Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart: Mythotopologie einer „magischen“ Stadt [1. Aufl.] 9783662622551, 9783662622568

In diesem Buch widmet sich Lena Scheidig der Darstellung der Stadt Prag in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Sie versu

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German Pages XIV, 557 [558] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIV
Einleitung (Lena Scheidig)....Pages 1-16
Vorüberlegungen (Lena Scheidig)....Pages 17-57
Zur Entstehung eines literarischen Mythos im zeitgeschichtlichen Kontext der Jahrhundertwende (Lena Scheidig)....Pages 61-154
Topologie der Erinnerung: Die Stadt als Gedächtnisraum (Lena Scheidig)....Pages 159-364
Topologie der Entfremdung: Die Stadt als Seelenspiegel (Lena Scheidig)....Pages 367-529
Schlussbetrachtung und Forschungsausblick (Lena Scheidig)....Pages 531-539
Back Matter ....Pages 541-557
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Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart: Mythotopologie einer „magischen“ Stadt [1. Aufl.]
 9783662622551, 9783662622568

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Lena Scheidig

Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart Mythotopologie einer „magischen“ Stadt

Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart

Lena Scheidig

Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart Mythotopologie einer „magischen“ Stadt

Lena Scheidig Universität Leipzig Leipzig, Deutschland Dissertation, Universität Leipzig, 2018

ISBN 978-3-662-62255-1 ISBN 978-3-662-62256-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-62256-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Danksagung „Im Anfang war das Wort...“ Doch ebenso wie auch das Wort selten ganz allein steht, würde auch die vorliegende Dissertation nicht sein, ohne die Unterstützung und den Beistand einer ganzen Reihe von wohlwollenden Menschen. So soll am Anfang ein Wort des Dankes stehen. Ein besonderer Dank gilt meiner Betreuerin Prof. Dr. Angelika HoffmannMaxis, die an mich geglaubt hat und mich überhaupt ermutigt hat, diese Arbeit zu beginnen. Von ihr habe ich bereits zu Studienzeiten sehr viel gelernt und sie hat mich in all den Jahren umfangreich unterstützt und mich immer hilfreich mit ihren Ratschlägen begleitet. Einen weiteren besonderen Dank widme ich Prof. Dr. Alfrun Kliems, deren Forschungsarbeit ich sehr schätze und die mich insbesondere inhaltlich sowie thematisch inspiriert hat. Darüberhinaus bin ich für ihre sowohl beratende als auch tatkräftige Unterstützung vor allem in der Anfangszeit sehr dankbar. Auf den letzten Metern war mir Prof. Dr. Birgit Harreß eine sehr wichtige Unterstützung, die mir als Zweitgutachterin und in der (emotionalen) Vorund Nachbereitung für die Verteidigung zur Seite stand. Ich möchte mich zuvorderst weiterhin bei der Graduiertenkommision der Universität Leipzig für die Doktorandenförderung bedanken. Ohne eine entsprechende Finanzierung wäre es für mich nicht möglich gewesen, überhaupt eine derartige Arbeit zu schreiben. Für einen sehr gewinnbringenden Forschungsaufenthalt bedanke ich mich beim Ústav pro českou literaturu (Institut für tschechische Literatur) in Prag. Der Dank gilt in erster Linie Mag. Dr. Michael Wögerbauer, der mich bei der Organisation des Aufenthalts unterstützt hat und mich in Prag mit wertvollen Kontakten vernetzt hat. Auch Prof. Dr. Manfred Weinberg aus der Germanistik von Prager KarlsUniversität möchte ich für seine konstruktive Expertise danken und die Vernetzung im Rahmen der Kurt-Krolop-Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur.

VI

Danksagung

Nicht zuletzt bedanke ich mich bei Dr. Peter Becher und dem Adalbert Stifter Verein, der mir für die Fertigstellung der Dissertation ein Förderstipendium gewährt hat. Ein ganz besonderes Dankeschön gebührt schließlich meiner lieben Freundin Andrea Rüthel, die mich immer ermutigt und an mich glaubt, für ihre gründliche Korrekturen und ihren unermüdlichen Beistand, nicht nur im Rahmen der Verteidigung. Auch meinem lieben Freund Martin Gális spreche ich ein großes Dankeschön aus: Er hat sich nicht gescheut in mühevoller und akribischer Detailarbeit zusammen mit mir meine Übersetzungen zu optimieren. Danke natürlich auch allen, die an dieser Stelle nicht namentlich genannt werden, mir aber in all den Jahren meiner Dissertation zur Seite gestanden haben, mit mir in der Mensa zum Mittagessen waren und vor der Bibliothek Kaffee getrunken haben oder mich mit wertvollen Ratschlägen unterstützt und ermutigt haben… Dankeschön.

Die Fruchtbarkeit einer geisteswissenschaftlichen Erkenntnis scheint der Intuition des Künstlers näher verwandt als dem methodischen Geist der Forschung.1 [Hans-Georg Gadamer]

1

Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit in den Geisteswissenschaften. In: Ders.: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Tübingen 1986. S. 37-43, hier S. 38.

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis ....................................................................................VII Abbildungsverzeichnis ................................................................................X Einleitung .....................................................................................................1 Problematisierung eines Mythos: Ist Prag die „magische Hauptstadt“ Europas ..................................................1 I Vorüberlegungen ...................................................................................17 1 Prag im Wandel der Zeiten: Wie Geschichte und Mythologie ein Stadtbild präg(t)en .............................................................................17 2 Mythotopologie der Schwelle: Prag als Raum des Dazwischen ..........29 3 Das Gedächtnis der Orte und die Lesbarkeit der Stadt ......................39 Zusammenfassung der Hypothesen: Zum Verständnis des „Magischen“ ......57 II Zur Entstehung eines literarischen Mythos im zeitgeschichtlichen Kontext der Jahrhundertwende ................................................................61 1 Die Großstadt als Ort der gefährdeten Subjektivität ...........................61 2 Heteroimago einer phantastischen Stadt .............................................67 3 „Tripolis Praga“? Zur Konstruktion nationaler und kultureller Identität .........................73 4 Nationale Identitätskonstruktion und damit einhergehende Stereotypisierung des Anderen am Beispiel von Auguste Hauschners Die Familie Lowositz ..........................................................................87 5 Dem Untergang geweiht: Prag im tschechischen „desillusionierten patriotischen Roman“ ......................................................................115 6 Dichter:innenschicksal einer Hassliebe: Zur Prager deutschsprachigen Literatur ...........................................127 7 Gefühl der Heimatlosigkeit und Rückwendung in das „Alte Prag“ . .143 Vergleichende Zusammenfassung: „Kde domov můj?“ – Prag als Topos der Identitätssuche ...........................151

X

Inhaltsverzeichnis

III Topologie der Erinnerung: Die Stadt als Gedächtnisraum ...........159 1 Das „jüdische Prag“: Fremdheit versus Vertrautheit .......................159 1.1 Das Alte Prager Judenghetto ..................................................174 1.1.1 Topos der Fremdheit: Das „jüdische Volk“ als Stereotyp des Fremden .................................................178 1.1.2 Topos der Vertrautheit: Die „Judenstadt“ als Ort des nächtlichen Vergnügens ...............................................190 1.2 Der legendäre Alte Jüdische Friedhof in Prag ........................198 1.3 Prag als Paradigma der Heimatlosigkeit .................................216 2 Das polemische Prag: Topographien des Kampfes und des Todes . 221 2.1 „Patriotische Erinnerungskultur“ ............................................224 2.1.1 Matička Praha und das Bild einer toten Stadt ..............224 2.1.2 Nationalitätenkämpfe und nationale Stereotypisierung in den Studentenromanen von Karl Hans Strobl ..........238 2.2 Allgegenwart der Geschichte ..................................................249 2.2.1 Verschmelzen von Vergangenheit und Gegenwart .......249 2.2.2 Zum Stillstand der Zeit im Kriminalroman von Miloš Urban ................................................................266 2.2.3 Die weinende Frau in den Straßen von Prag als personifiziertes Gedächtnis der Stadt .....................277 2.3 Prag als Paradigma der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 282 3 Das traumatische Prag: „Město se měnilo“ ......................................287 3.1 Zu den Traumata der Besetzung in der Geschichte der Stadt Prag im 20. Jahrhundert ...........................................287 3.2 „Prager Ironie“ und die Kulissen der Machtlosigkeit ...............290 3.2.1 Die Maskerade der „großen Geschichte“ ......................290 3.2.2 Die Götter haben diese Stadt verlassen: Prag im „Totální realismus“ .........................................306 3.3 Prag als Paradigma der Traumatisierung .................................328 3.3.1 De- und Rekonstruktion eines Erinnerungsortes im Werk von Libuše Moníková ....................................328

Inhaltsverzeichnis

XI

3.3.2 Die „qualvolle Stadt“ als Ursprung und Ende von allem ......................................................348 Vergleichende Zusammenfassung: De- und Remythologisierung einer „magischen“ Stadt ...............................259 IV Topologie der Entfremdung: Die Stadt als Seelenspiegel ...............367 1 Prager Spaziergänger:innen und ihre Lesarten .................................367 1.1 Tableau des Selbstverlustes: Der nächtliche Spaziergänger und die dunkle Seite der Stadt ..................................................371 1.2 Le passant de Prague: Der ewig wandernde Jude als ewiger Flaneur ...........................417 1.3 Reisende in Prag: Auf der Suche nach der eigenen Identität ....433 2 Topographien der Flanerie ...............................................................451 2.1 Allegorisierung des Todes ........................................................452 2.1.1 Im Strom der „großen Geschichte“: Die Moldau als Totenfluss .............................................452 2.1.2 Unverhoffte Begegnungen: Die Figur des Anderen als Seelenspiegel .................................................................460 2.2 Die Prager Wirts- und Kaffeehauskultur und ihre Kneipengeschichten ..................................................................473 2.2.1 Innenräume als Rückzugs- und Lebensräume und die Figur des Oberkellner ..............................................483 2.2.2 Zwischen Geborgenheit und Einsamkeit: In der „Unterwelt“ der Prager Kneipen und Spelunken . 493 3 Abwanderung in die Peripherien: Neue Schauplätze einer entmystifizierten Stadt im 21. Jahrhundert .......................................509 Vergleichende Zusammenfassung: Selbstsuche, Selbstfindung und Selbstverlust ........................................................................................523 Schlussbetrachtung und Forschungsausblick: Von einer „magischen“ zu einer „tragischen“ Stadt? ...........................531 Bibliographie ............................................................................................541

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Die Prager Burg. Holzschnitt aus Schedelschen Weltchronik (Liber Cronicarum), Nürnberg 1493. In: Janáček, Josef: Das alte Prag. Leipzig 1980. S. 9. Abb. 2: Steiner-Prag, Hugo: Das Alte Prager Ghetto: Die Hahnpaßgasse. Illustration in: Gustav: Der Golem. Roman. Mit 25 Illustrationen von Hugo Steiner-Prag (1916). Frankfurt am Main; Berlin 1993. S. 15. Abb. 3: Hirth du Frênes, Rudolf (*1846-†1916): Der alte Judenkirchhof in Prag: http://www.artnet.de/k%C3%BCnstler/rudolf-hirth-du-fr %C3%AA nes/der-alte-judenkirchhof-in-prags9PbDJeDHij4KmZ3tUSoNw2 (zuletzt besucht am 17.04.2020). Abb. 4: Das Prager Stadtwappen (Altstadt): http://oktogon.at/Stadtwappen/slides/Prag_Altstadt.html (zuletzt besucht am 17.04.2020). Abb. 5: Oliva, Viktor: Goldenes Prag, Gemälde, 1899. In: Zlatá Praha für Belletristik; Ročník XVII, číslo I [Jahrgang XVII, Nummer I]; Erscheinungsdatum 10.11.1988. Abb. 6: Postkarte zu den Badeni-Unruhen 1897 in Prag (um 1900): https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:BadeniAufstand_Prag_1897_(cropped).jpg (zuletzt besucht am 17.04.2020). Abb. 7: Schreiber, Ulrich: Illustration in: Meyrink, Gustav: Walpurgisnacht. Phantastischer Roman. Mit einem Nachwort von Joachim Schreck und Illustrationen von Ulrich Schreiber. Berlin 1985. S. 29. Abb. 8: Die Prager Rathausuhr am Altstädter Ring (Staroměstský orloj), die Zeit und der Tod. Ausschnitt: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b2/Pragu e_-_Astronomical_Clock_Detail_1.JPG (zuletzt besucht am 17.04.2020). Abb. 9: Der böhmische Löwe, Wappentier: https://de.wikipedia.org/wiki/B %C3%B6hmischer_%C3%B6we_(Wappentier)#/media/File:Small_coat _of_arms_of_the_Czech_Republic.svg (zuletzt besucht am 17.04.2020). Abb. 10: Sudek, Josef: Illustration zu Vítězslav Pražský chodec (Fotografie, 1935). In: Nezval, Vítězslav: Der Prager Spaziergänger. Aus dem Tschechischen von Karl-Heinz Jähn. Berlin 1984. S. 11. Abb. 11: Hudeček, František: Noční chodec (Ölgemälde, 1944): http://en.ghmp.cz/on-line-collections/detail/CZK:US.M-3259/?rts=1 (zuletzt besucht am 17.04.2020).

Inhaltsverzeichnis

XIV

Abb. 12: Praha našich snů [Das Prag unserer Träume]. Deckblatt von Neradová, Květoslav (Hrsg.): Praha našich snů. Čtení o Praze podle českého písemnictví [Das Prag unserer Träume. Lektüre über Prag anhand der tschechischen Literatur]. Prag 1980 (Illustrationen von Miroslav Rada, Přemysl Pospíšil). Abb. 13: Karlsbrücke mit Fährmann. Illustration in: Neradová, Květoslav: Praha našich snů. S. 2-3. Abb. 14: Lada, Josef: Illustration der Wirtshausfigur Švejk. In: Ders.: Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk in Bildern. Prag; Berlin 1975. Einband, hinten. Abb. 15: Oliva, Viktor: Der Absinthtrinker (1901): https://de.wikipedia.org/wiki/Viktor_Oliva#/media/File:The_Absinthe_D rinker_by_Viktor_Oliva.jpg (zuletzt besucht am 17.04.2020). Abb. 16: Gaststube am Königlichen Weinberg. Illustration in: Leppin, Paul: Alt-Prager Spaziergänge. Hrsg. von Dirk O. Hoffmann. Versehen mit AltPrager Bildmotiven von Pavel Scheufler. Ravensburg 1990. S. 64.

Einleitung Problematisierung eines Mythos: Ist Prag die „magische Hauptstadt“ Europas? Die Stellung zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung für uns hat, ist das Zwischen zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik.1 [Hans-Georg Gadamer]

„Prag ist die magische Hauptstadt Europas“ 2, schrieb einst der Surrealist André Breton. Diese Zuschreibung ist von dieser Stadt bis in die Gegenwart kaum wegzudenken und viele Künstler:innen nehmen immer wieder Bezug auf das „magische“ Prag. So sagt beispielsweise die tschechische Schriftstellerin Libuše Moníková auch dem heutigen Prag diese Eigenschaft nach: „Die Stadt ist magisch und gleichzeitig sehr konkret, von einer fast schmerzhaften Schönheit und mit einer Jugend, die ihre Freiheit probt – ohne Vorbilder, ernst und realistisch.“3 Der Schriftsteller Vítězslav Nezval verbindet mit dieser Schönheit ein halbes Jahrhundert zuvor in seinem Pražský chodec (Der Prager Spaziergänger, 1938) eine unbestimmte und ewig währende Sehnsucht. Nezval ist der „tausendfachen Schönheit“ und „dem magischen Zauber dieser Stadt verfallen“4 – die „unaussprechliche Magie der Stadt“ 5 und das „Geheimnis der Schönheit“ seien darin begründet, „daß Prag ewig ist“: Denn die Magie der Schönheit beruht darin, daß sie Sehnsucht weckt, und die Magie der Sehnsucht, daß sie nach Erfüllung strebt. Und der Prager Spaziergänger (ich, Ihr, wir alle), derselbe, der mehr ist als ein ständiger oder vorübergehender Bewohner von Groß-Prag, der Prager Spaziergänger, derselbe, für den Prag etwas darstellt, das in seinem 1 2 3 4 5

Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1990. S. 300. Breton, André: Le surréalisme et la peinture. Paris 1965. S. 271; Breton bezeichnet an dieser Stelle das Prag vor dem Zweiten Weltkrieg als „capitale magique de l‘Europe“. Moníková, Libuše: Prager Fenster. Essays. Hrsg. von Michael Krüger. München; Wien 1994. S. 120. Nezval, Vítězslav: Der Prager Spaziergänger (Originaltitel: Pražský chodec). Aus dem Tschechischen von Karl-Heinz Jähn. Berlin 1984. S. 155 f. Nezval, Vítězslav: Der Prager Spaziergänger. S. 157.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Scheidig, Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62256-8_1

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Problematisierung eines Mythos

Zauber bereits über alle praktischen Bedürfnisse, alle Arten von Habsucht hinausgewachsen ist, der Prager Spaziergänger, der Fußgänger, unter dessen Schritten sich verschiedene Jahrhunderte vermengen, der Prager Spaziergänger, dem es unerläßlich ist, in Akkorden zu denken, deren Grundton der gegenwärtige Augenblick ist und dessen Dominanten und Subdominanten in den Vibrationen des Mysteriums Prag verstreut sind, gibt sich nicht mit dem Gedanken zufrieden, er könne leben wollen, seinen Gang fortsetzen wollen, wenn seinen Schritten das Pflaster entzogen wäre, auf dem Prag errichtet ist.6 Diese Stadt weckt Sehnsüchte und die „mysteriöse Sprache, die Prag spricht ist allen verständlich“7. Wer diese Stadt schon einmal besucht hat, weiß um ihre Schönheit – das „Goldene Prag“ (Zlatá Praha) wird gerühmt für sein unvergleichliches historisches Stadtbild, das von der Gleichzeitigkeit verschiedener architektonischer Stilrichtungen und Epochen lebt, die eine lange und ereignisreiche Stadtgeschichte widerspiegeln. Zu beiden Moldauufern erhebt sich ein unverwechselbares Panorama: auf der einen Seite die prachtvollen gotischen Kirchen, die sanften barocken Kuppeln und die mittelalterlichen, verwinkelten Gässchen der malerischen Kleinseite, auf der anderen Seite der Blick vom Hradschin über die hunderttürmige Stadt mit den unverwechselbaren roten Ziegeldächern. Während die Faszination der magischen Schönheit des „Goldenen Prags“, die größtenteils von dieser Stilepochenvielfalt ausgeht, häufig in lyrischen Darstellungen 8 besungen wird, findet sich in der Prosa hingegen das facettenreiche Bild einer wundersamen, rätselhaften, schmerzhaftschönen, mystischen Stadt. Es ist die Stadt „der Sonderlinge und Phantasten, dies ruhelose Herz von Mitteleuropa“9, die von jeher von einem geheimnisvollen Zauber umwoben ist: Um Prag ranken sich unzählige Mythen, Geschichten und Romane, die von geheimnisvollen Gestalten, Märtyrer:innen und Held:innen berichten, oder den dunklen und verwinkelten Gassen geheimnisvolle und gespenstische Ereignisse nachsagen. 6 7 8 9

Ebd. S. 163. Ebd. S. 159. So zum Beispiel in Rainer Maria Rilkes Gedichtezyklus Larenopfer (1895), in dem er verschiedene Prager Szenarien abbildet. Wiener, Oskar: Deutsche Dichter aus Prag. Ein Sammelbuch. Wien; Leipzig 1919. S. 5.

Einleitung

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Um mit dem Germanisten Claudio Magris zu sprechen, ist Prag eine „Grenzstadt“10: Die Definitionen und Beschwörungen des hunderttürmigen ‚magischen‘ oder ‚unheimlichen‘ Prag, des Schmelztiegels verschiedener Völker und Kulturen, stellen einen der reichsten Themenkataloge der modernen Literatur dar, eine Fundgrube auswechselbarer Zeugnisse, mit von Mal zu Mal verschiedenen Nuancierungen, einen Vorrat an literarischen topoi, die mit unermüdlicher Treue und unerschöpflicher Phantasie immer wieder aufgegriffen und abgewandelt werden, aber in ihrer repetitio variata im wesentlichen statisch bleiben. Der Zauber Prag als etwas Undefinierbares und nur Andeutbares ist der Zauber einer Sehnsucht, die sich dem Leben zuzuwenden glaubt, – einem Leben, das immer als vergangen und verloren erscheint und nie in der Gegenwart erfaßt und erlebt wird – , die sich dagegen oft der Darstellung des Lebens zuwendet, seinem phantastischen Abbild oder besser gesagt der festen Tradition seiner phantastischen Abbilder, die sich alle ähnlich sind, weil alle einmalig und außergewöhnlich, grotesk und exzentrisch sind oder sich dafür halten.11 Aus einem Zusammenspiel von lebhafter Kulturvielfalt und bewegter Geschichte entsteht eine besondere, schwer greifbare Dynamik, eine Vagheit, die Prag insbesondere in der Literatur immer wieder als einen „magischen“ Ort erscheinen lässt. Diese Sehnsucht spiegelt sich besonders in Prosatexten um die Jahrhundertwende wieder, in denen Prag verstärkt als geheimnisvolle Stadt dargestellt, die auf wundersame Weise beseelt ist und die Protagonist:innen in ihren fatalen Bann zieht, so etwa in Vilém Mrštíks Santa Lucia (1893), in Gotická duše (1905) von Jiří Karásek ze Lvovic, in Paul Leppins Severins Gang in die Finsternis (1914) oder Gustav Meyrinks Der Golem (1913-1915). Um diese Stadt und ihr Narrativ hat sich ein Mythos gebildet, der sich zusammensetzt aus ihrer ereignisreichen Geschichte, einem reichen Schatz an 10 11

Magris, Claudio: Prag als Oxymoron. In: Neohelicon. Acta comparationis litterarum universarum VII 2. Budapest 1980. S. 11-65, hier S. 13. Magris, Claudio: Prag als Oxymoron. S. 12.

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Problematisierung eines Mythos

Sagen und Legenden, aus der prächtigen Schönheit ihrer Architektur(en) sowie der Sonderbarkeit ihrer Figuren und Einwohner:innen. Spätestens mit dem umfangreichen Sammelsurium des Bohemisten Angelo Maria Ripellinos Praga magica (Magisches Prag, 1972) verfestigt sich dieser Mythos einer „magischen“ Stadt. In seinem Buch erzählt Ripellino von Prager Geschichte und Geschichten, von den Besonderheiten und Kuriositäten und der dunklen Seite dieser Stadt. Auch in literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätzen scheint man sich inzwischen einig, dass ein Prag-Mythos existiert, obgleich dieser bislang noch nicht genauer spezifiziert wurde. Claudio Magris bemerkt dabei sogar in den Wissenschaften eine Tendenz zur Mythisierung: „Der Zauber Prags verleitet jeden, der sich kritisch mit der Prager Literatur auseinander setzt, am Ende ihr Sprachrohr zu werden, die Mythisierung variierend weiterzuführen.“12 Neben Schriftsteller:innen und anderen Künstler:innen greifen mitunter auch Historiker:innen sowie Literaturwissenschaftler:innen diese geheimnisvolle Vagheit der Stadt auf. Was aber genau diese Stadt so „magisch“ macht, scheint schwer in Worte zu fassen zu sein. Das Prag-Narrativ steht in einem besonderen Spannungsfeld, welches verschiedene Diskurse tangiert, die für das Entstehen sowie Fortleben des Mythos einer „magischen“ Stadt verantwortlich sind. Ist es ihre unvergleichliche und anziehende Schönheit, ihre geheimnisvollen Sagen und Legenden, ihre unheimliche, bewegte und mythenreiche Geschichte? Die vorliegende Arbeit möchte herausfinden, woher diese Zuschreibung kommt und was diese „magische“ Stadt ausmacht. Besonders am Beginn des 20. Jahrhunderts verdichten sich die Darstellungen der Stadt Prag in der Literatur auffällig und so wird diesen Texten ein gesonderter Fokus gewidmet. Die Jahrhundertwende stellt ein Zeitalter des Umbruchs und des Aufbruchs in die Moderne dar und besonders für den Menschen in den sich entwickelnden und zunehmend industrialisierenden Großstädten bedeutet dies eine immense Beanspruchung für seine Sinne. Die vorliegende Untersuchung geht davon aus, dass diese Zeitschwelle mit der Herausbildung des Prag-Mythos in der Literatur in einem engen Zusammenhang steht. Weiterhin wird untersucht, wie dieser 12

Magris, Claudio: Prag als Oxymoron. S. 16.

Einleitung

5

Mythos einer „magischen“ Stadt im Verlauf des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Texten zum Tragen kommt und was er im Konkreten für den fiktiven Ort Prag und sein Narrativ bedeutet. Auf welche Weise offenbart sich die „Magie“ in den literarischen Topographien der Stadt? Insbesondere in der Literatur wurde und wird Prag dieses Attribut bis heute regelrecht eingeschrieben: Obwohl der Prag-Mythos sich erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in einer Fülle von Texten manifestierte, gehen seine Ursprünge bis weit in die Stadtgeschichte zurück. Einer der wohl frühesten literarischen Belege für deren Mythisierung ist ein Text aus dem Jahre 1505 von Jan Bechyňka, einem utraquistischen13 Prediger aus dem Kollegiatstift Sankt Apollinaris. Zumindest dem Titel nach wird Prag mit dem Text als „mystische Stadt“ bezeichnet: Praga mistica. Diese späthussitische Polemik ist in tschechischer Sprache verfasst und vor allem gegen die römisch-katholische Kirche gerichtet. Prag wird mit seiner Kultur und seinen Reliquien als die „göttliche Stadt der Tugend“ dargestellt. Als Utraquist war Bechyňka kein Mann mystischer Neigungen, im Gegenteil betont er nachdrücklich seine Absicht zur Wahrheitstreue. So war sein Anliegen offenbar nicht, Prag als mystische Stadt darzustellen, vielmehr die unchristliche Prager Bevölkerung zu einem gottesfürchtigen Leben und zur Verehrung der Stadt zu ermahnen.14 Mit scharfsinniger Beobachtung zeichnet Bechyňka ein kritisches Bild der sozialen Verhältnisse seiner Zeit, er spricht von den dunklen Machenschaften und der Unersättlichkeit der Menschen, die sich Tag und Nacht nur den irdischen Genüssen hingeben („lid tento celým dnem od vejchodu až do západu, ba i v noci žieře a nikdá syt není.“ 15). Demnach handelt es sich bei dem Titel in diesem Fall eher um eine ironische Attribuierung Prags, mit dem Hinweis 13 14 15

Als Utraquisten wurden die Anhänger der Hussitenbewegung genannt, die sich auf den böh mischen Reformator Jan Hus gründete. Vgl. Demetz, Peter: Prag in schwarz und gold. München 1997. S. 263. Bechyňka, Jan: Praga mystica. Z dějin české reformace (Komenského evangelická bohoslovecka fakulta v Praze) [Mystisches Prag. Aus der Geschichte der böhmischen Reformation (Evangelisch-Theologische Comenius-Fakultät in Prag)] Mit einem Vorwort von Amedeo Molnár. Prag 1984. S. 43 f. Dt.: ein Volk, dass den ganzen Tag von morgens (Osten) bis zum Abend (Westen), und sogar in der Nacht frisst und niemals satt ist“ [Übersetzung von der Verfasserin].

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Problematisierung eines Mythos

auf die ungemäßigten Einwohner:innen, die den göttlichen Status ihrer Stadt nicht zu würdigen wissen. Dennoch belegt die Praga mistica, auch ohne es genauer zu spezifizieren, dass Prag den Status einer mystischen Stadt bereits im Mittelalter inne hatte. Besonders im 16. Jahrhundert, im Zeitalter Rudolfs II.16, galt Prag als „Absteige für Schelme und Scharlatane, Flausenmacher und Windbeutel.“ 17 Es war ein Ort magischer Künste, der Alchemie und anderer dunkler Machenschaften. Der Historiker und Bohemist Karel Krejčí beschreibt in Praha legend a skutečnosti (Das Prag der Legenden und der Wirklichkeit) die Entwicklung verschiedener Prager Mythen. Folgendermaßen schildert er die Atmosphäre, in der sich zweifelsohne das Bild einer phantastischen Stadt verfestigt hat: To je Praha fantastická, jejíž kouzelnou atmosféru nerozptýlil věk osvícenství, ani realně střízlivý pohled buržoazní éry, ba ani dnešní doba, která závratným pokrokem vědy a techniky daleko překonala všechny domnělné zázraky rudolfínských mágů a čarodějů [...]. Avšak teprve sklonek 16. století formuje v plné podobě Prahu fantastickou. Je to podivná doba, kdy jas renesance přechází do šerosvitu baroka.18 Aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammen die Legenden eines „magischen“ Prags, die Geschichten um den Tausendkünstler Rabbi Löw, dem berühmten Schöpfer der Gestalt des Prager Golem, einer jüdischen Legendenfigur, die 16

17 18

Die Herrscherzeit des Kaisers Rudolf II. in Prag von 1576 bis 1612 wird Rudolfinisches Zeitalter genannt. Dieser widmete seine Aufmerksamkeit mehr den Künsten und Wissenschaften, als der Regierung des Heiligen Reiches. Bekannt ist er als Förderer und Liebhaber okkulter Praktiken, vor allem der Künste der Alchemie und Astrologie. Ripellino, Angelo Maria: Magisches Prag (Originaltitel: Praga Magica). Aus dem Italienischen von Pavel Petr. Tübingen 1982. S. 157. Krejčí, Karel: Praha legend a skutečnosti. [Das Prag der Legenden und der Wirklichkeit] Praha 1981. S. 94 f. Dt.: Das ist das fantastische Prag, dessen zauberhafte Atmosphäre auch das Zeitalter der Aufklärung nicht zerstreut hat, weder der reale, nüchterne Blick der bourgeoisen Ära, noch nicht einmal die heutige Zeit, welche durch rasanten Fortschritt der Wissenschaft und Technik alle vermeintlichen Wunder der rudolfinischen Magier und Zauberer weit überwunden hat. […] Indessen vervollständigt sich das Bild eines fantastischen Prags erst Ende des 16. Jahrhunderts. Es ist der merkwürdige Zeitraum, in dem der Glanz der Renaissance übergeht in das Dämmerlicht des Barock. [Übersetzung von der Verfasserin]

Einleitung

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aus Lehm geformt durch eine magische Zauberformel zum Leben erweckt werden kann. Rabbi Löw wird auch die Inkarnation der kabbalistischen Traditionen in Prag zugeschrieben.19 Diese Annahme verbindet sich zuweilen mit einem populären Aberglauben, dass die frühere Prager Judenstadt ein historischer Ort mystischer Lehre und Praxis gewesen sei. Als „Prager Judenstadt“ wird das so genannte Alte Judenghetto bezeichnet, welches Teile der Altstadt (Staré město) und des Stadtviertels Josefstadt (Josefov) umfasste. Dort befand sich zunächst das Zentrum jüdischen Lebens, gegen Ende des 19. Jahrhunderts war dieser Stadtteil jedoch gänzlich zu einem Elendsviertel der Kriminalität und der Prostitution verkommen, in dem kaum mehr jüdisches Gemeindeleben stattfand. Dieser Mythos über die Prager Judenstadt und den Alten Prager Judenfriedhof hat sich hartnäckig durchgesetzt und wird bis heute in der Prag-Literatur immer wieder aufgegriffen. Ein sehr populäres Beispiel jüngster Vergangenheit ist Umberto Ecos Il Cimitero di Praga (Der Friedhof in Prag, 2010). Weiterhin ranken sich zahlreiche Legenden und Mythen um die Astronomie des Dänen Tycho de Brahes und sein Zusammentreffen mit dem deutschen Astronomen Johannes Kepler auf dem Schloss Benatek in der Nähe von Prag (Benátky nad Jizerou) sowie um die Kunst der Alchemie. So sollen der Sage nach im Goldgässchen (Zlatá ulička) auf dem Hradschin, in dem später auch einmal Franz Kafka lebte, Alchimisten unter der Aufsicht Rudolfs II. versucht haben Gold herzustellen. In diesem Kontext steht auch die Sage von Doktor Faustus und schließlich die des Ewigen Juden Ahasverus. Die wenigsten dieser Mythen sind historisch belegbar, beim Golem handelt es sich zum Beispiel um eine Mythenbildung, die nicht verifiziert ist und der erst zu einem späteren Zeitpunkt der Schauplatz Prag zugeschrieben wurde. Gleichwohl wird in der Darstellung der Stadt in der Literatur immer wieder in unterschiedlicher Form auf dieses „magische“ Prag der Mythen und Legenden referiert, um die Stadt auf eine bestimmte Weise zu semantisieren.

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Vgl. Demetz, Peter: Die Legende vom magischen Prag. In: Transit. Europäische Revue. Heft 7. Frühjahr 1994. S. 142-161, hier S. 148.

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Problematisierung eines Mythos

Wie jeder Mythos, so verfolgt auch der literarische Mythos von Prag eine wesentliche Identität jenseits der geschichtlichen Veränderung, selbst wenn er aus einem überreichen und vielschichtigen Geschichtsmaterial Nahrung bezieht. […] Der Prag-Mythos stellt eine Sehnsucht der Sehnsucht dar, das Nachtrauern nach einem bloßen Papiergebilde, das die Geschichte bereits zerrissen hat und das man in Wirklichkeit nie besessen hat.20 Die vorliegende Arbeit widmet sich der Untersuchung dieses Mythos und des Narrativs der „magischen“ Stadt – sie möchte dessen Entstehung sowie Fortbestehen in der Literatur ergründen und der oben beschriebenen „Sehnsucht“, die in den Topographien Prags allgegenwärtig erscheint, auf den Grund zu gehen. Dabei untersucht die Dissertation ausgewählte Prag-Texte von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart und knüpft so an den gegenwärtigen Stand der Forschung an, in der bis dato ein mitunter einseitiger Zugang zur Thematik auffällt. Ein großer Teil der Beschäftigung mit dem Prag-Mythos stammt aus der Germanistik und richtet dementsprechend seinen Fokus auf die so genannte Prager deutschsprachige Literatur. Da sich viele Prag-Texte aber nicht ganz eindeutig einer Nationalliteratur zuordnen lassen und für die Betrachtung des Narrativs der Stadt neben der deutschen zweifelsohne ebenso die tschechischsprachige Literatur relevant ist, lässt sich konstatieren, dass dieses Narrativ bisher kaum umfassend beleuchtet wurde. Die Dissertation möchte dies mit einem komparatistischen Zugang und der Untersuchung von Prag-Texten verschiedener Literaturen leisten. In den letzten Jahren haben sich zunehmend einige einzelne Wissenschaftler:innen sowie verschiedene Forschungsgruppen mit dem Thema der Darstellung der Stadt Prag in der Literatur auseinandergesetzt. Ihren Ursprung hat dieser Forschungszweig in den 1960er Jahren, als eine Reihe von Germanist:innen sowie „Hinterbliebene“ der Prager deutschsprachigen Schriftsteller:innengeneration begannen, sich mit der „Generation Kafka“ und deren Verhältnis zu ihrer (Wahl-)Heimatstadt Prag zu beschäftigen. Zu ihnen gehörten unter anderem Claudio Magris, Kurt Krolop, Eduard Goldstücker, Oskar Wie20

Magris, Claudio: Prag als Oxymoron. S. 14.

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ner oder Emil Skala. Daraus entstanden zahlreiche Aufsätze, die viele relevante Aspekte der Darstellung Prags in der Literatur beinhalten, jedoch auch an einer weiterführenden Mythisierung der Stadt beteiligt waren, so zum Beispiel Prag als Oxymoron von Claudio Magris oder Hinweis auf eine verschollene Grundfrage: „Warum haben Sie Prag verlassen?“ von Kurt Krolop. Auch die Publikationen von Paul/ Pavel Eisner sind in diesem Zusammenhang nennenswert, der mit seinem Anliegen als Kulturvermittler zwischen der deutschen und der tschechischen Bevölkerung den Prag-Mythos seinerzeit maßgeblich mitgestaltet hat. An dieser Stelle sei weiterhin auch auf einige einzelne Publikationen hingewiesen, die für eine Untersuchung des Prag-Mythos als grundlegend erachtet werden können: Ein Buch, auf das in diesem Zusammenhang immer wieder referiert wird und das eine sehr ergiebige Sammlung zahlreicher Details, Aspekte und Texte der Stadt darstellt, ist Ripellinos Praga Magica. Es handelt sich indessen nicht um eine Darstellung wissenschaftlichen Anspruchs, sondern vielmehr um eine umfangreiche Quelle von Geschichten um das „magische“ Prag. Dieser Text gleicht einem Spaziergang durch die Stadt und Ripellino selbst nennt es ein „launisches Buch“, welches „Wunder und Anekdoten [...] zusammenwürfelt“21, ein „Prager Welttheater [...] ohne roten Faden“22, welches ebenso wie die „zwielichtige Stadt an der Moldau“ 23 schwer fassbar zu sein scheint. Als herausragender Prag-Spezialist, der auch mit der tschechischsprachigen Prag-Literatur gut vertraut ist, erweist sich der Germanist und Komparatist Peter Demetz, der seit den 1990er Jahren verschiedene Publikationen über seine Heimatstadt herausgegeben hat. In Die Legende vom magischen Prag24 versucht er bereits 1994, viele Prag-Mythen aufzudecken. Ebenfalls besonders ergiebig ist Prag in schwarz und in gold. Sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt (1998), eine umfangreiche Geschichte der Stadt Prag, die sowohl historische Ereignisse und Besonderheiten beschreibt, 21 22 23 24

Ripellino, Angelo Maria: Magisches Prag. S. 31. Ebd. S. 30. Ebd. S. 16. Demetz, Peter: Die Legende vom magischen Prag. In: Transit. Europäische Revue. Heft 7. Frühjahr 1994. S. 142-161.

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als auch literarische Texte behandelt, die in einem Kontext zur Stadt stehen. Auch die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Daniela Hodrová setzt sich in ihrem gesamten literarischen Schaffen mit ihrer Heimatstadt Prag auseinander – sowohl auf fiktionaler Ebene als auch von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus. Ihre bisher umfangreichste Publikation zum Thema „Stadttext und Textstadt“ ist Citlivé město. Eseje z mytopoetiky (Empfindsame Stadt. Essays aus Mythopoetiken, 2006). In der neueren und gegenwärtigen Forschung haben sich verschiedene Forschungsverbände hervorgetan, die sich zunehmend um einen interkulturellen bzw. komparatistischen angelegten Zugang zur Untersuchung der Darstellung der Stadt Prag in der Literatur bemühen. Peter Becher und Anna Knechtel haben beispielsweise 2010 den Sammelband Praha-Prag: Literaturstadt zweier Sprachen herausgegeben, der viele Aufsätze von Wissenschaftler:innen enthält, die zum derzeitigen Forschungsstand relevante Beiträge geleistet haben, darunter etwa Ines Koletzsch, Marek Nekula, Hartmut Binder oder Hans-Dieter Zimmermann. Weiterhin organisierte Marek Nekula 2011 die Konferenz Prague as Represented Space, aus welcher der interdisziplinäre und internationale Forschungsverbund Prag als Knotenpunkt europäischer Moderne(n) hervorging, ein Kooperationsprojekt zwischen der Prager Germanistik und der Tübinger Bohemistik. Im Anschluss an diese Konferenz erschien der Sammelband Prag als Topos der Literatur (2011) von Almut Todorow und Manfred Weinberg. Im Vorwort verweisen die Herausgebenden auf die Notwendigkeit, sich mit der Mythisierung und der Stilisierung der magischen, phantastischen und unheimlichen Stadt Prag kritisch auseinanderzusetzen und die Sicht für neuere literaturhistorische und kulturwissenschaftlich orientierte Forschungskonzepte zu öffnen. Die versammelten Beiträge hinterfragen die verdichtete Konzentration der bisherigen Forschung auf die Prager deutschsprachige Literatur und untersuchen weiterhin verschiedene Topoi der Vor- und Nachgeschichte der klassischen Moderne in der Prag-Literatur. In diesem Dunstkreis steht auch der Slavist Georg Escher, der den Topos Prag in einer Reihe von aufschlussreich Aufsätzen unter spezifischen Aspekten betrachtet, wie etwa Ghetto und Großstadt. Die Prager Judenstadt als literarischer Topos (2007) oder Prager femmes fatales. Stadt, Geschlecht, Identität (2004). Weiterhin sind in den vergangenen Jah-

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ren auch einige Dissertationen erschienen, welche die Thematik häufig unter dem Aspekt der Identität in den Fokus rücken, so etwa, wie bereits erwähnt, von Susanne Fritz Die Entstehung des ‚Prager Textes‘, von Vera Schneider Wachposten und Grenzgänger. Deutschsprachige Autoren in Prag und die öffentliche Herstellung nationaler Identität (2009) oder von Kristina Lahl Das Individuum im transkulturellen Raum. Identitätsentwürfe in der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens 1918-1938 (2014). Insbesondere die Prager Germanistik um Manfred Weinberg bemühte sich in den vergangenen Jahren zunehmend um einen interdisziplinären Zugang zur Thematik. 2015 wurde die Kurt Krolop Forschungsstelle deutsch-böhmischer Literatur gegründet, um die Bedeutung der Prager deutschsprachigen Literatur unter einem interkulturellen Aspekt und Zugang neu aufzuarbeiten. Eine erste umfassendere Publikation dieser Forschungsstelle wurde 2018 von Manfred Weinberg, Irina Wutsdorff und Stepán Zbytovsky mit dem Sammelband Prager Moderne(n) – Interkulturelle Perspektiven auf Raum, Identität und Literatur herausgegeben. Dieser Band versammelt verschiedene Beiträge, die sich an neueren Theorien von Interkulturalität und der sozialen und kulturellen Konstruktion von Räumen auseinandersetzt. Unter Einbeziehung des deutsch- und tschechischsprachigen literarischen Diskurses im Prag des frühen 20. Jahrhunderts werden Prozesse kollektiver sowie individueller Identitätsbildung und die Entstehung literarischer Kommunikationsgemeinschaften untersucht und dargelegt.25 Eine Gegenüberstellung von literarischen Prag-Texten aus dem gesamten 20. Jahrhundert mit einem komparatistischen, transkulturellen Zugang wurde bisher noch nicht gewährleistet. Die vorliegenden Untersuchung geht davon aus, dass alle diese Texte in einem wesentlichen Zusammenhang miteinander stehen. Auf den Erkenntnissen des gegenwärtigen Forschungsstandes aufbauend, versucht diese Dissertation den Anspruch einer vergleichenden, interkulturellen und interdisziplinären Auseinandersetzung mit der Thematik der Prag-Literatur und des damit verbundenen Mythos zu leisten. Sie schafft 25

Da die vorliegende Dissertation bereits im August 2018 beendet wurde, konnte der hier ge nannte Sammelband mit seinen Beiträgen und Erkenntnissen in die Untersuchungen dieser Arbeit nicht einfließen.

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Problematisierung eines Mythos

einen Überblick über relevante deutsch- und tschechischsprachige Prag-Texte von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart und setzt diese in Hinblick auf ihren jeweiligen unmittelbaren historischen Entstehungszeitraum miteinander in Relation. Nach einleitenden Vorüberlegungen, die methodisch und inhaltlich in die Thematik und Thesen einführen, die nötige Begriffsklärung vornehmen und das Auffassung von der Lesbarkeit einer Stadt und ihrer Texte darlegen, teilt sich die Untersuchung in folgende Abschnitte: Im II. Teil Zur Entstehung eines literarischen Mythos im zeitgeschichtlichen Kontext der Jahrhundertwende wird ein Überblick geschaffen, der darlegt, wie das Bild der Stadt Prag (und der daraus entstehende Mythos) sich in der tschechisch- sowie in der deutschsprachigen Literatur etablierte. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf dem historischen Zeitgeschehen, den politischen sowie kunst- und kulturgeschichtlichen Ereignissen in Prag und den daraus resultierenden Lebensumständen für die Prager Bevölkerung und somit auch die dort lebenden Kunstschaffenden. Im III. und IV. Abschnitt wird aufbauend auf den ersten beiden Teilen schließlich die Mythotoplogie des Narrativs der Stadt Prag untersucht. Das Konstrukt des Prag-Mythos referiert auf bestimmte Räume und Orte der Stadt. Die Untersuchung ihrer Topologien stellt den Versuch dar, die Funktion, Beschaffenheit und Semantisierung ihrer Darstellung in der Literatur aufzuschlüsseln. Die Mythotopologie geht davon aus, dass sich der Mythos als solcher nicht nur in der Dimension der Zeit verfestigt, sondern auch im Ort und insbesondere in der Stadt Raum greift. Dabei wird die Darstellung der Stadt Prag in der Literatur über das 20. Jahrhundert hinweg untersucht, um nachvollziehbar zu machen, ob und inwiefern sich dieser Mythos verändert hat, so wie sich auch Prag im vergangenen Jahrhundert maßgeblich verändert hat: Durch historische und politische Umwälzungen haben sich sowohl das Gesicht als auch das Wesen der Stadt verändert. Ebenso hat sich die Sprache ihrer Einwohner:innen gewandelt und im Zuge dessen möglicherweise ebenso deren Eigenarten. Auch der Frage, was die Zuschreibung „magisch“ für diese Orte bedeutet und wie genau sie sich in den unterschiedlichen Werken offen-

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bart, wird auf den Grund gegangen. So wird im III. Abschnitt eine Topologie der Erinnerung entworfen, welche die Stadt als Gedächtnisraum mit ihren spezifischen Eigenheiten untersucht und vorstellt. Prag erscheint dabei sowohl kollektiv als auch individuell als identitätsstiftender Erinnerungsraum. Die Stadt, die vom Menschen als kultureller Raum geschaffen und gestaltet wird, hat auf das Individuum einen starken Einfluss. Der Mensch versucht sich mit „seiner“ Stadt zu identifizieren und so steht die Darstellung bestimmter literarischer Stadtlandschaften häufig in einem wechselseitigen Zusammenhang mit den Befindlichkeiten und den seelischen Zuständen der Protagonist:innen. Diese erscheinen in den Prag-Texten häufig als Flaneur:innen, die wiederum mit dem IV. Abschnitt Topologie der Entfremdung und der Funktion der Stadt als Seelenspiegel genauer untersucht werden. Der Fokus wird dabei auf die Empfindungen der Protagonist:innen gerichtet, die spezifischen Ereignisse und Begegnungen, die sie im Stadtraum erleben und auf bestimmte Orte, die sie auf ihren Wegen durch Prag frequentieren. Besonders in bzw. mit dem literarischen Narrativ wird der Prag-Mythos bewahrt und fortgeschrieben; darüber hinaus stellt die Stadt aber nicht nur als literarischer Raum einen Gedächtnisspeicher dar. Die Vielschichtigkeit des Phänomens der Stadt Prag erfordert eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der Thematik. Die „Magie“ der Stadt Prag speist sich aus einem differenzierten Zusammenspiel aus Realität und Fiktion: Gerade historische Erinnerungsorte haben einen besonders starken mythischen Charakter. Dementsprechend versteht die Mythotopologie die Stadt in besonderer Weise als einen Erinnerungsraum und geht von einem engen Zusammenhang des PragMythos mit der Stadtgeschichte und dem jeweiligen aktuellen Zeitgeschehen aus. Der Diskurs des Prag-Mythos erfordert einen komparatistischen Zugang, der bisher in dieser Form noch nicht geleistet wurde. Neben der tschechischen hat besonders um die Jahrhundertwende die deutsche Kultur in Prag das Bild der Stadt entscheidend mitgestaltet und so lässt sich die entsprechende Textauswahl nicht auf einen Nationalitätendiskurs oder eine Nationalliteratur beschränken. In der Forschung wurde dieser kulturanthropologischen vergleichenden Betrachtungsweise bisher noch wenig Beachtung zugedacht oder sie

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war einseitig auf die Prager deutsche Kultur ausgerichtet. Jedoch ist gerade für diesen Stadt-Mythos die Fragestellung grundlegend, inwiefern die Darstellung der Stadt möglicherweise auch vom Blickwinkel und der kulturellen Identität einer Autorin oder eines Autors abhängen kann. Daraus erklärt sich auch der Untersuchungszeitraum der Arbeit, welcher maßgeblich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ansetzt: Das „Fin de Siècle“ gilt in vielen Literaturen als eine Zeit des Umbruchs und der Veränderung. Gerade der Wandel und die Entwicklung der Großstädte beeinflusste das Leben und die Wahrnehmung des Individuums auf eindrucksvolle Weise. Auch Prag entwickelt sich um die Jahrhundertwende zu einer Metropole und die Fülle an Prag-Texten am Beginn des 20. Jahrhundert spricht dafür, dass die Stadt in diesen Jahren für Schriftsteller:innen einen besonders inspirierenden Raum dargestellt haben muss. Die Großstadt als Gegenstand der Darstellung ist dabei freilich nicht ganz neu, jedoch rückte sie besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusehends in das Interesse der Künste: Diese Städte werden, fast unabhängig von ihrer Situation in der Wirklichkeit, zu komplexen Zeichen des Untergangs, in einen Prozeß kultureller Selbstverständigung, der - überall in Europa - im Medium der Geschichte nach Erlösung und Zukunft sucht.26 Hinsichtlich der Auswahl des zu untersuchenden Textkorpus ist die Dissertation bemüht, den Diskurs der Prag-Texte zu erweitern. In ihrer Untersuchung Die Entstehung des ‚Prager Textes‘ hat Susanne Fritz den Begriff Prager Text geprägt. Sie definiert in ihrer Arbeit ein Textkorpus, welches in den Jahren zwischen 1895 und 1934 entstand und den „Mythos von Prag“ 27 entscheidend mitgestaltete, allerdings untersucht sie dabei fast ausschließlich deutschsprachige Werke. Die Mythotopologie der Stadt Prag wurde jedoch entscheidend durch zwei bzw. sogar drei Kulturen gestaltet – die deutsche, die tschechische und die jüdische – und setzt somit gewissermaßen einen komparatistischen Zugang zum Prag-Mythos voraus. Als für das Narrativ der Stadt relevante 26 27

Schmitz, Walter; Udolph, Ludger (Hrsg.): Tripolis Praga. Die Prager Moderne um 1900. Katalogbuch. Dresden 2001. S. 165. Fritz, Susanne: Die Entstehung des ‚Prager Textes‘. Prager deutschsprachige Literatur von 1895 bis 1934. Dresden 2005. S. 8.

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Texte werden solche verstanden, die über die Stadt indirekt oder direkt eine künstlerische Aussage treffen. Zunächst ist nur davon auszugehen, dass es sich in einem literarischen Text um ein Abbild Prags handelt, wenn die Stadt in ihren topographischen Eigenheiten unverkennbar dargestellt wird. Die Relevanz eines solchen Textes resultiert aus der Intensität der Behandlung der Topologie der Stadt mit ihren Besonderheiten, deren literarische Abbildung einer bestimmten künstlerischen Intention unterliegt, das heißt, auf eine bestimmte Weise semantisiert wird und dadurch „magisch“ erscheint. Darüber hinaus ist auch jedwede Äußerung, welche über die Stadt Prag eine bestimmte Aussage trifft, Teil des Prag-Mythos. Ein solcher Diskurs umfasst demnach nicht nur sämtliche literarische Äußerungen, die die Stadt Prag als solche porträtieren, sondern gleichermaßen bildliche Darstellungen, Musikstücke und vor allem, wie bereits geschildert, realhistorische Ereignisse. Freilich ist es kaum möglich, die Summe all dieser kulturellen Äußerungen zu überblicken, auf die sich der komplexe und vielschichtige Mythos der Stadt Prag stützt. Die vorliegende Arbeit möchte mit der Auswahl der behandelten Werke einerseits auf die vermeintlich wichtigsten (bzw. populärsten) Texte des 20. Jahrhunderts eingehen, andererseits aber auch weniger bekannte Beispiele insbesondere aus der Mitte des 20. Jahrhunderts heranziehen, um ebenso eine zeitliche Entwicklung bzw. Veränderung des Narrativs betrachten zu können. Dabei wird die Mythotopologie folgender Werke genauer untersucht: Wilhelm Raabes Holunderblüte. Eine Erinnerung aus dem „Hause des Lebens“ (1862/ 63), Vilém Mrštíks Roman Santa Lucia (1893), Rainer Maria Rilkes König Bohusch (1899), Guillaume Apollinaires Le passant de Prague (Der Wanderer von Prag, 1902), Gotická duše (Die gotische Seele, 1905) von Jiří Karásek ze Lvovic, die Studentengeschichten von Karl Hans Strobl, Auguste Hauschners Roman Die Familie Lowositz (1908), Gustav Meyrinks phantastische Romane Der Golem (1913-15) und Walpurgisnacht (1917), die Erzählungen von Paul Leppin und sein Prager Gespensterroman Severins Gang in die Finsternis (1914), Hans Natoneks Erzählung Ghetto (1917), Albert Camus’ Roman La Mort heureuse (Der glückliche Tod, 1938) und seine

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Problematisierung eines Mythos

Reiseessays L’envers et l’endroit (Licht und Schatten, 1935/ 36), das lyrische Werk von Egon Bondy (Totální realismus [Totaler Realismus], 1950er), Ota Filips Café Slavia (1985), Die Prager Orgie (1985) von Philip Roth, Bohumil Hrabals Kouzelná flétna (Die Zauberflöte, 1989), die Werke von Libuše Moníková und Daniela Hodrová, Michal Ajvazs Druhé město (Die andere Stadt, 1993), Jáchym Topols Erzählung Výlet k nádražní hale (Ausflug zur Bahnhofshalle, 1995), Sylvie Germains Novelle La pleurante des rues Prague (Die weinende Frau in den Straßen von Prag, 1991), Sedmikostelí. Gotický román z Prahy (Die Rache der Baumeister. Ein Kriminalroman aus Prag, 1999) von Miloš Urban sowie Jaroslav Rudišs Roman Potichu (Die Stille in Prag, 2007). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass in dieser Arbeit mit den deutschen Übersetzungen der behandelten Primärwerke gearbeitet wurde, insofern eine solche zur Verfügung stand. Weiterhin stammen die Übersetzungen aus dem Tschechischen ins Deutsche von der Verfasserin, soweit dies nicht anders gekennzeichnet ist. Im Bemühen um eine genderneutrale Sprache wird bei Personengruppenbezeichnungen die orthographische Schreibweise „Schriftsteller:innen“ bevorzugt, obgleich es sich mitunter um Gruppierungen ausschließlich männlichen Geschlechts handelt. Die genderneutrale Schreibweise wird vernachlässigt bzw. ist nicht gewährleistet, wenn es sich um Zitate aus Primärliteratur oder Übersetzungen aus dem Tschechischen handelt, in denen für Personengruppenbezeichnungen meist ausschließlich die maskuline Form benutzt wird. Die vorliegende Dissertation zur Mythotopologie einer „magischen“ Stadt möchte dem Prag-Mythos anhand der Darstellung der Stadt in der Literatur im 20. Jahrhundert auf den Grund gehen. Die Untersuchung bemüht sich um einen erweiterten, komparatistisch angelegten, Blickwinkel, der möglicherweise auch über die Literaturwissenschaft hinaus interessante Erkenntnisse in Hinblick auf die allgemeine kulturelle Bedeutung literarischer (Stadt-)Texte sowie die Frage nach dem Status des Realen in der Fiktion erzielen kann und so auch Prag-begeisterte Leser:innen außerhalb bohemistischer und germanistischer Kreise erreichen möchte.

I Vorüberlegungen 1 Prag im Wandel der Zeiten: Wie Geschichte und Mythologie ein Stadtbild präg(t)en

Abb.1: Die Prager Burg. Holzschnitt aus Schedelschen Weltchronik (Liber Cronicarum), Nürnberg 1493

Die Geschichte spielte sich hier immer wieder vor anders gefärbten Kulissen ab, ihre vorwiegend tragischen Komödien blieben jedoch im Prinzip die selben, nur die Schauspieler zogen andere Kostüme und Uniformen an, neue Masken wurden angelegt, neue Programme und Ideologien verkündet, aber sie waren stets nur das, was sie seit eh und je in dieser Stadt waren: Metaphern, weit von sachlichen Inhalten entfernt, manchmal ein Grund zu berauschender Euphorie, ein andermal wieder eine sich sehr oft wiederholende, absurde Entgleisung der Vernunft.1 Einleitend werden in den folgenden Kapiteln einige Vorüberlegungen getroffen, welche inhaltlich und methodisch in die Thematik und Thesen einführen sowie die nötige Begriffsklärung vornehmen. Zunächst soll verdeutlicht werden, wie wichtig die Stadtgeschichte für die Wahrnehmung und das Bild von Prag ist. Die Geschichte und die Vergangenheit der Stadt und besonders der 1

Filip, Ota: Elegien aus dem Café Slavia (2005) In: Fischerová, Andrea: Ich träume von Prag. Deutsch-tschechische literarische Grenzgänge. Passau 2012. S. 259.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Scheidig, Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62256-8_2

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1 Prag im Wandel der Zeiten

Gründungsmythos spielen in der Prag-Literatur immer wieder eine bedeutende Rolle. Vom Anbeginn ihrer Zeit war diese Stadt mit Mythen behaftet – über ihre tatsächliche Gründung existieren keine historisch haltbaren Quellen. Die älteste schriftliche Überlieferung böhmischer Geschichtsschreibung ist die lateinische Chronica Boemorum (1119-1125) des Dekans Cosmas von Prag 2. Die böhmische Geschichte ist bei Cosmas in zwei Zeitalter aufgeteilt: Die auf Sagen und Mythen basierende Ursprungsgeschichte des böhmischen Volkes und das historische Zeitalter nach der Einführung des Christentums ab 894 bis zu seinem Tode 1125. Schon in seiner Vorrede wird deutlich, dass sich Cosmas über die Authentizität seiner Quellenlage durchaus bewusst ist: Deshalb habe ich meine Erzählung mit den ersten Bewohnern Böhmens begonnen und lege das Wenige, was ich aus den unbeglaubigten Erzählungen alter Leute vernommen habe, allen Wohlgesinnten nach bestem Wissen und Können vor, nicht um Menschenlob zu ernten, sondern damit es nicht gänzlich in Vergessenheit gerathen möge […]. Dieses erste Buch enthält aber die Geschichte der Böhmen, soweit ich sie in Erfahrung bringen konnte, bis zur Zeit des Bracizlaus I., des Sohnes von Herzog Odalrich. Die Jahre nach der Geburt des Herrn habe ich aber deswegen erst von Boriwoy‘s, des ersten katholischen Herzogs, Zeit an beigefügt, weil ich im Anfange des Buches nichts willkürlich angeben wollte und auch keine Chronik finden konnte, um zu erfahren, zu welcher Zeit sich Alles ereignet hat, wovon Du auf den folgenden Blättern lesen wirst.3 Im ersten Teil der Chronik handelt Cosmas die vorchristliche Geschichte Böhmens ab, die sich laut eigener Aussage auf mündlich überlieferte Volkssagen stützt: Hierbei geht es um die slawische Landnahme und den Urvater und Namensgeber der Böhmen, Pater Boemus (Čech), die Sage des reichen und weisen Herzog Crocco (Krok), dem Herrschernachfolger Čechs. Im Weiteren wird von seinen drei Töchtern berichtet, von denen die jüngste, die Seherin 2 3

*1045-†1125, Lateinischer Name Cosmas Pragensis; erster böhmischer Chronist des Mittelalters. Cosmas Pragensis: Des Dekans Cosmas Chronik von Böhmen. Nach der Ausgabe der Monumenta germaniae. Übersetzt von Georg Grandaur. Leipzig 1885. S. 4 ff.

I Vorüberlegungen

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Lubossa (Libuše) die Gründung der Stadt Prag vorhersagte. Auch von deren Mann Premizl (Přemysl), der in Böhmen bis 1306 regierte und auf den die Herrscherdynastie zurückgeht. Mit den folgenden Worten beschließt Cosmas die Erzählungen4 über das vorchristliche Zeitalter: Und weil dieses aus alter Zeit berichtet wird, so überlassen wir es dem Leser, zu beurtheilen, ob es wahr oder falsch ist. Jetzt will ich meinen Griffel spitzen, um die merkwürdigen Begebenheiten zu berichten, welche durch die wahrhafte Erzählung der Gläubigen verbürgt sind.5 Wilhelm Regel versucht in seiner Untersuchung aus dem Jahre 1892 Ueber die Chronik des Cosmas von Prag 6 darzulegen, ob die Sagen und die gesamte Chronik eine historisch haltbare Grundlage haben – manche Passagen mehr, andere weniger. Der Historiker Zdeněk Fiala weist in Eine Quellenanalyse zur Ortsterminologie bis zum Jahre 1235 nach, dass sich für Cosmas die Bezeichnung Prag eindeutig auf die Prager Burg bezog.7 Erst ab dem Jahre 1235, nach der Gründung und Befestigung der Prager Altstadt „begann man für diese Stadt regelmäßig die Bezeichnung Prager Stadt (civitas Pragensis) zu verwenden, die vereinzelt bereits in den letzten Jahren vor der Stadtgründung für die Siedlung am rechten Moldauufer vorgekommen war“8. Gesellschaftlich war die Bevölkerung der Prager Vorburg bis zur Befestigung des Areals der Prager Altstadt nicht einheitlich. Hier saßen böhmische Großadelige auf ihren Höfen, z. B. der bereits erwähnte Vychna; ferner gewiß ihr eigenes Gesinde, Leute auf den Höfen und Grundstücken der Klöster, Kleriker, ganz bestimmt auch ‚Beamte‘ des Fürsten und ihre Gehilfen. Abgesehen von diesen Einheimischen gab es auch Fremdsiedlungen, die, wie nachgewiesen, ihre eigene Selbstverwaltung hatten.9 4 5 6 7 8 9

Vgl. Cosmas Pragensis: Des Dekans Cosmas Chronik von Böhmen. S. 4: „meine Erzählung“. Ebd. S. 33. Regel, Wilhelm: Über die Chronik des Cosmas von Prag. Hochschulschriften, Dissertation, Universität Dorpat 1892. Vgl. Fiala, Zdeněk: Die Anfänge Prags. Eine Quellenanalyse zur Ortsterminologie bis zum Jahre 1235. Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen. Reihe I. Wiesbaden 1967. S. 8. Fiala, Zdeněk: Die Anfänge Prags. S. 21. Fiala, Zdeněk: Die Anfänge Prags. S. 35 f.

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1 Prag im Wandel der Zeiten

Neuere Standardwerke der Böhmischen Geschichte verzeichnen slawische Siedler in Böhmen ab der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts. Archäologische Untersuchungen lassen darauf schließen, dass die meisten Archäologen die Prager Burg auf das 9. Jahrhundert datieren.10 Die Gründung der Stadt und deren Existenz bis ins 12. Jahrhundert liegen dementsprechend gewissermaßen in sagenumwobener Ungewissheit verborgen. Daher wird bis in die heutige Zeit als Beleg ihrer Entstehung die wohl bekannteste Passage der Böhmischen Chroniken herangezogen – der Gründungsmythos der weissagenden Fürstin Libuše: Laut der Böhmischen Chronik11 aus der Mitte des 16. Jahrhunderts von Václav Hájek z Libočan ist die Gründung der Stadt Prag durch die Fürstin Libuše auf das Jahr 723 datiert. 12 Auch in diesem Werk, das die wohl ausführlichste Darstellung der böhmischen Geschichte darstellt, verschmelzen tradierte Sagen mit historisch fundierten Geschichtsereignissen. Die in deutscher wie auch in tschechischer Sprache verfasste Chronik wurde zunächst hoch gerühmt, geriet jedoch im Laufe der Zeit in die Kritik, da Hájek weniger „für einen Historiker, als vielmehr für einen Sagensammler ohne Kritik und Geschmak“13 gehalten wurde. Ihm wurden Willkür und Verfälschung historischer Wahrheiten, ja sogar die Vernichtung wichtiger Quellen unterstellt.14 Im Gegensatz zur Chronik Cosmas’ ist fragwürdig, ob Hájek sich bei seinen Aufzeichnungen um historische Fundierung bemüht hat. Diese Chronik ist kaum als fiktionsfrei zu werten, vereinzelt datiert Hájek die Ereignisse auf die Stunde genau. So schreibt der tschechische Historiker František Palacký in seiner Würdigung der alten böhmischen Geschichtschreiber (1830) über die „Verwirrung“ in der „zeitherigen Behandlung der böhmischen Geschichte“15: 10 11

12 13 14 15

Vgl. ebd. S. 7. Hájek z Libočan, Václav: Wneceslai Hagecii von Libotschan Bœhmische Chronik/ vom Ursprung der Bœhmen/ von Ihrer Herzogen und Kœnige/ Graven, Adels und Geschlechter Ankunft... In die Teutsche aus Bœhmischer Sprache übersetzt durch Joannem Sandel. Nürnberg 1697. S. 18. Hájek z Libočan, Václav: Bœhmische Chronik. S. 18. Palacký, František: Würdigung der alten böhmischen Geschichtschreiber. Eine von der böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften gekrönte Preisschrift. Prag 1830. S. 280. Vgl. Palacký, František: Würdigung der alten böhmischen Geschichtschreiber S. 280 f. Ebd. S. IX.

I Vorüberlegungen

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Andere Historiker versuchten dagegen die Gestalten der Vorzeit in das Gewand der Sage zu kleiden, und sie mit dem Reize poetischer, meist idyllischer Phantasie auszuschmücken, um ihnen doch Reiz und Bedeutung überhaupt zu geben: aber über dem erborgten falschen Schimmer büßten diese Gestalten ihre eigenthümlichen Züge ein, und die Wahrheit, die Treue des Gemäldes ging hier wie dort verloren. Daher haben wir in dieser Hinsicht noch kein, auch nur einigermassen haltbares, historisches Werk erhalten können.16 Diese Chroniken sind die ältesten Niederschriften bis dato mündlich tradierter böhmischer Volkssagen und somit als die ersten literarischen Dokumente über die Stadt Prag einzuschätzen. Eine genaue Trennung zwischen Sagen, Mythen und Geschichte im Sinne von Historie ist in diesen Werken nicht möglich, wie Cosmas selbst erklärt. Es war sein Anliegen, die Erzählungen über die Urgeschichte der Böhmen schriftlich zu fixieren, bevor sie in Vergessenheit gerieten. Die große Lücke, welche durch den gänzlichen an historischen Quellen für diese Zeitperiode entsteht, wird zum Theile durch einen eigenthümlichen Sagenkreise ausgefüllt, der ohne Zeitangabe, Jahrhunderte lang an die Spitze aller böhmischen Geschichten gestellt wurde. Es sind dies karge Erinnerungen des Volkes aus der Vorzeit, geknüpft an einzelne Namen, deren historischer Grund wohl unverkennbar ist.: doch ist deren Thatengewebe mit umso mehr Umsicht und Wahl in die Geschichte aufzunehmen, je öfter es im Verlauf der Zeiten seine Zeichnung änderte, und je thätiger die Phantasie unseres Volkes sich erwies, es fast mit jedem Jahrhundert mit neuen Fabelgestalten auszuschmücken.17 Um eine „Reinigung“18 der Geschichte und somit um eine Korrektur der Hájekschen Chronik bemühte sich schließlich Mitte des 18. Jahrhunderts der Piarist Gelasius Dobner. Er hatte erkannt, „daß dieses Werk für das tschechi16 17 18

Ebd. S. IX f. Palacký, František: Geschichte von Böhmen. Größtentheils nach Urkunden und Handschriften. Erster Band. Die Urgeschichte und die Zeit der Herzoge in Böhmen. Neudruck der Ausgabe 1844-1867. Osnabrück 1968. S. 83 f. Vgl. Schamschula, Walter: Geschichte der tschechischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Aufklärungszeit. Band I. Köln; Weimar; Wien 1990. S. 337 f.

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sche Geschichtsverständnis eine Schlüsselrolle einnahm“ 19. Auf der anderen Seite macht er allerdings darauf aufmerksam, dass die „vielen Ausuferungen der Phantasie die Tschechen daran hinderten ein wissenschaftlich haltbares Bild von ihrer Geschichte zu entwickeln.“ 20 Dobner war nunmehr bestrebt, alle Fabeln und Legenden aus der Chronik zu entfernen und historisch fundierte Quellen von Fiktion abzugrenzen. Die Periode der „Nationalen Wiedergeburt“, im Sinne einer nationalen Emanzipation von der Habsburgermonarchie, war und ist für die tschechische Bevölkerung Prags von hoher identitätsstiftender Bedeutung. Eine wichtige Komponente dieser Loslösung war die Kodifizierung und Festlegung der tschechischen Schriftsprache als Landessprache Böhmens. In sprachlicher Hinsicht distanzierte man sich von der deutschen Sprache, die bis dahin als Amts- und Wissenschaftssprache galt. Jedoch auch im Alltag wurde deutsch gesprochen, zumal in Böhmen und Prag viele Deutsche lebten. 21 Die Entwicklung einer eigenen Schriftsprache ist für die Herausbildung eines Nationalbewusstseins sowie einer Nationalliteratur ein grundlegendes Element. Weiterhin ist die böhmische Geschichte für das entstehende Selbstverständnis der tschechischen als wesentliche Komponente zu verstehen. Das patriotische Bestreben des tschechischen Volkes macht sich in der damaligen Literatur durch den Rückgriff auf große historische Ereignisse bemerkbar. Themen wie die Schlacht am Weißen Berg (Bílá hora) oder die Hussitische Revolution, sowie die tschechischen Sagen werden immer wieder aufgegriffen. Der Prozess der Nationenbildung im Europa des 19. Jahrhunderts führt auch in den Künsten zu einer Rückbesinnung auf die historische Vergangenheit. Das Genre des historischen Romans erlebt in diesen Jahren seine Blütezeit. Ganz besonders in Böhmen ist dieses Phänomen deutlich; Schriftsteller:innen wie etwa Alois Jirásek oder Zikmund Winter veröffentlichen zahlreiche historische Romane, Dramen und Erzählungen. Diese Verbindung zwischen der tschechischen Literatur und Geschichte im Bemühen um ein sich herausbil19 20 21

Schamschula, Walter: Geschichte der tschechischen Literatur. Band I. S. 338. Ebd. Vgl. hierzu das Kapitel „Tripolis Praga?“ Zur Konstruktion nationaler Identität.

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dendes Nationalgefühl beschreibt der Kulturwissenschaftler Steffen Höhne in einem Aufsatz über Die literarische Instrumentalisierung der böhmischen Geschichte im Vormärz22: Es seien die großen Kämpfe des tschechischen Volkes in der Literatur, die „mit dem Stereotyp der Gesinnungsgemeinschaft sowie dem unüberwindlichen Widerstandswillen des Volkes“ konnotiert werden. „Diese identifikationsstiftende Erinnerung an bedeutende Personen der tschechischen Geschichte bildet einen wichtigen Baustein in dem Konstrukt der nationalen tschechischen Identität.“23 In diesem Fall bedienen sich die Literat:innen in patriotischer Intention bewusst historischer Stoffe, um bei der Leserschaft im Sinne der „Nationalen Wiedergeburt“ ein Gefühl der Heimatliebe zu bekräftigen. Auch der Literaturhistoriker Karel Krejčí schreibt in seinem Prag-Buch Praha legend a skutečnosti (Das Prag der Legenden und der Wirklichkeit, 1967) über die Bedeutung der böhmischen Legenden für das Selbstverständnis der tschechischen Nation: Hnutí romantické […] vidí totiž v těchto starých pověstech, i pokud nemohou být historickými dokumenty, doklad dávné kolektivní národní tvořivosti, svědectví starobylosti, vysoké kultury i vynikajících morálních hodnot národa. Toto pojetí má u nás velký význam v procesu formování novodobého národa. Z vyšehradských pověstí se stává národní mýtus, který provází a posiluje české hnutí obrozenecké, později i boje státoprávní. Jeho působení prostupuje všechny oblasti národní kultury a vrcholí Smetanovou operou, která je cítěna jako nejsilnější projev a výraz novodobého českého vlastenectví.24 22

23 24

Höhne, Steffen: Die literarische Instrumentalisierung der böhmischen Geschichte im Vormärz. Hus und die Hussiten. In: Ehlers, Klaas-Hinrich; Höhne, Steffen; Maidl, Václav; Nekula, Marek (Hrsg.): Brücken nach Prag. Deutschsprachige Literatur im kulturellen Kontext der Donaumonarchie und der Tschechoslowakei. Frankfurt am Main 2001. S. 4380, hier S. 43. Höhne, Steffen: Die literarische Instrumentalisierung der böhmischen Geschichte im Vormärz. S. 45. Krejčí, Karel: Praha legend a skutečnosti [Das Prag der Legenden und der Wirklichkeit]. Prag 1981. S. 11. Dt.: Die romantische Strömung […] nämlich sieht in diesen alten Legenden, wenn sie auch keine historischen Dokumente sein können, einen Nachweis der alten kollektiven nationalen Schöpfungskraft, ein Zeugnis des Altertums, einer Hochkultur, wie auch herausragender moralischer Werte der Nation. Diese Auffassung hat bei uns eine große Bedeutung im Prozess der Herausbildung eines modernen Volkes. Aus den Vyšehrader Legenden wird ein nationaler Mythos, welcher die tschechische Bewegung der Wiedergeburt und später auch die staatsrechtlichen Kämpfe begleitet und stärkt. Alle Bereiche der

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Er schreibt weiterhin, dass der Legendenkreis um die Fürstin Libuše und die Gründung Prags nur einer von vielen ist, an dem ein kollektives Gedächtnis zusammen mit einer kollektiven Phantasie beständig weiterarbeitet: To vše skládá na velkou, věky psanou a stále obměňovanou legendu Prahy. Na jejím tvoření a dalším životě se podílejí velké kolektivy, drobné skupiny i jednotlivci. Některé stránky píše v nepřehledné řadě generací celý národ, některé jednotlivec, a to třeba i takový, který městem letmo prošel […].25 Bemerkenswert sind laut Steffen Höhne hinsichtlich der böhmischen Mythologie auch die „literarischen Parallelitäten zwischen den sich herausbildenden nationalen Literaturen von Tschechen und Deutschböhmen. Dies zeigt sich insbesondere im Rückgriff auf Stoffe und Motive der böhmischen Geschichte und Mythologie.“26 Es wird deutlich, dass die Geschichte der Stadt Prag für die tschechische bzw. die Prager Identitätsstiftung einen grundlegende Rolle spielt. Die Stoffe der böhmischen Mythologie sind mit den Ereignissen der historischen Chroniken derart verwoben, dass sich keine klare Abgrenzung zwischen Fiktion und Historie vornehmen lässt, obwohl es sich hierbei um zwei Bereiche handelt, denen eigentlich unterschiedliche Wirklichkeitsauffassungen zugrunde liegen. Diese Affinität der böhmischen Geschichtsschreibung beeinflusst jahrhundertelang das Selbstbild der tschechischen Bevölkerung. So ist die böhmische Mythologie als fester Bestandteil der tschechischen Geschichtsschreibung zu verstehen, was zu einer Vermischung von Fiktionalität und Faktizität führte,

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nationalen Kultur durchdringen ihn und sie kulminieren in Smetanas Oper, die als stärkster Ausdruck und Symbol des modernen tschechischen Patriotismus empfunden wird. Krejčí, Karel: Praha legend a skutečnosti. S. 11. Dt.: Das alles fügt sich zu einer großen, über Jahrhunderte geschriebenen und immer wieder abgewandelten Legende von Prag. An deren Entstehung und Weiterleben beteiligen sich große Kollektive, kleine Gruppen sowie Einzelpersonen. Einige Seiten schreibt in einer unüberschaubaren Reihe von Generationen eine ganze Nation, einige ein Einzelner, und das sogar jemand, der die Stadt nur flüchtig durchlaufen hat […]. Höhne, Steffen: Die literarische Instrumentalisierung der böhmischen Geschichte im Vormärz. S. 43.

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in einer Disziplin, die vorgibt, sich mit der „realen“ Vergangenheit auseinander zu setzen. Wie verhält es sich nun mit der Dichtung als dem Bereich, dem die Fiktion als wesentliches Prinzip zu Grunde liegt? Das mythische Zeitalter und die historische Vergangenheit Prags haben einen starken Einfluss auf das Narrativ der Stadt in der Literatur, sei es aus patriotischem Pflichtgefühl oder poetischer Manier. Die Vergangenheit der Stadt wird in den literarischen Texten immer wieder rezipiert – eine besonders bedeutende Rolle spielt beispielsweise der Gründungsmythos und die Weissagung der Fürstin Libuše. Dieser Mythos ist als die erste fiktive Bearbeitung des Narrativs der Stadt Prag zu verstehen und wird in den verschiedenen Künsten häufig zitiert. Für die Herausbildung eines Nationalbewusstseins der tschechischen Bevölkerung ist er von enormer Wichtigkeit. Mit der Weissagung Libušes wird die Stadt auf eine bestimmte Weise semantisiert. Die Legende beruht auf der mythischen Stammmutter des Přemysliden-Geschlechts, der Fürstin Libuše (im Deutschen wird sie „Libusche“, „Libussa“ oder auch „Libusse“ genannt). Als ihr Vater Krok sie zu seiner Nachfolgerin erklären will, hat der Legende zufolge das böhmische Volk Schwierigkeiten, eine Frau als Herrscherin anzuerkennen, woraufhin sie sich einen Gatten suchen muss. Infolge einer Vision heiratet sie den einfachen Bauern Přemysl und weissagt ihrem Volk eine Stadt mit den Worten: „Město vidím veliké jehož sláva hvězd se bude dotýkat.“ 27 Sie prophezeit in einem dichten Wald einen Mann, der zusammen mit seinem Sohn im Begriff ist, die Schwelle für sein Haus zu zimmern. Genau an dieser Schwelle soll das Volk eine Burg errichten und eine Stadt bauen, welche nach dem tschechischen Wort für Schwelle „práh“ Praha benannt wird.28 Dieser mythi27 28

Jirásek, Alois: Libušina proroctví [Libušes Weissagung]. In: Ders.: Staré pověsti české [Alte böhmische Sagen]. Prag 1959. S. 36-43, hier S. 37. Dt.: Ich sehe eine große Stadt, deren Ruhm bis zu den Sternen reichen wird. František Palacký hält diese Deutung des Namens für „zu gesucht, als daß man ihr Beifall schenken könnte.“ (Palacký, František: Skizze einer Geschichte von Prag. S. 12). Denn daneben bedeutet das Wort „in der alten Landessprache nicht bloß eine Schwelle, sondern auch diejenigen abschüssigen schwellenähnlichen Stellen in einem Strombette, welche Wasserfälle bildeten; und irren wir nicht, so war der Urbegriff des Wortes eine stufen- oder schwellenartige Erhöhung überhaupt“ so Palacký. (Ebd. S. 12 f.) Eben eine solche Anhöhe, auf der die Prager Burg einst erbaut wurde.

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sche Schwellencharakter haftet an der Stadt – von ihrem historischen Anbeginn an bis in die Gegenwart lässt er sich aus verschiedenen Blickwinkeln nachvollziehen. Zunächst markiert Tschechien rein topologisch mit seiner Hauptstadt innerhalb Europas einen Übergang zwischen Ost- und Westeuropa, sowohl geographisch als auch kulturell. Schon der jüdisch-arabische Kaufmann Ibrahim ibn Jakub beschreibt Prag in seinen Reisebeschreibungen von 965/ 66 als eine lebendige Handelsstätte. Dort hätten sich Handelskarawanen aus dem Westen und dem Osten getroffen, um sowohl untereinander als auch mit den Einheimischen Geschäfte zu machen. 29 Bereits im Mittelalter erfüllte Prag also eine Metropolenfunktion. Um 1230 wurde Prag zur Residenzstadt des Königreichs Böhmen und im 14. Jahrhundert zu einem politisch-kulturellen Zentrum und zur Kaiserstadt des Heiligen Römischen Reiches. In seinem dreibändigen Werk Geschichte der tschechischen Literatur (1990) verdeutlicht Walter Schamschula unter anderem die Zusammenhänge der tschechischen Literatur mit historischen und politischen Ereignissen. Schamschula spricht davon, dass besonders in der Geschichte Böhmens mit seiner Hauptstadt Prag die „evolutionäre Dynamik“ der Kernregion und der „Verlauf der geistigen Kultur Europas“30 zur Geltung kommen. Dieser kulturhistorische Raum, in dessen Zentrum sich Prag befindet, weist als solcher spezifische Eigenschaften auf: „Er ist heterogen, gekennzeichnet von zahlreichen Schwellen und Übergängen und von synoptischer und interferenzieller Gestalt.“ 31 Der Slawist Peter Zajac spricht vom Phänomen der Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma32. Schwellen beschreibt er als Räume, die ihren eigenen Gesetzen und Qualitäten folgen und deren Charakter bestimmt wird durch Ambiguität und Entgrenzung.33 Es sind Räume, in denen Übergangsprozesse stattfinden, die 29 30 31 32 33

Vgl. Schwarz, Vincy: Město vidím veliké... Cizinci o Praze [Ich sehe eine große Stadt... Fremde über Prag]. Prag 1940. S. 15 f. Schamschula, Walter: Geschichte der tschechischen Literatur. Band I. S. 1. Zajac, Peter: Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma. In: Csáky, Moritz (Hrsg.): Kommunikation-Gedächtnis-Raum: Kulturwissenschaften nach dem ‚Spatial Turn‘. Bielefeld 2009. S. 133. Zajac, Peter: Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma. S. 133-148. Vgl. ebd. S. 138.

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sich wiederum kennzeichnen durch „Gleichzeitigkeit, Parallelität sowie Korrespondenz und Koinzidenz der Bewegung in Zeit und Raum.“ 34 Was bedeutet diese Lesart eines geographisch und kulturell bedingten Schwellenraumes für das Bild der „magischen“ Stadt und den virtuellen Raum des Narrativs? Eine der ersten poetischen Verarbeitungen des Gründungsmythos stammt aus der Feder des Romantikers Clemens Brentano: Zwischen 1812 und 1814 entsteht Die Gründung Prags – Ein historisch-romantisches Drama. Im Nachwort Die Entstehung und der Schluss des romantischen Schauspiels bezeichnet Brentano die Stadt als einen Schwellenort, an dem Geschichte und Phantasie miteinander verschmelzen.35 Ganz in diesem Sinne der Romantik war Brentano fasziniert von volkstümlichen Stoffen, und so hat er sich laut eigener Aussage eingehend mit der Geschichte und den Sagen Böhmens auseinandergesetzt: „Die Geschichte hat wenigen Ländern mit so viel unschuldiger Liebe die Biographie ihrer ersten Jugend aufgezeichnet als dem segenvollen, in sich geschlossenen Böheim.“36 Dementsprechend ist auch seine Vorstellung der Stadt Prag: So seltsam finster und abentheuerlich überbaut und unzugänglich umgrabet, verbrücket und verrüstet lag meine Vorstellung von Böhmen, und besonders von Prag, wie das wunderliche Wolkenbild eines Zauberschlosses vor meiner Phantasie, als mir in meinen Jünglingsjahren Musäus in seinem Volksmärchen Libussa wie eine erlöste Jungfrau, wie 34 35 36

Ebd. Arnim, Achim von: Die Kronenwächter. In: Werke. Band 2. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1989. S. 15. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist poetische Dichtung von Geschichtsschreibung noch nicht deutlich abzutrennen. Das poetischen Anliegen der Romantik, die tiefere Wahrheit der Dinge zu ergründen und zu offenbaren, legitimiert den Dichter, Vergangenes mit Hilfe seiner Einbildungskraft wiederzubeleben, ja sogar, das Geschehene zu deuten und aufzufüllen. So erklärt sich beispielsweise Achim von Arnim über den Umgang mit der Historizität eines Stoffes folgendermaßen: „Das Bemühen, diese Zeit in aller Wahrheit der Geschichte aus Quellen kennen zu lernen, entwickelte diese Dichtung, die sich keineswegs für eine geschichtliche Wahrheit gibt, sondern für eine geahndete Füllung der Lücken der Geschichte, für ein Bild im Rahmen der Geschichte.“ (Brentano, Clemens: Die Entstehung und der Schluss des romantischen Schauspiels, Die Gründung Prags, von Clemens Brentano an seine Freunde. In: Die Gründung Prags; Prosa zur Gründung Prags. Dramen III. Hrsg. von Georg Mayer und Walter Schmitz. Stuttgart; Berlin; Köln 1980. S. 521.)

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einen lachenden Vollmond daraus hervorführte; der böhmische Himmel ward mir heiterer, und alles Böhmische empfing mir von ihr einen magischen Glanz in meiner innern Welt. […] Aus allen diesen verworrenen historischen und märchenhaften Eindrücken war meiner Phantasie trotz aller späteren wahrhafteren Belehrung ein wunderbares romantisches Conglomerat als ein Bild Prags geblieben. Früh gefaßte Jugendbilder werden wie Gespensterfurcht und Idiosinkrasie beinah organisch, und sind bei bester Ueberzeugung und dem stärksten Willen kaum abzulegen.37 Es wird deutlich, wie beeindruckt Brentano von Prag war; er spricht davon, wie in seiner Phantasie die historischen und märchenhaften Eindrücke miteinander verschmelzen, sowie von einem „magischen Glanz“ Böhmens, der von den alten Sagen ausgehend stärker ist, als alle wahrhafte, also historische Belehrung. Prag erscheint dabei als ein „wunderbares romantisches Conglomerat“, in dem sich Phantasie und Historie nicht voneinander scheiden mögen. Bis heute werden diese Stoffe der alten böhmischen Sagen und Legenden immer wieder literarisch verarbeitet, und so ist die Böhmische Chronik in gewisser Weise der Beleg für eine literarische Tradition. Die böhmischen Sagen und die Geschichte begründen einen erheblichen Teil des tschechischen Selbstverständnisses und auch der Prag-Literatur, was für den Gesamtzusammenhang der vorliegenden Untersuchung eine wichtige Grundlage darstellt. Dementsprechend wird der Gründungsmythos als Form einer Erinnerungskultur bis in die Literatur der heutigen Zeit immer wieder zitiert. Darüber hinaus verdeutlichen die böhmischen Mythen und Sagen in ihrer Verwobenheit mit der tschechischen Geschichtsschreibung ein poetisches Merkmal, dessen sich nicht nur tschechische Schriftsteller:innen und Romantiker:innen bedienen.

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Brentano, Clemens: Die Entstehung und der Schluss des romantischen Schauspiels, Die Gründung Prags, von Clemens Brentano an seine Freunde. S. 525.

