also zum Beispiel im Italienischen |e| und |e| oder im Deutschen |arm| und |Arm|. Die kulturell, politisch und wirtschaftlich begründeten Interessengegensätze, die bei der Entwicklung entsprechender Normen aufgebrochen sind, habe ich auf internationaler und europäischer Ebene selbst miterlebt, auf europäischer Ebene federführend als Herausgeber des europäischen Standards (ENV 13710:2000) und des (CR 14400:2001). 3.2.2
Die Geschichte unseres Sortierens
Wenn mein Thema die Anordnung von Schriftzeichen in ausgewählten Schriftsystemen ist, so ist die Struktur der Präsentation dieses Themas geschichtlich und chronologisch. Meine Darstellung beginnt mit den frühesten Erscheinungsformen des Sortierens vor über fünftausend Jahren und reicht bis in die unmittelbare Gegenwart.
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3. G r a m m a t o l o g i e der A n o r d n u n g
Dabei vereinfache ich drastisch das komplexe Stemma angeordneter Schriftsysteme - für eine selbst schon schematisierte Darstellung vergl. (Gelb, 1974), S.x-xi - und konzentriere mich, wie bereits erwähnt, auf einen Ast dieses Baumes, denjenigen, dessen Blätter die aktuellen Alphabete Westeuropas und insbesondere Frankreichs, Italiens und Deutschlands sind. In diesem Ast wiederum beschränke ich mich auf zentrale Punkte, die durch bedeutsame kulturelle, geistesgeschichtliche oder technische Umbrüche gekennzeichnet sind - wobei diese Punkte in der Frühzeit oftmals zusammenfallen, denn die Erfindung der verschiedenen Schriftsysteme oder, um mit Ong zu sprechen, Schrifttechnologien war ipso facto eine technische Revolution ersten Ranges. Die Arbeit ist somit zunächst einmal eine geschichtliche Arbeit. Sie ist spezifisch eine Kulturgeschichte der westeuropäischen Sortierung, indem sie alle Phänomene in ihren materiellen und kulturellen Kontext stellt und die Anordnung somit in ihrem jeweiligen geschichtlichen Horizont betrachtet. Indem ich das Phänomen der Anordnung von Schriftzeichen aus verschiedenen Blickwinkeln - kulturgeschichtlich, semiotisch und linguistisch - betrachte, sehe ich jeweils unterschiedliche Aspekte. Eine aus heutiger Sicht »ideale« Anordnung zumindest von Alphabeten lässt sich immer auch mathematisch beschreiben - als banale Isomorphic auf eine Untermenge der natürlichen Zahlen, was die Anordnung der Buchstaben selbst betrifft, durch eine sehr viel komplexere, aber nichtsdestotrotz determinierte, meistens injektive Funktion von Zeichenketten auf die rationalen Zahlen, was die Anordnung von Zeichenketten angeht. Dadurch haben wir eine in den Kulturwissenschaften nur selten vorhandene Vergleichsfolie, mit der wir unsere historischen Beobachtungen abgleichen können - nicht als Maß von »Korrektheit« natürlich, sondern bestenfalls als Maß dessen, wie sich die Perzeption des Komplexes über die Jahrhunderte verändert hat. Wir können damit zumindest die jeweiligen Signifikanten mit einer Genauigkeit greifen und vergleichen, die man sonst nur sehr selten findet. 3.2.3
Der Mythos als Wörterbuch
Wir werden sehen, dass Schriftzeichen genauso wie die Buchstaben des semitischen Uralphabets ursprünglich einmal Mythen im Sinne Barthes waren. Wir können die Anordnung der Zeichen ebenso als ein zentrales Hilfsmittel der Bedeutungsgewinnung interpretieren, als ein |Dizionario| (Wörterbuch) im Sinne Ecos.22 22
Ich benutze hier den italienischen Begriff als terminus technicus, da in dieser Arbeit sehr viele »echte« Wörterbücher, also Wörterbücher im üblichen Wortsinn, auftauchen und die Doppelbelegung des Begriffes noch mehr Verwirrung mit sich bringen kann wie die Doppelbelegung von | Zeichen |.
