Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart: Mythotopologie einer „magischen“ Stadt [1. Aufl.] 9783662622551, 9783662622568

In diesem Buch widmet sich Lena Scheidig der Darstellung der Stadt Prag in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Sie versu

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German Pages XIV, 557 [558] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIV
Einleitung (Lena Scheidig)....Pages 1-16
Vorüberlegungen (Lena Scheidig)....Pages 17-57
Zur Entstehung eines literarischen Mythos im zeitgeschichtlichen Kontext der Jahrhundertwende (Lena Scheidig)....Pages 61-154
Topologie der Erinnerung: Die Stadt als Gedächtnisraum (Lena Scheidig)....Pages 159-364
Topologie der Entfremdung: Die Stadt als Seelenspiegel (Lena Scheidig)....Pages 367-529
Schlussbetrachtung und Forschungsausblick (Lena Scheidig)....Pages 531-539
Back Matter ....Pages 541-557
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Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart: Mythotopologie einer „magischen“ Stadt [1. Aufl.]
 9783662622551, 9783662622568

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Lena Scheidig

Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart Mythotopologie einer „magischen“ Stadt

Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart

Lena Scheidig

Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart Mythotopologie einer „magischen“ Stadt

Lena Scheidig Universität Leipzig Leipzig, Deutschland Dissertation, Universität Leipzig, 2018

ISBN 978-3-662-62255-1 ISBN 978-3-662-62256-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-62256-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Danksagung „Im Anfang war das Wort...“ Doch ebenso wie auch das Wort selten ganz allein steht, würde auch die vorliegende Dissertation nicht sein, ohne die Unterstützung und den Beistand einer ganzen Reihe von wohlwollenden Menschen. So soll am Anfang ein Wort des Dankes stehen. Ein besonderer Dank gilt meiner Betreuerin Prof. Dr. Angelika HoffmannMaxis, die an mich geglaubt hat und mich überhaupt ermutigt hat, diese Arbeit zu beginnen. Von ihr habe ich bereits zu Studienzeiten sehr viel gelernt und sie hat mich in all den Jahren umfangreich unterstützt und mich immer hilfreich mit ihren Ratschlägen begleitet. Einen weiteren besonderen Dank widme ich Prof. Dr. Alfrun Kliems, deren Forschungsarbeit ich sehr schätze und die mich insbesondere inhaltlich sowie thematisch inspiriert hat. Darüberhinaus bin ich für ihre sowohl beratende als auch tatkräftige Unterstützung vor allem in der Anfangszeit sehr dankbar. Auf den letzten Metern war mir Prof. Dr. Birgit Harreß eine sehr wichtige Unterstützung, die mir als Zweitgutachterin und in der (emotionalen) Vorund Nachbereitung für die Verteidigung zur Seite stand. Ich möchte mich zuvorderst weiterhin bei der Graduiertenkommision der Universität Leipzig für die Doktorandenförderung bedanken. Ohne eine entsprechende Finanzierung wäre es für mich nicht möglich gewesen, überhaupt eine derartige Arbeit zu schreiben. Für einen sehr gewinnbringenden Forschungsaufenthalt bedanke ich mich beim Ústav pro českou literaturu (Institut für tschechische Literatur) in Prag. Der Dank gilt in erster Linie Mag. Dr. Michael Wögerbauer, der mich bei der Organisation des Aufenthalts unterstützt hat und mich in Prag mit wertvollen Kontakten vernetzt hat. Auch Prof. Dr. Manfred Weinberg aus der Germanistik von Prager KarlsUniversität möchte ich für seine konstruktive Expertise danken und die Vernetzung im Rahmen der Kurt-Krolop-Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur.

VI

Danksagung

Nicht zuletzt bedanke ich mich bei Dr. Peter Becher und dem Adalbert Stifter Verein, der mir für die Fertigstellung der Dissertation ein Förderstipendium gewährt hat. Ein ganz besonderes Dankeschön gebührt schließlich meiner lieben Freundin Andrea Rüthel, die mich immer ermutigt und an mich glaubt, für ihre gründliche Korrekturen und ihren unermüdlichen Beistand, nicht nur im Rahmen der Verteidigung. Auch meinem lieben Freund Martin Gális spreche ich ein großes Dankeschön aus: Er hat sich nicht gescheut in mühevoller und akribischer Detailarbeit zusammen mit mir meine Übersetzungen zu optimieren. Danke natürlich auch allen, die an dieser Stelle nicht namentlich genannt werden, mir aber in all den Jahren meiner Dissertation zur Seite gestanden haben, mit mir in der Mensa zum Mittagessen waren und vor der Bibliothek Kaffee getrunken haben oder mich mit wertvollen Ratschlägen unterstützt und ermutigt haben… Dankeschön.

Die Fruchtbarkeit einer geisteswissenschaftlichen Erkenntnis scheint der Intuition des Künstlers näher verwandt als dem methodischen Geist der Forschung.1 [Hans-Georg Gadamer]

1

Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit in den Geisteswissenschaften. In: Ders.: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Tübingen 1986. S. 37-43, hier S. 38.

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis ....................................................................................VII Abbildungsverzeichnis ................................................................................X Einleitung .....................................................................................................1 Problematisierung eines Mythos: Ist Prag die „magische Hauptstadt“ Europas ..................................................1 I Vorüberlegungen ...................................................................................17 1 Prag im Wandel der Zeiten: Wie Geschichte und Mythologie ein Stadtbild präg(t)en .............................................................................17 2 Mythotopologie der Schwelle: Prag als Raum des Dazwischen ..........29 3 Das Gedächtnis der Orte und die Lesbarkeit der Stadt ......................39 Zusammenfassung der Hypothesen: Zum Verständnis des „Magischen“ ......57 II Zur Entstehung eines literarischen Mythos im zeitgeschichtlichen Kontext der Jahrhundertwende ................................................................61 1 Die Großstadt als Ort der gefährdeten Subjektivität ...........................61 2 Heteroimago einer phantastischen Stadt .............................................67 3 „Tripolis Praga“? Zur Konstruktion nationaler und kultureller Identität .........................73 4 Nationale Identitätskonstruktion und damit einhergehende Stereotypisierung des Anderen am Beispiel von Auguste Hauschners Die Familie Lowositz ..........................................................................87 5 Dem Untergang geweiht: Prag im tschechischen „desillusionierten patriotischen Roman“ ......................................................................115 6 Dichter:innenschicksal einer Hassliebe: Zur Prager deutschsprachigen Literatur ...........................................127 7 Gefühl der Heimatlosigkeit und Rückwendung in das „Alte Prag“ . .143 Vergleichende Zusammenfassung: „Kde domov můj?“ – Prag als Topos der Identitätssuche ...........................151