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2 Mythotopologie der Schwelle: Prag als Raum des Dazwischen Jede Mythologie ist Topografie. Wenn es eine Mythologie der Moderne gibt, dann ist der Ort an dem sie erzählt wird, an den sie gebunden ist, die Großstadt.38 [Lothar Müller]

Diese Untersuchung möchte herausstellen, dass sich die „Magie“ der Stadt Prag aus deren Ambivalenz und ihrem Schwellencharakter speist. Anhand einer umfassenden Analyse des Narrativs soll die Mythotopologie Prags in der Literatur des 20. Jahrhunderts veranschaulicht werden. Das Konzept der Mythotopologie bewegt sich im Rahmen einer aktuellen Debatte der Literaturwissenschaft – dem so genannten „spatial“ bzw. den „topological turn“ (oder deutsch: „topologische Wende“).39 Dabei geht es um die Frage nach einer Relation von Literatur und Raum. Innerhalb dieser Diskussion ist für die Literaturwissenschaft die Unterscheidung von Topologie und Topographie wesentlich: Während es in der Topographie 40 um ganz konkrete physische oder geographische Räume geht, beschäftigt sich die Topologie41 mit abstrakten Raumrelationen42. Als Topos eröffnet Prag verschiedene Raumrelationen: Die Darstellung der Stadt Prag in der Literatur referiert zunächst auf den realtopographisch existierenden Ort, jedoch ist die Stadt dabei oft mehr als nur Schauplatz für ein fiktives Geschehen, sie bedeutet etwas. Die Mythotopologie 38 39

40 41 42

Müller, Lothar: Die Großstadt als Ort der Moderne. Über Georg Simmel. In: Die Unwirklichkeit der Städte: Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Hrsg. von Klaus Scherpe. Hamburg 1988. S. 14-36, hier S. 14. In dieser seit etwa den 1990ern geführten Debatte geht es um einen Paradigmenwechsel, der zunächst von der Kulturwissenschaft ausging. Neben der kulturellen Größe Zeit gewinnt der (geographische) Raum an Bedeutung und wird als entscheidender kultureller Faktor wahrgenommen. Aus dem Griechischen τοπογραφία (topographía): Setzt sich zusammen aus τόπος (tópos) für „Ort oder Raum“ und γράφειν (graphein) für „zeichnen, beschreiben, einkerben“. Zusammensetzung aus τόπος (tópos) für „Ort oder Raum“ und λόγος (lógos) für „Wort, Rede, Lehre“. Während Sigrid Weigel die Wende zum Raum als „topographical turn“ versteht (Vgl. beispielsweise Zum „topographical turn“. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik. Bd. 2, Heft 2, 2002, S. 151-165), verwendet Stephan Günzel dagegen den Begriff „topological turn“. (Vgl. Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Berlin 2007)

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2 Mythotopologie der Schwelle

schlüsselt die verschiedenen Komponenten des Prag-Mythos und deren Bedeutungen und Semantisierungen auf. Man könnte statt von Komponenten auch nach Claude-Lévi Strauss von Mythologemen43 sprechen, die als kleinste, semantisch und historisch sinnbildende Einheiten den gesamten Mythos konstituieren. Innerhalb des „spatial turn“ geht die Forschung davon aus, dass Orten bestimmte Bedeutungen zugeschrieben werden. So erklärt beispielsweise die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel ihre Theorie einer „Topographische[n] Poetologie“: Topographische Schreibweisen enthalten die Möglichkeit, Zeit und Geschichte im Raum darzustellen. Das zeitliche Nacheinander des Erzählens und das Kontinuum des Fortgangs im Begriff der Geschichte können darin aufgebrochen werden, um statt dessen eine Gleichzeitigkeit von Jetzt und Gewesenem herzustellen. Insofern werden literarische Orte auch als Formel verdichteter Zeit verstanden. […] Dabei kann die Vergangenheit in der Gegenwart in Orten nur dann zur Darstellung kommen, wenn diese als Gedächtnisschauplätze, über die Einschreibung von Dauerspuren, zur Schrift geworden sind. Das kann sich auf konkrete Landschaften, Gebäude, Räume und geographische Orte beziehen ebenso wie auf mythische und literarische Schauplätze.44 Allerdings verweist die Darstellung der Stadt Prag in der Literatur über realtopographische Orte hinaus auch auf bestimmte (vergangene) Epochen sowie (nationale) Mythen und historische Ereignisse, die nicht unbedingt mit konkreten Orten verbunden sein müssen. Die Mythotopologie der Stadt Prag geht vielmehr davon aus, dass auch topographisch nicht verortbare Größen Einfluss auf das Narrativ Prags haben. Da es sich bei der Stadt Prag in der Literatur um einen abstrakten Raum handelt, wird dementsprechend hier der Begriff Topologie bevorzugt.

43 44

Oder auch „Mytheme“; Vgl. hierzu Claude Lévi-Strauss Mythologiques (4 Bände, 1964-71). Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999. S. 355.

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Literarische Räume folgen anders als physikalische Räume 45 eigenen Gesetzmäßigkeiten. Raum und Zeit verbindet innerhalb einer Erzählung eine untrennbare Relation, sie stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Der russische Literaturwissenschaftler Michail M. Bachtin spricht im Zusammenhang von Raum und Zeit in der Erzähltheorie von „Chronotopoi“ 46: „Im künstlerischen-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen“ 47. Es gibt bestimmte Chronotopoi, die konventionelle Bedeutungen und symbolische Funktionen haben, so zum Beispiel der Chronotopos der Schwelle. 48 Diese steht symbolisch für Entgrenzungen in Form von Aufhebung von Raum und Zeit oder für die Gleichzeitigkeit von Vergangenem und Gegenwärtigem. Als solche kann die Schwelle jedoch nicht als ein konkreter Ort verstanden werden, sie ist ein Raum des Dazwischen sowie der Diskontinuität: Die Schwelle ist schwer zu verorten. Im strengen Sinne ist sie gar nicht zu verorten. Sie bildet einen Ort des Übergangs, einen Niemandsort, an dem man zögert, verweilt, sich vorwagt, den man hinter sich läßt, aber nie ganz. Sie gehört zum Alltag und ist doch mehr als alltäglich. Im Überschreiten der Schwelle befindet man sich nicht mehr hier und noch nicht dort, Ort und Zeit berühren sich.49 Nun ist die realtopographische Stadt Prag durchaus ein Ort, an dem man Fuß fassen kann und der sich auch durchqueren lässt. Das Prag der Literatur hingegen befindet sich an einem solchen Niemandsort, in einem Anderswo – nämlich im Bereich der Fiktion. Auch der Chronotopos der modernen bzw. sich modernisierenden Großstadt als einem literarischen Raum weist diese speziellen Wesensmerkmale einer Schwelle auf. Die sich immer schneller ver45

46 47 48 49

Während der physikalische Raum relativ ist, ist die Raumzeit eine konstante Einheit, sie ist die Gesamtheit aller Ereignisse, die in einem Raum zu einem Zeitpunkt stattfindet. In der physikalischen Relativitätstheorie bezeichnet man die Vereinigung von Raum und Zeit als Raum-Zeit-Kontinuum (oder auch Raumzeit). Vgl. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Frankfurt am Main 2008. Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman In: Ders.: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Berlin; Weimar 1986. S. 263. Vgl. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. S. 186. Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3. Frankfurt am Main 1999. S. 9.

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2 Mythotopologie der Schwelle

ändernde Welt an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, und dabei vor allem das Leben in den wachsenden modernen Großstädten, stürzt den Menschen in eine beunruhigende Erfahrung von Bewegung, Beschleunigung und Unsicherheit. Prag entwickelt sich im beginnenden 20. Jahrhundert von einer Provinzstadt zu einer Metropole der Moderne. Es ist der Anbruch einer Epoche, die geprägt ist von Schnelligkeit und Simultaneität. All diese Phänomene sind für den Menschen der damaligen Zeit mit bloßem Verstand schwer fassbar und führen zu einer Reizüberflutung.50 Gerade der Lebensraum Großstadt bedeutet eine immense Beanspruchung für die Sinne, sodass der Mensch beginnt, alteingesessene Werte und Traditionen in Frage zu stellen oder sie sogar gänzlich aufzubrechen. Auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen, um diese Art der Erfahrung und Wahrnehmung zu verarbeiten bedarf es nicht nur in den Künsten einer neuen Auffassung von Wirklichkeit. 51 In diesem Rausch des Aufbruchs in die Moderne, welcher vor allem die Großstädte am Beginn des 20. Jahrhunderts erfasst, markieren Walter Benjamins kultur- und geschichtsphilosophische Überlegungen eine aufschlussreiche theoretische Grundlage. Besonders mit seinem Passagen-Werk52 hat er den unverwechselbaren Eindruck einer Großstadtmetropole jener Zeit eingefangen – (nicht nur) für Walter Benjamin war Paris die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts.53 In die50 51

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53

Vgl. hierzu beispielsweise Georg Simmels Essay von 1903 Die Großstädte und das Geistesleben. Vgl. hierzu auch Kapitel Die Großstadt als Ort der gefährdeten Subjektivität. Der Versuch menschliche Gedanken und Gefühle in diesem Rahmen zu literarisieren führt zu einem Bruch mit traditionellen literarischen Gestaltungsmitteln und mimetischen Erzähltechniken. Die Erscheinung der Großstadt wird in der Literatur auf verschiedene Weise verarbeitet, so werden Phänomene wie Simultaneität und Reizüberflutung zum Beispiel mittels neuer Techniken wie des stream of consciousness (Zum Beispiel bei James Joyces Ulysses, 1922 oder Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, 1929) oder durch Montagetechnik Zum Beispiel bei Jon Dos Passos Manhattan Transfer, 1925) zum Ausdruck gebracht. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften Band V-1 und Band V-2. Frankfurt am Main 1991. Ursprünglich hatte Benjamin mit dem Passagen-Werk geplant, eine Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts zu verfassen bzw. eine Geschichte der Stadt Paris zu schreiben. Seit 1927 arbeitete er an den Pariser Passagen, wie der ursprüngliche Titel war, jedoch blieb dieses Werk unvollendet und so hinterlässt Benjamin ein Sammelsurium theoretischer und interpretierender fragmentarischer Reflexionen, welche eine reiche Fundgrube für kulturwissenschaftliche Überlegungen darstellen. Vgl. Paris, Capitale du XIXème siècle (dt.: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts) In: Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. S. 45 ff.

I Vorüberlegungen

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sem Zusammenhang beleuchtet er im Passagen-Werk verschiedene Phänomene, anhand derer verdeutlicht werden soll, inwiefern die Großstadt als Lebensraum im beginnenden 20. Jahrhundert den Menschen geprägt hat. Diese spezifischen Eigenschaften einer modernen Großstadt sind auch für das (literarische) Bild der Stadt Prag und die Entstehung eines sogenannten PragMythos nicht unerheblich. Benjamin versammelt im Passagen-Werk bruchstückhafte Eindrücke aus dem Paris der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, unter anderem geht es um die veränderte Wahrnehmung im Lebensraum moderne Großstadt, um städtebauliche Besonderheiten von Paris 54 und großstädtische Sozialtypen. Mit dieser Montagetechnik von aneinandergereihten TextPassagen verdeutlicht er performativ die Eigenart des anbrechenden Zeitalters sowie die der Großstadt: Namentlich mangelt es allen aufgezeigten Phänomenen an Beständigkeit. Diese Unsicherheit stellt für Benjamin den Schlüssel aller Deutung dar. Neben phänomenologischen Beschreibungen des modernen Paris geben diese Fragmente Aufschluss über Benjamins Geschichtsbegriff und seine Ansichten zur Geschichtsschreibung: Erst in dialektischer Anschauung von Vergangenheit und Gegenwart verbirgt sich die Erkenntnis. Ähnlich wie ein Kaleidoskop zeigen sich der:dem Betrachter:in je nach Position unterschiedliche Ansichten der Vergangenheit, in denen sich zugleich die Gegenwart spiegelt. In diesem Zusammenhang steht auch Benjamins MythosBegriff. Ähnlich wie die Geschichte ist der Mythos eine Form, sich mit Vergangenem auseinanderzusetzen. Ausgehend von einem semiotischen MythosBegriff, wie ihn etwa Roland Barthes 55 beschrieben hat, ist dieser Ausdruck eines bestimmten Menschen- und Weltverständnisses. Er ist „Interpretation“56, „eine Weise des Bedeutens, […] die nicht durch das Objekt seiner Botschaft definiert [wird], sondern durch die Art und Weise, wie er sie ausspricht.“ 57 54 55

56 57

Daher der Titel Passagen-Werk: Das französische Wort „passage“ bedeutet im Deutschen „Übergang, Durchgang“. Roland Barthes greift in Mythen des Alltags (1957) die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes wieder auf, um ihn über das geschriebene Wort hin zu erweitern: „Der Mythos ist eine Aussage, ein Mitteilungssystem, eine Botschaft.“ (Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1964. S. 85). Er kann dementsprechend „verbaler oder visueller Art“ sein (S. 87). Vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. S. 117. Ebd. S. 85.

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2 Mythotopologie der Schwelle

Der Mythos hinterfragt nicht, er ist vielmehr eine präwissenschaftliche Erklärung für Unerklärbares, der menschliche Versuch, die Dinge verständlich und nachvollziehbar zu machen. Für Walter Benjamin bedeutet „Mythos“ zunächst eine „Grenzscheide, eine Zeitschwelle im welthistorischen Geschehen“58. Den Mythos als Schwellenerfahrung setzt Benjamin in seinem Passagen-Werk in ein Verhältnis zur modernen Welt. Er erläutert, inwiefern sich der Mythos als eine tradierte kollektive Erinnerung, als vorrationales Weltverständnis, bis hin zum 20. Jahrhundert verändert hat. Im modernen Zeitalter, in dem er vom vorherrschenden Wissenschafts- und Fortschrittsoptimismus abgelöst wurde, ist er möglicherweise sogar hinfällig. Auch in den Topologien einer modernen Großstadt spielt der Mythos eine Rolle. Benjamin macht dabei das Phänomen der Schwelle am Bild der Pariser Passagen deutlich. Passagen bedeuten mehr als nur die Vorstufe moderner Warenhäuser: „Das Häuserlabyrinth der Stadt gleicht am hellen Tage dem Bewußtsein; die Passagen (das sind die Galerien, die in ihr vergangenes Dasein führen) münden tagsüber unbemerkt in die Straßen.“59 Passagen als Durchgänge sind stets an einen „Schwellenzauber“60 und „Schwellenerfahrungen“61 gebunden. Der Komparatist Winfried Menninghaus analysiert in Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos62 das Motiv der Passage: „Riten des Überganges, rites de passage, heißen in der Ethnologie jene Handlungen, in denen Schwellen zwischen zwei Zuständen, Räumen oder Zeiten überschritten werden.“ 63 Das Konzept der Übergangsriten übernimmt Menninghaus von dem Ethnologen Arnold van Gennep, der in seinen Les rites de passage (Übergangsriten, 1909)

58

59 60 61 62 63

Opitz, Michael; Wizisla, Erdmut (Hrsg): Benjamins Begriffe. Zweiter Band. Frankfurt am Main 2000. S. 569. Auch der Mythos ist demnach auch ein Schwellenphänomen, welches er im Passagen-Werk folgendermaßen definiert: „Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Wort ‚schwellen‘ und diese Bedeutung hat die Etymologie nicht zu übersehen.“ (Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. S. 618). Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. S. 1046. Ebd. S. 283. Ebd. S. 617. Menninghaus, Winfried: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos. Frankfurt am Main 1986. Menninghaus, Winfried: Schwellenkunde. S. 8.

I Vorüberlegungen

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den „magisch-religiöse[n] Aspekt der Grenzüberschreitung“64 betont. Um die alte Welt zu verlassen und die neue Welt betreten und sich ihr angliedern zu können, muss man eine neutrale Zone, eine „Schwellenphase“ passieren: „Jeder, der sich von einer Sphäre in die andere begibt, befindet sich eine Zeitlang sowohl räumlich als auch magisch-religiös in einer besonderen Situation: er schwebt zwischen zwei Welten.“65 Zwischen „der profanen und der sakralen Welt“ (oder auch zwischen der fremden und der häuslichen Welt) besteht durch eine magisch-religiöse Trennung eine große Unvereinbarkeit.66 Menninghaus spricht in diesem Zusammenhang auch von einer mythischen „Topographie der Passagen“, welche als Handlungen zu verstehen sind, weil sie mehr sind als Orte. 67 Die Passagen markieren als Übergänge „Zäsuren im Kontinuum von Raum und Zeit“68. Gerade die Physiognomien der Großstadtlandschaften seien als eine „Schwellenkunde“ 69 zu lesen. Die Passage als Ort des Überganges und gleichzeitig auch als Handlung 70 impliziert einen Vorgang, ein Geschehen, das ein:e Rezipient:in als Erfahrung wahrnimmt. Solche Handlungen sind im literarischen Narrativ der Stadt dadurch gewährleistet, dass die Figuren in den Topologien Prags Schwellenerfahrungen machen bzw. ihnen ausgesetzt sind oder sich in einer „Schwellenphase“ befinden. Daneben ist die Stadt Prag besonders bekannt für ihre geheimnisvollen und verwinkelten Passagen und die sogenannten „Durchhäuser“, welche in der ganzen Altstadt versteckt liegen.

64 65 66 67 68 69 70

Gennep, Arnold van: Übergangsriten (Originaltitel: Les rites de passage). Aus dem Französischen von Klaus Schomburg und Sylvia Schomburg-Scherff. Frankfurt; New York 1999. S. 25. Gennep, Arnold van: Übergangsriten. S. 27. Vgl. Ebd. S. 14. Vgl. Menninghaus, Winfried: Schwellenkunde. S. 8. Ebd. S. 8. Vgl. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. S. 147. Auch Aristoteles bezeichnet in seiner Poetik (um 335 v. Chr.) den Mythos (altgr. mýthos) als die notwendige Handlungseinheit: „Nachahmung einer Handlung aber ist der Mythos, denn Mythos nenne ich die Komposition einer einheitlichen Handlung.“ Er ist das Grundprinzip der Tragödie, die „durchorganisierte Handlungsdarstellung“ ist wesentlich für das Wirken der Affekte und der Katharsis. (Aristoteles: Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Berlin 2008. Kapitel 6, S. 9 ff.)

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2 Mythotopologie der Schwelle

Die Mythotopologie untersucht also jene Darstellungen der Stadt Prag in der Literatur, die, über realtopographische Orte hinausgehend, einen mythischen, schwellenhaften Raum eröffnen und dabei die Stadt in irgendeiner Form als „magisch“ erscheinen lassen. Dabei spielt natürlich die Wahrnehmung der Figuren und Erzählinstanzen eine wichtige Rolle. Die Untersuchung geht davon aus, dass der Mythos einer „magischen“ Stadt und dessen Popularität in der Literatur mit der Entwicklung Prags zu einer modernen Großstadt in einem wesentlichen Zusammenhang steht: Offenkundig war der stürmische Wandel der Städte selbst. Die Stadtmodernisierung ist eine gemeinsame Erfahrung der Bewohner europäischer Metropolen um 1900 – von Paris bis Wien. In Prag konzentriert sich der Abriß der alten und der Aufbau einer neuen Stadt auf die Asanierung der Judenstadt, des Ghettos, die alsbald auch […] als neuer Eintrag in die Symboltopographie der Stadt gedeutet wurde. Der Verlust an historischer Substanz einerseits, das schnelle Wachstum bloß funktionaler Industrie- und Wohnbezirke andererseits, fordern – wiederum generell in Europa – zu einer Reflexion von Vergangenheit und Identität heraus, die in ‚Stadt-Bildern‘ ihre Chiffre findet. Von der ‚Stadt‘, die gegenwärtiger Bedürfnisbefriedigung dient, die in statistischen Daten und administrativen Abläufen hinreichend definiert wird, emanzipiert sich gleichsam die andere, bedeutungsvolle ‚Stadt‘; dabei werden besonders die Stadtzentren in ihrem ästhetischen Reiz wahrgenommen und gleichsam in ein begehbares Denkmal verwandelt.71 Gerade die entstehende Verunsicherung des Individuums in der komplexen Lebenswelt der Moderne bedarf einer neuen Form der Wahrnehmung. Auch die Jahrhundertwende bedeutet für den Menschen eine Schwelle, in der er sich aufgrund des rasanten Fortschritts auf das Vergangene besinnt. An dieser Stelle lässt sich ein Rückschluss zu Walther Benjamins Mythos-Begriff ziehen, welcher an einer Grenzscheide entsteht und durch den Bezug auf Vergangenes versucht, die Gegenwart begreiflich zu machen. Nur die Methode der Dialektik ermöglicht es, die Bedeutung von Geschichte in der Wechselwirkung mit der Gegenwart zu verstehen. 71

Schmitz, Walter; Udolph, Ludger (Hrsg.): Tripolis Praga. Die Prager Moderne um 1900. Katalogbuch. Dresden 2001. S. 165.

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Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesenen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf sondern Bild (,) sprunghaft. – Nur dialektische Bilder sind echte (d. h. nicht archaische) Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache.72 So ist einerseits der vielseitige Schwellencharakter der Stadt als grundlegend für den Prag-Mythos zu verstehen. Auf der anderen Seite steht der Mensch als Subjekt, als Individuum, welches sich in der immensen Verunsicherung der Jahrhundertwende und als Bewohner:in einer entstehenden Großstadt versucht zu definieren. In diesen sich verändernden Topographien unbekannter Erfahrungen hat der Mensch in besonderer Weise das Bedürfnis sich mit der Stadt und deren Geschichte zu identifizieren. In einem Sammelband von Bernd Witte zu Walter Benjamins Passagen ist von „Topographien der Erinnerung“ 73 die Rede: Orte entstehen aus einem Geflecht von Beziehungen und umfassenden Übergangsräumen wie den Passagen, die Schwellenbereiche markieren. Die Beschäftigung mit der Topographie als Gedächtnisort stellt die Frage nach den Einschreibungen und Überschreitungen von Beziehungen, die dem Raum alte und neue Referenzen zuschreiben.74 Im Folgenden Kapitel wird diese Rolle der Stadt als Gedächtnisort und somit als Speicher der Vergangenheit genauer definiert.

72 73 74

Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. S. 576 f. Witte, Bernd (Hrsg.): Topographien der Erinnerung. Zu Walter Benjamins Passagen. Würzburg 2008. Witte, Bernd: Topographien der Erinnerung. S. 9.

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3 Das Gedächtnis der Orte und die Lesbarkeit der Stadt Groß ist die Kraft der Erinnerung, die Orten innewohnt.75 [Cicero]

Charakteristisch für Prag ist das prachtvolle Panorama, welches sich am Ufer der Moldau erstreckt. Das charakteristische Bild der hunderttürmigen Stadt mit ihren roten Ziegeldächern lässt sich von den zahlreichen, sich seitlich aus dem Moldautal erhebenden Hügeln rings um den Stadtkern herum überblicken. Dank dieser einzigartigen Lage ist Prag ein enormer Anziehungspunkt für Tourist:innen und vielbesungener Schauplatz poetischer Darstellung. Die Stadt wird gerühmt für ihre Schönheit sowie die Gleichzeitigkeit verschiedener architektonischer Stilrichtungen und Epochen, die ihre lange und ereignisreiche Geschichte vergegenwärtigen. Vom zehnten Jahrhundert an bis zum dreißigjährigen Kriege ist nun Prag der Hauptschauplatz der gesamten böhmischen Geschichte geworden; einer Geschichte, die am Wechsel mannigfaltiger bedeutungsvoller Szenen, an Erscheinungen hoher geistiger und physischer Kraft, an rührenden und erschütternden Gemälden reicher ist, als vielleicht alle Volksgeschichten des Mittelalters in Europa. In der Tat ließen sich alle die vorzüglichsten Szenen derselben an der Geschichte Prags und seiner Bestandteile abrollen; und der Geschichtsfreund, der die verschiedenen Plätze und Straßen der Stadt durchwandert, kann hier mit vollem Rechte sagen: quocunque incedimus, in aliquam historiam vestigium ponimus.76 Die Hauptstadt der heutigen Tschechischen Republik zeichnet sich durch die Besonderheit einer historisch sehr bewegten und instabilen Vergangenheit aus. Heute erinnern verschiedene Denkmäler an wichtige historische Ereignisse und Personen, und an der architektonischen Mannigfaltigkeit des Stadtpanoramas lässt sich eine stilistische Vielfalt durch die Epochen der Jahrhunderte 75 76

Cicero: De finibus bonorum et malorum. Über das höchste Gut und das größte Übel. Übersetzt und hrsg. von Harald Merklin. Stuttgart 1989. V. 1-2, 394-396. Palacký, František: Skizze einer Geschichte von Prag. S. 16 ff.; Dt.: Wo auch immer wir einherschreiten, wandeln wir in der Spur einer anderen Geschichte.

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3 Das Gedächtnis der Orte

ablesen. Darüber hinaus wird diese Vergangenheit auch auf einer ideellen Ebene bewahrt und vergegenwärtigt. In der römischen Antike ging man davon aus, dass jeder Ort einen Schutzgeist besäße – einen so genannten genius loci (lat. für „Geist des Ortes“). Orten wird dabei eine gewisse Kraft zugeschrieben, ein Geist, der ihnen innewohnt. Die Stadt Prag scheint einen besonders starken genius zu bewahren. Bogdan Bogdanović hat als Architekt und Stadttheoretiker zahlreiche Publikationen zur Architektur, sowie zur symbolischen und mythischen Bedeutung von Städten herausgegeben. Im Sinne eines genius loci spricht er sogar von „Städtepersönlichkeiten oder -charakteren“77. Die Stadt versteht er als „einzigartiges Erinnerungsdepot, das in der Regel das Gedächtnis der einzelnen Nation, Rasse, Sprache weit übersteigt“78. Bogdanović beschreibt, dass die Städte kulturelle Entwicklungen zwar mitvollziehen, gleichzeitig aber Erinnerungen und damit Identifikationsmöglichkeiten bewahren. Die kulturellen Wurzeln einer Stadt liegen tiefer, als die Traditionen eines jeweiligen gegenwärtig vorherrschenden Kulturmodells.79 Der Philosoph Theodor Lessing versucht in einem Essay über Prag und die Prager80 aus dem Jahr 1926 die komplizierte und vielschichtige Kulturgeschichte der Stadt Prag zu beschreiben: Sooft er mit Einheimischen die Sehenswürdigkeiten besucht, erfährt er eine sachkundige Belehrung über die Geschichtsträchtigkeit der Orte. Seine Eindrücke von dieser Stadt beschreibt er folgendermaßen: Merkwürdig aber ist dies: Jeder Prager führt mich zu denselben Gegenständen. Und jedesmal ist es ein anderes Prag. Aus den alten Steinen steigt: tschechische Geschichte, deutsche Geschichte, jüdische Geschichte, Kirchengeschichte. Genau wie der Golem immer andere Formen annimmt...81

77 78 79 80 81

Vgl. beispielsweise Bogdanović, Bogdan: Die Stadt und der Tod. Essays. Klagenfurt; Salzburg 1993. Bogdanović, Bogdan: Die Stadt und der Tod. Essays. S. 22. Vgl. Bogdanović, Bogdan: Die Stadt und der Tod. Essays. S. 22. Lessing, Theodor: Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte. Essays und Feuilletons. Hrsg. von Rainer Marwendel. Frankfurt am Main 1989. S. 210-215. Lessing, Theodor: Prag und die Prager. S. 212.

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Diese Anekdote verdeutlicht, wie stark verschiedene Orte der Stadt Prag historisch geprägt sind, aber vor allem auch, wie dieser genius loci im Blickwinkel des Betrachters liegt: In Prag lebten von jeher drei Ethnien nebeneinander. Dies stellt eine grundlegende Komponente des Prag-Mythos dar, welche im Folgenden noch genauer erläutert wird. Zunächst soll die Verbindung eines kulturellen Gedächtnisses mit konkreten Orten veranschaulicht werden. In diesem Zusammenhang zeichnet sich die Besonderheit des Stadtraumes dadurch aus, dass er sich unaufhörlich verändert und innerhalb eines solchen Raumes die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vorherrscht. Die Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann erforschen seit den 1990ern schwerpunktmäßig kulturanthropologische Ansätze zu den Themen Kulturelles Gedächtnis, Erinnerung und Konstruktion kollektiver bzw. kultureller Identität. Dabei spielt das Verständnis von Geschichte eine grundlegende Rolle – der Mensch zeichnet sich durch das Bedürfnis nach einer gewissen Kenntnis der Vergangenheit aus, um sich seine eigene Identität erklären zu können. Durch das Erinnern schafft sich der Mensch einen Sinn und fügt den (historischen) Ereignissen nachträglich eine Bedeutung hinzu. 82 In einer ausführlichen Untersuchung Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturelle Gedächtnisses (1999) beschreibt Aleida Assmann, inwiefern Orte eine spezifische Gedächtnis- und Bindungskraft haben und wie sie sich in eine „Gedächtnislandschaft“83 verwandeln können. Wohl gemerkt existiert Geschichte nicht unabhängig vom Menschen, welcher sie erst zu dem macht, was sie ist: Erst der sich erinnernde Mensch erschafft und bewahrt Erinnerungsräume. Einzig das Erinnern des Menschen kann die Historie an den mit ihr verbundenen Orten wieder aufleben lassen: „Sofern diese Geschichte tradiert und erinnert wird, bleiben die Ruinen Stütze und Unterpfand des Gedächtnisses und das gilt auch für die Geschichten, die man für sie erfindet und die sich wie Efeu um ihre Trümmer ranken.“ 84 Geschichte ist Orten nur insofern

82 83 84

Vgl.: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturelle Gedächtnisses. München 1999. S. 136. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. S. 315. Ebd.

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3 Das Gedächtnis der Orte

verhaftet, wie ein „kollektives Gedächtnis“85 dafür Sorge trägt und sich der historischen Bedeutung von Orten entsinnt. Indem sich die Prager Einwohner:innen um die Lebendigerhaltung des Erinnerungsraumes Prag und seiner Diversität bemühen, fungieren sie als ein kollektives Gedächtnis. Lessing benutzt in diesem Zusammenhang ein beliebtes Bild für die Metaphorisierung sogenannter „Gedächtnisorte“, nämlich das Aufsteigen ihrer Geschichte(n), aus den alten Steinen und Gemäuern. Ferner spielt er auf ein besonderes Wesensmerkmal der Stadt an: Prags Geschichte wurzelt in heterogenen Nationalitäten und Kulturen. In Prag wurde nicht nur tschechische Geschichte geschrieben, sondern auch deutsche und jüdische. Ein kollektives Gedächtnis fungiert auch identitätsstiftend und so verändert sich das Gesicht der Stadt jedes Mal analog zum historischen Blickwinkel, von welchem man sich ihr nähert. Weiterhin bezeichnet Lessing Prag als „furchtbar historisch“86: Prag ist in Reparatur. […] Wann immer du nach Prag kommst, die Stadt wird gerade frisch gewaschen und frisch onduliert. Das ist genau wie beim Zahnarzt. Der gute Zahnarzt reißt keine Zähne. Mittels Goldfüllung konserviert er das Historische.87 Nun ist Prag im Vergleich zu vielen anderen Groß- oder Hauptstädten Mitteleuropas in der glücklichen Lage, dass historische Bauten und somit Erinnerungsräume kaum zerstört wurden, und das heutige Stadtbild geprägt ist von einer Gleichzeitigkeit verschiedener Geschichtsepochen. Lessing kommt mit seiner Überlegung über die Stadt zu folgendem Ergebnis: Ich möchte dort kein Staatsbeamter sein. Aber wenn man schon in Prag Beamter ist, dann möge man sich trösten: Es ist alles nicht wahr, es gibt gar kein Prag! Prag lebt nur in den Vorstellungen seiner Menschen! In Wahrheit ist das ganze Leben dort ein Traum...88

85 86 87 88

Vgl. Assmann, Jan: Individuelles und kollektives Gedächtnis. In: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2007. S. 3537. Lessing, Theodor: Prag und die Prager. S. 211. Ebd. Ebd. S. 213.

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Mit diesen Aufzeichnungen trifft Theodor Lessing einen wesentlichen Charakterzug der Stadt: Die symbolischen Kräfte, die vom kollektiven Gedächtnis der Prager Bevölkerung bewahrt werden, sind Ausdruck eines Bedürfnisses nach Identitätsstiftung. Ein Mythos also, der nicht etwa in den Steinen der Stadt verhaftet ist, sondern Prag von seinen Einwohner:innen und Besucher:innen eingeschrieben wurde und wird. Es sind die Menschen, die die Geschichte(n) der Stadt wahren, sie fixieren und Prag so zu einem geschichtsund mythosträchtigen Ort machen. Hinsichtlich des Narrativs der Stadt Prag lässt sich insofern von einem kulturellen Gedächtnis sprechen, als man die Gesamtheit der Texte betrachtet, in denen bestimmte Orte oder die Stadt als Ganzes in einen referentiellen Bezug zu ihrer Geschichte gesetzt werden. Jan Assmann definiert das kulturelle Gedächtnis als „die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewußtsein, unser Selbst- und Weltbild prägen.“ 89 Das Narrativ der Stadt Prag mit seinen immer wiederkehrenden Motiven konstituiert und tradiert das Selbstbild einer Stadt, ein gemeinsames Erinnern. Freilich sind darüber hinaus die einzelnen Texte auch als Ausdruck eines persönlichen Gedächtnisses zu verstehen, welches in der Textanalyse gesondert beachtet werden sollte. Tatsächlich verbindet sich in der Darstellung Prags in den Einzeltexten die persönliche Beziehung zur Stadt häufig mit kulturellen oder kollektiven Erinnerungsorten bzw. historischen Ereignissen. Dabei gilt es wiederum, den von Lessing beschriebenen „traum“haften Charakter der Stadt zu berücksichtigen, welcher sich aus den unterschiedlichen kulturellen Blinkwinkeln zusammensetzt. In ihrem Aufsatz Geschichte findet Stadt90 betont Aleida Assmann die besondere Tendenz von Städten, sich mit Geschichte zu verbinden. Historisches Geschehen findet nicht nur auf der Ebene der Zeit statt, sondern nimmt auch einen konkreten Raum ein, ist vielmehr mit Räumen „verschränkt und von ih89 90

Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. In: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Jo-sephsromanen. München 2006. S. 67-75, hier S. 70. Assmann, Aleida: Geschichte findet Stadt. In: Csáky, Moritz: Kommunikation-GedächtnisRaum. S. 13-27.

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3 Das Gedächtnis der Orte

nen wesentlich mitbestimmt.“91 Was wäre Prag ohne seine Geschichte und Geschichten? Auch Sigrid Weigel schreibt in Zusammenhang mit ihrer Topographischen Poetologie über „Signaturen von Orten“. Ähnlich wie Geschichte kann die Literatur Orten eine bestimmte Bedeutung zuzuschreiben: Topographische Schreibweisen enthalten die Möglichkeit, Zeit und Geschichte im Raum darzustellen. Das zeitliche Nacheinander des Erzählens und das Kontinuum des Fortgangs im Begriff der Geschichte können darin aufgebrochen werden, um statt dessen eine Gleichzeitigkeit von Jetzt und Gewesenem herzustellen. Insofern werden literarische Orte auch als Formel verdichteter Zeit verstanden. […] Dabei kann die Vergangenheit in der Gegenwart in Orten nur dann zur Darstellung kommen, wenn diese als Gedächtnisschauplätze, über die Einschreibung von Dauerspuren, zur Schrift geworden sind. Das kann sich auf konkrete Landschaften, Gebäude, Räume und geographische Orte beziehen ebenso wie auf mythische und literarische Schauplätze.92 Die Literatur eröffnet als Kunstform die Möglichkeit, das Kontinuum der Zeit an einem bestimmten Ort aufzubrechen und die Geschichte und Vergangenheit dieses Ortes mit der Gegenwart zu verbinden. Aleida Assmann versteht vor allem den Schauplatz Stadt „als Dimension der Gleichzeitigkeit“ 93, als einen Ort der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Die Stadt ist ein dreidimensionaler Palimpsest: auf konzentriertem Raum ist Geschichte schon immer geschichtet als Resultat wiederholter Umformungen, Überschreibungen, Sedimentierungen. Wir können hier auch mit Reinhart Kosselleck von ‚Zeitschichten‘ sprechen. Die Formel von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ gilt nicht weniger als für die miteinander lebenden Generationen auch für die unterschiedlichen Schichten urbaner Bausubstanz.94

91 92 93 94

Assmann, Aleida: Geschichte findet Stadt. S. 15. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. S. 355. Assmann, Aleida: Geschichte findet Stadt. S. 14. Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007. S. 110 f.

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Genau genommen ist bei Assmann nicht unbedingt von einem literarischen Schauplatz die Rede, jedoch findet man diese Metapher von der Stadt als einem Palimpsest auch häufiger in Zusammenhang mit der Literatur. Dieser bildliche Vergleich von der Stadt als einem Manuskript, als etwas Geschriebenem also, wirft die Frage nach einer „Lesbarkeit der Stadt“95 auf. Im Sinne einer Verständlichkeit verweist diese Metapher auf das Bedürfnis des Menschen, die ihn umgebende Welt zu verstehen, sie wie einen Text lesen und interpretieren zu können. Der Anglist und Germanist Thomas Alfred hat über Prag als Palimpsest ein ganzes Buch geschrieben: In Prague Palimpsest. Writing, memory and the city (2010) betrachtet er die historische Stadt als einen vielschichtigen Text, welcher über die Zeiten hinweg immer wieder überarbeitet und überschrieben wurde. Dabei geht er von einem untrennbaren Zusammenspiel von Geschichte und Imagination, sowie von Erinnern und Vergessen aus.96 Diese Dialektik spiegelt sich für Alfred metaphorisch in den charakteristischen Eigenschaften eines Palimpsests97 wider – die des Abreibens oder Abwischens und Wiederbeschreibens: Analogous to an ancient manuscript difficult to decipher and impossible to read with any certainty, Prague exemplifies the modernist nostalgia for tradition yet is also the modernist city par excellence: a labyrinth where we seek the absolute truth of history only to discover its semiobscured traces.98 95

96 97 98

Der Romanist Karlheinz Stierle geht in Der Mythos von Paris: Zeichen und Bewußtsein der Stadt (1993) davon aus, dass Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk als Erster, die Frage nach der Lesbarkeit der Stadt aufgeworfen hat: „Passage ist gleichsam Benjamins Name für die Essenz der Lesbarkeit der Stadt. Als Ort der Passagen, der Durchbrüche des Textes auf die Stadt, der Stadt auf den Text, als Ort flüchtiger Erfahrungen im Zwielicht von Öffentlichkeit und Privatheit, werden beide in gleicher Weise zum Medium der Reflexion.“ (Stierle, Karlheinz: Der Mythos von Paris: Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München; Wien 1993. S. 19). Auch der Philosoph Hans Blumenberg spricht von der Lesbarkeit der Welt (1979), als einer Metapher für Erfahrbarkeit in Zusammenhang mit dem Bedürfnis des Menschen nach Wahrheit. Vgl. Alfred, Thomas: Prague Palimpsest. Writing, memory and the city. Chicago 2010. S. 2. Aus dem Griechischen: „palimpsēstos“, das sich zusammensetzt aus: πάλιν (palin) für „wieder“ und ψάειν (psaein) für „(ab-)reiben“ oder „(ab-)schaben“. Alfred, Thomas: Prague Palimpsest. S. 6.

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3 Das Gedächtnis der Orte

In Prague Palimpsest zieht Alfred komparatistisch verschiedene literarische Beispiele heran, um Prag als einen paradoxen Ort der Einschreibung und Auslöschung, des Erinnerns und Vergessens zu beschreiben. Sein Fokus liegt dabei auf dem Diskurs jüdischen Schreibens und Erinnerns. Alfred ist daran gelegen, Prag als „locus magicus“ zu demystifizieren, an dem die Wahrheit der Kunst über das Leben triumphiert.99 Diesbezüglich lässt sich allerdings nicht bestreiten, dass der Mythos von Prag als einem „locus magicus“ zwar seinen Ursprung sicherlich in der Kunst hat, sich jedoch als solcher darüber hinaus in einem kulturellen Gedächtnis der Stadt etabliert hat. Die Stadt Prag in diesem Zusammenhang als ein Palimpsest zu betrachten widerspricht in einem entscheidenden Punkt der Vorstellung eines genius loci, welcher als Gedächtnisspeicher die Vergangenheit eines Ortes wahrt. Mit der Metapher einer palimpsestartigen Struktur wird dem kollektiven Gedächtnis der Stadt die Willkür des Um-, Über- und Wiederschreibens unterstellt. Sicherlich gilt für die realtopographische Stadt Prag die metaphorische Vorstellung einer Schichtung jahrhundertelanger ereignisreicher Geschichte an einem Ort, und weiterhin kann ein kollektives Gedächtnis kaum die Wahrung historischer Objektivität gewähren. Entscheidend jedoch für den literarischen Topos ist gerade eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Der Prag-Mythos einer „magischen“ Stadt in literarischen Texten zeichnet sich dadurch aus, dass immer wieder auf die historische und mythische Vergangenheit der Stadt referiert wird. Diese wird eben nicht überschrieben, vielmehr sorgt das kulturelle Gedächtnis in Bezug auf die Literatur dafür, dass die Vergangenheit präsent bleibt, ja der Stadt regelrecht eingeschrieben wurde und wird. So schreibt beispielsweise der weniger bekannte Prager Schriftsteller Franz Hauptmann über seine Heimatstadt: Wenn einer in Prag geboren wurde und in dieser Stadt, dieser Landschaft, diesem immer höchst aktuellen Raritätenkabinett aufgewachsen ist, dann hat er sein Leben lang daran zu tragen. Denn die ‚historia‘, die in dieser Stadt in jedem Winkel lauert, aus jeder dunklen Hauseinfahrt winkt und von jedem Turm herunterdroht, war – solange ich dort lebte 99

Vgl. ebd. S. 3: „To this extend my study seek to demystify Prague as a locus magicus in which the truth of art prevails over life.“

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– nicht Erinnerung und staunendes Gedenken, sondern lebendige, immer wiederholte Wirklichkeit.100 Insbesondere in Hinblick auf die Gesamtheit aller Prag-Texte als einem Narrativ sind diese Eigenschaften der Gleichzeitigkeit, der Referenz und der Intertextualität als konstitutiv zu verstehen. Erst diese Verbundenheit macht es überhaupt möglich, von der Stadt Prag in der Literatur als einem „Narrativ“ (oder einem damit verbundenen Mythos) zu sprechen. Durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sind in der Stadt verschiedene „Zeitschichten“ 101 an einem Ort verhaftet. Wohl gemerkt handelt es sich dabei nicht nur um eine Geschichte, sondern vielmehr um die Geschichte verschiedener Epochen, Ethnien, Religionen und Kulturen. Um also auf die Lesbarkeit der Stadt zurückzukommen, so ist Prag mit seinem Mythos und seinem genius loci vielmehr in einem semiotischen Sinne als ein komplexes Zeichensystem zu verstehen, als ein Text, ein Gewebe (abgeleitet aus dem Lateinischen: „texere“ für weben, flechten), welches sich aus einer unendlichen Intertextualität zusammen setzt. Daniela Hodrová vergleicht in ihrer Mythopoetik Citlivé město (Empfindsame Stadt, 2006) die Struktur eines Textes mit der einer Stadt. In ihrem poetischen Verständnis lässt sich die Stadt ähnlich wie ein Text lesen, interpretieren und verstehen. Den Text versteht Hodrová als bewegliches und offenes (Zeichen-)System.102 Als Ganzes ist er einerseits in sich abgeschlossen und autonom, hinsichtlich seiner Entstehung und seiner Bedeutung jedoch ist er beweglich und unterliegt einem ständigen Prozess. In ähnlicher Weise funktioniert auch der Text der Stadt (text města) als ein Geschehen, ein ständiger, unendlicher Prozess, ein offenes und bewegliches Zeichensystem: 103 „V obou 100 Hauptmann, Franz: Prag, die geliebte Stiefmutter. In: Sudetendeutscher Kulturalmanach VI. Wissenschaft, Literatur, Kunst, Musik, Volkstum, Technik. Hrsg. von Josef Heinrich. München 1967. S. 40. 101 Vgl. Koselleck, Reinhart: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von HansGeorg Gadamer. Frankfurt am Main 2003. 102 Vgl. hierzu beispielsweise auch Mahler, Andreas: Stadttexte – Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution. In Ders. (Hrsg.): Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination. Heidelberg 1999. S. 11-36 103 Hodrová, Daniela: Citlivé město. Eseje z mytopoetiky [Empfindsame Stadt. Essays aus der

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textech – v textu literárním i Textu města – je pro čtenáře důležitější než moment poznání proces poznávání.“104 Hodrová versteht die Stadt als einen lesbaren unabgeschlossenen Text, der in alle Richtungen dynamisch ist. Im Gegensatz zu einem literarischen Text kann man den Stadttext nicht nur vorwärts lesen, er gleicht vielmehr einem diskursiven Kreisen. Hodrová vergleicht diese Eigenschaft des Stadttextes sinnbildlich mit einem Mandala oder einem Labyrinth.105 Die Stadt als solche ist komplex – insbesondere die moderne Großstadt unterliegt einer ständigen Veränderbarkeit und dementsprechend einer verwirrenden Schnelllebigkeit. In Hinblick auf die Lesbarkeit der Stadt erscheint diese textuelle Struktur von Hodrová anschaulich. Grundlegend in diesem Sinnbild ist also die Gleichzeitigkeit und die unendliche Verflochtenheit bzw. Intertextualität im Sinne einer offenen Beweglichkeit. Auch der tschechische Schauspieler Jan Werich vergleicht in einem kurzen Text O Praze (Über Prag, 1969) die Stadt mit einem Labyrinth: V bludišti vidí člověk skutečnost ze všech stran. Z takových stran, z jakých ji nikdy neviděl. Je to tak trošku jak lidská paměť. Člověk si taky vybavuje věci takhle nějak. Najednou profil, najednou en face, najednou si něco pamatuje zezadu. Lidská paměť je taky bludiště. A moc věci se tam ztratí. Bohužel nebo bohudík.106 Mit Daniela Hodrová erschließt sich der Leser indessen den Stadttext, so wie sich ein Fußgänger, Flaneur oder Spaziergänger (chodec 107) die realtopografische Stadt erschließt:

Mythopoetik]. Prag 2006. S. 17-46. 104 Hodrová, Daniela: Citlivé město. S. 24. Dt.: In beiderlei Texten – im literarischen Text und im Stadttext – ist für den Leser wichtiger als der Moment der Erkenntnis der Prozess des Erkennens. 105 Hodrová, Daniela: Citlivé město. S. 36. 106 Werich, Jan: Všechno je jinak. Prag 1991. S. 9. Dt.: Im Labyrinth sieht der Mensch die Wirklichkeit von allen Seiten. Von solchen Seiten, von denen er sie noch nie gesehen hat. Es ist ein bisschen so wie das menschliche Gedächtnis. Der Mensch stellt sich die Dinge auch irgendwie so vor. Einmal im Profil, einmal en face, ein anderes mal erinnert er sich an etwas von hinten. Das menschliche Gedächtnis ist auch ein Labyrinth. Und viele Dinge gehen dort verloren. Leider Gottes oder Gott sei dank. 107 Hodrová benutzt mit „chodec“ die grammatikalisch maskuline Form des Spaziergängers.

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Chodec je čtenářem města, ve kterém přebývá, kterým se pohybuje, které vnímá a kterému se pokouší rozumět. Se svým příběhem, cestami, pohledy a pocity je však zároveň autorem svého ‚textu‘ města a současně spoluautorem kolektivního Textu města. Pobyt ve městě a zejména chůzi lze chápat jako dynamický, proměňující se text – jeden z nesčetných textů v nekonečném svitku-palimpsestu města, v němž obyvatel-chodec zanechává svou stopu, tahy svého ‚rukopisu‘ či alespoň ‚písmeno‘.108 Der (Spazier-)Gang durch die Stadt gleicht einem der unzähligen Texte einer Stadt, und der Flaneur wird so zum Autor seines eigenen Stadttextes: „Někdy, přepadne-li ho pocit, že se v tomto gigantickém hypertextu ztrácí, se ho zmocní potřeba město doslova popsat, vepsat do něj svůj příběh, svou zprávu.“109 Jedoch bleibt die Stadt für den Spaziergänger immer ein Ort der Unsicherheit, ein Labyrinth, in dem der Mensch stets Gefahr läuft, sich zu verirren und sich selbst zu verlieren: Text města, sestávající z množství textů, z řady znakových systemů, které spolu komunikují, je mnohoznačný, srozumitelný každému pouze z určité, poměrně nevelké části, a proto vlastně zůstává ve své podstatě záhadný. Záhadnost může být ještě násobena ‚cizinectvím‘, nocí, snem, horečkou, šílenstvím, jiným stavem vědomí. Svou mnohoznačností nebo dvojznačností se tento text dotýká ‚divočiny‘ – divočiny periferie. Člověk se na periferii, pokud tam déle nebydlí, ocitá mimo známý svět s jeho diskurzem a jeho kódy.110 108 Hodrová, Daniela: Citlivé město. S. 220. Dt.: Der Fußgänger ist der Leser der Stadt, in der er sich aufhält, in der er sich bewegt, welche er wahrnimmt und welche er versucht zu verste hen. Mit seiner Geschichte, mit seinen Wegen, seinen Ansichten und Gefühlen ist er gleichzeitig Autor seines Stadt‚textes‘ und zugleich Mitautor eines kollektiven Stadttextes. Der Aufenthalt in der Stadt und namentlich das Gehen lassen sich als einen dynamischen, wandelbaren Text verstehen – einen von unzähligen Texten in einer unendlichen PalimpsestRolle der Stadt, in der der Bewohner-Fußgänger seine Spur hinterlässt, Züge seiner ‚Handschrift‘ oder wenigstens einen ‚Buchstaben‘. 109 Ebd. S. 220. Dt.: Manchmal, wenn ihn das Gefühl überfällt, dass er sich in diesem gigantischen Hypertext verliert, dann übermannt ihn das Bedürfnis die Stadt im wahrsten Sinne des Wortes zu beschreiben, ihr seine eigene Geschichte einzuschreiben, seine Nachricht. 110 Ebd. S. 119. Dt.: Der Text der Stadt, bestehend aus einer Fülle von Texten, aus einer Reihe von Zeichensystemen, welche miteinander kommunizieren, ist vieldeutig, jedem nur bis zu einem bestimmten Grad verständlich, einem verhältnismäßig kleinen Teil, und darum bleibt er in seiner Wesenhaftigkeit geheimnisvoll. Die Mystik kann sich noch durch ‚die Fremdheit‘ vervielfachen, durch die Nacht, durch einen Traum, durch Fieber, Wahnsinn, einen anderen Bewusstseinszustand. Mit seiner Mehrdeutigkeit oder Doppeldeutigkeit berührt die-

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3 Das Gedächtnis der Orte

Am Ende ist es immer wieder das menschliche Gedächtnis, 111 welches für den genius loci der Stadt Sorge trägt, ein genius, den der Prager Schriftsteller Emanuel Frynta in Franz Kafka lebte in Prag (1960) nicht zu Unrecht als einen „genius historiae“ bezeichnet.112 Frynta spricht in diesem Buch über die jahrhundertealten Kulissen der Prager Innenstadt, die mithelfen, eine „längst vergangene Atmosphäre zu vergegenwärtigen“113. Auch in diesem Sinne also markiert die Stadt Prag als Gedächtnisort eine Schwelle – die zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Aus der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ergibt sich eine immer wieder neue Lesbarkeit der Stadt. Mit Daniela Hodrová nehmen die Bewohner:innen einer Stadt sie als eine Summe von Texten wahr, von denen manche bekannter sind, andere weniger.114 Wie ein:e Leser:in einen Text, so nimmt auch ein:e Spaziergänger:in die Stadt wahr, und beides kann und wird in immer neue Kontexte gesetzt, die vom Subjekt beliebig assoziierbar sind. In Vítězslav Nezvals Pražský chodec (Der Prager Spaziergänger, 1938)115 beschreibt der Autor in einer Sammlung von persönlichen und autobiographischen, teilweise assoziativen Erinnerungen diese subjektive Lesbarkeit der Stadt und sein eigenes Flanieren durch Prag. Dieser Text gleicht selbst einem diskursiven Umherschweifen durch Prag – diskursiv im Sinne eines nicht zielgerichteten Diskurses verschiedener Prager Charakteristika (aus dem Lateinischen „discurrere“ für hin- und herlaufen, sich zerstreuen, sich ausbreiten). Nezval fühlt sich mit der Stadt Prag auf eine besonders innige Weise verbunden: Geleitet vom „unsichtbare[n] Zufall“, dieser „freundliche oder böse,

111

112 113 114 115

ser Text die ‚Wildnis‘ - die Wildnis der Peripherie. Der Mensch gerät in die Peripherie, solange er dort nicht schon länger wohnt, außerhalb der ihm bekannten Welt mit ihrem Diskurs und ihren Codes. Ein weiterer, weit verbreiteter Ansatz hinsichtlich der Erinnerungskultur und deren Verbin dung mit Orten stammt von dem Sozialwissenschaftler Pierre Nora mit seiner Idee von einem „lieu de mémoire“, einem Gedächtnisort. In Zwischen Geschichte und Gedächtnis (1998) erläutert er, inwiefern das menschliche bzw. das kollektive Gedächtnis als Synonym für Geschichte verstanden werden kann. Frynta, Emanuel: Franz Kafka lebte in Prag. Prag 1960. S. 15. Frynta, Emanuel: Franz Kafka lebte in Prag. S. 7. Vgl.: Hodrová, Daniela: Citlivé město. S. 18. Nezval, Vítězslav: Der Prager Spaziergänger. S. 53. Da mit der deutschen Übersetzung gearbeitet wurde wird diese Quellenangabe im Folgenden mit [PS] abgekürzt.

I Vorüberlegungen

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jedoch immer wundersame Tröster der Einsiedler“ [PS, S. 37] möchte er „für alle Zeiten ein Prager Spaziergänger“ [PS, S. 36] sein. Der Erzähler bewegt sich kreuz und quer durch verschiedene Stadtteile und -viertel, schlendert durch Gassen und über Brücken, bummelt an Schaufensterauslagen von Trödelläden vorbei, besucht Theater, Kaffeehäuser, Brauereistuben, Kneipen und Parks. Gleichzeitig reflektiert und kommentiert Nezval immer wieder den Entstehungsprozess des Textes selbst als einen Spaziergang: „Was ist nicht alles geschehen, was hat nicht alles geschehen müssen, daß ich mit meinem Buch konfrontiert wurde, sozusagen mitten in jenem Spaziergang, den ich vor einem Jahr begann und dessen letzte Schritte ich noch nicht sehe.“ [PS, S. 48] Der Prager Spaziergänger als Text selbst stellt einen Spaziergang dar, ein Flanieren durch Erinnerungen und das gegenwärtige Prag. Nezval ist von Prag regelrecht „behext“ [PS, S. 69], er schreibt über seine zärtliche Zuneigung gegenüber der Stadt, allerdings gilt diese wie so oft einem Prag der Vergangenheit. Als Flaneur ist Nezval stets auf der Suche nach besonderen Orten, die den geheimnisvollen Zauber und die „Wunder“ [PS, S. 13] offenbaren – Orte, an denen Prag „unberührt vom Wandel seines Äußeren und seiner Sitten“ [PS, S. 40] geblieben ist. Nezval sucht nach geheimnisvollen Momenten, „einem unvorhergesehenem Abenteuer, einem unvorhergesehenen Glücksfall“ [PS, S. 17] oder einer „gewisse[n] wundersame[n] Erregung“ [PS, S. 20] – nach Augenblicken, die ihn an andere Zeiten erinnern und in die Vorkriegszeit zurückversetzen: „Und immer sehe ich bewegt, wie mir Prag die Hand reicht, die in einem Handschuh von 1905 steckt, und immer lasse ich mich aufs neue vom Liebreiz der verlorenen Dinge rühren“ [PS, S. 41]. Für Nezval besteht die Besonderheit des Prager (Stadt-)Textes darin, dass aus ihr ein „neues Gefühls“ (nový cit) entsteht, welches seine Ursprünge in der Literatur hat und den Blick auf die nicht fiktive Welt verändert. Das neue Gefühl lässt die Grenzen zwischen der empirischen Wirklichkeit und der Welt der Prager Mythen und Legenden verschmelzen und der Spaziergänger entrückt so auf eine surrealistische Ebene – im wörtlichen Sinne – auf eine Ebene jenseits der empirischen Wirklichkeit. Dieses ‚neue Gefühl‘, das sich in sekundenlangen Begegnungen mit Beliebigem materialisiert, unterscheidet Schönheit nicht nach ihrer Wich-

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3 Das Gedächtnis der Orte

tigkeit, es wallt unter freiem Himmel und mitten durchs Leben, dieses ‚neue Gefühl‘ macht mich zum Prager Spaziergänger. [PS, S. 17] Das „neue Gefühl“ entsteht es aus einem Gefühl der Vertrautheit, welches Nezval mit der Prag-Literatur verbindet: Der Spaziergänger „saugt seine Nahrung nicht nur aus dem, was ihm da sinnlich vor Augen kommt, sondern wird oft des bloßen Wissens, ja toter Daten, wie eines Erfahrenen und Gelebten sich bemächtigen.“116 Nezval verbindet mit diesem „neuen Gefühl“ eine Poesie, die die Wahrnehmung der nicht fiktiven Welt verändert, regelrecht verzaubert: Wie wunderbar verlockend und unmöglich zugleich ist es, bisweilen die heutige, so zäh nur dem Geschehen, dessen Zeugen und Opfer wir sind, verhaftete Literatur gegen einen Band solcher ‚Prager Geheimnisse‘ einzutauschen. Derlei Werke bieten uns, ohne daß sie uns jene künstlerische Befriedigung verschaffen, die wir zu Recht von Büchern verlangen, in gewisser Hinsicht mehr als bloße Literatur. In ihnen ist die Atmosphäre der Örtlichkeiten eingefangen, die wir schon fast ohne Erregung zu durchschreiten gewöhnt sind, und etwas Unvergängliches aus der wundersamen Imagination des Volkes, deren Hang zum Aberglauben aus der Sicht des Dichters ihre schlechteste Seite nicht ist. Mögen derlei Werke an vielen Stellen auch unlesbar sein, so verbirgt sich doch in ihrer altmodischen Art viel wahre Poesie, viel wahre Liebe zu Prag, vieles, was erneuert und auf ein neues überzeugenderes Fundament gestellt werden möchte. [PS, S. 52] Dies spiegelt in etwa den Grundgedanken des tschechischen Poetismus wieder, dessen Mitbegründer Nezval war – die erfahrbare Welt zu poetisieren und das Leben als ein Gedicht zu empfinden. Diesen besonderen Wesenszug trägt die Stadt Prag der Literatur. Dabei sieht Nezval den Zauber nicht nur in den klassischen Schönheiten der Stadt, sondern auch an unbekannteren Orten, die in der Prag-Literatur weniger bedacht wurden, so zum Beispiel die Prager Wohn- und Arbeiterviertel:

116 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. S. 525.

I Vorüberlegungen

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Wie schade, daß keiner der drei Orte in Weinberge, an denen ich wohnte, daß weder Košíře noch Smíchov noch Nusle-Tal in meiner Imagination oder in einem literarischen Werk einen Vermittler gefunden haben, dessen segensreiche Magie mich wenigstens mit geringfügigster dichterischer Verzückung die unfreundlichen Lebensbedingungen hätte ertragen lassen, die mir in jenen Vierteln aufgebürdet wurden. [PS, S. 65] Nezval beschreibt weiterhin besondere Orte, an denen er Nostalgie verspürt, als alte „Inseln“, die den „Gesamtwandel“ der Stadt nicht mitgemacht haben: „wann immer mich ihre feuchte, schimmelige und dennoch so freundliche, so getreue Frische anweht, Teil jenes unsichtbaren Rosenkranzes von Zusammenhängen ist, welche die Tradition liefert.“ [PS, S. 41] So wecken beispielsweise die alten Kaffeehäuser in Nezval das Gefühl, dass er nicht älter geworden sei und „daß die Zeit nicht verfliegt […], daß Jiři Wolker am Leben ist, daß Prag nicht jenem oberflächlichen internationalen Bild verfällt, das ihre neuen Kaffeehäuser besitzen, daß Frieden herrscht, daß vom Krieg zu sprechen Unsinn, Narretei ist, daß in Prag erst das Leben beginnt.“ [PS, S. 40] Während sich Prag im Entstehungszeitraum des Textes (1937-38) bereits im zweiten Weltkrieg unter deutscher Okkupation befindet, versucht Nezval in seinem Text den Glanz und die Magie der Stadt zu bewahren und sie gewissermaßen literarisch zu fixieren: „Denn die Poesie Prags, die immer mehr von Phrasen über diese Stadt zugedeckt wird, will, daß wir durch ihre Straßen gehen wie durch einen tiefen Wald oder über den Rain des Feldes, das der letzte Pflüger bereits verlassen hat.“ [PS, S. 50] Die hunderttürmige Stadt, die „immer noch halb in der alten Legende versunken“ ist [PS, S. 53], besitzt für Nezval die Fähigkeit, die „ganze alte Magik und die junge Unsicherheit in den Dienst der Poesie zu stellen, die wir lieben“ [PS, S. 53]: So habe ich dich lieben gelernt, so habe ich gelernt, deine Brücken und Gassen mit ihren wahren Namen zu benennen, um ihnen etwas von den Eigenschaften einer Beschwörungsformel wiederzuerwecken. Mein subjektives Leben, ohne Ende nach Entzücken lechzend, hat dich zur Bühne meiner Sehnsucht zu machen versucht, und zu einem großen Wörterbuch, das die Farbe unserer schwärmerischen Liebe, unserer Wünsche ausdrücken könnte. [PS, S. 53 f.]

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3 Das Gedächtnis der Orte

Das „neue Gefühl“ und der Prager Spaziergänger stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang: Die Wege des Spaziergängers durch Prag werden von den Geschichten, den Legenden und Mythen, die ihm aus Büchern vertraut sind, gelenkt. So bekommt die Stadt ihre persönliche Gestalt, welche im Auge des Subjekts entsteht: Die Rolle des Spaziergängers scheint deshalb so ideal, weil das Leben verrinnt. Wenn wir gehen – vor allem wenn wir ziellos des Weges gehen –, bewirken die unscheinbaren Bilder unserer Sehnsucht, die sich unserem Schritt aufdrängen, daß wir es unterlassen, ihr Ende zu sehen – ihr Gegenteil. […] So entdeckt der Mensch die eine oder andere Legende, die düster ist oder auf rührende Weise verstummt, so begibt sich der an den Stuhl gefesselte Mann auf die Wanderschaft zu den Dingen, die er nicht mehr zu sehen erwartete. Ich liebe das Prag der Legenden, wenn ich ihnen auf diese Weise begegne. Sozusagen ein für allemal festgehalten in alten Büchern mit goldenen Initialen, treten diese Legenden auf die Straße und bewirken, daß ich sie gern mit eigenen Augen erschauen möchte. [PS, S. 6 f.] In seiner Rolle als Leser der Stadt und ihrer Texte erinnert Nezvals Prager Spaziergänger an Daniela Hodrovás Auffassung von der Stadt als einem lesbaren Text (text města) und dem Stadt-Spaziergänger als Leser dieses Textes. Nezval beschreibt mit dem Prager Spaziergänger ein grundlegendes Charakteristikum der „Magie“ von Prag: Sie hat ihren Ursprung in der Literatur, welche die Orte in Prag mit Geschichten und Erinnerungen belebt und ihnen so ein magisches Eigenleben einschreibt. So verschmilzt zumindest für den Moment die empirische Wirklichkeit mit der fiktiven Welt der Prag-Literatur. Der Prager Spaziergänger reflektiert als diskursiver Text die Lesbarkeit der Stadt – er versucht, die Traditionen der Prag-Literatur zu bewahren und erklärt somit auch einen Teil des Prag-Mythos und der Magie der Stadt. Hinsichtlich der Lesbarkeit der Stadt wird deutlich, dass es sich bei Prag einerseits um einen kollektiven Erinnerungsort handelt, an dem Dank eines kollektiven Gedächtnisses bestimmte historische und identitätsstiftende Ereignisse transportiert und Geschichte(n) an bestimmten Orten bewahrt werden und so ein Schwellenraum zwischen Vergangenheit und Gegenwart entsteht. Dar-

I Vorüberlegungen

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über hinaus wird dieser Mythos ebenso von einer Menge von einzelnen individuellen Stadt-Texten getragen, deren Verständnis und Interpretation in der Beziehung vom jeweiligen Subjekt zur Stadt verborgen liegen. Die Stadt erscheint somit auf verschiedenen Ebenen lesbar, als Gedächtnisort, dem sein genius loci regelrecht eingeschrieben wurde, aber auch als individueller und unendlich beweglicher Stadt-Text.

I Vorüberlegungen

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Zusammenfassung der Hypothesen: Zum Verständnis des „Magischen“ Die Untersuchung der Mythotopologie Prags geht zunächst davon aus, dass die Geschichte das Bild der Stadt in besonderer Weise geprägt hat. Das Selbstverständnis der Prager Bevölkerung steht in einem engen Zusammenhang mit der Vergangenheit der Stadt, die wiederum nicht unabhängig von der böhmischen Mythologie zu verstehen ist. Insbesondere der Gründungsmythos scheint für die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit „ihrem“ Prag eine wichtige Rolle zu spielen. Das Bild einer „magischen“ Stadt erklärt sich daher möglicherweise aus der tiefen Verwobenheit der böhmischen Mythologie mit der Prager Stadtgeschichte, welche in der Prag-Literatur immer wieder zum Tragen kommt. Dies führt zu einer ständigen Vergegenwärtigung der Vergangenheit der Stadt – die Literatur ist dabei Teil eines kollektiven Gedächtnisses, das in den einzelnen Texten bestimmte Gedächtnisorte immer wieder bespielt und somit lebendig hält. Die Topologien einer Stadt sind ein immenser Gedächtnisspeicher, der mit der Vergangenheit der jeweiligen Orte untrennbar verbunden ist. Das Narrativ Prags in der Literatur mit seinen immer wiederkehrenden Motiven und Themen konstituiert und tradiert das (Selbst-)Bild einer Stadt, welches wiederum getragen wird von einem kulturellen Gedächtnis ihrer Bewohnerinnen und Bewohner, ihrer Geschichte und Geschichten sowie ihrer Gebäude und Architekturen. Dieses Narrativ wird einerseits von einem kollektiven, auf der anderen Seite aber auch von einem individuellen Gedächtnis fortgeschrieben, das sich in den einzelnen literarischen Werken ebenso widerspiegelt. Aus dieser Unterscheidung resultiert auch die Aufteilung des Hauptteils der vorliegenden Arbeit, welche sich im III. Abschnitt der Topologie der Erinnerung und der Semantisierung der Stadt als einem (kollektiven) Gedächtnisraum widmet und im IV. Abschnitt wiederum die individuell motivierte Semantisierung der Stadt als Seelenspiegel untersucht. Hinsichtlich der Wahrnehmung und der Lesbarkeit einer Stadt ist diese Individualität grundlegend für die Vorstellung von einem Stadttext, der von einer: einem Flaneur:in durchschritten wird, ähnlich, wie ein literarischer Text von einer:einem Leser:in gelesen wird. Mit dem Durchmessen der Stadt wird die:

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Zusammenfassung: Zum Verständnis des „Magischen“

der Flaneur:in selbst zur:zum „Autor:in“ ihres:seines eigenen Textes, und so bleibt die Wahrnehmung und damit auch die Interpretation und Bedeutung eines Stadttextes als einem unendlich verwobenen Zeichensystem fortwährend beweglich und erweiterbar. Dabei lässt sich auch vermuten, dass auch die (Be-)Deutung der „Magie“ Prags dem geistigen Besitzanspruch eines Individuums unterliegt; dass also das, was in der Prag-Literatur als „magisch“ erscheint, jeweils mit konkreten individuellen Empfindungen, Erwartungen und Erfahrungen verbunden ist. Die „Magie“ Prags ergibt sich ferner auch aus dem Schwellencharakter der Stadttopologie: Einzelne Orte bzw. Räume sind von ihrer eigenen Vergangenheit durchtränkt und es kommt zu einer Verschmelzung von Raum und Zeit. Die Topologie Prags erscheint dabei als Übergang, als ein „magischer“ Raum des Dazwischen, welchem Kräfte nachgesagt werden, die sich nicht immer rational erklären lassen. Auch der Mythos als solcher stellt eine Schwellenerfahrung und zugleich eine Rückwendung aus der verunsichernden Gegenwart in die Vergangenheit dar. Prag wird somit zu einem Raum der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Weiterhin ist für die Entstehung des Prag-Mythos die Dynamik der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von großer Bedeutung: In diesem Zeitraum des Umbruchs und des Aufbruchs in die Moderne sieht sich der Mensch in seiner Lebenswelt generell und insbesondere in der Großstadt starken Veränderungen ausgesetzt. Diese progressive Atmosphäre wirkt sich wiederum auf das Selbstverständnis und die Wahrnehmung des Individuums aus und spiegelt sich in der Kunst spürbar wider. Möglicherweise wirken besonders in Prag als einem Knotenpunkt verschiedener Kulturen zahlreiche, sich widerstrebende Kräfte, die diese Stadt in besonderer Weise zu einem ambivalenten Raum machen. Diese Ambivalenz ist an diesem Ort somit unter Umständen stärker spürbar als in anderen populären (Literatur-)Städten der Jahrhundertwende, wie etwa Berlin, Paris, London, New York oder Sankt Petersburg. Auch die Slavistin Anja Tippner spricht in Die permantente Avantgarde? Surrealismus in Prag (2009) über die literarische Konstruktion einer „magischen“ Stadt: Ihr zufolge lässt sich in der tschechischen Avantgarde eine „Einverlei-

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bung des surrealistischen Stils in das mediale Konzept eines ‚magischen Prag‘ beobachten.“116 Sie sieht einen direkten Zusammenhang zwischen dem aktuellen Zeitgeschehen und der Entstehung des Mythos einer „magischen“ Stadt. Daneben misst auch Tippner der Geschichte und der Vergangenheit der Stadt für deren Semantisierung eine hohe Bedeutung bei: Der Stadtraum zeichnet sich durch das Zusammentreffen des Gegensätzlichen aus: Hier stoßen Vergangenes und Gegenwärtiges aufeinander, hier begegnen sich moderne Mythen und alte Legenden. […] Aus diesen widerstrebenden Konstellationen speist sich die Magie des Ortes Prag […].“117 Die „Kopräsenz von Historischem und Zeitgenössischem“118 ebenso wie „das Eindringen der Moderne und damit des Profanen in den Stadtraum“ 119 sind für sie die wichtigsten Faktoren bei der Herausbildung der Prager Avantgarde – ihnen voran Vítězslav Nezval. Dieser konzentriert sich in seinen Texten zwar weitgehend auf das historische Prag, doch besteht auch für ihn kein Zweifel, dass die „Magie“ der Stadt aus einer besonderen Verbindung von Altertum und Moderne entsteht: „Unbestreitbar rührt die unaussprechliche Magie der Stadt, die ich durchwandere, von der besonderen Verschmelzung äußerst archaischer Reize mit dem modernen Geist her.“ [PS, S. 157] Es ist das von Nezval beschriebene „neue Gefühl“, welches die „Magie“ der Stadt Prag treffend umschreibt und das zunächst als Grundlage für die Untersuchung der Mythotoplogie der „magischen“ Stadt verstanden werden kann. In den nun folgenden Kapiteln wird anhand einer Darstellung der zeitgenössischen Umstände der Jahrhundertwende, der „Nährboden“ genauer betrachtet und analysiert, aus dem dieser Prag-Mythos entstehen und sich etablieren konnte.

116 Tippner, Anja: Die permanente Avantgarde? Surrealismus in Prag. Köln; Weimar; Wien 2009. S. 70 117 Tippner, Anja: Die permanente Avantgarde? S. 152 118 Ebd. 119 Ebd.

II Zur Entstehung eines literarischen Mythos im zeitgschichtlichen Kontext der Jahrhundertwende 1 Die Großstadt als Ort der gefährdeten Subjektivität Labyrintu se podobal život Prahy zvláště uprostřed historického jádra města, v němž docházelo k nejzjevnějšímu střetání historických kultur s moderní civilizací. Touha proniknout do měnícího se světa, která se projevila zejména na všeobecných výstavách, nachází i ve městě nepřeberné příležitosti k vyznačování cest životním labyrintem.1 [Tomáš Vlček]

Walter Benjamin zufolge entsteht der Mythos an einer Grenzscheide, an einer Zeitschwelle, an der eine Wechselwirkung von Gegenwart und Vergangenheit eintritt.2 Der Prag-Mythos manifestiert sich darüber hinaus selbst an einer solchen Schwelle, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, einem Zeitalter des Umbruchs und des Aufbruchs in die Moderne. Für den Menschen bedeutet diese Schwelle eine immense Beanspruchung seiner Sinne. Namentlich das großstädtische Individuum, wie Georg Simmel in seinem Essay Die Großstädte und das Geistesleben (1903) erläutert, ist in seinem Lebensraum in besonderer Weise einer „Steigerung des Nervenlebens“ durch einen „raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke“3 ausgesetzt. Um sich vor einer Entwurzelung zu schützen, reagiert der „Typus des Großstädters […] statt mit dem Gemüte […] im Wesentlichen mit dem Verstande“4. 1

2 3 4

Vlček, Tomáš: Praha 1900. Studie k dějinám kultury a umění Prahy v letech 1890-1914 [Prag 1900. Studie zur geschichtlichen Kultur und Kunst in Prag in den Jahren 1890-1914]. Prag 1986. S. 73. Dt.: Das Leben Prags glich einem Labyrinth, besonders mitten im historischen Kern der Stadt, in welchem es zum offenkundigsten Zusammenprall der historischen Kultur mit der modernen Zivilisation kam. Eine Sehnsucht die sich verändernde Welt zu durchdringen, die sich insbesondere auf allgemeinen Ausstellungen zeigte, fand auch in der Stadt unerschöpfliche Gelegenheiten, um die Wege durch das Labyrinth des Lebens zu kennzeichnen. Vgl. hierzu Kapitel Mythotopologie der Schwelle: Prag als Raum des Dazwischen. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben. In Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 Gesamtausgabe, Band 7. Hrsg. von Rüdiger Kramme. Frankfurt am Main 1995. S. 116-131, hier S. 116 f. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben. S. 117.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Scheidig, Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62256-8_3

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1 Die Großstadt als Ort der gefährdeten Subjektivität

Dies führt laut Simmel dazu, dass die Dimensionen des großstädtischen Lebens geprägt sind von Unpersönlichkeit und Blasiertheit. 5 Das (Über-)Leben in der Großstadt und die moderne, „objektive Kultur“6 beanspruchen vornehmlich den intellektuellen Geist, und so ist dem Einzelnen als Subjekt kein Raum gegeben für eine seelische Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. An diesem Punkt der Verunsicherung und der Unmöglichkeit der subjektiven Entfaltung entsteht um die Jahrhundertwende in Prag der Mythos einer magischen Stadt. Der Prag-Mythos und das Großstadt-Individuum auf der Suche nach der eigenen Identität stehen in einem bestimmten Zusammenhang, den Claudio Magris in seinem Artikel über Prag als Oxymoron (1980) folgendermaßen umschreibt: Wie jeder Mythos, so verfolgt auch der literarische Mythos von Prag eine wesentliche Identität jenseits der geschichtlichen Veränderung, selbst wenn er aus einem überreichen und vielschichtigen Geschichtsmaterial Nahrung bezieht. […] Der Prag-Mythos stellt eine Sehnsucht der Sehnsucht dar, das Nachtrauern nach einem bloßen Papiergebilde, das die Geschichte bereits zerrissen hat und das man in Wirklichkeit nie besessen hat.7 Der Mythos als Ausdruck einer Rückbesinnung, wie ihn auch Roland Barthes beschreibt8, ist eine Art der Aneignung von empirischer Wirklichkeit, der menschliche Versuch die Dinge verständlich und nachvollziehbar zu machen. Nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren in der Literatur „Bilder“. Die komparatistische Imagologie untersucht die so genannten Imagines (lat. Bilder), die Vorstellung und das Bild vom Anderen (Heteroimago). Diese wiederum ist eng verbunden mit dem Selbstbild der:des Urteilenden (Autoimago) 5 6

7 8

Vgl. ebd. S. 121. Ebd. S. 130. Unter „objektiver Kultur“ versteht Simmel vom Menschen geschaffene Werke, die eine überindividuelle Bedeutung bzw. einen überindividuellen Anspruch haben und den menschlichen Geist in irgendeiner Weise verkörpern. Die Einzelnen können an der „objektiven Kultur“ reifen und sich so in ihrer „subjektiven (bzw. individuellen) Kultur“ weiterentwickeln. Magris, Claudio: Prag als Oxymoron. S. 14. Vgl. hierzu Kapitel Mythotopologie der Schwelle: Prag als Raum des Dazwischen und Roland Barthes Mythen des Alltags.

II Zur Entstehung eines literarischen Mythos

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– dementsprechend ist die Wahrnehmung des Fremden eine Widerspiegelung der Eigenwahrnehmung. In der Komparatistik ist Fremdheit als ein wesentliches Konzept im Rahmen der Kontextualisierung einzelner Texte zu verstehen. Im Folgenden wird erläutert, in welchem Zusammenhang die realtopographische Stadt Prag als Ort der Verunsicherung mit der Imago der Stadt in der Literatur und dem Prag-Mythos steht. Die Imagines der Literatur bilden als Zeichensysteme nicht unbedingt eine außerliterarische „Wirklichkeit“ ab, vielmehr entstehen sie unter einem bestimmten Aspekt der Bedeutung und des Blickwinkels der Darstellung. Als Teildisziplin der Komparatistik untersucht die Imagologie im Sinne einer interkulturellen Hermeneutik solche Fremdwahrnehmungen, Klischees und Stereotypen (eben Imagines) in der Literatur, die das Bild vom anderen Land bzw. von einer anderen Nation prägen. Sie befasst sich mit der „symbolischen Dimension kollektiver Identitätsbildung“9. Die Komparatistin Angelika Corbineau-Hoffmann definiert die Imagologie „als ein textkonstitutiv begründetes Verfahren zur Bildung von Imagines des ‚anderen‘.“ 10 Die sprachlichen Bilder, die auf solche Weise in fiktionalen Texten entstehen, sind komplexe Zeichensysteme. Sie sind Ausdruck eines soziokulturellen Wertesystems, deren wesentlicher Bestandteil das „individuelle oder auch kollektive Imaginäre“ 11 ist, welches in Texten durch Sprache fixiert und in einem Bild festgehalten wird: Dabei ist natürlich die Sprache der Bilder eine sekundäre Sprache, ‚langue‘, weil sie sich der Zeichen bestehender (natürlicher) Sprachen bedienen. Wie das Sprachzeichen ist auch die Sprache der Bilder Repräsentation insofern, als hier etwas für etwas anderes steht […] in einem konkret referentiellen Sinn: Das Bild ist unmittelbare und zutreffende Darstellung einer Idee, einer Vorstellung oder eines Wertesystems, die allesamt ihrer imagologischen Repräsentation vorausgehen. Kurz: Images sind ‚richtig‘ bezogen auf die ihnen zu Grunde liegenden 9 10 11

Burdorf, Dieter; Fasbender, Christoph; Moennighoff, Burkhard (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Stuttgart; Weimar 2010. Eintrag Imagologie, S. 343. Corbineau-Hoffmann, Angelika: Bilder und Stimmen der Stadt. Franz Hessel und Léon-Paul Fargue als ‚Flaneurs‘ in Paris. In: Paris? Paris! Bilder der französischen Metropole. Hrsg. von Gerhard R. Kaiser und Erika Tunner. Heidelberg 2001. S. 441-468, hier S. 442. Ebd. S. 441.

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1 Die Großstadt als Ort der gefährdeten Subjektivität

Vorstellungen, während sie bezogen auf ihren Gegenstand nicht dem Wahr/ Falsch-Kriterium unterliegen.12 In ihrem Artikel Fragmentarität, Fremdheit, Fiktionalität. Literarische Großstadtbilder zwischen Wahrnehmung und Vision (2012) stellt CorbineauHoffmann Überlegungen zum Zusammenhang einer Großstadt der Wirklichkeit und ihrem literarischen Abbild an: Großstädte sind Orte der Differenz. In ihnen wird anderes, Ungewohntes, Unerwartetes erfahrbar, Großstädte sind mit Simmel Räume ungeahnter Freiheit und Bühnen für die Darstellung jeweils persönlicher Eigenart, die man nicht entwickeln darf oder kann, die man vielleicht entwickeln muss. An dieser Stelle ergibt sich ein ‚link‘ zur Literatur. Die Großstädte sind, auch in literarischen Werken, von Differenz, Eigenart und Individualität geprägt. Deshalb führt aus den Städten der Literatur immer ein Weg in die Städte der Wirklichkeit […]. Zwar bilden die Städte der Literatur eine Eigenwelt, in gewisser Weise auch eine Gegenwelt im Vergleich zu den Städten der Wirklichkeit. […] Die Städte der Literatur benötigen aber die Wirklichkeit als Korrelat […].13 Im besonderen Fall der Stadt Prag fällt auf, dass ihr Abbild in der Literatur meist wirklickeitsgetreu „gezeichnet“ wird. Dort wo die Stadt als solche benannt wird, ist sie auch zu erkennen bzw. ihre beschriebene Topographie entspricht in der Regel dem realen Stadtbild. Der Aspekt der Fremdheit kommt am fiktiven Ort Prag nicht durch eine literarische Verfremdung zum Tragen, vielmehr durch eine Entfremdung, die sich wiederum am Subjekt verdeutlicht. Das Prag der Literatur ist ein Ort existentieller Problematik, an dem Fremdheit durch die Ereignisse im Stadtraum und das Innenleben der Figuren zum Ausdruck kommt: „die fremd gewordene Stadt führt zu einer Entfremdung des Ich“14. So wird Prag als Großstadt zu einem „Paradigma der Fremd12 13 14

Corbineau-Hoffmann, Angelika: Bilder und Stimmen der Stadt. S. 443 f. Corbineau-Hoffmann, Angelika: Fragmentarität, Fremdheit, Fiktionalität. Literarische Großstadtbilder zwischen Wahrheit und Vision. Hrsg. von Peter Johanek. Wien; Köln; Weimar 2012. S. 180. Corbineau-Hoffmann, Angelika: Fragmentarität, Fremdheit, Fiktionalität. S. 177.

II Zur Entstehung eines literarischen Mythos

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heit“15. Dieses „Paradigma der Fremdheit“ gilt weiterhin in der Kulturwissenschaft als ein „Katalysator im Verstehensprozess des Eigenen“ 16, was wiederum die Relation zur Eigenwahrnehmung des Subjekts verdeutlicht. Prag wird in der Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts zwar selten unter dem Aspekt einer sich modernisierenden Großstadt dargestellt, jedoch offenbart sich das Gefühl der Verunsicherung des Großstadt-Subjekts deutlich in der Konzeption seiner Figuren. Die Darstellung der Stadt speist sich dabei aus ihrer historischen Vergangenheit. Aus der Auseinandersetzung mit der verunsichernden Gegenwart im Lebensraum Prag entsteht eine Rückwendung in dessen Geschichte. Im Folgenden wird ein konkreter Zusammenhang zwischen der realen Stadt Prag der Jahrhundertwende und ihrem Abbild in der Literatur hergestellt. Unter Berücksichtigung des zeitgeschichtlichen Kontextes wird die Darstellung der Stadt über ihre historische Vergangenheit hergeleitet und in diesem Zusammenhang die Entstehung des literarischen Prag-Mythos. Dabei wird ersichtlich, dass das literarische Bild der Stadt in engem Zusammenhang mit der Wahrnehmung des Subjekts steht. Diese Beziehung zwischen Subjekt und Stadt und die damit verbundene literarische Konzeption der Protagonist:innen sowie die Interpretationen einzelner Darstellungen wird im Abschnitt Topologie der Entfremdung: Die Stadt als Seelenspiegel genauer dargelegt. Bezüglich der Entstehung des literarischen Prag-Mythos lassen sich zunächst drei unterschiedliche Tendenzen ausmachen, in denen die Stadt als „magisch“ semantisiert wird. Dabei ist die Gegenüberstellung des Stadtbildes in unterschiedlichen nationalphilologischen Texten besonders interessant, also die Unterscheidung von Auto- und Heteroimago: Abhängig von der jeweiligen Perspektive sowie Entstehungszeit weisen die Texte bestimmte Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede auf. Zunächst erscheinen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vereinzelt literarische Darstellungen, die von „fremden“, internationalen Besucher:innen verfasst wurden, die Stadt also aus einem heteroimagi15 16

Ebd. S. 169. Rolshoven, Johanna: Fremdheit is ordinary. Kulturthema Fremdheit in der kritischen Kulturwissenschaft. In: Grosch, Nils; Zinn-Thomas, Sabine (Hrsg.): Fremdheit – Migration – Musik. Kulturwissenschaftliche Essays für Max Matter. Münster 2010. S. 11-21, hier S. 16.

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1 Die Großstadt als Ort der gefährdeten Subjektivität

nativen Blickwinkel beschreiben. Um die Jahrhundertwende gibt es eine Reihe tschechischer Werke, welche die Literaturwissenschaftlerin Daniela Hodrová als „desillusionierte patriotische Romane“17 bezeichnet. Nicht zuletzt ist die Prager deutschsprachige Literatur zu nennen, für die der Prag-Mythos regelrecht als Konzept zu verstehen ist, und dank derer das Bild einer „magischen“ Stadt schließlich populär geworden ist.

17

Vgl. Hodrová, Daniela: Místa s tajemstvím [Orte mit Geheimnis]. Prag 1994. S. 95 ff.

II Zur Entstehung eines literarischen Mythos

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2 Heteroimago einer phantastischen Stadt Čistými realisty nejsou pražští básníci vlastně nikdy; jejich smysl je zabarven romanticky: zreálňují fantastiku a zfantastičťují realitu; v povahách a příbežích hledají fantastický prvek. […] Praha, gigantický protihráč tragikomických osudů […] vrhá na pitvorné hemžení zvláštní neklidné světlo. Ba, atmosféra města bývá pro tyto básníky namnoze věcí nejdůležitější; hledí ji zachytit a daří se jim ji zachytit intenzívněji než konkrétní lidské figury; genius loci se v jeich dílech zhmotňuje, oživuje, dýchá. [Vojtěch Jirát18]

Zunächst lassen sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts einige Prosatexte ausmachen, welche aus der Feder von Reisenden stammen, die Böhmen mit seiner ruhmreichen Hauptstadt besuchten: Von der alten Stadt mit ihren Kirchen, Synagogen, Friedhöfen und verwinkelten Gassen waren sie auf besondere Weise fasziniert, dort vermischten sich „[d]iffuse Gefühle von Fremdheit, Geschichte und spukhafter Bedeutsamkeit“19. Prag wird zum semantisch aufgeladenen Schauplatz geheimnisvoller Ereignisse, mit finsteren, gespenstischen Gestalten in dunklen Gassen und auf dem Alten Judenfriedhof: Mit der fortschreitenden Modernisierung Prags entstand eine internationale Literatur über die Stadt, in deren Texten ihr magischer Reiz, ihre mystische Qualität zelebriert wurden. Die zeitgenössischen Tschechen, die sich auf den kommerziellen, technischen und politischen Fortschritt konzentrierten, feierten Zlatá Praha, die goldene slawische Stadt vergangener und künftiger Großtaten, englische, deutsche und amerikanische Autoren auf Europareise hingegen ließen sich wieder von der 18

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Jirát, Vojtěch: Hlas Prahy v českém písemnictví. [Die Stimme Prags im tschechischen Schrifttum] In: Ders.: Duch a tvar. [Geist und Gestalt] Prag 1967. S. 81-93, hier S. 83 f. Dt.: Die Prager Dichter sind eigentlich niemals wirkliche Realisten; ihr Sinn ist romantisch verfärbt: sie verwirklichen Phantasterei und erfinden Realität; in den Charakteren und Geschichten suchen sie ein phantastisches Element. […] Prag, ein gigantischer Gegenspieler tragischkomischer Schicksale […] wirft auf das fratzenhafte Gewimmel ein sonderbar unruhiges Licht. Ja sogar die Atmosphäre der Stadt ist diesen Dichtern häufig die wichtigste Sache; sie versuchen sie zu fassen und gelingt es ihnen so bewahren sie sie noch intensiver als konkrete menschliche Figuren; der genius loci vergegenständigt sich in ihren Werken, wird zum Leben erweckt, atmet. Demetz, Peter: Prag in schwarz und in gold. S. 472.