3.2. Einige T h e s e n
71
Die aktuelle Semiotik findet ihre Vorläufer in der griechischen Antike. Ein |Dizionario| war bei den Griechen konzeptionell meist ein hierarchisch angeordneter Wissensbaum, der ausgehend von allgemeinen Konzepten in immer feineren Unterscheidungen hin zum konkreten Begriff führt. In seiner »kanonischen« Ausprägung spricht man von einem |Baum des Porphyrios| nach dem Aristoteles-Kommentator Porphyrios von Tyros (ca. 232-304 n. Chr.). Dabei tritt zu der reinen Hierarchie der Begriffe - der Mensch als Unterkategorie von TIERE, wiederum Unterkategorie von LEBEWESEN — ein System von Gegensätzen in der Begriffsdefinition hinzu - der Mensch als Tier, das im Gegensatz zu anderen Tieren abstrakt denken und lachen kann —, so dass ein Objekt sowohl durch seine Position in der Hierarchie als auch durch seine (fast strukturalistisch anmutenden) Differenzen zu anderen Objekten definiert wird. 2 3 Die Arbeit führt mit der Fabrica del Mondo des Francesco Alunno und der Enzyklopädie des Panckoucke zwei solcher Wissensbäume aus der Neuzeit vor, die beide von sich behaupten, vollständig und definitiv zu sein - es liegt in der Natur eines solchen naiven Wissensbaums, dass er Alternativen verbietet und die ganze Welt in einer einzigen gültigen Struktur beschreiben will. 24 Beide Werke positionieren ihr als umfassend propagiertes hierarchisches Wissenskonzept bewusst gegen eine alphabetische Anordnung des Weltwissens, die diesen Anspruch nicht erhebt. Die Arbeit führt aber noch einen Definitionsmechanismus vor, der mindestens zweieinhalbtausend Jahre älter ist als das schlussendlich aristotelische Konzept vom Wissensbaum, das Konzept der lexikalischen Liste. Ein Beruf, sagen wir |Vorarbeiter), definiert sich nicht, wie es seit der griechischen Tradition üblich ist, durch seine grundlegenden Eigenschaften (essentiales), auch nicht wie bei Porphyrio von Tyros zusätzlich oder ausschließlich durch einen Satz von Unterscheidungskriterien ( d i f f e r e n t i a e ) zu anderen Berufen, sondern einfach durch seine hierarchische Position, sagen wir zwischen Abteilungsleiter und Fließbandarbeiter. Mag so eine Definition bei diesem Beispiel noch halbwegs einleuchten, so wurde das gleiche Erklärungsmuster auch für ganz andere Objekte verwendet — und die Definition von |Schwein| als dasjenige Objekt, das seinen hierarchischen Platz zwischen |Hund| und |Esel| einnimmt, ist uns fremd. Die semiotische Funktion einer solchen »Wissensliste« wurde bis dato meines Wissens nie erkannt, obwohl sie trotz aller Fremdheit an der Oberfläche nicht tot 23
24
Für eine nähere Erläuterung des Konzepts vergl. (Eco, 1986), passim sowie (Eco, 1984), S. 91 ff. Ein |Baum des Porphyrios | ist komplexer als es diese Kurzdiskussion vermuten lässt. Die moderne Terminologieforschung ist von dieser naiven Vorstellung abgekommen - es gibt nicht ein terminologisches System, sondern (bestenfalls) nur eines, das für bestimmte Anforderungen geeignet ist. Vergl. auch die von der U N E S C O geförderte Arbeit von Christian Galinski und seines Wiener Institutes TermNet.
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3. Grammatologie der Anordnung
ist - sie lebt, wie ich behaupte, weiter in unser heutigen alphabetischen Anordnung, deren Ursprung sie auch ist. Das allein muss allerdings wenig heißen, denn es gibt viele historische Artefakte unseres Lebens, die einmal sinntragend waren, heute aber gänzlich unverstanden sind. Aber auch abgesehen vom historischen Konnex hat es bis in die Neuzeit hinein immer wieder Versuche gegeben, die alphabetische Anordnung als Wertemaßstab, als, wenn nicht Wissens-, so Werteliste neu aufzuladen. In Extremfällen wie der pythagoräischen Zahlenmystik und der ihr denkverwandten jüdischen Kabbalah wird die Anordnung zum Symbol Gottes und somit sakrosankt. Diese Versuche stelle ich dar und analysiere sie. Auch das Gegenteil existiert. Die scheinbare Wertelosigkeit der Anordnung wird u.a. in der Encyclopedie von Diderot zu einer bewussten Absage an ein geschlossenes, wohlgeordnetes Weltwissen und somit Vehikel einer eminent politischen Aussage - auch das ein Mythos, aber einer der Aufklärung. Barthes spitzt in seiner Autobiographie Roland Barthes par Roland Barthes, die nichts anderes ist als eine näherungsweise alphabetisch angeordnete Sammlung von Erinnerungsfragmenten, Diderots Ansicht zu einer totalen Absage an die »angoisse du >plandeveloppement CJÜSJ
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