X

Inhaltsverzeichnis

III Topologie der Erinnerung: Die Stadt als Gedächtnisraum ...........159 1 Das „jüdische Prag“: Fremdheit versus Vertrautheit .......................159 1.1 Das Alte Prager Judenghetto ..................................................174 1.1.1 Topos der Fremdheit: Das „jüdische Volk“ als Stereotyp des Fremden .................................................178 1.1.2 Topos der Vertrautheit: Die „Judenstadt“ als Ort des nächtlichen Vergnügens ...............................................190 1.2 Der legendäre Alte Jüdische Friedhof in Prag ........................198 1.3 Prag als Paradigma der Heimatlosigkeit .................................216 2 Das polemische Prag: Topographien des Kampfes und des Todes . 221 2.1 „Patriotische Erinnerungskultur“ ............................................224 2.1.1 Matička Praha und das Bild einer toten Stadt ..............224 2.1.2 Nationalitätenkämpfe und nationale Stereotypisierung in den Studentenromanen von Karl Hans Strobl ..........238 2.2 Allgegenwart der Geschichte ..................................................249 2.2.1 Verschmelzen von Vergangenheit und Gegenwart .......249 2.2.2 Zum Stillstand der Zeit im Kriminalroman von Miloš Urban ................................................................266 2.2.3 Die weinende Frau in den Straßen von Prag als personifiziertes Gedächtnis der Stadt .....................277 2.3 Prag als Paradigma der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 282 3 Das traumatische Prag: „Město se měnilo“ ......................................287 3.1 Zu den Traumata der Besetzung in der Geschichte der Stadt Prag im 20. Jahrhundert ...........................................287 3.2 „Prager Ironie“ und die Kulissen der Machtlosigkeit ...............290 3.2.1 Die Maskerade der „großen Geschichte“ ......................290 3.2.2 Die Götter haben diese Stadt verlassen: Prag im „Totální realismus“ .........................................306 3.3 Prag als Paradigma der Traumatisierung .................................328 3.3.1 De- und Rekonstruktion eines Erinnerungsortes im Werk von Libuše Moníková ....................................328

Inhaltsverzeichnis

XI

3.3.2 Die „qualvolle Stadt“ als Ursprung und Ende von allem ......................................................348 Vergleichende Zusammenfassung: De- und Remythologisierung einer „magischen“ Stadt ...............................259 IV Topologie der Entfremdung: Die Stadt als Seelenspiegel ...............367 1 Prager Spaziergänger:innen und ihre Lesarten .................................367 1.1 Tableau des Selbstverlustes: Der nächtliche Spaziergänger und die dunkle Seite der Stadt ..................................................371 1.2 Le passant de Prague: Der ewig wandernde Jude als ewiger Flaneur ...........................417 1.3 Reisende in Prag: Auf der Suche nach der eigenen Identität ....433 2 Topographien der Flanerie ...............................................................451 2.1 Allegorisierung des Todes ........................................................452 2.1.1 Im Strom der „großen Geschichte“: Die Moldau als Totenfluss .............................................452 2.1.2 Unverhoffte Begegnungen: Die Figur des Anderen als Seelenspiegel .................................................................460 2.2 Die Prager Wirts- und Kaffeehauskultur und ihre Kneipengeschichten ..................................................................473 2.2.1 Innenräume als Rückzugs- und Lebensräume und die Figur des Oberkellner ..............................................483 2.2.2 Zwischen Geborgenheit und Einsamkeit: In der „Unterwelt“ der Prager Kneipen und Spelunken . 493 3 Abwanderung in die Peripherien: Neue Schauplätze einer entmystifizierten Stadt im 21. Jahrhundert .......................................509 Vergleichende Zusammenfassung: Selbstsuche, Selbstfindung und Selbstverlust ........................................................................................523 Schlussbetrachtung und Forschungsausblick: Von einer „magischen“ zu einer „tragischen“ Stadt? ...........................531 Bibliographie ............................................................................................541

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Die Prager Burg. Holzschnitt aus Schedelschen Weltchronik (Liber Cronicarum), Nürnberg 1493. In: Janáček, Josef: Das alte Prag. Leipzig 1980. S. 9. Abb. 2: Steiner-Prag, Hugo: Das Alte Prager Ghetto: Die Hahnpaßgasse. Illustration in: Gustav: Der Golem. Roman. Mit 25 Illustrationen von Hugo Steiner-Prag (1916). Frankfurt am Main; Berlin 1993. S. 15. Abb. 3: Hirth du Frênes, Rudolf (*1846-†1916): Der alte Judenkirchhof in Prag: http://www.artnet.de/k%C3%BCnstler/rudolf-hirth-du-fr %C3%AA nes/der-alte-judenkirchhof-in-prags9PbDJeDHij4KmZ3tUSoNw2 (zuletzt besucht am 17.04.2020). Abb. 4: Das Prager Stadtwappen (Altstadt): http://oktogon.at/Stadtwappen/slides/Prag_Altstadt.html (zuletzt besucht am 17.04.2020). Abb. 5: Oliva, Viktor: Goldenes Prag, Gemälde, 1899. In: Zlatá Praha für Belletristik; Ročník XVII, číslo I [Jahrgang XVII, Nummer I]; Erscheinungsdatum 10.11.1988. Abb. 6: Postkarte zu den Badeni-Unruhen 1897 in Prag (um 1900): https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:BadeniAufstand_Prag_1897_(cropped).jpg (zuletzt besucht am 17.04.2020). Abb. 7: Schreiber, Ulrich: Illustration in: Meyrink, Gustav: Walpurgisnacht. Phantastischer Roman. Mit einem Nachwort von Joachim Schreck und Illustrationen von Ulrich Schreiber. Berlin 1985. S. 29. Abb. 8: Die Prager Rathausuhr am Altstädter Ring (Staroměstský orloj), die Zeit und der Tod. Ausschnitt: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b2/Pragu e_-_Astronomical_Clock_Detail_1.JPG (zuletzt besucht am 17.04.2020). Abb. 9: Der böhmische Löwe, Wappentier: https://de.wikipedia.org/wiki/B %C3%B6hmischer_%C3%B6we_(Wappentier)#/media/File:Small_coat _of_arms_of_the_Czech_Republic.svg (zuletzt besucht am 17.04.2020). Abb. 10: Sudek, Josef: Illustration zu Vítězslav Pražský chodec (Fotografie, 1935). In: Nezval, Vítězslav: Der Prager Spaziergänger. Aus dem Tschechischen von Karl-Heinz Jähn. Berlin 1984. S. 11. Abb. 11: Hudeček, František: Noční chodec (Ölgemälde, 1944): http://en.ghmp.cz/on-line-collections/detail/CZK:US.M-3259/?rts=1 (zuletzt besucht am 17.04.2020).