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2 Heteroimago einer phantastischen Stadt

metaphysisch merkwürdigen und geisterhaften Stadt alter Kirchen und Synagogen verzaubern und gingen pflichtbewusst durch die alten Straßen und zum legendären Judenfriedhof.20 So wurden diese Orte zu Schauplätzen der Schattenseiten der Stadt, an denen sich Okkultes und Übersinnliches ereignet. Peter Demetz spricht in seinem Essay über Die Legende vom magischen Prag (1994) von einer „Kristallisation des Mythos vom phantastischen Prag in einer Gruppe oder gar kleinen Bibliothek von Romanen des europäischen fin-de-siècle“21: Diese Autoren, ob sie das wußten oder nicht, unternahmen den Versuch den älteren Schauerroman (man darf ihn auch the gothic novel oder schwarzromantisch nennen) in Prag zu lokalisieren. Der Prozeß der Lokalisierung war in Prag einfacher und gründlicher zu bewältigen als in München oder Berlin, denn die Schriftsteller waren in der vorteilhaften Lage, lang tradierte historische und legendäre Motive mobilisieren zu können und ihre Sache durch Antezedenten zu stärken. Prag war ein schauriger Ort, eben weil es schon lokale Schauergeschichten gab, und zu den alten wie den neuen gehörte ein fester Personenstand – der Golem, der Ewige Jude, Rabbi Löw, Rudolf II. – und besondere Szenarien und Kulissen, winkelige Straßen, abgelegene Orte, Klöster, Synagogen, Friedhöfe und Gefängnisse, dazu schicksalhafte Begegnungen, melodramatische Todesfälle, okkulte Kräfte und die jüdisch-exotischen Ingredenzien, die auch die Antisemiten nicht missen wollten.22 Interessanterweise ist ein Großteil der bekanntesten dieser Texte von deutschen, englischen und amerikanischen Autor:innen als Novellen verfasst worden. Laut Johann Wolfgang Goethe zeichnet sich die Novelle durch das Ereignis einer „unerhörte[n] Begebenheit“23 aus. Demnach wird mit der Wahl des Genres bereits auf eine Besonderheit des fiktiven Prags hingewiesen: Das Überschreiten der Grenzen der Wahrscheinlichkeit macht den grundlegenden 20 21 22 23

Ebd. Demetz, Peter: Die Legende vom magischen Prag. In: Transit. Europäische Revue. Heft 7. Frühjahr 1994. S. 142-161, hier S. 154. Demetz, Peter: Die Legende vom magischen Prag. S. 154 ff. Goethe, Johann Wolfgang von: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Peter Eckermann bzw. Ernst Beutler. Zürich 1948. Gespräch vom 29. Januar 1827, S. 225: „was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“.

II Zur Entstehung eines literarischen Mythos

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Charakter dieser Texte aus. Beispielsweise handelt die Novelle The Lifted Veil der englischen Romanschriftstellerin George Eliot, die sie unmittelbar nach ihrem ersten Aufenthalt in Prag 1859 verfasst, von übersinnlichen Visionen, bizarren Bluttransfusionen und okkulten Wissenschaften. Ein beispielhafter Text für die Heteroimago Prags und den Prag-Mythos ist Wilhelm Raabes Holunderblüte (1862/ 63), in der ein Medizinstudent von der Begegnung mit einer Nachfahrin des berühmten Rabbi Löw auf dem Alten Jüdischen Friedhof wie verzaubert ist: „[W]er konnte sagen, ob an dieser geisterhaften Stelle nicht andere Regeln der Geisterwelt galten als anderwärts? […] Aber der Zauber lag einmal auf mir, und es war ein mächtiger Zauber und sollte ein böser Zauber werden.“24 Darüber hinaus sind die Novelle Innocens (1865) von Ferdinand von Saar oder der Schauerroman The witch of Prague. A fantastic tale (1891) von Francis Marion Crawford zu erwähnen. Letzterer handelt von einem Wanderer, der unermüdlich und rastlos auf der Suche nach seiner Geliebten in Prag umherirrt und von der Hexe Unorna verzaubert wird. Im Grunde zeichnen sich bereits in diesen Texten die signifikantesten Motive und Topoi ab, welche später auch das Bild der Stadt in der Prager deutschsprachigen Literatur prägen sollten und den Mythos eines magischen Prag konstituieren. Die Stadt hinterlässt bei ihren Besucher:innen seit vielen Jahrhunderten einen starken und nachhaltigen Eindruck. In Anlehnung an die Weissagung der Fürstin Libuše über den Ruhmreichtum Prags gibt Vincy Schwarz 25 im Jahr 1940 mit Město vidím veliké... Cizinci o Praze (Ich sehe eine große Stadt... Fremde über Prag) eine chronologische Sammlung von Prag-Texten heraus. Es handelt sich dabei um Reflexionen aus fremdländischen Berichten, Briefen und 24 25

Raabe, Wilhelm: Holunderblüte. In: Sämtliche Werke. Neunter Band. Erster Teil. Hrsg. von Karl Hoppe. Göttingen 1974. S. 98 f. Bis heute gilt der deutsche Publizist und Literaturagent Vincy (Vizenz) Schwarz als Herausgeber einiger Anthologien, an denen wahrscheinlich Pavel Eisner maßgeblich mit beteiligt war. Eisner selbst konnte in den Jahren der Okkupation nur eingeschränkt oder unter Pseudonymen publizieren. Vgl. hierzu Beitrag von Řehák, Daniel: Ein Nachlass zu Lebzeiten. Eisners Schaffen während der Okkupation (Eisners Mitarbeit an Anthologien). In: Ines Koeltzsch; Michaela Kuklová; Michael Wögerbauer (Hrsg.): Vermittler zwischen den Kulturen. Der Prager Publizist Paul/ Pavel Eisner. Köln; Weimar; Wien 2011. S. 87-108, hier S. 92.

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2 Heteroimago einer phantastischen Stadt

Beobachtungen von Reisenden, darunter finden sich auch Auszüge aus den wenigen, bereits genannten fiktionalen Texten. Im Vorwort über die „Stadt des Lichtes“ (Město světla) zieht Václav Vojtíšek einen Vergleich zur Darstellung Prags in der Malerei. Er schreibt darüber, dass die Werke in Prag lebender Künstler eine ergebene Verneigung vor der Erhabenheit und der Mächtigkeit der Stadt und ihrer heiligen Geschichte sind, Ausdruck eines tiefen Verständnisses und der ewigen Liebe. Die Darstellungen von stadtfremden Künstler hingegen seien mit harter Hand und nüchternem Geist gezeichnet: Cizí umělci se také dávají strhnouti Prahou a jsou jí nadšeni. Avšak na jejich obrazech je nápadné, jak spíše tvrdou rukou a střízlivou myslí vyzdvihují zvláštnosti, nápadnosti, ba podivnosti, s kterou se jim Praha v srovnání s jejich vlastí a s jinými městy představuje. Proto bývá v jejich tazích i barvách až nepřirozenost, někdy přemrštěnost, umělkovanost, bizarnost; kde je stáří, nanášejí omšelou starožitnost, kde památka dotčená zubem času, vidí ruinu, kde velkolepost, cítí tíhu, kde šerý, odlehlý kout, všednost, mají dojem bídy a ozve se pohrdání nebo soucit. Vše je u nich jiné, zdi i lidé, a z jejich kreseb i maleb jde chlad. To proto, že je nevede pravá znalost Prahy, podložená odvěkými vztahy, to proto, že okamžité vzplanutí, sympatie, podiv, závažnost úkolu není s to, aby dala požehnání duchu i ruce.26 Auch wenn Vojtíšeks Urteil sicherlich nicht ganz objektiv ist, trifft es dennoch einen wesentlichen Kern: Kunst sagt als Dokument weniger etwas über das Dargestellte an sich, als über das kunstschaffende Subjekt und seine Bezie26

Schwarz, Vincy (Hrsg.): Město vidím veliké... Cizinci o Praze. Prag 1940. S. 9. Dt.: Fremde Künstler lassen sich auch von Prag hinreißen und sind von der Stadt begeistert. Jedoch fällt in ihren Bildern auf, dass sie eher mit harter Hand und nüchternem Geist die Eigentümlichkeiten und Auffälligkeiten hervorbringen, ja sogar die Besonderheiten, mit denen sich ihnen Prag im Vergleich zu ihrer eigenen Heimat und anderen Städten darstellt. Darum erscheinen ihre Züge und Farben bisweilen unnatürlich, manchmal übertrieben, künstlich, bizarr; wo etwas Altes vorkommt, tragen sie eine altersschwache Antiquiertheit auf, wo ein Denkmal den Zahn der Zeit berührt, sehen sie eine Ruine, wo Großartigkeit ist, fühlen sie eine Schwere, wo ein Halbdunkel entlegener Ecken ist, Alltäglichkeit, haben sie den Eindruck von Elend und es entsteht Verachtung oder Mitleid. Alles ist bei ihnen anders, die Wände und die Menschen, und von ihren Zeichnungen und Gemälden geht eine Kälte aus. Deswegen, weil sie nicht die wirkliche Kenntnis der Stadt Prag leitet, die auf ewigen Verbindungen gründet, deswegen, weil das augenblickliche Entflammen, die Sympathie, das Erstaunen der Gewichtigkeit der Aufgabe nicht gewachsen ist, den Geist und die Hände zu segnen.

II Zur Entstehung eines literarischen Mythos

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hung zum Dargestellten aus. Die Wahrnehmung und die Darstellung der Stadt sind abhängig vom Blickwinkel und vom Vorwissen bzw. von der „Beziehung“ der jeweiligen Künstlerin oder des Künstlers zum Objekt. So wie die Perzeption des Fremden oder des Anderen eng verbunden ist mit dem Selbstbild der:des Wahrnehmenden, so widerspiegelt sich im Stadt-Bild die Beziehung der Autorin oder des Autors zur Stadt. Die (Hetero)Imago, die sich in diesen Prag-Texten abzeichnet, ist die einer düsteren, geheimnisvollen Stadt. Prag wird als ein Ort dargestellt, an dem tatsächlich magische Kräfte wirken, die in dem Ereignis einer „unerhörten Begebenheit“ zum Ausdruck kommen. In den genannten Texten offenbart sich die Magie durch Ereignisse, die den menschlichen Verstand übersteigen und daher übernatürlich, unerklärlich oder mystisch erscheinen. Ein weiterer Text, der beispielhaft ist für die Darstellung der Stadt Prag aus einer heteroimaginativen Perspektive, ist Le passant de Prague (Der Wanderer von Prag, 1902) von Guillaume Apollinaire. Diese kurze Erzählung über den Besuch eines Franzosen in Prag entfacht namentlich bei dem Surrealisten Vitězslav Nezval ein ganz besonderes Gefühl bezüglich seiner Wahrnehmung von Prag. In seinem Buch Pražský chodec (Der Prager Spaziergänger, 1938) beschreibt er, wie er inspiriert durch Apollinaire zu einem Prager Spaziergänger wurde: „Übrigens war es Apollinaire, der seine Prosa über Prag so genannt hat und – ich zögere nicht, es zu sagen – zu den ersten gehörte, die in mir an der Geburt dessen beteiligt waren, was ich als ‚neues Gefühl‘ bezeichne.“ In diesem Fall ist es also ein Fremder, der einen Prager Künstler dazu anregt, seine Stadt mit neuen Augen zu sehen. Entgegen der Behauptung von Vojtíšek ist es also durchaus möglich, die Stadt in einer „magischen“ Weise darzustellen, ohne als Künstler:in selbst eine tiefere Beziehung zu Prag zu pflegen, zumal diese persönliche Beziehung der Autor:innen zum Objekt Prag nicht unbedingt nachvollziehbar ist, wenn sich darüber nicht ausdrücklich geäußert wurde. In Hinblick auf die Entstehung des Prag-Mythos offenbart sich diese jedoch sehr deutlich in den Texten von Autorinnen und Autoren, für die Prag Heimatstadt war oder zumindest den Lebensmittelpunkt darstellte. Die Frage ist vielmehr, ob die Art der Darstellung der Stadt tatsächlich in Ab-

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hängigkeit von der Herkunft der Autorin oder des Autors differiert. Die folgenden Kapitel geben einen Überblick über die Werke von Prager Schriftsteller:innen der Jahrhundertwende und deren zeitgeschichtlichen Kontext. Dabei wird die Darstellung und Semantisierung der Stadt in tschechischen und in deutschen Texten herausgearbeitet und miteinander verglichen. In der Forschung wurde die Prag-Literatur der Jahrhundertwende bisher in einem engen Zusammenhang mit entstehenden Identitätsbildungen der drei Prager Bevölkerungsgruppen gesehen. Der Stadt wird dabei ein symbolischer Raum zugeschrieben, der in den einzelnen Texten nicht immer unbedingt konkret nachvollziehbar ist. Im Folgenden geht die Untersuchung der Frage auf den Grund, inwiefern der literarische Prag-Mythos des 20. Jahrhunderts auf die Inszenierung der Schriftsteller:innen selbst und eine teilweise einseitige Konzentration der Forschung auf die Prager deutschsprachige Literatur zurückgeführt werden kann.

II Zur Entstehung eines literarischen Mythos

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3 „Tripolis Praga“? Zur Konstruktion nationaler und kultureller Identität Prag war ernst und kämpferisch, uralter Ausgangspunkt von Religions- und Überzeugungskonflikten und von Rebellionen gegen hochgetürmte Autoritäten wie Papst und Kaiser. Das Wissen um den Grundcharakter Prags prägte das Ethos der Autoren, sie mochten nun Tschechen oder Deutsche, Juden oder Christen gewesen sein. 27 [Johannes Urzidil]

Die Darstellung der Stadt in den Texten der Prager Schriftstellerinnen und Schriftsteller ist aus einem zeitgeschichtlichen Kontext heraus zu verstehen. Um die Jahrhundertwende befindet sich die Bevölkerung in Prag in einer angespannten Lage. Die Atmosphäre dieser Zeit ist geprägt von einem sich emanzipierenden Nationalempfinden dreier Kulturen, welche in der Stadt jahrhundertelang neben- und miteinander lebten: der tschechischen, der deutschen und der jüdischen. Aufgrund dieser drei Bevölkerungsgruppen wird die Stadt retrospektiv häufig als Tripolis (vom griechischen Τρίπολις für „drei Städte“) bezeichnet, so zum Beispiel in der Ausstellung und dem dazugehörigen Katalogbuch Tripolis Praga. Die Prager Moderne um 1900 von Walter Schmitz und Ludger Udolph aus dem Jahr 2001. Diese Bezeichnung einer dreigeteilten Stadt evoziert die Vorstellung einer Segregation, welche derart in Prag nicht unbedingt nachzuweisen ist. In den letzten Jahren wurde in der Forschung mehrfach darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser scharfen Grenzziehung um eine soziale und kulturelle Konstruktion von Räumen handelt. Die einzelnen Kulturwissenschaften bemühen sich inzwischen um einen transkulturellen Zugang zum Prag der Jahrhundertwende. 28 Allerdings stellt 27 28

Urzidil, Johannes: Der lebendige Anteil des jüdischen Prag an der neueren deutschen Literatur. Essay. In: Bulletin des Leo Baeck Institute. Leo Baeck Institute. Tel Aviv 1967. S. 280. Gegenwärtig existiert ein interdisziplinärer, internationaler Forschungsverbund, Prag als Knotenpunkt europäischer Moderne(n) unter der Mitarbeit u. a. von Prof. Dr. Manfred Weinberg und Georg Escher, der sich um einen neuen Blick auf die kulturelle Situation in Prags im frühen 20. Jahrhundert bemüht und versucht, diese klaren Separierung der kulturellen Sphären „des Deutschen“ und „des Tschechischen“ aufzubrechen. Weiterhin befassen sich die Publikationen Wachposten und Grenzgänger. Deutschsprachige Autoren in Prag und die öffentliche Herstellung nationaler Identität (2009) von Vera Schneider oder von Ines Koeltzsch Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in

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3 „Tripolis Praga“?

gerade diese Konstruktion kultureller Stadträume einen Grundpfeiler des Prag-Mythos dar, der über das 20. Jahrhundert hinweg das Bild der Stadt geprägt hat. Im Folgenden wird die gemeinsame Vergangenheit und das Nebeneinander dieser drei Bevölkerungsgruppen über einen historischen Zugang hergeleitet. So soll veranschaulicht werden, aus welchem Selbstverständnis heraus die Prager Schriftstellerinnen und Schriftsteller sich selbst stilisiert und die Stadt in ihren Werken entsprechend semantisiert haben. Es wird untersucht, inwiefern dieses Bild Produkt einer kulturellen (bzw. „nationalen“ 29) Abgrenzung und Besetzung städtischen Raumes ist. Welche Aspekte des Prag-Mythos lassen sich tatsächlich auf die Literatur der Jahrhundertwende zurückführen und welche sind Produkt einer einseitigen Interpretation der Prag-Literatur und stellen somit selbst einen Teil des Mythos dar? Es soll deutlich gemacht werden, dass gerade der Mythos in seiner Auffassung als solcher von Wirklichkeit keine differenzierte Anschauung liefern kann, sondern vielmehr eine stereotype Vereinfachung darstellt – ähnlich, wie auch in der Literatur das Bild vom Anderen entworfen wird. Die tschechische Nationalbewegung führte ab 1848 30 zu einem zunehmenden politischen Progress der tschechischen Bevölkerung innerhalb Böhmens. Dementsprechend erstarkte auch ein tschechisches Nationalgefühl. Dies wurde jedoch seitens Österreich-Ungarns nicht unterstützt, und so wuchs unter der tschechischen Bevölkerung gleichzeitig der Unmut gegen die Habsburger Monarchie. Weiterhin hatten die innerböhmischen Entwicklungen unter dem Ministerpräsidenten Graf Kasimir Felix von Badendi 31 zur Folge, dass sich wiederum die deutsche Bevölkerung in Prag (und Böhmen) einer zunehmenden „Desintegration“32 zwischen den einzelnen Bevölkerungsteilen ausgesetzt sah. Die deutsche Kultur war in Prag bis dato historisch tief verwurzelt und 29 30 31

Prag (2012). Im Zuge des sich emanzipierenden Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert wurde in Prag auch die jüdische Bevölkerung als eigene Nation anerkannt. Innerhalb der Revolution von 1848/ 49 wurde auf dem so genannten Slawenkongress die Umwandlung der Donaumonarchie in einen Bund gleichberechtigter Völker gefordert. Die Sprachverordnung der Badeni-Regierung aus dem Jahr 1897 besagt, dass Beamt:innen aller staatlichen Behörden in Böhmen sowohl der deutschen als auch der tschechischen Sprache mächtig sein mussten, womit sich die meist bilinguale tschechische Bevölkerung erheblichen im Vorteil befanden.

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wurde gemeinhin als führend verstanden. Deutsche Siedelnde gab es in Böhmen bereits seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr.33, und sie waren erheblich an der Entwicklung der ersten größeren böhmischen Städte beteiligt. Insbesondere unter Kaiser Karl IV. gewann das Prager „Deutschtum“ an Einfluss. Als römisch-deutscher Kaiser und König von Böhmen machte er Prag im 14. Jahrhundert zur Haupt- und Residenzstadt des Heiligen Römischen Reiches. Unter der Herrschaft Karls IV. wurde Prag zu einem geistigen und kulturellen Zentrum, zur „Goldenen Stadt“, unter anderem durch die Gründung der Karls-Universität im Jahre 1348 und durch die Veranlassung vieler architektonischer Meisterwerke, die bis heute das Stadtbild prägen. Karl IV. begann beispielsweise den Bau des prächtigen St. Veitsdomes auf dem Hradschin und ließ die berühmte steinerne Karlsbrücke über der Moldau errichten. Über die Jahrhunderte hinweg kam es in Prag aber auch immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen der deutschen und der böhmischen Bevölkerung. Die historischen Höhepunkte stellen dabei die Hussitenkriege (14191439) und die so genannte Schlacht am Weißen Berg im Dreißigjährigen Krieg (Bílá hora, 1620) dar. Die Hussitischen Kreuzzüge waren eine revolutionäre Bewegung, die sich unter dem Reformator und Volkshelden Jan Hus herausbildete. Diese Revolte der böhmischen Bevölkerung gegen die deutsche Vorherrschaft im 15. Jahrhundert versteht der Historiker František Palacký als „Emanzipation des Menschengeistes von der mittelalterlichen Autorität“34. 32 33

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Vgl. Deutsche, Tschechen, Böhmen. Kulturelle Integration und Desintegration im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Steffen Höhne und Ludger Udolph. Köln; Weimar; Wien 2010. Eine nennenswerte Einwanderung von Deutschen begann allerdings erst im zwölften Jahrhundert, die durch zahlreiche politische, dynastische, kirchliche und wirtschaftliche Beziehungen und Bindungen begünstigt wurde. Auf Grund dieser deutschsprachigen, meist bäuerlichen Siedlungsgebiete gab es seit dem Mittelalter verschiedene deutsche Dialekte in Böhmen, sodass bereits unter der Herrschaft des Přemysliden-Geschlechts (ab Ende des 9. Jahrhunderts bis etwa 1300) die lateinische, deutsche und tschechische Sprache nebeneinander gesprochen wurden. Zu den verschiedenen Phasen sowie Einflüssen und der Entwicklung des Prager Deutsch vgl. Skála, Emil: Das Prager Deutsch. in Zeitschrift fuer deutsche Sprache. Band 22 Heft 1/ 2. Hrsg. von Werner Betz. Berlin 1967 (S. 84-91) oder auch Po lenz, Peter von: Zurückdrängung slawischer Sprachen. In: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Band I, 14. und 16. Jahrhundert. Berlin; New York 2000. S. 275-281. Zitiert nach: Eberhard, Winfried: Jan Hus und Martin Luther. In: Deutsche und Tschechen. Geschichte – Kultur – Politik. Hrsg. von Walter Koschmal, Marek Nekula und Joachim

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3 „Tripolis Praga“?

Dementsprechend bildeten diese langen und zehrenden Kämpfe, aus denen schließlich der böhmische Adel als Sieger hervorging, eine „Grundlage für den Stolz der tschechischen Nation“35. In der Schlacht am Weißen Berg hingegen unterlagen die protestantischen böhmischen Stände den katholischen Reichsständen des Heiligen Römischen Reiches. Auch diese Niederlage bedeutet wiederum für das spätere Selbstverständnis der tschechischen Bevölkerung ein einschneidendes historisches Ereignis. Zu einem weiteren Höhepunkt deutsch-tschechischer Auseinandersetzungen kam es schließlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Herausbildung der Idee und des Selbstbildes einer Nation und einem daraus hervorgehenden Bedürfnis nach kollektiver Identität.36 Bisher waren die Gründe für die genannten Kämpfe in Prag eher konfessionelle und ständische Auseinandersetzungen gewesen. Indessen entstand aus dem Nebeneinander deutscher und tschechischer Bevölkerung im Rahmen eines sich emanzipierenden Nationalbewusstseins ein tatsächlicher Nationalitätenkonflikt. Die Bedeutung der tschechischen Unabhängigkeitsbewegung von der konservativen österreichisch-ungarischen Staatsgewalt lässt sich am erbitterten Kampf um nationale und staatliche Autonomie ablesen. Die tschechische Bevölkerung empfand die enge Kooperation zwischen dem Deutschen Reich und der Habsburger Monarchie als Bedrohung für die Entwicklung ihrer nationalen Identität. Dementsprechend intensivierten sich auch auf beiden Seiten die Feindbilder, und Deutsche in Prag bedeuteten für die sich emanzipierende tschechische Bevölkerung nunmehr eine „Bedrohung des nationalen Kollektivs im geografischen Raum“37. Diese Spannungen zwischen Deutschböhmen und Tschechen spitzten sich Ende der 1870er Jahre zu, und die Konflikte eskalierten schließlich in Aufständen, öffentlichen Übergriffen und regelrechten Kleinkriegen. Im

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Rogall. München 2001. S. 50-56, hier S. 51. Eberhard, Winfried: Jan Hus und Martin Luther. S. 52. Vgl. Petrbok, Václav; Randák, Jan: Die Stadt als realer und symbolischer Raum der nationalen Identität. Prag an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In: Praha-Prag 1900-1945. Literaturstadt zweier Sprachen. Hrsg. von Peter Becher und Anna Knechtel. Passau 2010. S. 31-62. Vgl. Petrbok, Václav; Randák, Jan: Die Stadt als realer und symbolischer Raum der nationalen Identität. S. 35.

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Zuge der Sprachverordnungen der Badeni-Regierung, welche die tschechische Sprache neben der deutschen zur Behördensprache erhob, gab es verstärkt Massenproteste und Versammlungen in Prag. Ihren Höhepunkt erreichten diese am 27. November 1897, als es nach der Bekanntgabe vom Sturz Badenis zu öffentlichen deutschen Freudenkundgebungen auf dem Wenzelsplatz (Václavské náměstí) kam, die schließlich in schweren Ausschreitungen endeten. Die ‚Sprachenfrage‘ gilt als Schlüssel zur Erklärung der Schwierigkeiten im Zusammenleben von Deutschen und Tschechen in den böhmischen Ländern am Ende des 19. Jahrhunderts. Beide Nationen […] definieren sich in diesen Jahrzehnten insbesondere über Sprache, Kultur und Tradition.38 Indessen veränderte sich das Verhältnis der Bevölkerungsanteile in Prag mit der Entwicklung der ehemaligen Provinzstadt zur Metropole. Die rapide Industrialisierung verursachte eine starke Migrations- und Fluktuationsbewegung, die wiederum zu sozialen und demographischen Verschiebungen führte. Gründe dafür waren die Eingemeindungen der umliegenden Dörfer und hauptsächlich die Zuwanderung tschechischer Arbeiter:innen vom Land. Während die Bevölkerung in den historischen Stadtbezirken I – VII allmählich zurückging, wuchs sie in den Vororten stark an. 39 Der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung nahm derweil rapide ab: Gaben Mitte des 19. Jahrhunderts noch etwa 40 % der Pragerinnen und Prager Deutsch als Umgangssprache an, so ging zwischen 1880 und 1900 der Bevölkerungsanteil der Deutschsprechenden von etwa 15,5 % auf 7,5 % zurück. 1910 waren es schließlich nur mehr 6,1%. 40 Dabei ist interessant, dass die deutsche Bevölke38

39 40

Luft, Robert: Sprache und Nationalität an Prager Gymnasien um 1900. In: Brücken nach Prag. Deutschsprachige Literatur im kulturellen Kontext der Donaumonarchie und der Tschechoslowakei. Hrsg. von Klaas-Hinrich Ehlers, Steffen Höhne, Václav Maidl, Marek Nekula. Frankfurt am Main 2001. S. 105-125, hier S. 105. Vgl. Koeltzsch, Ines: Die gezählte Stadt. Tschechen Juden und Deutsche im Prager Zensus (1900-1930). In: Praha-Prag 1900-1945. S. 9-20. Vgl. Hausmann, Heiko: Das jüdische Prag (1850-1914) In: Die Juden als Minderheit in der Geschichte. Hrsg. von Bernd Martin und Ernst Schulin. München 1981. S. 209-230, hier S. 212. Weiterhin: Csáky Moritz: Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien

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rung größtenteils aus einer modernen Intellektuellenschicht bestand, also Schriftsteller:innen, Lehrer:innen, Juristen:innen, Übersetzer:innen, Journalisten:innen, Künstler:innen und Studierenden diesen Bevölkerungsteil ausmachten.41 Dementsprechend beschreibt auch der „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch das „deutsche Prag“: Wer keinen Titel hatte und nicht reich war, gehörte nicht dazu. Das deutsche Prag! Das waren fast ausschließlich Großbürger, Besitzer der Braunkohlegruben, Verwaltungsräte der Montan-Unternehmungen und der Skodaschen Waffenfabrik, Hopfenhändler, die zwischen Saaz und Nordamerika hin- und herfuhren, Zucker-, Textil- und Papierfabriken sowie Bankdirektoren; in ihrem Kreis verkehrten Professoren, höhere Offiziere und Staatsbeamte. Ein deutsches Proletariat gab es nicht. Die 25.000 Deutschen, nur 5 % der Bewohnerschaft Prag, besaßen zwei prunkvolle Theater, ein riesiges Konzertgebäude, zwei Hochschulen, fünf Gymnasien und vier Oberrealschulen, zwei Tageszeitungen, die morgens und abends erschienen, große Vereinsgebäude und ein reges Gesellschaftsleben.42 Die meisten Deutschen arbeiteten in Behörden und Banken, während es kaum eine deutsche Arbeiter:innenschaft gab. Um die Jahrhundertwende lebten also laut diesen Zahlen in Prag neben 500.000 Tschechen nur mehr etwa 25.000 Deutsche. Immer wieder wird in der Lektüre über das Prag des beginnenden 20. Jahrhunderts auf diese Bevölkerungsstatistiken hingewiesen, die jedoch nicht unbedingt als besonders verlässlich einzustufen sind, wie die Historikerin Ines Koeltzsch in ihrer Dissertation Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (2012) sehr anschaulich nachgewiesen hat. Die Zahlen entnimmt die Forschung den damals sehr populären Volkszählungen, die mit der Entstehung der Demografie als moderner Bevölkerungswissenschaft in regelmäßigen Abständen durchgeführt

41 42

und die urbanen Milieus in Zentraleuropa. Wien; Köln; Weimar 2010 S. 328. Vgl. Koeltzsch, Ines: Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918-1938). München 2012. S. 179. Kisch, Egon Erwin: Deutsche und Tschechen. In: Einladung nach Prag. Hrsg. von Traugott Krischke. München; Wien 1966. S. 42-46, hier S. 43.

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wurden.43 Vielen Pragerinnen und Pragern war aber aufgrund der jahrhundertelangen gemeinsamen Vergangenheit und binationalen Eheschließungen eine eindeutige ethnische Eigenzuordnung gar nicht möglich. Nationalität wurde in den Volkszählungen durch die Muttersprache festgelegt. Es gab auch die Möglichkeit, sich der „jüdischen Nationalität“ zu bekennen, deren Definition allerdings umstritten war, da sich diese schwerlich über die Muttersprache bestimmen lässt. Außerdem war es den Befragten nicht möglich, mehrere Umgangssprachen zu nennen, was allerdings auf viele Prager Bewohner:innen sicherlich zutraf. In einem weiteren Artikel über Die gezählte Stadt weist Ines Koeltzsch darauf hin, dass die Volkszählungen im Zuge der Ethnisierungsprozesse ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sehr eng mit bestehenden kulturellen und nationalen Leitbildern in Verbindung standen, deren sich „Experten“ entsprechend bedienten und die dadurch fortgeschrieben wurden.44 Die Komplexität sprachlich-kultureller, religiöser und nationaler Identitäten in politisch und sozial unterschiedlich verfassten Gesellschaften war für die Volkszählungsexperten ein Hindernis in ihrem Bestreben, Kollektive zu konstruieren, die sich durch eindeutig ethisch-nationale und konfessionelle Trennungslinien abgrenzen ließen.45 In diesem Bestreben, die Prager Bevölkerung statistisch zu definieren, geht es um nationale Abgrenzung und die Konstruktion ethisch-nationaler Volksgruppen, die als solche in einem Raum wie Prag nicht genau voneinander abzugrenzen waren. Der jüdische Prager Philosoph Vilém Flusser blickt beispielsweise folgendermaßen auf seine Vergangenheit im multiethnischen Prag zurück: „Selbstredend, man war Prager, das stand nicht in Frage. […] Aber war man als Prager Tscheche, Deutscher oder Jude? […] Musste man sich zwischen diesen Alternativen entscheiden, oder waren sie irgendwie gegeben?“ 46 Darüber hinaus weist der deutsche Prager Schriftsteller Johannes Urzidil in

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Vgl. Koeltzsch, Ines: Geteilte Kulturen. S. 29 ff. Vgl. Koeltzsch, Ines: Die gezählte Stadt. S. 16. Ebd. S. 14. Flusser, Vilém: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie. Mit einem Nachwort von Milton Vargas. Köln 1992. S. 15 f.

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seinen Reflexionen über sein Dasein als Deutscher in Prag auf eine weitere gemeinsame „nationale“ Zugehörigkeit zur Habsburger Monarchie hin: Die Prager deutschen Dichter und Schriftsteller hatten gleichzeitig Zugang zu mindestens vier ethnischen Quellen. Dem Deutschtum selbstverständlich, dem sie kulturell und sprachlich angehörten; dem Tschechentum, das sie überall als Lebenselement umgab; dem Judentum, auch wenn sie selbst nicht Juden waren, da es einen geschichtlichen, allenthalben fühlbaren Hauptfaktor der Stadt bildete; und dem Österreichertum, darin sie alle geboren und erzogen waren und das sie schicksalhaft mitbestimmte […].47 Urzidil selbst bezeichnete sich als „hinternational“: „‚Ich bin hinternational‘, pflegte er zu sagen. Hinter den Nationen – nicht über- oder unterhalb – ließ sich leben [...]“48. Nach Koeltzsch ist Nationalität in einer Stadt wie Prag, mit derartigen ethnischen Verflechtungen, vielmehr als diskursives Produkt zu verstehen. Koeltzsch spricht von einer „Überbetonung der ethnisch-nationalen Grenzziehung, die sich etwa in der Einbettung der Ergebnisinterpretationen in nationalhistorische Narrative sowie in einer relativ statischen Auffassung des städtischen Raumes niederschlägt.“49 Weiterhin weist Koeltzsch nach, dass in Prag „der Grad nationaler und konfessioneller Heterogenität“ im Vergleich zu anderen ostmitteleuropäischen Großstädten eher gering war. 50 Dennoch stellt sich dabei die Situation für die jüdische Bevölkerung als besonders schwierig dar. Diese wurde von der tschechischen Mehrheitsgesellschaft in der Regel als deutsch wahrgenommen bzw. mit der deutschen Bevölkerung gleichgesetzt. Tatsächlich waren viele jüdische Bewohner:innen Prags beider Sprachen mächtig und ließen sich dementsprechend nicht eindeutig einer Nationalität zuordnen – sie waren sowohl tschechisch als auch deutsch. Dies führte dazu, dass sie im nationalen Konflikt keine klar definierte Stellung einnehmen 47 48 49 50

Urzidil, Johannes: Da geht Kafka. Zürich; Stuttgart 1965. S. 6. Urzidil, Johannes: Relief der Stadt. In: Ders.: Die Rippe der Großmutter. Erzählungen von Johannes Urzidil. Berlin 1976. S. 79-97, hier S. 82. Koeltzsch, Ines: Geteilte Kulturen. S. 86. Vgl. Koeltzsch, Ines: Die gezählte Stadt. S. 11.

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konnten und als Unsicherheitsfaktor empfunden wurden.51 So sah sich die jüdische Bevölkerung um die Jahrhundertwende in der „Tripolis“ zunehmend antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt – sowohl von deutsch- als auch von tschechisch-nationaler Seite. Dies trägt wiederum zur Herausbildung eines jüdischen Nationalgedankens und der Entstehung des Prager Zionismus bei. 52 Koeltzsch weist in einem weiteren Artikel über Antijüdische Straßengewalt und die semantische Konstruktion des ‚Anderen‘ im Prag der Ersten Republik (2011) darauf hin, dass den gesonderten Verhältnissen der „jüdischen Nation“ im Rahmen der Nationalitätenkonflikte bisher nicht gebührend Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Der Antisemitismus in den böhmischen Ländern sei nicht als „Nebenprodukt des tschechisch-deutschen Nationalitätenkonflikts“ zu verstehen, sondern müsse „im Zusammenhang mit der in ganz Europa stattgefundenen Modernisierung der traditionellen Judenfeindschaft betrachtet werden“.53 Derartig komplexe Identitätsfragen können und sollen in diesem Rahmen nicht vollständig erörtert werden. Vielmehr gilt es nachvollziehbar zu machen, wie sich der zeitgenössische Kontext der Stadt auf deren Darstellung in der Literatur, auf deren Interpretation und auf die Entstehung des PragMythos auswirkte. Dabei gilt insbesondere festzuhalten, dass „die soziokulturelle Atmosphäre der Region im ausgehenden 19. Jahrhundert von einer – gegenläufigen – Spannung zwischen zwei Grundtendenzen bestimmt war: der assimilatorisch-nationalen einerseits und der multinationalen andererseits“ 54. Der nationalpolitisch intendierte Versuch einer Grenzziehung zwischen (konstruierten) Identitäten führte zu einer überspitzten Trennung in ein bürgerlichdeutsches, ein proletarisch-tschechisches und ein jüdisches Prag. Beachtet man dabei die tatsächlichen Bevölkerungszahlen und die Tatsache, dass alle größeren Städte innerhalb des Habsburgischen Vielvölkerstaates um die Jahr51 52

53 54

Vgl. Shumsky, Dimitry: Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 19001930. Göttingen 2013. S. 89ff. Eine sehr ausführliche Darstellung über jüdisch-deutsch-tschechischen Geschichte Prags, das Prager Judentum am Beginn des 20. Jahrhunderts und die Ideengeschichte des Zionismus schreibt Dimitry Shumsky in Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900-1930. Göttingen 2013. Koeltzsch, Ines: Antijüdische Straßengewalt und die semantische Konstruktion des ‚Anderen‘ im Prag der Ersten Republik. In: Judaica Bohemiae. Nr. 461/ 2011. S. 73-99, hier S. 76. Shumsky, Dimitry: Zweisprachigkeit und binationale Idee. S. 27.

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hundertwende den Charakter einer Vielvölkerstadt hatten, so kann man bei der Zuschreibung der „Tripolis Praga“ von einer gewissen Mythenbildung sprechen. Die konkrete Gestalt einer Nation geht aber auch aus einem Selbstentwurf hervor, aus einem Selbstbild, das seinen Ausdruck in Emblemen und Zeichen findet: in Symbolen, Denkmälern, Ritualen, Sagen, Mythen, Feindbildern, Autostereotypen etc. Sie vor allem propagieren die Idee einer Nation, bahnen ihr den Weg in die soziale Realität, in die Vorstellungswelt einer Gesellschaft, deren Wirklichkeit sie erobert und in der sie sich festsetzt.55 Durch eine jahrhundertelange gemeinsame Vergangenheit dieser unterschiedlichen „Nationen“ lässt sich deren Herkunft eben nicht mehr deutlich voneinander abgrenzen. Interessanterweise kommt es dementsprechend hinsichtlich der Prag-Literatur auch zu Gemeinsamkeiten, zu „literarischen Parallelitäten zwischen den sich herausbildenden nationalen Literaturen von Tschechen und Deutschböhmen. Dies zeigt sich insbesondere im Rückgriff auf Stoffe und Motive der böhmischen Geschichte und Mythologie.“ 56 Prag erweist sich also auch in dieser Hinsicht abermals als ein Schwellenraum, in dem keine klare Abgrenzung möglich ist, wie auch der zionistische Intellektuelle Felix Weltsch (1933) feststellt: Böhmen und insbesondere Prag liegt im Schnittpunkt vieler Kulturen. Es ist nicht nur die Grenze zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd. Es ist eine wirkliche Stadt der Mitte. In ihm berühren sich aufs nächste deutsche und čechische und jüdische Kultur. Ein solcher Zusammenstoß der Geister macht wach; die sich aufdrängende Differenzierung steigert die Bewußtheit, schärft den kritischen Blick, verfeinert die Einfühlungsfähigkeit.57

55 56 57

Petrbok, Václav; Randák, Jan: Die Stadt als realer und symbolischer Raum der nationalen Identität. S. 31. Höhne, Steffen: Brücken nach Prag. S. 43. Weltsch, Felix: Der Geist des čechoslowakischen Judentums. In: B’nai B’rith (Deutsch- und tschechischsprachige Monatszeitschrift), 12/ 10, 1933. S. 397-399, hier S. 399.

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Die Entstehung dieses Bildes einer „Tripolis Praga“ und dessen Fortbestehen stehen vor allem mit der Rezeption der Prager deutschsprachigen Literatur in Verbindung, welche für die Tradierung dieses Mythos gesorgt hat. Prag wird zu einem umkämpften Stadtraum stilisiert: Česko-německé srovnávání, soutěžení i příkré distancování, které podněcovalo a urychlovalo vývoj od provincionalismu k svébytnosti pražské kultury mezinárodní úrovně, přinášelo celou řadu motivů, v nichž se vyvíjely skutečné ale i do této problematiky uměle vnášené otázky.58 Vera Schneider weist in ihrer Dissertation Wachposten und Grenzgänger. Deutschsprachige Autoren in Prag und die öffentliche Herstellung nationaler Identität (2009) darauf hin, dass sich bisher die Auswahl der Quellen auf einen bestimmten Textkanon beschränkt habe und die Forschung somit Gefahr gelaufen sei, „den in der Literatur inszenierten Prag-Mythos als reale Begebenheit zu betrachten.“59 Dabei habe man gezielt nach „privilegierten Signifikanten, kollektiven Sinnbildern und kulturellen Praktiken, die in einer als bedrohlich empfundenen Situation eine ‚starke Identität‘ erzeugen konnten und daher Gegenstand besonderen öffentlichen Interesses waren“60, gesucht. Unter anderem wurden dabei vielfach so genannte „Distinktionsrituale“ herangezogen, die um die Jahrhundertwende fester Bestandteil der Prager Alltagskultur waren: die Organisation in Vereinen, das Exklamieren politischer Parolen und das öffentliche Singen patriotischer Lieder. Alle diese Bereiche wurden durchzogen vom Wirken des wichtigsten nationalen Identifikators: Die eindeutige Bekenntnis zur deutschen oder tschechischen Sprachnation stand zwar im Widerspruch zur gelebten Bilingualität großer Teile der 58

59 60

Vlček, Tomáš: Praha 1900 S. 57. Dt.: Die tschechisch-deutsche Gegenüberstellung, der Wettkampf und auch die jähe Distanzierung, welche die Entwicklung vom Provinzialismus zur Eigenständigkeit des internationalen Niveaus der Prager Kultur anregte und beschleunigte, brachte eine ganze Reihe von Motiven, in denen sich echte, aber auch in Bezug auf diese Problematiken künstlich eingebrachte Fragen entwickelten. Schneider, Vera: Wachposten und Grenzgänger. Deutschsprachige Autoren in Prag und die öffentliche Herstellung nationaler Identität. Würzburg 2009. S. 24. Schneider, Vera: Wachposten und Grenzgänger. S. 233.

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3 „Tripolis Praga“?

Stadtbevölkerung, wurde aber nicht zuletzt von den Bevölkerungsstatistiken immer wieder eingefordert.61 Derweil haben sich die Prager Schriftsteller:innen ihrerseits gegen diese starke Trennung innerhalb der Prager Stadtbevölkerung ausgesprochen – so zum Beispiel Max Brod in seinem Prager Kreis. Vielmehr betont dieser sogar besonders die gemeinsame Kultur und verdeutlicht, dass die Polarisierung von „Rassen“ und „Nationalitäten“ eine Sache der Politik, aber nicht unbedingt auch der Bürger:innen sei: Es scheint schwierig, einem Nicht-Prager die spaßigen und heiklen Nuancen unserer sprachlich geschichteten Gesellschaft vorzuführen, die mit großem Eifer das Talent pflegt, nur immer Trennendes der beiden Volksstämme, nie das Zusammenführende zu betonen. […] Demgegenüber wandelt mich die Lust an, zu beweisen, auf die Gefahr hin, einige Patrioten beiderseits zu verstimmen, […] daß in Prag kaum mehr von einer reinen deutschen und einer reinen tschechischen Nation die Rede ist, sondern nur noch von Pragern, Bewohnern dieser herrlichen und geheimnisvollen Stadt. Eine Verschmelzung ist eingetreten, das Blut hat sich vermischt, kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen locken über die Grenzen. Aus Eigensinn spricht man noch von zwei Armeen, wo es eigentlich nur mehr Überläufer gibt. Die deutschen Parteiführer tragen tschechische Familiennamen, und umgekehrt. Rasse ist ein wankelmütiger Begriff... […] Und mächtiger als alles bewährt sich das Milieu der alten schönen Stadt, das generationenlange Beisammenleben. Allen Politikern zum Trotz verträgt man sich bei Festlichkeiten und nächtlichen Zufällen, wir haben die Melodien von Suk und Smetana miteinander, miteinander das Belvedereplateau, seltsame Spaziergänge, Regen und Wind, die Wellen der Moldau, die Sagen und die denkwürdigen Stellen, die an Ziska und Scharka erinnern, Rückblick, Zukunft, Österreich, Frühling und die braunen Schollen der Felder.62 Auch Květoslav Chvatík betont im Nachwort zu seinem Sammelband über die Prager Moderne die Fruchtbarkeit des Austausches und der Zusammenarbeit unter den Prager Künstler:innen: 61 62

Ebd. Brod, Max: Der Prager Kreis. Stuttgart 1966. S. 53.

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Nach wie vor fehlt das Bewußtsein von der ‚streitvollen‘ Einheit der Prager Moderne, das Verständnis dafür, daß diese Einheit von der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg eben aus der organischen Einheit dreier Elememente, des tschechischen, deutschen und jüdischen, hervorgegangen ist.63 Es wird deutlich, dass eine klare Abtrennung zwischen den Kulturen hinsichtlich der Identifikation von Pragerinnen und Pragern um die Jahrhundertwende kaum möglich und dass es für viele auch gar nicht wünschenswert war, sich abzugrenzen. Gerade künstlerisch Schaffende und Interessierte schätzten an Prag die kulturelle Vielfalt und das produktive Milieu, welches aus dieser Atmosphäre in den Jahren am Beginn des 20. Jahrhunderts entstand.

63

Chvatík, Květoslav: Die Prager Moderne. Erzählungen, Gedichte, Manifeste. Mit einer Einleitung von Milan Kundera. Frankfurt am Main 1991. S. 349.

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4 Nationale Identitätskonstruktion und damit einhergehende Stereotypisierung des Anderen am Beispiel von Auguste Hauschners Die Familie Lowositz Er dachte: ‚Wer bin ich und wo bin ich zu Hause? An dem Tisch der Tschechen sitze ich als Gegner, in meinem eigenen Lager fühle ich mich fremd.‘ Wie war ihm alles klein und unerheblich vorgekommen. Wie schal die alten, immer wiederholten Phrasen. […] Er dachte: ‚Wie soll ich meine Zukunft hier gestalten? Wo soll ich aufs neue Wurzeln schlagen in diesem unterwühlten Boden?64 [Auguste Hauschner: Die Familie Lowositz]

Am Beispiel von Auguste Hauschners Roman Die Familie Lowositz (1908) lassen sich diese hier beschriebenen gesellschaftsgeschichtlichen und politischen Problematiken in Prag im ausgehenden 19. Jahrhundert anschaulich und vielseitig nachvollziehen. Die Stadt Prag als solche trägt in Die Familie Lowositz keine gesonderte, eigene Bedeutung, sie ist vielmehr die Kulisse für Hauschners anschauliche Milieuschilderungen. Stellenweise kann das Stadtbild als metaphorisches Korrelat für die Handlungsereignisse verstanden werden, jedoch stehen im Roman das Leben der Figuren in Prag und die damit verbundenen Alltagsthemen im Vordergrund. Auguste Hauschner selbst wurde 1850 in einem gutbürgerlichen, angesehenen jüdischen Prager Haushalt geboren. Trotz eines relativ großen Werkumfanges an Romanen und Novellen geriet die Schriftstellerin nach ihrem Tod schnell in Vergessenheit und bis heute gibt es über sie und ihr Schreiben nur wenig Forschungsliteratur. 65 In ihrem Artikel „... von der schönen Menschlichkeit erfüllt.“ Auguste Hauschner (1990) schreibt die Prager Germanistin Gabriela Veselá: „Auguste Hauschners erzählerische Kunst war immer dann am stärksten, am persönlichsten, 64 65

Hauschner, Auguste: Die Familie Lowositz. Berlin 1908. S. 389. Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [FL] abgekürzt. Es gibt einige Artikel, die Auguste Hauschners Werk und ihrer Person gewidmet sind, darunter von Gabriela Veselá „... von der schönen Menschlichkeit erfüllt.“ Auguste Hauschner (1990), von Helena Teufel Auguste Hauschner – eine Pragerin in Berlin (1991) oder von Ingeborg Fiala-Fürst Auguste Hauschner, die Urgrossmutter der Prager deutschen Literatur (2003). Eine ausführlichere Untersuchung legt Hella-Sabrina Lange mit ihrer Dissertation aus dem Jahr 2006 vor: „Wir stehen alle wie zwischen zwei Zeiten.“ Zum Werk der Schriftstellerin Auguste Hauschner (1850 – 1924).

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wo sie im Heimatboden der Dichterin, in Prag wurzeln blieb.“ 66 Hauschner wurde in Prag geboren, jedoch übersiedelte sie nach ihrer Hochzeit im Alter von 21 Jahren zusammen mit ihrem Mann nach Berlin. Dennoch sind viele ihrer Werke ihrer geliebten Heimatstadt gewidmet, auch nachdem Hauschner diese schon lange Zeit verlassen hatte. Besonders in ihrem zweiteiligen PragRoman Die Familie Lowositz (1908) und Rudolf und Camilla (1910) rücken „gesellschaftliche Zustände und Sozialpsychologie in den Vordergrund und bestimmen die Empfindungen und Handlungen der Menschen in dem Maße, daß sie nur im Zusammenhang mit den sozialen Verhältnissen nachgefühlt und verstanden werden können.“ 67 Die Germanistin Ingeborg Fiala-Fürst hält Die Familie Lowositz indessen für ein Werk, „das die sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe der Werke der letzten Prager deutschen Generation besser erklärt als 10 Bände jeglicher Kafka-Kommentare.“68 Und auch Max Brod schreibt in Streitbares Leben 1884-1968 über ihr Werk, dass „der Geist von Alt-Prag“69 darin zum Ausdruck käme und in Der Prager Kreis, dass sie die damalige Zeit wahrheitsgetreu abbilden würde70. Insbesondere an der Figur Rudolf Lowositz, der sich zwischen den verschiedenen Prager Kulturen bewegt, lässt sich die Unmöglichkeit einer eindeutigen Zuordnung der eigenen Identität zu einer bestimmten kulturellen, religiösen oder nationalen Gruppierung bzw. Richtung sehr gut aufzeigen. Der Handlungszeitraum in Die Familie Lowositz erstreckt sich über etwa zehn Jahre und so wird ein „historisch getreues Bild der böhmischen Hauptstadt“ 71 und des Prager Milieus in den 1870er und 1880er Jahren illustriert. Es ist die Zeit des nationalen Aufbegehrens der tschechischen Bevölkerung, die aus verschiedenen Figurenperspektiven beleuchtet wird. Geschildert wird der Familienalltag 66 67 68

69 70 71

Veselá, Gabriela: „... von der schönen Menschlichkeit erfüllt.“ Auguste Hauschner. In: Philologica Pragensia. 33. Jg., Nr. 1, 1990. S. 42-48, hier S. 47. Veselá, Gabriela: „... von der schönen Menschlichkeit erfüllt.“ Auguste Hauschner. S. 43. Fiala-Fürst, Ingeborg: Auguste Hauschner, die Urgrossmutter der Prager deutschen Literatur. In: Kakanien Revisited (Plattform für interdisziplinäre Forschung und Vernetzung im Bereich Mittelost- bzw. Zentral- und Südosteurpas) 30.01.2003. S. 6 (http://www.kakanienrevisited.at/beitr/fallstudie/Ifiala-Fuerst2.pdf, zuletzt besucht am 08.03.2017). Brod, Max: Streitbares Leben 1884-1968. München; Berlin 1969. S. 100. Vgl. Brod, Max: Der Prager Kreis. S. 51. Veselá, Gabriela: „... von der schönen Menschlichkeit erfüllt.“ Auguste Hauschner. S. 45.

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und die Familienverhältnisse der Familie Lowositz sowie deren soziales Leben in der Stadt. Die Familie Lowositz ist eine wohlhabende und gebildete jüdische Kaufmannsfamilie, und es werden neben der Umgebung des Prager deutsch-jüdischen Großbürgertums auch jüdische religiöse Bräuche und Sitten dargestellt. Sie sind eine bürgerlich angepasste Familie; der Vater Eduard Lowositz „war kein streng gläubiger Jude. […] Aber er hielt darauf, sich an hohen Feiertagen mit Jehova gut zu stellen und sich durch Befolgung der Gebete seine Gunst zu sichern.“ [FL, S. S. 63]72 Stattdessen identifiziert sich die Familie mit den Werken Goethes und Schillers; letzterer stellt für sie den „Apostel der Freiheit“ [FL, S. 128] dar: Gerade in Böhmen müsse man doch um das kämpfen, „was er so hoch gehalten hat, das deutsche Volk und die deutsche Freiheit.“ [FL, S. 127] Im Zentrum der Darstellung steht der etwa siebzehnjährige Rudolf Lowositz: Er ist ein kluger, junger Mann („Er hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis“ [FL, S. 31]), jedoch gebärt er sich häufig ungestüm und unbeherrscht, auch gegenüber Autoritäten, so zum Beispiel seinem Vater oder in der Schule. Die Prager Germanistin Gabriela Veselá beschriebt ihn als „tatenarm, aber gedankenreich, zwischen verschiedenen Ansichten und Philosophien schwankend […], bald trotzig und herrisch, von Größenwahn erfüllt, jedoch unfähig zu zeigen, daß er wirklich etwas zu leisten imstande ist“73. Als Figur demonstriert er alle Nuancen des gesellschaftlichen Zusammenlebens der „Tripolis Praga“. In diesem Sinne lässt sich der Roman auch als Bildungsroman74 klassifizieren, da Rudolf die Zerrissenheit zwischen den Kulturen widerspiegelt, innerhalb derer er sich nicht eindeutig einer zuordnen kann. Die Germanistin Helena Teufel bezeichnet ihn in ihrem Artikel über Auguste Hauschner – eine Pragerin in Berlin (1991) als „konstruiertes Sammelsurium politischer und 72

73 74

Diese Praktizieren jüdischer Traditionen pro forma erinnert auch an Kafkas Brief an den Vater (1919), in dem er seinem Vater vorwirft, er habe zu Hause ein „nichts an Judentum“ vermittelt bekommen. Vgl. hierzu auch die Kapitel zu Das ‚Jüdische Prag‘: Fremdheit versus Vertrautheit. Veselá, Gabriela: „... von der schönen Menschlichkeit erfüllt.“ Auguste Hauschner. S. 46. Vgl. Fiala-Fürst, Ingeborg: Auguste Hauschner, die Urgrossmutter der Prager deutschen Literatur. S. 5.

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theoretischer Möglichkeiten“75. Er wird geschildert als ein Verfechter der Gleichberechtigung von tschechischer und deutscher Bevölkerung [vgl. FL, S. 313 f.] und er verehrt Napoleon, der als erster „den Juden Gleichberechtigung gegeben hat“ [FL, S. 19]. Weiterhin versteht er sich als Anhänger Bismarcks76 und geht mit den parteipolitischen Ideen der Liberalen konform, er nimmt oft an sozialdemokratischen Veranstaltungen teil, pflegt aber auch Umgang mit Anarchisten [vgl. FL, S 69 f.]. Gerade Rudolf drängt nach Selbstbestimmtheit: „Ich habs überhaupt satt, mich immer leiten zu lassen, ich will die Freiheit haben, meinem eigenen Ideal zu folgen.“ [FL, S. 115] Die engen großbürgerlichen Familienverhältnisse und die prekäre Situation in Prag machen aus Rudolf einen gespaltenen Charakter und er hat das Gefühl, nirgends wirklich dazuzugehören oder mit einer (politischen) Richtung konform gehen zu können. Wegen seiner Zugehörigkeit zur historischen „Leseund Redehalle der deutschen Studenten“ gilt Rudolf unter seinen Bekannten „als Vorkämpfer für die deutschnationale Sache. […] Er widersprach dieser Legende nicht. Fühlte er doch die Liebe zu deutschem Sinn und Wesen in gleichem Maß in sich erhalten, wie die Zärtlichkeit für seine Vaterstadt.“ [FL, S. 309] An dieser Stelle wird deutlich, was auch in vielen Zeugnissen der Prager deutschsprachigen Autorenschaft anklingt: Nicht unbedingt das „Deutschtum“, sondern vielmehr die Heimatliebe zur Stadt Prag steht für viele Literaten im Vordergrund. Dementsprechend war die Identifikation als Prager stärker als das Zugehörigkeitsgefühl zu einer „nationalen“ Identität. Andererseits werfen ihm gerade seine Kommilitonen tschechenfreundliches Verhalten vor: „Der Verkehr mit Tschechen und mit Sozialisten sei ihm offenbar wertvoller gewesen, als der mit Freunden und Kollegen.“ [FL, S. 418] In der Vorrede zum zweiten Teil ihres Romans, Rudolf und Camilla, zitiert Auguste Hauschner selbst aus einem Brief, den ihr ein junger Student geschrieben hat. 75 76

Teufel, Helena: Auguste Hauschner – eine Pragerin in Berlin. In: Berlin und der Prager Kreis. Hrsg. von Margarita Pazi. Würzburg 1991. S. 56-80, hier S. 69. Rudolf verehrt Bismarck, weil dieser ein Einzelgänger ist, was seiner Meinung nach deutlich mehr Mut unter Beweis stellt, als in der Masse einer Burschenschaft mitzulaufen. [vgl. FL, S. 303]

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Dieser erkennt sich in dem Typus des jungen deutsch-jüdischen Pragers wieder: Ich meine nicht, daß wir die originelle Begabung, die Talente Ihres Helden besitzen. Aber dieselben Stimmungen, denselben Seelenzustand; unter derselben Umgebung leiden wir, uns alle drücken diese dumpfen Verhältnisse. Ich habe, wie gesagt, noch kein Buch gelesen, welches mich so unmittelbar berührt hätte. Es ist ja geradezu aus unseren Seelen heraus geschrieben! Fast auf jeder Seite gibt es Stellen, bei deren Lektüre man förmlich zusammenzuckt. Und Gedankengänge, die so oft einen still, halb unbewußt, verfolgten, haben Sie hier ausgesprochen. Ich bitte es nicht für eingebildet zu betrachten, wenn ich gestehe, daß ich beim Lesen oft darüber staunte, wie genau ich hier abgezeichnet bin. Und ich bin überzeugt, daß hundert andere dieselbe Empfindung haben werden. Es ist ja nicht nur das ‚Milieu‘, das uns alle umgibt, sondern sozusagen die dadurch bedingte psychische Verfassung des jungen deutschen Pragers, des ‚Schmock‘ im guten Sinne, so prachtvoll darin erklärt und geschildert.77 Rudolf selbst ist „mit Leib und Seele Deutscher“ [FL, S. 71] und identifiziert sich mit der deutschen Sprache und Kultur. Jedoch erscheinen ihm die nationalen Konflikte in der Stadt unverhältnismäßig und als eine Zersetzung des gemeinschaftlichen Lebens und der Kultur überhaupt: Hier in der Heimat, schien es ihm, habe jeder Scheuklappen vor die Stirn gebunden, die ihn hinderten, über seinen eigenen Schatten wegzusehen. Und jeder trage eine Brille vor den Augen, die das Ferne kleinte und das Nächstliegende über Maß vergrößerte. […] die Liebe zu der Muttersprache, schien ihm herabgezogen durch die Art, in der man um sie kämpfte. Aus Hinterhalten, wahllos im Gebrauch der Waffen. Man konnte darüber lachen, wenn die Tschechen den deutschen Henker nicht anerkennen wollten und einen nationalen Scharfrichter verlangten. Aber man konnte auch trauernd die sonderbare Blüte der Giftpflanze betrachten, die allenthalben wuchernd im Heimatsboden auffschoß. Ihr Hauch drang zersetzend in das öffentliche Leben. Um Kunst und Wissenschaft, um Vergnügen und Barmherzigkeit waren Schlagbäume 77

Beradt, Martin (Hrsg.): Briefe an Auguste Hauschner. Berlin 1929. S. 101

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aufgerichtet. Jedem eintretenden wurde erst die Parole abverlangt: Wer bist du? Zu wem bekennst du dich? [FL, S. 326 f.] Innerhalb der Romanhandlung werden verschiedene nationale wie auch innerkulturelle Konflikte aufgezeigt, die sich auf die Konstruktion und die Entwicklung der nationalen bzw. kulturellen Identitäten beziehen. Zum einen wird die Feindlichkeit gegenüber der jüdischen Bevölkerung thematisiert und der damit aufkommende, moderne Antisemitismus, der im Roman sowohl von deutscher wie von tschechischer Seite spürbar ist. Bei einem Spaziergang wird Rudolf zum Gespött halbwüchsiger tschechischer Mädchen, die ihm Schimpfworte nachrufen und schließlich anfangen zu singen: „Ja màm trakǎř novej/ Každý žid je zlodej [Mein neuer Karren ist mir lieb, jeder Jude ist ein Dieb]“78 und ihm „verhöhnende Grimassen“ [FL, S. 55] schneiden. Auch in der Schule herrscht ein latenter Antisemitismus [vgl. FL, S. 40]. Darüber hinaus werden die Entwicklungen unter Bismarck im deutschen Reichstag thematisiert, der gegen eine politische Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung war: ‚Und grad, weil die Juden im Allgemeinen so gescheite Leut sind, wunderts einen, daß sie so gegen ihr eigenes Interesse handeln.‘ ‚Inwiefern verletzen wir mit unserer Deutschenliebe unsere eigenen Interessen?‘ […] ‚Sie scheinen nicht zu wissen, wies jetzt in Deutschland zugeht und was für Judenhetzen euer viel gepriesener Bismarck im Reichstag in Szene setzt.‘ Rudolf war kreideweiß geworden. Zweimal setzte er an, ehe die Sprache ihm gehorchte. ‚Ach, so wars gemeint. Ihr werft uns Juden in der Lesehalle vor, daß wir nicht aus Angst vor dem gemeinen Pöbel unsere Überzeugung verleugnen. [FL, S. 302 f] Rudolf reflektiert an mehreren Stellen im Roman die mangelnde Gleichberechtigung von Minderheiten gegenüber Mehrheiten. Er selbst gehört als Deu78

Die diakritischen Zeichen der tschechischen Sprache sind aus dem Originaltext übernommen. In korrekter tschechischer Schreibweise müsste es „Já mám trakař novej/ Každý žid je zloděj“ heißen.

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tscher wie auch als Jude in Prag jeweils einer Minderheit an, gleichwohl sich die zahlenmäßig kleinere deutsche Bevölkerung gegenüber der tschechischen Majorität geistig überlegen fühlt: Rudolf sympathisiert aufgrund seiner jüdischen Abstammung mit der tschechischen Bevölkerung, da auch ihm als Jude gegenüber häufig Überheblichkeit zuteil wird: „[J]etzt bin ich dem Tschechen gegenüber ebenso überhebend, wie Kurt es mir gegenüber war. Der Gedanke kam ihm: Wir sind beide in der Minderheit und der Mehrheit gegenüber nicht gleichberechtigt.“ [FL, S. 84] Er empfindet es weiterhin als Ungerechtigkeit, dass „Kinder, die kein Deutsch verstehen, in deutsche Schulen gehen müssen“ [FL, S. 71], obwohl diese „doch schließlich in der Überzahl [sind], es gibt doch über hunderttausend Tschechen und nur siebzigtausend Deutsche.“ [FL, S. 72] Der hier anklingende Konflikt zwischen der deutsch-nationalen und der tschechisch-nationalen Bevölkerung tritt innerhalb der Handlung am deutlichsten zutage, und es werden auch verschiedene historisch und politisch relevante Ereignisse und Entwicklungen thematisiert, so zum Beispiel die Straßenkämpfe und -demonstrationen [vgl. FL, S. 132 f.], der Bau des neuen böhmischen Nationalmuseums [vgl. FL, S. 118] und insbesondere der des tschechischen Nationaltheaters sowie dessen Eröffnung am 18. November 1881 [vgl. FL, S. 70 f., S. 97 oder S. 392 f.]. Beim Passahfest kommt in der Familie Lowositz das Gesprächsthema auf den Nationalitätenstreit. Eduard Lowositz beklagt sich darüber, dass die Deutschen aus dem Gemeinderat ausgeschieden sind und auch der Bau des tschechischen Nationaltheaters stellt einen besonderen Streitpunkt dar: ‚Jetzt können sie da ganz allein regieren die Narodovci (Vaterlandsfreunde). Der Schmutz liegt haushoch auf der Straße, unser Trinkwasser ist miserabel, und die Kanäle stinken, aber sie müssen ein Theater bauen. Und für Aufzüge und nationale Feiern werfen sie das Geld zu Tausenden hinaus, die Komödianten.‘ Onkel Jakob sagte, indem er das graue Köpfchen hin und her bewegte: ‚Wenn man bedenkt, daß das in erster Linie Männer sind, die eine deutsche Erziehung und Bildung genossen haben, und die sich nun gegen ihre Wohltäter und Lehrer wenden.‘ […] ‚Und wenn man bedenkt, […] daß sie doch nur deutsche Stücke spielen können. Daß sie wie überall auf unsere Kultur und unsere Intelligenz

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angewiesen sind. Und dann, wer wird das Riesenhaus denn füllen? Das Volk vielleicht? Ins Bierhaus gehen, das ja, aber nicht ins Theater.‘ [FL, S. 70 f.] Es wird deutlich, dass sich die Familie Lowositz als Teil der deutschen Bevölkerung gegenüber der tschechischen intellektuell und geistig überlegen fühlt und die deutsche Kultur als wertvoller schätzt. Trotzdem die tschechische Bevölkerung zu der Zeit in Prag deutlich größer war, wurde sie auf verschiedenen Ebenen unterdrückt. Auch die deutsche Sprache und in diesem Zusammenhang die deutsche (Schul-)Bildung werden als besser erachtet: ‚Sie rufen uns ja immer, wenn sie nicht weiter können. Wie jetzt in der Vorstadt Carolinenthal. Da ist ihnen das Tschechische schon selbst zu viel geworden, und wir haben ihnen müssen eine deutsche Schule gründen.‘ Herr Lowositz sprach wie von einer persönlichen Leistung. ‚Ja,‘ gab ihm Jakob zu. ‚Und eine Masse Tschechen haben ihre Kinder angemeldet. Natürlich. Die meisten Eltern haben keinen anderen Wunsch, als die Kinder Deutsch lernen zu lassen, damit sies weiter bringen wie sie selbst.‘ […] ‚Sie sind doch schließlich in der Überzahl, es gibt doch über hunderttausend Tschechen und nur siebzigtausend Deutsche.‘ [FL, S. 71 f.] Wenn es um die Auseinandersetzungen zwischen der deutsch-nationalen und der tschechisch-nationalen Bevölkerung geht wird immer wieder der Antagonismus von „Wir“ und „Ihr“ bzw. „sie“ betont. Diese Spannungsverhältnisse erscheinen unvereinbar. Mit der Kontrastierung und Überbetonung des Eigenen gegenüber dem Anderen („Fremden“) werden die vermeintlichen Gegensätze und die Kluft zwischen den beiden Bevölkerungsteilen herausgestellt. So wird die Eröffnung des tschechischen Nationaltheaters in Prag am 18. November 1883 mit Bedřich Smetanas berühmter Oper Libuše folgendermaßen geschildert: Ein Taumel war in allen in dieser Stunde des Triumphs. I h r Theater. I h r e stolzeste Gestalt, – das Heldenweib, das Prag gegründet hatte, – der Unsterblichkeit der Kunst geschenkt, durch einen Meister den sie den i h r e n nennen durften. Sein großes Werk von i h r e n hochbegab-

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ten Künstlern vollendet dargestellt. Vor einem Fürsten, in dem sie i h r e n zukünftigen König träumten. Wo war jetzt das Deutschtum und seine Macht? [FL, S. 392 f.]79 Zu Beginn des Romans schließt Rudolf Bekanntschaft mit den tschechischen Studenten Bedřich Hyka und Prokop Jech. In die tschechische Gesellschaft gerät er zunächst, weil ihm danach „dürstete […] sich tolerant zu zeigen“ [FL, S. 85] und er sich einer abendlichen Zusammenkunft in der Wohnung eines Klassenkameraden anschließt. In der intellektuellen Theatergesellschaft ist es zunächst, als würde Rudolf wie „auf verbotenen Wegen“ [FL, S. 87] wandeln, doch spricht man Deutsch mit ihm („Sie sprach Deutsch, wie es auch die Übrigen dem Gast zu Ehren taten.“ [FL, S. 88]) und im Laufe des Abends genießt er zunehmend die Gastfreundschaft und die Ausgelassenheit der tschechischen Gesellschaft. Als die kleine Milena Kde domov můj singt, wird er regelrecht verzaubert: „Die Musik trat in sein Leben“ [FL, S. 94], und er hegt das Bedürfnis, mehr tschechische Volkslieder von Milena zu lernen [vgl. FL, S. 117]. Obwohl Rudolf ungeschickt im Tanzen ist, wird er in der tschechischen Gesellschaft mitgerissen. Auch beim gemeinsamen Abendessen geht es viel fröhlicher zu, als er von Zuhause gewohnt ist: „Um ihn herum schluckten und kauten sie und schwatzten durcheinander.“ [FL, S. 95] In einer Diskussion zwischen Rudolf und den Studenten Jech und Hyka machen diese deutlich, dass sie den deutschen Hochmut gegenüber der tschechischen Kultur missbilligen: ‚Also das ist so recht der deutsche Hochmut. Sie sehen auf unsere Literatur herab, ohne sie zu kennen.‘ Jech sagte mit einem Seufzer: ‚Es ist unser Fluch. Wir sind ein zu kleines Volk und unsere Sprache engt uns zu sehr ein.‘ [FL, S. 91] Jedoch zeigen sich die beiden dank des neu entstehenden Nationaltheaters zuversichtlich in Hinblick auf die tschechischen Kultur: „Da wird sich vieles ändern, wenn wir erst für die Literatur einen nationalen Boden haben.“ [FL, S. 97] Während sich Jech und Hyka darüber freuen, dass die Tschechen jetzt 79

Hervorhebungen im Originaltext.

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auch „im Gemeinderat zu sagen“ [FL, S. 118] hätten und „die geliebte Stadt an Glanz und Größe wachsen“ [FL, S. 118] würde, erzürnt sich Rudolf über die schmutzigen Gassen, die es seines Erachtens nach wichtiger zu kehren wären, als das neue böhmische Museum zu bauen. Man sollte lieber zusehen „daß wir trinkbares Wasser kriegen und weniger Epidemien. Ihr wißt doch, kein Ort ist so verseucht wie unsere liebe Vaterstadt.‘ Die Tschechen schrien los: das sei nicht wahr, das sei wieder so eine deutsche Übertreibung.“ [FL, S. 118] Hyka wirft Rudolf indessen vor, dass sie als Tschechen wiederum nicht so reich und verwöhnt seien: [...] und es war unbestimmt, ob er damit die Juden oder die Deutschen meinte, ‚ihr könnt ja Sodawasser trinken, wenn ihr euch vor unserem Brunnenwasser fürchtet, und könnt wegreisen, wenn ihr Angst habt krank zu werden. […] Wir haben nicht so eine Angst vor ein bissel Schnupfen oder Bauchweh.‘ [FL, S. 119] Auch Jech hält „die geistige Gesundheit und die Pflege und Hebung“ [FL, S. 119] des nationalen Lebens für das Wichtigste und dazu bedarf es eines Gebäudes, um „die Überreste unserer uralten Kultur dem Volk zugänglich machen können.“ [FL, S. 119] Rudolf gewinnt schließlich durch seine Bekanntschaft mit den beiden (er selbst bestreitet, dass es eine Freundschaft sei [vgl. FL, S. 116]) einen authentischen Eindruck von der tschechischen Kultur. Als Jech und Rudolf später am Abend zusammen über den Altstädter Ring nach Hause gehen, sind die beiden von dessen Schönheit und dem mittelalterlicher Zauber überwältigt: Das unregelmäßige Viereck des Altstädter Großen Rings war vom Mondschein übergossen. Ein sanftes, aufgelöstes Licht zeigte die phantastische und malerische Schönheit der Gebäude, die ihn umschlossen. Im Hintergrunde erhob sich, über den Laubengängen zweier altertümlicher Gebäude, die edle Gotik der Teinkirche mit ihren beiden schlanken Türmen, mit der Pracht und Seltsamkeit ihrer Galerieen und Geländer, Bedachungen und Türmchen und dem verstohlenen Funkeln des metallenen Schmucks, der Sterne und der Sonnen, die an die Hussitenzeit gemahnten. Rechts und links reihten sich die schmalen Häuser an. Barock das eine, das andere gotisch, gestützt auf Laubengänge, oder

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im Stil böhmischer Renaissance. Es war, als sei das Mittelalter wieder aufgelebt, mit seiner starken Kraft und Eigenart und der künstlerischen Freiheit, sie in Stein und Farbe auszudrücken. Kein neuzeitliches Geräusch störte den Zauber dieser Täuschung. [FL, S. 100 f.] Während Rudolf „vom allgemein Poetischen getroffen“ war, rühren sich in Jech „zugleich patriotische Gefühle“ [FL, S. 101]. In seinen „Mußestunden“ liest Jech in den Chroniken über die Geschichte Prags, um von „Glanz und Blüte der tschechischen Geschlechter zu erfahren. Von jener Zeit, in der sie noch die Geschichte des Landes und seiner Hauptstadt lenkten. Aus der Liebe für die ruhmvolle Vergangenheit klang unverhohlen die Hoffnung auf eine noch ruhmvollere Zukunft.“ [FL, S. 101] Jech weiß wer die Häuser auf dem Altstädter Ring errichtet hat, er „kannte den Auf- und Niedergang verschollener Geschlechter, wußte von allen Gewalttaten, deren Stätte in kriegerischen Zeiten dieser Platz gewesen war und wessen Blut damals den Boden färbt den sie jetzt betraten.“ [FL, S. 101] Obwohl Rudolf „ganz der Gegenwart entgegenstrebte, stand [er] in diesem Augenblick im Banne des Gewesenen.“ [FL, S. 101 f.] Und eine Ahnung regte sich in ihm, was die Heimat und ihre von historischer Erinnerung verklärte Schönheit einem Volk bedeuten müsse, das von seiner Sprache wie von einer Mauer eingeschlossen, in der Hauptstadt des Landes den Mittelpunkt der Welt sieht. [FL, S. 102] Diese Ehrerbietung gegenüber der Vergangenheit der Stadt scheint in Die Familie Lowositz die tschechische Bevölkerung von der deutschen zu unterscheiden. Auch als Rudolf zufällig Zeuge eines lebhaften Festes auf der Schützeninsel ist, das zu Ehren des Todestages von „Johann Huß“, dem „Deutschenfeind“80 [FL, S. 116] gegeben wird, sympathisiert er unwillkürlich mit dem jungen tschechischen Volk. Angesichts des wilden Aufbegehrens, mit dem sich die Jungtschechen gegen „das Deutschtum“ [FL, S. 116] richten, fragt er sich 80

Gemeint ist der Reformator und Volksheld Jan Hus, nachdem auch die hussitischen Revolutionskämpfe benannt sind, die Revolte der böhmischen Bevölkerung gegen die deutsche Vorherrschaft im 15. Jahrhundert.

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zunächst: „Leben wir noch in einer deutschen Stadt? Was ist denn unseren Gegnern noch verboten, wenn ihnen so etwas erlaubt wird?“ [FL, S. 162] Dennoch erwacht durch die Leidenschaft der Demonstranten das „Romantische in ihm, das, was an Lust am Abenteuer in ihm lebte“: Er empfindet die Jungtschechen zwar als „kindisch und immer an der Grenze ausschreitender Roheit. Aber in ihrer Unreife steckte das Feuer, das impulsive Wagen ihrer Jugend.“ [FL, S. 163] Rudolf Lowositz fühlt sich in tschechischer Gesellschaft wohl. Auch wenn er bestreitet, mit Jech und Hyka befreundet zu sein, so gibt er doch zu, dass er sich gerne mit ihnen unterhält und den Umgang mit ihnen als lehrreich empfindet sowie den Künstlerkreis verehrt, in dem sie verkehren [vgl. FL, S. 116]. Jedoch hat Rudolf auch immer wieder in Bezug auf sein Dasein als Deutscher pathetische und patriotische Gefühle und er fürchtet den Untergang des „Deutschtums“ in Prag: Und Rudolf sah wie in einem Spiegel das Deutschtum Prags so von Slawen überflutet, wie er jetzt selbst von der Menschenflut umbrandet war. Ein Schmerz, der etwas körperliches hatte, schnitt in sein Herz bei dem Gedanken, daß in diesen Stätten die geliebte Muttersprache einst verlöschen könne. [FL, S. 311] Bei einem späteren Zusammentreffen von Rudolf mit seinen beiden tschechischen Bekannten kommt es schließlich doch zu verbalen Auseinandersetzungen, woraus ersichtlich wird, dass sich innerhalb der erzählten Zeit die nationalen Konflikte in Prag zugespitzt haben: In der Zwischenzeit kam es in Prag zu einem Umbruch von tschechisch-nationaler Seite – die Sprachverordnung wurde erfolgreich durchgesetzt, überall wurden neue Schulen und Gymnasien gebaut. [vgl. FL, S. 318 f.] Jech betont, dass es wünschenswert wäre, öfter in Eintracht zusammen zu kommen, während Hyka Rudolf Vorwürfe macht: „[W]arum hetzt ihr dann in einem fort gegen uns. Wenn man eure Zeitungen liest, möcht man glauben, in Prag werden alle paar Tage ein paar Deutsche totgeschlagen. […] Wir hetzen nicht, wir verteidigen uns nur“ [FL, S. 318]. Rudolf wiederum empört sich, dass sie nun auch noch die Zweiteilung der deutschen Universität verlangten, woraufhin Hyka erwidert:

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‚Eurer – wieso eurer? Sie ist vor fünfhundert Jahren von einem böhmischen König für das böhmische Volk gegründet worden. Dann habt ihr uns herausgedrängt. Jahrhundertelang habt ihr unser Recht geraubt. […] Sie sind einer von den Deutsch-Nationalen, Herr Lowositz. Na also, sehen Sie! In Prag gehts mit den Tschechen wie in Straßburg mit den Deutschen. Es war erst slawisch und dann war es eine Weile deutsch und jetzt wirds halt wieder slawisch.‘ Jech, der bemerkte, daß Lowositz ganz blaß geworden war, kam seiner Antwort rasch zuvor. ‚Wenn Sie gerecht sind, müssen Sie uns zugeben, daß wir in unseren Wünschen sehr bescheiden sind. Wir verlangen nur die gleichen Rechte, trotzdem wir unser zwei Drittel der Bevölkerung sind.‘ Hyka fiel ihm ins Wort: ‚Ihr beruft euch immer auf euere reichen Onkel. Auf Goethe, Schiller, Kant und Gott weiß wen. Selbst muß man etwas in der Tasche haben, dann kann man sich brüsten. Man muß die Leistungen der Deutsch-Böhmen und der Tschechen miteinander messen, wenn man entscheiden will, wer inferiorer ist.‘ [FL, S. 319] Rudolf ärgert sich darüber, dass er von seinen tschechischen Bekannten nicht als gleichrangig mit den Reichsdeutschen erachtet wird. Er ist wütend und gekränkt, erkennt jedoch ein „Körnchen Wahrheit“ [FL, S. 320] in den Vorwürfen. Dennoch fühlt er fortwährend eine tiefe Verbundenheit mit der deutschen Kultur: „Einerlei, zwischen uns Deutschen gibt es eben keine künstlerischen Grenzen. Das ist es ja, was unsere Sprache so wertvoll macht, daß sie uns über unsere enge Heimat hinaus mit den größten Geistern verbindet.“ [FL, S. 320] Während Rudolf regelmäßigen Umgang mit seinen tschechischen Bekannten pflegt, hat seine Schwester Camilla Lowositz im Rahmen der Romanhandlung keine Kontakte außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Vielmehr schimpft sie bei einem Spaziergang über den Josephsplatz mit ihrer Freundin über den „rohen Pöbel“ [FL, S. 105] und das arme Volk, das die Stände auf dem volkstümlichen Josefimarkt „umlungerte“ [vgl. FL, S. 105]. Weiterhin gibt es auch Schilderungen von den Kleinkriegen und dem „Kampf des Pöbels“ [FL, S. 133], der sich in der Nähe der Lowositzschen Wohnung abspielt, welche in der Alten Judenstadt nahe der Langegasse (Dlouhá) liegt [vgl. S. 130 f.]. Die

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Mutter der Familie, die aufgrund ihrer psychischen Krankheit meistens zu Hause bleibt, ist angesichts der Ausschreitungen, Prügeleien von Angst und Entsetzen erfüllt und traut sich nicht mehr auszugehen: In dieser fürchterlichen Stadt, wo man immer Gefahr laufe, vom Pöbel todgeschlagen zu werden. Wo man auch in seinen vier Wänden nicht mehr sicher sei. Erst gestern wieder seien betrunkene Horden johlend an ihrem Haus vorbeigezogen. […] Sie wollten nicht mehr länger hungern, und nächtens ginge es über die Juden her, die doch die Schuld an allem Elend trügen. [FL, S. 132 f.] Weiter erzählt die Mutter von den Nächten, „in denen sie wachend dalag und den Geräuschen lauschte, die von draußen in ihr Zimmer drangen“ [FL, S. 133]: Auf die Musik der Schenken, den eintönigen Takt der Bässe, die das Gekreisch der Geigen Übertönen, den heiseren Gesang eines Betrunkenen, der brüllend durch die Gasse wankt. Und manchmal plötzlich schnelle Schritte auf dem Pflaster. Ein Mensch, der flüchtet, andere, die ihn verfolgen Flüche, Weiberkreischen, Hilferufe. Eine Prügelei, die sich zu ihrem Hause schleppt, bis zu dem Brunnen, vor dem oft des Morgens Blutspuren von dem Kampf des Pöbels zeugen. [FL, S. 133] In diesen Beschreibungen der tschechischen Kultur lassen sich viele gängige Stereotype und Klischees ausmachen: Gegenüber der deutschen werden sie als geistig und kulturell unterlegen stereotypisiert. Indessen sind Rudolf selbst die tschechischen Dichter und deren Werke größtenteils unbekannt und er ist auch „der Sprache nicht genügend mächtig“ [vgl. FL, S. 90f.]. Jedoch erachten sich auch die Tschechen selbst als „kleines Volk“ mit einer „kleinen“ Literatur81 bzw. einer einengenden Sprache [vgl. FL, S. 91]. Darüber hinaus sind die böhmische Musikalität und die Ausgelassenheit in abendlicher Gesellschaft klischeehafte Zuschreibungen, während in der Familie Lowositz das Passahfest, einer der wichtigsten jüdischen Feiertage, lediglich von einer leichten Heiterkeit begleitet wird, „die übrigens an diesem Abend nicht der 81

Vgl. hierzu Kapitel Dichter:innenschicksal einer Hassliebe: Zur Prager deutschsprachigen Literatur.

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Tradition zuwider war“ [vgl. FL, S. 65]. Das intellektuelle Prager Großbürgertum wird gegenüber der tschechischen Bevölkerung als bieder, überheblich und selbstgefällig beschrieben. Diese Stereotype kontrastieren den Antagonismus zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen und erweitern zudem die nationalen Gegensätze um den Aspekt der Standesfrage. Während sich die Familie Lowositz über die Straßenaufstände des tschechischen Pöbels echauffiert, spricht sich der tschechische Maler Hromadka klar gegen das Gehabe der deutschen Burschenschaftler und Studentenkorps aus, was seiner Ansicht nach in Prag nichts zu suchen habe: „Wir sind hier nicht in Deutschland. Und wir lassen uns das nicht mehr bieten. Wenn sich das die Herren nicht wollen sagen lassen, gibt’s einmal ein tüchtiges Malheur. Daran sind sie sich dann selber schuld.“ [FL, S. 403] Die nationalen Auseinandersetzungen finden ihren Höhepunkt schließlich in einer „Bürgerschlacht“ [FL, S. 414], im Prager Stadtbezirk Kuchelbad (Chuchle), in der so genannten Kuchelbader Schlacht (1881). Begleitet von feindseligen Gesängen werden deutsche Studentenkorps von tschechischen Aufständischen überfallen: Sie singen das „Wenzelslied ‚Jagt die Deutschen aus dem Land‘ und die tschechische Marseillaise ‚Tod und Hölle allen Feinden, Mord und Tod den Deutschen.‘“ [FL, S. 408 f.] Ein weiteres stereotypes Motiv in diesem Zusammenhang ist die Liebesgeschichte zwischen einem bürgerlichen deutschen jungen Mann und einem tschechischen Mädchen: Die schöne Milena übt auf Rudolf schon als Mädchen eine besondere Anziehungskraft aus [vgl. FL S. 118]. Im Vergleich zu den deutschen Mädchen benimmt sie sich koketter und reizvoller, sie wird bewundert und die „Blicke der Männer folgten ihrer auffallenden Erscheinung“ [FL, S. 117]. Als sie später in der Oper eine Anstellung als Sängerin hat, hat Milena viele Verehrer und ihr wird nachgesagt, dass sie „mit dem neuen Kapellmeister was habe, und mit dem Regisseur“ [FL, S. 282]. Rudolf besucht sie dort nach langer Zeit und versucht sich ihr anzunähern, doch sie wehrt ihn ab: „das geht nicht mehr wie früher, so zu jeder Zeit gesprungen kommen“ [FL, S. 285]. Jedoch scheint die frühere Anziehungskraft zwischen den beiden weiterhin zu bestehen:

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Dabei neigte sie sich zum ersten Mal zu ihm hinüber und lächelte ihm schalkhaft zu. Und nun hatte er die Milena von früher wieder in den Armen. Im Dunkel einer engen Straße küßten sie sich, wild und lechzend. Gingen dann wie trunken und fühlten, wie aus den verschlungenen Händen ihr Blut heiß zueinander drängte. An der Schwelle von Milenas Wohnung gab sie ihm in einer letzten zärtlichen Umarmung das Versprechen: ‚Also bis morgen, aber nicht zu zeitig. Wenn die anderen kommen, jag ich sie davon.‘ Rudolf ist Milena erlegen, jedoch war es „ein friedloses Verhältnis zwischen ihnen. Ein Schwanken zwischen Zerwürfnissen und leidenschaftlicher Versöhnung“ [FL, S. 362]. Er leidet unter ihrer „Koketterie“ [FL, S. 362] und muss es „mit Ingrimm und doch unbewußt geschmeichelt, erdulden […], daß Milenas Kunst und ihre Schönheit Hunderten gehörte. […] Er lechzte danach, die Vielbegehrte für sich allein zu haben, als sein Eigentum.“ [FL, S. 394] Doch begehrt er sie gleichzeitig so sehr, dass er nicht von ihr lassen kann: Ihm war seitdem, als ziehe sich ein Netz um ihn zusammen. Er wollte es zerreißen, die Gefahr, die ihn bedrohte, fliehen. Hier aber gelang es ihm nicht ohne weiteres sich zu befreien, zu überwinden, hier vermochte er nicht zu entbehren. Das Mädchen nicht und nicht ihren Gesang, den Rausch nicht, in den ihn beides versetzte, so ineinandergewoben, daß er eins vom anderen nicht zu trennen wußte. […] Mit ihrer Wildheit stieß sie Rudolf ab und fesselte ihn wieder. Er erlitt ein Martyrium hin- und hergeschleuderter Empfindung, ein Sich-losreißen wollen und Nichtvon-ihr-lassen-können. Das Schicksal, als sei es mit ihr [S. 364] verbündet, löste alle Fäden, die ihn an andere Menschen knüpften. [FL, S. 363 f.] Die Abende mit Milena sind voller „Leichtsinn und sorgloser Zigeunerlust und doch bewahrt vor äußerster Gemeinheit. Denn in aller Auflösung der Sitten ruhte die Musik als fester Punkt“ [FL, S. 363]. Bis zum Ende des Romans ist Milena „das Weib, nach dem sein Blut sich noch immer hungernd sehnte“ [FL, S. 413]. Rudolf ist der Überzeugung, dass Milena auch etwas mit ihrem

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gemeinsamen Bekannten Hyka hat, was diese jedoch bis zuletzt heftig bestreitet. Die Figur Milena kann in ihrer Funktion auch als Sinnbild der Stadt Prag verstanden werden: Sie wird von allen für ihre Koketterie, ihre Schönheit und Leidenschaft verehrt und bewundert – Eigenschaften, die auch der Stadt Prag häufig sinnbildlich zugeschrieben werden. Der Nationalitätenstreit um die Vorherrschaft in Prag spiegelt sich in dem Buhlen um die Gunst von Rudolf als Repräsentant der deutsche Bevölkerung und dem Tschechen Hyka wieder, die Milena beide gerne „besitzen“ möchten [vgl. FL, S. 394]. Rudolfs „Martyrium hin- und hergeschleuderter Empfindung“ und das „Sich-losreißen wollen und Nicht-von-ihr-lassen-können“ [FL, S. 363] sind charakteristische Beschreibungen für die Hassliebe der Prager deutschsprachigen Literat:innenschaft gegenüber ihrer Heimatstadt Prag, aber auch von tschechischen Autor:innen der Jahrhundertwende, wie etwa Vilém Mrštík oder Jiří Karásek ze Lvovic.82 Dieses Motiv der sonderbaren Anziehungs- und Abstoßungskräfte der Stadt Prag sowie deren Allegorisierung als Frauenfigur wird in den nachfolgenden Kapiteln noch genauer untersucht. Desweiteren entspricht die Verbindung zwischen Rudolf und Milena einem stereotypen Motiv der erotischen (Liebes-)Beziehung zwischen deutschen Dichtern bzw. deren Figuren und tschechischen Frauen, das der „Kulturvermittler“ Pavel Eisner83 in Milenky. Nemecký básník a česká žena [Die Geliebten. Der deutsche Dichter und die tschechische Frau, 1930]84 untersucht hat. Eisner schreibt, dass die tschechische Frau auf den deutschen Dichter eine solche Anziehungskraft habe, dass er offenbar gezwungen sei, sie künstlerisch zu verarbeiten: „Česká žena působí na německého básníka, a to na básníka 82 83

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Vgl. hierzu die folgenden Kapitel dieses Abschnitts sowie auch die Kapitel Matička Praha und das Bild einer toten Stadt und Tableau des Selbstverlustes: Der nächtliche Spaziergänger und die dunkle Seite der Stadt. Pavel oder auch Paul Eisner war einer der bedeutendsten zweisprachigen Publizisten in der Zwischenkriegszeit. Aufgrund seines intellektuellen und übersetzerischen Engagements wird er häufig als Vermittler zwischen den Kulturen bezeichnet. Vgl. hierzu beispielsweise: Übersetzer zwischen den Kulturen. Der Prager Publizist Paul/ Pavel Eisner. Hrsg. von Ines Koeltzsch, Michaela Kuklová und Michael Wögerbauer. Wien; Köln; Weimar 2011. Eisner, Pavel: Milenky. Nemecký básník a česká žena [Die Geliebten. Der deutsche Dichter und die tschechische Frau]. Prag 1992.