Inhaltsverzeichnis

XIV

Abb. 12: Praha našich snů [Das Prag unserer Träume]. Deckblatt von Neradová, Květoslav (Hrsg.): Praha našich snů. Čtení o Praze podle českého písemnictví [Das Prag unserer Träume. Lektüre über Prag anhand der tschechischen Literatur]. Prag 1980 (Illustrationen von Miroslav Rada, Přemysl Pospíšil). Abb. 13: Karlsbrücke mit Fährmann. Illustration in: Neradová, Květoslav: Praha našich snů. S. 2-3. Abb. 14: Lada, Josef: Illustration der Wirtshausfigur Švejk. In: Ders.: Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk in Bildern. Prag; Berlin 1975. Einband, hinten. Abb. 15: Oliva, Viktor: Der Absinthtrinker (1901): https://de.wikipedia.org/wiki/Viktor_Oliva#/media/File:The_Absinthe_D rinker_by_Viktor_Oliva.jpg (zuletzt besucht am 17.04.2020). Abb. 16: Gaststube am Königlichen Weinberg. Illustration in: Leppin, Paul: Alt-Prager Spaziergänge. Hrsg. von Dirk O. Hoffmann. Versehen mit AltPrager Bildmotiven von Pavel Scheufler. Ravensburg 1990. S. 64.

Einleitung Problematisierung eines Mythos: Ist Prag die „magische Hauptstadt“ Europas? Die Stellung zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung für uns hat, ist das Zwischen zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik.1 [Hans-Georg Gadamer]

„Prag ist die magische Hauptstadt Europas“ 2, schrieb einst der Surrealist André Breton. Diese Zuschreibung ist von dieser Stadt bis in die Gegenwart kaum wegzudenken und viele Künstler:innen nehmen immer wieder Bezug auf das „magische“ Prag. So sagt beispielsweise die tschechische Schriftstellerin Libuše Moníková auch dem heutigen Prag diese Eigenschaft nach: „Die Stadt ist magisch und gleichzeitig sehr konkret, von einer fast schmerzhaften Schönheit und mit einer Jugend, die ihre Freiheit probt – ohne Vorbilder, ernst und realistisch.“3 Der Schriftsteller Vítězslav Nezval verbindet mit dieser Schönheit ein halbes Jahrhundert zuvor in seinem Pražský chodec (Der Prager Spaziergänger, 1938) eine unbestimmte und ewig währende Sehnsucht. Nezval ist der „tausendfachen Schönheit“ und „dem magischen Zauber dieser Stadt verfallen“4 – die „unaussprechliche Magie der Stadt“ 5 und das „Geheimnis der Schönheit“ seien darin begründet, „daß Prag ewig ist“: Denn die Magie der Schönheit beruht darin, daß sie Sehnsucht weckt, und die Magie der Sehnsucht, daß sie nach Erfüllung strebt. Und der Prager Spaziergänger (ich, Ihr, wir alle), derselbe, der mehr ist als ein ständiger oder vorübergehender Bewohner von Groß-Prag, der Prager Spaziergänger, derselbe, für den Prag etwas darstellt, das in seinem 1 2 3 4 5

Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1990. S. 300. Breton, André: Le surréalisme et la peinture. Paris 1965. S. 271; Breton bezeichnet an dieser Stelle das Prag vor dem Zweiten Weltkrieg als „capitale magique de l‘Europe“. Moníková, Libuše: Prager Fenster. Essays. Hrsg. von Michael Krüger. München; Wien 1994. S. 120. Nezval, Vítězslav: Der Prager Spaziergänger (Originaltitel: Pražský chodec). Aus dem Tschechischen von Karl-Heinz Jähn. Berlin 1984. S. 155 f. Nezval, Vítězslav: Der Prager Spaziergänger. S. 157.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Scheidig, Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62256-8_1

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Problematisierung eines Mythos

Zauber bereits über alle praktischen Bedürfnisse, alle Arten von Habsucht hinausgewachsen ist, der Prager Spaziergänger, der Fußgänger, unter dessen Schritten sich verschiedene Jahrhunderte vermengen, der Prager Spaziergänger, dem es unerläßlich ist, in Akkorden zu denken, deren Grundton der gegenwärtige Augenblick ist und dessen Dominanten und Subdominanten in den Vibrationen des Mysteriums Prag verstreut sind, gibt sich nicht mit dem Gedanken zufrieden, er könne leben wollen, seinen Gang fortsetzen wollen, wenn seinen Schritten das Pflaster entzogen wäre, auf dem Prag errichtet ist.6 Diese Stadt weckt Sehnsüchte und die „mysteriöse Sprache, die Prag spricht ist allen verständlich“7. Wer diese Stadt schon einmal besucht hat, weiß um ihre Schönheit – das „Goldene Prag“ (Zlatá Praha) wird gerühmt für sein unvergleichliches historisches Stadtbild, das von der Gleichzeitigkeit verschiedener architektonischer Stilrichtungen und Epochen lebt, die eine lange und ereignisreiche Stadtgeschichte widerspiegeln. Zu beiden Moldauufern erhebt sich ein unverwechselbares Panorama: auf der einen Seite die prachtvollen gotischen Kirchen, die sanften barocken Kuppeln und die mittelalterlichen, verwinkelten Gässchen der malerischen Kleinseite, auf der anderen Seite der Blick vom Hradschin über die hunderttürmige Stadt mit den unverwechselbaren roten Ziegeldächern. Während die Faszination der magischen Schönheit des „Goldenen Prags“, die größtenteils von dieser Stilepochenvielfalt ausgeht, häufig in lyrischen Darstellungen 8 besungen wird, findet sich in der Prosa hingegen das facettenreiche Bild einer wundersamen, rätselhaften, schmerzhaftschönen, mystischen Stadt. Es ist die Stadt „der Sonderlinge und Phantasten, dies ruhelose Herz von Mitteleuropa“9, die von jeher von einem geheimnisvollen Zauber umwoben ist: Um Prag ranken sich unzählige Mythen, Geschichten und Romane, die von geheimnisvollen Gestalten, Märtyrer:innen und Held:innen berichten, oder den dunklen und verwinkelten Gassen geheimnisvolle und gespenstische Ereignisse nachsagen. 6 7 8 9

Ebd. S. 163. Ebd. S. 159. So zum Beispiel in Rainer Maria Rilkes Gedichtezyklus Larenopfer (1895), in dem er verschiedene Prager Szenarien abbildet. Wiener, Oskar: Deutsche Dichter aus Prag. Ein Sammelbuch. Wien; Leipzig 1919. S. 5.