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krve árijské i židovské, pudově živelnou přitažlivostí, která jej nutí, aby ji, českou ženu, zpodobňoval umelecky.“85 Er betont dabei, dass dieses Phänomen umgekehrt mit wenigen Ausnahmen kaum in der tschechischen Literatur zu beobachten wäre, dass es also im Vergleich eine einseitige Erscheinung („jednostranny“86) sei. Die tschechische Frau sei ganz anders als die deutsche oder die jüdische; ihr werden in diesem Stereotyp Attribute zugeschrieben, die laut Eisner für die slawische Frau als charakteristisch gelten:87 nezlomenou pudovost, bohatou smyslovost, kouzlo milostné spanilosti, magii pohlaví. Je slovanštější než muž, je již bezprostřední emanací své tělesnosti, vestálkou kmenové praduše. Její erotický život je bohatší, barvitější, překvapivější ve svých možnostech než např. průměrná erotika ženy germánské; je primitivnější i rafinovanjější zároveň.88 Die Anziehungskraft der tschechischen Frauen auf die deutschen Dichter erklärt Eisner mit dem Reiz und der Faszination des Fremden: „Přitažlivost české ženy na německého básníka roste z násobku: polarita pohlavní zmnožuje a násobí se s polaritou kmenovou.“ 89 Wie auch bei Milena aus Die Familie Lowositz zeichnet sich deren Anziehungskraft durch ihre erotische Ausstrahlung aus. Schon der Figurenname „Milena“ verweist auf ihre Funktion als Geliebte: „Milenka“ ist die Koseform von „Milena“ und bedeutet gleichzeitig im Tschechischen „die Geliebte“ oder „Liebhaberin“.

85 86 87 88

89

Eisner, Pavel: Milenky. S. 12. Dt.: Die tschechische Frau übt auf den deutschen Dichter, und das sowohl auf den Dichter arischen wie auch jüdischen Blutes, instinktiv eine unbändige Anziehung aus, die ihn zwingt, die tschechische Frau künstlerisch zu gestalten. Ebd. Vgl. ebd. S. 15: „co je rasovním atributem Slovanky“ [Dt.: was ein rassisches Attribut der Slawin ist]. Ebd. Dt.: eine ungebrochene Triebhaftigkeit, reiche Sinnlichkeit, der Zauber einer erotischen Anmut, die Magie des Geschlechts. Sie ist slawischer als der Mann, schon die unmittelbare Ausstrahlung ihrer Körperlichkeit, eine Vestalin der Urseele des Stammes. Ihr erotisches Leben ist reicher, farbiger, überraschender in seinen Möglichkeiten als zum Beispiel das einer durchschnittlichen germanischen Frau; sie ist zugleich primitiver und raffinierter. Ebd. S. 17. Dt.: Die Anziehungskraft der tschechischen Frau auf den deutschen Dichter entwächst aus der Vervielfachung: Die Polarität des Geschlechts vergrößert und vervielfacht sich mit der Polarität der Stämme.

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Häufig handelt es sich in der literarischen Umsetzung der Figuren auch um deutsche Prager Bürgersöhne, die eine Liebesbeziehung mit tschechischen Kinder- oder Dienstmädchen haben. Dies ist also wiederum mit dem Stereotyp eines tschechischen Dienstbotenvolkes verbunden. Auch jenes wird literarisch häufig thematisiert, so erinnert sich etwa die Prager Fabrikantentochter Grete Fischer in ihrer Autobiographie Dienstboten, Brecht und andere: „Tschechen meiner Welt waren Dienstboten, kleine Handwerker, Papas Arbeiter – aber nicht das Büropersonal.“90 Weiterhin schreibt Auguste Hauschners Cousin Fritz Mauthner in seinen Erinnerungen an seine Prager Jugendjahre über „tschechisch als gottgewollte Ammensprache“91, was darauf hinweist, dass es in gutbürgerlichen deutschen Haushalten in Prag vor allem tschechische Kindermädchen gab. Derartige Liebesbeziehungen oder zumindest eine starke Zuneigung seitens einer deutschen männlichen Figur gegenüber einer tschechischen Frau oder einem Mädchen werden in der Prager deutschsprachigen Literatur sehr häufig thematisiert. Neben den im Folgenden genauer untersuchten Texten beispielsweise auch in Karl Hans Strobls Studentengeschichten, bei Max Brod in Ein tschechisches Dienstmädchen (1909), in Egon Erwin Kischs Roman Der Mädchenhirt (1914) in Franz Carl Weiskopfs Slawenlied (1931), sowie bei Franz Hauptmann in Jarmila. Roman einer Stadt (1963). Weitere Beispiele untersucht Eisner in Milenky, darunter wohlgemerkt nicht nur Prager deutschsprachige Schriftsteller, sondern aus ganz Böhmen. Diese hier genannten stereotypen Beschreibungen der tschechischen Bevölkerung zeichnen eine lebensbejahende und von eher niederen Instinkten geleitete Imago. In dieser Darstellung verdeutlicht sich eine Ambivalenz, die auch in der Figur Rudolf besondere Sympathie weckt: Die tschechische Bevölkerung wird in Die Familie Lowositz als romantisch, abenteuerlustig, musikalisch und ausgelassen im Tanz illustriert, zugleich aber auch als bäuerlich, pöbelhaft und aufständisch. Viele der tschechischen Figuren im Roman sind Künstlerinnen und Künstler (so z. B. die Theatergesellschaft beim Schulkameraden Ptat90 91

Fischer, Grete: Dienstboten, Brecht und andere. Olten 1966. S. 58. Mauthner, Fritz: Erinnerungen I. Prager Jugendjahre. München 1918. S. 21.

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schek und die Sängerin Milena) oder verkehren zumindest gerne in Künstlerkreisen, in denen auch Rudolf Anschluss findet. Der tschechische Maler Hromadka erklärt ihm, warum die tschechische Bevölkerung aus seiner Sicht der Kunst zugetan ist: Weil ich Künstler bin, bin ich ein Tschech. Schaun doch, bitte, unser schönes Prag nur an. Schaut das vielleicht aus wie eine deutsche Stadt? Muss ein Mensch, der Augen hat, hier nicht Tscheche werden? […] Daß wir Tschechen geborene Künstler sind, grad wie die Franzosen, das kann uns doch selbst der Neid nicht nehmen. Dazu braucht man sich das alte Prag nur anzuschaun. [FL, S. 401 f.] Die tschechische Kunst und Kultur zeichnet sich für Rudolf durch eine gewisse Fremdheit aus – obwohl er in Prag aufgewachsen ist, weiß er kaum etwas über tschechische Literatur, böhmische Volksmusik oder die Prager Architektur- und Stadtgeschichte. Indessen hält er Prag für eine deutsche Stadt. Ähnlich wie bei der erotischen Ausstrahlung der tschechischen Frau gehen mit dieser Fremdheit für Rudolf ein bestimmter Reiz und eine Faszination einher. Neben den Kontroversen zwischen der deutschen und der tschechischen Prager Bevölkerung wird in Die Familie Lowositz ferner auch der Konflikt zwischen „Alttschechen“ und „Jungtschechen“ thematisiert: Ab 1874 gab es in der österreichischen Monarchie zwei rivalisierende tschechische Parteien. Im Zuge der fortschreitenden Nationalen Wiedergeburt spaltete sich die Fraktion der demokratisch orientierten, nationalliberalen „Jungtschechen“ (Mladočeši oder auch Národní strana svobodomyslná) von der konservativen Nationalpartei (Národní strana) ab, die auch als „Alttschechen“ (Staročeši) bezeichnet wurde. Im Roman kommt es zu keiner offenen Auseinandersetzungen zwischen der alt- und der jungtschechischen Partei, jedoch werden die unterschiedlichen Auffassungen der beiden Fraktionen thematisiert: Während die Alttschechen, „die es mit der Kirche und dem klerikalen Adel hielten […] erst päpstlich und dann erst tschechisch waren“ [FL, S. 161] richten sich die Jungtschechen gegen die adligen Großgrundbesitzer und „das Deutschtum“ wie auch „einen Teil der eigenen Nation“ [FL, S. 116].

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Als „stürmischer und optimistischer“ Jungtscheche fordert der Student Hyka, „die alttschechische Partei müsse ihr Passivität aufgeben und ihre Vertreter in den Landtag schicken“ [FL, S. 231] um die Rechte der Nation zu vertreten. Jech wiederum, als alttschechischer Anhänger, wirft der jungtschechischen Partei „gemeine Willkür“ [FL, S. 231] vor und dass sie sich nicht trauen würde, im Landtag ihre Muttersprache zu sprechen. Die beiden Freunde streiten sich scheinbar gerne über ihre unterschiedlichen politischen Ansichten: „Nie gelang es es dem einen, den andern zu überzeugen. […] Zuweilen schrien beide gleichzeitig, als wollten sie sich zeitlebens verfeinden. Im nächsten Augenblick vertrugen sie sich wieder miteinander.“ [FL, S. 231 ff.] Rudolf wiederum sympathisiert mit dem Sozialdemokraten Hrusa, der Jech und Hyka gleichzeitig kritisiert: „Also immer redet ihr von der Nation und ihren Rechten. Aber bitte, wer ist bei euch denn die Nation? Die Herren Beamten und die Herren Studenten, oder das arme Volk, das arbeitet und Not hat? Aber das hab ich noch nie gehört, daß einer von euch für die Arbeiter was tut.“ [FL, S. 233] Seiner Ansicht nach setzen sich keine der beiden Parteien für die Arbeiterschaft ein: „Und für die Arbeiter möcht sich, scheint mir, schon verlohnen, daß man in den Landtag geht und hilft Gesetze zu machen. Daß wir nicht noch mehr Steuern kriegen und kein Schulgeld für die Kinder zahlen brauchen. Wir kommen so schon um vor Hunger.“ [FL, S. 233] Die Auseinandersetzungen zwischen der deutschen und der tschechischen Bevölkerung stehen in Die Familie Lowositz im Vordergrund, aber auch die Zuspitzung der antisemitischen Anfeindungen sowie die Unstimmigkeiten zwischen „Alt“- und „Jungtschechen“ sind spürbar. Es wird deutlich, wie prekär die Atmosphäre in Prag ist, wie sich in diesen Jahren die politischen und nationalen Konflikte immer stärker miteinander vermengen und so ein zunehmendes soziales Ungleichgewicht in der Gesellschaft entsteht [vgl. FL, S. 313 f.] – alle Parteien kämpfen um ihre jeweiligen Freiheiten. Insbesondere für Rudolf Lowositz gewinnt die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit innerhalb der Prager Bevölkerung zusehends an Gewicht:

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So war Rudolf bisher ohne Kenntnis der sozialen Frage seinen Weg gegangen. Nun klaffte plötzlich der Boden unter seinen Füßen. Er sah in abgrundtiefes Elend, hörte von Kapitalistenübermut und Arbeiterausbeutung, erfuhr von Männern, die unerschrocken ihre eigene Freiheit wagten, um für die Armen und Elenden zu kämpfen. Das rührte alles auf, was an Auflehnung gegen die Gesellschaft lange in ihm gärte. Für die Unterdrückung einzutreten schien ihm so sehr das oberste Gebot, daß ihm die Philosophie, Sprachforschung und künstlerische Bildung vor dieser harten Wirklichkeit verblaßten. [FL, S. 314] Die Frage nach der Gleichberechtigung erscheint ihm mit zunehmendem Alter entscheidender als die nach seiner eigenen Identität oder seinem einstigen Streben nach humanistischer Bildung. Auf der Suche nach Lösungsmöglichkeiten gerät Rudolf immer tiefer in einen persönlichen Konflikt: Er dachte: ‚Wer bin ich und wo bin ich zu Hause? An dem Tisch der Tschechen sitze ich als Gegner, in meinem eigenen Lager fühle ich mich fremd.‘ Wie war ihm alles klein und unerheblich vorgekommen. Wie schal die alten, immer wiederholten Phrasen. Er fragte sich: ‚Und du? Hast du etwas geprägt, das noch niemand vor dir sagte?‘ Er fand nur Anfänge, keine Vollendung. Zerstörtes, nichts Neuaufgebautes. Er dachte: ‚Wie soll ich meine Zukunft hier gestalten? Wo soll ich aufs neue Wurzeln schlagen in diesem unterwühlten Boden? [FL, S. 389] Derweil verfinstert sich im Roman auch das Prager Stadtbild. Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung hat sich ein schwarzer Dunst über die Stadt gelegt, sodass die Sommerhitze kaum zu ertragen ist: Der Himmel war noch immer dunkel. Nicht von Gewitterwolken, deren Entladung Kühle bringen konnte. Ein mißfarbener, schwerer Dunst verfinsterte die Luft. Ein Gemisch des Rauchs der aus den zahlreichen Fabrikschornsteinen stieg, und des dicken Staubs, der auf dem Straßenpflaster lag. Den ganzen Sommer über lag diese schwarze Decke auf der Stadt. [FL, S. 321]

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Rudolf fühlt sich mit fortschreitender Handlung weder dem deutschen noch dem tschechischen Umfeld zugehörig und bekommt dies auch umgekehrt von den jeweiligen Parteien zu spüren. Von der Lese- und Redehalle wird er schließlich ausgeschlossen mit dem Vorwurf: „Der Verkehr mit den Tschechen und Sozialisten sei ihm offenbar wertvoller gewesen, als der mit Freunden und Kollegen.“ [FL, S. 418] Die Leidenschaft für seine eigene Muttersprache gibt ihm hingegen Verständnis dafür, „daß auch das gegnerische Volk die seine liebe, und ihre jahrhundertelange Unterdrückung als Ungerechtigkeit empfinde.“ [FL, S. 359] Mit seinem humanistischen Denken steht Rudolf als jüdischer Deutscher zwischen den nationalistischen Fronten: „Wer bin ich und wo bin ich zu Hause? An dem Tisch der Tschechen sitze ich als Gegner, in meinem eigenen Lager fühle ich mich fremd. […] Wie soll sich meine Zukunft hier gestalten? Wo soll ich aufs Neue Wurzeln schlagen in diesem unterwühlten Boden?“ [FL, S. 389] Der tschechische Maler Hromadka sagt ihm sogar, dass er in seinen Augen überhaupt nicht deutsch sei: „Aber Sie sind gar kein Deutscher. Sie sind ein Künstler so wie ich.“ [FL, S. 401 f.] Rudolf entschließt sich endlich auf den Rat seines Lehrers Dr. Markus hin, Prag zu verlassen und „hinaus ins Reich“ zu gehen – „irgendwohin, wo die Sonne scheint und die Menschen gern lachen“ [FL, S. 220 f.]. Er will sein Studium in Berlin fortsetzen, in der „Hauptstadt, zu der alle Schaffenden und alle Könner strömten“, im „neue[n] Reich, das tatkräftige Hände aufgerichtet hatten“ [FL, S. 326]. Dort erhofft er sich eine Freiheit, in der sich der Einzelne in seiner Identität entfalten kann, die in Prag aufgrund der Engstirnigkeit der Bevölkerung eingeschränkt erscheint. da mochte die Meinung sich stark und gradlinig entwickeln können. Da mochte man wie von einem hohen Berg, weite Ausblicke in unentdeckte Länder haben... Hier in der Heimat, schien es ihm, habe jeder Scheuklappen vor die Stirn gebunden, die ihn hinderten, über seinen eigenen Schatten wegzusehen. Und jeder trage eine Brille vor den Augen, die das Ferne kleinte und das Nächstliegende über Maß vergrößerte. [FL, S. 326]

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Der Germanistin Hella-Sabrina Lange zufolge ist die Figur Rudolf Fritz Mauthner nachempfunden, der in Prag als assimilierter Jude lebte.92 Mauthner war von einem ähnlichen gesellschaftlichen und politischen Milieu geprägt, welches in Die Familie Lowositz beschrieben wird, und hat seinerseits Prag im Jahr 1876 verlassen, „weil er sich den Nationalstreitigkeiten hilflos gegenüberstehend sah und sich in Berlin ein geeignetes Wirkungsfeld erhoffte“93: „die Leidenschaft meines Lebens siegte, und ich hatte nicht mehr Neigung genug für die nationalen Kämpfe meiner Heimat, die mir just damals mehr als heute als elende Katzbalgereien erschienen.“ 94 Im beginnenden 20. Jahrhundert verließen viele der Prager deutschsprachigen Intellektuellen die Stadt aufgrund der angespannten Situation und übersiedelten nach Deutschland. Die Auseinandersetzung von Rudolf mit seiner eigenen Identität impliziert in Die Familie Lowositz die Frage nach der Identifikation mit dem Judentum. Hauschners Roman ist einer der wenigen Texte der Prager deutschsprachigen Literatur, die sich konkret mit dieser Thematik auseinandersetzen, jedoch steht die Frage nach der Identifikation mit der jüdischen Lebenswelt entgegen einiger Forschungsannahmen nicht im Vordergrund.95 Rudolfs Entscheidung Prag zu verlassen, hat kaum etwas mit seinem jüdischem Selbstbild oder mit einer Hoffnung auf eine größere Akzeptanz der jüdischen Religion im Deutschen Reich zu tun, als vielmehr mit seiner Identität als Deutscher. Für die Familie Lowositz stellt das Judentum eine innere Haltung dar, die kaum nach außen getragen wird („Das Wort ‚Jude‘ wurde vor anderen nicht ausgesprochen.“ [FL, S. 48]) und es gibt im Text auch keine Anhaltspunkte dafür, dass dazu ein Bedürfnis besteht. Im Vergleich zum 92 93 94 95

Vgl. Lange, Hella-Sabrina: „Wir stehen alle wie zwischen zwei Zeiten.“ Zum Werk der Schriftstellerin Auguste Hauschner (1850 – 1924). Essen 2006. S. 168. Lange, Hella-Sabrina: „Wir stehen alle wie zwischen zwei Zeiten.“ S. 168. Mauthner, Fritz: Erinnerungen I. Prager Jugendjahre. S. 142. So geht zum Beispiel Susanne Fritz in Die Entstehung des ‚Prager Textes‘ davon aus, dass Die Familie Lowositz den Themenbereich des Jüdischen repräsentieren würde und in diesem Roman „eine konkrete Auseinandersetzunng mit der Position des Judentums als dritter Prager Nationalität und jüdischer Lebenswelt“ stattfinden würde. (Fritz, Susanne: Die Entstehung des ‚Prager Textes‘. Prager deutschsprachige Literatur von 1895 bis 1934. Dresden 2005. S. 168) Auch Hella-Sabrina Langes Einschätzungen zufolge finden sich in Auguste Hauschners Werk „Modelle jüdischer Identitätskonstruktion“. (Lange, Hella-Sabrina: „Wir stehen alle wie zwischen zwei Zeiten.“ S. 149 ff.)

II Zur Entstehung eines literarischen Mythos

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„Deutsch-“ und „Tschechentum“ wird das Judentum in Die Familie Lowositz verhältnismäßig wenig thematisiert. Es gibt zwar einige Hinweise auf jüdische Traditionen, doch wurde bereits weiter oben darauf hingewiesen, dass die Familie Lowositz als assimilierte jüdische Familie dargestellt wird und die jüdischen Bräuche lediglich gewahrt werden, um sich der Gunst Jehovas zu versichern [Vgl. FL, S. 63]. Als die Mutter Lowositz Selbstmord begeht, hält sich der Vater zwar strikt an die eindrucksvollen Trauersitten und sitzt Schiwe („Acht Tag lang lauerte er auf einem Schemel an der Erde, zerriß seine Kleider und bestreute sie mit Asche.“ [FL, S. 225]), da er jedoch andernfalls wenig für die jüdischen Traditionen übrig hat, mutet diese strenge Einhaltung vielmehr wie eine Bezugnahme auf das Stereotyp des leidenden jüdischen Volkes an. Auch die Passage, in der sich Rudolf schmerzlich dessen bewusst wird, dass die Juden Kaiser Joseph nie besessen hätten, obwohl er sich für die jüdische Gleichberechtigung einsetzte, thematisiert ein weiteres jüdisches Stereotyp – das des heimatlosen Volkes: „Unser Ahnherr war er nie. Wir haben gar kein Vaterland.“ [FL, S. 337]96 Für den jungen Mann bedeutet diese Erkenntnis einen weiteren Aspekt der Verunsicherung und er fühlt von seiner Seele „wieder eine Hülle weggerissen, und sie lag nackt und zitternd in dem rauhen Reif der Wirklichkeit.“ [FL, S. 339] Weiterhin findet die Instrumentalisierung der „Judenschaft“ innerhalb der Nationalkonflikte Erwähnung. Da diese weder der deutschen noch der tschechischen Nation angehörten, versuchte man sie in politischen Fragen für eine Seite zu gewinnen [vgl. FL, S. 337]. In diesem Zusammenhang wird ferner auf die Beliebigkeit der nationalen Identität in diesen Jahren in Prag hingewiesen: Ein entfernter Bekannter Rudolfs hat „sich bei dieser Gelegenheit ‚aus Überzeugung‘ in einen Tschechen umgewandelt“ [FL, S. 329]. Obwohl also im Roman an mehreren Stellen Stereotype und die Situation der jüdischen Bevölkerung in Prag Erwähnung finden und obgleich sich Rudolf durchaus mit seinem Dasein als Jude auseinander setzt, ist die Problematik jüdischer Identität in Die Familie Lowositz kaum als zentral zu verstehen. Vielmehr sieht sich die Figur Rudolf als großstädtisches Individuum und als 96

Zur Thematik des Juden als Leidensträger und des heimatlosen Volkes vgl. auch die Kapitel zu Das ‚Jüdische Prag‘: Fremdheit versus Vertrautheit.

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4 Nationale Identitätskonstruktion und Stereotypisierung des Anderen

junger Mann zwischen den nationalen Fronten am Beginn des 20. Jahrhunderts ganz allgemein einer umfassenden Verunsicherung erlegen, auch unabhängig von seinen religiösen Grundansichten. Wie Lange anmerkt, haben bereits Martin Buber und Sigmund Freund erkannt, dass „jüdische Identität sich im Dunkeln des individuellen Bewußtseins, jenseits jeder Definition“ 97 offenbare und dass es sich bei der Frage nach der jüdischen Identität um eine unklare Begrifflichkeit handele, da diese nicht zuletzt eine spezifisch moderne Komponente enthalte98: Doch um das Gleichgewicht der Persönlichkeit zu retten, hatte jeder bewußt und unbewußt eine persönliche, psychologische und geistige Strategie zu entfalten, die allmählich eine Identität rekonstruierte. Der einzige oder letzte Besitzer von Gewißheiten über die jüdische Identität war der Antisemit. Der assimilierte jüdische Intellektuelle dagegen, der in eine neue Lage geriet, schien zum Status des ‚imaginären Juden‘ verurteilt zu sein. Das Judentum wurde zu einer Sache, zu einer vollständigen Selbstbefragung und zu einer fortgesetzten Erfindung.99 Der Versuch in Die Familie Lowositz eine Antwort auf die komplexe Frage jüdischer Identität zu finden endet in mystifizierenden Interpretationen. Vielmehr belegt dieser Text (ebenso wie der Leserbrief an Auguste Hauschner), dass die prekäre gesellschaftliche und politische Lage in Prag und die Feindschaft zwischen der deutschen und der tschechischen Bevölkerung insbesondere für die junge intellektuelle und gebildete Generation unerträglich waren. Die Familie Lowositz beschreibt die Desillusionierung der Figur Rudolf, die an dem gesellschaftlichen Druck, sich mit einer Nation oder einer Kultur zu identifizieren, scheitert. Rudolf revoltiert auf verschiedenen Ebenen gegen gesellschaftliche Konventionen: Zunächst lehnt er sich mit der Entscheidung, Philosophie zu studieren, gegen die kommerzielle Erwerbstätigkeit seines Vaters auf und stellt damit die kaufmännische Familientradition in Frage. Weiterhin verkehrt er auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen, 97 98 99

Vgl. Meyer, A. Michael: Jüdische Identität in der Moderne. Frankfurt 1992. S. 11. Vgl. Lange, Hella-Sabrina: „Wir stehen alle wie zwischen zwei Zeiten.“ S. 167. Rider, Jaques Le: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. Wien 1990. S. 284.

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sowohl in deutschen Studentenkreisen, als auch in tschechischen intellektuellen und künstlerischen Gesellschaften. Zu seinem engeren Bekanntenkreis zählen deutsche Burschenschaftler, Jungtschechen, Alttschechen, Sozialdemokraten sowie intellektuelle Geisteswissenschaftler, Künstler:innen und Jüd:innen. Dennoch fühlt er sich als Individuum keiner Gruppe zugehörig und es ist ihm nicht möglich, sich eindeutig zu positionieren oder einer spezifischen Kultur zuzuordnen, wie es die Prager Gesellschaft von ihm verlangt. So entscheidet sich Rudolf schließlich, Prag zu verlassen, nicht etwa, weil er unter dem wachsenden Antisemitismus zu leiden hatte, sondern weil er als Individuum umfassend an der Prager Gesellschaft und Umwelt scheitert. Trotz dem Versuch sich aufzulehnen und seinen humanistischen Wertvorstellungen zu folgen, kann er nicht gegen die gesellschaftliche Realität ankommen. Nicht sein Dasein als Jude stürzt ihn in Verzweiflung über eine mangelnde Gleichberechtigung und gegenseitige Akzeptanz innerhalb der Prager Bevölkerung, sondern vielmehr die Auseinandersetzungen zwischen der deutschen und der tschechischen Bevölkerung und die Lage der tschechischen Arbeiter:innenschaft. In diesem Zusammenhang ist auch die ausführliche und vielschichtige stereotype Kontrastierung der Prager Bevölkerung zu verstehen: Während die tschechische Stereotypisierung in Die Familie Lowositz explizit ist, werden in den Darstellungen der Familie und der Figuren implizit auch viele Klischees und Stereotype der Prager deutschen Bevölkerung beschrieben. Diese scharfe Kontrastierung der Gesellschaft und die Abgrenzung der einzelnen Gruppierungen oder Lager verdeutlicht die Gegensätze, die stellenweise unüberwindbar erscheinen. Da es aber dem einzelnen Individuum nicht immer möglich ist, sich kategorisch mit derartigen Schablonen zu identifizieren, wird ersichtlich, dass es sich bei der Konstruktion nationaler und kultureller Identität um einen Versuch handelt, in der verunsichernden Wirklichkeit der modernen Großstadt als einem Ort der gefährdeten Subjektivität Erklärungsmuster und Halt zu schaffen. Dieser Versuch entspricht jedoch nicht unbedingt der Realität und gerade Rudolfs vielschichtige Verbindungen sprechen dafür, dass sich die jüdische Bevölkerung weder in einem mehrfachen Ghetto befunden hat, noch die drei Kulturen der „Tripolis Praga“ deutlich voneinander abzugrenzen gewesen wären.

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In den nun folgenden Kapiteln rückt die Darstellung und Semantisierung der Stadt Prag in der Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts wieder in den Fokus. Diese steht zum zeitgeschichtlichen Kontext und dem Versuch der Konstruktion nationaler und kultureller Identitäten in einem gewissen Verhältnis. Vorerst werden in Form eines Überblicks die tschechische und die deutschsprachige Prag-Literatur der Jahrhundertwende mit ihrem jeweiligen Prag-Bild gegenüber gestellt. Anhand ausgewählter tschechisch- und deutschsprachiger Textbeispiele soll überprüft werden, ob in den einzelnen Darstellungen eine Besetzung des Stadtraumes stattfindet, sei sie nationalpolitischer oder ideeller Natur. Weiterhin wird hinterfragt, ob sich an den einzelnen Texten tatsächlich die Inszenierung einer „Tripolis“ bzw. die Konstruktion nationaler Identität nachvollziehen lässt. Im anschließenden Abschnitt erfolgt dann eine genauere Analyse und Interpretation der einzelnen Aspekte und der damit zusammenhängenden Mythisierung bestimmter ideeller Räume und deren Funktionen. Die Thematik des Judentums bzw. des „Jüdischen Prag“ wird in diesem Vergleich zunächst nicht ausführlich behandelt, da sie für sich einen eigenen bedeutenden Aspekt des Prag-Mythos darstellt, dem ein gesonderter Abschnitt gewidmet ist.

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5 Dem Untergang geweiht: Prag im tschechischen „desillusionierten patriotischen Roman“ Zdá se, že Praha – věrna obrazu nehybného města, které samo pěstuje vztah k Minulosti […] – se opírá o silnou vrstu mrtvol. […] Koncem minulého století se totiž Praha stává pro české spisovatele černým městem – hřbitovem, balancujícím nad vodou jako Benátky. Mramorem a kamenem. A svícemi.100 [Giuseppe Dierna]

Vergleicht man die Texte aus dem 19. Jahrhundert, in denen Prag zum Schauplatz literarischer Darstellung wird, so fällt, dass die entsprechenden Werke der tschechischen Nationalliteratur dieser Zeit größtenteils verschiedenen literarischen Strömungen des Realismus zuzuordnen sind. Einer der bekanntesten tschechischen Schriftsteller:innen des 19. Jahrhunderts ist Jan Neruda. In seinen Prosaskizzen Arabesky (1864) und Povídky malostranské (1877) beschreibt er das soziale Milieu des biedermeierlichen Kleinbürger:innentums auf der Prager Kleinseite. Es geht in seinem Werk allerdings weniger darum, ein bedeutungsvolles Stadtbild zu entwerfen, vielmehr stehen im Mittelpunkt dieser spöttischen Beobachtungen einheimische Prager Typen mit ihren verschrobenen Eigenheiten. Weiterhin ist Prag auch Ort der Darstellung im Werk von Jakub Arbes. Sein Schreiben ist einerseits der Phantastischen Literatur zuzuordnen, andererseits kommt es aber in der Regel zu einer logisch erklärbaren Auflösung: Seine Romaneti (eine Mischform zwischen Roman und Erzählung, die Arbes als Genre selbst entwickelt hat) handeln von übernatürlich und gespenstisch anmutenden Ereignissen, die jedoch am Ende logisch aufgeklärt werden. Das Romaneto Svatý Xaverius (1873) beispielsweise spielt vor der authenti-schen Kulisse Prags in der Sankt-Nikolaus-Kirche (Kostel Svatého Mikuláše) auf der Kleinseite. In dieser Kirche lässt sich der IchErzähler eines Nacht einschließen und hat dort vermeintlich eine Vision, die 100 Dierna, Giuseppe: Praha za soumraku Rakouska-Uherska: mýtus a jeho dvojník [Prag in der Dämmerung Österreich-Ungarns: ein Mythos und sein Doppelgänger]. In: Analogon 18/ 1996 (Praha skrz prsty [Prag durch die Finger]). S. 109-112, hier S. 110 f. Dt.: Es scheint, dass Prag – getreu dem Abbild einer unbeweglichen Stadt, welche selbst ihre Beziehung zur Vergangenheit pflegt […] – sich auf eine starke Schicht von Leichnamen stützt. Am Ende des letzten Jahrhunderts wird Prag nämlich für die tschechischen Schriftsteller zu einer schwarzen Stadt – einem Friedhof, über dem Wasser balancierend wie Venedig. Zu Marmor und Stein. Und zu Kerzen.

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5 Prag im tschechischen „desillusionierten patriotischen Roman“

sich später als Traum herausstellt. Jedoch ist auch hier die Stadt weniger zentrales semantisiertes Element als atmosphärischer Schauplatz. Auch die Schriftstellerin Karolina Světla beschäftigt sich in ihrer Prosa mit dem Prager Milieu, so zum Beispiel in První Češka (Die erste Tschechin, 1861), Černý Petříček (Der schwarze Petříček, 1871) oder in Upomínky (Mahnungen, 1874). Sie schildert darin das Leben der tschechischen Gesellschaft in Prag im 19. Jahrhundert und die Schwierigkeiten der Verwirklichung des tschechischen Patriotismus in der deutsch dominierten Stadt. Auch hier liegt der Fokus, ähnlich wie bei Neruda, eher auf gesellschaftlichen Studien und der Darstellung des „maloměšťák“ (Kleinbürger) als auf der Stadt Prag an sich.101 Die tschechische Literatur steht mit der Nationalgeschichte in einem engem Zusammenhang und kann vor allem im 19. Jahrhundert als Ausdruck eines patriotischen Selbstverständnisses verstanden werden. Besonders in der Zeit der nationalen Unabhängigkeitsbewegung,102 der sogenannten Tschechischen Nationalen Wiedergeburt, macht sich der Kampf um die politische Autonomie in der Literatur bemerkbar. Um die Jahrhundertwende finden sich schließlich eine Reihe von Prosatexten, in denen die Stadt Prag und deren Darstellung als vielschichtiges bedeutungstragendes Element zu verstehen ist. So etwa in Gotická duše (Die gotische Seele, 1905) von Jiří Karásek ze Lvovic und vor allem im ersten Teil seiner Trilogie Romány tří mágů: Román Manfreda Macmillena (Romane der drei Magier: Roman des Manfred Maximilians, 1907), in Antonín Sovas Výpravy chudých (Expeditionen der Armen, 1903) oder in Nad městem (Über der Stadt, 1917) von Miloš Marten. Eine grundlegende Funktion der Darstellung Prags in diesen Texten ist patriotischen Ursprungs, wobei die Stadt-Imago auf das historische Zentrum und dessen Vergangenheit ausgerichtet ist: „Es ist die Rede vom ‚alten‘ (stará), ‚altehrwürdigen‘ (staroslavná) und ‚hochberühmten‘ (veleslavná) Prag.“ 103 Die 101 Vgl. hierzu Krejčí, Karel: Praha legend a skutečnosti. S. 232 ff. 102 Die tschechische nationale Unabhängigkeitsbewegung wird vom letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis zum Revolutionsjahr 1848 datiert. 103 Tippner, Anja: Die permanente Avantgarde? Surrealismus in Prag. Köln; Weimar; Wien 2009. S. 151.

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Literaturwissenschaftlerin Daniela Hodrová bezeichnet diese Art von Prosatexten als „deziluzívní vlastenecký román“104, als desillusionierte patriotische Romane: V deziluzívním románu konce a přelomu století vystoupilo město poprvé ve vší výraznosti jako subjekt: prostor se personifikuje, město se stává svého druhu bytostí, postavou díla. Přitom si můžeme povšimnout, že se tu podobné pojetí města objevuje v těsné souvislosti s rozpoložením hlavního hrdiny – s jeho citovou zjitřeností, stavem deziluze, přičemž hledisko hrdiny často splývá s hlediskem vypra-věče.105 Im Vordergrund steht die Desillusionierung des Helden, der das verlorene tschechische Volk betrauert. Häufig erscheint die Stadt Prag in diesen Texten als allegorische Frauengestalt. Sie wird entweder als ersehnte Geliebte, als steinerne, kalte Frau oder als schwermütige, unglückliche Mutterfigur des verlorenen tschechischen Volkes charakterisiert: Pro deziluzívní vlastenecké romány je typická proměna Prahyvytoužené milenky a královny v děvku a královnu zhanobenou. Důležitým atributem obrazu města začíná být apokalyptičnost (PrahaSodoma, Praha-umírající bytost), výraznou dominantnou se stává Bílá hora, město se tu rýsuje jako město s pamětí, přitom pamětí tragickou.106

104 Vgl. Hodrová, Daniela: Město [Stadt]. In: Hodrová, Daniela: Místa s tajemstvím. S. 94-108. Über die Zuordnung zur Gattung Roman lässt sich bei einigen dieser Texte sicher streiten. So entsprechen die kürzeren Texte Nad městem und Gotická duše gattungskonzeptuell eher dem Rahmen einer Erzählungen, letztere ließe sich auch als Novelle einordnen. 105 Hodrová, Daniela: Místa s tajemstvím. S. 96. Dt.: Im desillusionierten Roman am Ende und an der Wende des Jahrhunderts erschien die Stadt erstmals in allen Ausprägungen als Sub jekt: Der Raum wird personifiziert, die Stadt wird in ihrer Art zur Gestalt, zur Figur des Werkes. Dabei lässt sich feststellen, dass sich hier die Konzeption der Stadt ähnlich verhält und in engem Zusammenhang mit der Stimmung des Protagonisten steht – mit seiner emotionalen Verzweiflung, dem Zustand der Desillusionierung, wobei der Blickwinkel des Helden oftmals mit dem Blickwinkel des Erzählers verschmilzt. 106 Hodrová, Daniela: Místa s tajemstvím. S. 97; Dt.: Typisch für die desillusionierten Romane ist der Wandel von Prag als ersehnter Geliebter und Königin zur Hure und geschändeten Königin. Die apokalyptische Stimmung wurde zu einem wichtigen Attribut des Stadtbildes (Prag als Sodom, Prag als sterbende Gestalt), Bílá hora wird zur ausdrucksstarken Dominante, hier zeichnet sich die Stadt als Gedächtnis ab, und zwar als tragisches Gedächtnis.

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5 Prag im tschechischen „desillusionierten patriotischen Roman“

Dabei erscheint Prag wohlgemerkt nicht etwa als Figur, sondern das Bild der Stadt wird personifiziert und mit weiblichen Attributen und Eigenschaften versehen.107 Die Texte sind ferner durchzogen von einer Todessymbolik und von Vanitas-Motiven, welche traditionell an die tschechische Barockliteratur (Pobělohorská literatura) und an die tschechische Romantik, etwa Karel Hynek Máchas, erinnern: A jestliže město v dílech českých spisovatelů vyvolává svými emblémy a svými kameny čím dál tím více dojem ohromného hřbitova, postaveného na památku ztracené slávy, nemůže být jeho podzemí popsáno jinak než jako nezměrná nekropole, útočiště nahromaděných mrtvol.108 Die Entstehung des tschechischen desillusionierten patriotischen Romans und dessen Inhalte gehen einher mit der schwierigen politischen Situation der 1890er Jahre in Prag, in denen sich die tschechische Bevölkerung innerhalb der Habsburger Monarchie im Kampf um die Durchsetzung ihrer nationalen Identität befindet. Die Nationalkonflikte als solche werden zwar weniger konkret thematisiert, jedoch können sie als Ursprung der vorherrschenden resignierten und hoffnungslosen Stimmung dieser Texte verstanden werden. Diese drückt sich wiederum im Motiv des verlorenen tschechischen Volkes aus, das zusammen mit einer starken Todessymbolik und der Allegorisierung der Hauptstadt Prag als einer schwermütigen Frauengestalt erscheint. Ein beispielhaftes Bild einer toten Stadt, welches aus der starken Desillusionierung in Bezug auf das Dasein des tschechischen Volkes resultiert, liefert Jiří Karásek ze Lvovic in Gotická duše (Die gotische Seele, 1905): Naposled oživuje Praha živlem, jenž má něco podobného s národem dávno vymřelým, jenž v ní kdysi obýval... Neoživuje národ, oživuje pouhá jeho fikce… Zcela krátké bude bytí toho živlu. Jak malicherný 107 Zur Allegorisierung der Stadt Prag als Mutterfigur bzw. als Frau und zu den desillusionierten patriotischen Texten vgl. auch die Kapitel Matička Praha und das Bild einer toten Stadt und Tableau des Selbstverlustes: Der nächtliche Spaziergänger und die dunkle Seite der Stadt. 108 Dierna, Giuseppe: Praha za soumraku Rakouska-Uherska: mýtus a jeho dvojník. S. 110. Dt.: Und wenn die Stadt im Werk der tschechischen Schriftsteller mit ihren Emblemen und ihren Steinen den Eindruck eines riesigen Friedhofes umso mehr heraufbeschwört, erbaut zum Gedenken des verlorenen Ruhmes, so kann ihr Untergrund nicht anders beschrieben werden, als ein unermessliches Todesfeld, Zuflucht einer Anhäufung von Toten.

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byly všechny jeho drobné zápasy, krotké protesty, proti ohromné přesile dravčího živlu, přepadávajícího jej mohutnou silou! Slabodecha byla sentimentalita, s níž lnul tento lid k slavným purpurům minulosti a střehl koruny starých králů, dávno zetlelých! Nic nebylo jeho – než neodvratná smrt.109 Diese Metaphorisierung einer toten Stadt resultiert aus dem Gefühl der Niedergeschlagenheit des Protagonisten Vilém. Er sucht die Erklärung für seine Ohnmacht in seinem „Tschechentum“ (češství) und bezweifelt, ob er überhaupt tschechisch ist, da ihm seine geistige Welt der der Franzosen oder der Deutschen viel näher zu sein scheint. 110 Jedoch überkommen ihn mit der Empfindung Prags als einer „toten“ Stadt auch patriotische Gefühle, er fühlt sich als ein Teil des Ganzen und mit Tod wird das tschechische Volk ewig, heilig und ehrwürdig: Podmanila jej hypnosa této smrti. Podivný cit se ho zmocnil: jako by vymřelo všechno již kolem, a jako by byl též již částkou toho mrtva. Ale smrtí jako by bylo též vyrovnáno všechno. Šel slavnostně dlažbou mrtvé Prahy. Zdálo se mu, že tu již sama věčnost chodí po prachu zetlení. Teď byl český národ a všechno, co s ním souviselo, něčím tak svatým, co bylo nutno jen milovati. Ano, všechno, čím tento národ prokazoval před věky své bytí, bylo teď čisté, úctyhodné.111 109 Karásek ze Lvovic, Jíři: Gotická duše a jiné prózy. [Die gotische Seele und andere Prosa]. Prag 1991. S. 35. Dt.: Zum letzten Mal wurde Prag mit einem Element zum Leben erweckt, das irgendeine Ähnlichkeit mit einem lange ausgestorbenen Volk hat, welches irgendwann diese Stadt bewohnte... Nicht das Volk erwacht zum Leben, bloß seine Fiktion... Sehr kurz wird die Existenz dieses Elements sein. Wie kleinlich waren all seine kleinen Wettkämpfe, sanften Proteste, gegenüber der riesigen Übermacht der räuberischen Elemente, die es mit ihrer gewaltigen Kraft überfallen haben. Schwachsinnig war die Sentimentalität, mit der sich die Menschen an die ruhmreiche, purpurne Vergangenheit klammerten und die Kronen der alten, längst vermoderten Könige wahrten! Nichts blieb ihnen – nichts als der unvermeidli che Tod. 110 Vgl. Karásek ze Lvovic, Jíři: Gotická duše. S. 38: „Hledal vysvětlení své nemohoucnosti ve svém češství. Je vůbec českým jeho duševní svět? Myslí německy a francouzsky. Zajímá se o Francouze a Němce. Cítí, dýchá a žije germánsky a gallsky.“ [Er suchte die Erklärung seiner Kraftlosigkeit in seinem Tschechentum. War seine Geisteswelt überhaupt tschechisch? Er dachte deutsch und französisch. Er interessierte sich für die Franzosen und die Deutschen. Er fühlte, atmete und lebte germanisch und gallisch.] 111 Karásek ze Lvovic, Jíři: Gotická duše. S. 35. Dt.: Eine Hypnose dieses Todes übermannte ihn. Ein seltsames Gefühl bemächtigte sich seiner: als ob alles um ihn herum schon gestor -

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5 Prag im tschechischen „desillusionierten patriotischen Roman“

In gewisser Hinsicht fungieren die Schriftsteller der patriotischen Literatur als Gewissen bzw. Gedächtnis der Nation und stellen ihr Schreiben in den Dienst ihres Volkes. In einem Tagebucheintrag vom 25.12.1911112 reflektiert Franz Kafka über die Bedeutung und die Vorteile „kleiner“ Literaturen, wie zum Beispiel der jüdischen oder der tschechischen: Durch „dieses Tagebuchführen einer Nation“ wird „das einheitliche Zusammenhalten des im äußeren Lebens oft untätigen und immer sich zersplitternden nationalen Bewußtseins der Stolz und der Rückhalt, den die Nation durch eine Litteratur für sich und gegenüber der feindlichen Umwelt erhält“ bewirkt. Im Gegensatz zu der einer „großen“ ist die Literatur einer „kleinen“ Nation mehr „Angelegenheit des Volkes“ 113, sie ist politisch, sie begründet das Selbstbewusstsein einer Nation und spiegelt deren Eigenwahrnehmung. Das Gedächtnis einer kleinen Nation ist nicht kleiner als das Gedächtnis einer großen, es verarbeitet daher den vorhandenen Stoff gründlicher. Es werden zwar weniger Litteraturgeschichtskundige beschäftigt, aber die Literatur ist weniger eine Angelegenheit der Litteraturgeschichte als Angelegenheit des Volkes und darum ist sie wenn auch nicht rein so doch sicher aufgehoben. Denn die Anforderungen, die das Nationalbewußtsein an den einzelnen stellt, bringen es mit sich, daß jeder immer bereit sein muß den auf ihn entfallenden Teil der Litteratur zu kennen, zu tragen und zu verfechten und jedenfalls zu verfechten, wenn er ihn auch nicht kennt und trägt.114 Pavel Eisner schreibt in einem Beitrag in der Tschechoslowaksichen Heimatkunde 1933, dass die tschechische Literatur im Vergleich zu anderen Natio-

ben wäre, und als ob auch er nur mehr Teil dieser Leblosigkeit wäre. Aber durch den Tod war auch alles wie ausgeglichen. Er ging feierlich über das Pflaster der toten Stadt Prag. Es schien ihm, als würde hier schon die Ewigkeit selbst über den Staub der Verwesung gehen. Jetzt war das tschechische Volk und alles, was mit ihm zusammenhing, etwas so Heiliges, das man einfach nur lieben musste. Ja, alles, wodurch sich vor Jahrhunderten die Existenz dieses Volk auszeichnete, war jetzt rein, ehrwürdig. 112 Kafka, Franz: Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcom Pasley. Frankfurt am Main 1990. S. 312 ff. 113 Kafka, Franz: Tagebücher. S. 315. 114 Ebd.

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nalliteraturen in einem unverhältnismäßig großem Ausmaße bewusst einer nationalen Mission diente: Jenže české literatuře připadl úkol vděčnější: její buditelské usměrnění bylo principem v podstatě kladným, jehož tvůrčí projev nebyl zpravidla v rozporu se zákony nadnárodní mravnosti všelidské. […] České renesanci nebylo třeba vybičované bezprostřední nenávisti národnostní, a české písemnictví devatenáctého století i z doby pozdější nese zřejmě stopy této šťastné konstelace.115 Die nationalen Traumata der Geschichte prägten die tschechische Eigenwahrnehmung offenbar sehr stark. In diesem Zusammenhang beeinflusst die Vergangenheit der Stadt auch die Darstellung Prags in literarischen Texten der Jahrhundertwende mehr als der Aspekt einer sich entfaltenden modernen Großstadt. Der „Mythos der Nationalen Wiedergeburt“116 zwingt die Prager Künstlerinnen und Künstler immer wieder zu einer selbstreflexiven Auseinandersetzung: Der Mythos vom Schriftsteller als Gewissen des Volkes ist einer der dominantesten Mythen der ‚tschechischen Nationalwiedergeburt‘. Er erhebt die tschechischen Schriftsteller zur moralischen Instanz für das Wohl der Nation und verpflichtet sie zum Kampf für die sozialen und nationalen Rechte der Tschechen, für den sie mit ihrem Werk sowie mit ihrem Leben bürgen sollen.117 115 Eisner, Pavel: Německá literatura na půdě Československá republiky. Od roku 1848 do naších dnů [Deutsche Literatur auf dem Boden der Tschechoslowakischen Republik. Vom Jahre 1848 bis zu unseren Tagen]. In: Československá vlastivěda. Písemnictví. Band 7. Prag 1933. S. 325-337, hier S. 325. Dt.: Nur dass der tschechischen Literatur eine günstigere Aufgabe zuteil geworden war: ihre erweckende Ausrichtung war ein im Grunde positives Prinzip, dessen schöpferischer Ausdruck in der Regel nicht im Widerspruch mit den übernationalen Gesetzen der allgemein menschlichen Tugendhaftigkeit stand. […] Die tschechische Wiedergeburt bedurfte keines aufgepeitschten unmittelbaren nationalen Hasses und das tschechische Schrifttum des 19. Jahrhunderts trägt auch aus späteren Zeiten merklich Spuren dieser günstigen Konstellation mit sich. 116 Pfeiferová, Dana: Zwischen Alltag und Ausnahmezustand. Zu Positionierungen des Mythos im Werk von Libuše Moníková. In: Haines, Brigid; Marven, Lyn (Hrsg.): Libuše Moníková in Memoriam. Amsterdam; New York 2006. S. 229-244, hier in einer Anmerkung S. 244. 117 Pfeiferová, Dana: Zwischen Alltag und Ausnahmezustand. Zu Positionierungen des Mythos im Werk von Libuše Moníková. S. 244.

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5 Prag im tschechischen „desillusionierten patriotischen Roman“

Die Bevölkerung und dementsprechend auch die Schriftsteller:innen identifizieren sich mit dem Schicksal der Stadt Prag. Demzufolge ist durch die Allegorisierung der Stadt als Mutterfigur Prag auch als Wiege des tschechischen Volkes zu verstehen. Häufig besinnen sich die Figuren dieser Texte auf die tragische Vergangenheit ihres Volkes und ihres Landes. Der Stadtraum wird so zu einem Gedächtnisspeicher für die Geschichte der Stadt und die Vergangenheit des tschechischen Volkes. Interessant ist dabei, dass diese Autoimago nicht nur von tschechischen Schriftsteller:innen selbst inszeniert wird, sondern das Stereotyp eines traurigen und verlorenen, tatenlosen Volkes auch in einem der ersten deutschsprachigen Prag-Texte thematisiert wird. Die Stadt spielt ebenso in der Prager deutschsprachigen Literatur eine bedeutende Rolle, welche etwa im gleichen Zeitraum wie der tschechische desillusionierte patriotische Roman entstanden ist – an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Einerseits wird auch von deutschsprachigen Schriftsteller:innen die Beziehung des tschechischen Volkes zu seiner Heimatstadt reflektiert, andererseits pflegten diese selbst eine existentielle und verhängnisvolle Beziehung zu ihrer Mutterstadt. Rainer Maria Rilke etwa, der sein frühes Werk seiner geliebten Heimatstadt widmete, thematisiert in König Bohusch, einer seiner Zwei Prager Geschichten (1899), das desillusionierte tschechische Volk. In dieser Zeit der Nationalkonflikte zwischen der deutschen und der tschechischen Bevölkerung wird auch in der Prager deutschen Literatur das Stereotyp eines traurigen und verlorenen, tatenlosen tschechischen Volkes entworfen. Rilke entwickelt folgendes Gespräch zwischen der Figur des Dichters Bohusch und dem Studenten Rezek, in dem es darum geht, dass die tschechische Kunst nicht das Volk repräsentiere, sondern die Maler und Dichter vielmehr der Mode aus Frankreich nacheiferten: „sie wissen nichts voneinander – das Volk nicht von ihnen und sie nicht vom Volk.“118 Man importiert alles aus Paris: die Kleider und die Gesinnung, die Gedanken und die Inspiration. […] Man ist überhaupt gar nicht mehr 118 Rilke, Rainer Maria: König Bohusch. In: Ders.: Prosa und Dramen. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hrsg. von August Stahl. Frankfurt am Main; Leipzig 1996. S. 151-194, hier S. 159.

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hier, in Böhmen, zu Haus; i wo, man hat seine Heimat irgendwo – was weiß ich – an dem Urquell des Lebens. Das ist doch lustig. Nicht? Während das Volk sich rührt und zum erstenmal fühlt, wie jung und gesund es ist und die neue zage Kraft des Anfangs in seinen Adern quillt, schänden die Künstler seine Sprache dadurch, daß sie ihren Frühling für die kranke Kunst eines Endes mißbrauchen.119 Das tschechische Volk charakterisiert Rezek als zu jung, als dass es schon genug Selbstbewusstsein hätte entwickeln können: „Sie sind ja nicht von heute, wie das Volk, das noch ganz kindisch ist, voller Wünsche und ohne eine einzige Erfüllung. Sie sind ja über Nacht fertig geworden. Überreif.“ 120 Bohusch missfällt die Manier der Künstler, sich stets in die Vergangenheit zu flüchten, sie erzählen „von den Kreuzzügen und vom schwarzen Mittelalter“, während seiner Meinung nach das Prag der Gegenwart „lauter Heiligtümer“ 121 darböte. Die literarischen Traditionen sind für Rezek überholt, sie sind Ausdruck einer ängstlichen Unbeholfenheit, „die trotz aller Sorgfalt blasser und blasser wird von Enkel zu Enkel, so daß es kaum mehr weiß von den lebendigen Reichtümern seiner Heimat.“122 Bohusch hingegen ist der Ansicht, dass für jemanden, der in Prag aufgewachsen ist, die Kirchen und die Paläste für sich sprechen und dass deren Geschichten von ihren Einwohnern so oft erzählt wurden, dass kein Dichter mehr darüber schreiben bräuchte. Aber auch Bohusch vermisst die Abbildung des gegenwärtigen Prags in der Kunst, allerdings nicht das der Heiligtümer, sondern das des Volkes, der Arbeiterschaft: „Die Gassen da und die Menschen und dann besonders die Felder hinter der Stadt und die Menschen dort […], so ein Feld ohne Ende, traurig und grau.“ Er bedauert, dass es in der Kunst keine Darstellungen gibt aus dem tatsächlichen tschechischen Arbeiterleben, aus den Steinbrüchen und den Arbeitervierteln, von welchen Prag umgeben ist: „Warum malen Sie das nicht, warum? Warum dichten Sie nicht so was. Das ist doch tschechisch – es ist ja so traurig. [...] Die Eltern sind traurig, und die Kinder sind es auch und blei119 120 121 122

Rilke, Rainer Maria: König Bohusch. S. 159 f. Ebd. S. 159. Ebd. S. 161. Ebd. S. 162.

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ben es.“123 Viel zu zeitig erlernen sie den Hass gegen die Deutschen, die in Prag sehr präsent sind: „Ich bitte Sie wozu das? Der Haß macht so traurig. Sollen die Deutschen doch tun, was sie wollen. Sie verstehen unser Land doch nicht, und deshalb können sie uns es niemals fortnehmen.“ 124 Anstatt traurig über die Vergangenheit zu sein und die Deutschen zu hassen, sollte das tschechische Volk an seine Heimat glauben, die ihm niemand nehmen kann: „die vielen Felder und Wiesen und Flüsse, das ist unsere Heimat, das gehört uns, wie wir dazu gehören mit allem in uns.“125 In diesem Zusammenhang bezeichnet der Dichter Bohusch die Stadt Prag als sein „Mütterchen“: ‚Ich kenne mein Mütterchen Prag bis ins Herz – bis ins Herz‘, wiederholte er, als wenn jemand seine Behauptung bezweifelt hätte, ‚denn das ist doch wohl sein Herz, die Kleinseite mit dem Hradschin. Im Herzen ist immer das Heimlichste, und, sehen Sie, es ist soviel Heimliches in diesen alten Häusern.126 Bohusch ist sich der gegenwärtigen Schönheit seiner Mutterstadt bewusst, doch die tschechische Kunst hat dieses Antlitz von Prag noch nicht entdeckt: „sehen Sie – ich kenne mein Mütterchen bis ins Herz, ja, und mir hat nie ein Dichter davon was gesagt.“127 Die Dichter und Maler besinnen sich stattdessen auf die Vergangenheit der Stadt im schwarzen Mittelalter, 128 während sich das tschechische Volk wie ein Kind gebärdet, anstatt an sich und seine Heimat zu glauben. Auch in seiner zweiten Prager Geschichte Die Geschwister wird ein Bedauern über ein mangelndes gegenseitiges Verständnis zwischen der deutschen und der tschechischen Bevölkerung in Prag deutlich. Vor allem der tschechischen Bevölkerung wird ein tiefer Hass gegen die deutsche nachgesagt und deren Verhalten mit dem eines Kindes verglichen: Wie ein Kind ist unser Volk. Manchmal seh ich es ein: unser Haß gegen die Deutschen ist eigentlich gar nichts Politisches, sondern etwas – wie 123 124 125 126 127 128

Ebd. S. 163. Ebd. S. 163 f. Ebd. S. 164. Ebd. S. 157. Ebd. S. 162. Vgl. ebd. S. 161.

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soll ich sagen – etwas Menschliches. Nicht, daß wir uns mit den Deutschen in die Heimat teilen müssen, ist unser Groll, aber daß wir unter so einem so erwachsenen Volk groß werden, macht uns traurig. Es ist die Geschichte von dem Kinde, welches unter Alten heranwächst.129 Rilkes Darstellung einer sinnbildlichen Mutter-Kind-Verbindung des tschechischen Volkes (bzw. des Protagonisten) und der Stadt Prag ist für die Prager deutschsprachige Literatur eher ungewöhnlich. Hingegen in den Werken von tschechischen Schriftstellerinnen und Schrittstellern findet sich diese Allegorisierung Prags als Mutterstadt an verschiedenen Zeitpunkten im 20. Jahrhundert wieder, so zum Beispiel, neben den bereits genannten Darstellungen, in den patriotischen Romanen von Jiří Karásek ze Lvovic, oder aber auch in den 1990ern in den Werken von Libuše Moníková und Daniela Hodrová. Während in König Bohusch das tschechische Volk, die tschechische Kunst und deren mangelhafte Heimatliebe bzw. Volksnähe thematisiert werden, geht es in der deutschsprachigen Prag-Literatur überwiegend um die besondere Verbindung der (größtenteils männlichen) Prager deutschen Schriftsteller mit ihrer Heimatstadt. Rilke selbst indessen verstand sich als Kulturvermittler, für den die Nationenkonflikte und die damit einhergehende ideelle Besetzung Prags als Heimatort augenscheinlich befremdlich war, wie er in einem Gedicht seiner Larenopfer zum Ausdruck bringt: In dubiis Es dringt kein Laut bis her zu mir von der Nationen wildem Streite, ich stehe ja auf keiner Seite; denn Recht ist weder dort noch hier. […] DER erscheint mir als der Größte, der zu keiner Fahne schwört, und, weil er vom Teil sich löste, nun der ganzen Welt gehört. 129 Rilke, Rainer Maria: Die Geschwister. In: Ders.: Prosa und Dramen. S. 213.

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Ist sein Heim die Welt; es mißt ihm doch nicht klein der Heimat Hort; denn das Vaterland, es ist ihm dann sein Haus im Heimatsort.130 In Hinblick auf die Mythotopologie Prags ist die Semantisierung und Allegorisierung der Stadt als Mutter(-stadt) bzw. als Frauengestalt oder als symbolische bzw. geistige, ideelle Heimat ein wichtiger, möglicherweise grundlegender Bestandteil des Prag-Mythos. Diese Darstellung Prags und die damit einhergehenden patriotischen Gefühle bzw. die (individuelle) Identifikation mit der Stadt werden in der vorliegenden Arbeit in verschiedenen nachfolgenden Kapiteln noch eingehend behandelt und untersucht.131

130 Rilke, Rainer Maria: Larenopfer. In: Ders.: Sämtliche Werke. Band I. Hrsg. vom RilkeArchiv. Frankfurt am Main 1955. S. 42-43. 131 So zum Beispiel im nachfolgenden Kapitel Dichter:innenschicksal einer Hassliebe: Zur Prager deutschsprachigen Literatur, in den Abschnitten über Das Alte Prager Judenghetto und Prag als Paradigma der Traumatisierung oder in den Kapiteln Matička Praha und das Bild einer toten Stadt und Tableau des Selbstverlustes: Der nächtliche Spaziergänger und die dunkle Seite der Stadt.

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6 Dichter:innenschicksal einer Hassliebe: Zur Prager deutschsprachigen Literatur Prag ist ganz anders. […] Das ist nicht so einfach. Heimat und Welt – das ist in Prag auch ganz anders. Prag ist ein Zauber, etwas, das einen bindet und hält und immer wieder hierher zieht. Man kann nicht vergessen. Prag ist eben ganz anders.132 [Egon Erwin Kisch]

Etwa im gleichen Zeitraum des Erscheinens der desillusionierten patriotischen Texte wird in der Forschung der Beginn der Prager deutschsprachigen Literatur angesetzt.133 In den Turbulenzen der Jahrhundertwende entstand offenbar ein besonderes Spannungsfeld, welches das Seelenleben der Menschen und dabei auch den literarischen Betrieb anregte: War Prag Ende des 19. Jahrhunderts noch eine eher provinzielle Literaturstadt, so änderte sich dies innerhalb weniger Jahre im beginnenden 20. Jahrhundert. Bis in die zwanziger Jahre taten sich verschiedene, sehr produktive literarische Gruppierungen von 132 Janouch, Gustav: Prager Begegnungen. Leipzig 1959. S. 6. 133 In der Regel wird der Beginn dieser Strömung mit dem Erscheinen von Rainer Maria Rilkes Larenopfer (1895) gleichgesetzt. Es gibt allerdings gegenwärtig neuere Forschungsansätze (v. a. in der Prager Germanistik), die die Prager deutschsprachige Literatur in einen breiteren kultursoziologischen Kontext setzen und diese Datierung in Frage stellen. Zunächst wurde dieses literarische Phänomen Prager Deutsche Literatur genannt. Der Begriff jedoch ist in der heutigen Forschung umstritten. Der Bohemist Georg Escher setzt sich in seinem Aufsatz In Prag gibt es keine deutsche Literatur (2010) kritisch mit der Benennung dieser Literatenschaft auseinander. Diese Strömung ließe sich nur problematisch in eine Nationalliteratur einordnen und viele der Texte würden eine „identitätspolitische Dimension“ eröffnen, in der die Stadt zu einem umkämpften Parallelraum wird, in dem Raum, Nation und Literatur ineinanderfallen. (Escher Georg: „In Prag gibt es keine deutsche Literatur.“ Überlegungen zu Geschichte und Implikationen des Begriffes Prager deutsche Literatur. In: PrahaPrag 1900-1945. S.197-211, hier S. 203 f.) Weiterhin konstatiert beispielsweise Jiří Stromšík in einem Aufsatz über die deutsche Literatur in der multikulturellen Stadt Prag: „Das Wort ‚Prager‘ meint dabei nicht so sehr den geographischen Geburts- oder ständigen Wirkungsort der einschlägigen Autoren, als vielmehr ein mehr oder weniger symbolisches historisch-politisches, geistiges wie emotionales Zentrum, das spezifische Themen, Stilmerkmale und Wertmaßstäbe dieser Literatur repräsentiert. Die so verstandene Prager deutsche Literatur wird von der sog. Sudetendeutschen Literatur der Randgebiete Böhmens und Mährens unterschieden.“ (Stromšik, Jiří: Franz Kafka und die deutsche Literatur in der multikulturellen Stadt Prag. In: Přednášky z XLVIII. Běhu Letní školy slovanských studií [Vorlesungen aus dem 48. Durchgang der Sommerschule slawischer Studien]. Univerzita Karlova v Praze 2005. S. 126-138, hier S. 126)

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6 Zur Prager deutschsprachigen Literatur

Schriftstellerinnen und Schriftstellern hervor. Eine literarische Anekdote aus dem Prager Tagblatt vom 28.05.1922 erzählt sogar von der Vorstellung der Stadt Prag als einem künstlichen Literaturschutzgebiet voller Literaten. 134 Diese bezieht sich zunächst auf die Produktion der deutschsprachigen Literatur, darüber hinaus ist aber auch ab den 1920er Jahren eine deutliche Zunahme tschechischsprachiger literarischer Tätigkeit zu verzeichnen. Auch in den Werken der Prager deutschsprachigen Literatur macht sich die spannungsreiche sozialpolitische Realität der Jahrhundertwende bemerkbar: Für die deutsch schreibenden Prager bildete die zuweilen freundschaftliche, zumeist politisch turbulente und streitlustige […] Symbiose und Wechselwirkung, dieses Durcheinanderglühen des alchemistischen Prager Schmelztiegels, die causa causarum eines literarischen Freimuts, der sich sehr bald seinen dichterischen Ausdruck in allen Rängen schuf und für den um jene Zeit die Bewegung, die man Expressionismus nannte, ein machtvolles Entbindungsmittel darstellte. Denn vermöge seines nationalen, sozialen und konfessionellen Facettenreichtums bot ihnen Prag in der Tat das geistige Potential einer Groß- und Weltstadt, viel brillanter als so manche weit volkreichere europäische Metropole.135 Peter Demetz zufolge waren es „vor allem die Prager deutschen Literaten, die sich längst den schwierigen Brückenschlag zwischen den Völkern zu ihrer wesentlichen Aufgabe erwählt hatten“136. Aus verschiedenen Dokumenten, Erzählungen und Aufzeichnungen der Schriftsteller:innen kann man das, freilich nicht ganz objektiv dargestellte, Mit- und Gegeneinander der tschechischen und der deutschen Bevölkerung nachvollziehen. So beschreibt zum Beispiel Johannes Urzidil, wie sich über die Jahrhunderte hinweg auf tschechischer Seite ein regelrechter Hass gegen die Deutschen in Prag aufgestaut hatte. In diesem Zusammenhang betont auch er die Wichtigkeit der Sprachenfrage, welche am „zunehmend fanatischen Kampf der Tschechen um ihre 134 Vgl. Fiala-Fürst, Ingeborg: Der Beitrag der Prager deutschen Literatur zum deutschen literarischen Expressionismus. Relevante Topoi ausgewählter Werke. Sankt Ingbert 1996. S. 95. 135 Urzidil, Johannes: Da geht Kafka. S. 7 f. 136 Demetz, Peter: Böhmische Sonne, mährischer Mond. Essays und Erinnerungen. Wien 1996. S. 40.

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sprachliche Existenz“ und einem „späteren geradezu pathologischen SprachChauvinismus“137 abzulesen gewesen sei: Ich glaube, daß meine tschechischen Mitschüler und Landsleute den Kaiser aus der Tiefe ihrer Seelen und mit dem gleichen Haß haßten, wie er sich sonst etwa gegen Juden oder anderswo gegen Farbige bekundet. Auch hierfür werden stets rationale Gründe hervorgeholt, aber die Wahrheit ist, daß man eben hassen will. Freilich, nicht nur die Tschechen haßten, auch die anderen Nationen taten es. […] Der Haß der Tschechen war nicht geringer vor wie nach Etablierung des allgemeinen Wahlrechts. Er war zu alt geworden. Er war nicht verjährt seit der Schlacht am weißen Berg, seit der Hinrichtung der böhmischen Herren auf dem Prager Altstädter Ring, seit der Aufstellung der Mariensäule vor dem Prager Rathaus, die nicht Frömmigkeit verbreiten, sondern politische Demütigung symbolisieren sollte. Er verjährte auch nicht nach dem Sturz jener Mariensäule im Jahre 1918, als keine Habsburger mehr regierten. Der Haß war durch Haß bewirkt worden. Und wenn solcher Haß alt wird, wird er nicht altersschwach, wird ‚fortzeugend‘, regeneriert sich, lebt weiter von sich selbst, auch wenn die Anlässe längst geschwunden scheinen.. ‚Ich hasse, also bin ich‘ ist eines der leidenschaftlichsten Daseinskriterien der Völker.138 Diese rückblickenden Aussagen Urzidils verdeutlichen, dass die deutsche Bevölkerung in Prag sowohl sich selbst als auch der tschechischen Bevölkerung eine bestimmte Rolle zugeschrieben hatte. Urzidil zufolge waren in jener Zeit mit wenigen Ausnahmen die tschechischen Dichter:innen und Schriftsteller:innen „noch tief verstrickt in ihre nationalen Bestandskämpfe“ 139, wie er in Da geht Kafka schreibt. Dementsprechend mangelte es ihnen an der freien geistigen Verfassung, „sich aus der Sphäre örtlicher Gebundenheit in die des Grundsätzlichen zu lösen.“140 Diese „Sphäre des Grundsätzlichen“ allerdings 137 Urzidil, Johannes: Probleme des tschechischen Geschichtsbildes. In: Einladung nach Prag. Hrsg. von Traugott Krischke. München; Wien 1966. S. 31-35, hier S. 34. 138 Urzidil, Johannes: Wir standen Spalier. In: Ders.: Bekenntnisse eines Pedanten. Erzählungen und Essays aus dem autobiographischen Nachlass. Zürich; München 1972. S. 51-57, hier S. 53 f. 139 Urzidil, Johannes: Da geht Kafka. S. 7. 140 Ebd.

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6 Zur Prager deutschsprachigen Literatur

bedeutete für die tschechischen Schrittstellerinnen und Schriftsteller allem Anschein nach in diesen Jahren ihre nationale Unabhängigkeit. Es gilt in dieser Untersuchung nicht ausfindig zu machen, wem innerhalb der „nationalen Bestandskämpfe“ die Täter:innen- und wem die Opferrolle beigemessen werden sollte. Vielmehr soll verdeutlicht werden, dass solche Einschätzungen wie die von Urzidil aus einer subjektiven Wahrnehmung bzw. Erfahrung heraus entstanden sind. Sowohl in der tschechisch- als auch in der deutschsprachigen Literatur stellen diese subjektiven Wirklichkeiten die Basis für eine bestimmte Darstellung des Stadtraumes dar. Diese „Wirklichkeiten“ erzeugen eine bestimmte Atmosphäre und sind in den einzelnen Prag-Texten Träger einer konkreten Funktion. In der Germanistik wird den damaligen Nationalkontroversen eine hohe, mitunter emotionalisierte Bedeutung beigemessen. Lange Zeit wurden die deutschsprachigen Texte hauptsächlich in Hinblick auf die Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit in Prag interpretiert. Es ist von einem „dreifachen Ghetto“141 die Rede, von einer „unnatürlichen Isolation“142, gegen die sich allerdings bereits Max Brod in seinem Prager Kreis143 zur Wehr setzt. Derartige Beschreibungen eines absurden, bedrückenden, soziokulturell exkludierten oder inselartigen Daseins der deutschsprachigen Dichter:innen finden sich jedoch häufig. So beschreibt beispielsweise der Germanist Eduard Goldstücker die soziokulturelle Enklave in Prag in einem Aufsatz über Rainer Maria Rilke und Franz Werfel wie folgt: Die komplizierte Gefühlslage zu Prag, die wir Haßliebe nannten, hat ihre Wurzeln darin, daß einerseits Prag für Rilke, Kafka, Werfel die Heimat war, in der sie ihre Kindheit verbracht hatten, mit der ihre intimsten formativen Jugenderlebnisse verbunden waren, in der sie jedoch keine Möglichkeit der Eingliederung, sondern der Heimatlosigkeit fühlten. Und weiter: Prag war die Hauptstadt und das Herz eines Volkes, das ihnen, trotz wiederholter Annäherungsversuche, fremd 141 Vgl. Eisner, Pavel: Franz Kafka a Praha [Franz Kafka und Prag]. In: Kritický měsíčník [Kritische Monatsschriften]. Heft 9/ 1-2 1948. S. 66-82. 142 Etwa bei Eduard Goldstücker oder Emanuel Frynta (Kafka lebte in Prag). 143 Vgl. beispielsweise Brod, Max: Der Prager Kreis. S. 37 und S. 45.

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blieb. Alles, was in diesem Prag zeitgenössisch, neu war, was vom Leben der Zeit überströmte, gehörte in den tschechischen Bereich. Ihre Domäne wurde mehr und mehr nur das alte Prag. Das alles bewirkte, daß Prag für sie zu einer Art Verkörperung der bürgerlichen Welt wurde, ein spukhaftes Symbol ihres bevorstehenden Endes.144 Diese Darstellung ist kritisch zu bewerten, da man nach jahrhundertelangem Nebeneinander der tschechischen und der deutschen Bevölkerung kaum davon ausgehen kann, dass die eine der anderen fremd gewesen wäre. Zudem ist die Generation der Prager deutschen Schriftsteller:innen mit den nationalen Auseinandersetzungen aufgewachsen, die sich seit den Ausschreitungen um Badendi nicht wesentlich weiter verschärft hatten. Die Behauptung, dass alles Zeitgenössische tschechisch gewesen sei, erscheint daher etwas pathetisch, zumal die deutsche Kultur bis zur Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik in Prag sehr rege war. Dies lässt sich anhand der deutschsprachigen Literatur, der zahlreichen deutschen Prager Zeitungen oder der Bedeutung des deutschen Theaters unschwer nachvollziehen. Auch wenn die deutsche Bevölkerung eine zahlenmäßige Minderheit darstellte, wurde die deutsche Kultur nach wie vor als privilegiert angesehen. Tatsächlich wurden ab 1918 mit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik für die deutschsprachigen Schriftsteller:innen in Prag aufgrund der kulturpolitischen Veränderungen die Möglichkeiten zu schreiben bzw. zu publizieren erheblich erschwert. Daraufhin verließen viele deutsche Intellektuelle die Stadt und übersiedelten ins Deutsche Reich, sodass der Prozentanteil der deutschen Bevölkerung auf etwa viereinhalb im Jahre 1921 sank. Die Einschätzung Goldstückers mag vielleicht auf die Entwicklungen in Prag nach 1918 zutreffen, aber von einer Hassliebe gegenüber der Stadt Prag oder dem Gefühl der Heimatlosigkeit ist in den Prager deutschsprachigen Werken schon früher die Rede. Anhand einiger Textbeispiele aus Interviews, Briefen und Tagebucheinträgen wird im Folgenden dargelegt, wie sich der zeitgeschichtliche Kontext und die 144 Goldstücker, Eduard: Rainer Maria Rilke und Franz Werfel. Zur Geschichte ihrer Beziehung. In: Germanistica Pragensia I. Philologica 3. Prag 1960. S 37-71, hier S. 62.

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individuelle Verunsicherung auf die Wahrnehmung der Stadt auswirken. Häufig finden sich Berichte von einer unerträglichen Gesamtsituation für die deutsche Minderheit in Prag. Folgendermaßen beschreibt etwa Franz Werfel das Gefühl gegenüber seiner Heimatstadt, die er schließlich verlassen hat, um in Leipzig bei einem Verlag als Lektor zu arbeiten: 1912, in meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr, habe ich Prag endgültig verlassen. Es war damals ein halb noch unbewußter Rettungsversuch. Mein Lebensinstinkt wehrte sich gegen Prag. Für den Nicht-tschechen, so scheint mir, hat diese Stadt keine Wirklichkeit, sie ist ihm ein Tagtraum, der kein Erlebnis gibt, ein lähmendes Ghetto, ohne auch nur die armen Lebensbezeichnungen des Ghetto zu haben, eine dumpfe Welt, aus der keine oder falsche Aktivität herkommt. Prag kann man nur als Drogenrausch, als eine Fata Morgana des Lebens ertragen, und das ist der Grund, warum so viele Künstler nicht geflohen sind. Der deutsche Prager, der zur Zeit fortging, ist schnell und radikal expatriiert, und doch liebt er seine Heimat, deren Leben ihm wie ein ferner Wahn vorkommt; er liebt sie mit einer mysteriösen Liebe. Für die gesunde, einfach-kräftige Rasse, die jetzt Herr im Land ist, bedeutet Prag Leben; Hauptstadt, Kultur, Kulmination – das Geheimnis der Stadt versteht der Heimatlose daheim und in der Fremde besser. Denn ein Heimatloser gerade – Gustav Meyrink – hat an ihren tiefsten Nerv gerührt, ihr zweites Gesicht, den verworrenen ihres uralten Wesens gebildet.145 Diese Charakterisierung der Stadt Prag als einem Traum, als etwas Unwirklichem ist charakteristisch für viele Prag-Texte und geht mit der Wahrnehmung der Protagonist:innen einher, wie im Abschnitt über die Topologie der Entfremdung: Die Stadt als Seelenspiegel ausführlich dargelegt wird. Eine ambivalente Kraft des Anziehens und des Abstoßens beschreibt auch der Germanist Claudio Magris in seinem Artikel Prag als Oxymoron. Für die Prager deutschsprachigen Schriftsteller:innen stellt die Stadt einen Schwellenraum dar, in dem Liebe in Hass übergeht: „Prag, damals, zog Menschen an und stieß sie ab. Es stieß zum Beispiel den Leutnant Gustav Meyrink ab, den

145 Werfel, Franz: Prag als Literaturstadt. In: Prager Tagblatt. Nr. 128/ XLVII, 3. Juni 1922.

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Urprager, der Prag so unbeschreiblich gemein geschmäht hat und doch dem Prager Milieu verhaftet blieb in allen seinen Werken.“146 Schon damals, als ich über die uralte Steinerne Brücke schritt, die hinüberführt über die ruhevoll fließende Moldau zum Hradschin mit seinem den finsteren Hochmut alter Habsburggeschlechter aushauchenden Schloß, da befiel mich ein tiefes Grauen, für das ich keine Erklärung wußte. Jene Bangigkeit hat mich seit diesem Tage nicht einen Augenblick verlassen, solange ich – ein Menschenalter hindurch – in Prag lebte, der Stadt mit dem heimlichen Herzschlag. Sie ist nie mehr ganz von mir gewichen; sie senkt sich heute noch auf mich herab, wenn ich an Prag zurückdenke oder nachts von ihm träume. Alles, was ich je erlebt, kann ich vor das innere Auge rufen, als stünde es lebenstrotzend da... banne ich jedoch Prag vor meinem Blick, so wird es deutlicher wie alles andere – so deutlich, daß es nicht mehr wirklich, sondern gespenstisch erscheint. Jeder Mensch, den ich dort gekannt, gerinnt zum Gespenst und zum Bewohner eines Reiches, das Tod nicht kennt.147 Wie Gustav Meyrink und andere deutschsprachige Schriftsteller:innen ihr eigenes Schicksal und den persönlichen Kampf in und mit der Stadt Prag beschreiben, hat Kurt Krolop in dem Artikel Hinweis auf eine verschollene Grundfrage: „Warum haben Sie Prag verlassen?“148 ausführlich recherchiert. Die Stadt von damals scheint die Schriftsteller:innen ausgesaugt zu haben, sie habe eine „Hexenhand, [mit der sie] den Menschen packt, daß er vor dumpfer Angst jede Stunde fliehen möchte und doch, wenn es ihm gelingt, anderswo kein Glück mehr fühlt und, an innerer Leere verdurstend, wieder zurücksucht.“149 Meyrink selbst empfand auch in den Jahren, nachdem er Prag verlassen hatte, immer wieder „sofort dasselbe würgende, unheimliche Gefühl“, das ihn jedes Mal heimsuchte, wenn er „nach längerer Zeit wieder Prager

146 Haas, Willy: Vor hunderttausend Jahren. In: Einladung nach Prag. S. 57. 147 Meyrink, Gustav: Die Stadt mit dem heimlichen Herzschlag. In: Ders.: Das Haus zur letzten Latern. Nachgelassenes und Verstreutes. Hrsg. von Eduard Frank. München 1973. S. 157161, hier S. 157 f. 148 Krolop, Kurt: Hinweis auf eine verschollene Grundfrage: „Warum haben Sie Prag verlassen?“ In: Germanistica Pragensia IV. Philologica 5. Prag 1966. S 47-64. 149 Krolop, Kurt: Hinweis auf eine verschollene Grundfrage. S. 50.

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Luft atmete“150: „Für mich ist Prag, ich kann mir nicht helfen, die Stadt der Verbrecherintelligenz und ihre Atmosphäre ist die Atmosphäre des Hasses.“ 151 Weiterhin spricht er von einer Schicksalhaftigkeit der Stadt, der er immer den Rücken kehren wollte, die ihn jedoch „wie mit Kerkermauern“ 152 festhielt. Auch hier erwähnt Meyrink das Motiv des Traumes: „Oft des Nachts träume ich von Prag und seinem unheimlichen dämonenhaften Zauber; dann, wenn ich erwache, ist mir, als sei ich von einem Alb befreit.“ 153 In keiner anderen Stadt „schwingt jene unfaßbar merkwürdige Stimmung.“ 154 Prag wird hier als schauriger Albtraum charakterisiert, den man ein Leben lang nicht wieder los wird. In seinem phantastischen Roman Walpurgisnacht (1917) hat Meyrink diese ambivalenten Kräfte der Stadt und das Motiv des Verlassens und der Wiederkehr verarbeitet. Die Hauptfigur, der kaiserliche Leibarzt, der infolge von Volksaufständen und dem angespannten Kriegszustand die Stadt verlassen möchte, beschreibt Prag wie folgt: Es gibt keine Stadt der Welt, der man so gern den Rücken kehren möchte, wenn man in ihr wohnt, wie Prag; aber auch keine, nach der man sich so zurück sehnt, kaum daß man sie verlassen hat. Auch der Herr kaiserliche Leibarzt war ein Opfer dieser sonderbaren Anziehungs- und Abstoßungskraft, trotzdem er eigentlich gar nicht in Prag wohnte, vielmehr im Gegenteil – auf dem Hradschin.155 Besonders Franz Kafka hat aus seinem ambivalenten Verhältnis zu seiner Heimatstadt und seiner Hassliebe keinen Hehl gemacht. In einem Brief aus dem Jahre 1902 an seinen Freund Oskar Pollak schreibt er folgende vielzitierte Zeilen: Prag lässt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muss man sich fügen oder – . An zwei Seiten müßten wir es anzünden, 150 151 152 153 154 155

Ebd. S. 56. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Meyrink, Gustav: Walpurgisnacht. Phantastischer Roman. Mit einem Nachwort von Joachim Schreck und Illustrationen von Ulrich Schreiber. Berlin 1985. S. 152.

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am Vyšehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, daß wir loskommen.156 Erneut wird Prag hier als tragische Mutterstadt personifiziert. Diese Tendenz der Personifikation der Stadt als einer Femme fatale hat auch Oskar Wiener wie folgt beschrieben: Aber diese Hingabe ist eine schmerzensreiche Neigung. Sie gleicht der Leidenschaft zu einer bedrückend schönen Frau, die Launen hat. Wer ihr einmal in die tiefen, geheimnisbangen Augen sah, bleibt für sein ferneres Leben der Magierin untertan. […] Viele hatten die Kraft dazu, rissen sich los von dieser düsteren Salome, aber sie wollte mit dem Haupte eines jeden vor Holofernes tanzen. Auch jene, die an ihrer Leidenschaft nicht zugrunde gingen, kranken nun an einer unsterblichen Sehnsucht zu Prag.157 Weiterhin identifizierte sich Kafka wie viele andere Prager deutschsprachigen Schriftsteller:innen mit dem Judentum. Die angespannte Lage zwischen den Bevölkerungsgruppen wurde für die jüdische Bevölkerung zusätzlich durch den entstehenden Nationalsozialismus und damit einhergehend vor allem ab 1918 durch antisemitischen Tendenzen158 erschwert. Aber auch von innen heraus empfand diese Generation in Bezug auf ihre Religion eine Zerrissenheit. In einem Brief an seinen Vertrauten Max Brodt schreibt Kafka 1921 über das schwierige „Verhältnis junger Juden zu ihrem Judentum, mit der schrecklichen inneren Lage dieser Generation“159. In diesem Kontext steht für Kafka auch die deutsche Sprache. Er spricht in diesem Brief weiterhin über die Unmöglichkeit, sich auszudrücken: Sie lebten zwischen drei Unmöglichkeiten: der Unmöglichkeit nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit deutsch zu schreiben und der Unmöglich-

156 Kafka, Franz: Briefe. 1902-1924. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt am Main, Erstausgabe 1958. S. 14, Brief an Oskar Pollak, Prag, Stempel: 20. XII 1902. 157 Wiener, Oskar: Deutsche Dichter aus Prag. Leipzig; Wien 1919. S. 5 (Vorwort). 158 Vgl. hierzu Koeltzsch, Ines: Nationaler Antisemitismus und Straßengewalt. In: Geteilte Kulturen. S. 151-176. 159 Kafka, Franz: Briefe 1902-1924. S. 337, Brief an Max Brod, Matliary, Juni 1921.

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keit anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben.160 Die einzige Möglichkeit ist zugleich eine Unmöglichkeit – in Prag wirken widerstrebende Kräfte, die das Leben in der Stadt für die deutsche Bevölkerung scheinbar unmöglich machen. Prag ist ein „Dichterschicksal“ schreibt Pavel Eisner 1930 in der Prager Presse und Magris stellt fest, dass dieser Ausdruck zweierlei Bedeutung hat: Schicksal bezeichnet vor allem einen passiven und fatalen Zustand, aus dem es kein Entrinnen gibt, einen Raum und eine Bewegung des eigenen Handelns, die unerbittlich begrenzt und festgelegt sind. Die an ein solches Schicksal geknüpfte Dichtung und Literatur weisen auf den Ort hin, wo diese prädeterminierten Abenteuer stattfinden und unterstreichen besonders die Sublimation der Sackgasse, die radikale Entscheidung, diesen Ort zum mythischen Sinn und Mittelpunkt des eigenen Lebens zu erheben, ihn zum geheimnisvollen und versteckten Licht zu machen, das ungesehen das Behagen erleuchtet.161 Max Brod wehrt sich allerdings entschieden gegen diese Interpretation und nennt namentlich den Übersetzer Pavel Eisner, der bezüglich der bedrückenden Lebenslage der deutschen Bevölkerung in Prag das Diktum einer „Ghettoisierung“ ins Leben gerufen habe. Scharf kritisiert er die absurde und aus der Luft gegriffene Theorie162 von Eisner, der den „Prager Kreis als unnatürlich isoliert, als von einer ‚dreifachen Ghettomauer‘ gegen die Welt hin abgesperrt“163 darstellte. Stattdessen betont er eine „viel freiere, hoffende und wenn auch nicht geradezu naive, so doch kindliche Stimmung des ‚Prager Kreis‘ (etwa von 1904 bis 1939)“ 164 sowie einen regen Austausch und Zusammenarbeit zwischen Prag und Berlin. So sind die Berichte einer bedrückenden Lebenslage nicht ausschließlich auf die Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit zurückzuführen. Dazu kommen die persönlichen Schicksalsgeschichten, 160 161 162 163 164

Ebd. S. 337 f. Magris, Claudio: Prag als Oxymoron. S. 33. Brod, Max: Der Prager Kreis. S. 37. Ebd. Ebd.

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wie mit Meyrink schon angedeutet wurde. Auch Kafka schreibt zum Beispiel schon in frühen Tagebucheinträgen von 1911, dass er sich aus verschiedenen Gründen der literarischen Tätigkeit nicht uneingeschränkt hingeben kann. Diese individuellen Einschränkungen scheinen zumindest für Kafka neben der politisch-soziologischen Lage seiner Generation sehr einschneidend zu sein: Abgesehen von meinen Familienverhältnissen könnte ich von der Litteratur schon infolge des langsamen Entstehens meiner Arbeiten und ihres besonderen Charakters nicht leben; überdies hindert mich auch meine Gesundheit und mein Charakter daran mich einem im günstigsten Falle ungewissen Lebens hinzugeben.165 Bezüglich der Interpretation von Franz Kafkas Werken erweist sich die Vorstellung eines absurden und abgesonderten Inseldaseins der Passivität und Fatalität als recht fruchtbar. In der Germanistik wurde Kafka zum rätselhaften Sonderling stilisiert, man hat für diesen schicksalhaften und mysteriösen Zustand sogar eine eigenes Wort erfunden – kafkaesk. Diese Stimmung in und um die Stadt Prag sei in allen seinen Werken spürbar, schreibt Johannes Urzidil: „Zur Zeit der Hauptproduktion Kafkas war Prag am typischsten Prag und auch am typischsten kafkaesk.“166 Kafka habe die „eigentliche Essenz“ des damaligen Prags literarisiert, durch keinen anderen Autor sonst würde diese Stimmung derart deutlich und greifbar.167 Max Brod wiederum wehrt sich auch heftig gegen diese Stilisierung der Person Franz Kafka und spricht von einer „Flut von verständnislosem Schrifttum“168. Das häßliche Eigenschaftswort ‚kafkaesk‘ hat man erfunden. Aber gerade dieses Kafkaeske ist es, was Kafka am heftigsten verabscheut 165 Kafka, Franz: Tagebücher 1910-1923. Gesammelte Werke. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt am Main 1954. S. 57, Eintrag vom 28. März 1911. 166 Urzidil, Johannes: Da geht Kafka. S. 12. 167 Urzidil, Johannes: Da geht Kafka. S. 12. Urzidil äußert an dieser Stelle weiterhin seine Meinung über die tschechische Literatur: „Man kann die eigentliche Essenz jenes Prag durch Kafka vollkommener begreifen und definieren als durch jeden anderen Autor, ganz bestimmt aber eher durch ihn als durch jedwedes tschechische Werk jener Zeit, obwohl ein solches an sich prädestiniert sein müßte, Prag darzustellen.“ 168 Brod, Max: Der Prager Kreis. S. 84.

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und bekämpft hat. Kafkaesk ist das, was Kafka nicht war. Das Natürliche, Unverdorbene; Große, Gute, Aufbauende hat er geliebt. Nicht das Ausweglose, Verschroben-Unheimliche, nicht das Seltsame, das er als ein in der Welt Vorhandenes immer wieder bemerkt und notiert und mit grimmem Humor einreiht, ohne es irgendwo zu seinem Mittelpunkt zu machen. – Nicht die Vernichtung, sondern dem Aufblühen war diese zarte und stahlstarke Seele zugewandt.169 Angst findet man laut Brod bei Kafka nur da, wo sich aufgrund seiner Krankheit oder in Anbetracht eines erstarkenden Hitlerdeutschlands eine „begründete Angst“170 darstellte. Tatsächlich hat Kafka selbst die Stadt in seinem literarischen Schaffen mit wenigen Ausnahmen171 nie eindeutig benannt. Aus seinen Tagebüchern und Briefen hingegen, sofern man diese als nicht-literarisch bezeichnen möchte, lässt sich viel über das Verhältnis zu seiner Heimatstadt herauslesen. So schreibt er zwei Jahre vor seinem Tod in einem Brief an seinen Freund Robert Klopstock: Der Wert von Prag ist fragwürdig. Abgesehen von allem deutlich Persönlichen hat Prag auch noch etwas besonders Verlockendes, das kann ich verstehn, ich glaube, es ist eine Spur von Kindlichkeit in den Geistern. Diese Kindlichkeit ist aber so sehr gemischt mit Kindischem, Kleinlichem, Ahnungslosem, daß es für den Fremden zwar keine erstrangige, aber doch eine Gefahr bedeutet.172 In diesem Brief versucht Kafka Klopstock davon zu überzeugen, Berlin anstatt Prag als Lebensmittelpunkt zu wählen. Auch Kafka selbst wollte die Stadt Prag verlassen, konnte dies jedoch aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes lange nicht in die Tat umsetzen. 1923 schließlich übersiedelte er nach Berlin, musste allerdings nach ein paar Monaten wegen seiner sich verschlechternden gesundheitlichen Verfassung wieder zurückkehren. 169 Ebd. 170 Ebd. 171 Namentlich in Beschreibung eines Kampfes (entstanden zw. 1903 und 1907) und Das Stadtwappen (1920). 172 Kafka, Franz: Briefe 1902-1924. S. 417, Brief an Robert Klopstock, Planá, September 1922.

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Kurz vor seiner Übersiedlung nach Berlin empfiehlt er Klopstock abermals, sein Leben in Prag aufzugeben: [D]ieses vereinsamte Prager Leben dürfen Sie nicht weiterführen, ein wenig Literatur im Kaffeehaus, ein wenig Streit mit Zimmerkollegen, eine bittere Mischung von Trauer und Hoffnung zwischen uns beiden […] das alles ist zu wenig oder nicht zu wenig, aber keine gute Nahrung, wenn mir auch freilich als einem Prager alles viel trüber erscheint als es in Wirklichkeit sein mag, aber selbst mit dieser Korrektur bleibt es noch trübe […].173 Etwa zur gleichen Zeit schreibt der wiederum damals in Berlin lebende Joseph Roth über eine gänzlich entgegengesetzte Sehnsucht: Wenn ich keine Sehnsucht nach Paris hätte, so hätte ich Heimweh nach Prag. Es ist dies eine Stadt, in der ich niemals zu Hause war und in der ich jeden Augenblick zu Hause sein kann. Man braucht in Prag nicht ‚verwurzelt‘ sein. Es ist eine Heimat für Heimatlose. Sie hat keine Sentimentalität. […] Dennoch habe ich, wie gesagt Heimweh nach Prag und im Paß ein tschechoslowakisches Jahresvisum. In Paris möchte ich meine Sonntage verbringen und die Wochentage in Prag. Hier sind die abstrakten Kosmopoliten, in denen die Welt als Wille lebendig ist und die den Willen zur Welt nicht brauchen. Sie haben alle Schmerzen gelitten, alle Freuden genossen, und weil sie nichts mehr überraschen kann, suchen sie keine Überraschungen. Sie sind Skeptiker, aber sie lieben ihr Leben, das Leben in Prag. Alle Stimmen der Geister, die in der Welt verstreut sind, gelangen konzentrisch nach Prag, denn alle Geister in der Welt stammen aus dieser Stadt, oder es war ein Irrtum der Schöpfung. Wenn sie sentimental in Paris, pathetisch in Berlin, sachlich und roh in Amerika geworden sind, flugs kehren sie nach Prag heim, in den Schoß der mütterlichen Skepsis und lassen sich auslachen, bis sie gesund werden.174 Obwohl Prag nie seinen Lebensmittelpunkt darstellte, fühlte sich Roth in dieser Stadt offenbar geistig beheimatet. Es wird deutlich, dass von Prag im 173 Ebd. S. 445, Postkarte an Robert Klopstock, Schelesen; Stempel 13.IX.1923. 174 Roth, Joseph: Heimweh nach Prag. In: Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Essays, Reportagen, Feuilletons. Hrsg. von Helmuth Nürnberger. Göttingen 2010. S. 59-62, hier S. 59 ff.

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beginnenden 20. Jahrhundert eine besondere Faszination ausging, die sowohl anziehend als auch abstoßend auf die jungen Intellektuellen gewirkt hat. Ob diese tatsächlich auf die Auseinandersetzungen zwischen der deutschen und der tschechischen Bevölkerung zurückzuführen sind, bleibt in diesen Fällen ungewiss, da häufig das private Schicksal der Schriftsteller:innen an ihren ambivalenten Gefühlen einen großen Anteil hatte. Eine interessante Beurteilung, welche sich tatsächlich auf die historischen Umstände in Hinblick auf die Nationalitätenkonflikte bezieht, findet sich bei Gustav Janouch in seinen Erinnerungen Gespräche mit Kafka (1968). Folgende Worte legt er Kafka in den Mund: ‚Ich vertrage nicht diese Straßenkrawalle‘, sagte Kafka aufatmend. ‚Es steckt in ihnen der Terror neuer, von Gott bereiteter Religionskriege, die mit Fahnen, Gesang und Musik anfangen und mit Raub und Blut enden.‘ […] ‚Wir leben in einer Zeit des Bösen. Das ist schon daran ersichtlich, daß nichts mehr seinen richtigen Namen trägt. Man gebraucht das Wort Internationalismus und meint damit Menschentum, also einen sittlichen Wert, wogegen das Wort Internationalismus nur eine vorwiegend geographische Praxis bezeichnet. Die Begriffe werden wie entkernte, leere Nußschalen hin- und hergeschoben. So spricht man zum Beispiel von Heimat jetzt, in diesem Augenblick, da die Wurzeln des Menschen schon längst aus dem Boden gerissen sind. […] An der Entwurzelung sind wir alle beteiligt. […] Ich sehe nur das Geschehen. Die Personen sind ganz nebensächlich. Und dann – welche Kritik könnte die Leistung der Akteure richtig abschätzen, die sie ja mit ihnen auf einer Bühne steht? Es gibt keinen Abstand. Dadurch wird alles unsicher, alles schwankt. Wir leben in einem Sumpf zerfallender Lügen und Illusionen, wo grausame Ungeheuer zur Welt kommen, die den Reportern freundlich ins Objektiv lächeln und dabei – ohne daß es jemand merkt – eigentlich schon über Millionen Menschen wie über lästige Insekten hinwegtrampeln.‘175

175 Janouch, Gustav: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt am Main 1968. S. 68 f.

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Die Demonstrationen und Kämpfe in Prag verdeutlichen symptomatisch ein Zeitgefühl, für das Kafka schließlich berühmt geworden ist: Nach Emanuel Frynta litt Kafka an dem „Gefühl von der Unerfaßbarkeit der Dinge“ 176, welche nicht so sind, wie sie scheinen. „Alles segelt unter falscher Flagge, kein Wort entspricht der Wahrheit“177 sagt Kafka weiter im Gespräch mit Gustav Janouch. In dieser Aussage verdeutlicht sich die Relativierung und Hinterfragung vieler Werte und die mehrfache Verunsicherung des Individuums im beginnenden 20. Jahrhundert. Dieses Zeitgefühl auf den deutsch-tschechischen Nationenkonflikt und eine bedrückende Lebenslage der deutschen Minderheit in Prag zu reduzieren wäre unzureichend. Vielmehr ist darüber hinaus von einer umfassenden geistigen Entwurzelung auszugehen, welche aus dieser „Unerfaßbarkeit der Dinge“ und der Unmöglichkeit, sich auszudrücken, resultiert. Ferner widerspiegelt sich darin das für die literarische Moderne typische Zeitgefühl einer ganzen europäischen Generation: Die umfassende Verunsicherung des Individuums der Jahrhundertwende und später der Verlauf des Ersten Weltkrieges sowie schließlich der Zusammenbruch der ÖsterreichischUngarischen Monarchie und der damit verbundene Verlust einer ganzen Weltanschauung prägen die gesamte Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts. Hinzu kommt bei vielen Prager Schriftsteller:innen ihr individuelles, persönliches Schicksal, mitunter das Gefühl in und an der Stadt gescheitert zu sein, welches in dieser ambivalenten Hassliebe zu Prag seinen Ausdruck findet.

176 Vgl. Frynta, Emanuel: Franz Kafka lebte in Prag. S. 130 f. Eine ähnliche Symptomatik kommt auch in Hugo von Hofmannsthal Chandos-Brief mit der so genannten Sprachkrise zum Ausdruck. 177 Frynta, Emanuel: Franz Kafka lebte in Prag. S. 69.

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7 Gefühl der Heimatlosigkeit und Rückwendung in das „Alte Prag“ Stará Praha pro ni byla nostalgickou vzpomínkou na mizející tichý svět domova. […] Pražská německá kultura se […] ve svých uměleckých projevech ptala naléhavěji po minulosti po tajemném poutu i kouzlu Prahy, které považovala především za své dědictví, za pouto svého života.178 [Tomáš Vlček]

Die Beziehung der Prager deutschsprachigen Literatinnen und Literaten zu ihrer Heimatstadt ist also von einer starken Ambivalenz zwischen Anziehung und Abstoßung geprägt, zwischen Heimatliebe und gleichzeitig dem Gefühl der Heimatlosigkeit. In diesem Zusammenhang fällt zunächst auf, dass auch in den deutschsprachigen Werken die Stadt kaum als moderne aufstrebende Metropole dargestellt wird, zu der sie sich damals entwickelte. Ebenso werden der Topos der Zwietracht und die Kämpfe zwischen der tschechischen und der deutschen Bevölkerung tatsächlich kaum konkret literarisch thematisiert. Eine Ausnahme bilden die Studentenromane von Karl Hans Strobl, so zum Beispiel Die Vaclavbude (1902) oder Das Wirtshaus zum König Przemysl (1913), welche durchweg auf dem Konflikt zwischen Tschechen und Deutschen aufgebaut sind. Strobls Prag-Bild ist geprägt vom Hass der tschechischen Bevölkerung gegen die deutsche. Doch bleibt dieser vom Zwiespalt geprägten Stadt auch bei Strobl in der düsteren, kämpferischen und hoffnungslosen Atmosphäre stets die Zuschreibung des Magischen anhaften: Prag ist eine seltsame und unergründliche Stadt, der vom Schicksal eine magische Kraft verliehen worden ist. Wer dieser Stadt einmal in die Augen gesehen hat, der ist dazu verdammt, sie zu lieben […]. Aber es ist für uns eine unglückliche Liebe gewesen. Durch Jahrhunderte hat das deutsche Volk tausendfach mit seinen besten Kräften um Prag geworben, um nichts als Haß dafür zu empfangen.179

178 Vlček, Tomáš: Praha 1900. S. 23. Dt.: Das Alte Prag war für sie eine nostalgische Erinnerung an die verschwindende stille Welt der Heimat. […] Die Prager deutsche Kultur fragte in ihren künstlerischen Äußerungen dringlicher nach der Vergangenheit, nach dem geheimen Bann und Zauber der Stadt Prag, welche sie vor allem für ihr Erbe, für das Band ihres Lebens gehalten hatte. 179 Strobl, Karl Hans: Prag. Schicksal, Gestalt und Seele einer Stadt. Wien 1939. S. 65 f.

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Im Vergleich zur tschechischsprachigen Literatur fällt in der deutschsprachigen auf, dass weniger die Imago eines „deutschen Volkes“ inszeniert wird; das bezeichnende Gefühl der Heimatlosigkeit und des Verlorenseins wird vielmehr an Einzelschicksalen dargestellt. Mit Ausnahme eben von Karl Hans Strobls Romanen, in denen sich allerdings auch eine deutlich nationalsozialistische Tendenz bemerkbar macht, welche ansonsten für die Prager deutschsprachigen Texte eher ungewöhnlich ist. Im Zentrum der Darstellung steht nicht unbedingt eine örtliche Entwurzelung, vielmehr ist diese Heimatlosigkeit als geistiger oder individueller Selbstverlust zu verstehen. Die Prager deutschsprachige Literatur ist geprägt von einer „Melancholie des Vergänglichen“,180 die Stadt wird zum symptomatischen Ort einer umfassenden Verunsicherung. Im Zuge dessen wenden viele dieser Texte den Blick vom zeitgenössischen Prag ab und zeigen das Bild einer Stadt aus der Vergangenheit. Die Prager deutschen Dichter saugen ihre Lebenssäfte aus den Mythen, aus den Legenden, der Topographie der Moldaustadt. Man könnte sagen, daß manche ihrer Werke nur ein Vorwand sind, den mystischen Leib, die finstere Pracht, die unheilvolle Stimmung dieses steinernen Gebildes zu beschwören.181 Es entsteht eine Vielzahl von Schauplätzen, die das geheimnisvolle rudolfinische Zeitalter, die Legenden des Rabbi Löw und seines Golem, die verwinkelten Gässchen der Alten Prager Judenstadt mit ihren zwielichtigen Lokalitäten und der unheimlichen Atmosphäre abbilden. Dabei bedienen sich die Literat:innen interessanterweise gleichermaßen sowohl deutscher als auch tschechischer Geschichte: Tak historie, doplňovaná legendou a básnickou licencí, seskupila kolem Prahy na rozhraní dvou věků vzrušující galerii postav, hledajících východisko ze zmatků pozemského života. I tyto sny o míru uprostřed válek, touha po všeobecné harmonii ve chvíli, kdy svět se zdá vymknut

180 Adler, H. G.: Die Dichtung der Prager Schule. Wuppertal 2000. S. 15. 181 Ripellino, Angelo Maria: Magisches Prag. Aus dem Italienischen von Pavel Petr. Tübingen 1982. S. 46.

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z kolejí, hledání pevného bodu ve všeobecné nejistotě patří k atmosféře Prahy fantastické.182 Häufig ist Ort des Geschehens das so genannte Alte Prag, in dem sich allerhand magische und unglaubliche Ereignisse abspielen, oft ist es aber auch das Prag der Jahrhundertwende, in dem auf wundersame Weise Elemente des Alten Prag erscheinen. Die fiktive Handlung ist im historischen Stadtkern angesiedelt, welcher sich zusammensetzt aus den Stadtteilen Altstadt (Staré Město), der Neustadt (Nové Město) auf der einen Seite und dem Hradschin (Hradčany) sowie der Kleinseite (Malá Strana) jenseits der Moldau. Viele dieser Orte unterliegen traditionell einer starken Mystifizierung. Neben dem altehrwürdigen Vyšehrad, welcher der Sage nach der Herrschersitz der Fürstin und Stadtgründerin Libuše ist, spielt sich in diesen historischen Kernstadtteilen der Großteil der alten Prager Sagen und Legenden ab. 183 Diese Affinität zur Vergangenheit interpretiert Claudio Magris als Rückwendung in eine Welt, der sich die deutschsprachigen Autor:innen noch zugehörig fühlten. Die rückwärtsgewandte Sehnsucht bedeutet ihm zufolge einen typischen Akt der „Verschiebung“184 aus einer gegenwärtigen Verunsicherung. Derart beschreibt auch Oskar Wiener die Stadt der Gegensätze an der Wende zum modernen Zeitalter im Jahre 1906 in der Zeitschrift Wir:

Prag, diese unsagbar schöne, aber verruchte Burg an der Moldau, das

alte Prag liegt im Sterben und eine neue, nüchterne Stadt wächst aus dem wuchtigen Quaderwerk seiner Trümmer. Was wir geliebt haben

182 Krejčí, Karel: Praha legend a skutečnosti. S. 107. Dt.: So hat die Historie, angereichert durch Legende und dichterische Freiheit, um Prag an der Wende zweier Zeitalter eine spannende Galerie von Gestalten versammelt, Suchende nach einem Ausweg aus der Wirrnis des irdischen Lebens. Und auch solche Träume vom Frieden, inmitten der Kriege, die Sehn sucht nach allumfassender Harmonie in einem Moment, in dem die Welt entgleist zu sein scheint, die Suche nach einen Fixpunkt in einer allumfassenden Unsicherheit, gehört zur Atmosphäre des fantastischen Prag. 183 Vgl. beispielsweise die Legendensammlungen von Alois Jirásek (Staré pověsti české [Alte Prager Sagen], 1894), František Langer (Pražské legendy [Prager Legenden], 1956) oder Václav Cibula (Pražské pověsti [Prager Sagen], 1972). 184 Vgl. Magris, Claudio: Prag als Oxymoron. S. 19.

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und was eine Heimat war all unseren Träumen, es muß dahin. Wir gehn wie Enterbte durch die neuen Straßenzüge und trauern.185 Besonders häufig wird in diesem Zusammenhang die alte Prager Judenstadt (Josefov/ Josefstadt)186 thematisiert, welche sich bis in die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts in Teilen der Altstadt (Staré město) befand. Der Sage nach ist Prag ein Ort, an dem von jeher Jüdinnen und Juden siedelten. Tatsächlich fand in dem so genannten Judenghetto seit den Reformen Kaiser Josefs II. (Toleranzpatent vom 2. Januar 1782) und dem darauf folgenden Emanzipationsprozess der jüdischen Bevölkerung kein eigentliches jüdisches Gemeindeleben mehr statt. Während sich das restliche Prag zusehends in eine moderne Großstadt verwandelte, bewohnten die dunklen Gassen des Ghettos indessen die ärmsten Bevölkerungsschichten. Die Lebensbedingungen in der Prager Judenstadt waren elend und menschenunwürdig, und so galt die Judenstadt als zwielichtiger Ort des Verbrechens, der Zuhälterei und der Prostitution. Um dem inneren Stadtbild einer modernen Metropole gerecht zu werden, war eine Assanierung der Altstadt längst überfällig. So wurde das ehemalige Judenghetto, mit Ausnahme einiger historischer Stätten, wie der Synagoge, dem Jüdischen Rathaus oder dem Alten Jüdischen Friedhof in den Jahren von 1893 bis 1905 komplett abgerissen und neu bebaut. Heute kann man dort kein Ghetto mehr erahnen, stattdessen reihen sich neben den repräsentativen öffentlichen Gebäuden am Ufer der Moldau hübsche mittelständische Jugendstil- und Gründerzeithäuser. Die Prag-Texte der deutschsprachigen Literatur jedoch bewahren das Bild der Alten Judenstadt, von der sie mit ihren verwinkelten und dunklen Gassen und Hinterhöfen, mit dem geheimnisvollen Alten Judenfriedhof und den Synagogen fasziniert waren. Derart beschreibt etwa Franz Kafka ihren starken genius loci: In uns leben noch immer die dunklen Winkel, geheimnisvollen Gänge, blinden Fenster, schmutzigen Höfe, lärmenden Kneipen und verschlossenen Gasthäuser. Wir gehen durch die breiten Straßen der neuerbauten Stadt. Doch unsere Schritte und Blicke sind unsicher. Innerlich zittern 185 Wiener, Oskar: Das schöne Prag. In: Wir. Jg. 1, April 1906. S. 21. 186 Benannt ist dieser Teil der Altstadt nach Kaiser Joseph II., der sich für eine Integration und Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung einsetzte.

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wir noch so wie in den alten Gassen des Elends. Unser Herz weiß noch nichts von der durchgeführten Assanation. Die ungesunde alte Judenstadt in uns ist viel wirklicher als die hygienische neue Stadt um uns. Wachend gehen wir durch einen Traum: selbst nur ein Spuk aus vergangenen Zeiten.187 Georg Escher bemerkt in seinem Artikel Die Prager Judenstadt als Topos188, dass „das ehemalige Ghetto in der Assoziation traditioneller jüdischer Kultur, unheimlicher Sagengestalten und der städtischen Unterwelt als Schattenseite der modernen Metropole in mehrerer Hinsicht als prototypischer Ort des Anderen und Ausgegrenzten kodiert“189 ist. Escher betont, wie die Prager deutschsprachige Literatur einen entscheidenden Beitrag zum Image der Stadt geleistet und diese zum Mythos stilisiert habe. 190 Es wird ersichtlich, wie bestimmte Orte Prags eine symbolische Aufladung erfahren und so beispielsweise die Judenstadt zu einem Topos „im Kontext der multiethnischen Metropole Prag zu Beginn des 20. Jahrhunderts“191 wird. Für Paul Leppin, den „Troubadour des alten Prag“ 192, bedeutete seine Heimatstadt die Inspiration seiner gesamten literarischen Tätigkeit: Mein tiefstes Erlebnis ist Prag geblieben. Sein Zwiespalt, sein Geheimnis, seine rattenfängerische Schönheit haben meinen dichterischen Versuchen immer aufs neue Antrieb und Inhalt gegeben.193 Besonders hat Leppin das Alte Prag mit der Judenstadt geliebt. Ungeachtet allen Elends bedeutet dieses Stadtviertel für ihn einen Ort der Geborgenheit, der Gleichberechtigung und der Menschlichkeit. In der Sammlung Alt-Prager 187 Janouch, Gustav: Gespräche mit Kafka. S. 96 f. 188 Escher, Georg: Ghetto und Großstadt. Die Prager Judenstadt als Topos. In: Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich. Hrsg. von Rudolf Jaworski und Peter Stachel. Berlin 2007. S. 353-373. 189 Escher, Georg: Ghetto und Großstadt. Die Prager Judenstadt als Topos. S. 353. 190 Vgl. ebd. S. 357. 191 Ebd. 192 Pick, Otto: Preisungen. Gedichte. Prag 1937. S. 12 Aus einem Gedicht mit dem Titel Paul Leppin. 193 Leppin, Paul: Selbstbiographie des Autors (1937). In: Prager Rhapsodien. Furth im Wald 2003. S. 182.

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Spaziergänge huldigt er in verschiedenen Erzählungen diesem Stadtteil. Leppin empfindet den Wandel, den Prag mit seiner Modernisierung vollzieht und das damit einhergehende Verschwinden der Judenstadt als großen Verlust. In Anbetracht der Modernisierung der Stadt fürchtet Leppin um das, was sie im Grunde ausmacht – um ihre wundersame, magische Atmosphäre: Prag, du mit dem Janusgesicht, das aus der Rumpelkammer der Geschichte seltsame Geräusche, zitternde Ahnungen hervorzuholen vermag, das uns mit funkler Schönheit überwältigt und plötzlich in dem Habitus eines Provinzlers erscheint, der ein Späßchen mag und einen Trunk nicht verachtet – wir, die wir hier geboren sind, wir lieben dich mit allen Kräften. Wir lieben dein tragisches Halblicht, deine Größe, deine Biederkeit, deinen Haß und deinen Humor. Was wird aus dir werden? Wird dich die Not, die Ehrsucht der Zeit so völlig zwischen ihrem Gleichmaß zermahlen, daß nichts übrig bleibt von deinen köstlichen Beständen? Wird über dein wandlungsfähiges Antlitz, wo freundliche mit schwermütigen, derbe mit ehrfürchtigen Lichtern wechseln, endgültig die Maske der uniformen Modernität gestülpt, die dich aus dem Bereiche holder Sagenstädte in die Überzahl gleichgültiger Ansiedlungen hinausweist? Wird nichts von dir bleiben, als ein paar verlorene Schlupfwinkel, ein paar Türme, eine Brücke, ein Lied oder eine Chronik aus entschwundenen Tagen? Das neue Prag, das den Glanz des Tages erstrebt und bereiten will, mag groß und tüchtig sein, blendend und voll lebendiger Zukunft, aber es hat keine Wunder.194 Die Judenstadt ist das letzte Überbleibsel des Alten Prags und mit der Assanierung wurde den deutschsprachigen Literat:innen auch dieser zwielichtige sowie dionysische Stadtraum genommen, der für sie geistige Heimat und Inspiration bedeutete: Als semantisch aufgeladene Kulisse ist das Ghetto ein Ort, dem okkulte und übersinnliche Ereignisse, sowie Verruchtheit, Unzucht und Gaunerei zugeschrieben werden – eben ein Ort der Magie. In vielen Werken wird ein Gefühl der Heimatlosigkeit thematisiert, welches die Figuren aufgrund des Verschwindens der Judenstadt überkommt, so zum Beispiel in der Erzählung von Paul Leppin Das Gespenst der Judenstadt: Die Protagonis194 Leppin, Paul: Alt-Prager Erinnerungen. In: Ders.: Alt-Prager Spaziergänge. Hrsg. von Dirk O. Hoffmann. Ravensburg 1990. S. 9-15, hier S. 14.

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tin Johanna, eine Prostituierte, kehrt nach wochenlanger Krankheit zurück in das Viertel, welches für sie „Heimat“ bedeutete, „[d]ie Stadt, in der die verschlafen Lichter der Freudenhäuser blinkerten, wo in den verrufenen Gassen klobige Schatten kauerten und in der Ferne noch eine winselnde Geige oder das harte Geklimper der Spielkästen zur Lustbarkeit lud“, 195 dort liebte und lebte sie. Mit Entsetzen steht sie vor den Trümmern und Ruinen der Nacht – man hatte „ihre Heimat zerstört“ 196. In das Verschwinden der Judenstadt projiziert Leppin ein Gefühl der Heimatlosigkeit, welches sich typischerweise auch in vielen anderen Prager deutschsprachigen Werken ausmachen lässt. Die Thematik des Verlassens, des Abschiedes, der Flucht, aber auch der Wiederkehr erweisen sich nicht nur im Leben der Prager deutschsprachigen Literat:innen als exemplarisch, sondern auch in ihren Werken. Neben der Prager Judenstadt gibt es verschiedene weitere Topoi aus der deutschen und tschechischen Geschichte der Stadt Prag: In einer Reihe von deutschsprachigen Prag-Romanen wird das fiktive Geschehen vor der Kulisse des spätmittelalterlichen Prags situiert, im Zeitalter Karls IV. oder im Rudolfs II., einer Ära deutscher Herrschaft. Sie thematisieren die sagenreiche Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts, so zum Beispiel Auguste Hauschners Die Familie Lowositz (1908), Rudolf und Camilla (1910), Der Tod des Löwen (1916), Max Brods Tycho Brahes Weg zu Gott (1916), Leo Perutz’ Nachts unter der steinernen Brücke (1924-1951), Gustav Meyrinks Der Engel vom westlichen Fenster (1927) oder Karl Hans Strobls Die Fackel des Hus (1929).

195 Leppin, Paul: Das Gespenst der Judenstadt. In: Ders.: Alt-Prager Spaziergänge. S. 43-49, hier S. 45. 196 Leppin, Paul: Das Gespenst der Judenstadt. S. 48.

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Vergleichende Zusammenfassung: „Kde domov můj?“ – Prag als Topos der Identitätssuche Zusammenfassend stellt sich die Frage, inwiefern der zeitgeschichtliche Kontext einen direkten Einfluss auf die Darstellung der Stadt Prag hat und ob in diesem Zusammenhang die Nationalitätenkonflikte der Jahrhundertwende auch in der Prag-Literatur zu einer ideellen oder geistigen Besetzung des Stadtraumes führen. Die tatsächlichen Auseinandersetzungen zwischen der deutschen und der tschechischen Bevölkerung werden in der Prag-Literatur nur bedingt thematisiert. Mit wenigen Ausnahmen (eben den Studentenromanen von Karl Hans Strobl) finden sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kaum Texte mit offenkundig nationalistischen Tendenzen, obgleich es viele stereotype Darstellungen gibt. Im Vergleich fällt ferner auf, dass in der hier genannten Prager deutschsprachigen Literatur gleichermaßen sowohl deutsche als auch jüdische und tschechische Geschichte thematisiert wird, während in der tschechischen wiederum das Juden- und das „Deutschtum“ kaum behandelt werden. Man kann also bei der tschechischen Prag-Literatur kaum von einer nationalistisch motivierten Besetzung des Stadtraumes sprechen, gleichwohl sich insbesondere die patriotische Literatur mit dem Schicksal des tschechischen Volkes auseinandersetzt. Die Intention und Bedeutung dieser Texte werden im Folgenden vor allem in den Kapiteln über die Patriotische Erinnerungskultur noch genauer untersucht. Weiterhin ist interessant, dass die Darstellung der Stadt in der deutschsprachigen Literatur an die Faszination der fremdländischen Reiseberichte und Novellen erinnert. Auch der Aspekt der Fremdheit, über den die geheimnisvolle und unheimliche Atmosphäre evoziert wird, spielt in beiderlei Texten eine große Rolle. Im Unterschied zu den heteroimaginativen Texten wird Fremdheit in der Prager deutschsprachigen Literatur allerdings nicht über das Unbekannte konstruiert, sondern in Form einer Entfremdung. Die fremd gewordene Stadt ist dabei vielmehr Ausdruck einer Entfremdung des Subjekts (bzw. der Figur) von sich selbst und umgekehrt. Zwar lassen sich in der tschechischen und in der deutschen Literatur durchaus unterschiedliche Ursprünge der Darstellungen ausmachen, jedoch wird die

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Vergleichende Zusammenfassung: Prag Als Topos der Identitätssuche

Stadt jeweils auf eine ähnliche Weise semantisiert. Während in der tschechischen patriotischen Literatur das Gefühl des Verlorenseins sich mehr auf ein Objekt bezieht, nämlich auf die Heimat des Volkes und auf das Volk selbst, so ist es in der Prager deutschsprachigen Literatur vielmehr auf den Verlust einer geistigen Heimat und somit eher auf ein Subjekt bezogen. Auch wenn die bisher genannten Prag-Texte mitunter in ihrer Entstehungszeit bis zu zehn Jahren auseinanderliegen, so weisen sie doch eine ähnliche Symptomatik auf. Im Vordergrund steht die Empfindung des Subjekts, der Heimat beraubt worden zu sein oder keine Heimat (mehr) zu haben. Damit einher geht eine allumfassende Desillusionierung der Held:innen. Dieses allgemein bedrückende und verunsichernde Lebensgefühl hatte die deutsche und die tschechische Bevölkerung in Prag um die Jahrhundertwende gleichermaßen ergriffen. Sowohl aus den literarischen Beispielen als auch aus der persönlichen Korrespondenzen und den Aufzeichnungen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller geht ein umfassendes Gefühl der Verunsicherung hervor. Sei es nun in Bezug auf die nationale oder konfessionelle Identität oder hinsichtlich der Verunsicherung des Individuums im Großstadtraum im beginnenden Zeitalter der Moderne. Viele literarische Texte der Jahrhundertwende in Mitteleuropa vor dem Ersten Weltkrieg widerspiegeln dieses Lebensgefühl. Es kann als symptomatisch für eine ganze Generation verstanden werden. Die künstlerische Bewegung, die sich um 1900 mit dem kulturellen Verfall und der Perspektivlosigkeit auseinandersetzt, wird als Fin de Siècle (franz.: Ende des Jahrhunderts) oder auch Dekadenz bezeichnet. Diese Zeit war einerseits geprägt von einer euphorischen Aufbruchstimmung, auf der anderen Seite jedoch geplagt von Endzeitstimmung, Lebensüberdruss und Weltschmerz. Gerade in den Aufzeichnungen Franz Kafkas kommt immer wieder diese Zerrissenheit zum Ausdruck, mit der eine nihilistische Stimmung einhergeht: In dieser Welt wäre die Lage schrecklich, hier allein in Spindlermühle, überdies auf einem verlassenen Weg, auf dem man im Dunkel, im Schnee fortwährend ausgleitet, überdies ein sinnloser Weg ohne irdisches Ziel […], überdies auch ich verlassen im Ort […], unfähig, mit jemandem bekannt zu werden, unfähig, eine Bekanntschaft zu ertragen, […] ich will nicht so weit gehn, zu sagen, daß ich die Ursache dessen

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bin, etwa als ‚der Mann mit dem allzu großen Schatten‘, aber mein Schatten ist in dieser Welt tatsächlich allzu groß […] überdies nicht nur hier so verlassen, auch in Prag, meiner ‚Heimat‘, und zwar nicht von den Menschen verlassen, das wäre nicht das schlimmste, ich könnte ihnen nachlaufen, solange ich lebe, sondern von mir in Beziehung auf die Menschen, von meiner Kraft in Beziehung auf die Menschen, ich habe Liebende gern, aber ich kann nicht lieben, ich bin zu weit, bin ausgewiesen, habe, da ich doch Mensch bin und die Wurzeln Nahrung wollen, auch dort ‚unten‘ (oder oben) meine Vertreter, klägliche ungenügende Komödianten, die mir nur deshalb genügen können (freilich, sie genügen mir gar nicht und deshalb bin ich so verlassen), weil meine Hauptnahrung von andern Wurzeln in anderer Luft kommt, auch diese Wurzeln kläglich, aber doch lebensfähiger.197 Die Topographie der Stadt Prag scheint einen besonders guten Nährboden für die Literarisierung dieses umfassenden Gefühls der Verunsicherung darzustellen, da häufig ein direkter Bezug von der Desillusionierung der Protagonist:innen und dem verlorenen tschechischem Volk zu Prag als einer verfallenen bzw. toten oder kräfteraubenden Stadt hergestellt wird. In diesem Zusammenhang wird Prag auch sowohl in der deutschen als auch in der tschechischen Literatur häufig als Mutterstadt bzw. Mutterfigur dargestellt, als „Mütterchen Prag“ bzw. „Matička Praha“. Die Bohemistin Katica Ivanković untersucht in ihrem Artikel Mýtus o umělci na počátku 20. století198 den Mythos um die tschechische Künstlerbohème zu Beginn des 20. Jahrhunderts, welcher auch ihres Erachtens nicht vorrangig aus den entsprechenden Primärtexten entstanden ist. Vielmehr versteht Ivanković unter diesem Mythos ein metatextuelles Konstrukt, das aus der Autostilisierung des Autors, der Rezeption seines Werkes und der literaturwissenschaftlichen Forschung hervorgeht. Gerade am Beispiel der Rezeption der Prager deutschsprachigen Literatur kann man nachvollziehen, dass derartige Mythen durchaus auch Produkt einer entsprechenden Stilisierung und Inszenierung sind. Viele der genannten Autor:innen haben ferner nach dem Ersten 197 Kafka, Franz: Tagebücher 1910-1923. Aufzeichnung vom 29.Januar 1922, S. 565 f. 198 Ivanković, Katica: Mýtus o umělci na počátku 20. století [Der Mythos vom Künstler am Anfang des 20. Jahrhunderts]. In: Bohemica Olomucensia. Ausgabe: 1/ 2011. S. 31-38.

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Vergleichende Zusammenfassung: Prag Als Topos der Identitätssuche

Weltkrieg oder nach ihrem Verlassen der Stadt weiter an diesem Mythos geschrieben, so zum Beispiel Johannes Urzidil. Gerade sein Werk ist eine ständige Reflexion und Auseinandersetzung mit seiner Heimatstadt. Prag hat sich um 1900 verändert oder war im Begriff, sich zu verändern und seine Einwohner:innen beklagten sich darüber, dass die Stadt nicht mehr die sei, die sie einmal gewesen ist. So schreibt auch der Schriftsteller Franz Hauptmann rückblickend in der Betrachtung Meine Heimat (1953) über das Verschwinden dessen, was Prag einst ausmachte: ich denke oft an die Stadt, für die ich kein beschreibendes Eigenschaftswort finde, ich denke eigentlich immer an sie […] Es ist nicht die unauslöschliche Erinnerung an meine Erlebnisse in Prag, die mich meiner Heimat entfremdet hatten […] Aber eine Stadt stirbt […] wenn ihre Seele stirbt. Und die Seele dieser Stadt, diese sensible, spannungsgeladene, vielschichtige Seele, deren Spannweite drei Völker umfasste und von tiefer, erschreckend explosiver Mystik bis zu klarster europäischer Geistigkeit reichte, diese Seele ist tot. Sie lebte in der Atmosphäre ständiger Spannung, in der die Stadt kochte, wie ein Kessel, in dem alle Ingredenzien Europas, alle Gegensätze, Fragen, Probleme und Forderungen sich mischen sollten, ein gefährliches Gemisch, wenn über diesem Kessel auch verführerisch die Düfte der böhmischen Küche schwebten. In Prag lebte auch nach 1918 noch ein Rest jenes Auftrages fort, den das alte Österreich nicht hätte erfüllen können: der Rest der alten, unter den verschiedensten Namen verfochtenen Idee des vereinigten Europa. […] Im Mai 1945 […] starb auch die europäische Seele Prags. - Und seither denke ich an Prag wie an eine Tote, ohne Heimweh.199 Diese Atmosphäre spiegelt sich in den Prag-Texten auf ähnliche Weise wieder, wobei es zu beachten gilt, dass die Darstellung der Stadt und damit einhergehend eine gewisse ideelle Besetzung des Stadtraumes aus einem unterschiedlichen Zugang resultiert. In der tschechischsprachigen Literatur wird das Bild einer verlorenen, untergehenden, heroischen Stadt evoziert, die seit Menschengedenken einen Ort der Austragung nationaler und konfessioneller 199 Prager Tagblatt. Februar 1953. Zitiert nach Adler, H. G.: Die Dichtung der Prager Schule. S. 16 f.

II Zur Entstehung eines literarischen Mythos

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Kämpfe darstellt und in der das tschechische Volk der Unterdrückung müde geworden ist. Dieses Gefühl, verloren zu haben oder verloren zu sein, ist auch der Grundtenor der deutschsprachigen Literatur, wohingegen der patriotische Aspekt weniger deutlich zutage tritt. Das mag darauf zurückzuführen sein, dass die deutsche Kultur um die Jahrhundertwende in Prag immer noch als führend galt, während die tschechische erst im Begriff ihres Entstehens war. Jedoch resultiert in der Prag-Literatur unabhängig von Ethnie, Nationalität oder Herkunft des jeweiligen Autors oder der jeweiligen Autorin das Bild der Stadt aus einer Rückbesinnung auf ihre Vergangenheit und über ihre historischen und geschichtsträchtigen Orte sowie Figuren oder Ereignisse. In diesem Zusammenhang ist die Entstehung des Prag-Mythos als Ausdruck einer Retrospektive zu verstehen, als eine Art der Aneignung von Wirklichkeit in einer wechselseitigen Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Gegenwart. Diese tritt insbesondere an der Zeitschwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert zutage, einer Epoche, in der sich die Wahrnehmungswelt des Menschen rasant und stark veränderte und eine umfassende Verunsicherung hervorrief. Mit dieser Schwelle manifestiert sich in der Literatur das Bild einer phantastischen und magischen Stadt, dessen sich nach und nach immer mehr Literatinnen und Literaten bedienten: Der Prager Schriftsteller – vor allem, aber nicht nur der Prager Deutsche – beschreibt oft auf seinen Seiten nicht etwa ein geschichtstreues und wirkliches Prag der Vergangenheit oder der Gegenwart, sondern ein von der Literatur geschaffenes Prag, das wiederum zum cliché, zur künstlichen und konventionellen Landschaft wird, die als echte Welt akzeptiert wird, um in ihrem Hintergrund die eigenen Figuren hervortreten zu lassen. Das mythische und vielschichtige Prag ist wenigstens teilweise das Ergebnis der Phantasie einiger großer, mittelmäßiger oder unbedeutender Schriftsteller, die ihre Verständnisschwierigkeiten gegenüber den Widersprüchen ihrer Umwelt in ein verzaubertes Reich verwandelt haben, indem sie ihren großen, mittelmäßigen oder unbedeutenden Nachfolgern ein überaus reiches Arsenal zur Verfügung stellten, das letzteren erlaubte, weitgehend von diesem Arsenal zu leben.200 200 Magris, Claudio: Prag als Oxymoron. S. 12 f.

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Vergleichende Zusammenfassung: Prag Als Topos der Identitätssuche

Prag ist somit in vielerlei Hinsicht ein verunsichernder Ort – thematisiert wird das Gefühl des Verlustes und der Verlorenheit. Aus der Suche nach der eigenen Identität resultiert eine Rückwendung hin zu einer vermeintlich besseren und Sicherheit spendenden Vergangenheit. Viele Figuren oder auch die Schriftsteller:innen selbst, wie aus ihren Korrespondenzen hervorgeht, versuchen in der Geschichte der Stadt oder in der historischen Topographie eine rückwärtsgewandte Sehnsucht zu stillen. Als solcher Ort der Identitätssuche wird Prag zu einem Topos der Verunsicherung in der Literatur der Jahrhundertwende. Diese drückt sich wiederum in den literarischen Texten durch ein Gefühl der Fremdheit aus. So erscheint die Großstadt Prag als Ort der gefährdeten Subjektivität in diesen Texten aus verschiedenen Blickwinkeln als ein Paradigma der Fremdheit. Der Philosoph Bernhard Waldenfels bringt in seiner Trilogie Studien zur Phänomenologie des Fremden den Schwellenbegriff in Verbindung mit Fremdheit: Betrachten wir das Fremde als ein Anderswo, das Eigenes markiert, indem es sich diesem entzieht, so erscheint die Schwelle als Ort des Fremden par excellence. Sie erweist sich zugleich als ein Ort in der Schwebe. Man übersteigt die Schwelle, ohne oberhalb ihrer Platz zu finden und ohne haarscharf zwischen Diesseits und Jenseits unterscheiden zu können. Eine Scheidung die Raum-Zeit-Felder in der Aussonderung entstehen läßt, bedeutet mehr als eine Unterscheidung, die sich über die Unterschiede erhebt. Die Schwelle würde ihr anstößiges verlieren, wenn sie sich in eine Binnengrenze verwandeln ließe und wir auf beiden Seiten der Schwelle Fuß fassen und heimisch werden könnten. Schwellen, die man nach Belieben in beide Richtungen überquert, hören auf, Schwellen zu sein. Schwellen können sich verlagern, doch auf gewisse Weise sind sie unüberwindlich.201 Für das Individuum ergeben sich aus diesem Schwellencharakter der Stadt Prag zwei Komponenten, welche die Frage nach seiner Identität stark beeinflussen: Auf der einen Seite steht die politisch motivierte Identitätskonstruktion, die auch den Stadtraum für sich beansprucht und Prag zu einem kollektiven Gedächtnisraum macht. Im folgenden Abschnitt wird diese 201 Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen. S. 9.

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Topologie der Erinnerung, die mit der Geschichte der Stadt in einem engen Zusammenhang steht anhand der Darstellung in verschiedenen Prag-Texten aus dem 20. Jahrhundert genauer untersucht. Daneben eröffnet sich auf der anderen Seite im Narrativ der Stadt Prag auch ein Raum der individuellen Identitätsstiftung, der wiederum nicht unbedingt politisch oder historisch motiviert ist, sondern vielmehr den Stadtraum als einen persönlichen Seelenspiegel erscheinen lässt. Dieser wird schließlich im IV. Abschnitt über die Topologie der Entfremdung beleuchtet.

III Topologie der Erinnerung: Die Stadt als Gedächtnisraum 1 Das „jüdische Prag“: Fremdheit versus Vertrautheit In der jüdischen Tradition nahm Prag neben Jerusalem einen ganz außerordentlichen Platz ein. Wenn es auch in der mittelalterlichen jüdischen Diaspora Städte mit einer bedeutenden größeren jüdischen Einwohnerzahl und Orte, wo Generationen von Wunderrabbis und Chassidim lebten, gab, so kam dem Ruhm des jüdischen Prag nichts gleich.1 [Ctibor Rybár]

Der Topos eines „jüdischen Prags“ ist wesentlicher Bestandteil des PragMythos. Er eröffnet einen umfangreichen Themenbereich, der im gesamten 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart immer wieder rezipiert wird. In der Darstellung eines „jüdischen Prags“ kommt der Schwellencharakter und die Mythisierung der Stadt auf besondere Weise zur Geltung, da sich hier die jüdische Sagen- und Legendenwelt mit ganz konkreten Orten, wie der Alten Prager Judenstadt und dem Alten Judenfriedhof, verbindet. Die jüdische Kultur hat in Prag eine weit zurück reichende Tradition – der Sage nach ist dies ein Ort, an dem von jeher Jüdinnen und Juden gesiedelt haben. Erstmals erwähnt wurden jüdische Ansiedlungen in Prag 1091 in der Chronica Boemorum von Cosmas. Im 13. Jahrhundert bestimmte man in der Prager Altstadt einen abgegrenzten Stadtteil zum jüdischen Viertel – die „Prager Judenstadt“ (Židovské město pražské) – in der sich die jüdische Bevölkerung ansiedeln musste. Über die Jahrhunderte hinweg wurde das Ghetto von Epidemien und schweren Bränden heimgesucht, die Teile der Altstadt und Synagogen zerstörten. Nach einem Massenexodus im 16. Jahrhundert verblieb dort die einzige jüdische Gemeinde in ganz Böhmen. Immer wieder kam es zu Überfällen und Pogromen: Das Ghetto des 17. Jahrhunderts bildete ein Neuntel der Altstadt. Es war das kleinste Prager Viertel mit krummen geschlängelten Gäßchen und einer unübersichtlichen Menge von kleinen Höfen mit Umgängen im Hinterhaus, in einem Raum waren bis 5 Menschen zusammengedrängt, insgesamt lebten hier etwa zweitausend jüdische Bewohner. Die 1

Rybár, Ctibor: Das jüdische Prag. Glossen zur Geschichte und Kultur. Führer durch die Denkwürdigkeiten. Prag 1991. S. 6.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Scheidig, Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62256-8_4

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1 Das „jüdische Prag“: Fremdheit versus Vertrautheit

Bewohner mussten nicht nur den Elementen, Überschwemmungen und Bränden die Stirn bieten, sondern auch dauernder Verfolgung.2 Im Zuge der jüdischen Vertreibungen aus Wien und Ungarn war zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Ghetto schließlich heillos übervölkert. Der jüdische Anteil stellte damals ein Viertel der gesamten Bevölkerung Prags dar, doch kam es bereits 1744 unter Maria Theresia zu Vertreibungen aus Böhmen und Prag. Im darauffolgenden Jahrhundert brachten die Liberalisationsreformen Josefs II. und schließlich die Proklamierung des ersten österreichischen Grundgesetzes im Revolutionsjahr 1848 für die jüdische Bevölkerung eine offizielle Gleichberechtigung. Im Zuge dessen wurde die Alte Judenstadt nach dem Kaiser in „Josefstadt“ (Josefov) umbenannt. Tatsächlich gehörte die Prager jüdische Gemeinde bis dato noch zu den quantitativ größten in Zentraleuropa. Dies änderte sich allerdings mit dem Emanzipationsprozess der jüdischen Bevölkerung und dem Gesetz für freie Aufenthaltsbestimmung. Ab den 1850er Jahren schließlich wurde das Ghetto zusehends von den ärmsten Teilen der Bevölkerung in Beschlag genommen: „Anstelle derer, die hier tausend Jahre lang gelebt hatten, strömte nun das arme Volk aus allen Ecken und Enden Prags und auch vom Lande in die engen Gäßchen des fünften Stadtbezirks.“3 Ende des 19. Jahrhunderts war die jüdische Gemeinde in Prag im Vergleich zu anderen Großstädten Europas eher provinziell geworden und verkleinerte sich auch weiterhin:4 Laut den Volkszählungen machte zu Beginn des 20. Jahrhunderts der jüdische Bevölkerungsanteil in Prag etwa 6,5% aus, 1921 bekannten sich nurmehr vier Prozent zum jüdischen Glauben.5 Dementgegen wird Prag bis in die heutige Zeit als Ort jüdischer Kultur wahrgenommen bzw. dementsprechend inszeniert und rezipiert, wie sich beispielsweise an der Vermarktung der Sagengestalt Golem ablesen lässt. Die jüdischen Sagen und Legenden, welche auf das Rudolfinische Zeitalter (16. Jahr-

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Rybár, Ctibor: Das jüdische Prag. S. 51. Frynta, Emanuel: Franz Kafka lebte in Prag. S. 58. Vgl.: Čapková, Kateřina: Raum und Zeit als Faktoren der nationalen Identifikation der Prager Juden. In: Praha-Prag 1900-1945. S. 21-30, hier S. 22. Vgl. Koeltzsch, Ines: Die gezählte Stadt. S. 9 f.

III Topologie der Erinnerung: Die Stadt als Gedächtnisraum

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hundert)6 zurückgehen, nehmen den wohl gewichtigsten Teil des „jüdischen Prags“ ein. Kaiser Rudolf galt als großzügiger Förderer der Künste und Wissenschaften, wobei ihm auch ein besonderes Interesse an der Astrologie, Alchemie sowie anderen okkulten Praktiken nachgesagt wird. Vyrůstaly nepochybně z místní tradice, avšak při rozsáhlých světových stycích pražského židovstva šířily se rychle dál a vracely se opět přikrášleny a rozhojněny migrujícími motivy z východu i západu. Vytvářela se tak pestrá mozaika, která byla zkomponována v jednotný celek v době romantismu v první polovině 19. století. Z této doby jsou nejstarší zápisy pověstí o pražském ghettu, jež si rychle razí cestu k světové popularitě.7 Ab dem Jahr 1847 gab der Publizist Wolf Pascheles in Prag unter dem Titel Sippurim (aus dem Hebräischen: Geschichten) mehrere Hefte als Sammlung Jüdischer Volkssagen, Erzählungen, Mythen, Chroniken, Denkwürdigkeiten und Biographien berühmter Juden aller Jahrhunderte aus biblischen, rabbinischen und volkstümlich-mittelalterlichen Quellen heraus. Diese Sammlung deutsch-jüdischer Texte erfreute sich großer Beliebtheit und stellt eine interessante Quelle hinsichtlich der Eigenwahrnehmung der jüdischen Bevölkerung in Prag dar. Beachtenswert ist der historische Kontext, in dem die Sippurim herausgegeben wurden. Es wurde bereits beschrieben, wie am Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb der einzelnen Prager Bevölkerungsteile das Empfinden für ein nationales Bewusstsein jenseits des Habsburgerreiches entstand. Ebenso wie sich die böhmische Bevölkerung politisch und sprachlich von der Monarchie emanzipierte so melden sich auch mit den Sippurim „Stimmen zu Wort, die bisher in der deutschen Literatur nicht repräsentiert werden, deren 6 7

Die Herrscherzeit des Kaisers Rudolf II. in Prag von 1576 bis 1612 (Heiliges Römisches Reich) wird Rudolfinisches Zeitalter genannt. Krejčí, Karel: Praha legend a skutečnosti. S. 119 f. Dt.: Sie entwuchsen zweifelsohne einer örtlichen Tradition, jedoch verbreiteten sie sich bei den weitreichenden Verbindungen des Prager Judentums in der ganzen Welt schnell weiter und kehrten wiederum ausgeschmückt und mit Wandermotiven bereichert aus dem Osten und dem Westen zurück. So entstand ein buntes Mosaik, welches in der Zeit der Romantik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefügt wurde. Aus dieser Zeit stammen die ältesten Aufzeichnungen der Legenden um das Prager Ghetto, die sich schnell einen Weg zu weltweiter Berühmtheit bahnten.

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1 Das „jüdische Prag“: Fremdheit versus Vertrautheit

Geschichte, Traditionen, Lebenswelten und Anliegen bisher nicht zum Gegenstand der Darstellung in deutscher literarischer Form geworden waren.“8 In ihrer Publikation über Jüdische Geschichtsbilder aus Böhmen (2005) bezeichnen Gabriele von Glasenapp und Florain Krobb die Sippurim im Nachwort als „emanzipatorisch“, da sie die regionale jüdische Geschichte und Tradition im literarischen Leben in Mitteleuropa etablieren.9 Mit dieser Sammlung wurde die Prager jüdische Sagen- und Legendenwelt ins 19. Jahrhundert transportiert und so die jüdische Kultur einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In einer neueren Ausgabe einiger Geschichten aus den Prager Sippurim von Peter Demetz (Geschichten aus dem alten Prag, 1994) kommentiert dieser die Sammlung kritisch in einem Nachwort: In den Prager ‚Sippurim‘ sind Anschauungen und Probleme vorausgenommen, die später in vielerlei Gestaltungen ihre Fortsetzung finden – nicht zuletzt der deutliche Landespatriotismus (jenseits der Sprachnationalismen), das Bewußtsein einer kontinuierlichen böhmischen und Prager Geschichte, an der drei Nationen teilhaben, und ein kompliziertes Verhältnis zur deutschen Sprache, die (wie die Dialoge und Gespräche zeigen) noch nicht die Umgangssprache der Judenstadt war. Franz Kafka ist nur einer der Erben dieser Probleme.10 Demetz versteht die Sippurim als „literaturhistorisches Dokument erster Ordnung“, dem seines Erachtens innerhalb der Erforschung der Prager deutschsprachigen Literatur bisher nicht genügend Aufmerksamkeit eingeräumt wurde. Man kann davon ausgehen, dass die Sippurim einen wichtigen Beitrag zur Popularität der jüdischen Sagen und Legenden in der Prager deutschsprachigen Literatur geleistet haben. Bemerkenswert ist nach Demetz weiterhin das Anliegen der Autorinnen und Autoren selbst, die in den Texten der Sippurim „Wunderbares, oder gar Märchenhaftes berichten, aber zugleich im Sinne der josephinischen und Mendelssohnschen Aufklärung der Vernunft zu ihrem 8 9 10

Glasenapp, Gabriele von; Krobb, Florian: Jüdische Geschichtsbilder aus Böhmen. Tübingen 2005. S. 200. Vgl. Glasenapp, Gabriele von; Krobb, Florian: Jüdische Geschichtsbilder aus Böhmen. S. 200. Demetz, Peter (Hrsg.): Geschichten aus dem alten Prag. Frankfurt am Main; Leipzig 1994. S. 375 f.

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Recht verhelfen“11. So berufen sie sich auf fiktive alte Manuskripte oder die mündliche Tradition dieser Sagen und verschreiben sich dabei dem Historischen, Psychologischen oder Vernünftigen – „das Märchenhafte erscheint, wo es selbstständig wird, leicht als Parodie oder […] man verspottet weltfremde Gelehrsamkeit“12. Mit dieser Manier erinnern die Sippurim an die ersten Aufzeichnungen böhmischer Geschichte: Die Böhmischen Chroniken waren ebenso die Verschriftlichung mündlich tradierter, weit zurückliegender Geschichte(n), die für das tschechische Selbstverständnis eine wichtige Rolle spielen. Derart verstanden sich auch die ursprünglichen Auflagen der Prager Sippurim als „Beitrag zur Völkerkunde“13, welcher „nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch zur Belehrung dient, in dessen spannenden Erzählungen, Sagen und Mythen ein reicher historischer Kern enthalten ist, der auch für den Gelehrten beachtenswerth ist“14. Auf deutsch herausgegeben, war die Sammlung ein Versuch der deutschen und tschechischen Bevölkerung „ein vollständiges Bild der jüdischen Nation in allen Zeitaltern bis auf die Gegenwart“15 nahe zu bringen. Es wird deutlich, dass diese Sammlung in der Tradition romantischer Volksdichtung (Folklore16) steht und mit den Sippurim Prag abermals zu einem Ort wird, an dem in der Literatur die sagenhafte und mythische Vergangenheit mit der Historie der Stadt verschmilzt. Ein wichtiger Teil der Sammlungen beschäftigt sich mit den wohl bekanntesten Prager jüdischen Sagen um die historische Gestalt des Rabbis Löw. Diese handeln von der Herstellung des Golems, von der geheimnisvollen Beziehung des Rabbis zum Kaiser Rudolf II. und dem Astronomen Tycho de Brahe sowie von seinem Tod und seinem berühmten Grab auf dem Alten Prager Ju11 12 13 14 15 16

Demetz, Peter: Geschichten aus dem alten Prag. S. 370. Ebd. S. 371. Vgl. z. B. Ausgabe von 1847: Gallerie der Sippurim. Eine Sammlung jüdischer Sagen, Märchen und Geschichten, als ein Beitrag zur Völkerkunde. Sippurim. Eine Sammlung jüdischer Volkssagen, Erzählungen, Mythen, Chroniken, Denkwürdigkeiten und Biographien berühmter Juden aller Jahrhunderte, insbesondere des Mittelalters. Band 3. Hrsg. von Jakob W. Pascheles. Prag 1854. Vgl. Vorwort von Wolf Pascheles. Sippurim (1854). Vgl. Vorwort von Wolf Pascheles. Vgl. hierzu auch: Glasenapp, Gabriele von: Popularitätskonzepte jüdischer Folklore. Die Prager Märchen, Sagen und Legenden in der Sammlung Sippurim. In: Populäres Judentum. Hrsg. von Christine Haug, Franziska Mayer, Madleen Podewski. Tübingen 2009. S. 19-45.

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denfriedhof. Rabbi Löw gilt als kabbalakundiger „Tausendkünstler“ und wurde so zum Sinnbild des mysthischen Prags des 16. Jahrhunderts. Peter Demetz belegt in seinem Essay Die Legende vom magischen Prag (1996), dass die Sage vom Rabbi Löw und seinem Golem tatsächlich um Jahrhunderte älter ist als ihr Vorkommen in Prag. Weiterhin widerlegt er den populären Irrglauben, dass die Prager Judenstadt ein bedeutsamer Ort der mystischen Lehre und Praxis gewesen sei. Gleichwohl haftet an der Alten Prager Judenstadt mit dem berühmten Jüdischen Friedhof eine Mystifizierung sondergleichen, die in der Prag-Literatur immer wieder zum Tragen kommt. Diese Schauplätze der jüdischen Kultur transportieren eine ganz besondere, mystische Atmosphäre und stellen als Topos eine wichtige Komponente des PragMythos dar. Sogar eine der wichtigsten Quellen antisemitischer Verschwörungstheorien ist in Prag lokalisiert: Der Trivialroman Biarritz (1868) von Sir John Retcliffe (eigentlich Hermann Ottomar Friedrich Goedsche) schildert eine Zusammenkunft der zwölf Stämme Israels, die über die Übernahme der Weltherrschaft beraten. Das Kapitel Auf dem Judenkirchhof in Prag ist später die wesentliche Grundlage des antisemitischen Verschwörungspamphlets Die Protokolle der Weisen von Zion. In Übersetzungen des Romans werden diese fiktiven Ereignisse auf dem Prager Judenfriedhof als historisch gesicherte Fakten dargestellt, auf die sich schließlich die Protokolle stützen. Auch Umberto Ecos letzter Erfolgsroman Der Friedhof in Prag (Il Cimitero di Praga, 2010) handelt von dieser Verschwörungstheorie, in dem sogar Goedsche als Nebenfigur in der Rolle eines Geheimagenten auftritt. Dementsprechend unterliegen viele Zuschreibungen eines „jüdischen Prags“ einer starken Mystifizierung und Mythisierung, so zum Beispiel auch die Bedeutung des Judentums für die Generation der Prager deutschsprachigen Schriftsteller. Bisher wurde in der Forschung gemeinhin versucht, die Prager deutschsprachige Literatur als eine jüdische Literatur zu interpretieren, 17 da 17

So zum Beispiel in Fiala-Fürst, Ingeborg: Das jüdische Prag. Die jüdische Identität in der Prager deutschen Literatur. In: Jüdische Identität im Spiegel der Literatur vor und nach Auschwitz. Hrsg. von Eveline Valtink. Hofgeismar 1989. S. 103-130. Fiala-Fürst postuliert in diesem Beitrag, „die Prager deutsche Literatur sei eine jüdische Literatur gewesen“ und sie wäre „ein fast metaphysisches Beispiel dafür, daß sich das Judentum ihrer Autoren – bejaht oder bekämpft, begrüßt oder verdrängt – in ihren Werken immer niederschlägt –

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viele der Schriftsteller:innen jüdische Wurzeln hatten. Die Germanistin Ingeborg Fiala-Fürst distanziert sich jedoch in ihrem Beitrag Der produktive Mythos Prag: Die Mythen um das jüdische Prag im Sammelband Prag als Topos in der Literatur (2011) von dieser Sichtweise, die sie selbst lange vertreten hat. Sie hinterfragt die in der Germanistik feststehenden „Erklärungsmuster und Klischees“, so zum Beispiel ihre eigene These, „die Prager deutsche Literatur sei im Ganzen eine ‚jüdische Literatur‘ gewesen“18. Neben nichtjüdischen Autoren gab es in und um Prag aber auch Dichter jüdischer Herkunft, die ebenso selten auf die jüdische Thematik und Problematik eingegangen sind und schon gar nicht das eigene Jude-Sein in ihren Werken problematisierten, sondern die jüdische Assimilation als gesellschaftliche Tatsache freudig begrüßten, die deutsch-österreichische Kultur Böhmens als ihr ureigenes Element empfanden und von ihren eigenen jüdischen Wurzeln gar nichts – oder nur so wenig wie möglich – wissen wollten. Fritz Mauthner, Hugo Salus, Friedrich Adler, Heinrich Teweles werden meistens als Beispiele dieser programmatisch assimilatorischen Haltung angeführt, die noch nicht nach Kosten der Assimilation fragte, sondern sie freudig hinnahm.19 Wie man aber an der Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Prag sehen kann, wurden in Prag um die Jahrhundertwende die jüdischen Traditionen in den wenigsten Familien noch gepflegt und die jungen jüdischen Literat:innen beschäftigten sich erst im Laufe der Jahre mit ihrer jüdischen Geschichte. Beispielsweise stammte selbst Franz Kafka aus einer jüdischen Familie, in der wenig Wert auf religiöse Traditionen gelegt wurde. In seinem Brief an den Vater schreibt er 1919, dass ihm von zu Hause ein „Nichts an Judentum“20 vermittelt wurde. Mit der jüdischen Geschichte und dem Glauben

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explicité: in ihrer Weltanschauung, ihrer geäußerten Stellungnahme zum Judentum, oder implicité, werkimmantent: in der Auswahl der Themen, Hierarchie der Motive, Charakteristik der Helden, sogar vielleicht in der Form und Poetik.“ (Ebd. S. 103 f.) Fiala-Fürst, Ingeborg: Der produktive Mythos Prag. Die Mythen um das jüdische Prag. In: Prag als Topos der Literatur Hrsg. von Almut Todorow und Manfred Weinberg. Olomouc 2011. S. 17-30, hier S. 17. Fiala-Fürst, Ingeborg: Der produktive Mythos Prag. S. 19. Kafka, Franz: Gesammelte Werke, Band 7. Zur Frage der Gesetze und andere Schriften aus dem Nachlaß. In der Fassung der Handschrift. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt am Main 1994. S. 42.

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setzte sich Kafka erst später aus eigenem Interesse auseinander. Seinen Tagebüchern ist zu entnehmen, dass er etwa um 1910 begann, sich für das jüdische Theater und die Literatur zu interessieren. Hans Kohn, der Redakteur der Prager zionistischen Zeitschrift Selbstwehr, schreibt darüber, dass innerhalb der jüdischen Bevölkerung in Prag ein Interesse und eine allgemeine Bekenntnis zum eigenen Judentum erst nach 1910 entstand: Das Judentum war uns fremd, kaum eine ferne Legende. Juden, die nicht böhmisch oder, im besten Falle Wiener Juden waren, uns unbekannt. Wir waren vollkommen assimiliert an die deutsche Kultur jener Tage […]. Die Assimilation war für uns wie für alle eine Wirklichkeit, der Zionismus nur eine Geste oder ein Programm, das Judentum eine traditionell oder freudig bejahte Tatsache, noch nicht einmal ein Problem.21 1917 bringt der dazugehörige Verlag Selbstwehr einen Sammelband heraus, in dem verschiedene namhafte Prager Intellektuelle dazu aufgefordert wurden, ihre Meinung „über die Einflußnahme des jüdischen Elementes auf die Kultur und Geistigkeit der Stadt Prag“22 zu äußern. Robert Weltsch, einer der bedeutendsten Prager Zionisten, schreibt in einem kurzen Beitrag folgendermaßen über seine jüdische Generation: Was es ist, dieses jüdische Prag, von dem hier so viel gesprochen wird? Wir wissen es nicht so, daß wir es sagen, daß wir ein Bild entwerfen könnten. Wir wissen aber, daß es eine Realität ist, die i n uns lebt und wirkt; in uns: der Prager jüdischen Jugend. Wir, diese heutige Prager jüdische Jugend sind nicht mehr die Kinder des Prager Ghetto, dessen äußere Gestalt wir kaum mehr kannten. Wir sind durch die fremde Schule gegangen, […] in Schule und Welt umgab uns die dringende Fülle des Daseins. Ach dieses Wunder ‚Prag‘ hat uns erfaßt mit seinem Geheimnis und der stillen Schönheit seiner alten verborgenen Gassen. Aber das j ü d i s c h e Prag?23 21 22 23

Zitiert nach Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des ‚expressionistischen Jahrzehnts‘. In: Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Hrsg. von Eduard Goldstücker. Prag 1967. S. 47-96, hier S. 54. Leppin, Paul: Eine jüdische Kolonie. In: Das jüdische Prag. Eine Sammelschrift. Verlag der Selbstwehr. Unabhängige jüdische Wochenschrift. Prag 1917. S. 5-6, hier S. 5. Weltsch, Robert: Die Jugend des jüdischen Prag. In: Das jüdische Prag. S. 17-18, hier S. 18.

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Prag als historischer Ort jüdischer Kultur bewahrt einen besonderen genius loci. Weltsch schreibt weiterhin, dass Die Jugend des jüdischen Prag zwar noch einen alten Friedhof und eine Synagoge kenne, hingegen die Familientraditionen, die in der Welt ihrer Väter verwurzelt waren, für sie bereits versunken seien: „Die ganze Folge von Geschehnissen, Leiden, Erregung, von Streben und Lachen, diese ganze Geschichte des lebendigen jüdischen Prag kennen wir nicht.“24 Dennoch hat diese Generation eine besondere geistige Verbindung zur Vergangenheit der Stadt: Das jüdische Prag ist unsere geistige Abkunft. Sein Erbe ist es, was uns in der neuen, vielfältigen Welt, in der wir uns verloren hatten, immer wieder rettete und zu geistigen Zielen führte, und das uns gerade darum, weil es uns entschwunden war, immer wieder suchen und verzweifeln lehrte. Bis es mit einem Mal in unser Bewußtsein trat, daß etwas in uns ist, was kein Gegenbild mehr in der Wirklichkeit hat; daß das jüdische Prag in uns weiterlebt, obwohl die die jüdische Gemeinde nicht mehr lebendig ist, sondern sich selbst aufgelöst und in Lethargie gesenkt hat.25 Während die Väter-Generation versucht habe, „die Spannung zwischen ihrer Seele und der Wirklichkeit“26 zu beseitigen, leide sie heute unter dem Mangel an kultureller Verwurzelung. Es ist ihnen bewusst, dass „heute Einsame herumgehen, sich in Absonderlichkeiten ausgeben, sich durch Genüsse voll geistigen und sinnlichen Raffinements betäuben, Weltschmerz und ästhetische Spielerei betreiben, in Großstadtkaffeehäusern Zigarettenrauch in die Luft blasen und ihren Geist vergeuden, – weil sie ihre geistige Heimat und die belebende Kraft der Gemeinschaft verloren haben.“ 27 Die jüngere jüdische Generation hingegen fühlt sich von dieser geistigen Heimat, der jüdischen Kultur und dem alten jüdischen Prag stark angezogen. In der kurzen Erzählung Ghetto (1917) setzt sich Hans Natonek mit dieser gegensätzlichen Empfindung zweier Generationen gegenüber ihrer jüdischen Kultur auseinander: Ein kleiner Junge spaziert an einem Sabbattag mit seinem Vater durch die 24 25 26 27

Weltsch, Robert: Die Jugend des jüdischen Prag. S. 18. Ebd. Ebd. Ebd.

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Judenstadt und ist von den religiösen Traditionen im Bethaus und der feierlichen Atmosphäre fasziniert. Der Text thematisiert die mangelnde Frömmigkeit des Vaters, der aus der Gemeinde ausgetreten ist und als „Freidenker“ keine jüdischen Feiertage mehr begeht. Der Sohn hingegen ist von dieser Welt bewegt und fühlt sich ihr so verbunden, dass er den Vater schließlich unter Tränen bittet, ihn zu segnen. Auch in Auguste Hauschners Die Familie Lowositz wird auf traditionelle jüdische Bräuche und in diesem Zusammenhang auf die Identifikation mit dem Judentum eingegangen. Es fällt auf, dass in diesen wenigen literarischen Darstellungen jüdischer Kultur immer wieder darauf hingewiesen wird, dass sich vor allem die ältere Generation in der Gesellschaft assimiliert hat und selbst keinen großen Wert auf die Ausübung der jüdischen Traditionen legt. In Die Familie Lowositz gibt es eine sehr ausführliche Schilderung des Passahfestes. Im Roman wird beschrieben, wie die fünfundsiebzigjährige Großmutter Rosa Lowositz mit zittrigen Händen den Tisch für das große Familienfestmahl des Sederabends deckt: In die Mitte setzte sie die Sederschüssel mit drei Mazzoth, die, durch ein Tuch getrennt, dem Andenken der drei Stämme Levi, Cohen und Israel galten. Auf den ungesäuerten Broten lag grüne Petersilie, die, in ein Gefäß mit Salzwasser getaucht, bei Beginn der Feier vom Vorbeter gegessen wurde. Das Moror, das Bitterkraut, war das Symbol der Bitternisse, die die Juden in Ägypten zu erleiden hatten. Ein Gemisch von Mandeln und gehackten Äpfeln, das Chorosset genannt, versinnbildlichte den Lehm, den die Gefangenen im fremden Land zu Ziegeln kneten mußten. An Stelle eines Dankopfers, von den Befreiten ihrem Gotte dargebracht, trat ein gebratenes Ei und die Seroa, ein auf Kohlen gebratener Knochen, an dem sich noch ein Stückchen Fleisch befand. Nun fehlte nichts mehr als der Wein und die Gläser, die im Laufe des Abends viermal gefüllt und ausgetrunken werden mußten. In Erinnerung an die vier im Buche Mosis gebrauchten Hinweise auf die einstige Befreiung. [FL, S. 59 f.] Trotzdem der Vater der Familie, Eduard Lowositz, „kein streng gläubiger Jude“ ist, ist ihm viel daran gelegen, „sich an hohen Feiertagen mit Jehova gut

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zu stellen und sich durch Befolgung der Gebete seine Gunst zu sichern.“ [FL, S. 63] Sein Sohn Rudolf wirft ihm diesbezüglich Unaufrichtigkeit vor. Das Passahfest steht symbolisch für Flucht und Freiheit und im gemeinsamen Gebet der Familie Lowositz wird auch auf die Auserwähltheit des jüdischen Volkes hingewiesen und den Stolz, der die Anhänger:innen der kleinsten und zugleich ältesten Weltreligion erfüllen sollte: Alle diese Menschen, die im Leben und im Denken auseinanderstrebten, waren in diesem Augenblick geeinigt. In ihrem Blut verstärkte sich die Zusammengehörigkeitsempfindung, die ihre Väter aus dem Morgenland gebracht und auf dem Ghettoboden sorgsam großgezogen hatten. Sie priesen Gott, der ihre Vorfahren beschützt, der sie aus der Gefangenschaft erlöst und ihre Feinde schwer geschlagen hatte. Sie bejubelten ihre einstige Befreiung und richteten zugleich die Scheidewände, die für sie selbst in Wirklichkeit gefallen waren, aufs neue um sich auf. Stolz trennten sie sich von den Andersgläubigen, sie, das auserwählte Volk. [FL, S. 64] Die Familie Lowositz indessen identifiziert sich vielmehr mit dem deutschen Kulturgut, insbesondere mit den Werken Goethes und Schillers und hebt vor allem letzteren als „Apostel der Freiheit“ [FL, S. 128] hervor: Gerade in Böhmen müsse man um das kämpfen, „was er so hoch gehalten hat, das deutsche Volk und die deutsche Freiheit.“ [FL, S. 127] Und auch am Ende des Romans entschließt sich Rudolf Lowositz, sein Glück im Deutschen Reich zu suchen, da er in Prag das Gefühl hat, seine Identität nicht frei entfalten zu können und sich stattdessen ständig mit den kleinkarierten Kämpfen der engstirnigen Prager Bevölkerung konfrontiert sieht. [FL, S. 326] Es wird also deutlich, dass die Identifikation mit der jüdischen Kultur in Prager deutsch-jüdischen Familien kaum von dem Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Kultur abzutrennen ist bzw. die Zugehörigkeit zur deutschen Kultur mitunter über der zur jüdischen steht. Ebenso wie in Hans Natoneks Ghetto und Franz Kafkas Brief an den Vater wird auch in Die Familie Lowositz die Auseinandersetzung zwischen Söhnen und ihren Vätern hinsichtlich der mangelhaften Ausübung des jüdischen

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1 Das „jüdische Prag“: Fremdheit versus Vertrautheit

Glaubens bzw. der jüdischen Traditionen thematisiert. Während dieser für die Väter-Generation entweder keine bedeutende Rolle spielt oder es ihnen wichtiger ist, in der Gesellschaft assimiliert zu leben, ist dies offenbar für die jüngere jüdische Generation, die um die Jahrhundertwende in Prag aufgewachsen ist, wenig nachvollziehbar. Angesichts der damaligen nationalen Auseinandersetzungen müssen sie sich mit der Frage nach ihrer eigenen nationalen oder kulturellen Identifikation möglicherweise stärker auseinandersetzen, als die Generation ihrer Väter. Wie kam es nun dazu, dass die junge jüdische Generation sich derart intensiv mit ihrer jüdischen Identität auseinandersetzte und mitunter dem Zionismus zuwandte? Auch in neueren Untersuchungen zum Judentum in Prag am Beginn des 20. Jahrhunderts wird immer wieder auf die kulturelle Enklave hingewiesen, in der sich die jüdischen Intellektuellen angeblich befunden hätten.28 Während die Elterngeneration noch fest in der deutschen Hochkultur verankert war, habe sich die nachfolgende Generation mit dem Rückgang der deutschen Hegemonie und der aufstrebenden tschechischen Kultur in Prag zunehmend „wie auf einer einsamen Insel gefühlt, ohne kulturelle Bindung an die Vergangenheit und ohne Aussicht auf einen eigenen Ort in der Zukunft“29: Um dieser geistig-kulturellen Isolierung zu entkommen, hätten jüdische Intellektuelle folglich eine rege Tätigkeit entfaltet. […] Diese kulturellen Unternehmungen seien von dem Wunsch geprägt gewesen, ein eigenes geistiges Territorium zwischen der tschechischen und der deutschen Kultur abzustecken, in dem diese Gruppe Zuflucht vor der Realität des modernen Nationalismus zu finden hoffte.30 Diese Annahme einer geistig-kulturellen Isolierung suggeriert eine Aus- und Abgrenzung der deutschen von der tschechischen Kultur, die derart de facto 28 29

30

Vgl. z. B. Spector, Scott: Prague Territorries. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka's Fin de Siècle. Berkeley; Los Angeles; London 2000. Unter anderem S. 36-67. Zitiert nach: Shumsky, Dimitry: Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900-1930. S. 76. Shumsky bezieht sich in dieser Ausführung auf Scott Spectors Prague Territorries. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka's Fin de Siècle (2000), besonders auf S. 17-20 und 234-240. Spector untersucht in seiner Arbeit die nationale, ideologische und ästhetische Identitätsproblematik in Prag um 1900. Zitiert nach: Shumsky, Dimitry: Zweisprachigkeit und binationale Idee. S. 76.

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nicht gegeben war. Eine sehr ausführliche und differenzierte Untersuchung legt Dimitry Shumsky mit Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900-1930 (2013) vor. Er kritisiert den allgemeinen Konsens in der Forschung, dass die Prager Zionisten Juden gewesen seien, die an dem Versuch, „sich an die deutsche oder die tschechische Kultur zu assimilieren (oder weniger despektierlich: zu akkulturieren) gescheitert seien, und die darauf versucht hätten, sich als ‚dritte Nationalität‘ zu konstituieren, um so Eingang in die böhmische Gesellschaft zu finden.“ 31 Diese Annahme geht einher mit der nationalistischen Propaganda und dem allgemeinen Empfinden, „dass in der böhmischen Hauptstadt unüberwindbare nationalistische Gegensätze herrschten“32. Unbestreitbar fühlte sich die deutsche Minorität im beginnenden 20. Jahrhundert in Prag nicht mehr heimatlich verbunden, jedoch weist Shumsky darauf hin, dass viele jüdische Familien (beispielsweise auch die von Franz Kafka) durchaus mit der tschechischen Sprache und Kultur vertraut waren. Dementsprechend hätten sie sich nicht nur im deutschen Milieu bewegt, sondern pflegten ebenso tagtägliche Kontakte in der tschechischen Umgebung: „Für sie gingen deutsche Bildung und intellektuelles Wirken in deutscher Sprache durchaus mit einer inneren Beziehung zur heimatlichen [tschechischen] Landschaft ihrer Vorfahren einher.“33 Max Brod beispielsweise legte großen Wert auf seine Verbundenheit mit der tschechischen Kultur. Dementsprechend wehrte er sich auch gegen die Interpretation eines unnatürlich isolierten Daseins der Prager Deutschen. In seinem Prager Kreis betont er auch die enge Vertrautheit zwischen der tschechischen mit der deutschen Kulturlandschaft: Mit den Tschechen hielten wir gute Nachbarschaft und die tschechischen Dichter liebten wir; da gab es überhaupt nichts, was wie Grenze oder Absonderung abgesperrt hätte. Wir alle beherrschten die tschechische Sprache vollständig, die uns nicht weniger als die deutsche sagte.34

31 32 33 34

Shumsky, Dimitry: Zweisprachigkeit und binationale Idee. S. 77. Ebd. S. 82. Ebd. Vgl. beispielsweise Brod, Max: Der Prager Kreis. S. 180.

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1 Das „jüdische Prag“: Fremdheit versus Vertrautheit

Shumsky widerlegt anhand biographischer Zeugnisse jüdischer Intellektueller (beispielsweise von Max Brod und Robert Weltsch) die allgemeine Annahme, dass deren soziokulturelle Situation vor ihrer Hinwendung zum Zionismus „die einer monokulturellen Assimilation oder Akkulturation war“. 35 Vielmehr vermutet er gerade in der Multikulturalität, in der sich die jüdische Bevölkerung im Prager Stadtraum bewegte, einen kausalen Zusammenhang zu deren Offenheit und Verständigungsbereitschaft: „Gerade weil die Juden in Böhmen und Mähren sich als historisch, gesellschaftlich und kulturell integriert empfanden, waren sie willens und imstande, eine Mittlerfunktion zu übernehmen.“36 Shumsky mutmaßt, dass sich der „Prager tschecho-deutsche Zionismus“ als Versuch entwickelte, um „den existentiellen Bedürfnissen jener zweisprachigen Juden entgegenzukommen, die weiterhin deutsche und tschechische soziokulturelle Beziehungen unterhalten wollten, ohne den Kontakt zu einer der beiden Seiten abzubrechen.“37 Prag wird dementsprechend am Beginn des 20. Jahrhunderts als jüdisch-kultureller Ort gewissermaßen wiederbelebt. Insbesondere in der Prag-Literatur wird das „jüdische Prag“ in diesen Jahren, aber auch über das gesamte Jahrhundert hinweg, immer wieder unter verschiedenen Aspekten aufgegriffen. Die Darstellung der einzelnen Aspekte eines „jüdischen Prags“ lässt sich in verschiedene Elemente unterteilen, die ihrerseits wiederum bestimmte Funktionen erfüllen. Schauplätze sind dabei vorwiegend die traditionellen jüdischen Orte der Stadt: die Alte Prager Judenstadt bzw. das ehemalige Judenghetto und der Alte Prager Judenfriedhof. Von diesen Orten geht eine besondere, geheimnisvolle Faszination aus: Das unheimliche Gassengewirr mit seinen zwielichtigen Ghettobewohner:innen sowie der heilige, uralte Friedhof inspirierten bereits im 19. Jahrhundert einige Prag-Besucher, an diesen Orten ihre Geschichten zu lokalisieren. 38 Später bemächtigen sich vor allem die Prager deutschsprachigen Autor:innen der Judenstadt, die für sie eine geistige Heimat und Inspiration darstellte, wie bereits weiter oben ausführlich erläutert wurde. Entgegen der in der Forschung herr35 36 37 38

Shumsky, Dimitry: Zweisprachigkeit und binationale Idee. S. 89. Ebd. S. 90. Ebd. S. 97. So zum Beispiel in Wilhelm Raabe Novelle Holunderblüte (1862/ 63) oder in Francis Marion Crawfords The witch of Prague. A fantastic tale (1891).

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schenden Annahme, die Prager deutsche Literatur sei eine jüdische Literatur gewesen, haben auch die jüdisch-deutschen Autor:innen mit wenigen Ausnahmen die Judenstadt kaum als Ort jüdischen Glaubens oder unter dem Aspekt ihrer jüdischen Heimat inszeniert. Obwohl die Häufigkeit der Bearbeitung jüdischer Stoffe, Themen und Mythen sowie die Darstellung jüdischer Figuren in der Prager deutschsprachigen Literatur sehr populär waren, wird der Topos Judenstadt nicht als Ort jüdischer Kultur inszeniert, sondern vielmehr als labyrinthisches, geheimnisvolles, düsteres und dreckiges Viertel des Elends. Es ist ein Ort zwielichtiger Gestalten, der Verruchtheit, Unzucht und Genusssucht, die sich in muffigen Kneipen und Spelunken abspielt und an dem sich mitunter zahlreiche Geschehnisse und Begegnungen ereignen. Interessant ist hierbei, dass sich dieser Topos zu einem Zeitpunkt in der Literatur etabliert, an dem er als solcher nicht mehr existent war: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Josefstadt bereits größtenteils neu saniert – lediglich die Synagogen, das jüdische Rathaus und der Alte Judenfriedhof verblieben als tatsächliche Artefakte jüdischer Kultur. Der jüdische genius loci und die Legendengeschichte des Prager Judenghettos sind demnach für die Schriftsteller:innen, die diesen Ort in der Literatur wiederbeleben, eine stärkere und ergiebigere Inspirationsquelle, als das tatsächlich gegenwärtige Erscheinungsbild der Stadt. Es wird deutlich, dass sich auch die Popularität des Topos Judenstadt als Teil des Prag-Mythos auf eine rückwärtsgewandte Auseinandersetzung und Beschäftigung mit der jüdischen Identität zurückführen lässt. In den folgenden Kapiteln werden die einzelnen Topoi des „jüdischen Prag“ und deren Funktion anhand exemplarischer Textbeispiele eingehend untersucht.