Einleitung

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Um mit dem Germanisten Claudio Magris zu sprechen, ist Prag eine „Grenzstadt“10: Die Definitionen und Beschwörungen des hunderttürmigen ‚magischen‘ oder ‚unheimlichen‘ Prag, des Schmelztiegels verschiedener Völker und Kulturen, stellen einen der reichsten Themenkataloge der modernen Literatur dar, eine Fundgrube auswechselbarer Zeugnisse, mit von Mal zu Mal verschiedenen Nuancierungen, einen Vorrat an literarischen topoi, die mit unermüdlicher Treue und unerschöpflicher Phantasie immer wieder aufgegriffen und abgewandelt werden, aber in ihrer repetitio variata im wesentlichen statisch bleiben. Der Zauber Prag als etwas Undefinierbares und nur Andeutbares ist der Zauber einer Sehnsucht, die sich dem Leben zuzuwenden glaubt, – einem Leben, das immer als vergangen und verloren erscheint und nie in der Gegenwart erfaßt und erlebt wird – , die sich dagegen oft der Darstellung des Lebens zuwendet, seinem phantastischen Abbild oder besser gesagt der festen Tradition seiner phantastischen Abbilder, die sich alle ähnlich sind, weil alle einmalig und außergewöhnlich, grotesk und exzentrisch sind oder sich dafür halten.11 Aus einem Zusammenspiel von lebhafter Kulturvielfalt und bewegter Geschichte entsteht eine besondere, schwer greifbare Dynamik, eine Vagheit, die Prag insbesondere in der Literatur immer wieder als einen „magischen“ Ort erscheinen lässt. Diese Sehnsucht spiegelt sich besonders in Prosatexten um die Jahrhundertwende wieder, in denen Prag verstärkt als geheimnisvolle Stadt dargestellt, die auf wundersame Weise beseelt ist und die Protagonist:innen in ihren fatalen Bann zieht, so etwa in Vilém Mrštíks Santa Lucia (1893), in Gotická duše (1905) von Jiří Karásek ze Lvovic, in Paul Leppins Severins Gang in die Finsternis (1914) oder Gustav Meyrinks Der Golem (1913-1915). Um diese Stadt und ihr Narrativ hat sich ein Mythos gebildet, der sich zusammensetzt aus ihrer ereignisreichen Geschichte, einem reichen Schatz an 10 11

Magris, Claudio: Prag als Oxymoron. In: Neohelicon. Acta comparationis litterarum universarum VII 2. Budapest 1980. S. 11-65, hier S. 13. Magris, Claudio: Prag als Oxymoron. S. 12.

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Problematisierung eines Mythos

Sagen und Legenden, aus der prächtigen Schönheit ihrer Architektur(en) sowie der Sonderbarkeit ihrer Figuren und Einwohner:innen. Spätestens mit dem umfangreichen Sammelsurium des Bohemisten Angelo Maria Ripellinos Praga magica (Magisches Prag, 1972) verfestigt sich dieser Mythos einer „magischen“ Stadt. In seinem Buch erzählt Ripellino von Prager Geschichte und Geschichten, von den Besonderheiten und Kuriositäten und der dunklen Seite dieser Stadt. Auch in literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätzen scheint man sich inzwischen einig, dass ein Prag-Mythos existiert, obgleich dieser bislang noch nicht genauer spezifiziert wurde. Claudio Magris bemerkt dabei sogar in den Wissenschaften eine Tendenz zur Mythisierung: „Der Zauber Prags verleitet jeden, der sich kritisch mit der Prager Literatur auseinander setzt, am Ende ihr Sprachrohr zu werden, die Mythisierung variierend weiterzuführen.“12 Neben Schriftsteller:innen und anderen Künstler:innen greifen mitunter auch Historiker:innen sowie Literaturwissenschaftler:innen diese geheimnisvolle Vagheit der Stadt auf. Was aber genau diese Stadt so „magisch“ macht, scheint schwer in Worte zu fassen zu sein. Das Prag-Narrativ steht in einem besonderen Spannungsfeld, welches verschiedene Diskurse tangiert, die für das Entstehen sowie Fortleben des Mythos einer „magischen“ Stadt verantwortlich sind. Ist es ihre unvergleichliche und anziehende Schönheit, ihre geheimnisvollen Sagen und Legenden, ihre unheimliche, bewegte und mythenreiche Geschichte? Die vorliegende Arbeit möchte herausfinden, woher diese Zuschreibung kommt und was diese „magische“ Stadt ausmacht. Besonders am Beginn des 20. Jahrhunderts verdichten sich die Darstellungen der Stadt Prag in der Literatur auffällig und so wird diesen Texten ein gesonderter Fokus gewidmet. Die Jahrhundertwende stellt ein Zeitalter des Umbruchs und des Aufbruchs in die Moderne dar und besonders für den Menschen in den sich entwickelnden und zunehmend industrialisierenden Großstädten bedeutet dies eine immense Beanspruchung für seine Sinne. Die vorliegende Untersuchung geht davon aus, dass diese Zeitschwelle mit der Herausbildung des Prag-Mythos in der Literatur in einem engen Zusammenhang steht. Weiterhin wird untersucht, wie dieser 12

Magris, Claudio: Prag als Oxymoron. S. 16.

Einleitung

5

Mythos einer „magischen“ Stadt im Verlauf des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Texten zum Tragen kommt und was er im Konkreten für den fiktiven Ort Prag und sein Narrativ bedeutet. Auf welche Weise offenbart sich die „Magie“ in den literarischen Topographien der Stadt? Insbesondere in der Literatur wurde und wird Prag dieses Attribut bis heute regelrecht eingeschrieben: Obwohl der Prag-Mythos sich erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in einer Fülle von Texten manifestierte, gehen seine Ursprünge bis weit in die Stadtgeschichte zurück. Einer der wohl frühesten literarischen Belege für deren Mythisierung ist ein Text aus dem Jahre 1505 von Jan Bechyňka, einem utraquistischen13 Prediger aus dem Kollegiatstift Sankt Apollinaris. Zumindest dem Titel nach wird Prag mit dem Text als „mystische Stadt“ bezeichnet: Praga mistica. Diese späthussitische Polemik ist in tschechischer Sprache verfasst und vor allem gegen die römisch-katholische Kirche gerichtet. Prag wird mit seiner Kultur und seinen Reliquien als die „göttliche Stadt der Tugend“ dargestellt. Als Utraquist war Bechyňka kein Mann mystischer Neigungen, im Gegenteil betont er nachdrücklich seine Absicht zur Wahrheitstreue. So war sein Anliegen offenbar nicht, Prag als mystische Stadt darzustellen, vielmehr die unchristliche Prager Bevölkerung zu einem gottesfürchtigen Leben und zur Verehrung der Stadt zu ermahnen.14 Mit scharfsinniger Beobachtung zeichnet Bechyňka ein kritisches Bild der sozialen Verhältnisse seiner Zeit, er spricht von den dunklen Machenschaften und der Unersättlichkeit der Menschen, die sich Tag und Nacht nur den irdischen Genüssen hingeben („lid tento celým dnem od vejchodu až do západu, ba i v noci žieře a nikdá syt není.“ 15). Demnach handelt es sich bei dem Titel in diesem Fall eher um eine ironische Attribuierung Prags, mit dem Hinweis 13 14 15

Als Utraquisten wurden die Anhänger der Hussitenbewegung genannt, die sich auf den böh mischen Reformator Jan Hus gründete. Vgl. Demetz, Peter: Prag in schwarz und gold. München 1997. S. 263. Bechyňka, Jan: Praga mystica. Z dějin české reformace (Komenského evangelická bohoslovecka fakulta v Praze) [Mystisches Prag. Aus der Geschichte der böhmischen Reformation (Evangelisch-Theologische Comenius-Fakultät in Prag)] Mit einem Vorwort von Amedeo Molnár. Prag 1984. S. 43 f. Dt.: ein Volk, dass den ganzen Tag von morgens (Osten) bis zum Abend (Westen), und sogar in der Nacht frisst und niemals satt ist“ [Übersetzung von der Verfasserin].

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Problematisierung eines Mythos

auf die ungemäßigten Einwohner:innen, die den göttlichen Status ihrer Stadt nicht zu würdigen wissen. Dennoch belegt die Praga mistica, auch ohne es genauer zu spezifizieren, dass Prag den Status einer mystischen Stadt bereits im Mittelalter inne hatte. Besonders im 16. Jahrhundert, im Zeitalter Rudolfs II.16, galt Prag als „Absteige für Schelme und Scharlatane, Flausenmacher und Windbeutel.“ 17 Es war ein Ort magischer Künste, der Alchemie und anderer dunkler Machenschaften. Der Historiker und Bohemist Karel Krejčí beschreibt in Praha legend a skutečnosti (Das Prag der Legenden und der Wirklichkeit) die Entwicklung verschiedener Prager Mythen. Folgendermaßen schildert er die Atmosphäre, in der sich zweifelsohne das Bild einer phantastischen Stadt verfestigt hat: To je Praha fantastická, jejíž kouzelnou atmosféru nerozptýlil věk osvícenství, ani realně střízlivý pohled buržoazní éry, ba ani dnešní doba, která závratným pokrokem vědy a techniky daleko překonala všechny domnělné zázraky rudolfínských mágů a čarodějů [...]. Avšak teprve sklonek 16. století formuje v plné podobě Prahu fantastickou. Je to podivná doba, kdy jas renesance přechází do šerosvitu baroka.18 Aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammen die Legenden eines „magischen“ Prags, die Geschichten um den Tausendkünstler Rabbi Löw, dem berühmten Schöpfer der Gestalt des Prager Golem, einer jüdischen Legendenfigur, die 16

17 18

Die Herrscherzeit des Kaisers Rudolf II. in Prag von 1576 bis 1612 wird Rudolfinisches Zeitalter genannt. Dieser widmete seine Aufmerksamkeit mehr den Künsten und Wissenschaften, als der Regierung des Heiligen Reiches. Bekannt ist er als Förderer und Liebhaber okkulter Praktiken, vor allem der Künste der Alchemie und Astrologie. Ripellino, Angelo Maria: Magisches Prag (Originaltitel: Praga Magica). Aus dem Italienischen von Pavel Petr. Tübingen 1982. S. 157. Krejčí, Karel: Praha legend a skutečnosti. [Das Prag der Legenden und der Wirklichkeit] Praha 1981. S. 94 f. Dt.: Das ist das fantastische Prag, dessen zauberhafte Atmosphäre auch das Zeitalter der Aufklärung nicht zerstreut hat, weder der reale, nüchterne Blick der bourgeoisen Ära, noch nicht einmal die heutige Zeit, welche durch rasanten Fortschritt der Wissenschaft und Technik alle vermeintlichen Wunder der rudolfinischen Magier und Zauberer weit überwunden hat. […] Indessen vervollständigt sich das Bild eines fantastischen Prags erst Ende des 16. Jahrhunderts. Es ist der merkwürdige Zeitraum, in dem der Glanz der Renaissance übergeht in das Dämmerlicht des Barock. [Übersetzung von der Verfasserin]

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aus Lehm geformt durch eine magische Zauberformel zum Leben erweckt werden kann. Rabbi Löw wird auch die Inkarnation der kabbalistischen Traditionen in Prag zugeschrieben.19 Diese Annahme verbindet sich zuweilen mit einem populären Aberglauben, dass die frühere Prager Judenstadt ein historischer Ort mystischer Lehre und Praxis gewesen sei. Als „Prager Judenstadt“ wird das so genannte Alte Judenghetto bezeichnet, welches Teile der Altstadt (Staré město) und des Stadtviertels Josefstadt (Josefov) umfasste. Dort befand sich zunächst das Zentrum jüdischen Lebens, gegen Ende des 19. Jahrhunderts war dieser Stadtteil jedoch gänzlich zu einem Elendsviertel der Kriminalität und der Prostitution verkommen, in dem kaum mehr jüdisches Gemeindeleben stattfand. Dieser Mythos über die Prager Judenstadt und den Alten Prager Judenfriedhof hat sich hartnäckig durchgesetzt und wird bis heute in der Prag-Literatur immer wieder aufgegriffen. Ein sehr populäres Beispiel jüngster Vergangenheit ist Umberto Ecos Il Cimitero di Praga (Der Friedhof in Prag, 2010). Weiterhin ranken sich zahlreiche Legenden und Mythen um die Astronomie des Dänen Tycho de Brahes und sein Zusammentreffen mit dem deutschen Astronomen Johannes Kepler auf dem Schloss Benatek in der Nähe von Prag (Benátky nad Jizerou) sowie um die Kunst der Alchemie. So sollen der Sage nach im Goldgässchen (Zlatá ulička) auf dem Hradschin, in dem später auch einmal Franz Kafka lebte, Alchimisten unter der Aufsicht Rudolfs II. versucht haben Gold herzustellen. In diesem Kontext steht auch die Sage von Doktor Faustus und schließlich die des Ewigen Juden Ahasverus. Die wenigsten dieser Mythen sind historisch belegbar, beim Golem handelt es sich zum Beispiel um eine Mythenbildung, die nicht verifiziert ist und der erst zu einem späteren Zeitpunkt der Schauplatz Prag zugeschrieben wurde. Gleichwohl wird in der Darstellung der Stadt in der Literatur immer wieder in unterschiedlicher Form auf dieses „magische“ Prag der Mythen und Legenden referiert, um die Stadt auf eine bestimmte Weise zu semantisieren.

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Vgl. Demetz, Peter: Die Legende vom magischen Prag. In: Transit. Europäische Revue. Heft 7. Frühjahr 1994. S. 142-161, hier S. 148.