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1 Das „jüdische Prag“: Fremdheit versus Vertrautheit

1.1 Das Alte Prager Judenghetto In der Prager ‚Josefstadt‘ hausten bedauernswerte Unglückliche, die um einen Bettellohn die schwersten und ärgsten Arbeiten verrichten mußten; gleichzeitig aber wurde das ehemalige Ghetto auch zum gelobten Lande der Landstreicher und Faulenzer, die ganze Tage im Müßiggang zubrachten und erst abends auf Jagd nach Beute zogen, um deren Ertrag in einer einzigen Nacht in wüsten Orgien der verrufensten Tavernen durchzubringen. Ob man sich nun aus Pflicht, ob aus bloßer Neugier hieher verirrte, der Atem stockte beim Anblick des hiesigen Lebens, desgleichen im ganzen übrigen Prag nicht zu schauen war. Das ganze Exterieur der Gassen, der Häuser und der Bewohner des fünften Bezirks wies deutlich darauf hin, daß man in eine andere, fremde Welt hineingeraten war. In diesem gedrängten Stadtviertel verloren die in allen übrigen Stadtteilen beobachteten Gesetze und Verordnungen ihre Rechtsgültigkeit, hier hatte sogar das private und das gesellschaftliche Leben seine eigenen Regeln.39 [Ignát Herrmann]

Das Alte Prager Judenghetto, auch Judenstadt genannt, 40 erfährt in seiner Darstellung in der Prag-Literatur eine besonders starke Mystifizierung: Als Topos werden dem Ghetto unheimliche Magie und Okkultismus sowie Verruchtheit und Gaunerei zugeschrieben. Der Bohemist Georg Escher untersuchte in seinem Artikel Die Prager Judenstadt als Topos (2007) eingehend. Auch seiner Einschätzung zufolge hat die Literatur einen entscheidenden Anteil an der Formung und Tradierung des Gedächtnisortes Josefstadt, der als Topos durch „mehrfache und mehrfach gebrochene symbolische Kodierungen“41 sinnbildlich aufgeladen wird. Die Besonderheit des Ortes liegt darin, dass „das ehemalige Ghetto in der Assoziation traditioneller jüdischer Kultur, unheimlicher Sagengestalten und der städtischen Unterwelt als Schattenseite der modernen Metropole in mehrerer Hinsicht als prototypischer Ort des Anderen und Ausgegrenzten kodiert“42 ist. Das Ghetto funktioniert laut Escher als Modell der Ausgrenzung, „die zur Herstellung kollektiver Identität 39 40 41 42

Ignát Herrmann: Das Prager Ghetto. Unter Mitwirkung von Ignát Herrmann, Josef Teige und Zikmund Winter. Prag 1903. Zitiert nach Frynta, Emanuel: Franz Kafka lebte in Prag. Praha 1960. S. 56 ff., hier S. 56. Der eigentliche Name dieses Teils der Altstadt ist Josefov bzw. Josefstadt, benannt nach Kaiser Joseph II., der sich für eine Integration und die so genannte Assimilierung der jüdischen Bevölkerung einsetzte. Escher, Georg: Ghetto und Großstadt. Die Prager Judenstadt als Topos. In: Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich. Hrsg.: Jaworski Rudolf; Stachel Peter. Berlin 2007. S. 353-373, hier S. 356. Escher, Georg: Ghetto und Großstadt. S. 353.

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benötigt wird, als vormoderner Ort traditioneller jüdischer Kultur“ 43. Gleichzeitig sei die Judenstadt aber ebenso zu verstehen als ein „Brennpunkt eines typisch modernen Urbanisierungsprozesses, begleitet von vielfachen Umbrüchen in der Sozialstruktur und überlagert von konkurrierenden und zunehmend aggressiven Nationalismen“44. Auch Escher weist darauf hin, dass ein Ort gerade dann zu einem Erinnerungsort wird, „zu einem Topos oder Denkbild mit zusätzlichen Sinndimensionen, wenn er die materiellen Qualitäten, die ihn dafür prädestinieren, verliert.“ 45 In der Raumstruktur des Ghettos zeige sich nach Escher „die Verstrickung von Identität und Alterität, die Komplizenschaft von Ausgrenzung und Identitätsbildung, die sich gegenseitig bedingen“46. Betrachtet man hingegen die konkrete Darstellung in den einzelnen Texten genauer, so fällt auf, dass das Ghetto eben nicht als Ort der Ausgrenzung einer bestimmten Kultur oder der nationalen Konflikte der damaligen Zeit beschrieben wird. Vielmehr wird häufig das Zusammenleben der drei Bevölkerungsgruppen thematisiert, indem darauf hingewiesen wird, dass in der Judenstadt sowohl deutsch, tschechisch als auch hebräisch gesprochen wurde, so zum Beispiel in Texten von Willhelm Raabe (Holunderblüte), Guillaume Apollinaire (Le passant de Prague) oder auch bei Gustav Meyrink (Der Golem). Häufig fungiert die Alte Prager Judenstadt als Topos der Fremdheit, als eine „andere, fremde Welt“47. Vorrangig in Texten von Schriftsteller:innen, die selbst nicht gebürtig aus Prag sind, wird sie als geheimnisvoller Ort jüdischen Lebens inszeniert, der den Besuchenden fremd erscheint.48

43 44 45 46 47 48

Ebd. Ebd. Ebd. S. 355. Ebd. S. 361. Ignát Herrmann: Das Prager Ghetto. S. 56. So zum Beispiel in Willhelm Raabes Holunderblüte, Guillaume Apollinaires Le passant de Prague, Alber Camus’ La mort heureuse oder Umberto Ecos Il Cimitero di Praga.

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1 Das „jüdische Prag“: Fremdheit versus Vertrautheit

Abb. 2: Steiner-Prag, Hugo: Das Alte Prager Ghetto: Die Hahnpaßgasse (Illustration aus Gustav Meyrinks Der Golem)

Dabei geht es weniger um die Darstellung jüdischer (religiöser) Traditionen als um eine stereotype Charakterisierung des Juden als Fremden oder als Leidensträger. Weiterhin funktioniert das Ghetto auch als Topos der Entfremdung und als symbolischer Ort des Umbruchs. Zunächst ist es ein Ort der Vertrautheit, die Heimat des Protagonisten, welche mit der Assanierung 49 zerstört wird. Die Figur empfindet schmerzlich den Kontrast zwischen der vertrauten Vergangenheit und der Gegenwart, in der sie sich nicht wiederfindet. Diese Semantisierung steht oft symbolisch für einen Prozess des Selbstverlustes oder der Selbstentfremdung der Figur. 50 Es lässt sich nicht immer eindeu49 50

Vgl. hierzu auch Kapitel Gefühl der Heimatlosigkeit und Rückwendung in das ‚Alte Prag‘. Vgl. hierzu auch den Abschnitt über die Topologie der Entfremdung: Die Stadt als Seelenspiegel.

III Topologie der Erinnerung: Die Stadt als Gedächtnisraum

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tig eine klare Abgrenzung der Funktionen vornehmen – in manchen Texten oszilliert die Judenstadt demzufolge als Topos zwischen Fremdheit und Vertrautheit. So zum Beispiel in Hans Natoneks Erzählung Ghetto, in der die Judenstadt Ort des Entdeckens bzw. Wiederfindens der eigenen, bisher unbekannten Identität ist. Auch Georg Escher schließt auf einen engen Zusammenhang von der sich entwickelnden Großstadt Prag und einer Identitätskrise des Subjekts: „An der Überlagerung der literarischen Motive des traditionellen Ghettos und der unheimlichen Großstadt, lässt sich beobachten, wie eng die Identitätsdiskurse des frühen 20. Jahrhunderts mit modernen Urbanisierungsprozessen verknüpft sind.“51 Im Topos Judenstadt verschmelzen diese ambivalenten Faktoren von Fremdheit und Vertrautheit miteinander, und so trägt das Alte Prager Judenghetto in der Prag-Literatur des 20. Jahrhunderts verschiedene Bedeutungen, die im Folgenden anhand signifikanter Textbeispiele genauer dargelegt werden.

51

Escher, Georg: Ghetto und Großstadt. S. 366 f.

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1 Das „jüdische Prag“: Fremdheit versus Vertrautheit

1.1.1 Topos der Fremdheit: Das „jüdische Volk“ als Stereotyp des Fremden das Volk, welches mir begegnete, war durchgängig häßlich wie die Nacht.52 [Wilhelm Raabe]

In der Funktion der Judenstadt als Topos der Fremdheit steht nicht etwa die Darstellung eines Ortes der fremden, jüdischen Kultur im Vordergrund, sondern vielmehr die Stereotypisierung des „jüdischen Volkes“ als Repräsentant des Fremden. So zum Beispiel in Wilhelm Raabes Holunderblüte. Eine Erinnerung aus dem „Hause des Lebens“ (1862/ 63), ein Text aus dem 19. Jahrhundert, in dessen Entstehungszeitraum die Judenstadt noch als solche existierte. Wilhelm Raabe selbst besuchte Prag im Zuge einer Bildungsreise im Frühling des Jahres 1859. Dort inspirierte den jungen Autor offenbar besonders der Alte Prager Judenfriedhof, woraufhin er diesen zum magischen Schauplatz seiner Novelle Holunderblüte macht. Den Zeitpunkt des Geschehens lokalisiert Raabe in das Jahr 1819 – der Ich-Erzähler Hermann erinnert sich zurück an seine Studienzeit in Prag, als er sich auf der Suche nach dem Judenfriedhof im Ghetto verirrte: Damals war es fast noch schwerer als heute, den berühmten Kirchhof der Juden zu finden, wenn man fremd in der Stadt war. Man tat und tut am besten, nach dem Wege zu fragen und sich führen zu lassen, und so fragte auch ich am Tage nach meiner Ankunft, nachdem ich, vom großen Ring kommend, aus der Geiststraße mich in das namenlose Gewirr von Gassen und Gäßlein verloren hatte, welches um den ‚guten Ort‘ liegt. [Hb, S. 94] Die Prager Judenstadt indessen stellt für den Studenten einen unbekannten Ort dar, der nichts Gutes zu verheißen scheint. Sie steht im Kontrast zum „guten Ort“, dem Judenfriedhof. Hermann selbst bezeichnet sich als Fremder. Auf der Suche nach einem angenehmen Gesicht, welches er nach dem Weg fragen könnte, gerät er „aus einer Verlegenheit in die andere: das Volk, wel52

Raabe, Wilhelm: Holunderblüte. Eine Erinnerung aus dem „Hause des Lebens“. In: Ders.: Sämtliche Werke (Neunter Band, Erster Teil, 2. Aufl.) Hrsg. von Karl Hoppe. Göttingen 1974. S. 87-119, hier S. 94. Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [Hb] abgekürzt.

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ches mir begegnete, war durchgängig häßlich wie die Nacht. Hätte ich mich an die abschreckendste Physiognomie wenden wollen, so würde ich eher zu einem Resultat gelangt sein.“ [Hb, S. 94] Schließlich fragt er ein „Judenkind“ [Hb, S. 96], welches ihn „kreuz und quer durch die abscheulichsten Winkel, Gassen und Durchgänge“ [Hb, S. 95] führt, wo Hermann „von allen Seiten mehr oder weniger vorteilhafte Handelsanträge“ bezüglich seines „schwarzen altdeutschen Sammetrockes gemacht wurden.“ [Hb, S. 95] Diese Beschreibung der Judenstadt funktioniert über gängige tradierte antisemitische Stereotype, mit denen das „jüdische Volk“ charakterisiert wird. Das älteste Stereotyp ist das des „Juden als Fremden“53, des unbekannten und eigentümlichen Anderen, dem Bosheit und Missgunst unterstellt werden. Dementsprechend werden die Bewohner:innen des Judenviertels paradigmatisch über ihre abschreckende Physiognomie als „druchgängig häßlich wie die Nacht“ beschrieben. In ihrem Tagewerk gehen sie eher verschlagenen Berufen wie dem Trödelhandel oder dem Pfand- und Kreditwesen nach. Auch das Mädchen kommt dem Touristen nur gegen Bezahlung entgegen: „ehe mir Antwort ward, kam eine kleine braune Hand hinter dem Rücken des Kindes hervor, fuhr mir geöffnet mit unverkennbarem Verlangen entgegen, und ich konnte nicht umhin sechs Kreuzer hineinzulegen.“ [Hb, S. 95] Interessant ist weiterhin hinsichtlich der Fremdwahrnehmung die Abgrenzung des Studenten in seiner Eigenwahrnehmung als Deutscher („altdeutscher Sammetrock“), wobei er offenbar keine Schwierigkeiten hat, sich in diesem Viertel in deutscher Sprache zu verständigen. Das „Judenkind“ führt ihn indessen anstatt zu dem gesuchten Friedhof in die Irre und weist ihn an, an einer Pforte zu klopfen. Dort wird ihm unter „Ächzen, Stöhnen und dann ein Schlürfen“ die Pforte von einer „unappetitlichen alten Hexe“ geöffnet, die ihn „auf tschechisch ankreischte“ [Hb, S. 95]. Hermann ist entsetzt:

53

Vgl. Schwarz-Friesel, Monika; Reinharz, Jehuda: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert. Berlin 2013. (Kapitel: Judenfeindliche Stereotype und ihre historische Verankerung, S. 58-105)

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1 Das „jüdische Prag“: Fremdheit versus Vertrautheit

Drei andere ähnliche Zauberschwestern krochen an Krücken langsam herzu und schnarrten mir ebenfalls Unverständliches entgegen. Höchst verblüfft sah ich mich in dem halbdunkeln, weiten, niedern Raume um. Sechs Betten standen darin, und aus zwei derselben richteten sich zwei entsetzliche Gespenster auf und starrten mich an wie die unglückseligen Geschöpfe, welchen Gulliver auf seinen Reisen begegnete, diese Wesen, welche mit einem schwarzen Fleck vor der Stirn geboren werden und nicht sterben können. [Hb, S. 95 f.] Auf seine Frage nach dem Judenfriedhof werfen „die unglückseligen Geschöpfe“ ihn sofort hinaus, und der Student ist froh, „mit gesunden, unausgekratzten Augen davongekommen zu sein“ [Hb, S. 96]: Drinnen erschallte ein höllisches Gezeter: der Schalk, mein Irrlicht, mein allerliebstes Judenkind hatte mich für meine sechs Kreuzer in ein Spital für sechs christliche alte Weiber geführt, statt zu dem ehrwürdigen Israeliten, welcher den Schlüssel zu dem Beth-Chaim in Verwahrsam hat. [Hb, S. 96] Der Hinweis darauf, dass es sich bei diesen abschreckenden Gestalten wiederum um tschechische Christinnen handelt, lässt den Rückschluss zu, dass die Judenstadt durchaus nicht nur von jüdischer Bevölkerung bewohnt wird. Das Gefühl der Fremdheit wird also in Holunderblüte nicht unbedingt ausschließlich über das Stereotyp des Jüdischen transportiert, vielmehr wird das Ghetto als ein Ort beschrieben, an dem der Großteil der Bewohner:innen, unabhängig von ihrer ethnischen Zuordnung, sich durch ein unangenehmes und abschreckendes Aussehen und Verhalten auszeichnet. Der Student beschließt daraufhin „mit germanischer Ausdauer“ allein den Weg zum Judenfriedhof zu finden und gelangt schließlich „durch das schmutzigste Labyrinth, welches die menschliche Phantasie sich vorstellen kann, zu der Pforte, welche in das schauerliche, oft beschriebene Reich des tausendjährigen Staubes führt.“ [Hb, S. 97] Während also die Judenstadt und die Lebensverhältnisse wie auch die Gestalten dieses Viertels als höchst abschreckend beschrieben werden, wird der Judenfriedhof, als „guter Ort“ [Hb, S. 94] der „ehrwürdigen Israeliten“ [Hb, S. 96] bezeichnet. Die Atmosphäre

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des Judenghettos dient in Holunderblüte dazu, einen Kontrast herzustellen zur heiligen altehrwürdigen Ruhestätte, die in diesem Viertel versteckt liegt und nach der sich der Protagonist auf der Suche befindet. Das Ghetto verdeutlicht als Topos die unheimliche Fremdheit, die der deutsche Student zunächst empfindet – der Ich-Erzähler grenzt sich mehrfach in seiner Eigenwahrnehmung als Deutscher ab. Die Judenstadt wird als Labyrinth von dreckigen Gassen, Gängen und Häuserecken beschrieben, in denen es von gruseligen und zwielichtigen Gestalten nur so wimmelt und denen gegenüber der verirrte Besucher Ekel und Entsetzen empfindet. Eine ähnliche Funktion erfüllt die Alte Prager Judenstadt in Gustav Meyrinks Der Golem (1913-15). Darin wird sowohl die Thematik der jüdischen Mythenwelt um den Golem aufgegriffen als auch das Milieu des Prager Judenviertels und dessen Zerstörung anschaulich geschildert. Zu Beginn des Romans beschreibt der Protagonist Athanasius Pernath sein Empfinden gegenüber seinem Lebensraum, indem ihm bewusst wird, dass er „schon seit langer Zeit in dieser Umgebung zu Hause war“ 54: „Und dieses Bild trug das quälend Eintönige an sich, das all jene Eindrücke kennzeichnet, die tagtäglich so und so oft […] unsere Wahrnehmung überschreiten“ [Go, S. 12]. Die dunklen, verwinkelten Gassen des Judenviertels werden zur personifizierten Kulisse schaurigen Geschehens und sind gleichzeitig Seelenspiegel der Hauptfigur Pernath: Mir war, als starrten die Häuser alle mit tückischen Gesichtern voll namenloser Bosheit auf mich herüber – die Tore: aufgerissene schwarze Mäuler, aus denen die Zungen ausgefault waren, Rachen die jeden Augenblick einen gellenden Schrei ausstoßen konnten, so gellend und haßerfüllt, daß es uns bis ins Innerste erschrecken müßte. [Go, S. 42]

54

Meyrink, Gustav: Der Golem. Roman. Mit 25 Illustrationen von Hugo Steiner-Prag. Frankfurt am Main; Berlin 1993. S. 12. Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [Go] abgekürzt.

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1 Das „jüdische Prag“: Fremdheit versus Vertrautheit

Für Gustav Meyrink ist Prag „Die Stadt mit dem heimlichen Herzschlag“ 55 und so erscheint die Häuserfront der Judenstadt als gruselige Fratze. Auch hier wird das alte Ghetto mit der Atmosphäre eines labyrinthischen, geheimnisvollen und dunklen Ortes belegt. Verstärkt wird dies über das Stereotyp der jüdischen Ghettobewohner:innen als zwielichtige Gestalten, die sich dort herumtreiben und in den winkeligen Gassen lauern oder sich in den schmutzigen Schlupfwinkeln verstecken. [Vgl. Go, S. 17] Ich stand plötzlich in einem düsteren Hofe und sah durch einen rötlichen Torbogen gegenüber – jenseits der engen, schmutzigen Straße – einen jüdischen Trödler an einem Gewölbe lehnen, das an den Mauerrändern mit altem Eisengerümpel, zerbrochenen Werkzeugen, verrosteten Steigbügeln und Schlittschuhen und vielerlei anderen abgestorbenen Sachen behangen war. […] Unter den Judengesichtern, die ich Tag für Tag in der Hahnpaßgasse auftauchen sehe, kann ich deutlich verschiedene Stämme unterscheiden, die sich so wenig durch die nahe Verwandtschaft der einzelnen Individuen verwischen lassen, wie sich Öl und Wasser vermengen wird. […] Diese Stämme hegen einen heimlichen Ekel und Abscheu voreinander, der sogar die Schranken der engen Blutsverwandschaft durchbricht – aber sie verstehen ihn geheimzuhalten vor der Außenwelt, wie man ein gefährliches Geheimnis hütet. [Go, S. 12 ff.] Derart wird eine der unheimlichsten Gestalten des Romans mit der Figur des jüdischen Trödlers Aaron Wassertrum etabliert. Dieser wird über das Stereotyp des Juden als Fremder beschrieben, er ist der geheimnisvolle Nachbar, vermeintlich getrieben von Hass und Falschheit, undurchschaubar für den IchErzähler Pernath: Sein starres, gräßliches Gesicht mit den runden Fischaugen und der klaffenden Oberlippe, die von einer Hasenscharte gespalten ist. Wie eine menschliche Spinne kam er mir vor, die die feinsten Berührungen ihres Netzes spürt, so teilnahmslos sie sich auch stellt. Und wovon er nur 55

Vgl. Meyrink, Gustav: Die Stadt mit dem heimlichen Herzschlag (Essay von 1928). In: Ders.: Das Haus zur letzten Latern. Nachgelassenes und Verstreutes. Hrsg. von Eduard Frank. München 1973. S. 157-161.

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leben mag? Was denkt er, und was ist sein Vorhaben? – Ich wußte es nicht. [Go, S. 14] Wassertrum wird als jemand charakterisiert, dessen „Augen durch Mauern zu schauen vermögen“ [Go, S. 35] und um den allerhand Gerüchte im Ghetto kursieren. Pernaths Freund, der Medizinstudent Charousek, behauptet, er sei vermögend und im Besitz eines Drittels der Judenstadt [Go, S. 34]. Charousek plant, das dunkle Geheimnis um Wassertrums Reichtum aufzudecken. Die Tochter des Trödlers Mirjam wiederum spricht milde über ihren Vater: Gewiß, er ist ein Verbrecher. Aber wer in einer solchen Haut steckt und kein Verbrecher wird, muß ein Prophet sein. […] Gegen mich war er immer freundlich und gütig. […] Es ist doch so einfach: er ist ein Besessener – ein Mensch, der sofort mißtrauisch wird, wenn jemand an sein Herz rührt. Er hält sich für noch viel häßlicher, als er in Wirklichkeit ist – wenn das überhaupt möglich sein kann, und darin wurzelt sein ganzes Denken und Handeln. Man sagt, seine Frau hätte ihn gern gehabt, vielleicht war es mehr Mitleid als Liebe, aber immerhin glaubten es sehr viele Leute. Der einzige, der vom Gegenteil tief durchdrungen war, war er. Überall wittert er Verrat und Haß. Nur bei seinem Sohn machte er eine Ausnahme. Ob es daher kam, daß er ihn vom Säuglingsalter hatte heranwachsen sehen […] oder ob es im jüdischen Blute lag: alles was an Liebesfähigkeit in ihm lebte, auf seinem Nachkommen auszugießen – in jener instinktiven Furcht unserer Rasse: wir könnten aussterben und eine Mission nicht erfüllen, die wir vergessen haben, die aber dunkel in uns fort lebt – wer kann das wissen! [Go, S. 176] Wassertrum wird charakterisiert als heuchlerischer Jude, der seinen Reichtum und Einfluss verheimlicht und nur zu seinem Vorteil handelt. Tatsächlich tut er dies allerdings aus einer selbstlosen Liebe heraus, mit der er das Fortleben seiner jüdischen Nachkommenschaft sichern will – Mirjam selbst sagt über ihren Vater: „Seltsame Früchte wachsen auf dem Baume des Judentums.“ [Go, S. 178] In seinem Dasein als Jude wird Wassertrum eine „instinktive Furcht“ bezüglich des Überlebens seiner „Rasse“ [Go, S. 176] zugeschrieben. Angesichts jahrtausendelanger Verfolgungen und Unterdrückung der jüdi-

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schen Bevölkerung und eines erstarkenden Antisemitismus im Zuge der nationalen Emanzipationsprozesses in der Entstehungszeit von Der Golem mutet diese Zuschreibung eines überdurchschnittlichen Überlebensinstinkts indessen ironisierend an. Es bleibt wiederum festzuhalten, dass die Figur des jüdischen Trödlers Aaron Wassertrum, eines paradigmatischen Einwohners der Judenstadt, über eine sehr starke antisemitische Stereotypisierung beschrieben wird. Zu dem stereotypen Bild gehört auch, dass er auf wundersame Weise zu Reichtum gelangt ist und sein Tagewerk mit Heuchlerei und Intrigen betreibt56. Und so wie er selbst den eigenen Reichtum sorgsam geheimhält, um die Grenzen seines Einflusses in Dunkel zu hüllen, so ersann er sich ein Mittel, seinem Sohn Ähnliches zu ermöglichen, ihm aber gleichzeitig die Qual eines scheinbar ärmlichen Lebens zu ersparen: er […] lehrte ihn äußerlich die Lilie auf dem Felde zu heucheln und und innerlich ein Aasgeier sein. [Go, S. 176 f.] Gegen Ende des Romans stellt sich schließlich heraus, dass Wassertrum fälschlicherweise für selbstsüchtig und böse gehalten wurde, statt dessen entpuppt gerade er sich als Wohltäter gegenüber dem misstrauischen Studenten Charousek. Der alte Trödler selbst hat ein unglückliches Herz: „die Selbstsucht der Menschen hat ihn verbittert und tiefes, unheilbares – ach, leider nur zu gerechtfertigtes Mißtrauen in seine Brust gepflanzt.“ [Go, S. 200] Gleichzeitig wird also im Golem das stereotype Bild des hinterhältigen und undurchschaubaren Juden aufgebrochen, wobei die Erklärung für seine Eigenschaften wiederum auf die unsoziale Gesellschaft der Judenstadt zurückgeführt wird. Neben seinen absonderlichen Bewohner:innen wird das Ghetto in Meyrinks Golem durch seine alten und verfallenen Häuser illustriert. Diese führen ein unheimliches Eigenleben, es wird der Eindruck erweckt, dass von der Stadt eine unbestimmte Kraft ausgeht, die insgeheim das Leben der Menschen bestimmt, die in ihr wohnen: 56

Vgl. hierzu auch die charakteristischen Motive des Lebens im Ghetto von Karel Krejčí Praha legend a skutečnosti (S. 121), die ihrerseits auf die Prager Jüdischen Legenden zurückzuführen sind.

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Unangenehmes ging von dem Alten aus – ich wandte meine Aufmerksamkeit von ihm ab und musterte die mißfarbigen Häuser, die da vor meinen Augen wie verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinanderhockten. Wie unheimlich und verkommen sie aussahen! Ohne Überlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem Boden dringt. An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden Überrest eines früheren, langgestreckten Gebäudes, hat man sie angelehnt – vor zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne Rücksicht auf die übrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit zurückspringender Stirn, – ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn. Unter dem trüben Himmel sahen sie aus, als lägen sie im Schlaf, und man spürte nichts von dem tückischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft. In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des Nachts und im frühen Morgengrauen für sie gäbe, wo sie erregt eine lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fährt da ein schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erklären läßt, Geräusche laufen über ihre Dächer und fallen in den Regenrinnen nieder – und wir nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu forschen. [Go, S. 30 f.] Die Häuser der Judenstadt mit ihrem kaum merklichen „Mienenspiel“ werden anthropomorphisiert, und ähnlich wie den Bewohner:innen des Ghettos werden ihnen Hinterhältigkeit, Feindseligkeit und Heimtücke zugeschrieben: Oft träumte mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spukhaften Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daß sie die heimlichen eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fühlens entäußern und es wieder an sich ziehen können – es tagsüber den Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder zurückfordern. Und lasse ich die seltsamen Menschen, die in ihnen wohnen wie Schemen, wie Wesen – nicht von Müttern geboren –, die in ihrem Denken und Tun wie aus Stücken wahllos zusammengefügt scheinen, im Geiste an mir vorüberziehen, so bin ich mehr denn je geneigt zu glauben, daß

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solche Träume in sich dunkle Wahrheiten bergen, die mir im Wachsein nur noch wie Eindrücke von farbigen Märchen in der Seele fortglimmen. [Go, S. 32 f.] Derart erscheint das Ghetto in Der Golem wie ein Geisterkabinett, in dem kein wirkliches Leben stattfindet. Die Menschen selbst sind keine autonomen Wesen, statt dessen scheint alles von einer unbestimmten Macht geleitet, die von der Stadt ausgeht. In dieser spukhaften Atmosphäre erwacht vor dem geistigen Auge Pernaths „heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem künstlichen Menschen, den einst hier im Ghetto ein kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem gedankenlosen, automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches Zahlenwort hinter die Zähne schob.“ [Go, S. 33] Ebenso wie der Golem einzig durch Magie des Rabbi Löw zum Leben erweckt werden kann, so hat die Judenstadt Macht über ihre Bewohner:innen. Die Menschen im Ghetto werden indirekt mit der Sagengestalt verglichen, sie sind gedankenlos und automatisiert, und nur die Stadt bestimmt auf magische Weise das Geschehen in den Gassen und das Leben ihrer Einwohner:innen. Insgesamt lässt sich also das Bild der Judenstadt im Golem folgendermaßen zusammenfassen: Sie funktioniert zunächst als Topos der Fremdheit, welche über eine starke Stereotypisierung der jüdischen Bevölkerung im Viertel transportiert wird. Jedoch wird die unheimliche Befremdlichkeit, mit der die Ghettobewohner:innen charakterisiert werden, zurückgeführt auf eine heimliche, „magische“ Gewalt der Stadt über ihre Einwohner:innen, die durch eine Anthropomorphisierung der Häuser evoziert wird. Trotz aller unheimlichen Dubiositäten stellt die Judenstadt für die Hauptfigur Pernath sein Zuhause dar und ist somit zugleich für ihn ein vertrauter Ort. Mit der Assanierung des Ghettos wird dieser Raum der Vertrautheit zu einem späteren Zeitpunkt im Roman für Pernath jäh aufgebrochen. Nachdem er lange Zeit unschuldig im Gefängnis gesessen hat, kehrt er nach Hause in die Hahnpaßgasse zurück und steht traumatisiert vor einem Trümmerhaufen: Alles war mir so fremd geworden, so unbegreiflich neu: die Häuser, die Straßen, die geschlossenen Läden. [...] Die Droschke hielt vor einem

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Trümmerhaufen. Barrikaden aus Pflastersteinen überall! Rote Laternen brannten darauf. Beim Schein von Fackeln grub und schaufelte ein Heer von Arbeitern. Halden von Schutt und Mauerbrocken versperrten den Weg. Ich kletterte umher, versank bis ans Knie. Das hier, das mußte doch die Hahnpaßgasse sein?! Mühsam orientierte ich mich. Nichts als Ruinen ringsum. Stand denn da nicht das Haus, in dem ich gewohnt hatte? Die Vorderseite war eingerissen. […] Ich drehte mich um: […] kein Stein mehr auf dem anderen. Alles war dem Erdboden gleichgemacht […] - - - alles, alles.“ Über eine Stunde lang watete ich durch Schuttfelder, balancierte über schwankende Bretter und kroch unter Querbalken durch, die die Straße versperrten. Das ganze Judenviertel war eine einzige Steinwüste, als hätte ein Erdbeben die Stadt zerstört. Atemlos vor Aufregung, schmutzbedeckt mit zerrissenen Schuhen fand ich mich endlich aus dem Labyrinth heraus. [Go, S. 258 ff.] Durch die Assanierung wird die Judenstadt für Pernath zu einem fremden Ort. Der ehemals vertraute, wenn auch unheimliche Raum ist nicht mehr existent, und der Protagonist steht als Heimkehrer vor einem Nichts. Auch alle seine Bekannten sind mittlerweile nicht mehr in Prag, spurlos verschwunden oder umgebracht. Schmerzlich wird Pernath bewusst, dass er nun „ganz allein auf der Welt“ [Go, S. 264] ist. Diese plötzliche Leere und Einsamkeit führt im Roman schließlich dazu, dass Pernath, der fortwährend von einer inneren Ungewissheit über seine eigene Identität geplagt wurde, langsam zur Ruhe findet: „Die Zufriedenheit eines Menschen, der nach langer Wanderung heimkehrt und die Türme seiner Vaterstadt von weitem blinken sieht, erfüllte mich auf ganz besondere Weise.“ [Go, S. 266] In der bereits genannten Erzählung Ghetto (1917) von Hans Natonek wird die Judenstadt wiederum als Topos dargestellt, an dem umgekehrt Fremdheit in Vertrautheit übergeht. Auf einem Spaziergang kommt an einem „hohen jüdischen Feiertage“57 ein junger Knabe mit seinem Vater „zum erstenmal in das 57

Natonek, Hans: Ghetto. In: Kleine Bettlektüre für alle, die das Goldene Prag lieben. Ein Loblied auf die ewig junge Stadt an der Moldau. Ausgewählt von Katharina Steiner. Bern; Mün-

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engbrüstige Dunkel des Prager Ghetto“ 58. Der Junge ist fasziniert von der jüdischen Kultur und empfindet beim Anblick der Synagogen und der Betenden eine Mischung aus Vertrautheit und Fremdheit: „Ich begriff von all dem nichts, das alles war so bedrückend fremd“59. Einerseits ist für den Jungen das Ghetto „so sonderbar“60, andererseits geht von dieser Welt eine starke Anziehungskraft aus: „wie ungeheuer diese Welt mir ans Herz griff und wie eine Heimat, nie geschaut und gekannt, mit ahnender Gewalt schmerzlich-süß in meine Seele einzog“.61 Es stellt sich heraus, dass auch der Vater und sein Sohn dem jüdischen Glauben angehören. Jedoch ist der Vater aus der Gemeinde ausgetreten, weil es ihn „nach Licht und Luft und Freiheit verlangte“62 und hat das Ghetto hinter sich gelassen, weil es dort „ungesund ist, dunkel und feucht“. Dass er jedoch noch immer mit seinem Glauben hadert, wird deutlich, als der Junge den Vater mit neugierigen Fragen löchert und plötzlich „in ein von Schluchzen zerrissenes Männergesicht“ 63 blickt. Weinend wirft sich schließlich der Junge vor seinen Vater nieder und lässt sich von ihm mit einem hebräischen Spruch segnen: „Unsere Tränen netzten die stille, dunkle Judengasse.“64 Georg Escher setzt diesen Text in einen Zusammenhang mit dem in Prag aufkommenden Zionismus und dem damit einhergehenden „Konzept einer neuen kollektiven jüdischen Identität“65: „Die Rückkehr zu den verleugneten Wurzeln erscheint vielmehr als Befreiung von den Zwängen des bürgerlichen Gefühlshaushalts, und die Sabbatlichter ermöglichen die heilsame Rückkehr in den Schoß der abgelegten Tradition.“ 66 Dadurch wird das Judenghetto in Natoneks Text tatsächlich zu einem Topos der Erinnerung an die jüdische Kultur und veranschaulicht die schmerzliche Rückkehr in eine negierte Ver58 59 60 61 62 63 64 65 66

chen; Wien 1997. S. 38-34, hier S. 39. Natonek, Hans: Ghetto. S. 39. Ebd. S. 40. Ebd. Ebd. S. 40 f. Ebd. S. 41. Ebd. S. 42. Ebd. S. 43 Escher, Georg: Ghetto und Großstadt. S. 365 Ebd. S. 365

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gangenheit. „Die Problematik jüdischer Assimilation wird im Raum metaphorisiert“ und die Judenstadt so zu einem Ort „einer neu entworfenen jüdischen Identität“67 stilisiert. Escher interpretiert in diesem Zusammenhang den städtischen Raum der Judenstadt als „identitätsstiftendes Territorium eines nationalen Kollektivs“68 und sieht dabei die „Literatur als repräsentative Kulturproduktion“69 in einem engem Zusammenhang mit einer nationalen Identitätspolitik. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die Erzählung Ghetto mit dieser Funktion der Darstellung eine Ausnahme darstellt. Im Vergleich zu Holunderblüte und Der Golem fällt auf, dass in diesen Texten das Gefühl der Fremdheit nicht etwa über die Faszination der jüdischen Kultur hervorgerufen wird, sondern vielmehr über eine antisemitische Stereotypisierung. Es zeichnet sich indessen ab, dass die Judenstadt als literarischer Topos in seiner Funktion nicht ganz eindeutig abzugrenzen ist und bereits die Darstellung im einzelnen Text mehrere Bedeutungen tragen kann. Im folgenden Kapitel werden Texte untersucht, in denen die Judenstadt als Topos der Vertrautheit erscheint. In diesem Zusammenhang spielt weiterhin auch der Aspekt der Identitätsstiftung eine Rolle, jedoch bezieht sich dieser nicht auf eine kollektive jüdische Identität als vielmehr auf den Erinnerungsraum Judenstadt.

67 68 69

Ebd. Ebd. S. 368 Ebd. S. 368 f.

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1.1.2 Topos der Vertrautheit: Die „Judenstadt“ als Ort der nächtlichen Vergnügens Es war der gewöhnliche Verlauf solcher Bummelabende. Singspiel, dann Gasthaus, dann Kaffeehaus. Als sie um zwei Uhr aus dem Café Continental gingen, kam die Abenteuerlust über sie. […] Groß schlug vor, einer der kleinen Beisel der Judenstadt zu besuchen und unter Dirnen, Soldaten und betrunkenen Nachtschwärmern bis zum Morgen zu bleiben. 70 [Karl Hans Strobl]

Neben der Darstellung als einem unheimlichen Ort der Fremdheit wird die Alte Prager Judenstadt häufig auch zu einem Topos der nächtlichen Freuden, des Vergnügens und der Genüsse. Die Kneipen und Spelunken der Prager Judenstadt werden zu einer lasterhaften Unterwelt, in der sich eine Lebendigkeit und ein fröhliches Treiben sondergleichen abspielt. Hier wird getrunken, gegessen, gefeiert, getanzt und geliebt – der Genusssucht scheinen keine Grenzen gesetzt. Während in den Texten, in denen das Ghetto als Topos der Fremdheit fungiert, die verwinkelten Gassen und düsteren Häuserruinen als literarische Schauplätze im Vordergrund stehen, spielen sich die Szenerien der nächtlichen Freuden vorwiegend im Inneren ab, in verrauchten und verruchten Wirts-, Kaffee- und Freudenhäusern. Hier treffen alle Bevölkerungsschichten aufeinander, die Judenstadt ist im „Inneren“ nicht nur ein Raum für zwielichtige Gestalten, sondern auch für die Lebensfreuden der Prager Bohème. So wird sie beispielsweise in Le passant de Prague (1902) von Guillaume Apollinaire als Ort der nächtlichen Liebesvergnügen beschrieben: Im Schein der Straßenlaternen strichen Frauen an uns vorbei, die uns im vorübergehen einladende tschechische Worte zuflüsterten. Laquedem führte mich zur Judenstadt, indem er sagt: ‚Sehen Sie; in der Nacht ist jedes Haus in ein Bordell verwandelt!‘ Es stimmte. An jeder Tür hielt sich eine Frau auf, stehend oder sitzend, den Kopf mit einem Schal verhüllt, eine nächtliche Liebeswerbung flüsternd. […]

70

Strobl, Karl Hans: Die Vaclavbude. Eine Prager Studentengeschichte. Karlsbad, Leipzig 1941. S. 83 f.

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In einem Haus in der Nähe, mit Frauen in Schlafmänteln, deutschen, ungarischen, böhmischen, tranken wir Ungarwein. Das Fest wurde ausschweifend, aber ich beteiligte mich nicht daran.71 Apollinaire beschreibt die Judenstadt nicht als Ghetto sondern als Ort des Vergnügens und der Hemmungslosigkeit. Während der Ich-Erzähler als stiller, melancholischer Beobachter ein Fremder bleibt, gibt sich der „ewig wandernde Jude“ den Freuden des Lebens hin: „Laquedem holte sich eine üppige Ungarin. Bald entblößt zog er das Mädchen fort“ 72. So wird auch in diesem Text das Gefühl der Fremdheit evoziert, allerdings bezieht sich dieses nicht auf den konkreten Topos der Judenstadt, sondern spiegelt vielmehr den Kontrast zwischen den beiden Figuren wider. Der ewig wandernde Jude steht in Le passant de Prague archetypisch für einen Vertreter der gepeinigten und vermeintlich unglücklich „umherirrende[n] Rasse“73. Doch im Gegensatz zum befangenen Ich-Erzähler genießt der Ewige Jude ungehemmt und unbeschwert sein Leben, wofür der Schauplatz der Prager Judenstadt paradigmatisch steht.74 Besonders explizit thematisiert der Prager Deutsche Paul Leppin in seinem Werk das Alte Prager Ghetto, das er als „Troubadour des alten Prag“75 regelrecht besingt. Leppin gilt als der „ungekrönte König der Prager Bohème“ 76, für Max Brod ist er „der eigentlich erwählte Sänger des schmerzlich verlöschenden Alt-Prag, der verrufenen Gässchen, der durchzechten Nächte, der Vagabunden und der vergeblichen Gläubigkeit vor prunkvoll-barocken Heiligenfiguren“77. In all seinen Werken huldigt Leppin seiner Heimatstadt, und so 71 72 73 74

75 76 77

Apollinaire, Guillaume: Der Wanderer von Prag. In: Einladung nach Prag. Hrsg. von Traugott Krischke. Übersetzung von Walther Widmer und Paul Noack. München 1966. S. 307317, hier S. 315. Apollinaire, Guillaume: Der Wanderer von Prag. S. 315. Ebd. S. 312. Eine ausführlichere Analyse von Guillaumes Apollinaires Le passant de Prague, ein Text, der insbesondere für die Prag-Literatur im beginnenden 20. Jahrhundert und vor allem für die tschechische Avantgarde wegweisend war, erfolgt im Abschnitt Topologie der Entfremdung im Kapitel Der ewig wandernde Jude als ewiger Flaneur. Otto Pick: Preisungen. Gedichte. S. 12. Leppin, Paul: Selbstbiographie des Autors (1937) In: Ders.: Prager Rhapsodien. S. 100. Zitiert nach Dirk O. Hoffmannm, Nachwort in: Leppin, Paul: Alt-Prager Spaziergänge.

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schreibt er in seiner Selbstbiographie des Autors (1937): „Mein tiefstes Erlebnis ist Prag geblieben. Sein Zwiespalt, sein Geheimnis, seine rattenfängerische Schönheit haben meinen dichterischen Versuchen immer Antrieb und Inhalt gegeben.“78 In einem Band mit dem Titel Alt-Prager Spaziergänge versammelt der Herausgeber Dirk O. Hoffmann verschiedene Gedichte und Prosa-Texte Leppins, in denen dieser das Prag der Jahrhundertwende liebevoll illustriert. In einigen Texten kommt ein starkes Verlustgefühl in Hinblick auf das Alte Prag zum Tragen. Häufig wird der Kontrast zwischen damals und heute beschreiben, wobei sich das „damals“ auf die Zeit bezieht, als es die Prager Judenstadt noch gab. Die Assanierung wird gleichgesetzt mit dem Beginn der Verwandlung von Prag in eine moderne Großstadt. Mit dem neu entstehenden Stadtviertel verliert Prag ein Stück seiner jahrhundertealten Seele und seiner unbeschreiblichen Magie: Wo ist deine Judenstadt geblieben, diese aus Blut und Andacht geschweißte Ballade, wo die Mondschatten in dem alten Gemäuer jagten, wo unbegreifliche Torbogen, blinde Höfe einen haltlosen Schrecken aus der Seele hetzten? Langweilige Kasernen stehen auf deinem Boden und nur der Mißmut gespenstert in deinen Bezirken. Prag, du mit dem Janusgesicht, das aus der Rumpelkammer der Geschichte seltsame Geräusche, zitternde Ahnungen hervorzuholen vermag, das uns mit funkler Schönheit überwältigt und plötzlich in dem Habitus eines Provinzlers erscheint, der ein Späßchen mag und einen Trunk nicht verachtet – wir, die wir hier geboren sind, wir lieben dich mit allen Kräften. Wir lieben dein tragisches Halblicht, deine Größe, deine Biederkeit, deinen Haß und deinen Humor. Was wird aus dir werden? Wird dich die Not, die Ehrsucht der Zeit so völlig zwischen ihrem Gleichmaß zermahlen, daß nichts übrig bleibt von deinen köstlichen Beständen? Wird über dein wandlungsfähiges Antlitz, wo freundliche mit schwermütigen, derbe mit ehrfürchtigen Lichtern wechseln, endgültig die Maske der uniformen Modernität gestülpt, die dich aus dem Bereiche holder Sagenstädte in die Überzahl gleichgültiger Ansiedlungen hinausweist? Wird nichts von dir bleiben, als ein paar verlorene 78

S. 103. Leppin, Paul: Selbstbiographie des Autors. S. 182.

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Schlupfwinkel, ein paar Türme, eine Brücke, ein Lied oder eine Chronik aus entschwundenen Tagen? Das neue Prag, das den Glanz des Tages erstrebt und bereiten will, mag groß und tüchtig sein, blendend und voll lebendiger Zukunft, aber es hat keine Wunder.79 Leppin empfindet den Wandel, den Prag vollzieht, und das damit einhergehende Verschwinden der Judenstadt als Verlust. Auch in der Erzählung Bergpredikt in der Schänke (1929) bedauert der Ich-Erzähler die rapide fortschreitende Modernisierung der Stadt, die keinen „Platz mehr für ein bißchen Geheimnis“80 lässt: „Das ist es, was die Welt heute glücklos macht, trübselig finster trotz Lichtverschwendung und greller Reklame. Man hat vergessen, daß der Mensch ein Asyl braucht, Muße sich zu besinnen.“ 81 Ganz eindeutig fehlen dem Menschen in der modernen Welt solche Momente der Ruhe, der Besinnung und des Glücklichseins: Nun ist keine Zeit mehr, „sein Tagewerk zu betrachten, mitsammen zu sprechen, einander ins Herz zu sehen.“ 82 Und es gibt dafür auch keinen Raum mehr – mit dem Alten Prag sind auch die Orte verschwunden, an denen nach getaner Arbeit alle möglichen Bevölkerungsschichten gemeinsam den Feierabend begingen: Das alte Prag, wenn Nacht es verzauberte, war das Paradies der Kumpane. Das Gemurmel und Schäkern, heilfrohes Dusagen fast ohne Ende. Der Polizeisoldat und Schnepfen, Studenten und Sonderlinge, der Würstelmann unterm Kandelaber, waren wie Brüder und Schwestern.83 Die Judenstadt war ein Ort des Lebens und der Lebensfreuden: „Freudenhäuser gab es in Prag beinahe hundert. In allen Winkeln blinkerten ihre Lichter, wo es düster und einsam wurde, Armut sich duckte, Finsternis in die Nischen einbrach.“84 Ungeachtet allen Elends ist dieses Stadtviertel für Paul Leppin ein Ort der Geborgenheit, der Gleichberechtigung und der Menschlichkeit. Er empfindet die Judenstadt nicht als schmutzig und böse, vielmehr repräsentiert 79 80 81 82 83 84

Leppin, Paul: Alt-Prager Erinnerungen. In: Ders.: Alt-Prager Spaziergänge. S. 14 f. Leppin, Paul: Bergpredikt in der Schänke. In: Ders.: Alt-Prager Spaziergänge. S. 19-23, hier S. 19. Leppin, Paul: Bergpredikt in der Schänke. S. 19. Ebd. Ebd. S. 19 f. Ebd. S. 20.

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sie Freundschaft und Güte. Sie spendet Geborgenheit, die Menschen dort sind authentisch und gehen liebevoll miteinander um. Im Kontrast zu dieser Gesellschaft steht die gegenwärtige Zeit, in der bereits andere Werte gelten: „Unsere Zeit ist von Schlagworten voll, die prahlerisch im Tageslicht stehen, Beifall und Teilnahme heischen. Da gibt es Weltbürgerschaft und soziales Ethos, Kommunisten und Rechtsradikale und so weiter.“85 Aber nichts ist vergleichbar mit dem Alten Prag der Judenstadt, „das hinter verschrobenen Giebeln ein Flämmlein hütete, das aus Tagen der Gottsucher und Wundermänner ererbt war, das süß rubinrot brannte, wenn Kostbares sich ereignete, wenn einer den anderen vom Übel erlöste“86 Die Judenstadt wird von Leppin nicht als unheimlicher Ort beschrieben – ganz im Gegenteil werden ihr alle Attribute zuteil, die der Mensch sich von seinem Zuhause wünschen würde: Geborgenheit, Freundschaft, Verständnis, Güte und Wärme. Wiederum wird das Verschwinden der Judenstadt mit der Assanierung als schmerzlicher Heimatverlust empfunden, wie Leppin weiter in der Erzählung Das Gespenst der Judenstadt (1914) beschreibt. In der Mitte von Prag, wo sich jetzt hohe und luftige Zinshäuser zu breiten Straßen aneinanderschließen, stand noch vor zehn Jahren das Judenviertel. Ein schiefes und düsteres Gewinkel, aus dem kein Wetter den Geruch nach Moder und feuchtem Gemäuer wegzublasen vermochte und wo im Sommer den geöffneten Türen ein giftiger Atem entströmte. Der Schmutz und die Armut stanken hier um die Wette und aus den Augen der Kinder, die hier aufwuchsen, blinzelte eine stumpfe und grausame Verderbtheit. Der Weg ging da manchmal in niedrigen und gewölbten Viadukten durch den Bauch eines Hauses hindurch oder er krümmte sich plötzlich zur Seite und fand vor einer blinden Mauer jählings ein Ende. Die Händler, die ihre Trödlerware vor den Geschäften auf dem unebenen Steinpflaster aufstapelten, riefen mit listigen Gesichtern die Vorübergehenden an. In den Haustoren lehnten die Frauenzimmer mit geschminkten Lippen, lachten gemein, zischelten den Männern in die Ohren und hoben die Röcke, um ihre gelben und zeisiggrünen Strümpfe zu zeigen. Greise Kupplerinnen mit weißen Haarsträhnen und lockeren Kiefern grüßten aus den Fenstern, klopften, winkten, 85 86

Ebd. S. 22. Ebd. S. 22 f.

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gurgelten vor Eifer und Befriedigung, wenn einer ins Netz ging und näher kam.87 Die Protagonistin Johanna, eine Prostituierte, kehrt nach wochenlanger Krankheit zurück in das Viertel, welches ihre „Heimat“ war „[d]ie Stadt, in der die verschlafen Lichter der Freudenhäuser blinkerten, wo in den verrufenen Gassen klobige Schatten kauerten und in der Ferne noch eine winselnde Geige oder das harte Geklimper der Spielkästen zur Lustbarkeit lud“ 88. Mit Entsetzen steht sie bei ihrer Rückkehr vor den Trümmern und Ruinen: Sie blieb stehen und sah geblendet in den Mond, der schielend am Himmel klebte und geborstene Balken und Geröll beschien. […] Die bunten Lichter der Freudenhäuser waren verlöscht, und der Staub stieg wie ein Rauch aus den zerbrochenen Dächern. Überall krochen Ruinen aus der Nacht. Während sie im Krankenhause in dem feuchten Bette mit der Seuche kämpfte, hatte man ihre Heimat zerstört --- 89 In das Verschwinden der Judenstadt projiziert Leppin ein Gefühl der Heimatlosigkeit, welches sich typischerweise auch in vielen anderen Prager deutschsprachigen Werken ausmachen lässt. Die Thematik des Verlassens und des Abschiedes erweist sich nicht nur im Leben der Prager deutschsprachigen Literaten als exemplarisch, sondern auch in ihren Werken, wie bereits das Kapitel Dichter:innenschicksal einer Hassliebe: Zur Prager deutschsprachigen Literatur darlegt. Die Assanierung des Alten Prager Judenghettos wurde jedoch nicht nur von der deutschsprachigen Bevölkerung als schmerzlich empfunden. Auch der tschechische Schriftsteller Vilém Mrštík schreibt in seinem bekannten polemischen Manifest Bestia triumphans (1897)90 gegen die geplante Assanierung 87 88 89 90

Leppin, Paul: Das Gespenst der Judenstadt. In: Ders.: Alt-Prager Spaziergänge. S. 43-49, hier S. 43. Leppin, Paul: Das Gespenst der Judenstadt. S. 45. Ebd. S. 48. Der Titel Bestia triumphans bezieht sich auf Friedrich Wilhelm Nietzsches Morgenröthe (Gedanken über die moralischen Vorurtheile, 1881). Mrštík versteht unter diesem philosophischem Begriff den Frieden oder Unfrieden der Ungebildetheit, in welchem die Intelligenz aussetzt und das Laster über das Gewissen triumphiert. (Vgl. Mrštík, Vilém: Bestia triumphans. Prag 1897. S. 3 f.)

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im historischen Stadtzentrum. In diesem Pamphlet wendet er sich gegen den Prager Magistrat und kritisiert den kulturlosen Eingriff an der Stadt Prag und ihrer historischen Schönheit und die Zerstörung von städtebaulichen Denkmälern. A Praha, ta slavná, ta královská, ta historická, ta stověžatá – jak tak rád si humbuk český říká, – ta Praha zlatá, ‚kde není kamene, aby nebyl posvěcen krví našich předků,‘ ale také není kamene, na který by se městská naše rada neopovážila namířiti svou sekeru – ta Praha stále si ještě není vědoma barbarského svého díla – pustoší a vandalisuje dál a není týdne, ba není dne, aby člověk se strachem nebral noviny do ruky, nedočte-li se tam zas, že nový nějaký ‚genius‘ za souhlasu celé rady povstal s novým návrhem a patronu svou vložiti hrozí i do těch míst, která po tolikerých bouřích a reptání považována byla za nedotknutelná: mostecká věž, židovský hřbitov, synagoga, proražení široké ulice ze Staroměstského náměstí k Vltavě, sboření domů na severní straně Starom. náměstí a jich školní jakousi budovou, Vyšehradská skála s tunelem! 91 Die Assanierung der Alten Prager Judenstadt kann dementsprechend als starke Gefährdung des genius loci Prags verstanden werden, der von den Einwohner:innen der Stadt weder erwünscht war noch als fortschrittlich aufgefasst wurde. Mit diesem Topos kommt somit in den Prag-Texten häufig eine rückwärtsgewandte Sehnsucht zum Ausdruck. Besonders in den Werken der Prager deutschsprachigen Literatur wird mit der Darstellung ein Erinnerungsort konstruiert, der metaphorisch für den Verlust einer geistigen Heimat steht. 91

Mrštík, Vilém: Bestia triumphanns. S. 3. Dt.: Und Prag, die ruhmreiche, königliche, historische, die hunderttürmige Prag – wie man so gern Humbug auf tschechisch sagt – das goldene Prag‚ ‚wo es keinen Stein gibt, der nicht mit dem Blut unserer Vorfahren geweiht ist,‘ aber es gibt auch keinen Stein, auf den es unser Stadtrat nicht schon gewagt hätte, seine Axt zu richten – dieses Prag ist sich immer noch nicht der Barbarei seines Werkes bewusst – der Stadtrat ruiniert und vandaliert weiter und es vergeht keine Woche, nicht einmal ein Tag, an dem der Mensch nicht voller Angst die Zeitung in die Hand nehmen würde, ob er dort nicht wieder lesen müsste, dass irgendein neuer ‚Genius‘ mit der Zustimmung des ganzen Rates sich mit einem neuen Vorschlag erhoben hätte und seine Patrone auch in die Orte zu stecken droht, welche nach so vielen Stürmen und Protesten schon für unantastbar gehalten wurden: der Brückenturm, der Jüdische Friedhof, die Synagoge, der Durchschlag der Breiten Gasse vom Altstädter Ring zur Moldau, der Abriss der Häuser auf der nördlichen Seite des Altstädter Ringes und irgendeines seiner Schulgebäude, der Vyschehrader Felsen mit dem Tunnel!

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Betrachtet man den literarischen Topos des Alten Prager Judenghettos also eingehend, so wird deutlich, dass er viel mehr Bedeutungen trägt als die eines paradigmatischen Ortes der Ausgrenzung. Die Reduktion dieses Topos auf die jüdische Kultur ist unzureichend, vielmehr ist er geprägt von einer außergewöhnlichen Ambivalenz zwischen Fremdheit und Vertrautheit, wobei diese sich oft nicht eindeutig voneinander trennen lassen, sondern ineinander übergehen. Das Gefühl der Fremdheit wird einerseits durch die Charakterisierung als einem labyrinthischen, düsteren und gruseligen, engen Gassengewirr und über antisemitische Klischees und Stereotype hervorgerufen. Auf der anderen Seite steht aber auch die Modernisierung von Prag und das damit einhergehende Verschwinden der Judenstadt. Dies erweist sich für die Protagonisten als befremdlich und geht mit einer schwermütigen und rückwärtsgewandten Sehnsucht einher. So ist das Judenghetto sicherlich einerseits ein paradigmatischer Topos der Fremdheit, jedoch verbindet er sich häufig mit einem Heimatgefühl oder einer bedeutsamen Sympathie, die die Protagonistinnen und Protagonisten für dieses Viertel hegen. Teilweise ist letztere auch verbunden mit einem besonderen Ort innerhalb der Judenstadt, der wiederum selbst als gesonderter Topos der Prag-Literatur betrachtet werden muss – dem Alten Prager Judenfriedhof.

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1.2 Der legendäre Alte Jüdische Friedhof in Prag Wenn ich den Alten Jüdischen Friedhof betrat […], war ich zumeist ganz allein. Nur große schwarze Raben flogen laut krächzend von den Bäumen auf die Grabsteine nieder und dann wieder zurück in die dichten Baumkronen. Waren sie auch so uralt? Was hatten sie hier schon gesehen, wen hatten sie schon begleitet? Kennen sie etwa das Geheimnis des an diesem Ort gleichfalls begrabenen Rabbi Löw, der den wandelnden Homunkulus Golem erschaffen haben soll?92 [Lenka Reinerová]

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Alte Prager Judenfriedhof noch keine Touristenattraktion – heute ist er einer der meistbesuchten touristischen Orte in Prag. Der Friedhof sowie einige wenige Synagogen und das jüdische Rathaus sind die letzten Relikte der einstigen Judenstadt und somit die einzig verbliebenen historischen Orte, die an die jüdische Kultur im Stadtviertel Josefov erinnern. Betrachtet man den Alten Judenfriedhof als Topos in der Prag-Literatur, so fällt auf, dass sich dieser Ort topographisch zwar innerhalb der Alten Judenstadt befindet, sich jedoch in seiner Bedeutung deutlich von dem ihn umgebenden Ghetto durch seine besondere, magische Atmosphäre abgrenzt. Häufig wird er als einsamer und gruseliger Ort dargestellt, viele Illustrationen zeigen eine verlassene, verwilderte Ruhestätte, der scheinbar kaum öffentliche Beachtung geschenkt wird. Im Narrativ der Stadt Prag ist dies ein Ort, von dem Geheimnisvolles ausgeht, an dem um Mitternacht im hellen Mondschein die Geister aus ihren Gräbern steigen. 93 Mit seiner literarischen Verarbeitung wurde der Alte Judenfriedhof sogar zum Schauplatz der verhängnisvollsten und am weitesten verbreiteten antisemitischen Verschwörungstheorie, den Protokollen der Weisen von Zion. Oft wird der Friedhof als ein versteckter Ort innerhalb des labyrinthischen Judenghettos eingeführt, so zum Beispiel in Wilhelm Raabes Holunderblüte (1862/ 63). Der Student Hermann befindet sich bei seinem Besuch in Prag auf der Suche nach „dem berühmten Kirchhof der Juden“ [Hb, S. 94]. Es kostet ihn einige Mühe, bis er diesen Ort im schmutzigen Labyrinth der Judenstadt auffindet. 92 93

Reinerová Lenka: Zu Hause in Prag manchmal auch anderswo. Erzählungen. Berlin 2001. S. 16. So zum Beispiel in Die Belelesgasse, einer der Sagen der Prager Juden aus den Sippurim.

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Ich sah die unzähligen aneinandergeschichteten Steintafeln und die uralten Holunder, welche ihre knorrigen Äste drumschlingen und drüberbreiten. Ich wandelte in den engen Gängen und sah die Krüge von Levi, die Hände Aarons und die Trauben Israels. Zum Zeichen meiner Achtung legte ich, wie die andern, ein Steinchen auf das Grab des Hohen Rabbi Jehuda Löw bar Bezalel. Dann saß ich nieder auf einem schwarzen Steine aus dem vierzehnten Jahrhundert, und der Schauer des Ortes kam in vollstem Maße über mich. [Hb, S. 97]

Abb. 3: Hirth du Frênes, Rudolf (*1846-†1916): Der alte Judenkirchhof in Prag

In dieser Umgebung überkommt ihn ein Gefühl der Schwere, der Student, der Zeit seines Lebens „ein toller, wilder Geselle war“ [Hb, S. 97] kommt an diesem legendären Ort des Todes zur Ruhe, und er ahnt, dass er „noch ernst genug werden könne“ [Hb, S. 97]: Seit tausend Jahren hatten sie hier die Toten des Volkes Gottes zusammengedrängt, wie sie die Lebenden eingeschlossen hatten in die engen Mauern des Ghetto. Die Sonne schien wohl, und es war Frühling, und von Zeit zu Zeit bewegte ein frischer Windhauch die Holunderzweige und -blüten, daß sie leise über den Gräbern rauschten und die Luft mit süßem Duft füllten; aber das Atmen wurde mir doch immer

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schwerer, und sie nennen diesen Ort Beth-Chaim, das Haus des Lebens?! [Hb, S. 97] Der Friedhof wird zunächst beschrieben als bedrückender Ort, aus dessen „schwarzen, feuchten, modrigen Boden […] ein Hauch der Verwesung“ steigt, „gespenstisch genug, um allen Sonnenglanz und allen Frühlingshauch und allen Blütenduft zunichte zu machen.“ [Hb, S. 97] Hermann besinnt sich auf die „arggeplagte, mißhandelte, verachtete, angstgeschlagene Generationen lebendiger Wesen“ [Hb, S. 97], die hier begraben liegt. Es wird ein starker Kontrast deutlich, in dem der Judenfriedhof zur Judenstadt steht: Die jüdische Bevölkerung, die der Student zuvor in den Gassen des Ghettos als abstoßend und hässlich empfand, erregt nun mit ihrer langen Geschichte der Verfolgung und antisemitischer Anfeindungen sein Mitleid. In dieser Stimmung erscheint ihm das „neckische Kind“ [Hb, S. 98] wieder, welches ihn zuvor in den Gassen der Judenstadt in die Irre geführt hatte. Zunächst kommt ihm diese erneute Begegnung wie ein Spuk vor – „wer konnte sagen, ob an dieser geisterhaften Stelle nicht andere Regeln der Geisterwelt galten als anderwärts?“ [Hb, S. 98] Anders als zuvor umgarnt ihn nun das Mädchen, „die kleine Hexe aus der Judenstadt, Jemima Löw“ [Hb, S. 100], gewinnt seine Gunst und verzaubert den Studenten regelrecht: „und es war ein mächtiger Zauber und sollte ein böser Zauber werden.“ [Hb, S. 99] Hermann geht häufig zusammen mit dem Pförtner und Jemima auf dem Friedhof spazieren und lässt sich von ihnen über die Geschichte und die Sagen des jüdischen Volkes erzählen, von den Gräbern und den Biographien der Toten, „vieles konnte man lernen unter diesen grauen Steinen, diesen Monumenten, welche so sehr denen gleichen, die im Tal Josaphat zerstreut liegen.“ [Hb, S. 101] Es waren Tage, es waren Stunden, es waren Augenblicke, deren melancholischen Reiz ich in keiner Weise wahr genug zu schildern vermag. O über diesen uralten Totenacker und seine Holunder! Nun war die Luft an diesem Ort nicht mehr unatembar für mich, und keine Gespenster traten mehr in das Sonnenlicht, welches durch die Blätter schoß und über den Gräbern tanzte. Immer vertrauter wurde ich mit den grauen Steinen. [Hb, S. 102]

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Der Friedhof, an dem Hermann zunächst die Melancholie des Todes überkam, wird durch Jemima zu einem lebendigen Ort, an dem er mit dem Mädchen liebliche Sommertage verbringt: Ja, Beth-Chaim! Wohl wurde mir dieser Kirchhof zu einem ‚Haus des Lebens!‘ Wenn mir dieses junge Mädchen die wunderlichen Hieroglyphen der hebräischen Grabtafeln deutete, so beschwor es dadurch ein Leben herauf, von welchem ich bis dahin keinen Begriff gehabt hatte. Weise, tugendhafte, fromme Männer und Frauen, edle Dulder und Dulderinnen, schöne Mädchen und Jünglinge erwachten aus einem Schlummer, der Jahrhunderte hindurch gewährt hatte, und ihre Schatten gewannen lebendigstes Leben. Bald stand ich mit allen diesen Leuten aus einer unbekannten Welt, aus der doch noch so viele Bezüge in die Gegenwart herüberliefen, auf Du und Du und glaubte an sie wie an die Gestalten der Geschichte und Sage meines eigenen Volkes. [Hb, S. 102] Der Alte Prager Judenfriedhof stellt somit eine Schwelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart dar: Die Geschichten Jemimas lassen die Toten vor den Augen Hermanns regelrecht aus den alten Gräbern auferstehen. Jemima selbst indessen behauptet, vom Geschlecht des Hohen Rabbi Löws abzustammen, sie erzählt viel von dem weisen Mann aus dem Zeitalter des Kaiser Rudolf II., dem Golem und vielen anderen Sagen, die um seine Gestalt kreisen. So verbringen sie gemeinsam den ganzen Sommer in Prag, bis eines Tages „um die Mitte des Herbstes, als die ersten winterlichen Ahnungen durch die Welt gingen, als die Blätter des Flieders nicht weniger wie alle andern Blätter sich bunt färbten“ [Hb, S. 104] ihn Jemima mit den Worten „Das bin ich!“ zu ihrem eigenen Grab führt. Mit der Jahreszeit des Welkens kehrt auch die Vergänglichkeit des Lebens in Holunderblüte wieder zurück in das Bewusstsein der Figuren. Auf dem Grabstein steht in hebräischen Buchstaben das Wort Mahalath (hebr. ַ‫חלֲלת‬ ָ‫מ ח‬ ‫ מ‬hat drei Bedeutungen: Krankheit, Tanzgruppe, Harfe) und die Jahreszahl 1780. Jemima kennt das Schicksal der letzten Jüdin, die auf dem Friedhof begraben werden durfte, gut und behauptet, genau wie jene an einem kranken Herzen sterben zu müssen. Hermann ist sehr erschüttert über die Vorhersage des Mädchens ob ihres nahenden Todes. Er möchte sie fortbringen „aus diesem Dunst und Moder, diesem uralten Schauder“ [Hb,

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S. 107], doch Jemima fühlt sich schicksalhaft mit den Toten unter der Erde verbunden: ‚Nein, ich werde hier bleiben, wo meine Väter begraben liegen seit des Tempels Zerstörung. Du aber, mein Freund, wirst fortgehen nach deinem Vaterland und wirst mich vergessen, wie man einen Traum vergißt. Ich bin ja auch nur ein Traum! Was kannst du dafür, daß der Traum zu Ende ist und der blasse verständige Morgen dich weckt und dir sagt, daß es nichts war. Gehe fort und gehe bald; es ist dein und mein Geschick. [Hb, S. 107 f.] Mit dem Bewusstsein über Jemimas unheilbar krankes Herz wird auch der Judenfriedhof wieder zu einem Ort des Grauens, an dem der Tod omnipräsent ist. […] wie an jenem ersten Morgen, wo ich diesen Ort betrat, erfaßte mich das Grauen mit gespenstischer Hand am hellen Tage. Es war, als rege sich der Boden wie ein Würmerhaufen, es war, als schöben überall bleiche Knochenhände die Steine zurück und die Blätter und das Gras auseinander; ich stand wie zwischen rollenden Totenköpfen, und all der lebendige Moder griff grinsend nach mir und dem schönen Mädchen an meiner Seite. [Hb, S. 108] Der Friedhof ist ein ambivalenter Ort: Einerseits bezaubert er durch seine friedliche, geheimnisvolle Schönheit und seine schiefen, verfallenen und verwilderten Grabsteine gemahnen an die jahrhundertealte jüdische Sagen- und Legendenwelt. Er erscheint als wundersamer Ort, an dem die Vergangenheit auf magische Weise lebendig wirkt. Andererseits ist er aber ebenso in seiner Funktion als Grabstätte überschattet von der Assoziation des Todes und dem Schicksal des leidtragenden, toten Volkes. Der junge Student ist gebannt von dem Alten Jüdischen Kirchhof, er hadert immer wieder mit sich, hält sich für krank, da er sich von diesem „verdammten Humbug und verteufelten alten Steinbruch […] so sehr in Schrecken jagen“ [Hb, S. 109] lässt. Er findet keine Ruhe mehr, und sein letzter Besuch auf dem Friedhof wird schließlich von der Wut eines düsteren Gewittersturmes überschattet:

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Wer diesen Ort nicht in solcher Stunde gesehen hat, der kennt nichts von ihm. Es gibt keinen andern Gottesacker in der ganzen Welt, wo man, wenn der Himmel schwarz wird ‚wie ein härener Sack‘, wenn der Blitz zuckt und der Donner kracht, mit solchem Zittern das Haupt beugt und den Anfang des Jüngsten Gerichtes erwartet. O wie sich diese alten Fliederbüsche winden und sich gegen den Sturm stemmen! Wie lebendige Wesen ächzen und stöhnen sie in großer Not. Sie rauschen nicht wie andere Bäume und Sträucher im Regen; und mit einem unheimlichen Gegurgel schlürft der Boden die Wasserströme, die von den anund übereinandergetürmten Grabsteinen herniederrieseln, – es ist wirklich wie ‚eine Verwüstung vom Allmächtigen‘. [Hb, S. 111] Auch der alte Pförtner macht sich Vorwürfe, als er von Jemimas krankem Herzen erfährt. Er sucht die Schuld für ihre Krankheit bei sich, war er es doch, der das Mädchen mit dem Friedhof und seinen Geschichten vertraut gemacht hat und „ihr junges Dasein mit hineingeschlossen“ [Hb, S. 112] hat in die Mauern, in denen er lebte. So wird noch einmal der Kontrast zum Ghetto „draußen“ verdeutlicht, im Vergleich zu dem der Friedhof ein Ort der Gnade und des Mitleids ist: „[W]er unter diesen Steinen wandelt, wer die Luft dieses Ortes atmet, der gewinnt ein mildes Auge für das Tun und Lassen seiner Mitmenschen“ [Hb, S. 112]. Auch in Leo Perutz’ Nachts unter der steinernen Brücke (1924-1953) ist der Alte Prager Judenfriedhof Schauplatz mysteriöser Ereignisse. Das erste Kapitel, Die Pest in der Judenstadt, erzählt von einem großen Kindersterben, welches im Herbst des Jahres 1589 in der Prager Judenstadt wütete. Die „zwei armselige[n] Spaßmacher“94 Koppel-Bär und Jäckele Narr begeben sich eines Nachts im Mondlicht auf den Alten Judenfriedhof, um die Kupferpfennige einzusammeln, die dort die „frommen Besucher bisweilen für die Armen zurückließen“95. Die weißen und die grauen Steine standen aneinander gelehnt, als ob sie allein die Last ihrer Jahre nicht zu tragen vermöchten. Die Bäume 94 95

Perutz, Leo: Nachts unter der steinernen Brücke. Ein Roman aus dem alten Prag. Frankfurt am Main 1957. S. 11. Perutz, Leo: Nachts unter der steinernen Brücke. S. 11.

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streckten ihre entlaubten Äste wie in verstörter Klage zu den Wolken des Himmels empor. […] Sie gingen den schmalen Pfad zwischen den Jasminbüschen und den Holunderbäumen, bis sie zu dem verwitterten Stein des Rabbi Abigdor gelangten.96 An diesem verwucherten Ort des Todes vernehmen die beiden plötzlich ein „Huschen und Raunen“ und „ein Flimmern und ein Leuchten“. Als „mit einemmal der Mond am Himmel hinter den dunklen Wolken“97 verschwindet, offenbart sich ihnen auf dem Alten Judenfriedhof eine Geistererscheinung: […] hart an der Friedhofsmauer schwebten leuchtende Gestalten in den Lüften, Kinder in langen weißen Hemdchen, die hielten einander an den Händen und wiegten sich im Tanz über den frischen Gräbern. […] Und nun, da sie erkannten, daß es die andere Welt war, die sich ihren Augen offenbarte, kam das Entsetzen über sie, und sie wandten sich und liefen, sie sprangen über die Steine und stießen an die Äste, sie fielen nieder und rafften sich auf, sie liefen um ihr Leben und blieben nicht stehen, eh’ sie nicht wieder draußen auf der Gasse waren.98 Die beiden suchen Rat beim „hohen Rabbi, der kundig war der Sprache der Toten, der die Stimmen der Tiefe hörte und die furchtbaren Zeichen Gottes zu deuten vermochte.“99 Dieser Stoff von der Geistererscheinung von Kindern in weißen Hemdchen geht zurück auf die Sage Die Belelesgasse aus den Sippurim100, die von einer Seuche in der Judenstadt erzählt, der unzählige Kinder zum Opfer fielen: „Hunderte von Leichen wurden täglich, ja stündlich auf das Beth Chaim, diesen alten jüdischen Gottesacker, gebracht.“ 101 Die Belelesgasse gehört zu dem Zyklus Die Sagen der Prager Juden, die sich größtenteils mit dem Sagenkreis um die berühmte Figur des Rabbi Löw beschäftigen, „der seiner äußerst großen Weisheit und seiner Kenntnisse im Talmund, der 96 97 98 99 100

Ebd. S. 13. Ebd. S. 13. Ebd. S. 14. Ebd. S. 14. Sippurim. Eine Sammlung jüdischer Volkssagen, Erzählungen, Mythen, Chroniken, Denkwürdigkeiten und Biographien berühmter Juden aller Jahrhunderte, insbesondere des Mittelalters. Erste Sammlung. Hrsg. von Jakob W. Pascheles. Prag 1858. S. 79-81. 101 Sippurim (1858). S. 79.

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Kabbalistik, Astronomie und der damals im Flore stehenden Astrologie wegen vom Volke der hohe Rabbi Löw genannt wurde“ 102. Auf einen Traum hin befiehlt Rabbi Löw der Legende nach in Die Belelesgasse seinem Schüler („Bocher“), um Mitternacht auf das Beth Chaim zu gehen und einem der gestorbenen Kinder, die dort aus ihren Gräbern steigen sein weißes Sterbekleid, den „Tachrichim“ zu entreißen und ihm zu bringen: „Es war eine schöne sternhelle Nacht, Todesstille herrschte in dem Beth Chaim, bloß hie und da hörte man das Schwirren einer Fledermaus oder den durch Blätter der die Gräber beschattenden Holunderbäume säuselnden Wind.“103 Trotz großer Angst wartet der Schüler, bis Punkt Mitternacht ein „wunderlicher Geistertanz“104 den Friedhof belebt, und entreißt einem der Kinder das Tachrichim. Rabbi Löw gibt dem nackten Kindergespenst sein Leichengewand nicht eher zurück, als bis es ihm den Grund für die Pest genannt hat. Es erzählt ihm, dass „in einer Gasse, die nicht weit von Rabbi Löws Hause war, zwei Ehegatten wohnten, die mit ihren Frauen unsittlichen Wandel trieben. Darüber sei Gott so sehr erzürnt, daß er diese Alles hinwegraffende Seuche über sie geschickt habe, die nicht eher aufhören solle und werde, bis die beiden Unzucht treibenden und aller Sittlichkeit und Religion Hohn sprechenden Paare bestraft sein würden.“105 Diese Legende behandelt beispielsweise auch ein Gedicht aus Rainer Maria Rilkes Prager Zyklus Larenopfer (1895) mit dem Titel Rabbi Löw: ‚Weiser Rabbi, hoher Liva, hilf uns aus dem Bann der Not: heut gibt uns Jehova Kinder, morgen raubt sie uns der Tod. Schon faßt Beth Chaim nicht die Scharen, und kaum hat der Leichenwart eins bestattet, nahen andre Tote; Rabbi, das ist hart.‘ Und der Rabbi: ‚Geht und schickt mir einen Bocher rasch herein.‘ – So geschiehts: ‚Wagst du nach Beth Chaim diese Nacht dich ganz allein?‘

102 103 104 105

Ebd. S. 80. Ebd. Ebd. S. 79. Ebd. S. 81.

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‚Du befiehlst es, weiser Meister!‘ – ‘Gut, so hör, um Mitternacht tanzen all die Kindergeister auf den grauen Steinen sacht.106 In Perutz’ Nachts unter der steinernen Brücke ist diese Schlüsselszene nachts auf dem Friedhof die Auflösung für einen Zauber, mit dem Rabbi Löw den Kaiser Rudolf II. belegt hat. Dieser hat sich bei einem Besuch in der Judenstadt in ein schönes Mädchen verliebt und dem Rabbi befohlen, sie zu ihm zu bringen. Jedoch weigert sich Löw dies zu tun, da das Mädchen mit Namen Esther die Ehefrau des reichen Mordechai Meisel107 aus der Judenstadt ist. Aus Angst vor dem erzürnten Rudolf pflanzt der Rabbi unter der steinernen Brücke einen Rosenstrauch und einen Rosmarinstock und belegt diese mit einem Zauber, sodass sich in den verschlungenen Pflanzen Nacht für Nacht die Seelen von Esther und dem Kaiser vereinen. So hat der Rabbi Löw Sünde über die Judenstadt gebracht, und in der besagten Nacht nach der Geistererscheinung auf dem Judenfriedhof hebt er diesen Zauber auf: Der hohe Rabbi bückte sich und grub den Rosmarin aus der Erde. Dann nahm er den Bann vom Haupte des Weibes, das die Ehe gebrochen hatte. Schwarze Wolken jagten über den Himmel, das bleiche Licht des Mondes hing an den Pfeilern und Bogen der steinernen Brücke. Der hohe Rabbi trat an das Ufer und warf den Rosmarin hinab in den Fluß, daß er dahintrieb mit den Wellen und in den rauschenden Tiefen versank. In dieser Nacht erlosch die Pest in der Judenstadt. In dieser Nacht starb in ihrem Haus die schöne Esther, die Frau des Juden Meisl. Und in dieser Nacht fuhr auf seiner Burg zu Prag der Kaiser des römischen Reiches, Rudolf II., mit einem Schrei aus seinem Traum.108 In diesen Werken referiert der Alte Prager Judenfriedhof als Topos auf die jüdische Sagen- und Legendenwelt Prags. Die Geschichten kreisen um histo106 Rilke, Rainer Maria: Rabbi Löw (aus dem Zyklus Larenopfer). In: Ders.: Sämtliche Werke. Band I. S. 61-64. 107 Für den Namen des Mordechai Meisel finden sich verschiedene Schreibweisen – Perutz zum Beispiel benutzt „Meisl“, während die „Maisel“-Synagoge in Prag, die nach dem Mordechai benannt ist, die tschechische Schreibweise aufweist. 108 Perutz, Leo: Nachts unter der steinernen Brücke. S. 21.

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rische jüdische Persönlichkeiten, die in dieser legendären Grabstätte begraben liegen. Neben dem bekanntesten Grabmal des Rabbi Löw befindet sich dort unter tausenden anderen auch das des Mordechai Meisel, dem Bankier am Hofe des Kaisers Rudolfs II.. Er galt als vermögender Mäzen und betätigte sich in der Alten Judenstadt als Bauherr. So erbaute er beispielsweise die Maisel-Synagoge, in der sich heute das Jüdische Museum befindet. Der Alte Prager Judenfriedhof wird als eine finstere, verwilderte und furchteinflößende Stätte dargestellt, auf der nachts im Mondschein die Untoten aus ihren Gräbern auferstehen. Es ist eine „andere Welt“ 109, die auf dem Judenfriedhof zu Tage tritt, ein Ort, der eine Verbindung zum Totenreich darstellt und der so geheimnisvoll ist, dass seine Legenden und Geschichten lebendig wirken oder gar werden. Dieser legendäre und magische Topos der Geistererscheinungen wird in der Prag-Literatur oft im Kontrast zum Judenghetto inszeniert, in dessen Gassen sich wiederum sogar in der Sippurimlegende der „unsittliche Wandel“110 abspielt. Auch Umberto Eco nutzt für seinen 2010 erschienen historischen Kriminalroman Il Cimitero di Praga (Der Friedhof von Prag) die magische Atmosphäre des Alten Prager Judenfriedhofes. In diesem Roman geht es um den Mythos der jüdischen Weltverschwörung und die Protokolle der Weisen von Zion. Die Protokolle sind ein antisemitisches Pamphlet, welches am Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage fiktionaler Texte von unbekannten Redakteuren zusammen gestellt wurde. Sie geben vor, geheime Dokumente eines Treffens von jüdischen Weltverschwörern zu sein. Diese antisemitische Verschwörungstheorie entstand infolge eines jahrhundertelangen Judenhasses und einer übersteigerten Furcht vor dem vermeintlich Fremden. In der Geschichtsschreibung werden die Protokolle rückblickend als ein wichtiger Baustein der nationalsozialistischen Ideologie und als Rechtfertigung für den Holocaust gewertet. Bei der Ausformung des Pamphlets wird als Quelle vor allem auf den 1868 erschienenen Sensationsroman Biarritz (Historischpolitischer Roman) des deutschen Schriftstellers Hermann Goedsche (unter 109 Perutz, Leo: Nachts unter der steinernen Brücke. S. 14. 110 Sippurim (1858). S. 81.

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dem Pseudonym Sir John Retcliffe) verwiesen. Ein Kapitel dieses Romans, Auf dem Judenkirchhof in Prag, lokalisiert dort die jüdische Weltverschwörung: Im Jahre 1860 hätten sich zwölf bzw. dreizehn 111 Rabbiner als Vertreter der Stämme Israels zu einer geheimen Versammlung zusammengefunden, um über die geplante Weltherrschaft zu beraten. Fünf Jahre später wird diese Verschwörung aus Goedsches fiktionalem Text in einem antisemitischen russischen Pamphlet (Die Juden, Herrscher der Welt) dargestellt, als basierte sie auf realen Tatsachen. Im Dritten Reich schließlich wurde das gesamte Kapitel separat publiziert und als eigenständiger Text in hohen Auflagen herausgegeben. In einer Publikation von 1942, als sich Prag bereits unter deutscher Besatzung befand, schreibt ein anonymer Verfasser einleitend: „Seit altersher galt den Juden die Prager Altstadt als ‚Mutter in Israel‘, ‚berühmte Gemeinde Jakobs‘ oder ‚Ruhm des in der Welt zerstreuten Israels‘.“112 Prag sei die Hochburg der Juden, denen es von dort aus gelang, „Land und Leute, Politik und Wirtschaft zu regieren.“113 Umberto Ecos Friedhof von Prag behandelt die Entstehung und Verbreitung von Verschwörungstheorien und mit den Protokollen der Weisen von Zion die potentielle Wirksamkeit fiktiver Behauptungen und die fatale Verselbstständigung der antisemitischen Propaganda. Wo anders also als in Prag ließe sich dieser Triumph von Fiktion über historische Fakten besser lokalisieren? Hermann Goedsches Kapitel Auf dem Judenkirchhof in Prag ist die Grundlage für Umberto Ecos Beschreibung der heimlichen Zusammenkunft der jüdischen Weltverschwörung auf dem Prager Friedhof. Auch in Goedsches Text wird der Judenkirchhof im Kontrast zu der ihn umgebenden Judenstadt beschrieben: „ein merkwürdiges Gewirr von krummen, winkeligen und engen Gassen […] deren Labyrinth nur den Bewohnern selbst genau bekannt war“114. Hausflure werden als „finstere Höhlen, die niemals das Tageslicht 111 In Goedsches Kapitel ist von dreizehn Rabbinern die Rede, wobei zu den zwölf Vertretern der Stämme Israels ein weiterer Rabbiner für die „Verstoßenen und Wandernden“ hinzukommt. Vgl. Retcliffe, John: Auf dem Judenkirchhof in Prag. Hrsg. von Johann v. Leers. Berlin 1933. 112 Retcliffe, John: Das Geheimnis des Judenfriedhofes in Prag. Prag 1942. S. 5. 113 Retcliffe, John: Das Geheimnis des Judenfriedhofes in Prag. S. 5. 114 Ebd. S. 7.

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erhellt, schwarze Schlünde, die ein Geschlecht von schachernden, feilschenden, zeternden Männern, Frauen und Kindern ausspien“ 115 illustriert und die Bewohner:innen als „Handel und Wucher“ 116 treibendes Gesinde: „Was der Tändelmarkt in Wien, der Temple in Paris, das war zugleich die Judenstadt in Prag. Unter diesem Bänder-, Lumpen-, Eisen- und Lederkram wurden täglich Geschäfte von vielen Tausenden gemacht!“117 Wenn man eine Strecke durch diesen stinkenden, schmutzigen und unheimlichen Markt durchgedrungen war, stieß man plötzlich auf eine alte, hohe, verwitterte Mauer, die einen Platz von etwa 1 bis 2 Morgen Größe umgab. Holunderbüsche und andere wilde Strauchbäume ragten über diese Mauer, die in ihrer ganzen Ausdehnung von den alten Häusern der Judenstadt umgeben war. Der seltsame Mauerring hatte von außen ein unheimliches, verworrenes, zerwittertes Aussehen. Es war die Stätte der Toten – der berühmte Judenfriedhof von Prag!118 An diesem Ort fühlen seine Besucher den „Geist des Volkes, dessen Gebeine hier nach der langen, rastlosen Wanderung eine Stätte gefunden; seine ganze furchtbare Geschichte voll Leiden, Kämpfen, Widerstand und Unüberwindlichkeit ist in ihm ausgeprägt.“ 119 Goedsches Text scheint von Wilhelm Raabes Holunderblüte inspiriert zu sein, da auch er den Friedhof im Kontrast zum Ghetto beschreibt und den Ekel vor den Ghettobewohner:innen der Ehrfurcht vor der jüdischen Leidensgeschichte und der heiligen Todesstätte gegenüberstellt. Die Annahme liegt nahe, dass sich Goedsche bei seinem Kapitel Auf dem Judenkirchhof in Prag an Raabes fünf Jahre früher erschienenem Text orientierte120, da er nicht nur die gleichen Merkmale und Stereotype benutzt, sondern auch die „Holunderbüsche“ erwähnt. Während die Judenstadt als schmutziges Gassen-Labyrinth dargestellt wird, dessen Bewohner:innen dubiose Handelsgeschäfte betreiben, wirkt der Friedhof unheimlich und verwil115 116 117 118 119 120

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. S. 7 f. Ebd. S. 8. Vgl. auch Sammons, Jeffrey L.: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus. Eine Fälschung. Text und Kommentar. Göttingen 2011. S. 8 (Einführung).

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dert. Gleichzeitig jedoch stellt er einen heiligen Erinnerungsort der tragischen Geschichte des „jüdischen Volkes“ dar: Der „Judenfriedhof in Prag ist der älteste, den man kennt […] – für die Gegenwart, für die Fremden ist er eine der historischen Merkwürdigkeiten Prags – für die gläubigen Juden ein Heiligtum.“121 Für fremde Besucher ist dies nach Goedsche ein ambivalenter Ort. Auf der einen Seite stehen die gängigen antisemitischen Stereotype, die befremdliche Gefühle hervorrufen, andererseits aber fasziniert der Judenfriedhof mit seiner geschichts- und legendenträchtigen Atmosphäre. So führt Goedsche gleich zu Beginn des Kapitels den Kirchhof als gespenstische und geisterhafte Stätte ein und nimmt dadurch vorweg, was sich später in der fiktiven Handlung tatsächlich ereignen wird: Es ist, als würden sich jeden Augenblick diese zehnfach übereinander gehäuften, verworrenen, mit Gestrüpp bedeckten Gräbern auftun, diese von einem Jahrtausend zerbröckelten Steine zerspringen, um den ruhlosen Wanderer, den Quersack auf dem Rücken, den Stab in der Hand, wieder hinauszusenden unter die lebenden Geschlechter, sie zu betrügen und zu knechten und das neue Kanaan zu suchen: die Herrschaft!122 Wie auch in Raabes Text wird in Auf dem Judenkirchhof in Prag die symbolische Bezeichnung „Beth-Chajim“123 („das Haus des Lebens“) für den Friedhof erwähnt. Während sich in Holunderblüte die Lebendigkeit des Ortes auf die legendären jüdischen Gestalten und Geschichten bezieht, die durch die Erzählungen der Menschen lebendig erscheinen, wird hier eine dunkle, rächende Kraft entsponnen, die diese „Wüstenei des Todes“ 124 hervorbringt: „Denn von hier aus geht der geheimnisvolle, gewaltige Impuls, der die Vertriebenen zu den Herren der Erde macht, die Verachteten zu den Tyrannen der Völker.“125 So kommt es an diesem Ort schließlich zu der geheimen jüdi121 Retcliffe, John: Auf dem Judenkirchhof in Prag. S. 8. Angeblich existiert dieser Friedhof schon seit zwölfhundert Jahren, seit „der sagenhaften Zeit der Libussa und ihrer Mägde auf dem Wyschehrad, lange vorher, ehe das Kreuz auch hierher vom Zorn Jehovas in alle Winde Zerstreuten verfolgte.“ Es sei eine der ältesten Stätten jüdischen Glaubens: „die Juden sagen: die ä l t e s t e israelitische Gemeinde in Europa“. 122 Retcliffe, John: Auf dem Judenkirchhof in Prag. S. 8. 123 Allerdings weicht Goedsches Schreibweise von der gängigen „Beth-Chaim“ ab. 124 Retcliffe, John: Auf dem Judenkirchhof in Prag. S. 9. 125 Ebd.