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Wie jeder Mythos, so verfolgt auch der literarische Mythos von Prag eine wesentliche Identität jenseits der geschichtlichen Veränderung, selbst wenn er aus einem überreichen und vielschichtigen Geschichtsmaterial Nahrung bezieht. […] Der Prag-Mythos stellt eine Sehnsucht der Sehnsucht dar, das Nachtrauern nach einem bloßen Papiergebilde, das die Geschichte bereits zerrissen hat und das man in Wirklichkeit nie besessen hat.20 Die vorliegende Arbeit widmet sich der Untersuchung dieses Mythos und des Narrativs der „magischen“ Stadt – sie möchte dessen Entstehung sowie Fortbestehen in der Literatur ergründen und der oben beschriebenen „Sehnsucht“, die in den Topographien Prags allgegenwärtig erscheint, auf den Grund zu gehen. Dabei untersucht die Dissertation ausgewählte Prag-Texte von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart und knüpft so an den gegenwärtigen Stand der Forschung an, in der bis dato ein mitunter einseitiger Zugang zur Thematik auffällt. Ein großer Teil der Beschäftigung mit dem Prag-Mythos stammt aus der Germanistik und richtet dementsprechend seinen Fokus auf die so genannte Prager deutschsprachige Literatur. Da sich viele Prag-Texte aber nicht ganz eindeutig einer Nationalliteratur zuordnen lassen und für die Betrachtung des Narrativs der Stadt neben der deutschen zweifelsohne ebenso die tschechischsprachige Literatur relevant ist, lässt sich konstatieren, dass dieses Narrativ bisher kaum umfassend beleuchtet wurde. Die Dissertation möchte dies mit einem komparatistischen Zugang und der Untersuchung von Prag-Texten verschiedener Literaturen leisten. In den letzten Jahren haben sich zunehmend einige einzelne Wissenschaftler:innen sowie verschiedene Forschungsgruppen mit dem Thema der Darstellung der Stadt Prag in der Literatur auseinandergesetzt. Ihren Ursprung hat dieser Forschungszweig in den 1960er Jahren, als eine Reihe von Germanist:innen sowie „Hinterbliebene“ der Prager deutschsprachigen Schriftsteller:innengeneration begannen, sich mit der „Generation Kafka“ und deren Verhältnis zu ihrer (Wahl-)Heimatstadt Prag zu beschäftigen. Zu ihnen gehörten unter anderem Claudio Magris, Kurt Krolop, Eduard Goldstücker, Oskar Wie20

Magris, Claudio: Prag als Oxymoron. S. 14.

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ner oder Emil Skala. Daraus entstanden zahlreiche Aufsätze, die viele relevante Aspekte der Darstellung Prags in der Literatur beinhalten, jedoch auch an einer weiterführenden Mythisierung der Stadt beteiligt waren, so zum Beispiel Prag als Oxymoron von Claudio Magris oder Hinweis auf eine verschollene Grundfrage: „Warum haben Sie Prag verlassen?“ von Kurt Krolop. Auch die Publikationen von Paul/ Pavel Eisner sind in diesem Zusammenhang nennenswert, der mit seinem Anliegen als Kulturvermittler zwischen der deutschen und der tschechischen Bevölkerung den Prag-Mythos seinerzeit maßgeblich mitgestaltet hat. An dieser Stelle sei weiterhin auch auf einige einzelne Publikationen hingewiesen, die für eine Untersuchung des Prag-Mythos als grundlegend erachtet werden können: Ein Buch, auf das in diesem Zusammenhang immer wieder referiert wird und das eine sehr ergiebige Sammlung zahlreicher Details, Aspekte und Texte der Stadt darstellt, ist Ripellinos Praga Magica. Es handelt sich indessen nicht um eine Darstellung wissenschaftlichen Anspruchs, sondern vielmehr um eine umfangreiche Quelle von Geschichten um das „magische“ Prag. Dieser Text gleicht einem Spaziergang durch die Stadt und Ripellino selbst nennt es ein „launisches Buch“, welches „Wunder und Anekdoten [...] zusammenwürfelt“21, ein „Prager Welttheater [...] ohne roten Faden“22, welches ebenso wie die „zwielichtige Stadt an der Moldau“ 23 schwer fassbar zu sein scheint. Als herausragender Prag-Spezialist, der auch mit der tschechischsprachigen Prag-Literatur gut vertraut ist, erweist sich der Germanist und Komparatist Peter Demetz, der seit den 1990er Jahren verschiedene Publikationen über seine Heimatstadt herausgegeben hat. In Die Legende vom magischen Prag24 versucht er bereits 1994, viele Prag-Mythen aufzudecken. Ebenfalls besonders ergiebig ist Prag in schwarz und in gold. Sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt (1998), eine umfangreiche Geschichte der Stadt Prag, die sowohl historische Ereignisse und Besonderheiten beschreibt, 21 22 23 24

Ripellino, Angelo Maria: Magisches Prag. S. 31. Ebd. S. 30. Ebd. S. 16. Demetz, Peter: Die Legende vom magischen Prag. In: Transit. Europäische Revue. Heft 7. Frühjahr 1994. S. 142-161.

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als auch literarische Texte behandelt, die in einem Kontext zur Stadt stehen. Auch die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Daniela Hodrová setzt sich in ihrem gesamten literarischen Schaffen mit ihrer Heimatstadt Prag auseinander – sowohl auf fiktionaler Ebene als auch von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus. Ihre bisher umfangreichste Publikation zum Thema „Stadttext und Textstadt“ ist Citlivé město. Eseje z mytopoetiky (Empfindsame Stadt. Essays aus Mythopoetiken, 2006). In der neueren und gegenwärtigen Forschung haben sich verschiedene Forschungsverbände hervorgetan, die sich zunehmend um einen interkulturellen bzw. komparatistischen angelegten Zugang zur Untersuchung der Darstellung der Stadt Prag in der Literatur bemühen. Peter Becher und Anna Knechtel haben beispielsweise 2010 den Sammelband Praha-Prag: Literaturstadt zweier Sprachen herausgegeben, der viele Aufsätze von Wissenschaftler:innen enthält, die zum derzeitigen Forschungsstand relevante Beiträge geleistet haben, darunter etwa Ines Koletzsch, Marek Nekula, Hartmut Binder oder Hans-Dieter Zimmermann. Weiterhin organisierte Marek Nekula 2011 die Konferenz Prague as Represented Space, aus welcher der interdisziplinäre und internationale Forschungsverbund Prag als Knotenpunkt europäischer Moderne(n) hervorging, ein Kooperationsprojekt zwischen der Prager Germanistik und der Tübinger Bohemistik. Im Anschluss an diese Konferenz erschien der Sammelband Prag als Topos der Literatur (2011) von Almut Todorow und Manfred Weinberg. Im Vorwort verweisen die Herausgebenden auf die Notwendigkeit, sich mit der Mythisierung und der Stilisierung der magischen, phantastischen und unheimlichen Stadt Prag kritisch auseinanderzusetzen und die Sicht für neuere literaturhistorische und kulturwissenschaftlich orientierte Forschungskonzepte zu öffnen. Die versammelten Beiträge hinterfragen die verdichtete Konzentration der bisherigen Forschung auf die Prager deutschsprachige Literatur und untersuchen weiterhin verschiedene Topoi der Vor- und Nachgeschichte der klassischen Moderne in der Prag-Literatur. In diesem Dunstkreis steht auch der Slavist Georg Escher, der den Topos Prag in einer Reihe von aufschlussreich Aufsätzen unter spezifischen Aspekten betrachtet, wie etwa Ghetto und Großstadt. Die Prager Judenstadt als literarischer Topos (2007) oder Prager femmes fatales. Stadt, Geschlecht, Identität (2004). Weiterhin sind in den vergangenen Jah-

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ren auch einige Dissertationen erschienen, welche die Thematik häufig unter dem Aspekt der Identität in den Fokus rücken, so etwa, wie bereits erwähnt, von Susanne Fritz Die Entstehung des ‚Prager Textes‘, von Vera Schneider Wachposten und Grenzgänger. Deutschsprachige Autoren in Prag und die öffentliche Herstellung nationaler Identität (2009) oder von Kristina Lahl Das Individuum im transkulturellen Raum. Identitätsentwürfe in der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens 1918-1938 (2014). Insbesondere die Prager Germanistik um Manfred Weinberg bemühte sich in den vergangenen Jahren zunehmend um einen interdisziplinären Zugang zur Thematik. 2015 wurde die Kurt Krolop Forschungsstelle deutsch-böhmischer Literatur gegründet, um die Bedeutung der Prager deutschsprachigen Literatur unter einem interkulturellen Aspekt und Zugang neu aufzuarbeiten. Eine erste umfassendere Publikation dieser Forschungsstelle wurde 2018 von Manfred Weinberg, Irina Wutsdorff und Stepán Zbytovsky mit dem Sammelband Prager Moderne(n) – Interkulturelle Perspektiven auf Raum, Identität und Literatur herausgegeben. Dieser Band versammelt verschiedene Beiträge, die sich an neueren Theorien von Interkulturalität und der sozialen und kulturellen Konstruktion von Räumen auseinandersetzt. Unter Einbeziehung des deutsch- und tschechischsprachigen literarischen Diskurses im Prag des frühen 20. Jahrhunderts werden Prozesse kollektiver sowie individueller Identitätsbildung und die Entstehung literarischer Kommunikationsgemeinschaften untersucht und dargelegt.25 Eine Gegenüberstellung von literarischen Prag-Texten aus dem gesamten 20. Jahrhundert mit einem komparatistischen, transkulturellen Zugang wurde bisher noch nicht gewährleistet. Die vorliegenden Untersuchung geht davon aus, dass alle diese Texte in einem wesentlichen Zusammenhang miteinander stehen. Auf den Erkenntnissen des gegenwärtigen Forschungsstandes aufbauend, versucht diese Dissertation den Anspruch einer vergleichenden, interkulturellen und interdisziplinären Auseinandersetzung mit der Thematik der Prag-Literatur und des damit verbundenen Mythos zu leisten. Sie schafft 25

Da die vorliegende Dissertation bereits im August 2018 beendet wurde, konnte der hier ge nannte Sammelband mit seinen Beiträgen und Erkenntnissen in die Untersuchungen dieser Arbeit nicht einfließen.

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einen Überblick über relevante deutsch- und tschechischsprachige Prag-Texte von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart und setzt diese in Hinblick auf ihren jeweiligen unmittelbaren historischen Entstehungszeitraum miteinander in Relation. Nach einleitenden Vorüberlegungen, die methodisch und inhaltlich in die Thematik und Thesen einführen, die nötige Begriffsklärung vornehmen und das Auffassung von der Lesbarkeit einer Stadt und ihrer Texte darlegen, teilt sich die Untersuchung in folgende Abschnitte: Im II. Teil Zur Entstehung eines literarischen Mythos im zeitgeschichtlichen Kontext der Jahrhundertwende wird ein Überblick geschaffen, der darlegt, wie das Bild der Stadt Prag (und der daraus entstehende Mythos) sich in der tschechisch- sowie in der deutschsprachigen Literatur etablierte. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf dem historischen Zeitgeschehen, den politischen sowie kunst- und kulturgeschichtlichen Ereignissen in Prag und den daraus resultierenden Lebensumständen für die Prager Bevölkerung und somit auch die dort lebenden Kunstschaffenden. Im III. und IV. Abschnitt wird aufbauend auf den ersten beiden Teilen schließlich die Mythotoplogie des Narrativs der Stadt Prag untersucht. Das Konstrukt des Prag-Mythos referiert auf bestimmte Räume und Orte der Stadt. Die Untersuchung ihrer Topologien stellt den Versuch dar, die Funktion, Beschaffenheit und Semantisierung ihrer Darstellung in der Literatur aufzuschlüsseln. Die Mythotopologie geht davon aus, dass sich der Mythos als solcher nicht nur in der Dimension der Zeit verfestigt, sondern auch im Ort und insbesondere in der Stadt Raum greift. Dabei wird die Darstellung der Stadt Prag in der Literatur über das 20. Jahrhundert hinweg untersucht, um nachvollziehbar zu machen, ob und inwiefern sich dieser Mythos verändert hat, so wie sich auch Prag im vergangenen Jahrhundert maßgeblich verändert hat: Durch historische und politische Umwälzungen haben sich sowohl das Gesicht als auch das Wesen der Stadt verändert. Ebenso hat sich die Sprache ihrer Einwohner:innen gewandelt und im Zuge dessen möglicherweise ebenso deren Eigenarten. Auch der Frage, was die Zuschreibung „magisch“ für diese Orte bedeutet und wie genau sie sich in den unterschiedlichen Werken offen-