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schen Zusammenkunft, bei der der Geist des Rabbi Löw aus seinem Grab heraus zu den Weltverschwörern Israels spricht: Ein noch unheimlicheres Schweigen verbreitete sich über den unheimlichen Ort. […] als der letzte Schlag der Mitternachtsstunde vom Turm her durch die Nacht zitterte und mit dem verhallen des Tons ein scharfer metallener Klang sich hören ließ und ein gespenstischer blauer Lichtschein aufflackerte, gleichsam aus dem Steinhaufen, dem Grabe des alten Kabbalisten, dringend, um die dreizehn weißen verhüllten Gestalten umdämmerte, die um das Grab her kauerten.126 In Umberto Ecos Der Friedhof von Prag wird nicht nur auf diese Legende einer jüdischen Weltverschwörung referiert, vielmehr wird der Ort, an dem sie stattgefunden haben soll, zum Titel des gesamten Romans. Indessen ist die Handlung überhaupt nicht in Prag angesiedelt, sondern spielt überwiegend in Paris und Italien. Nur wenige Seiten des gesamten Romans beziehen sich tatsächlich konkret auf den Topos des Alten Jüdischen Friedhof. Das Kapitel Eine Nacht in Prag berichtet von der Entstehung der Weltverschwörungslegende: Der Protagonist Simon Simonini, ein ruchloser und hasserfüllter Betrüger und Urkundenfälscher, schreibt im Auftrag eines russischen Geheimpolizisten die Protokolle der Weisen von Zion. Auch der Schriftsteller Geodsche tritt im Roman als Nebenfigur auf. Dieser hört von den kostbaren und bisher geheimen Dokumenten jüdischer Verschwörungsgeschichte, stiehlt die von Simonini erfundene Szene der nächtlichen Versammlung auf dem Prager Judenfriedhof und veröffentlicht sie in seinem Roman. Ebenso werden die darauf folgende Verselbstständigung der fiktiven Verschwörung mit der Verbreitung des Pamphlets in Russland und der Rezeption als Tatsachenbericht thematisiert: „Inzwischen habe ich aufgehört zu zählen, wie oft die Friedhofsszene von verschiedenen Autoren aufgegriffen worden ist“127 schreibt Simonini in seinem Tagebuch.

126 Ebd. S. 24 f. 127 Eco, Umberto: Der Friedhof in Prag. Roman. Deutsch von Burkhart Kroeber. München 2011. S. 321.

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Der Friedhof selbst und die dortige „Hexensabbat-Atmosphäre“ 128 werden von Eco mit nur wenigen Worten beschrieben. Simon Simonini recherchiert in einer Pariser Bibliothek und betrachtet dort ausdrucksstarke Stiche, die den Friedhof im Mondlicht zeigen: Es gab ihn schon seit dem Mittelalter, und da er die erlaubten Grenzen nicht überschreiten durfte, hatte man die Gräber im Lauf der Jahrhunderte übereinandergeschichtet, so dass dort vielleicht hunderttausend Tote begraben lagen und die Grabsteine sich dicht an dicht drängten, verdunkelt vom Laub der Holunderbäume […]. Vielleicht waren die Steinmetze fasziniert von dem Ort und hatten es übertrieben, als sie diesen Wald von Grabsteinen schufen, die sich wie Büsche auf einer Heide in alle Richtungen neigen, diesen Raum, der wie das aufgerissene Maul einer zahnlosen alten Hexe erschien.129 Simonini sinniert darüber, wie er das jüdische Welteroberungsprojekt ansetzen müsste, und malt sich aus, wie sich die Rabbiner dort um Mitternacht versammelten „in Mäntel und Kapuzen gehüllt, mit ihren grauweißen Ziegenbärten“130. Die Weltverschwörer vergleicht er dabei mit den schiefen Steinen des Friedhofes, die aussehen wie „Bodenplatten, die sich bei einer tellurischen Aufwölbung in alle Richtungen hoben […], auch sie geneigt wie die Grabsteine, an die sie sich lehnten, um eine nächtliche Runde von zusammengekrümmten Gespenstern zu bilden.“ 131 Sie versammeln sich Punkt Mitternacht um das berühmte Grab des Rabbi Löw, „der im sechzehnten Jahrhundert den Golem erschaffen hatte, jenes Ungeheuer, das die Rachegelüste aller Juden befriedigen sollte.“132 Eine Stimme, „wie aus der Tiefe eines Grabes aufsteigend“, würde die Häupter der zwölf Stämme Israels begrüßen und jeder von ihnen würde antworten: „Sei gegrüßt, du Sohn des Verfluchten!“ 133 Bei der Versammlung soll der Geist des Rabbi Löw heraufbeschworen werden:

128 129 130 131 132 133

Eco, Umberto: Der Friedhof in Prag. S. 321. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. S. 237.

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[…] ein bläuliches Licht erhebt sich aus seinem Grabhügel, das immer heller und blendender wird, jeder der zwölf Versammelten wirft einen Stein auf den Hügel, und langsam erlischt das Licht. Die Zwölf verschwinden in verschiedene Richtungen, von der Finsternis aufgeschluckt […] und der Friedhof kehrt zurück zu seiner gespenstisch blutarmen Melancholie.134 An diesem schattenhaften Ort werden also die Geister in doppelter Form heraufbeschworen: Zunächst mit Simoninis Vorstellung von dem Geheimtreffen der zwölf Rabbiner, die selbst wie Gespenster beschrieben werden, und die wiederum den Geist der legendären Gestalt des Rabbi Löw heraufbeschwören. Als der Spuk vorbei ist, kehrt der Friedhof unvermittelt wieder „zurück zu seiner gespenstisch blutarmen Melancholie“ 135. Ähnlich wie in Raabes Holunderblüte136 und auch in Goedsches Schilderungen wird der Friedhof in Ecos Roman als gespenstischer Ort dargestellt, an dem sich mit den Geistererscheinungen die Totenwelt mit der fiktiven Gegenwart verbindet. Umberto Eco steht mit dieser Thematisierung in mehrfacher Hinsicht in einer literarischen Tradition des Narrativs der Stadt Prag: Zunächst reiht sich die Darstellung und Beschreibung des Alten Jüdischen Friedhofes als einem unheimlichen, verwilderten und gespenstischen Ort in die Reihe der bisher angeführten literarischen Beispiele ein. Darüber hinaus weist Prag als Topos, wie im einleitenden Kapitel Prag im Wandel der Zeiten: Wie Geschichte und Mythologie ein Stadtbild präg(t)en dargelegt wurde, allgemein eine hohe Verbindungsbereitschaft von Mythen und Geschichte auf, bzw. von der Darstellung oder Interpretation mythischer Ereignisse als historische Fakten; derart etwa die Beschreibung des mythischen Zeitalters in der Böhmischen Chronik von von Václav Hájek z Libočan oder die Fälschung der Königinhofer und der Grünberger Handschriften von Václav Hanka. Die Verschwörungstheorie über die jüdische Weltherrschaft verselbständigt sich im Laufe von Ecos Roman zu einer historischen Wahrheit. Ähnlich wie der Mythos an sich sind Verschwörungsphantasien eine Form der Welterklärung: 134 Ebd. S. 237 f. 135 Ebd. S. 238. 136 Zumal auch in Umberto Eco der Friedhof von Prag als „verdunkelt vom Laub der Holunderbäume“ [Ebd. S. 236] beschrieben wird.

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Im verschwörungstheoretischen Konstrukt sind die Grenzen zwischen Realität und Fiktion aufgehoben. […] Zur Durchsetzung der obsessiven Botschaft werden Phantasie und Wirklichkeit so lange vermischt, bis die Gesetze der Plausibiltät keine Bedeutung mehr haben. Verwickelte Theorien, gestützt durch abseitiges Mutmaßen, konstruierte Beweise und Fakten, die in einen passenden Zusammenhang gerückt werden, erfüllen ein verbreitetes Bedürfnis nach komplizierter Erklärung, nach Enthüllung und Deutung geheimer Zusammenhänge.137 Umberto Eco geht es in Der Friedhof von Prag um diesen Mythos einer Weltverschwörung, die aus antisemitischer Propaganda und einer jahrhundertealten Projektion der Angst und des Hasses gegen die Anhängerschaft des jüdischen Glaubens als einem Prototyp des Fremden entstanden ist. Indem im Roman Goedsche die Verschwörungsgeschichte von Simonini abschreibt, wird die Fälschung der Protokolle der Weisen von Zion ad absurdum geführt, da es sich in gewisser Hinsicht nur mehr um ein Plagiat einer Fälschung handelt. Eco geht es vordergründig in Der Friedhof von Prag nicht um den Topos des Alten Prager Judenfriedhofs, obwohl dieser der Titel seines Werkes ist. Der legendäre Friedhof erscheint vielmehr paradigmatisch als Ort der Entstehung einer antisemitischen Verschwörungstheorie und dient so als Plattform der antisemitischen Propaganda. Sigrid Weigel schreibt in ihren Überlegungen zur Topographischen Poetologie über die „Signaturen von Orten“, die Bedeutungen, die bestimmten Topoi zugeschrieben werden. Der Alte Prager Judenfriedhof ist nach Weigel ein Ort, „der als Pathosformel einer ‚versunkenen Kultur‘ längst in den Diskurs von Reiseführern und Kulturgeschichten eingegangen und aus seiner ikonologischen Erstarrung kaum noch zu befreien ist.“138 In Der Friedhof von Prag nutzt Eco diese „Pathosformel“ und bedient somit eine Erinnerungskultur, die Prag als jüdischen Gedächtnisraum inszeniert. Im Gegensatz zum Alten Prager Judenghetto ist der Friedhof tatsächlich ein Topos, der als magischer Ort jüdischer Legenden und Mythen fungiert. Er steht nicht nur in seiner Bedeutung im Kontrast zur Judenstadt, sondern ist auch äußerlich von ihr durch seine steinernen Mauern getrennt. Inter137 Benz, Wolfgang: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende der jüdischen Weltverschwörung. München 2007. S. 10. 138 Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. S. 360.

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essanterweise wird das Bild des Friedhofs immer wieder über die gleichen Attribute beschrieben, die schiefen, übereinander gehäuften Gräber und Grabhügel (Vgl. auch Abb. 3 Der alte Judenkirchhof in Prag von Rudolf Hirth du Frênes), die Geistererscheinungen um Mitternacht im Schein des Mondlichts und vor allem fällt die häufige Erwähnung des Holunders auf. Auf Norddeutsch wird mit Holunder auch der Flieder bezeichnet, dessen Blühen den Frühling ankündigt und metaphorisch als Symbol für eine neu beginnende Liebe gilt. Da in Raabes Holunderblüte die Fliederbüsche und deren Blühen mehrfach erwähnt werden,139 ist davon auszugehen, dass sich der Titel Holunderblüte tatsächlich auf den Frühling in Prag bezieht und die Erinnerungen an das geliebte Mädchen und die Zeit mit ihr auf dem Friedhof: „aber sie hat die Sonne und die Frühlingsblüte nur hier gesehen – die Sonne der Toten – die Fliederblüte der Gräber!“140 Auch die später erschienen Texte von Goedsche oder Eco erwähnen den Holunder, erzählen hingegen keine Liebesgeschichte und haben möglicherweise dieses Detail von Raabe übernommen. Der Topos des Alten Prager Judenfriedhof steht hier wie auch bei Perutz und Rilke als ein Ort der jüdischen Mythen- und Legendenwelt, an dem die „versunkene Kultur“ bisweilen nachts in Geistererscheinungen aus den Gräbern steigt.

139 Vgl. Raabe, Wilhelm: Holunderblüte. S. 104, S. 111 und S. 112. 140 Raabe, Wilhelm: Holunderblüte. S. 112.

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1.3 Prag als Paradigma der Heimatlosigkeit In Prag sind Geschichten nicht einfach Geschichten; sie sind das, was man hier anstelle eines Lebens hat.141 [Philip Roth]

Das „jüdische Volk“ unterliegt seit hunderten von Jahren der Stigmatisierung eines heimatlosen Volkes. Dementsprechend gut eignet sich Prag mit seiner Eigenschaft als paradigmatischer Topos der Heimatlosigkeit für die Darstellung jüdischer Thematiken, zumal in dieser Stadt die jüdische Bevölkerung seit jeher angesiedelt war. Anhand der in diesem Abschnitt behandelten Texte wurde indessen aufgezeigt, dass in der Prag-Literatur vielmehr die Legendenund Sagenwelt oder die Mythisierung Prags als einem Ort jüdischer Kultur eine Rolle spielt, statt einer tatsächlichen Thematisierung der Religion, des Glaubens oder der Traditionen des Judentums. In einem jüngeren Text von Philip Roth, Die Prager Orgie (1985)142 imaginiert der Ich-Erzähler Nathan Zuckerman die Stadt Prag sogar als jüdische Heimat. Auf der Suche nach dem unveröffentlichten Manuskript eines ermordeten jiddischen Schriftstellers fährt der amerikanische Romanautor Zuckerman in den 1970er Jahren in das russisch besetzte Prag. Die Beschreibung im Klappentext lautet wie folgt: „In einem Land, das sich in den Fesseln einer kommunistischen Diktatur befindet, sieht er sich mit der staatlichen Unterdrückung konfrontiert – einer für ihn völlig neuen Form von Schreibhemmung.“143 Eines Tages läuft Zuckerman kreuz und quer zu Fuß durch Prag, um einen Verfolger abzuschütteln, und ihn überkommt unerwarteterweise das Gefühl, als sei ihm „diese Stadt schon lebenslang vertraut“144: Die alten Tramwagen, die öden Läden, die rußgeschwärzten Brücken, die höhlenartigen Alleen und mittelalterlichen Straßen, die Menschen in ihrem Zustand undurchdringlicher Niedergeschlagenheit, ihre von Ernst 141 Roth, Philip: Die Prager Orgie. Ein Epilog. Deutsch von Jörg Trobitius. Hamburg 2004. S. 80. 142 Die Prager Orgie. Ein Epilog hat Philip Roth als Epilog nachträglich zu seiner ZuckermanTrilogie geschrieben (Originalausgabe: Epilogue. The Prague Orgy, 1985). 143 Roth, Philip: Die Prager Orgie. S. 2. 144 Ebd. S. 78.

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verschlossenen Gesichter, Gesichter, die gegen das Leben zu streiken scheinen – das ist die Stadt, die ich mir während der schlimmsten Kriegsjahre vorgestellt habe […]. Das ist die Stadt, so stelle ich mir vor, die die Juden kaufen würden, wenn sie genug Geld für eine Heimat zusammengebracht hätten.145 Prag ist hier für Zuckerman ein Ort der Vertrautheit, die potentielle Heimat heimatloser Jüdinnen und Juden. In Die Prager Orgie wird zum einen die bedingungslose Liebe der tschechischen Bevölkerung zu ihrem Vaterland beschrieben, ungeachtet aller staatlicher Unterdrückung, Überwachung und Verfolgung. Auf der anderen Seite kommt aber auch die Resignation und die Niedergeschlagenheit der gegenwärtigen Prager Bevölkerung zum Ausdruck. In ihrer devoten, unterdrückten und gedemütigten Haltung wird sie indirekt mit dem Stereotyp des heimatlosen Volkes der Juden verglichen. Zuckermans vermeintliche Vertrautheit gegenüber der Stadt Prag rührt aus einer Kindheitsvorstellung – als Schüler sammelte er für den jüdischen Nationalfond und stellte sich vor, dass sich das heimatlose Volk von dem gesammelten Geld eine Stadt kaufen würde: – und dementsprechend war das, was sich, wie ich mir insgeheim ausmalte, die Juden von den Pfennigen und Groschen, die ich sammelte, würden leisten können, eine heruntergewirtschaftete Stadt, eine zerstörte Stadt, eine Stadt, die so ramponiert und düster war, daß niemand sonst ein Angebot dafür machen würde. Für ein Butterbrot wäre sie zu haben, und der Besitzer wäre froh, sie loszusein, ehe sie vollständig einstürzte.146 Die jüdische Heimat zeichnet sich in der Vorstellung des damals Neunjährigen insbesondere durch „das überwältigende Alter der Häuser“ aus und „die Jahrhunderte des Verfalls, der den Erwerb so billig gemacht hatte, die tropfenden Rohre und schimmeligen Wände und faulenden Balken und rauchenden Öfen und dünstenden Kohlköpfe, die die Luft in den halbdunklen Treppenhäusern verpesteten“147. Dieses Stadtbild entspricht im Grunde den 145 Ebd. S. 78 f. 146 Ebd. S. 78. 147 Ebd. S. 79.

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Beschreibungen der Alten Prager Judenstadt. Auf der einen Seite steht also dieses Bild einer verkommenen, verfallenen und niedergehenden Stadt – auf der anderen Seite die Geschichten jüdischen Leidens: In dieser heruntergewirtschafteten Stadt würde man endlose Geschichten erzählen hören – […] bange Erzählungen von Heimsuchung und Flucht; Geschichten von unglaublichem Erdulden und erbarmungswürdigem Untergang […], all die Geschichten, die es zu erzählen und denen es zu lauschen galt, die geprägt waren von einem unendlichen Interesse an ihrer eigenen Existenz und der Faszination, die das unerhörte Elend, von dem sie berichteten, hervorrief, die Ausgrabung und Aufbereitung von Unmengen solcher Geschichten – die nationale Industrie der jüdischen Heimat, wenn nicht gar das einzige, was sie hervorbrachte (wenn nicht gar die einzige Quelle von Genugtuung), die erzählerische Umsetzung der Überlebenskämpfe;148 Das „jüdische Volk“ wird als leidend sowie bemitleidenswert beschrieben, heimgesucht von „unaufhörlicher Melancholie“ und den „ungeheuren Anstrengung, die es kostete, sich gerade eben so durchzuschlagen“ 149. Das allumfassende, unvorstellbare Leiden ist die synästhetische „Nationalhymne der jüdischen Heimat“150 und somit auch von Prag: „Was man riecht, sind Jahrhunderte, und was man hört, sind Stimmen, und was man sieht, sind Juden, rasend im Wehklagen und verhalten im Vergnügen, die Stimme bebend vor Erbitterung und zitternd vor Schmerz“151. Diese stereotype Inszenierung des „jüdischen Volkes“ als Leidensträger mutet überspitzt an, beachtet man vor allem, dass hier nicht etwa von „Leid“, sondern von „Leiden“ die Rede ist. Die Prager Orgie inszeniert Prag aufgrund dieses Stereotyps eines heimatlosen und leidtragenden Volkes als jüdische Heimat, und so fügt sich das verfallene, beklagenswerte Stadtbild metaphorisch dieser klischeehaften Zuschreibung jüdischer Existenz. Philip Roth rekonstruiert mit diesem Bild gewissermaßen den Mythos der Alten Prager Judenstadt, und Prag wird als jüdische Heimat zum Sinnbild einer trost- und hoffnungslosen Stadt. Ähnlich wie sich 148 149 150 151

Ebd. S. 78 f. Ebd. S. 79 f. Ebd. S. 80. Ebd.

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Umberto Eco in Der Friedhof von Prag einer populäreren literarischen Tradition von Prag bedient, erscheint auch die Semantisierung in Die Prager Orgie. Prag wird dementsprechend mit der von Weigel beschriebenen „Pathosformel einer ‚versunkenen Kultur‘“152 nicht nur als jüdischer Gedächtnisraum dargestellt, sondern sogar als potentielle Heimat des heimatlosen Volkes. Darüber hinaus reflektiert Die Prager Orgie auch die literarische Tradition Prags als einer lesbaren Stadt, die von ihren Geschichten, Mythen und Legenden lebt: Alles, was recht ist, wenn Sie dort hören, wie jemand eine Geschichte zu erzählen beginnt […] dann sollten sie sich erheben und die Hand auf Ihr Herz legen. Hier, wo man die literarische Kultur als Geisel genommen hat, blüht die Kunst der mündlichen Erzählung. In Prag sind Geschichten nicht einfach Geschichten; sie sind das, was man hier anstelle eines Lebens hat. Hier wird man zur eigenen Geschichte, da es einem versagt ist, etwas anderes zu sein. Das Geschichtenerzählen ist die Form, die der Widerstand gegen die Zwangsherrschaft der gegenwärtigen Mächte angenommen hat.153 Prag als paradigmatischer Topos der Heimatlosigkeit ist in seiner Stadtgeschichte immer wieder zum Schauplatz der Unterdrückung oder Besetzung von Fremdherrschaften geworden – besonders im 20. Jahrhundert. Diese Unfreiheit der Prager Bevölkerung, welche sich in Die Prager Orgie unter der kommunistischen Diktatur befindet, ist auch in diesem Text abermals Ausgangspunkt für eine Rückwendung in die legendäre Welt der Stadt, aus welcher der Mythos geboren wurde. Ebenso wie sich viele der Prager deutschsprachigen Schriftsteller:innen im beginnenden 20. Jahrhundert auf der Suche nach Identifikation mit ihren jüdischen Wurzeln auseinandergesetzt haben, sind auch viele der in diesem Abschnitt behandelten Figuren fasziniert und fühlen sich angezogen von dieser (fremden) Kultur. Die starke Mystifizierung und Mythisierung eines „jüdischen Prags“ ist zumindest teilweise Ergebnis der konstruierten Identitätsstiftung einer Generation, die sich dem Prag ihrer 152 Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. S. 360. 153 Ebd. S. 80 f.

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(geistigen) Heimat beraubt gefühlt und in einer rückwärts gewandten Sehnsucht versucht, in der Vergangenheit Antworten auf ihre Fragen zu finden. Auf diese Weise lokalisiert die Literatur mit der Alten Prager Judenstadt und dem Alten Jüdischen Friedhof einen Mythos, der in seiner Literarisierung „Raum greift“ und sich somit in Prag als solcher nicht nur in der Dimension der Zeit, sondern vor allem auch im Ort manifestiert. Charakteristisch für diese legendären Orte jüdischer Tradition ist die Koinzidenz von Vertrautheit und Fremdheit. Prag erscheint als Schwellenraum, an dem gegensätzliche Kräfte gleichzeitig wirken können: Einerseits wird die Judenstadt als unheimlicher, dreckiger und ekliger Ort dargestellt, an dem überall fragwürdige Gestalten lauern. Auf der anderen Seite wird sie aber auch häufig zu einem Schutz bietenden Ort der Vertrautheit, Geborgenheit und zur geistigen Heimat. Die Inszenierung eines „jüdischen Prags“ ist eine besonders eindrückliche und anschauliche Komponente des Prag-Mythos, da hier bestimmte Orte der Stadt einer starken Semantisierung und Mythisierung unterliegen. Anhand der literarischen Beispiele wurde aufgezeigt, dass die Judenstadt in der PragLiteratur nicht etwa ein Ort traditionellen Judentums ist, sondern vielmehr ein paradigmatischer Topos der Fremdheit, Lebenslust, und Ausgelassenheit sowie eines Heimatgefühls.

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2 Die polemische Stadt: Topographien des Kampfes und des Todes Prag ist kein leichtes Schicksal. Prag ist tragisch. Das Pflaster hat Blut getrunken. Jeder Stein erinnert...154 [Richard Katz]

Prag war von jeher ein kriegerischer Ort – und so steht auch im Prager Stadtwappen die Faust mit Harnisch und Schwert als Symbol des Kampfes. Auch die Zeilen aus dem Gedicht Freiheitsklänge von Rainer Maria Rilke155 beschreiben die Kampfeslust des böhmischen Volkes im Ringen um nationale Freiheit und Unabhängigkeit. Freiheitsklänge Böhmens Volk! In deinen Kreisen weckt ein neuer Genius alte, heiße Freiheitsweisen, und die Mahnen nicht mit leisen Worten, daß dein Fesseleisen ganz zerschmettert werden muss Diese Streitpoeten blasen lockend; und in Stücke haun kannst du, Volk, in deinem Rasen des Gesetzes Marmorvasen, doch du kannst aus ihren Phrasen keine Zukunft dir erbaun. [Rainer Maria Rilke, Larenopfer]156

154 Katz, Richard: Zitiert nach Krischke, Traugott: Prag ist ganz anders. In: Einladung nach Prag. Hrsg. von Traugott Krischke. München; Wien 1966. S. 14. 155 Rilke hegte für das tschechische Volk rege Sympathien, nicht nur hinsichtlich seiner Kunst, sondern auch für die böhmische Sprache und Geschichte. Im Sinne eines Kulturvermittlers bildet der gerade Zwanzigjährige in seinem Gedichtezyklus Larenopfer von 1895 verschiedene Prager Szenarien ab. Darunter finden sich auch Zeilen, die seine Verständnislosigkeit über den damals herrschenden Nationenkonflikt zwischen der deutschen und der tschechischen Bevölkerung in Prag verdeutlichen. 156 Rilke, Rainer Maria: Larenopfer. In: Ders.: Sämtliche Werke. S. 45-46.

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Abb. 4: Das Prager Stadtwappen (Altstadt)

Böhmen und besonders seine Hauptstadt Prag wurde in der Geschichte häufig zum Schauplatz großer und blutiger Schlachten, Kämpfe und Revolutionen. Es wurde bereits eingangs erläutert, welche Bedeutung die Schlacht am Weißen Berg (Bílá hora, 1620) oder die Hussitenkriege (1419-1439) bzw. die Hussitische Revolution für das tschechische Volk und den Prozess der Nationenbildung im Europa des 19. Jahrhunderts hatten. Für das tschechische Selbstverständnis sind diese revolutionären Bestandskämpfe identitätsstiftend. Als Königs- und Kaiserstadt ist die böhmische Hauptstadt Ort des Kämpfens, der Kriege und Revolutionen in die Geschichte eingegangen. Auch im 20. Jahrhundert kommt es in Prag immer wieder zu bedeutenden und prägenden historischen Ereignissen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik im Jahr 1918 galt die Stadt aufgrund der heftigen Konflikte zwischen der tschechischen und der deutschen Bevölkerung als Unruheherd innerhalb des Habsburgerreiches. Der böhmischen Geschichte und dem jahrhundertelangen Kampf des tschechischen Volkes um seine nationale Unabhängigkeit ist in Zusammenhang mit einem tschechischen Selbstverständnis eine große Bedeutung beizumessen. So wird in der Prag-Literatur immer wieder auf diese Themen referiert, wobei

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bemerkenswert ist, dass diese nicht nur in tschechischsprachigen Texten, sondern auch in der deutschsprachigen Literatur eine bedeutende Rolle spielen. Es handelt sich also einerseits um eine patriotische Erinnerungskultur, andererseits wird der Stadt als Schauplatz scharfer Auseinandersetzungen auch eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben. Dabei steht das Motiv des Kampfes in der Darstellung von Prag als einer polemischen Stadt in einem engen Zusammenhang mit dem Motiv des Todes. Prag kann somit in einen Kontext von Städten wie zum Beispiel Brügge oder Venedig eingeordnet werden, die um die Jahrhundertwende als „tote Städte“ in die Literaturgeschichte eingegangen sind.157 Nach Anbruch der technischen Zivilisation versank so manche historische Stadt in einen tiefen Schlaf, verschloß sich vor der Welt und begann ihr zweites Leben. So entstand im 19. Jahrhundert der Mythos der ‚toten Städte‘, der Mythos eines Venedig, Brügge, Toledo, Ravenna, Petersburg und in gewissem Sinne auch Prags. […] Mitte des vorigen Jahrhunderts war Prag tatsächlich eine verlorene Stadt, eher Trugbild als lebendige Wirklichkeit. Über Prag wurde schon lange in Wien entschieden, Prag schien nur von seinem einstigen Ruhm zu leben. Trotzdem sind unter der Oberfläche bereits die neuen Kräfte der nationalen Wiedergeburt am Werk, der mit der Zukunft des Volkes verbundene Mythos überwindet den Mythos einer ‚toten Stadt‘.158 Anders als die hier genannten Stadtnarrative ist Prag nicht unbedingt als eine tote Stadt zu verstehen. Vielmehr steht der Moment der Bedrohung und des Verfalls im Vordergrund. Der Tod ist in der Stadt gegenwärtig in Form von Krieg und Armut und steht in einem engen Zusammenhang mit dem Schicksal des tschechischen Volkes. Prag wird so zu einem traditionellen Schauplatz der Unruhen bzw. widerstreitender Kräfte, die in der Mythotopologie der Stadt deutliche Spuren hinterlassen. 157 Vgl. beispielsweise Kroutvor, Josef: Kafkas Stadt? Prag im Zyklus der toten Städte. In: Kafka und Prag. Colloquium im Goethe-Institut Prag, 24.-27.November 1992. Hrsg. von Krolop, Kurt; Zimmermann, Hans Dieter. Berlin; New York 1994. S. 83-86 oder auch bei Fritz, Susanne: Die Entstehung des ‚Prager Textes‘. 158 Kroutvor, Josef: Kafkas Stadt? S. 83.

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2.1 „Patriotische Erinnerungskultur“ 2.1.1 Matička Praha und das Bild einer toten Stadt Vymřelé však stojí celé město – jako pustá hrobka leží Praha.159 [K.H. Mácha]

Die Entstehung der tschechischen desillusionierten patriotischen Romane an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und die spezifischen Zusammenhänge mit dem damaligen politischen Zeitgeschehen wurden im Abschnitt Zur Entstehung eines literarischen Mythos im zeitgeschichtlichen Kontext der Jahrhundertwende bereits hergeleitet. Die Darstellung der Stadt ist in diesen Texten geprägt von einer schwermütigen Todessymbolik, die mit der Desillusionierung des Helden einhergeht. Diese Stimmung wird häufig evoziert durch das Schicksal des tschechischen Volkes im Kampf um seine Unabhängigkeit und die damit in Zusammenhang stehenden historischen Schlachten und Ereignisse. Prag ist dabei das historische Zentrum der identitätsstiftenden Geschichte des tschechischen Volkes und wird in diesem Zusammenhang in der Literatur häufig als dessen Wiege verstanden. Dementsprechend hat Prag den Charakter einer „Mutterstadt“ und wird in künstlerischen Darstellungen häufig mit Weiblichkeit assoziiert. Dies ist zum einen auf die mythische Stadtgründerin Libuše zurückzuführen, die dem böhmischen Volk eine große und ruhmreiche Stadt prophezeite. Weiterhin ist die Stadt im Tschechischen bereits dem Genus nach feminin – „ta Praha“, was eine Versinnbildlichung des Weiblichen naheliegend macht. So wird die Stadt im Tschechischen auch „Matička Praha“ (Mütterchen Prag) oder auch „Matka měst“ (Mutter der Städte)160 genannt. Oskar Wiener hingegen vergleicht die Anziehung seiner Heimatstadt nicht mit der Liebe zu einer Mutter, vielmehr erscheint sie ihm wie eine leidenschaftliche Liebe zu einer Femme fatale: 159 Mácha, Karel Hynek: Sen o Praze [Traum von Prag]. In: Ders.: Spisy Karla Hynka Máchy. Básně rozmanité. [Die Schriften Karel Hynek Máchas. Verschiedene Gedichte]. Band 2. Prag 1907. S. 120. Dt.: Doch ausgestorben ist die ganze Stadt – wie ein verlassenes Grab liegt Prag da. 160 „Matka měst“ ist eine wörtliche Übersetzung vom altgriechischen „Metropolis“ (Mutterstadt).

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Ich liebe Prag, wie man nur seine Heimat lieben kann. Aber diese Hingabe ist eine schmerzensreiche Neigung. Sie gleicht der Leidenschaft zu einer bedrückend schönen Frau, die Launen hat. Wer ihr einmal in die tiefen, geheimnisvollen Augen sah, bleibt für sein ferneres Leben der Magierin untertan.161 Die Allegorisierung der Stadt als Frau hat eine christliche Tradition (so z. B. die „Hure Babylon“) und wird in den Künsten häufig stereotyp gebraucht. So geht der Slawist Georg Escher in seinem Artikel Prager Femmes Fatales – Stadt, Geschlecht, Identität (2007) diesem literarischen Motiv auf den Grund: Das Bild der Stadt als Verführerin ist dabei nur ein prominentes Beispiel aus einer ganzen Reihe weiblich konnotierter Stadt-Topoi. Die Stadt als Ort und Sinnbild eines ambivalenten Zivilisierungsprozesses wird auffallend oft durch weibliche Figuren personifiziert – Göttin, Hure und Mutter sind dabei die häufigsten Typen.162 Bereits im 19. Jahrhundert finden sich verschiedene vornehmlich lyrische Texte, in denen Prag als allegorisierte Frauen- oder Mutterfigur dargestellt wird, so zum Beispiel in Karel Hynek Máchas patriotischem Prosagedicht Návrat (Rückkehr, 1834) oder in Pohled na Prahu (Blick auf Prag, 1837) von Josef Krasoslav Chmelenský. In Návrat wendet sich das lyrische Ich in einer Apostrophe an die Stadt, an das steinerne Herz Böhmens und die unglückliche Mutter des tschechischen Volkes: „Praho! Praho! ty mé vlasti srdce kamenné!“ (Prag! Prag! du meiner Heimat steinernes Herz!). 163 Beklagt wird die Versklavung und das Leid der einstig freien und unabhängigen Stadt. Prag wird zu einem Monument der ruhmreichen Geschichte und der Vergangenheit des tschechischen Volkes, das für immer verloren scheint. Immer wieder wird die Stadt angerufen: „Vrať, o vrať se!“ 164 (Kehr zurück, oh kehr doch zurück!). Das lyrische Ich bedauert den Tod unzähliger „Söhne“ und wirft Prag 161 Wiener, Oskar: Deutsche Dichter aus Prag. S. 5. 162 Escher, Georg: Prager Femmes Fatales – Stadt, Geschlecht, Identität. 2007. S. 1. http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/GEscher1/ (zuletzt besucht am 08.03.2017) 163 Mácha, Karel Hynek: Návrat [Rückkehr] In: Dílo Karla Hynka Máchy. Zvazek druhý. Próza [Das Werk Karel Hynek Máchas. Zweiter Band. Prosa]. Prag 1949. S. 177-181, hier S. 177. 164 Mácha, Karel Hynek: Návrat. S. 177.

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vor, dass es Fremde beherberge, während es sich gegenüber dem eigenen Volk stiefmütterlich verhalte: století přešla nad tebou provázejícího tě již od kolébky tvé času, a století snad ještě přejdou, nežli v rakev tě zchvátí ten samý mnohomohoucí čas, a bez outrpnosti chováš v lůnu svém s nouzí, s bídou, s zoufalostí zápasící syny své; bez ohledu, bez spravedlnosti tamto odrodilci nesmírné přiděluješ bohatství, co zatím věrný syn tvůj hladem umírá; a tak vždy stejným, bezcitným biješ rázem i nade hrobem časem umírajících synů svých, až i tebe v rakev zchvátí ten samý mnohomohoucí čas. 165 Prag ist die schwermütige, unglückliche Mutterfigur des verlorenen tschechischen Volkes, für das keine Hoffnung mehr besteht. In einer Wehklage bringt das lyrische Ich seine Desillusion, Resignation und seinen Schmerz zum Ausdruck. Ganz deutlich wird dabei die Ambivalenz der Gefühlslage: Es identifiziert sich mit seinem Heimatland und fühlt sich eins mit seiner unglückseligen Mutter (nešťastná matka), doch empfindet es diese Gefühle als einseitig und vergeblich: Nešťastná zemi, hrob mne s tebou sloučí, a nový opět v změněné na tebe mne vyvede postavě život; já s tebou, v tobě, na tobě žiji, já s tebou a v tobě cítím, jako ty ve mně, a přece jako bys nevěděla, že tvor tvůj po tobě se plazící pro tebe si zoufá; – nešťastná zemi, nešťastná matko! ty hluboko cítíš žal nesmírný tak nesčíslných tvorů svých, a přec nevidíš konec žádný, vysvobození žádné; náš jednotlivých tvorů jednotlivý jest žel, lůno tvé nám vrátí poklid, tvůj všeobecný nezná ukončení žádného.166 165 Ebd. S. 178. Dt.: Jahrhunderte der Zeit sind über dir vergangen, die dich schon von deiner Wiege an begleiteten, und Jahrhunderte werden vielleicht noch vergehen, bis dass dich die selbige allvermögende Zeit in den Sarg nieder-zwingt, und ohne Barmherzigkeit wiegst du in deinem Schoß mit Elend, mit Kummer, mit Verzweiflung deine kämpfenden Söhne; ohne Rücksicht, ohne Gerechtigkeit vermehrst du dem Abtrünnigen maßlos diesen Reichtum, während dein treuer Sohn an Hunger stirbt; und so immer gleich und gefühllos schlägst du auch jäh über dem Grabe deiner allmählich aussterbenden Söhne, bis auch dich die selbige allvermögende Zeit in den Sarg niederzwingt. 166 Ebd. S. 181. Dt.: Unheilvolles Land, das Grab vereinigt mich mit dir, und das Leben führt mich in veränderter Gestalt wiederum erneut hinauf auf dich; ich lebe mit dir, in dir, auf dir, ich fühle mit dir und in dir, so wie du in mir, und dennoch, als würdest du nicht wissen, dass dein auf dir kriechendes Geschöpf an dir verzweifelt; – unheilvolles Land, unheilvolle Mutter! Tief fühlst du die unermessliche Wehmut deiner so unzähligen Geschöpfe, und

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Abb. 5: Oliva, Viktor: Goldenes Prag, Gemälde, 1899.167

Das lyrische Ich steht stellvertretend für das tschechische Volk, das unheilvolle Land Böhmen gleicht einem Grab, und es herrscht eine allumfassende Ausweglosigkeit. Für das sterbliche Menschengeschlecht gibt es keine Hoffnung auf Erlösung: es wird immer wieder auf diese Erde geboren werden, auf der Wehmut, Elend, Kummer und Verzweiflung herrschen, bis auch die allvermögende Zeit die Stadt Prag in den Sarg niederzwingen wird. Eine scheinbar andersartige Frauenfigur erscheint in Pohled na Prahu (Blick auf Prag, 1837) von Josef Krasoslav Chmelenský: Prag wird als die anmutigste aller Jungfrauen apostrophiert, von unvergänglicher Schönheit und von tausenden Liebhabern verehrt:

doch siehst du kein Ende, keine Erlösung; wir einzelnen Geschöpfe haben jeder unsere eigene Wehmut, dein Schoß gibt uns den Frieden wieder, deine allumfassende Wehmut kennt kein Ende. 167 Die Abbildung befindet sich in der tschechischen Zeitschrift Zlatá Praha für Belletristik; Ročník XVII, číslo I [Jahrgang XVII, Nummer I] Erscheinungsdatum 10.11.1988, S. 1.

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Pohled na Prahu Praho panno nejsličnější mezi svými družkami, město v světě nejslavnější plesy, žely, touhami. Nový mžikem každým tobě vyskytá se milenec; ženichem tvým býti sobě žádá každý vlastenec.168 Doch auch hier ist wieder von der „Wehmut“ die Rede, die der Stadt trotz allen Glanzes anhaftet. Während Prag in Návrat als stiefmütterliche und unheilvolle Frauengestalt dargestellt wird, ist die Stadt in Pohled na Prahu die begehrte Jungfrau. Gerade diese Allegorisierung als einer jungen begehrenswerten, gleichzeitig aber kalten und ominösen Frau oder Liebhaberin erscheint auch in den späteren literarischen Darstellungen. So wird die Stadt Prag zum Beispiel in Vilém Mrštíks Santa Lucia (1897)169 als ersehnte Geliebte und als unerreichbare Verführerin charakterisiert. Nach Georg Escher schafft Prag so „einen Topos der nationalen Identifikation und übersetzt die patriotische Vaterlandsliebe in die Sprache der männlichen Liebe zu den Frauen.“170 Die Schriftsteller bzw. deren Figuren identifizieren sich mit dem Schicksal der Stadt und dem tschechischen Volk und empfinden gegenüber Prag eine Verbundenheit oder Zuneigung, die der Liebe zu einer Frau gleichkommt oder zumindest dementsprechend illustriert wird.

168 Chmelenský, Josef Krasoslav: Pohled na Prahu [Blick auf Prag]. In: Praha našich snů. Čtení o Praze podle českého písemnictví [Das Prag unserer Träume. Lektüre über Prag anhand der tschechischen Literatur]. Hrsg. von Květoslav Neradová. Prag 1980. S. 71. Dt.: Blick auf Prag: Prag, du anmutigste aller Jungfrauen/ unter ihren Gefährtinnen/ die ruhmreichste Stadt auf der ganzen Welt/ mit Bällen, Wehmut, Sehnsüchten/ Mit jedem Augenblick/ offenbart sich Dir ein neuer Liebhaber/ Dein Bräutigam zu sein/ begehrt ein jeder Patriot. 169 Vgl. hierzu Kapitel Tableau des Selbstverlustes: Der nächtliche Spaziergänger und die dunkle Seite der Stadt. 170 Escher, Georg: Prager Femmes Fatales. S. 2.

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Diese patriotische Vaterlandsliebe steht im Zentrum der oben genannten romantischen Lyrik wie auch der desillusionierten Romane der Jahrhundertwende und konzentriert sich auf die Stadt Prag als Wiege des tschechischen Volkes. In Gotická duše (Die gotische Seele, 1905) von Jiří Karásek ze Lvovic beispielsweise wird Prag immer wieder in Verbindung mit dem Volk („národ“) genannt. Es sind die Menschen, die die Stadt beleben, und so setzt Karásek sie in gewisser Weise mit dem Volk gleich: „Naposled oživuje Praha živlem, jenž má něco podobného s národem dávno vymřelým, jenž v ní kdysi obýval...“171 Die Erzählung Gotická duše zeichnet sich durch eine starke Todessymbolik aus und ist dementsprechend der Dekadenzdichtung zuzuordnen. Die zentrale Figur Vilém ist der letzte Nachkomme einer aristokratischen Familie, welche größtenteils dem Wahnsinn erlegen ist. Mit seiner gotischen Seele sucht er in der gegenwärtigen Welt am Ende des 19. Jahrhunderts in den Kirchen der Stadt Prag nach der Stimmung des Mittelalters und verbringt seine Jugend in Einsamkeit und Gebeten. Prošel celou Prahou, všemi jejími kostely. Měsíce trvalo, kdy nepromluvil slova se živou bytostí. Hovořil jen s mrtvými věcmi chrámů, kaplí, hrobek, ambitů. Cítil, že se ocitla jeho duše v očarovaném jich kruhu. Spojoval život s nimi. Navazoval jej k jich mystickému vlivu.172 Auf der Suche nach der Vergangenheit verliert er sich in Wahnvorstellungen und endet schließlich in Hoffnungslosigkeit, Melancholie und Geisteskrankheit. Die Erzählperspektive ist nah an der Innensicht des Helden, seine Gedanken, Gefühle und Zweifel kreisen diskursiv um sein Dasein als Adliger, als Tscheche, als Einzelner, der sich unter den Menschen fremd und einsam fühlt. Dabei wechselt der Duktus zwischen personaler Erzählperspektive und

171 Karásek ze Lvovic, Jíři: Gotická duše. S. 35. Dt.: Das letzte Mal wurde Prag mit einem Element zum Leben erweckt, das irgendeine Ähnlichkeit mit einem lange ausgestorbenen Volk hat, welches irgendwann diese Stadt bewohnte... 172 Karásek ze Lvovic, Jiří: Gotická duše. S. 15. Dt.: Er durchstreifte ganz Prag, mit all seinen Kirchen. Monatelang sprach er kein Wort mit einem lebendigen Geschöpf. Er sprach nur mit den toten Dingen der Kirchen, Kapellen, Grabstätten und der Kreuzgänge. Er fühlte, dass seine Seele in den Zauber ihrer Kreise geriet. Er vereinte sein Leben mit ihnen. Er ver band sich mit ihrem mystischen Einfluss.

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Ich-Erzähler, zwischen innerem Monolog und Bewusstseinsstrom.173 In einem Wechselspiel von Lebenslust und -überdruss, welches für die Dekadenzdichtung charakteristisch ist, verliert sich der Held in Melancholie und Selbstzweifeln, alternierend mit Passagen, in denen in ihm flüchtig Lebenslust aufflammt.174 Die Darstellung der Stadt Prag korrespondiert mit den düsteren Gefühlen des Helden. Eines Abends geht Vilém auf dem Petřín spazieren und blickt über die Stadt: Zabloudil na Petřín a díval se na město. Neměl z něho než smíšený dojem neurčitého lomozícího prostoru. Veliká únava stoupala ze všeho. Připadalo mu vše tak marné, zatímco splývalo barevné v bezbarevném, jasné v tmavém, světla v stínech: dlouho stál, bez myšlenky, se zrakem strnulým...175 Das Stadtpanorama wird zu einem Schwellenraum optischer Gegensätze, die in der untergehenden Sonne ineinandergreifen und verschmelzen. Zapadající paprsek slunce rozvířil ve vzduchu zlatý poprašek. A pak zhasínal, a soumrak zastíral tvary. […] Krvavou záplavou se zardělo nebe. Veliká fantasmagorie zapálených kostelův a vybíjených klášterů vstávala před zraky. Na rudém nebi se rýsoval gigantický černý kalich. Vyšehrad klesal. Zdi Hradčan se řítily. Malá Strana mizela v plamenech. Kartouzský klášter na Újezdě se halil do dýmu požáru. A celá země se chvěla jako zemětřesením. A zase Praha se uklidňovala.176 173 Vgl ebd. beispielsweise S. 44 ff. 174 Vgl ebd. beispielsweise S. 59 ff. 175 Ebd. S. 38. Dt.: Er verirrte sich auf den Petřín und schaute über die Stadt. Er hatte von ihr lediglich den willkürlichen Eindruck eines unbestimmten lärmenden Raumes. Eine große Müdigkeit stieg aus allem empor. Ihm kam alles so vergänglich vor, während Farbiges mit Farblosem zusammenfloss, Helligkeit in Dunkelheit, Licht in Schatten: lange stand er, gedankenlos, mit starrem Blick... 176 Ebd. S. 38 ff. Dt.: Der untergehende Strahl der Sonne wirbelte in der Luft eine goldene Staubschicht auf. Und dann erlosch er und die Dämmerung verschleierte die Formen. […] Ein blutiger Schwall errötete den Himmel. Eine große Phantasmagorie entflammter Kirchen und zerschlagener Klöster erhob sich vor dem Blick. Am roten Himmel zeichnete sich ein riesiger schwarzer Kelch ab. Der Vyšehrad senkte sich. Die Mauern der Prager Burg stürzten zusammen. Die Kleinseite erlosch in Flammen. Das Kartouzský Kloster auf der Újezd hüllte sich in den Rauch des Brandes. Und die ganze Erde erzitterte wie von einem Erdbeben. Und auf einmal beruhigte sich Prag wieder.

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Prag gleicht in der Beschreibung einem flammendem Inferno, die Stadt wirkt bedrohlich und ist für den Moment des Abendrotes dem Untergang geweiht. Synästhetisch wird dieses Bild durch das Läuten der Glocken ergänzt: A teď se rozezvučely nad Prahou večerní zvony. Taková tíže, temně kovová a tragická, padala z jich souzvuku. Vzduch se naplnil jako nenadálou zmrtvělvostí. Dusivé stíny visely zadřímlé nad střechami. Ani křídlo zpožděného ptáka se nehnulo ve vzduchu. Všechno jako by ustrnulo náhle a naslouchalo hovořícím zvonům. A kovové údery se prolamovaly okny zvonic a věží. Jich ohlasy se rozlévaly šumně, pak umdlévaly dálkou a tekly váhavě střechami města. A jako ve zpomínce se zdálo teď zvučeti všechno, prejzy střech, nakloněné komíny, zpuchřelé rámy oken, osleplé tabulky skla, zčernalé štíty, odrolená římsoví. Praha, její minulost se rozhovořila ve zvonech, pod padajícím soumrakem...177 Vilém verliert sich in diesem Anblick und im Klang der Glocken, die in ihm Gefühle großer Schwere und Müdigkeit hervorrufen. In dieser Atmosphäre des Unterganges besinnt er sich auf die tragische Vergangenheit seines Volkes und seines Landes. Er identifiziert sich mit dem Schicksal der Stadt und verbindet damit seine persönliche Lebensgeschichte. Jedoch empfindet Vilém in Bezug auf das Dasein des tschechischen Volkes eine starke Desillusionierung, aus der im Text das Bild einer toten Stadt resultiert, deren ruhmreiche Zeiten längst vergangen sind: Slabodecha byla sentimentalita, s níž lnul tento lid k slavným purpurům minulosti a střehl koruny starých králů, dávno zetlelých! Nic nebylo jeho — než neodvratná smrt. […] Podivný cit se ho zmocnil: jako by vymřelo všechno již kolem, a jako 177 Ebd. S. 39. Und nun erklangen die abendlichen Glocken über Prag. Solch eine Schwere, matt metallisch und tragisch, fiel von ihrem Zusammenklang hernieder. Die Luft füllte sich mit einer ungeahnten Erstarrung. Erstickende Schatten hingen schlummernd über den Dächern. Nicht einmal der Flügel des späten Vogels bewegte sich in der Luft. Alles schien plötzlich verstummt und lauschte den sprechenden Glocken. Und die metallenen Schläge brachen sich in den Fenstern der Glockentürme und in den Turmspitzen. Ihr Widerhall ergoss sich rauschend, dann ermüdeten sie in der Weite und flossen zögerlich über die Dächer der Stadt. Und wie in der Erinnerung schien jetzt alles zu erschallen, die Klosterziegeldächer, schiefe Schornsteine, morsche Fensterrahmen, erblindete Glasscheiben, schwarz gewordene Giebel, abgebröckelte Gesimse. Prag begann in der einbrechenden Dämmerung mit seinen Glocken seine Vergangenheit zu erzählen...

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by byl též již částkou toho mrtva. Ale smrtí jako by bylo též vyrovnáno všechno. Šel slavnostně dlažbou mrtvé Prahy. Zdálo se mu, že tu již sama věčnost chodí po prachu zetlení.178 Der Stadtraum wird dabei zu einem Gedächtnisspeicher für die Vergangenheit seines Volkes und auch für Viléms eigene Geschichte. Ähnlich wie in Máchas Návrat kann Prag in Gotická duše für das tschechische Volk metaphorisch als Wiege sowie gleichzeitig als Grab verstanden werden; die Stadt wird als Ursprung und Ausgang von allem dargestellt. Sie wird in Gotická duše zwar nicht als Mutterfigur allegorisiert, jedoch gemahnt die existentielle Verbindung von Stadt und Volk sowie des Protagonisten mit seinem Heimatort an eine geistige Mutterschaft oder an die enge Bindung einer Mutter-KindBeziehung: Byl dědicem mrtvých. A všichni, kdo tu žili, byli dědici minulosti. Měli zraky, hlasy, ruce dalekých mrtvých. A měli jich žádosti, vášně. A dějiny celé této země nebyly než stálým oživováním téhož pokolení, jež pracovalo o tajemném dílu, odevzdávajíc si je navzájem, aniž se poštěstilo komu přehlédnouti celek...179 Der Einzelne ist mit der Geschichte der Stadt und des Volkes untrennbar verbunden, er wurde in sie als Erbe der Vergangenheit hineingeboren. Auch wenn sich Vilém dem tschechischen Volk eigentlich geistig nicht zugehörig

178 Ebd. S. 35. Dt.: Schwachsinnig war die Sentimentalität, mit der sich die Menschen an die ruhmreiche, purpurne Vergangenheit klammerten und die Krone der alten, längst vermoderten Könige wahrten! Nichts hatten sie – nichts als den unvermeidlichen Tod. […] Ein seltsames Gefühl bemächtigte sich seiner: als ob alles um ihn herum schon gestorben wäre, und als ob auch er nur mehr Teil dieser Leblosigkeit wäre. Aber mit dem Tod erschien auch alles ausgeglichen. Er ging feierlich über das Pflaster der toten Stadt Prag. Es schien ihm, als würde hier bereits einzig die Ewigkeit über den vermoderten Staub gehen. 179 Ebd. S. 39 f. Dt.: Er war ein Erbe der Toten. Und alle, die hier lebten, waren Erben der Vergangenheit. Sie hatten die Sehkraft, die Stimmen und Hände von lange Verstorbenen. Und sie hatten ihrer Sehnsüchte, ihre Leidenschaften. Und die Geschichte dieses ganzen Landes war nichts als eine ständige Wiederholung dieses Geschlechts, welches an einem geheimnisvollen Werk arbeitete, das sie sich gegenseitig weitergaben, ohne dass es jemandem gelungen wäre, das Ganze zu überblicken...

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fühlt,180 erinnern ihn die Prager Glockenschläge an die traurige und von Niederlagen durchzogene Vergangenheit seines Landes: A zvony zněly dále. Mluvily o zašlé slávě této země, o svářících se jejích knížatech a útocích nepřátel na zdi města. Mluvily o zpupném měšťanstvu a rozmařilém kněžstvu, o slaboších králech a zrádných vasalech.181 So wie die untergehende Sonne Prag jeden Abend in ein flammendes Inferno taucht, brachen auch die Kämpfe der Geschichte über die Stadt herein. Prag überdauerte die Schlachten und Katastrophen und erholte sich immer wieder und füllte sich mit neuem Leben, jedoch nur für kurze Zeit, bis die nächste Invasion herannahte: Vztyčovaly se zdi chrámů. Hradčany naplňovaly se hlučným životem dvora. A zase nové pohromy se valily, jako hrůzou obtěžkaná mračna. Strahovská brána viděla prchající z bojiště vojska, a Staroměstské náměstí pilo krev insurgentů. Cizina se vedrala do celé země a pordousila její život.182 Diese Erinnerungen an die tragische Vergangenheit seines Volkes rufen bei Vilém schließlich patriotische Gefühle der Zugehörigkeit hervor: „Toužil vyžiti své češství. Ale všechny cesty, na něž se vydal dosud, vedly jej od nacionalismu.“183 So stellt der Text auch einen Bezug zur gegenwärtigen Situa180 Vgl. ebd. S. 34: „Hledal vysvětlení své nemohoucnosti ve svém češství. Je vůbec český jeho duševní svět? Myslí německy a francouzsky. Zajímá se o Francouze a Němce. Cítí, dýchá a žije germánsky a galsky.“ [Dt.: Er suchte die Erklärung seiner Ohnmacht in seinem Tschechentum. Ist seine Geisteswelt überhaupt tschechisch? Er denkt auf deutsch und französisch. Er interessiert sich für Franzosen und Deutsche. Er fühlt, atmet und lebt germanisch und gallisch.] 181 Ebd. S. 40. Und die Glocken klangen weiter. Sie sprachen vom vergangenen Ruhm dieses Landes, von seinen streitenden Fürsten und den feindlichen Angriffen an den Stadtmauern. Sie sprachen vom Hochmut der Bürger und vom verschwenderischen Priestertum, von schwächlichen Königen und verräterischen Vasallen. 182 Ebd. S. 40. Dt.: Die Mauern des Domes richteten sich wieder auf. Der Hradschin füllte sich mit dem lärmendem Leben des Hofes. Und wieder drohten neue Katastrophen, wie vom Grauem geschwängerte Wolken. Das Strahover Tor sah die Truppen vom Schlachtfeld flüchten, und der Altstädter Ring trank das Blut der Aufständischen. Die Fremde drängte sich über das ganze Land und erwürgte ihr Leben. 183 Ebd. S. 38. Dt.: Er sehnte sich nach einem Ausleben seines Tschechentums. Aber alle

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tion her, zu den nationalistischen Bestandskämpfen, die um 1900 in Prag herrschten: Čím více pozbýval teď český národ a češství samo v jeho myšlenkách obrysů, čím se stávalo vše legendárnějším, tím slavnostnější se mu zdálo toto nevyplněné poslání. Kleknouti by tu měl a zaplakati každý. Hloubka mysticismu, jež z toho lidu vála!184 In den patriotischen desillusionierten Texten besteht noch immer das PragBild der tschechischen Romantik wie etwa bei Mácha. Die Desillusionierung des tschechischen Volkes, die aus jahrhundertelangen Kämpfen um seine Freiheit und nationale Unabhängigkeit resultiert, findet offenbar in diesem Genre um die Jahrhundertwende seinen Höhepunkt. Diese Relation zwischen der Niedergeschlagenheit sowie dem Selbstverständnis des Protagonisten und dem Bild einer toten Stadt evoziert auch Miloš Martens in seiner kurzen Erzählung Nad městem (Über der Stadt, 1917), die er kurz vor seinem Tode veröffentlichte. Aus einer ähnlichen Perspektive wie Karásek beschreibt er den Blick von Nordwesten über die Stadt: Die beiden Figuren Allan und Michal blicken von der Prager Burg (Hradčany) aus auf das Panorama in der Abenddämmerung und führen dabei einen Dialog über das Selbstverständnis des tschechischen Volkes und die Bedeutung der tschechischen Geschichte. Michal ist auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, in der Hoffnung die Antwort in Prag zu finden: „A zase na ně pohlížím a táži se, jaké neobjevené tajemství v něm zanechám, nepochopenou možnost, provždy ztracenou.“185 Dies ist charakteristisch für die Protagonist:innen der PragLiteratur: Auf der Suche nach sich selbst projizieren sie etwas Geheimnisvolles in die Stadt. Prag trägt ein unergründliches Geheimnis in sich, welches die Wege, auf denen er bislang einherging, führten ihn weg vom Nationalismus. 184 Ebd. S. 36. Dt.: Je mehr jetzt das tschechische Volk erlosch, und das Tschechentum nur mehr Umrisse in seinen Gedanken waren, je mehr alles legendärer wurde, umso ruhmreicher kam ihm diese unerfüllte Mission vor. Jeder sollte sich hier niederknien und wehklagen. Über die Tiefe des Mystizismus, die aus diesem Volk wehte! 185 Marten, Miloš: Nad městem. Prag 1917 (2. Ausgabe). S. 9. Dt.: Und wieder blicke ich auf die Stadt und frage mich, welches unentdeckte Geheimnis ich in ihr hinterlasse, eine unbe greifbare, für immer verlorene Möglichkeit.

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Figuren zu lüften versuchen, in der Hoffnung darauf, für ihr eigenes Dasein einen tieferen Sinn zu finden. Ale teď je to hukot města z dálky na přechodu dne a noci, hromadný šum davu, uvolněného z pout denní práce, na několik hodin svobodného náhle a zmateného svou svobodou, která jej staví bezradna mezi dobré a zlé, pokoj a hřích, v něž by ji obrátil. A za nedlouho splanou v černý křišťál noci světla, steré oči, vzhlížející nejistě.186 Michal ist verzweifelt, er sieht keinen Lebenssinn und fühlt nur noch Beklemmung und Tod [„jen úzkost a mrtvo“187]. Allan sagt ihm, er habe ein krankes Herz: „Je ve vás smutek, jako rouhání. [...] Nejen ve vás... jste zde všichni smutni, oddechnuti smutkem jako jedovatou parou propasti, zející kdesi, zdá se, že více ve vás, nežli mimo vás!“188 Nicht nur Michal ist von dieser Traurigkeit erfüllt, sondern alle in Prag sind traurig. Doch dieser erwidert Allan, dass er ein Fremder sei und den Fluch nicht nachempfinden könne, der auf dem tschechischen Volk liege: „Jste cizinec. Necítíte kletby, která na nás leží.“189 Er bezeichnet Prag als Stadt der Abenteurer, die von allen Seiten der Welt gekommen wären und sie ausgezehrt hätten. Während Michal unter der tragischen Vergangenheit seines Volkes leidet, vertritt Allan die Meinung, dass die Katastrophen nicht nur tragisch wären, sondern das Volk auch weitergebracht und zu dem gemacht hätten, was es heute sei: „Zanechali vám právě toto město, Prahu jak zkamenělé srdce prudkých, krvavých staletí, která se vybila

186 Marten, Miloš: Nad městem. S. 8. Dt.: Aber jetzt ist es der Lärm der Stadt aus der Ferne am Übergang zwischen Tag und Nacht, ein massenhaftes Rauschen der Menschenmenge, entledigt von den Fesseln der täglichen Arbeit, für einige Stunden plötzlich befreit und verwirrt ob ihrer Freiheit, die sie ratlos zwischen Gut und Böse stellt, zwischen Frieden und Sünde, in die sie sie verwandeln würde. Und nach einer allzu kurzen Zeit entflammen im schwarzen Kristall die Lichter der Nacht, hunderte Augen, unsicher heraufblickend. 187 Ebd. S. 11. Dt.: Es ist eine Traurigkeit in Ihnen, wie eine Gotteslästerung […] Nicht nur in Ihnen... Sie sind hier alle traurig, ausgeruht vom Kummer wie von einem giftigen Dampf aus dem Abgrund, irgendwo klaffend, es scheint, dass mehr davon in Ihnen als außerhalb von Ihnen. 188 Ebd. S. 11. Dt.: Eine Traurigkeit ist in Ihnen, wie eine Lästerung […] Nicht nur in Ihnen... Ihr seid hier alle traurig, ausgeruht vom Kummer wie von einem giftigen Dampf eines Abgrundes, irgendwo klaffend, es scheint, mehr in Ihnen als außerhalb von Ihnen. 189 Ebd. S. 11. Dt.: Sie sind ein Fremder, Sie fühlen nicht den Fluch, der auf uns liegt.

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nad vámi nezapomenutelně.“190 Der Kriegsschauplatz, zu dem Böhmen in der Geschichte wurde, stellt den Höhepunkt des nationalen Schicksals dar, 191 an den sich das tschechische Volk in Form eines nationalen Gedächtnisses immer wieder schmerzvoll erinnert: „nemůžeme, nechceme popříti minulost, v níž – buď jak buď – nejčistší plameny síly i bolesti vyrazily z naší duše!“192 Prag wird so zu einem Erinnerungsraum, der für das tschechische Volk einen traumatischen Ort des ewigen Kämpfens und Scheiterns beschreibt: Mit Aleida Assmann sind Gedenkorte solche, „an denen Vorbildliches geleistet wird oder exemplarisch gelitten wurde. Mit Blut geschriebene Einträge wie Verfolgung, Demütigung, Niederlage und Tod haben im mythischen, nationalen und historischen Gedächtnis einen prominenten Stellenwert.“193 Die Allegorisierung der Stadt ist in diesem Zusammenhang gewissermaßen die Verbildlichung ihres genius loci und so wird Prag als Wiege des tschechischen Volkes zu einem Topos kollektiver Identitätsstiftung. Bemerkenswert ist hierbei, dass das kollektive Gedächtnis, welches sich in den desillusionierten patriotischen Texten widerspiegelt, häufig auf eine historische, weit zurückliegende Vergangenheit konzentriert ist, während nicht etwa der Fortschritt eines „tschechischen Prags“ thematisiert wird, wie es etwa der Schriftsteller Emanuel Frynta in seinen Erinnerungen an Franz Kafka beschreibt: Das Selbstbewußtsein des tschechischen Prags stützte sich natürlich nicht nur auf die lange ruhmreiche Geschichte der Stadt, es hatte vor allem auch die jüngsten wirtschaftlichen und kulturellen Erfolge vor Augen, denn neue Vorstädte mit Fabriken und Werkstätten waren entstanden und neue Brücken, Schulen, Theater errichtet worden. In all dem sahen die Tschechen ihr Werk und den Beweis ihrer Kraft. Nicht zu Unrecht, denn das tschechische Prag wuchs ohne Unterstützung, ja gegen den Willen Wiens, denn es hatte eine Provinzstadt mit einer staat190 Ebd. S. 13. Dt.: Sie haben Ihnen gerade diese Stadt hinterlassen, Prag als das versteinerte Herz heftiger, blutiger Jahrhunderte, die sich über Ihnen unvergesslich entladen haben. 191 Vgl. ebd. S. 15: „Býti bojištěm, jakým byly Čechy, může znamenati vrcholný bod národní sudby...“ 192 Ebd. S. 24 f. Dt.: wir können und wir wollen die Vergangenheit nicht verneinen, in der – wie dem auch sei – die reinsten Flammen der Kraft und des Schmerzes unserer Seele durchdringen. 193 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. S. 328.

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lich subventionierten österreichisch-deutschen Oberschicht bleiben sollen. In dem Bewußtsein der Tschechen allerdings war Prag niemals, selbst nicht in Zeiten der schwersten Unterdrückung und Krise, eine Provinzstadt gewesen, geschweige denn in dem Augenblick, als das Ende der Monarchie unabwendbar bevorstand.194 Entgegen dieser Einschätzung Fryntas wird Prag in der tschechischen Literatur an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht unter dem Aspekt einer sich zur Metropole entwickelnden Großstadt dargestellt. Offenbar fokussiert sich das Prager kollektive Gedächtnis in diesen Jahren weiterhin auf die Identifikation mit dem tragischen Schicksal der Stadt, anstatt die optimistischen Entwicklungen wahrzunehmen. Aus den Texten lässt sich keine Hoffnung auf eine fortschrittliche Zukunft herauslesen – ganz im Gegenteil wenden sie sich in eine bedauernswerte Vergangenheit, aus der die gegenwärtige Resignation und Desillusion resultiert. Es herrschen Wehmut und Verzweiflung und der Tod ist in der Darstellung der Stadt omnipräsent. In den Texten herrscht eine starke Todessymbolik und die Prag-Bilder illustrieren häufig eine apokalyptische Untergangsstimmung. Die Ambivalenz dieser Darstellungen speist sich wiederum aus der Erinnerung an die ehemals ruhmreiche und goldene Mutterstadt, die kontrastiv zu dem Bild einer nunmehr toten Stadt steht. So ist die Mythotopologie Prags geprägt von einer „patriotischen Erinnerungskultur“, die den Stadtraum immer wieder als historischen Kriegsschauplatz belebt. Sie gemahnt an den Kampf des Volkes um seine Unabhängigkeit und die damit einhergehende Wehmut, Desillusion und Verzweiflung, welche dadurch regelrecht in das Stadtbild eingeschrieben werden.

194 Frynta, Emanuel: Franz Kafka lebte in Prag. S. 38.

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2.1.2 Nationalitätenkämpfe und nationale Stereotypisierung in den Studentenromanen von Karl Hans Strobl Jeder und jedes Volk will seine eigene Geschichte durch seine inneren Kräfte 195 [Karl Hans Strobl]

Auch in der deutschsprachigen Prag-Literatur der Jahrhundertwende macht sich eine solche „Patriotische Erinnerungskultur“ bemerkbar, so zum Beispiel in den Studentenromanen196 bzw. -geschichten von Karl Hans Strobl.197 Auch hier wird mit der Darstellung der Nationalkontroversen zwischen der tschechischen und der deutschen Bevölkerung im Prag der Jahrhundertwende und den damit einhergehenden Stereotypen das Bild einer düsteren und kämpferischen Stadt evoziert. Folgendermaßen beginnt etwa Strobls Prager Studentengeschichte Die Vaclavbude (1902): Es war zu Beginn des Wintersemesters 1897. […] Prag war ein heißer Boden für deutsche Studenten. Es lag irgendetwas gewitterschwül und unheimlich in der Luft. In der Seele der Stadt war es wie ein hämisches Trotzen. Ganz tief, zu unterst lag es wie versteckt, aus gelben Augen tierisch blinzelnd. Binder empfand diese heimliche Bosheit unangenehm und drückend. Wenn er am Ufer der Moldau stand und hinüber sah, dann schienen ihm dichte, blaue Nebel über dem Berghang und der Kleinseite am andern Ufer zu liegen, dick und schwer wie Tücher, mitten im hellsten Sonnenschein. Und am Abend glänzten die langen Fensterreihen des Hradschin wie Feuersignale. Das ‚Bumm‘- und ‚Dienstmann‘-Schreien der Tschechen hatte nachgelassen. An seine Stelle trat ein höhnisches Grinsen, ein tückischer, überlegener Hohn.

195 Strobl, Karl Hans: Die Vaclavbude. Eine Prager Studentengeschichte. Karlsbad; Leipzig 1942. S. 98. 196 Ähnlich wie bei den desillusionierten patriotischen „Romanen“ entspricht die Zuordnung zum Genre Roman nicht immer unbedingt dem heutigen gattungskonzeptuellen Verständnis. 197 Die bekanntesten Werke Strobls sind Die Vaclavbude. Eine Prager Studentengeschichte (1902), Der Schipkapaß (1908; in späteren Auflagen Die Flamänder von Prag) und Das Wirtshaus zum König Przemysl (1913). Der Studenten-Topos im Zusammenhang mit dem Nationalitätenkonflikt findet sich weiterhin beispielsweise auch in Rainer Maria Rilkes Erzählung Die Geschwister (Zwei Prager Geschichten, 1899).

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Abb. 6: Postkarte zu den Badeni-Unruhen 1897 in Prag (um 1900)

Da zog man sich nur um so mehr in sich zurück, und die Verbindungen Burschenschaften und Korps lebten nur ihren eigenen Angelegenheiten.198 Die Studentenromane Strobls erfreuten sich ihrerzeit großer Beliebtheit – sie wurden mehrfach aufgelegt und als die „Erste Wirtshaus-Triologie der deutschen Literatur“199 bezeichnet. Namentlich der rasende Reporter Egon Erwin Kisch lobt in seinen Überlegungen zum „Prager Roman“ die Darstellung der Stadt im Werk Strobls. Kisch postuliert einen Roman, der die Ambivalenz der Stadt Prag herausstellt, „in der ewig der Kriegslärm tobt, alles zerstört, Schulkinder erfasst und Greise verbittert und die gerade deshalb so staunenswert eigenartig ist, so verstiegen schön, daß sie jeder lieben muß, jeder dem sie ihren Zauber erschlossen.“200 198 Strobl, Karl Hans: Die Vaclavbude. S. 9. 199 Vgl. Strobl, Karl Hans: Prager Wirtshäuser. In: Deutsche Hochschulzeitung. Berlin; Wien, Jg. 14, Folge 11/ 12, 16.1.1922. S. 3-5. 200 Vgl. Kisch, Egon Erwin: Ein Prager Roman. In: Ders.: Gesammelte Werke VIII/ 1. Mein Leben für die Zeitung 1906-1925. Journalistische Texte. Hrsg. von Bodo Uhse und Gisela

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Jedoch erscheint ihm dieser Kontrast auch in Strobls Texten zu einseitig dargestellt: Das ‚Prag Strobls‘ ist sicherlich noch nicht das ganze Prag. Mit dem Mai 1908 ist Prag für den Dichter, der promoviert nach Mähren zurückkehrt, vorbei. Aber für die anderen lebt es noch, und unendlich viel ist noch über die Zeit zu sagen, da sich der fauchende Haß aus der kalten Dezemberluft wieder in die muffigen Keller verkrochen hat, da durch die früheren wütenden Gassen freundliche Mädchen gehen.201 Zwar ist in Die Vaclavbude von der Schönheit der hunderttürmigen Stadt die Rede, allerdings tritt diese in den Hintergrund und ist nurmehr eine Fassade, die von den nationalen Kontroversen überschattet wird: Die Stadt hat etwas Heimtückisches, Bösartiges, das sie gut hinter ihrer Schönheit zu verbergen versteht. Man nennt sie eine der schönsten Städte Europas. Wenn die endlosen Fensterreihen des Hradschin in der Abendsonne funkeln, oder wenn man die engen, steilen und winkeligen Gassen der Kleinseite niedersteigt und nach allen Seiten in alte Thorbogen und Quergassen hineinsieht, oder wenn man von der uralten Landstube aus […] über die ‚hundert Türme‘ hinsieht – dann könnte man an ihre Harmlosigkeit und Liebenswürdigkeit glauben. Aber geht nur einmal abseits in die stinkigen Gassen an der Moldau auf dem Neustadtund Judenstadt-Ufer oder dort hinaus, wo die Vorstädte beginnen! Es ist wie ein heimliches Wispern in der Luft, wie ein Verabreden und Lachen über einen.202 Auch wenn Strobl diese Ambivalenz zwischen der Schönheit der Stadt und dem ewig herrschenden Kriegslärm in seinen Romanen nicht explizit herausarbeitet, schreibt er doch in Prag. Schicksal, Gestalt und Seele einer Stadt (1939) über deren Schicksalhaftigkeit, der zugleich stets die Zuschreibung des Magischen anhaften bleibt: Prag ist eine seltsame und unergründliche Stadt, der vom Schicksal eine magische Kraft verliehen worden ist. Wer dieser Stadt einmal in die Kisch. Berlin; Weimar 1983. S. 127-131, hier S. 127. 201 Vgl. Kisch, Egon Erwin: Ein Prager Roman. S. 131. 202 Strobl, Karl Hans: Die Vaclavbude. S. 80.

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Augen gesehen hat, der ist dazu verdammt, sie zu lieben […]. Aber es ist für uns eine unglückliche Liebe gewesen. Durch Jahrhunderte hat das deutsche Volk tausendfach mit seinen besten Kräften um Prag geworben, um nichts als Haß dafür zu empfangen.203 In diesem polemischen Resümee der deutschen Geschichte und Kultur in Prag kommt mit Strobls Worten wiederum die Hassliebe zum Ausdruck, die bereits weiter oben im Kapitel zur Prager deutschsprachigen Literatur genauer erläutert wurde. Vergleichbar mit der tschechischen patriotischen Literatur ist die Beschreibung der Zuneigung gegenüber der Stadt, die der unerfüllten Liebe zu einer Frau ähnelt, um die vergeblich geworben wird. Strobls PragBild ist geprägt vom Hass der tschechischen Bevölkerung gegenüber der deutschen und von einem unerfüllten Besitzanspruch an die „alte deutsche Stadt“204. Prag erscheint in seinen Studentenromanen als düster, kämpferisch, wütend und hoffnungslos, gezeichnet von den Auseinandersetzungen und dem Hass seiner Einwohner:innen. Für die deutsche Bevölkerung ist ein Leben in Prag kaum zu ertragen, und die Aufstände zwischen den Burschenschaftlern und dem „Vorstadtpöbel“205 enden mitunter sogar tödlich. „[D]iese Luft des hemmungslos-wüsten Fanatismus hat die ganze Stadt erfüllt“ 206 schreibt Egon Erwin Kisch in einer Rezension über Das Wirtshaus zum König Przemysl, die 1913 erschienene Prager Geschichte (Untertitel) von Karl Hans Strobl. Auch in diesem Text nimmt Strobl Bezug auf die Ereignisse von 1897 und die Aufstände in Prag infolge der Badenischen Sprachverordnungen 207: „Das Gesindel der Vorstädte war aufgeboten worden, mit Stöcken und Steinen fielen sie über uns her, immer einige Hundert über wenige. Der ganze Wenzelsplatz war ein großes Schlachtfeld.“208 Strobl zieht hier eine Parallele zum Ständeaufstand und den Hinrichtungen der böhmischen Aufständischen 1621 auf dem Altstädter Ring im Rahmen des Dreißigjährigen Krieges:

203 204 205 206 207 208

Strobl, Karl Hans: Prag. Schicksal, Gestalt und Seele einer Stadt. S. 65 f. Strobl, Karl Hans: Die Vaclavbude. S. 81. Strobl, Karl Hans: Das Wirtshaus zum König Przemysl. Karlsbad; Leipzig 1940. S. 102. Kisch, Egon Erwin: Ein Prager Roman. S. 129. Vgl. hierzu auch Kapitel ‚Tripolis Praga?‘ Zur Konstruktion nationaler Identität. Strobl, Karl Hans: Das Wirtshaus zum König Przemysl. S. 65.

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Der Aufstand wütete noch einige Tage fort, die Führung ging ganz in die Hände des Vorstadtpöbels über, und die Plünderungen der Läden wurden zur Hauptsache. Bis eines Mittags unter Trommelschall die Verhängung des Standrechtes in Prag verkündet wurde. Die Trommel hatte einen seltsamen, heiseren Klang, die Bajonette standen starr in einer Reihe wie kurze Stacheln über den Köpfen der Menge. Ich hörte eine solche Verkündigung auf dem Altstädter Ring an, und es war mir, als wohne ich einem Auftritt aus dem Dreißigjährigen Krieg bei. Uralt erschien mir alles das und schon längst dagewesen. Dann wurde es still in der Stadt.209 Ähnlich wie etwa in Karáseks Gotická duše wird hier ein Zusammenhang zu den historischen, nationalen Bestandskämpfen des tschechischen Volkes hergestellt. Jedoch ist aus diesem Vergleich kaum die Intention einer kollektiven Identitätsstiftung zu lesen, vielmehr soll hier verdeutlicht werden, dass sich die Stadt Prag schon seit langer Zeit im Zeichen des Kampfes und der Aufstände befindet. Walter G. Wieser hat den Prager deutschen Studentenroman am Anfang des 20. Jahrhunderts untersucht210 und konstatiert, dass die meisten Autoren dieser Gattung keine gebürtigen Prager waren, sondern aus dem Grenzland, aus der sudetendeutschen Provinz stammten. Daher rühren laut Wieser möglicherweise die stark negativen, mitunter offenkundig nationalistischen Emotionen oder nationalen stereotypen Wertungen gegenüber der tschechischen Bevölkerung: Prag ist die Stadt eines breiten, fast noch bäuerlichen Lebensbehagens, das sich in Festen von niederländischer Derbheit entfaltet. Und es ist die Stadt der Gespenster, die fahl und regungslos auf den Treppen alter Häuser hocken. Die gesunde Sinnlichkeit eines unverbrauchten Volkes schlägt manchmal unversehens in grelle Krankhaftigkeit um.211

209 Ebd. S. 102. 210 Wieser, Walter G.: Der Prager deutsche Studentenroman. In den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Wien 1994. 211 Strobl, Karl Hans: Prag. Schicksal, Gestalt und Seele einer Stadt. S. 64.

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Im Rahmen der nationalen Kämpfe und Aufstände in Prag wird die tschechische Bevölkerung bei Strobl als wenig intelligent und streitlustig dargestellt. Beispielsweise verlassen in Die Vaclavbude die deutschen Burschenschaftler nach und nach aufgrund der Feindseligkeit und der Aufstände des wütenden „niedrigen Volkes“212 die Stadt. In einem Streitgespräch diskutieren sie darüber, ob man die „alte deutsche Stadt“213 Prag aufgeben solle oder nicht: Glaubt mir, diese Stadt ist die Opfer nicht wert, die sie von uns fordert. Wie eine böse Krankheit saugt sie an unserer Kraft. Ein Feind, der würgt und tötet, ohne daß man ihn fassen kann. Er hat starke und giftige Waffen: Den Typhus und die Weiber.214 Auch hier offenbart sich ein Gefühl der Heimatlosigkeit und des AbgestoßenWerdens in bzw. von der Stadt Prag. Dies wird in Die Vaclavbude exemplarisch am Heimweh der Figur des dänischen Astronomen Tycho de Brahe aufgezeigt. De Brahe arbeitete im 16. Jahrhundert am Hofe Rudolfs II. und erscheint in der Studentengeschichte den betrunkenen Burschenschaftlern während einer durchzechten Nacht in einer Spelunke. Folgendermaßen werden seine Gefühle gegenüber der Stadt beschrieben: Diese Stadt Prag lag dem Dänen schwer auf dem Gemüt. Aus den Tagebüchern ist zu ersehen, daß sie für ihn war, wie ein ungeheuer, ekelhafter, gleißender Wurm, der ihn in seinen Bannkreis geringelt hatte und nicht mehr losließ. Er nennt diese Stadt ein lauerndes, heimtückisches Ungetüm. […] Es war vielleicht der unbewußte Widerwille gegen das fremde Volk […]. Das niedrige Volk prägt den Häusern und Straßenecken seine Mienen auf. Und diese Mienen hatten soviel Gemeines und Abstoßendes für ihn.215 Die Stadt wird in Die Vaclavbude als ekelerregendes, gruseliges oder bösartiges Ungeheuer allegorisiert. Für die düstere und unheimliche Atmosphäre, die das Prager Stadtbild prägt, wird das „fremde“ bzw. „niedrige Volk“ verantwortlich gemacht. Die Reaktion der tschechischen Bevölkerung auf den 212 213 214 215

Vgl. Strobl, Karl Hans: Die Vaclavbude. S. 81 oder S. 88. Strobl, Karl Hans: Die Vaclavbude. S. 81. Ebd. Ebd. S. 88.

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Rücktritt Badenis und die Aufhebung der Sprachverordnung in der Studentengeschichte schildert Strobl wie folgt: Draußen stand eine dichte Menge. Kopf an Kopf. Mit dem finsteren, bösartigen Ausdruck des geschlagenen, bissigen Kettenhundes. Der Umschwung des gestrigen Tages war eine arge Niederlage für das tschechische Volk. Nun kochte in ihnen eine wilder Zorn. […] Vor Bosheit aufbrüllend zerschlug dieses Volk seine liebsten Spielsachen. Sein goldenes Prag, sein caput regni, war in wenigen Stunden der Tummelplatz wilder Horden geworden.216 Die aufständische tschechische Bevölkerung wird als wilder, wütender Mob dargestellt, und dabei gleichzeitig kindisch und besitzergreifend. Der Autor Karl Hans Strobl selbst kommt aus einem deutsch-national geprägten Umfeld. Zwar ist die Stereotypisierung der tschechischen Bevölkerung als einem niedrigen und bösen Volk in einen fiktiven Rahmen eingebettet, jedoch fällt diese starke klischeehafte Zuschreibung in seinen Werken durchgehend auf. Besonders dramatisch gestaltet Strobl den Konflikt zwischen der tschechischen und der deutschen Bevölkerung in Das Wirtshaus zum König Przemysl. Der Protagonist Fritz befindet sich in Prag auf Wohnungssuche: Es war damals nicht so leicht, eine Wohnung zu suchen, indem man die Häuser entlang lief. Denn die Prager Bevölkerung war in einer gereizten Stimmung gegen alles Deutsche, und nur selten wagte es ein Vermieter, sich schon durch die Sprache seines Aushängezettels geradezu als Deutscher vor der Straße zu bekennen. Der Haß der Straße hatte auch das Papier nicht verschont, das hier am Tor klebte. Man sah es an der Tinte, daß der Zettel erst vor wenigen Stunden geschrieben worden war, und trotzdem hatte man sich schon über ihn hergemacht, ihn mit Blaustiftstrichen und Messerschnitten zu verunstalten und einen mächtigen Klumpen Straßenkot mitten drauf zu pflanzen.217 In der Folge wird die tschechische Bevölkerung in Prag nicht etwa mehr als solche benannt, sondern nur mehr als „böse Menschen“, „Feind“ oder „Gegner“ umschrieben: 216 Strobl, Karl Hans: Die Vaclavbude. S. 106 und S. 119. 217 Strobl, Karl Hans: Das Wirtshaus zum König Przemysl. S. 6 f.

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Es war eine unruhige Zeit; man befand sich immer auf dem Kriegspfad, und die Straße zeigte sich lauter und feindseliger gegen alles Deutsche und besonders gegen uns Studenten. Man verhöhnte uns mit Blicken, Worten und Gebärden, spie vor uns aus, zeigt uns geballte Fäuste, und nächtlicherweile war es in einsamen Straßen schon öfter zu Zusammenstößen mit unseren Gegnern gekommen.218 Die nationale Zwietracht erweist sich in Das Wirtshaus zum König Przemysl als fruchtbarer Nährboden für die Entfaltung eines dramatischen Liebeskonfliktes, der an die tragische Konstellation von Shakespeares Romeo und Julia erinnert: Die Figur Fritz ist von Anfang an von der schönen Wirtstocher Ludmilla bezaubert, die im Wirtshaus ihres Vaters Zum König Przemysl arbeitet. Dort begegnet man ihm als deutschem Studenten mit Missachtung und Hochmut – auf einem Schild steht sogar angeschrieben, dass für Deutsche kein Bier ausgeschenkt würde. Bei einem Anschlag auf die Burschenschaft rettet Ludmilla Fritz und wird dafür schließlich von tschechischen Demonstranten gefangen genommen. Als Fritz versucht, sie zu befreien, wird die Wirtstochter von den Geiselnehmern erschlagen, und auch er selbst wird schwer verwundet. Der tödliche Ausgang dieser Geschichte veranschaulicht die verhängnisvollen Konsequenzen des in Prag herrschenden fanatischen Nationalismus, wobei in der Darstellung Strobls die treibende Feindseligkeit der tschechischen Seite zugeschrieben wird. Mit dem Motiv der erotischen (Liebes-)Beziehung zwischen deutschen Dichtern bzw. deren Figuren und tschechischen Frauen wird auch in Das Wirtshaus zum König Przemysl die stereotype Verbindung thematisiert, die Pavel Eisner in Milenky. Nemecký básník a česká žena darstellt.219 In Karl Hans Strobls Studentengeschichten pflegen die deutschen Studenten verschiedene Liebesbeziehungen zu tschechischen Mädchen, denen allerdings nie ein guter Ausgang bestimmt ist. So steckt sich beispielsweise in Die Vaclavbude der 218 Ebd. S. 14 f. 219 Vgl. hierzu Kaptiel Nationale Identitätskonstruktion und damit einhergehende Stereotypisierung des Anderen am Beispiel von Auguste Hauschners Die Familie Lowositz und Eisner, Pavel: Milenky. Nemecký básník a česká žena. Strobls Figur Ludmila aus Das Wirtshaus zum König Przemysl wird dort auf den Seiten S. 54-57 beschrieben.

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Student Horak bei der tschechischen Kellnerin Marie mit einer Geschlechtskrankheit an. Auf der anderen Seite wird auch der Prager deutsche Student oder Burschenschaftler von Strobl nicht unbedingt rühmlich figuriert. Folgendermaßen beschreibt er beispielsweise die Studentenschaft in Prag. Schicksal, Gestalt und Seele einer Stadt: Daß die Prager Studenten Durst genug haben, das weiß sogar der Teufel, der sich dem schleßischen Zecher gegenüber rühmt, er habe vor hundert Jahren mit den Studenten Nacht und Tag getrunken, und der das für eine Art Meisterprüfung anzusehen scheint. Und es gab wirklich vielleicht selten in einer anderen Stadt Gelegenheit, seinen Durst auf so gediegene und Anno dazumal billige Weise zu stillen. Oh, ihr hallen und dunklen Prager Biere, deren Mannigfaltigkeit verwirrend ist! Diese Unzahl von Brauhäusern, die mit denen Münchens einen Vergleich aushält! Meine Erinnerung verweilt oft mit Wehmut bei der Zeit, da man für einen halben Liter Bier sechs Kreuzer bezahlte.220 Die Prager Spelunken, Wirtshäuser und Kneipen sind vor allem in der Prager deutschsprachigen Literatur ein häufiger Topos der nächtlichen Freuden und Trinkgelage221. Im Stroblschen Prager Studentenroman wird diese Lokalität des Vergnügens zum Schauplatz der nationalen Konflikte und der stereotypen Zuschreibungen. Die tschechische Bevölkerung wird in Strobls Studentengeschichten als niedrig, bäuerlich, böse, kindisch, feindselig bis hin zu mörderisch beschrieben und als wilder Mob oder als gruseliges Ungeheuer dargestellt. Ähnlich wie beispielsweise auch bei Rainer Maria Rilke oder Johannes Urzidil ist Strobls Prag-Bild geprägt vom Hass der tschechischen gegen die deutsche Bevölkerung, wie im Kapitel ‚Tripolis Praga‘? Zur Konstruktion nationaler und kultureller Identität dargestellt wurde. In Strobls Studentenromanen geht der Hass in tätliche Übergriffe über: Die tschechische versucht die deutsche Bevölkerung, die in Prag ebenso historisch verwurzelt ist, aus 220 Strobl, Karl Hans: Prag. Schicksal, Gestalt und Seele einer Stadt. S. 56. 221 Vgl. hierzu Kapitel Topos der Vertrautheit: Die Judenstadt als Ort des nächtlichen Vergnügens und den Abschnitt über Die Prager Wirts- und Kaffeehauskultur und ihre Kneipengeschichten.