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bart, wird auf den Grund gegangen. So wird im III. Abschnitt eine Topologie der Erinnerung entworfen, welche die Stadt als Gedächtnisraum mit ihren spezifischen Eigenheiten untersucht und vorstellt. Prag erscheint dabei sowohl kollektiv als auch individuell als identitätsstiftender Erinnerungsraum. Die Stadt, die vom Menschen als kultureller Raum geschaffen und gestaltet wird, hat auf das Individuum einen starken Einfluss. Der Mensch versucht sich mit „seiner“ Stadt zu identifizieren und so steht die Darstellung bestimmter literarischer Stadtlandschaften häufig in einem wechselseitigen Zusammenhang mit den Befindlichkeiten und den seelischen Zuständen der Protagonist:innen. Diese erscheinen in den Prag-Texten häufig als Flaneur:innen, die wiederum mit dem IV. Abschnitt Topologie der Entfremdung und der Funktion der Stadt als Seelenspiegel genauer untersucht werden. Der Fokus wird dabei auf die Empfindungen der Protagonist:innen gerichtet, die spezifischen Ereignisse und Begegnungen, die sie im Stadtraum erleben und auf bestimmte Orte, die sie auf ihren Wegen durch Prag frequentieren. Besonders in bzw. mit dem literarischen Narrativ wird der Prag-Mythos bewahrt und fortgeschrieben; darüber hinaus stellt die Stadt aber nicht nur als literarischer Raum einen Gedächtnisspeicher dar. Die Vielschichtigkeit des Phänomens der Stadt Prag erfordert eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der Thematik. Die „Magie“ der Stadt Prag speist sich aus einem differenzierten Zusammenspiel aus Realität und Fiktion: Gerade historische Erinnerungsorte haben einen besonders starken mythischen Charakter. Dementsprechend versteht die Mythotopologie die Stadt in besonderer Weise als einen Erinnerungsraum und geht von einem engen Zusammenhang des PragMythos mit der Stadtgeschichte und dem jeweiligen aktuellen Zeitgeschehen aus. Der Diskurs des Prag-Mythos erfordert einen komparatistischen Zugang, der bisher in dieser Form noch nicht geleistet wurde. Neben der tschechischen hat besonders um die Jahrhundertwende die deutsche Kultur in Prag das Bild der Stadt entscheidend mitgestaltet und so lässt sich die entsprechende Textauswahl nicht auf einen Nationalitätendiskurs oder eine Nationalliteratur beschränken. In der Forschung wurde dieser kulturanthropologischen vergleichenden Betrachtungsweise bisher noch wenig Beachtung zugedacht oder sie

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war einseitig auf die Prager deutsche Kultur ausgerichtet. Jedoch ist gerade für diesen Stadt-Mythos die Fragestellung grundlegend, inwiefern die Darstellung der Stadt möglicherweise auch vom Blickwinkel und der kulturellen Identität einer Autorin oder eines Autors abhängen kann. Daraus erklärt sich auch der Untersuchungszeitraum der Arbeit, welcher maßgeblich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ansetzt: Das „Fin de Siècle“ gilt in vielen Literaturen als eine Zeit des Umbruchs und der Veränderung. Gerade der Wandel und die Entwicklung der Großstädte beeinflusste das Leben und die Wahrnehmung des Individuums auf eindrucksvolle Weise. Auch Prag entwickelt sich um die Jahrhundertwende zu einer Metropole und die Fülle an Prag-Texten am Beginn des 20. Jahrhundert spricht dafür, dass die Stadt in diesen Jahren für Schriftsteller:innen einen besonders inspirierenden Raum dargestellt haben muss. Die Großstadt als Gegenstand der Darstellung ist dabei freilich nicht ganz neu, jedoch rückte sie besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusehends in das Interesse der Künste: Diese Städte werden, fast unabhängig von ihrer Situation in der Wirklichkeit, zu komplexen Zeichen des Untergangs, in einen Prozeß kultureller Selbstverständigung, der - überall in Europa - im Medium der Geschichte nach Erlösung und Zukunft sucht.26 Hinsichtlich der Auswahl des zu untersuchenden Textkorpus ist die Dissertation bemüht, den Diskurs der Prag-Texte zu erweitern. In ihrer Untersuchung Die Entstehung des ‚Prager Textes‘ hat Susanne Fritz den Begriff Prager Text geprägt. Sie definiert in ihrer Arbeit ein Textkorpus, welches in den Jahren zwischen 1895 und 1934 entstand und den „Mythos von Prag“ 27 entscheidend mitgestaltete, allerdings untersucht sie dabei fast ausschließlich deutschsprachige Werke. Die Mythotopologie der Stadt Prag wurde jedoch entscheidend durch zwei bzw. sogar drei Kulturen gestaltet – die deutsche, die tschechische und die jüdische – und setzt somit gewissermaßen einen komparatistischen Zugang zum Prag-Mythos voraus. Als für das Narrativ der Stadt relevante 26 27

Schmitz, Walter; Udolph, Ludger (Hrsg.): Tripolis Praga. Die Prager Moderne um 1900. Katalogbuch. Dresden 2001. S. 165. Fritz, Susanne: Die Entstehung des ‚Prager Textes‘. Prager deutschsprachige Literatur von 1895 bis 1934. Dresden 2005. S. 8.

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Texte werden solche verstanden, die über die Stadt indirekt oder direkt eine künstlerische Aussage treffen. Zunächst ist nur davon auszugehen, dass es sich in einem literarischen Text um ein Abbild Prags handelt, wenn die Stadt in ihren topographischen Eigenheiten unverkennbar dargestellt wird. Die Relevanz eines solchen Textes resultiert aus der Intensität der Behandlung der Topologie der Stadt mit ihren Besonderheiten, deren literarische Abbildung einer bestimmten künstlerischen Intention unterliegt, das heißt, auf eine bestimmte Weise semantisiert wird und dadurch „magisch“ erscheint. Darüber hinaus ist auch jedwede Äußerung, welche über die Stadt Prag eine bestimmte Aussage trifft, Teil des Prag-Mythos. Ein solcher Diskurs umfasst demnach nicht nur sämtliche literarische Äußerungen, die die Stadt Prag als solche porträtieren, sondern gleichermaßen bildliche Darstellungen, Musikstücke und vor allem, wie bereits geschildert, realhistorische Ereignisse. Freilich ist es kaum möglich, die Summe all dieser kulturellen Äußerungen zu überblicken, auf die sich der komplexe und vielschichtige Mythos der Stadt Prag stützt. Die vorliegende Arbeit möchte mit der Auswahl der behandelten Werke einerseits auf die vermeintlich wichtigsten (bzw. populärsten) Texte des 20. Jahrhunderts eingehen, andererseits aber auch weniger bekannte Beispiele insbesondere aus der Mitte des 20. Jahrhunderts heranziehen, um ebenso eine zeitliche Entwicklung bzw. Veränderung des Narrativs betrachten zu können. Dabei wird die Mythotopologie folgender Werke genauer untersucht: Wilhelm Raabes Holunderblüte. Eine Erinnerung aus dem „Hause des Lebens“ (1862/ 63), Vilém Mrštíks Roman Santa Lucia (1893), Rainer Maria Rilkes König Bohusch (1899), Guillaume Apollinaires Le passant de Prague (Der Wanderer von Prag, 1902), Gotická duše (Die gotische Seele, 1905) von Jiří Karásek ze Lvovic, die Studentengeschichten von Karl Hans Strobl, Auguste Hauschners Roman Die Familie Lowositz (1908), Gustav Meyrinks phantastische Romane Der Golem (1913-15) und Walpurgisnacht (1917), die Erzählungen von Paul Leppin und sein Prager Gespensterroman Severins Gang in die Finsternis (1914), Hans Natoneks Erzählung Ghetto (1917), Albert Camus’ Roman La Mort heureuse (Der glückliche Tod, 1938