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der Stadt zu jagen, um diese für sich zu beanspruchen. Die Darstellung der tschechischen Bevölkerung über das Stereotyp eines niedrigen und fremden Volkes dient wiederum einer kollektiven Identitätsstiftung seitens der deutschen Bevölkerung in Bezug auf die Stadt Prag. Die nationale Stereotypisierung funktioniert so als ein Mittel der Abgrenzung, um eine identitätsbildende Einheit zu schaffen. Mit dem in der Stadt herrschendem Hass geht ein düsteres und hoffnungsloses Prag-Bild einher – die Stadt steht in Strobls Studentenromanen im Zeichen der Aufstände und des Kampfes, die aus den politischen Auseinandersetzungen der beiden Bevölkerungsgruppen resultieren. So beurteilt auch Tycho de Brahe in Die Vaclavbude die gegenwärtigen Verhältnisse in Prag. Mit folgenden Worten verabschiedet er sich von dem Burschenschaftler: „Jeder Mensch bereitet seine Zukunft und jedes Volk die seinige. Und in diesem Sinne ist jeder seines Glückes Schmied.“ Und so gelten auch die letzten Worte der Studentengeschichte der Grausamkeit und dem Kampf der deutschen und der tschechischen Bevölkerung. Nachdem alle anderen deutschen Studenten die Stadt verlassen haben, bleibt in Prag als einziger der Burschenschaftler Horak zurück, der schließlich an einer Lungenentzündung stirbt: „Und über seine Leiche weg tobte der Kampf der stärker Wollenden weiter, der Kampf der Rassen und Kulturen, das Leben in seiner ganzen jauchzend-schönen, glühenden, blutrünstigen Grausamkeit.“222 Vergleicht man also die Darstellung der Stadt in Karáseks Gotická duše und den Stroblschen Studentengeschichten, so fällt auf, dass Prag sowohl in der tschechischen, wie auch in der deutschen Darstellung patriotisch belegt wird und in ähnlicher Weise als trostloser, entseelter Kriegsherd erscheint. Interessant ist, dass der Hass der tschechischen gegen die deutsche Bevölkerung in der deutschsprachigen, aber nicht in der tschechischen Literatur thematisiert wird. Ganz im Gegenteil identifiziert sich die Figur Vilém in Gotická duše sogar mit der germanischen Geisteswelt. Im Gegensatz zu Strobls Darstellung einer ausweglosen Situation der deutschen Studentenschaft wird in den tschechischen patriotischen Texten die Machtlosigkeit des tschechischen Volkes nicht etwa umgekehrt mit einer Unterdrückung durch die deutsche Kultur 222 Strobl, Karl Hans: Die Vaclavbude. S. 188.

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erklärt. Vielmehr erkennt Vilém sie als einen Teil seiner eigenen kulturellen Identität an. Das Selbstbild des tschechischen Volkes speist sich in den patriotischen Texten gleichermaßen aus der Unterdrückung ihrer Kultur, wie auch aus der Ehrfurcht vor der tschechischen Geschichte. Die Schuld an der Machtlosigkeit und die Resignation des tschechischen Volkes wird dabei allerdings nicht der deutschen Bevölkerung in Prag und Böhmen zugeschrieben, sondern scheint charakteristisch für die tschechische Literatur zu sein, da sie bereits in der Romantik thematisiert wurde. Gegensätzlich erscheint hingegen in den Stroblschen Studentengeschichten die Darstellung des tschechischen Volkes als wütender, aufständischer Mob. Strobl benutzt dieses Stereotyp, um die unerträgliche Lage der deutschen Bevölkerung in Prag zu begründen. Die genannten Texte konstituieren mit ihren Darstellungen aus ihrem jeweiligem nationalen Blickwinkel gewissermaßen eine „Patriotische Erinnerungskultur“. Prag bzw. seine Einwohner:innen erscheinen bei einem Vergleich der genannten Texte aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Zwar wird jeweils ein sich entsprechendes Bild einer polemischen Stadt entworfen, jedoch wird die dort herrschende Atmosphäre mit unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen Umständen und Faktoren begründet. Der Topos Prag erscheint als Stadt im Zeichen des Kampfes und der Aufstände – zum einen in der patriotisch motivierten Erinnerungskultur, zum anderen werden aber auch die Auseinandersetzungen des gegenwärtigen Zeitgeschehens dargestellt. Prag wird so zu einem mythotopologischen Ort des Kampfes, des ewigen Kämpfens und des allgegenwärtigen Todes. Die Stadt wird dabei mitunter ideologisch besetzt („Deutsches Prag“) und auch die nationalen Stereotypisierungen sind ein wichtiges Detail (Mythologem) dieser Darstellung. Indessen scheint jedoch die damit einhergehende Schicksalhaftigkeit für das Individuum im Vordergrund zu stehen: Das tragische Schicksal des Einzelnen steht oft in einem engen Zusammenhang zu den Ereignissen und den Lebensumständen in der Stadt und das Individuum droht in dieser Topologie des Kampfes und des Kämpfens zugrunde zu gehen.

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2.2 Allgegenwart der Geschichte 2.2.1 Verschmelzen von Vergangenheit und Gegenwart Allüberall hatte die erbarmungslose Faust der Kriegsfurie die Spuren ihrer zerstörende Tätigkeit hinterlassen.223 [Gustav Meyrink]

Ähnlich wie in den tschechischen desillusionierten patriotischen Texten und in Karl Hans Strobls Studentengeschichten wird die Stadt Prag in Gustav Meyrinks phantastischem Roman Walpurgisnacht (1917)224 als Topos des Todes und des Kampfes dargestellt. In Prag herrscht hier eine düstere, dämonenhafte, schaurige und unheimliche Atmosphäre, es ist ein Ort des Krieges und des aufständischen Pöbels. Der Roman stellt die Großstadt als einen Raum sozialer Vielfalt und Heterogenität, wie auch als Ort des Krieges heraus und entspricht in diesem Sinne den Vorstellungen Egon Erwin Kischs von einem „Prager Roman“: In Walpurgisnacht werden sowohl historische Besonderheiten der Stadt beschrieben als auch bekannte Motive aus dem Prager Kulturund Mythenkreis verarbeitet. Auch in Walpurgisnacht wird der Bezug zur historischen Schlacht am Weißen Berg und anderen Kriegsereignissen der Prager Stadtgeschichte hergestellt und damit auf die identitätsstiftende Geschichte der tschechischen Bevölkerung verwiesen. Darüber hinaus befindet sich die Stadt in der fiktiven Handlung, wie auch im tatsächlichen Erscheinungsjahr des Romans, als Teil des Habsburger Reiches im Krieg. So verarbeitet Meyrink auf verschiedenen Ebenen mit der Darstellung der böhmischen Hauptstadt als Kriegsherd [vgl. Wn, S. 47] historische Realia aus der Vergangenheit sowie der zeitgenössischen Gegenwart. Es wird nicht ausdrücklich thematisiert, in welchem Jahr die Handlung stattfindet, jedoch gibt es Hinweise, die auf die Jahre des Ersten Weltkrieges schließen lassen: So weist die Figur des kaiserlichen Leibarztes die gegen die „Preißen“ [Wn, S. 9] polemisierende Gräfin Zahradka darauf hin, dass sich das Habsburger Reich bereits seit drei Jahren zusammen mit den Preußen gegen Russland verbündet hat [vgl. Wn, S. 9]. Des Weiteren 223 Meyrink, Gustav: Walpurgisnacht. Phantastischer Roman. S. 34. 224 Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [Wn] abgekürzt.

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bestellt er sich im Grünen Frosch „eine Flasche Melniker 1914“ [Wn, S. 81], woraus ersichtlich wird, dass die Handlung des Romans in den Jahren seiner Erscheinung situiert ist. Das Prag der Habsburgermonarchie wird mit einer Zweiteilung der Bevölkerung angelegt: Vor der Kulisse des Krieges wird die blasierte Adelsgesellschaft auf dem Hradschin dargestellt, die wie in einer Enklave fernab vom Kriegsgeschehen über der Stadt residiert, während die Menschen unten „in der Welt“ [Wn, S. 7] an Krankheit und Armut leiden und sich Volksaufstände ankündigen: „Unten in Prag seien die üblichen albernen Unruhen im Gang. – Der Pöbel plane wieder einmal irgendwelche ‚Kundgebungen‘ – Fenstereinschlagen oder ähnliche Verrücktheiten. […] Ein Aufstand in Prag: Lappalie.“ [Wn, S. 121] Der Adel wähnt sich zunächst vor den Aufständen des Volkes aufgrund dieser Zweiteilung der Stadt in Sicherheit („Bisher war so etwas noch niemals über die Brücke auf den Hradschin gekommen. An den Adel traute sich die Bestie nicht heran.“ [Wn, S. 121]). Zu Beginn der Handlung erscheinen diese beiden Welten streng getrennt voneinander. Vor allem die Adelsgesellschaft hält es für gefährlich und meidet es, über die Brücke nach unten zu gehen: „‚Ich war vor dreißig Jahren das letztemal unten – in Prag!‘ stöhnte der Baron Elsenwanger […] ‚Ich war ieberhaupt mein Lebtag noch nicht in Prag‘ erklärte die Gräfin Zahradka schaudernd“ [Wn, S. 8]. Aus dieser Polarität eines „oben“ und „unten“ ergibt sich zunächst eine Grenze, die bildlich durch die Trennung in ein Dies- und ein Jenseits der Moldau markiert wird. Mit der Existenz der Brücke ist diese Grenze jedoch nicht unüberwindbar, sondern signalisiert vielmehr einen Übergang. Auch hier verschmelzen zwei vermeintlich getrennte Räume miteinander, was abermals den Schwellencharakter der Stadt verdeutlicht und die charakteristische Ambivalenz zweier gegensätzlicher Dynamiken, die sich im Topos Prag vereinen bzw. ineinander übergehen. Die Moldau erinnert indessen in ihrer Zeichenhaftigkeit an den Grenzfluss Styx der griechischen Mythologie, der die Welt der Lebenden vom Totenreich Hades trennt. Auch der Fluss symbolisiert einen Übergang von Leben und Tod. In Walpurgisnacht separiert die Moldau die Adelsgesellschaft auf dem Hradschin von den Bürger:innen in der „Welt un-

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ten“ [Wn, S. 28], folglich auch von Not, Krieg und Leid. Während jenseits der Moldau die Menschen in Hunger und Elend leben und sterben, befinden sich die Adeligen auf der sicheren Seite des Flusses, bis schließlich der Tod mit dem revoltierenden Volk über die Brücke in den Hradschin eindringt. Gleichwohl wird diese scheinbare Unüberwindlichkeit bereits im ersten Kapitel mit dem Eindringen des Schauspielers Zrcadlo in die idyllische Enklave der Adelsgesellschaft durchbrochen: Auf dem kaum handbreiten Sims der hohen Parkmauer, hinter der ein Dunstmeer aus dem tief unten jenseits der Moldau schlummernden Prag rötlichen Dunstmeer empor zu den Sternen hauchte, schritt langsam und aufrecht ein Mann […] bald gespenstisch halb verdeckt durch silhouettenhafte Schlagschatten der Baumäste, daß es schien, als sei er aus dem glitzernden Mondlicht geronnen, dann wieder grell beschienen, wie frei schwebend über dem Dunkel. [Wn, S. 10] Die Parkmauer markiert in diesem Fall die Schwelle, die mit dem Eindringen des Fremden überschritten wird und hinter der das in unheilvolles Rot getauchte Prag liegt. Die Gesellschaft wird über die Erscheinung des vermeintlichen Einbrechers und Mörders in Panik versetzt [vgl. Wn, S. 10 f.], der Baron Elsenwanger verlangt sogar, „man solle den Toten über die Mauer den Abhang hinunterwerfen – ehe er wieder lebendig werden könne.“ [Wn, S. 11] Das finstere Bild der unteren Stadt hebt sich indessen sowohl von der umliegenden Hügellandschaft als auch vom Hradschin ab, von dem aus der kaiserliche Leibarzt über das Panorama blickt: Von einer vorgebauten Brüstung aus, in der ein mächtiges Fernrohr stand, konnte er hinab in die ‚Welt‘ – nach Prag – sehen und dahinter, am Horizont, noch die Wälder und sanft gewellten grünen Flächen einer Hügellandschaft, während ein anderes Fenster, den oberen Flußlauf der Moldau – ein silbernes glitzerndes Band, das sich in dunstiger Ferne verlor – als Aussicht bot. [Wn, S. 28] Mit dem Blick in die Stadt entdeckt er schließlich durch sein Fernrohr eine Mutter, die ihr totes Kind in den Armen hält, und es entsteht ein Bild der

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Kontraste – die Schönheit des Prager Panoramas wird gebrochen mit dem Anblick des am Krieg leidenden Volkes: Das grelle Sonnenlicht, das die beiden umfing, ließ jede Einzelheit mit grausamer Schärfe erkennen und vertiefte mit seinem jubelvollen Frühlingsglanz den furchtbaren Mißklang zwischen Jammer und Freude bis zur Unerträglichkeit. [Wn, S. 31] Der Hradschin erscheint dagegen als idyllischer Mikrokosmos, der derzeit im Frühling erblüht: Von dem Hirschgraben, dessen Hänge mit blühenden Bäumen und Sträuchern übersät waren, wehte ein duftgetränkter Hauch von Jasmin und Flieder herauf, und in der Ferne träumte das Lustschloß der Kaiserin Anna, von dem silberweißen Gischt der sprühenden Fontänen umgeben, mit seinem gebauchten, grüngetupferten Patinadach im Mittagslicht, wie ein riesiger, glänzender Käfer. [Wn, S. 33] Jedoch wird diese Teilung im Laufe der Handlung nach und nach aufgehoben, indem sich die Figuren einander annähern. Am Ende des Romans dringt schließlich mit dem wütenden Volk auch der Krieg in die Enklave des Hradschins ein. Neben dieser Ebene, die sich auf die gegenwärtige Handlung im Roman bezieht, wird eine weitere eröffnet, die auf ein vergangenes, kämpferisches Prag verweist, auf die hussitische Revolution im 15. Jahrhundert und die Jahre des Dreißigjährigen Krieges mit der Schlacht am Weißen Berg im Jahre 1620. Weiterhin wurde Prag als böhmische Hauptstadt auch in jüngerer Vergangenheit Schauplatz größerer Unruhen. So kam es zum Beispiel während der Revolution von 1848 nach dem Slawenkongress im Kampf um die Unabhängigkeit der slawischen Völker von der österreichischen Monarchie zum Prager Pfingstaufstand. An diese Revolution sind die Ereignisse in Walpurgisnacht angelehnt: „Wie im Jahre 1848, so wird auch heute der Anstoß, der von einem Lande ausgeht, notwendigerweise alle übrigen Länder in Bewegung setzten und den revolutionären Brand in ganz Europa entfachen.“ [Wn, S. 137] Das Geschehen spielt sich während schwerer Kriegsjahre ab, die

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besonders für die hunger- und armutleidende Bevölkerungsschicht im unteren Prag zehrend sind. Es kündigt sich eine Revolution des Proletariats an, welches sich vor allem gegen die Klassengesellschaft und somit gegen den Adel wendet: Wir kämpfen für Freiheit und Gerechtigkeit gegen alle Tyrannei – wir wollen den Staat zertrümmern, die Kirche, den Adel, das Bürgertum; sie haben uns lange genug regiert und zum Narren gehalten. […] Das Blut des Adels muss fließen, der uns täglich demütigt und knechtet. [Wn, S. 135] Diese beiden Ebenen treiben das fiktive Geschehen in Walpurgisnacht voran und verschmelzen im Laufe der Handlung zusehends miteinander: Einerseits steht die Stadt Prag als historischer Schauplatz der großen Kämpfe in Böhmen im Zentrum des Geschehens und ist somit ein Erinnerungsort des Krieges, auf der anderen Seite verschärfen sich darüber hinaus die Aufstände innerhalb der Handlung zusehends. Gustav Meyrink wurde seinerzeit und auch in der jüngeren Forschung dafür kritisiert, dass seine Darstellungen von Prag nicht zeitgemäß225 bzw. einseitig226 seien und er das Bild einer modernen Großstadt, die Prag in diesen Jahren bereits gewesen ist, reduziere. Interessant ist dabei vielmehr, dass die bei Meyrink dargestellte Teilung in ein adeliges und ein proletarisches Prag durchaus nicht unzeitgemäß war: Ein Jahr nach dem Erscheinen des phantastischen Romans bricht mit dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 das multiethnische Staatengebilde der Donaumonarchie endgültig zusammen. Dementsprechend verändern sich auch die Verhältnisse zwischen der tschechischen und der deutschen Bevölkerung in Prag, was in Walpurgisnacht bereits anklingt. Während in der Prag-Literatur der Jahrhundertwende noch die Kontroversen der beiden Bevölkerungsteile spürbar sind, verschiebt sich hier der Konflikt zwischen Nationen zu einem zwischen sozialen Klassen. So beschreibt etwa Eduard Goldstücker den Wandel der 225 Vgl. dazu Nachwort in Walpurgisnacht von Joachim Schreck. S. 218. 226 Auch Susanne Fritz konstatiert einen „extrem reduzierten Blickwinkel“ und eine Perspektive auf Prag, die die „großstädtische Totalität“ nicht erfasst (Fritz, Susanne: Die Entstehung des ‚Prager Textes‘. Prager deutschsprachige Literatur von 1895 bis 1934. Dresden 2005. S. 157 f.).

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deutsch-tschechischen Beziehungen nach der Gründung der Ersten tschechoslowakischen Republik mit dem Ende des Ersten Weltkriegs: Nach 1918 verändert sich in den deutsch-tschechischen Beziehungen das Kräfteverhältnis insoweit, daß die tschechische Bourgeoisie ihre neugewonnenen Positionen voll auszunützen trachtete und eine imperialistische Politik den nichttschechischen Nationalitäten gegenüber betrieb. Die deutsche Bourgeoisie in der Tschechoslowakei bemühte sich, mit allen Mitteln ihre verlorene Vormachtstellung wieder zu erobern. Zu den schändlichen Annalen der gegenseitigen nationalen Verhetzungen wurde ein neues Kapitel hinzugefügt, dessen letzte Seiten mit Blut geschrieben sind.227 Wie bereits weiter oben beschrieben, hatte Gustav Meyrink selbst ein ambivalentes Verhältnis zu Prag und seinen Gesellschaften. Dennoch oder gerade deswegen ist die Thematisierung der Stadt Prag mit ihren geheimnisvollen Kräfte in seinem Werk zentral. Das Prager Caféhaus-Leben vergleicht Meyrink beispielsweise mit einem Wachsfigurenkabinett228, und auch in Walpurgisnacht erinnert in die Figurenkonzeption an ein Panoptikum. Betrachtet man die ersten Seiten des Romans, so wird schnell deutlich, dass ein zeitgenössisches Abbild einer modernen Metropole kaum die Intention von Meyrinks Darstellung sein kann. Im Gegenteil spricht die Gräfin Zahradka bei dem Zusammentreffen auf dem Hradschin im Palais Elsenwanger von ihren Vorfahren, die im Dreißigjährigen Krieg auf dem Altstädter Ring hingerichtet wurden [vgl. Wn, S. 8], woraufhin die versammelte Gesellschaft beginnt, gegen Preußen zu wettern. Durch diese Erwähnung eines lange zurückliegen227 Goldstücker, Eduard: Zur Geschichte der kulturellen Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen. In: Deutsch-tschechoslowakische Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart. Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig. Gesellschafts- und sprachwissenschafltiche Reihe. Sonderband VI. Leipzig 1964. S. 213. 228 Vgl. Meyrink, Gustav: Prag. Eine optimistisch gehaltene Städteschilderung in vier Bildern. In: Ders.: Gesammelte Werke. Band 4, Teil 2. München 1913. S. 101-113, hier S. 103: „Für Leute, die noch nicht in Prag akklimatisiert sind, empfiehlt es sich ja allerdings, ehe sie zum Besuche des Caféhauses schreiten, sich längere Zeit in einem Wachsfigurenkabinett abzuhärten. […] Selbstverständlich ist und bleibt aber ein Panoptikum immer nur ein mildes Training, und so manchem, der unvorbereitet das Café betrat, ist der Schreck arg in die Glieder gefahren.“

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den229 und grausamen Krieges entsteht gleich zu Beginn des Romans eine Atmosphäre des Kampfes und der Blutrünstigkeit. Es wird deutlich, dass das Stadt-Bild und die Ereignisse in Prag auf die Vergangenheit ausgerichtet sind bzw. aus ihr resultieren. Aus dieser Rückwendung kommt es in der fiktiven Handlung in Walpurgisnacht zu einer Vermischung der Vergangenheit mit der Gegenwart, die auf verschiedenen Ebenen zum Ausdruck kommt. Die Figur der verwirrten Gräfin Zahradka plagen beispielsweise seltsam befremdliche Seelenzustände, so dass sie ständig die Vergangenheit mit der Gegenwart verwechselt und „bisweilen sogar historische Ereignisse aus der Zeit ihrer Ahnen als gegenwärtig empfand und mit ihrem Alltagsleben unentwirrbar zu verknüpfen pflegte.“ [Wn, S. 14] Zu einem späteren Zeitpunkt greift diese Eigenheit einer Figur, die hier zu Beginn des Romans nur beiläufig erwähnt wird, auf das gesamte Handlungsgeschehen über und wird innerhalb der fiktiven Welt zur Realität: In Form einer Revolution bemächtigt sich die Vergangenheit in den Straßen von Prag der Gegenwart, und es kommt während eines Volksaufstandes zur Reinkarnation einer tschechischen Historienfigur – dem Hussitenführer Jan Žižka von Trocnov230. Dabei spielt die Figur Polyxena eine Schlüsselrolle. Ständig vom Greisentum ihrer adeligen Verwandtschaft umgeben, hat Polyxena von Kindheit an einen „dumpfen instinktiven Haß […] gegen alles Tote, Blutleere“ [Wn, S. 107]. Jedoch flößt ihr das Bild ihrer Urahnin, der Gräfin Polyxena Lambua, der sie wie aus dem Gesicht geschnitten ist [vgl. Wn, S. 71 ff.], ein unheimliches Gefühl ein. Das Gemälde ist für Polyxena ein Spiegelbild, sie selbst ist die Abgebildete bzw. die tote Gräfin erwacht in ihr zu neuem Leben: Als habe sich ein Satanswunder begeben, war das junge Mädchen […] in das seelische Bild ihrer Stammesmutter verwandelt worden, die den selben Namen, Polyxena getragen hatte und jetzt als Porträt im Schlosse des Barons Elsenwanger hing. [Wn, S. 74]

229 Flugbeil versucht daraufhin die Gräfin zu beruhigen und bemerkt: „Nun, das war damals im Dreißigjährigen Krieg, Gnädigste [...]. Das ist schon lange her.“ [Wn, S. 8] 230 Jan Žižka von Trocnov war der bedeutendste Heerführer der Hussitenkriege und wurde als Führergestalt im Rahmen der Revolution zu einem Volkshelden.

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Das Gemälde ruft bei Polyxena dass unheimliches Gefühl hervor, dass es sich bei der Abgebildeten um den Widerschein eines Wesens handeln müsse, das irgendwo in der Wirklichkeit existiere: Die plötzlich erwachende, unterbewußte Erkenntnis, sich mit allen noch schlummernden und allen bereits offenbar gewordenen Eigenschaften selber erblickt zu haben, hatte das Gefühl hervorgerufen, das Gemälde ihrer Urahne sei lebendiger als irgend etwas, was sie je gesehen. Lebendiger als irgend etwas anderes in der Welt kann aber nur der Mensch sich selbst vorkommen. [Wn, S. 109] In der Figur Polyxena verschmelzen sowohl die Vergangenheit mit der fiktiven Gegenwart als auch Leben und Tod miteinander: „Das, was bis dahin als ihr ‚Selbst‘ geschienen, war tot umgefallen; aber ein anderes ‚Selbst‘ – das, das dem Bilde ihrer Urahne entsprach – nahm im selben Augenblick die Stelle des ersten ein.“ [Wn, S. 110] Weiterhin erinnert die Figur Polyxena an die mythische Sagengestalt und Stammmutter der Fürstin Libuše. Ähnlich wie Libuše hat Polyxena Visionen, in denen sie Bilder von Prag sieht, allerdings nicht von dessen ruhmreicher Zukunft, sondern von der grauenvollen und blutigen Vergangenheit der Stadt: Von einer süßen, wollüstigen Begierde gepeitscht, die die Greise und Greisinnen ihrer Umgebung für überspannten Wissenstrieb hielten, wandelte sie von da an auf dem Hradschin umher, von einer historischen Stätte, auf der Blut vergossen worden war, zur anderen, von einem Märtyrerbild zum anderen. – Jeder graue verwitterte Stein, an dem sie früher achtlos vorübergegangen war, erzählte ihr von Blutvergießen und Folterqual, aus jedem Fußbreit Erde hauchte der rötliche Dampf; wenn sie den erzenen Ring an der Kapellentür anfaßte, an den sich König Wenzel angeklammert gehalten, bevor ihn sein Bruder erschlug, durchrieselte sie die Todesangst, die an dem Metall klebte, aber: verwandelt in glüh-heiße, rasende Brunst. Der ganze Hradschin mit seinen schweigsamen, erstarrten Bauten war für sie ein redender Mund geworden, der ihr mit hundert lebendigen Zungen immer neue Begebnisse des Schreckens und Entsetzens aus seiner Vergangenheit zuzuflüstern wußte. [Wn, S. 112]

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Die historischen Prager Bauten werden mit Polyxenas Visionen zu lebendigen Erinnerungsorten, so zum Beispiel die Daliborka, der sagenumwobene Gefängnisturm auf dem Hradschin. In einer Schlüsselszene belauscht sie die Versammlung der Revolutionäre und hat dabei eine Erscheinung: Stiegen da nicht Gestalten herauf, in Kleider aus Nebel gehüllt, gespenstische Wirklichkeit […]: Ottokar noch einmal – sein Ebenbild als Schatten der Vergangenheit, ein Zepter in der Hand! Dann ein Mann mit einem rostigen Helm und einer schwarzen Binde über den Augen, wie Jan Zizka, der Hussit – und ihre Urahne, die Gräfin Polyxena Lambua, die hier im Turm wahnsinnig geworden war, in grauem Kerkergewand – sie lächelte grausig zu ihr empor, und alle mischten sich unter die Aufrührer, ohne von ihnen gesehen zu werden. [Wn, S. 146]

Abb. 7: Schreiber, Ulrich: Illustration zu Walpurgisnacht (1917)

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Es folgt eine Vision der Hussitenkriege und der Geschichte des Hussitenführers Jan Žižka, und schließlich kommt es in der geisterhaften Atmosphäre der nächtlichen Daliborka zur Wiederauferstehung dieser legendären böhmischen Heldenfigur: „Die Bilder meiner Seele sind zu Gespenstern geworden und tun dort unten ihr Werk.“ [Wn, S. 150] Der Geist von Jan Žižka bemächtigt sich der Figur Ottokars, Polyxenas Geliebten, welcher zum König gekrönt und als Führer der Revolution vom Volk gefeiert wird. Mit der Wiederauferstehung des heldenhaften Heerführers Jan Žižka und der Analogie der Seherin Polyxena mit der Fürstin Libuše verarbeitet Meyrink die Welt der tschechischen Legenden und Mythen. In dieser traumhaften Zwischenwelt, in der historische Figuren reinkarnieren, verschmilzt der Geist der Vergangenheit Prags mit der fiktiven Gegenwart, so dass in dieser Atmosphäre der Unsicherheit die Figuren selbst Schwierigkeiten haben, die (fiktive) Realität von Traum oder Visionen und die Vergangenheit von der Gegenwart zu unterscheiden. Mit dieser Figurenkonzeption wird Prag zu einem Panoptikum, in dem die Verstorbenen und die Vorzeit der Stadt mit ihren Bewohner:innen immer präsent sind, indem sie sich in den Figuren wiederholt. Weiterhin sind mit der Motivik des Krieges, der Unruhen und des Kampfes, aber auch mit dem Verschmelzen von Vergangenheit und Gegenwart der Verfall und der Tod in Walpurgisnacht allgegenwärtig: Prag wird nicht unbedingt als tote Stadt dargestellt, jedoch als Ort des Todes, mit seiner blutigen Historie, die an den entsprechenden Erinnerungsorten im Roman wieder auflebt, dem Tod geweiht. In Anbetracht des Entstehungskontextes des Romans und der realhistorischen Ereignisse dieser Jahre wird mit dieser Untergangs- und Revolutionsstimung ein Bezug zum untergehenden Habsburger Reich und den letzten Regierungsjahren des Kaisers Franz Joseph hergestellt. In Prag bildet sich Anfang des 20. Jahrhunderts unterdessen die tschechische Avantgarde heraus, in der sich die damalige Situation in Böhmen bzw. des Habsburger Reiches bemerkbar macht. So stehen zum Beispiel auch Jaroslav Hašeks Osudy dobrého vojáka

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Švejka (Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk)231 oder das Œuvre Franz Kafkas in diesem Kontext. Ebenso nimmt Walpurgisnacht Bezug auf das sich im Krieg befindende Habsburger Reich. Auf einer geheimen Versammlung in der Daliborka werden Schriften des Anarchisten Peter Alexejewitsch Kropotkin [vgl. Wn, S. 135] verlesen: Wer dem Staate das Wort redet, der muss auch den Krieg gutheißen. Der Staat ist und muss bestrebt sein, seine Macht fortwährend zu vergrößern; er muß bestrebt sein, die benachbarten Staaten an Stärke zu übertreffen, wenn er nicht ein Spielzeug in ihren Händen sein will. – Deshalb ist der Krieg für die Staaten Europas unentbehrlich. Aber: noch ein oder zwei Kriege werden der baufälligen Staatsmaschine den Gnadenstoß versetzen. [Wn, S. 138] Mit dem Krieg ist schließlich das Motiv des Blutes und Blutvergießens in Walpurgisnacht omnipräsent: Jaja, der weiße Berg, der ist getränkt von Menschenblut. – Böhmen ist der Herd aller Kriege. – […] Wenn die Moldau nicht so rasch flösse, heut noch wäre sie rot von Blut. […] Vom Ursprung bis zur Elbe – wo du am Ufer einen Stein aufhebst, immer sind kleine Blutegel darunter. Das kommt, weil früher der Fluß ganz aus Blut bestand. Und sie warten, weil sie wissen, daß sie eines Tages wieder Futter krieg... [Wn, S. 47] Blut sowie die Farbe Rot werden im Text metaphorisch für die Beschreibung der todgeweihten Stadt gebraucht. So steht das deskriptive Bild der Stadt im Zeichen des Blutes, wie von einer Vorahnung gezeichnet: „Das Abendrot lag auf der Stadt, glomm in Purpurstreifen über die langen Brücken, strömte – in Blut verwandeltes Gold – im Flusse unter ihren Pfeilern dahin. Loderte in tausend Fenstern, als stünden die Häuser in Brand.“ [Wn, S. 53] Ähnlich erscheint auch das finale Bild des Untergangs am Ende des Romans, das schließlich als unumgänglich und „selbstverständlich“ empfunden wird: 231 Ab 1911 erscheint die Figur des Švejk in Hašeks Kurzgeschichten, den gesamten Roman verfasste er erst später, kurz vor seinem Tod in den Jahren 1921-23. Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk enthalten zahlreiche Parodien auf die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse und das Verhalten des Einzelnen innerhalb der Monarchie.

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[...], daß die rote Lohe aus dem Fenster schlägt – daß sie wie in einer Insel sitzt, von einem brüllenden Menschenstrom umwogt – daß im Haus drin ein Schuß fällt, genauso absonderlich hallend und ohrenzerreißend wie vorher der erste – daß plötzlich die Menge sich, wie von Entsetzen ergriffen, zurückstaut und sie allein bei dem Toten läßt. – [Wn, S. 210] In diesem Bild wird außerdem der Zusammenhang zwischen einer Wassermotivik (Lohe, Insel, Strom) und der Thematik des Todes deutlich. Auch die Moldau ist in Walpurgisnacht ein Motiv des Todes: Sie ist das Wasser des Grauens und gemahnt an den Styx. In einer Vision der Figur Polyxena vom Untergang offenbart sich das Blut als das wahre Grundwasser der Stadt Prag, und so vermengen sich die Motive des Wassers und des Blutes miteinander: ‚Grundwasser‘ – mitten in ihre Gedankenreihe war plötzlich das Wort ‚Grundwasser‘ aufgeschossen. Eine Stimme in ihr schien es gerufen zu haben. – Warum ‚Grundwasser‘? – Welchen Zusammenhang hatte es mit dem, woran sie dachte? – Sie wußte nicht einmal genau, was das war: ‚Grundwasser‘. – Irgend etwas. was in der Erde schläft, bis es dann plötzlich steigt und steigt, die Keller erfüllt, Mauern unterwäscht, alte Häuser über Nacht einstürzen macht, oder etwas Ähnliches. Und aus dieser unbewußten Vorstellung wuchs ein Bild hervor: Blut war’s, das da empor stieg aus der Tiefe – ein Meer von Blut, das aus dem Boden drang, aus den Gittern der Kanäle quoll, die Straßen erfüllte, bis es in Strömen sich in die Moldau ergoß. Blut, das wahre Grundwasser Prags. [Wn, S. 121 f.] Weiterhin gibt es in Walpurgisnacht bestimmte Orte, die sich als Erinnerungsorte mit dem Tod verbinden. Beispielsweise ist die Daliborka, in der sich mit der Auferstehung Jan Žižkas die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet, dem Tod geweiht. Die Daliborka, die im Text auch „Hungerturm“ [vgl. Wn, S. 45 ff.] genannt wird, ist ein alter Wachturm der Burgbefestigung des Hradschin aus dem 15. Jahrhundert. Der Turm ist benannt nach dem Ritter Dalibor, einem Edelmann aus Kozojed232, der für seine Unterstützung der Bauern232 Die Legende O Daliborovi z Kozojed (Über Dalibor aus Kozojed) hat auch Alois Jirásek in seinen Staré pověsti české (Alte böhmische Legenden) verarbeitet.

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revolten hingerichtet wurde. Der Legende nach lernte Ritter Dalibor in seiner Gefängniszelle im Turm Geige spielen, so dass seine Musik in der ganzen Burg zu hören war. Im Text wird die Daliborka, in die sich auch der Konservatorist Ottokar gerne zum Geige spielen begibt, folgendermaßen beschrieben: Voll Grauen blickte er zum Hungerturm hin, der mit seinem weißen runden Hut hinter der zerbröckelten Mauer aus dem Hirschgraben ragte. – Immer noch lebte der Turm fühlte er dumpf – wie viele Opfer waren in seinem steinernen Bauch schon wahnsinnig geworden, aber immer noch hatte der Moloch nicht genug –, jetzt, nach einem Jahrhundert des Todesschlaf wachte er wieder auf. [...] Die seltsame weltfremde Umgebung des Hungerturmes mit den düsteren Historien und Sagen hatten von Kindheit an einen Hang zum Luftschlösserbauen in ihm erweckt, dem das äußere Leben mit seiner Ärmlichkeit und bedrückenden Enge wie etwas Feindliches, Kerkerhaftes gegenüberstand. [Wn, S. 67 ff.] Auch in der Figurenkonzeption von Walpurgisnacht kommt das Motiv des Todes immer wieder zum Ausdruck. Beispielsweise wohnt die böhmische Liesel, die verwunderlicher Weise überhaupt noch am Leben ist („sie muss ja uralt sein“ [Wn, S. 16]), in der „Totengasse“, und auch der revoltierende Pöbel und insbesondere die Figur Zrcadlo (tsch.: Spiegel) repräsentieren den Tod. Zunächst wird Zrcadlo für einen Schauspieler gehalten, da sein Gesicht einer Maske gleicht, „wie der Tod selbst sie tragen würde, wenn er beschlösse, sich unter die Lebenden zu mischen.“ [Wn, S. 23]. Indessen fungiert Zrcadlo als Seelenspiegel, der den Figuren ihr eigenes Inneres vor Augen führt. Wie sich herausstellt, handelt es sich bei Zrcadlo um keine menschliche Figur, er ist ohne eigenes Bewusstsein. Vielmehr tritt er unvermittelt wie ein hypnotisiertes Wesen auf, welches den Menschen ihre Persönlichkeit widerspiegelt. Er bringt ihre tiefsten Ängste und Wünsche zum Vorschein. Gleichzeitig repräsentiert er aber auch den Tod: Wer ich bin? Hat es je, seit die Erde steht, einen Menschen gegeben, der auf diese Frage die richtige Antwort wüßte? - Ich bin die unsicht-

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bare Nachtigall, die in dem Käfig sitzt und singt. Aber nicht jedes Käfig Stäbe schwingen mit, wenn sie singt. Wie oft habe ich in dir ein Lied angestimmt, daß du mich hören möchtest, aber Du warst taub dein Leben lang. Nichts im ganzen Weltraum war dir stets so nah und eigen wie ich, und jetzt frägst du mich, wer ich bin! Manchem Menschen ist ihre Seele so fremd geworden, daß er tot zusammenbricht, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, daß er sie erblickt. Er erkennt sie dann nicht mehr, und sie erscheint ihm zum Medusenhaupt verzerrt; sie trägt das Antlitz der üblen Taten, die er vollbracht hat und von denen er heimlich fürchtet, sie könnten seine Seele befleckt haben. [Wn, S. 93 ff.] Die böhmische Liesel hält Zrcadlo für den Teufel, und auch er selbst stellt sich dem kaiserlichen Leibarzt als der „Gott, in dessen Hände die Menschen ihre Wünsche legen“ [Wn, S. 155] vor. Er erhört die Wünsche der Seele und bringt sie ans Tageslicht, er ist der gefallene Erzengel Lucifer: „Darum heiße ich: luci - fero.“ [Wn, S. 155] Ähnlich wie Mephistopheles in Goethes Faust verdeutlicht er mit dieser Lichtmetapher die Polarität des Menschen: Seine Seele ist in seinem Körper gefangen bedarf der Erleuchtung des Göttlichen: Bescheidne Wahrheit sprech ich dir. Wenn sich der Mensch, die kleine Narrenwelt, Gewöhnlich für ein Ganzes hält; Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war, Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar, Das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht Den alten Rang, den Raum ihr streitig macht, Und doch gelingt’s ihm nicht, da es, soviel es strebt, Verhaftet an den Körpern klebt. Von Körpern strömt’s, die Körper macht es schön, Ein Körper hemmt’s auf seinem Gange; So, hoff’ ich, dauert es nicht lange, Und mit den Körpern wird’s zugrunde gehn.233 Wenn der Mensch hingegen leer ist, muss er zugrunde gehen, wie der Zrcadlo erklärt: „Für die Wünsche, die aus dem Munde der wandelnden Leichname kommen, ist mein Ohr taub. – Deshalb entsetzen sich diese ‚Toten‘ vor mir.“ 233 Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie Erster Teil. Stuttgart 2000. S. 39.

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[Wn, S. 155] Und so bricht auch der blasierte Österreicher im Grünen Frosch unvermittelt tot zusammen, als ihm Zrcadlo gegenübertritt. Seine Seele ist tot, er hat keine Wünsche mehr, und infolgedessen zeigt ihm der Seelenspiegel nur mehr eine „Totenmaske“ [Wn, S. 90]. Auch die Figur Zrcadlo steht somit als Mittler zwischen Tod und Leben, er ist der Spiegel der Seele, deren Wünsche er ans Licht bringt. Je nachdem, ob die Seele lebendig oder tot ist, wird sie im Übergang vom Unbewussten zum Bewussten Besitz vom Körper ergreifen und sich in diesem widerspiegeln. Der Spiegel Zrcadlo ist ein Abbild der Seele, so wie das Ahnenbild der Gräfin Lambua ein Abbild der Vergangenheit ist, welches sich durch die Kraft des Unterbewussten offenbart. Mit ihrer Allgegenwart des Todes wird Prag in Walpurgisnacht in gewisser Hinsicht als versteinerte Stadt dargestellt, in der die Dimension der Zeit aus den Angeln gehoben ist. In der „steinerne[n]“ Stadt“ mit den „Menschen aus Stein“ [Wn, S. 156] scheint die Zeit still zu stehen. Die Vergangenheit lässt sich nicht mehr von der Gegenwart unterscheiden, genauso wie Leben und Tod untrennbar ineinander übergehen. In der Aufhebung der Zeit geht mit der Versteinerung der Prager Wahnsinn einher: Hast d’es noch nie bemerkt, Buberl […] daß in Prag alles wahnsinnig is? Vor lauter Heimlichkeit? Du bist doch selbst verrückt, Buberl, und weißt es bloß noch nicht! – Freilich, hier oben auf dem Hradschin, da is es eine andere Art Wahnsinn. – Ganz anders unten. – So – so mehr ein versteinerter Wahnsinn. – Wie überhaupt hier oben alles zu Stein geworden ist. – Aber wenn’s einmal losbricht, dann is es, wie wenn steinerne Riesen plötzlich anfangen zu leben und die Stadt in Trümmer schlagen […] hab ich mir als kleines Kind von meiner Großmutter sagen lassen. [Wn, S. 51] Der Wahnsinn, der in Prag herrscht, gleicht nur mehr einem „Sinnenrausch, an dem jeder Zeitbegriff zerschellte.“ [Wn, S. 75] In diesem versteinerten Wahnsinn ist die „Zeit“ nichts mehr als eine diabolische Komödie, „die ein allmächtiger unsichtbarer Feind dem menschlichen Gehirn vorgaukelt“ [Wn, S. 14]. Die „Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit“ [Wn, S. 73] wird aufgehoben, die Vergangenheit erwacht so zu neuem Leben, gleich einer Walpur-

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gisnacht, eines wilden „Danse macabre“ [Wn, S. 36]. Diese endet jedoch in einem grausamen Untergangszenario, wie es für das kriegerische Prag ein unausweichliches, immer wiederkehrendes Schicksal darzustellen scheint. So gilt auch in Walpurgisnacht das Gesetz, auf dem alles Magische beruht: „Wenn zwei Größen einander gleich sind, so sind sie ein und dasselbe und nur einmal vorhanden, auch wenn Zeit und Raum ihr Dasein scheinbar trennen.“ [Wn, S. 109 f.] Die Darstellung der Stadt Prag in Walpurgisnacht zeichnet sich auf verschiedenen Ebenen durch eine starke Polarität aus. Etwa die Teilung in oben und unten, das Über- und Ineinandergreifen der Vergangenheit in die Gegenwart und von Leben und Tod. Gleichzeitig verschmelzen also diese unvereinbaren Größen miteinander, was zu einer Infragestellung der Relevanz von Zeit überhaupt führt. So erscheint Prag als versteinerte Stadt und die Ereignisse, ebenso wie die Figuren und deren Handlungen, als eine beständige Wiederholung. [Vgl. z. B. Wn, S. 112] In diesem Zusammenhang werden verschiedene Prager Realia, historische Ereignisse und böhmische Mythen thematisiert, die mit einer hohen Dichte an typischen Prager Motivketten einhergehen. Besonders stark ist dabei die Omnipräsenz des Todes, die sich in Walpurgisnacht deutlich in der Konzeption der gesamten Stadt, der einzelnen Figuren, sowie der Orte und der Moldau widerspiegelt. Prag erscheint sowohl in der patriotischen tschechischen Literatur als auch bei Meyrink als polemische Stadt im Zeichen des Todes, jedoch trägt die literarische Darstellung in den jeweiligen Texten auch unterschiedliche Bedeutungen. Im Vergleich zu den patriotischen Prag-Texten handelt es sich bei Walpurgisnacht um einen phantastischen Roman, bei dem es kein Moment der Identitätsstiftung gibt bzw. keine Identifikation mit der Stadt intendiert wird. Das Eigenleben der Stadt steht hier vielmehr für sich. Prag wird als Topos dargestellt, an dem die Dimension der Zeit ihren eigenen Gesetzen folgt und somit auch die Grenzen zwischen Leben und Tod verwischen. Der Tod ist dabei allgegenwärtig. Dementsprechend beziehen sich auch die geschilderten Kriegsereignisse in der Handlung nicht konkret auf die Nationenkonflikte zwischen der deutschen und der tschechischen Bevölkerung, als vielmehr tatsächlich auf die Stadt Prag selbst, die semantisch zu einem historischen und

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mythischen Ort des Kampfes, des Krieges und des Todes aufgeladen wird. Eben diese sich widerstrebenden und sich vereinenden Kräfte begründen die Mythotopologie der Stadt Prag und eröffnen einen Schwellenraum, der in Gustav Meyrinks phantastischem Roman Walpurgisnacht besonders charakteristisch zur Geltung kommt.

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2.2.2 Zum Stillstand der Zeit im Kriminalroman von Miloš Urban Die Prager von heute […] lebten in einer Ruinenlandschaft, auf Schutt und Trümmern in Schwejks Hinterhof, und mit einem bitteren Lächeln fügte ich hinzu, dass ich eine Ecke in der Neustadt kannte, die den Namen Na zbořenci trägt, und meiner Meinung nach sollte man gleich ganz Prag so nennen: auf dem Trümmerhaufen. Was mir an dieser Gegend rund um Albertov so gefiele, sei, dass man hier in der Vergangenheit an der Bebauung gespart habe, und deshalb sei hier noch etwas von der ursprünglichen, heute bereits verschwundenen Atmosphäre der alten Stadt zu spüren.234 [Miloš Urban]

Auch in der neueren Prag-Literatur ab dem ausgehenden 20. Jahrhundert wird die Stadt häufig als bedeutungstragender Gedächtnisraum dargestellt: Prag mit seinen historischen Ereignissen wurde in den 1990er und 2000er Jahren zum Schauplatz zahlreicher Historien- sowie Kriminalromane.235 Der Literaturwissenschaftler Matteo Colombi, Herausgeber des Sammelbandes Stadt – Mord – Ordnung: Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa, stellt im Vorwort einen Zusammenhang zwischen Kriminalliteratur und urbanem Raum her. Der Band geht der Frage einer spezifischen Topographie des Verbrechens nach, die sich mutmaßlich aus der Geschichte und der Geographie des Ortes speist.236 Wie in den vorherigen Kapiteln bereits aufgezeigt wurde, eignet sich insbesondere die Topographie der Stadt Prag als literarischer Schauplatz von gruseligem, unheimlichem, verbrecherischem, kämpferischem oder mörderischem Geschehen. Seit den 1990er Jahren bildete sich eine Reihe von Autorinnen und Autoren heraus, deren Werke in Prag lokalisiert sind und sich als Kriminalromane klassifizieren lassen – so zum Beispiel Pavel Kohout (Hvězdná hodina vrahu, 1995), Helena Reich (Nasses Grab, 2008; Engelsfall, 2009), Philip Kerr (Böhmisches 234 Urban, Miloš: Die Rache der Baumeister. Ein Kriminalroman aus Prag. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová und Beate Smandek. Hamburg 2003. S. 184 f. 235 Besonders häufig erscheinen Historienromane oder historisch-phantastische Romane. So zum Beispiel Carl von Boeheims Unter dem Hradschin. Ein Prager Roman (1989), Frances Sherwoods Die Schneiderin von Prag (Originalausgabe: The Book of Splendor, 2003), Anna Ehrlichs und Bernadette Mayrs Szepter und Rose (2004), Kai Meyer Der Schattenesser (2005) oder Umberto Ecos Der Friedhof von Prag (Originalausgabe: Il cimitero di Praga, 2010). Mit Ausnahme von Umberto Eco handelt es sich bei diesen Historienromanen und weniger bekannte Literatur, die in der Forschung bisher kaum oder gar nicht rezipiert wurde. 236 Vgl. Colombi, Matteo: Stadt – Mord – Ordnung: Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa. Bielefeld 2012. S. 13 .

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Blut, Originalausgabe: Prague fatale, 2011) oder die Werke von Miloš Urban. Letzterer ist erfolgreicher tschechischer Krimi-Autor und veröffentlichte bereits mehrere Romane, welche die Stadt Prag als zentralen Handlungsraum haben (Sedmikostelí, 1999; Stín katédraly, 2003; Lord Mord, 2008; Praga Piccola, 2012). Seinen Schauerroman Sedmikostelí (1999), in der deutschen Übersetzung Die Rache der Baumeister 237, hat er ausdrücklich der Stadt Prag gewidmet.238 Das Geschehen spielt im Prag des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts, hauptsächlich in der Prager Neustadt (Nové město), wo ein brutaler Mörder sein Unwesen treibt. Indem ein besonderer Schwerpunkt des Textes auf der gotischen Prag-Architekt liegt, wird die Stadt als Erinnerungsund Gedächtnisraum konstruiert. Insbesondere die gotischen Kirchen spielen eine wichtige Rolle: Der Ich-Erzähler Květoslav Švach ist ein großer Bewunderer der Gotik, als Student der Geschichte unternimmt er „Pilgerreisen durch die Prager Kirchen“ [RdB, S. 59] und betrachtet die edle Schönheit der gotischen Bauart mit den farbenprächtigen Kirchenfenstern, wie etwa die des St.-Veits-Doms: Ich sah die Vergangenheit: Steinerne Maßwerke fügten das Glas zu sonderbaren Mustern zusammen, den Pfeilern vorgelegte Dienste schwangen sich an ihnen empor und gingen hoch über mir in Gewölberippen über, die sich gehorsam und doch freudig zu einer Verbeugung krümmten und so gewissenhaft Gewölbe, Dachstuhl und Dach des Gotteshauses stützten. Die Demut des mittelalterlichen Menschen war in Stein gemeißelt […]. Mich überkam ein Verlangen niederzuknien, die Dankbarkeit für diese Schönheit ließ mein Sitzenbleiben plötzlich unbillig erscheinen. [RdB, S. 45 f.] Diese Gewohnheit zieht sich durch das ganze Romangeschehen, Švach ist ein charakteristischer Prager Flaneur:239 „In dieser schlafwandelnden, ins unbe237 Der Roman Sedmikostelí trägt den Untertitel Gotický román z Prahy (Ein Schauerroman aus Prag). In der deutschen Übersetzung von Eva Profousová und Beate Smandek wird der Titel mit Die Rache der Baumeister. Ein Kriminalroman aus Prag wiedergegeben. Wörtlich bedeutet Sedmikostelí Siebenkirchen. 238 Vgl. Urban, Miloš: Die Rache der Baumeister. S. 7. Da in der vorliegenden Untersuchung mit der deutschen Übersetzung gearbeitet wurde, wird im Folgenden diese Quellenangabe mit [RdB] abgekürzt. 239 Zur Thematik der Flanerie vgl. den IV. Abschnitt über die Topologie der Entfremdung: Die

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kannte brausenden Stadt kam ich mir wie ein Anomalie vor: der einzige Fußgänger, Pilger, Anhalter.“ [RdB, S. 196] Als Polizist geht er auf Streife, aber auch nachts zieht er „andauernd in der Stadt herum [...]“ [RdB, S. 171]. Er ist einer der wenigen Menschen, die auch in der gegenwärtigen Zeit auf besondere Weise für die historische Schönheit der Stadt empfänglich sind und diese bewusst auf Spaziergängen wahrnehmen. Als leidenschaftlicher Flaneur jedoch meidet er das klassische historische Zentrum sowie die Altstadt und hält sich bevorzugt in Stadtteilen auf, die vom Tourismus verschont geblieben sind. Vor allem spaziert er gerne durch die Neustadt, die am Ende des 19. Jahrhunderts durch die Sanierung größtenteils dem Erdboden gleich gemacht wurde („unter Künstlern auch bekannt als ‚Der entsetzliche Prager Holocaust‘“ [RdB, S. 47]). Švach hat Mitleid mit den verschwundenen Häusern, und so führt ihn eine spezielle Nostalgie immer wieder dorthin: „meine Verliebtheit in längst vergangene Zeiten, die als Gegenwart zu erleben mir das Schicksal verwehrt hatte.“ [RdB, S. 47] Dabei empfindet er es als „Schändigung“ [RdB, S. 322], dass die Häuser mit ihrem Gedächtnis entfernt wurden: ich betrauerte das Leben der Häuser. Häuser, die doch die Augen, Ohren und Zungen einer Stadt sind und die der tschechische Hass auf die Vergangenheit einfach herausgerissen hat, er hat ihnen den Todesstoß versetzt. Ich lief durch die Straßen, denen man das Gedächtnis amputiert hat, und in stillem Entsetzen kam ich an Neubauten vorbei, die zuverlässig das Vergessen garantierten. [RdB, S. 61] Die gegenwärtige Stadt hingegen ist nicht mehr die, die sie einmal war – Švach hat das Gefühl, „dass den Pragern ihre Stadt herzlich egal ist“ [RdB, S. 241], und er bedauert, dass sie sich derart verändert und nur mehr verstopft ist vom Lärm der Automotoren und Baumaschinen. Das berühmte hunderttürmige Panorama wird indessen von einer Smogwolke verborgen: Keine tausend Türmchen über den steilen roten Dächern der Bürgerhäuser, keine dunklen Ecken, enge Hauseingänge und winzigen Fensterchen, keine Mauerstützen aus Holz oder Stein und keine Kaminaufsätze, die sich in ihrer Formenvielfalt über den weißen Schornsteinen wölbten. Stadt als Seelenspiegel.

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Meine Stadt gab es nicht mehr – die einzige Stadt in der ich wirklich zu Hause sein könnte und die ich unter Einsatz meines Lebens verteidigen würde, ohne auch nur einen Gedanken an meine angeborene Feigheit zu verschwenden. Diese Stadt, von der ich abhängig wäre und die von mir abhängig wäre. Die Stadt, wo ich der Zunft der Bierbrauer, der Weißgerber oder der Flößer angehören würde und nur einen Wunsch hätte: den Status Quo zu erhalten. [RdB, S. 175] Dennoch nimmt ihn das Alte Prag bei seinen Streifzügen „mit offenen Armen auf“: „Wann immer ich mich darauf einließ, führte sie mir ihre weniger bekannten Schlupfwinkel vor und verriet mir die Geheimnisse ihrer glorreichen Geschichte.“ [RdB, S. 246] Dabei interessiert ihn nicht die klassische Historiographie, wie sie ihm als Student an der Universität vorgesetzt wurde, sondern vielmehr der lebensnahe Alltag der Stadt, und er würde sich am liebsten direkt in die Geschichte Prags des sechzehnten, dreizehnten oder elften Jahrhunderts hineinversetzen [vgl. RdB, S. 256]: Ich war auf der Suche nach einer anderen Historie, nach einer lebendigen; nach der Geschichte als einer Dimension, in der ich mich mit gleicher Sicherheit bewegen konnte wie in meinem Alltagsleben. Was hatten damit schon irgendwelche Könige und Schlachten zu tun? Was hatten sie mit mir zu tun? […] Ich suchte nach einer Geschichtsschreibung, die jene zu ihrem Gegenstand macht, die wie ich keinen Namen hatten. [RdB, S. 48] Švach ist in gewisser Hinsicht ein Geschichtsflaneur, der auf den Spuren der Vergangenheit der Stadt wandelt und dabei Trost in der atmosphärischen Schönheit ihrer Kirchen und der mittelalterlichen Architektur sucht. So entflieht er in eine Zeit, die ihm lebenswerter erscheint als die Gegenwart: All das erinnerte mich an eine Zeit, in der man nur zu leben brauchte und die Sorge um das Morgen noch getrost in die Hände des Allmächtigen legen konnte. […] Der Hunger und die Not unter dem Segen des vierzehnten Jahrhunderts, von mir aus auch der hussitische Irrtum unter dem schlechten Stern des fünfzehnten oder das Aufkommen der schwülstigen Renaissance im sechzehnten Jahrhundert, ja sogar der verfluchte Dreißigjährige Krieg – alles wäre besser als das armselige

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Schicksal, an einer Vergiftung einzugehen, weil man sich an der Fressorgie des verderbten zwanzigsten Jahrhunderts beteiligen muss. [RdB, S. 322 f.] Mit dieser Sehnsucht weist die Hauptfigur in Die Rache der Baumeister eine starke Ähnlichkeit mit Jiří Karáseks Vilém aus Gotická duše auf, der mit seiner gotischen Seele in der Schönheit der Gotik Trost sucht und sich so in die Vergangenheit flüchtet. Auch Miloš Urbans Untertitel Gotický román z Prahy (Ein Schauerroman aus Prag) kann als impliziter Verweis auf Gotická duše verstanden werden. Die Figur Švach zeichnet sich durch eine spezielle Begabung aus, die ihn in besonderer Weise mit der Stadt verbindet: Sobald er einen von einem Menschen bearbeiteten Stein berührt, kann er in das „Leben“ des Steines und in dessen „Erinnerungen“ sehen [vgl. RdB, S. 37]. Diese „einzigartige Fähigkeit, in die Vergangenheit zu blicken“ [RdB, S. 343], besteht darin, dass er diese vor seinem inneren Auge wiederbeleben kann. Nicht nur die Hauptfigur beansprucht die Stadt in Die Rache der Baumeister auf diese Weise für sich – als Švach die Figur der Ritters Matthias Gmünd aus Lübeck kennenlernt, glaubt er zunächst einen Gleichgesinnten gefunden zu haben. Gmünd bezeichnet sich selbst als „Hüter der gotischen Kirchen“ [vgl. RdB, S. 255], er bewundert die architektonischen Ideen des Kaisers Karl IV. und hat ein „ausgesprochenes Gespür […] für die historische Topographie“ [RdB, S. 153]. Die Architektur des 20. Jahrhunderts indessen hält er für eine Verfehlung, sie missfällt ihm: Die Architekten des zwanzigsten Jahrhunderts wissen nicht, was Demut ist […]. Es wundert mich überhaupt nicht, dass Prag in den letzten Jahren so heruntergekommen ist. Eine hässliche Stadt bringt hässliche Menschen hervor. [RdB, S. 85] Es stellt sich jedoch heraus, dass Gmünd versucht, „alle Fehler der Geschichte zu korrigieren“ [RdB, S. 152], indem er die verantwortlichen Architekten ermordet bzw. ermorden lässt. Švach versucht er unterdessen mit seiner seherischen Begabung für sich zu gewinnen und zwingt ihn schließlich, ihm zu helfen. Er soll für Gmünd in die Vergangenheit sehen und ein Rätsel seiner

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Familiengeschichte aufklären. Švach kann seine Visionen allerdings nicht bewusst steuern, die Zustände treten unvermittelt auf und befallen ihn [vgl. RdB, S. 261]. Es ist für ihn „nicht so einfach, danach in den Alltagstrott zurückzufallen und so zu tun, als ob nichts gewesen wäre. Und in eine Welt zurückkehren, die im Gegensatz zu der anderen langweilig und arm ist, fällt mir auch nicht leicht.“ [RdB, S. 261] Am liebsten würde er dort bleiben und nicht wieder in die Gegenwart zurück müssen: Was ich um mich herum als Gegenwart vorfand, das hasste ich, und vor der Zukunft konnte mir nur grauen – da zeigte sich kein Hoffnungsschimmer. Aber ich brauchte nun einmal einen sicheren Hafen für meine Gedanken in diesem Meer von Angst und Hoffnungslosigkeit. Ich fing an, Einsamkeit zu suchen, und da stieß ich auf die mittelalterlichen Burgruinen. Hier gab es keine offenen Fragen, die Geschichte stand schon fest. Und trotzdem auch wieder nicht die ganze, die Phantasie hatte noch Raum genug. Ich verbrachte viel Zeit an solchen Plätzen und wollte sie immer für mich allein haben. [RdB, S. 257] Während Švach in der Vergangenheit lediglich seinen Seelenfrieden sucht, will Gmünd diese ganz genau kennen, „[d]amit sie wieder zur Gegenwart werden kann.“ [RdB, S. 262] Gmünd ist besessen davon, das Andenken Kaiser Karls IV. zu wahren und „zu ehren, wo man nur kann“ [RdB, S. 342]: „Wäre er nicht gewesen, gäbe es weder Sie noch mich, noch diese Stadt.“ [RdB, S. 342] Gmünd gehört einer Bruderschaft an, die es als ihre Pflicht erachtet, die Bauten ihrer Vorfahren zu schützen. Dieser Bund wurde im vierzehnten Jahrhundert geschlossen, um als getreue Anhänger Karls IV. „in Prag Gotteshäuser von einer solchen Erhabenheit zu errichten, wie sie der Kaiser bestimmt hatte. Sie sahen sich als diejenigen, die sein Werk weiterführten“ [RdB, S. 341] und die zukunftsweisenden Ideen des Kaisers umsetzten, um den Ruhm „eines zukünftigen Schmuckstücks in Stein“ [RdB, S. 342] zu garantieren. Und so kämpft Gmünd in Prag dafür, dass die gotischen Kirchen nicht umgebaut werden und man sich stattdessen dem Geschmack der Vergangenheit unterordnen muss: „Wir müssen uns zurückwenden, müssen umkehren. Sonst droht uns der Untergang.“ [RdB, S. 290]. Diese wertschätzende Rückwendung vollzieht auch der Roman, indem er immer wieder den

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Bezug zur Vergangenheit der Stadt Prag herstellt – „zur großen romantischen Vergangenheit“ [RdB, S. 256]. Im Gegensatz zur Vergänglichkeit des Menschen ist die Architektur dauerhaft, und so fungiert die Stadt als Gedächtnisspeicher.240 Diese nicht zu achten und zu schützen gleicht einem Verbrechen: Eine Stadt, die erlaubt, dass eine Bank, ein Mietshaus oder ein Bürohaus höher als eine Kirche wird, die ist dazu verdammt, ihr kümmerliches Dasein unter der Kuratel von Spekulanten, Hausmeisterinnen und Büroratten zu fristen. Es ist kriminell, die nächste Umgebung von Heiligtum zum Baugrund zu machen, es ist verboten, Gott zu spielen und die geweihten Türme überragen zu wollen [RdB, S. 295] Prag wird in Die Rache der Baumeister als umfassender Erinnerungsraum konstruiert, in dem die Mythotopologie der Stadt sehr präsent ist: Neben der Architekturgeschichte wird gelegentlich auch mit intertextuellen Bezügen bzw. implizit auf die Prager Literaturgeschichte verwiesen. So nennt sich beispielsweise der literaturbegeisterte Ich-Erzähler Květoslav Švach im Gymnasium selbst „K.“ und referiert damit auf Franz Kafkas berühmte Figur des Landvermessers aus Das Schloß. [Vgl. RdB, S. 22] Weiterhin interessiert er sich für Geschichte, vor allem für das Mittelalter und alte tschechische Literaten, so zum für Beispiel Karel Hynek Mácha, der auch mit einem Prag-Zitat angeführt wird: „Ausgestorben steht die Stadt im Ganzen – gleich einer verlassʼnen Gruft liegt Prag da.“ [RdB, S. 171] Im Roman wird ferner darüber reflektiert, ob sich auch das gegenwärtige Prag als Topos für einen klassischen Schauerroman eignen würde, wie etwa für Horace Walpole, den Begründer der englischen Gothic Novel: Was glaubst du, wie Horace Walpole heute schreiben würde? Wäre ihm das moderne Prag schaurig genug? Schaurig im romantischen Sinne, meine ich. Würde ihm die heutige Stadt als Impuls reichen? Oder würde er in die Zeit Rudolfs II. flüchten, wie es seit Svátek und Meyrink große Mode ist? Wäre er imstande, einen Kommentar zu dieser Zeit abzulegen? Würden seine Opfer für die alten Sünden der Vorfahren leiden, und würden die Geister die rücksichtlosen Halunken bestrafen? […] Er könnte Milieu und Figuren unserer Cyber-Gegenwart entnehmen und 240 Vgl. hierzu Kapitel Das Gedächtnis der Orte und die Lesbarkeit der Stadt.

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trotzdem würde sich seine Geschichte um die merkwürdigsten und mysteriösesten Orte und Individuen drehen, die man sich nur vorstellen kann. Schau dich doch bloß hier auf dem Universitätsgelände einmal um: Du triffst sie auf Schritt und Tritt... [RdB, S. 191 f.] Miloš Urban verweist hier auf eine angebliche literarische Tradition der Rückwendung in das rudolfinische Zeitalter. Tatsächlich gibt es vereinzelt historische oder phantastische Romane, die in der Zeit des Kaisers Rudolf II. situiert sind,241 jedoch beschränkt sich die Blütezeit dieser „großen Mode“ eher auf die Prager deutschsprachige Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts. Hingegen die Eigenheit der Prag-Literatur immer wieder ihre Inspiration in der Vergangenheit und der Geschichte der Stadt zu suchen, ist ein Motiv, das auch auf Die Rache der Baumeister zutrifft. Diese mysteriösen Orte haben die „magische“ Atmosphäre in Prag über das 20. Jahrhundert hinweg bewahrt und sind auch in Urbans Roman Ausgangspunkt der Ereignisse. An diesen besonderen Orten überkommen Švach Visionen aus der Prager Stadtgeschichte, zum Beispiel vergegenwärtigt sich in der Kirche Mariä Verkündigung vor seinem geistigen Auge der kriegerische Überfall der Hussiten auf das Gotteshaus. Seit dem Mittelalter fiel diese Kirche immer wieder der Barbarei des Militärs zum Opfer, das dort wütete und plünderte: „Aber was diese Geschichte der Misshandlungen schon gegen den Herbst des Jahres 1420, als die Hussiten von hier aus, direkt aus dem Gotteshaus, die Burg Vyšehrad unter Beschuss nahmen!“ [RdB, S. 140] Das Hussitenheer wird auch als „Bestia triumphans“ [RdB, S. 176] bezeichnet: Keine Irrenanstalt hat den gotischen Sakralbauten solchen Schaden zugefügt wie das Hussitenheer. Auf dem Vyšehrad wurden die Kirchen unter seinen Teufelshufen bis auf den letzten Stein abgetragen […]. Gewalt – das schon. Aber Mitleid? Erbarmen? Galanterie? Das kannten die Hussitenhorden nicht. Die Ideale des Hochmittelalters hatten für sie keinerlei Bedeutung. Europa hatte eine so barbarische Raserei nicht mehr erlebt, seit die Vandalen die Ewige Stadt plünderten. [RdB, S. 176 f.] 241 Zum Beispiel Frances Sherwoods Die Schneiderin von Prag (Originalausgabe: The Book of Splendor, 2003) oder Anna Ehrlichs und Bernadette Mayrs Szepter und Rose (2004).

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Auch der Begriff Bestia triumphans ist ein intertextueller Verweis auf das gleichnamige Pamphlet von Vilém Mrštík, mit dem er 1897 gegen die Assanierung des historischen Stadtzentrum um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und die damit einhergehende Zerstörung von städtebaulichen Denkmälern appelliert. Die Zerstörung der historischen Stadt Prag durch architektonische Eingriffe spielt in Die Rache der Baumeister eine entscheidende Rolle. Sie ist der Grund für die brutalen Ermordungen der verantwortlichen Architekten, Ingenieure und Beamten, die der Ritter Gmünd veranlasst, weil sie der „heiligen Stadt jahrzehntelang nichts als Schaden zugefügt“ [RdB, S. 354] haben. Sie haben Prag architektonisch entweiht und „haben neue Straßen durch Prag gezogen und damit auch die ganzen Blechungeheuer hergebracht, die darauf entlangdonnern.“ [RdB, S. 355] und die Stadt hat sich so „am Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts“ in ein „Theater des Grauens“ verwandelt [RdB, S. 297]. Gmünd hingegen empfindet Demut vor der Zeit und der Vergangenheit und somit auch vor den historischen Bauten, und er kann den Hochmut des Menschen nicht tolerieren, „die Gegebenheiten des Universums nach ihrem Gutdünken zu definieren“ [RdB, S. 339]. Die Zeit steht wie ein alter Mensch am Rande des Grabes. Es liegt der Anfang des dritten Jahrtausends vor uns – nach Menschenart wird hier zu Lande zumindest so gezählt –, und ich glaube, ich bin nicht der Einzige, der spürt, dass mit diesem Bruch eine Dämmerung heraufzieht: die Menschheitsdämmerung. Die Menschen haben sich in den Rang von Göttern erhoben, sie haben sich zu selbst ernannten Göttern gemacht, und jetzt erwartet sie die Strafe. Das ist nur gerecht. Aber es gibt auch einige wenige, die alles wieder zurecht rücken wollen. Sie sind die Gesandten der Zeit. Sie gebieten dem Verfall Einhalt und verhindern den Untergang. [RdB, S. 339 f.] So wird schließlich am Ende des Romans auch die Zeit an sich in Frage gestellt. Das Wahrzeichen der Bruderschaft, deren Mitglieder sich als die Gesandten der Zeit verstehen, ist ein Kreis mit einem Hammer, der „ein Zifferblatt mit großem Zeiger, eine Uhr mit ihrem Pendel“ [RdB, S. 343] darstellt. Diese symbolisieren „die unendliche Zeit und ein Instrument, das sie in Abschnitte unterteilt, in Menschenleben.“ [RdB, S. 343] Am Ende des Ro-

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mans verschmilzt dieses Symbol mit einem grotesk-apokalyptischen Panorama-Bild von Prag. Švach sitzt mit dem Ingenieur Zahir im Auto, sie rasen durch das nächtliche Prag und prallen „mit einem Geräusch, für das die Sprache kein Wort kennt“ [RdB, S. 365] gegen einen Kran: Es wurde stockfinster, dann schien das Licht noch einmal auf und versank gleich wieder in der Dunkelheit […]. Der Wagen drehte sich hochkant um sich selbst wie ein Jahrmarktriesenrad, das sich vom Sockel losgerissen hat, er stieg lautlos in der Nachtluft auf und schlug wunderbare Lichtsalti. Er flog senkrecht nach oben, dann hoch über unsere Köpfe, und schließlich neigte sich seine Bahn langsam nach unten. […] Seht nur, das Auto hat auf dem höchsten Punkt seiner Flugbahn angehalten, sein Flug bricht, und gleich wird es eine zweite, genauso anmutig geschwungene Kurve beschreiben, diesmal allerdings eine absteigende , bevor es im senkrechten Fall auf die Magistrale stürzen wird; im Moment hängt es freilich noch über dem Halbkreis der Fronleichnamsbruderschaft und beleuchtet mit seinem weißen Licht das dunkel glühende Zifferblatt des Mondes, der in diesem roten Schein über Prag aufgetaucht ist wie auf einem Gemälde von Caspar David Friedrich; das Auto ist der eiserne Hammer eines Pendels, das in seiner Bewegung anhält, es verlangsamt das Tempo, seine Ausschläge werden kürzer, bis es ganz aufhört... nein – es zittert noch, kaum merklich. […] Das Unmögliche war wahr geworden, die Zeit stand still und wartete auf einen Befehl. [RdB, S. 365 ff.] Mit diesem phantastischen Bild kommt es in Die Rache der Baumeister zum Stillstand der Zeit. Doch auf einmal gerät das Pendel wieder in Bewegung, „und plötzlich geht es nicht mehr auf Mitternacht zu, nein, es verliert seine Starre, wellt sich und dreht und rutscht endlich ein paar Einheiten zurück – in eine unbekannte Zeitlosigkeit.“ [RdB, S. 367] Die Dimension der Zeit wird aufgehoben, und in einem abschließendem Epilog wird deutlich, dass somit auch die Vergangenheit und die Gegenwart miteinander verschmelzen: Es gibt nicht Neues unter der Sonne, es wird nie etwas Neues geben. Kehrt um zum Erprobten, es ist allerhöchste Zeit. Wir bekennen uns zu den alten Wegen – zu den Wegen, die zurückführen. [RdB, S. 379]

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Der Ich-Erzähler beschreibt, dass der weise Herrscher Ritter Matthias [vgl. RdB, S. 379] im letzten Moment vor dem Untergang der Menschheit die Augen öffnen konnte und so auch sie ihren Blick rückwärts gewandt habe. Die Neuzeit ist nun zu Ende: „Nur mit dieser Perspektive können wir die Apokalypse überstehen, nur mit diesem Glauben können wir in das neue paradiesische Zeitalter vordringen, ins wunderschöne und selig machende vierzehnte Jahrhundert.“ [RdB, S. 380] Abermals bemächtigt sich in den Topologien Prags die Vergangenheit der Gegenwart, sie lässt sich nicht überwinden und erscheint auf magische Weise gegenwärtig. Kehren bei Meyrink zunächst nur einzelne Episoden und Figuren aus der Vergangenheit wieder, so wird bei Urban die gesamte Stadt ins 14. Jahrhundert zurück versetzt, welches dem Ich-Erzähler Švach ohnehin atmosphärischer und lebenswerter erscheint als das ausgehende zwanzigste Jahrhundert. Hier tritt die Mythotopologie und der damit verbundene Schwellencharakter Prags deutlich zutage – in dieser Stadt herrschen andere Gesetze als andernorts: Der Topos Prag wird als umfassender Erinnerungsraum konstruiert, an dem der Aspekt der Zeit kaum mehr eine Rolle spielt, da die Geschichte und die Vergangenheit omnipräsent sind. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen herrscht nicht nur im realtopographischen Stadtbild, sondern vor allem in der Prag-Literatur, in der sogar (historische) Vergangenheit und (fiktive) Gegenwart miteinander verschmelzen. Somit erscheint Prag als polemische Stadt, da mit ihrer Historie auch immer die Topologien des Kampfes und des Todes präsent sind: War Prag zu Beginn des 20. Jahrhunderts tatsächlich noch Schauplatz herrschender Kämpfe, so sind Krieg und Tod in der Literatur auch dann noch gegenwärtig, als es in der Stadt keine offenen Auseinandersetzungen mehr gibt. Prag wird so zu einem traditionellen Schauplatz der Unruhen, an dem immer wieder ambivalente, widerstreitende Kräfte aufeinandertreffen, sich in ständiger Auseinandersetzung miteinander befinden und zugleich ineinander übergehen.

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2.2.3 Die weinende Frau in den Straßen von Prag als personifiziertes Gedächtnis der Stadt Wo die Riesin vorüberzieht, fallen die Schuppen von den Augen, alle Sinne vereinigen sich und liegen auf der Lauer. Und unter der Herrschaft des Ortes, dem großen Geheimnis des Ortes erstaunen wir jäh, am Leben zu sein und gebunden an die Erde mit Fleisch und Blut, verankert in Raum und Zeit mit der ganzen Kraft unseres Daseins242 [Sylvie Germain]

Ein Text, der diesem Erinnerungsraum am Ende des 20. Jahrhunderts gewissermaßen huldigt und die Stadt Prag als solchen reflektiert ist Sylvie Germains Novelle La pleurante des rues Prague (Die weinende Frau in den Straßen von Prag, 1991). Die französische Autorin lebte und lehrte in den 1980er und 90er Jahren in Prag und ist somit Zeitzeugin der politischen Bewegung der Dissidentenszene und der so genannten „Samtenen Revolution“. In ihrem Text erweckt sie die Stadt Prag mit ihrer Vergangenheit auf „magische“ Weise zum Leben. Erzählt wird die Chronik der Erscheinungen einer geheimnisvollen Frauengestalt: Die Ich-Erzählerin schildert über Jahre hinweg die Begegnungen mit einer golemartigen humpelnden Riesin, deren Wesen sie im Epilog folgendermaßen beschreibt: Die Riesin mit dem Hinkefuß und dem weinenden Herzen ist geboren aus den Steinen von Prag, aus der Vermählung der Zeit mit der Stadt. […] Sie ist geboren aus den Steinen von Prag, aus denen des Hradschin wie auch des Vyšehrad, mit ihren Wällen und Türmen, aus denen der Brücken, der Kathedralen und Kirchen, der Paläste wie der armen Häuser des Straßenpflasters, der Treppenstufen, der Gassen im Ghetto. […] Sie ist das Gedächtnis der Stadt – das Schattengedächtnis, jenes der Armen und Kleinen, deren Namen die Geschichte nicht bewahrt, deren Leiden sie vergißt. Sie ist das allen Ruhms bare Gedächtnis, das nirgends aufgezeichnet, nicht gefeiert noch besungen, nicht ins funkelnde Gold der Mythen und Legenden gegossen wird. [DwF, S. 96 ff.] Diese Gestalt ist das personifizierte, namenlose Gedächtnis der Stadt Prag, „die Aura, die aus den Steinen der Stadt, aus aller Materie […] hervorge242 Germain, Sylvie: Die weinende Frau in den Straßen von Prag. Aus dem Französischen von Christel Gersch. Berlin 1994. S. 83. Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [DwF] abgekürzt.

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gangen ist.“ [DwF, S. 99] Sie erscheint immer nur für einen kurzen Augenblick, „ein kurzes Innehalten der Zeit“ [DwF, S. 45], aber jedes Mal genügt dieser Moment, um „Zeit und Ort umzustürzen“ [DwF, S. 54], den gegenwärtigen Raum des Sichtbaren zu verwandeln und die Aufmerksamkeit auf das Erinnern zu richten. Sie ist die Vergegenwärtigung der Geschichte und der Vergangenheit der Stadt Prag. Mit der Personifikation dieses an sich immateriellen Erinnerungsraumes kommt es zu einem Bruch im Raum-Zeit-Kontinuum, die Dimension der Zeit setzt für einen Moment aus und „vermählt sich mit der Materie“ [DwF, S. 96]: „der Augenblick weitete sich und wurde dadurch gesprengt, daß er Augenblicke der Vergangenheit sich zu einer Erscheinung dicht an der Grenze zur Gegenwart zusammenfinden ließ.“ [DwF, S. 35] Die Zeit gleicht in den Momenten ihrer unverhofften Erscheinung einer „abschüssigen Straße“, so dass die Vergangenheit derart schnell herannaht, „daß es ebenso gut die Zukunft sein konnte.“ [DwF, S. 43] Ähnlich wie die Legendengestalt des Golem aus Lehm gebaut wurde, ist die Riesin die Gestaltwerdung aus den Erinnerungen der Stadt, die in ihren Steinen gespeichert sind, in ihren Wällen und Türmen, in den Brücken, Kathedralen und Kirchen, in den Palästen und den Häusern der Armen, im Straßenpflaster und in den Treppenstufen sowie den Gassen im ehemaligen Ghetto: Sie ist das Gedächtnis der Stadt – das Schattengedächtnis, jenes der Armen und Kleinen, deren Namen die Geschichte nicht bewahrt, deren Leiden sie vergißt. Sie ist das allen Ruhms bare Gedächtnis, das nirgends aufgezeichnet, nicht gefeiert noch besungen, nicht ins funkelnde Gold der Mythen und Legenden gegossen wird. [DwF, S. 97 f.] Die Riesin gemahnt insbesondere an die tragischen historischen Ereignisse in Prag und fungiert so unter anderem auch als Paradigma für das Schicksal der jüdischen Bevölkerung: „Es sind die Tränen der Ungetrösteten, die in dem riesigen, immateriellen Körper der Weinenden in den Straßen von Prag nicht aufhören zu rinnen, zu raunen und die Ungetrösteten sind Lebende wie auch Tote.“ [DwF, S. 32] In ihrer weinenden Gestalt verkörpert sie das Leid der Verfolgten und Ermordeten, sie ist deren „leibhaftig gewordener gemeinsamer Schmerz“ aus dem „Land der Lebenden und der Toten“ [DwF, S. 27]. Sie ist

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die Verbindung des gegenwärtigen Prag mit der immateriellen Welt der Vergangenheit und so bekommt auch mit der weinenden Frau in den Straßen von Prag der Tod seine Omnipräsenz in den Topologien der Stadt: Ohne Ende humpelt die Weinende zwischen den Welten, der sichtbaren und der unsichtbaren, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen atmendem Fleisch und schweigendem Staub. Hin und her wandert sie zwischen der einen Welt und der anderen – heimliche Fährfrau von Tränen, Tränen derer, die entschwunden sind, wie derer, die leben. [DwF, S. 33] Ähnlich wie der Fährmann der griechischen Mythologie Charon, der die Toten mit seinem Fährboot über den Fluss Acheron in die Unterwelt übersetzt, verbindet sie das Reich der Toten mit dem der Lebenden. Ihre Gestalt wird als eine seltene und flüchtige Erscheinung beschrieben, dennoch ist sie in der Stadt allgegenwärtig, auch wenn sie unsichtbar ist und die Passanten durch sie hindurch gehen ohne es zu wissen. [DwF, S. 98] Die weinende Frau in den Straßen von Prag erinnert in ihrer Flüchtigkeit und ihrem unverhofften Erscheinen an eine Figur des Anderen, welche an späterer Stelle im Kapitel Unverhoffte Begegnungen: Die Figur des Anderen als Seelenspiegel ausführlich untersucht wird. In einer Szene offenbart sich der Ich-Erzählerin auch „die Zeit eines todkranken Mannes“ [DwF, S. 44], ihres Vaters, der in Paris lebt. Diese Passage wirkt wie ein autobiographischer Einschub, da es tatsächlich nicht um die Stadt Prag geht, sondern um die persönliche Geschichte der Ich-Erzählerin bzw. Autorin, die selbst aus Paris stammt. Insofern fungiert Prag als Topos in diesem Text neben seiner Funktion als kollektivem Gedächtnisraum für die Erzählerin auch als Seelenspiegel, indem sie dort auch mit ihrem individuellen Schicksal konfrontiert wird. Sie bewegt sich als Flaneurin durch Prag, gleichwie auf der Suche nach den Momenten, in denen ihr sich die Vergangenheit offenbart. Und so bewegt sie sich durch die verschiedenen Stadtviertel, in denen ihr die Fremde immer wieder wie eine Vision erscheint; so zum Beispiel in der Altstadt auf dem Altstädter Ring, in Vinohrady, in Žižkov „auf

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einer langen Straße unweit der Friedhöfe von Olšany“ [DwF, S. 25], oder auf dem Petřín: Wer aber ist die Fremde? Eine Vision, die selber Visionen trägt und sät. […] Eine Vision, gebunden an einen Ort, hervorgegangen aus den Steinen einer Stadt. Ihre Stadt – Prag. Nie ist sie woanders erschienen, obgleich sie gewiß die Macht dazu hat. [DwF, S. 14] Und doch ist die Riesin „kein Gespenst, kein Überbleibsel alter Zeiten. Auch eine Prophetin ist sie nicht. Sie verkündigt nichts.“ [DwF, S. 47] Dennoch kann der Text Die weinende Frau in den Straßen von Prag als ein Appell an das kollektive Prager Gedächtnis verstanden werden, welches im ausgehenden 20. Jahrhundert kaum mehr so aktiv ist, wie im beginnenden. Es sind die Menschen, die ein kollektives Gedächtnis ausmachen und die Erinnerungen lebendig halten, indem sie sich erinnern. Im Epilog erzählt die „Schreibende“ [DwF, S. 101 ff.], dass sie die Riesin lange nicht mehr getroffen habe. Gleichwohl habe diese die Stadt nicht verlassen, da sie eins mit ihr sei. Die weinende Riesin habe sich lediglich in das Innere der Steine zurückgezogen, während die Passanten ohne es zu wissen durch sie hindurch gehen. [Vgl. DwF, S. 98] Mit Die weinende Frau in den Straßen von Prag gemahnt Germain neben der Stadt als Topos mit seiner Geschichte auch an deren literarische Tradition und referiert an verschiedenen Stellen auf das fiktionale Prag der Literatur. Im „magischen“ Prag der Fiktion ist alles möglich, da es als Topos die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ermöglicht: „Sie geht überall, wohnt nirgends, erscheint an allen Orten. Und Texte sind auch Orte – Texte vor allem. Es sind die Orte, wo alles sein kann“ [DwF, S. 72]. Jene Texte, worin das Herz untergeht, auf daß es besser begreife, und sei es nur für einen Lidschlag, durchwandert die Riesin mit dem Hinkefuß. Ihre Schritte hallen in den Worten wider, ihre Tränen blinken zwischen den Zeilen. [DwF, S. 73]

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So sind jedem einzelnen Kapitel Zitate von tschechischen Dichtern vorangestellt und auch innerhalb des Textes gibt es einige intertextuelle Bezüge. Häufig zitiert German Jiří Karásek ze Lvovic, so zum Beispiel am Anfang des Kapitels, in dem die Unbekannte auf dem Petřín erscheint: „Ins Dunkel der Stadt komm die Nacht auf ewig. Zittern siehst du an den Fassaden den Flor des Grams.“ [DwF, S. 39] Auch auf Franz Kafka (Der Kübelreiter) [vgl. DwF, S. 70] wird verwiesen und immer wieder Bezug auf Libušes Weissagung genommen: „Und schon zu den Sagenzeiten, als die Fürstin Libuše den künftigen Ruhm ihrer Stadt prophezeite, wurde im Schatten dieses kommenden Ruhms die Riesin sichtbar wie eine Zwillingsschwester.“ [DwF, S. 96 oder auch S. 50] Ein intertextueller Bezug auf Guillaume Apollinaires Le passant de Prague verbirgt sich womöglich in dem folgenden Satz: „An dem opalen Nebeltag wirkte jeder Passant gespenstisch“ [DwF, S. 24]. Apollinaires Erzähler glaubt sich in einem Amethysten im Prager Veitsdom wiederzuerkennen – sein eigenes „Leidensportrait“ mit dem gespenstischen „Gesicht mit blitzenden, irren Augen“243. So wie dieser sein Ebenbild in dem Opal sieht, so fungiert auch Die weinende Frau in den Straßen von Prag als Verkörperung und somit als Widerspiegelung der Vergangenheit und Geschichte der Stadt. Schon mit dem Titel der Novelle, La pleurante des rues Prague, referiert Germain gewissermaßen auf den bekannten Text Le passant de Prague von Apollinaire, nicht zuletzt da sich sowohl die Riesin wie auch die Ich-Erzählerin als Passantinnen bzw. Spaziergängerinnen durch die Straßen Prags bewegen. Es scheint Germains Erzählerin ein individuelles Anliegen zu sein, das kollektive Gedächtnis der Stadt Prag aktiv und lebendig zu erhalten. Dabei liegt ihr Fokus insbesondere auf den tragischen und todbringenden Ereignissen, die in die Mythotopologie Prags besonders tief eingeschrieben sind. Auch im Gedächtnis der Stadt spielt die Zeit eine untergeordnete Rolle und es herrscht eine immerwährende Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

243 Apollinaire, Guillaume: Der Wanderer von Prag. S. 313.

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2.3 Prag als Paradigma der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Mit einemmal wurde die Zeit zu einer abschüssigen Straße. Die Zeit wurde zu der Straße, die nach dem Stadtviertel hinabführte, über dem das Gewitter hing. Die Zeit wurde zu der Straße, die sich wie ein Gauklerseil über einen Abgrund spannte. Die Vergangenheit nahte in großer Schnelle – aber so schnell, daß es ebensogut die Zukunft sein konnte. Es gibt keine abstrakte Zeit; die Zeit ist immer die Zeit eines Wesens, das sie erlebt und empfindet, die Zeit der Geschichte eines Lebenden.244 [Sylvie Germain]

In Hinblick auf das Narrativ der Stadt gilt es also festzuhalten, dass sich über das 20. Jahrhundert hinweg in der neueren Prag-Literatur neben der Erinnerungskultur, die sich mit einer weiter zurückliegenden identitätsstiftenden Geschichte beschäftigt, ein Bewusstsein für die Bedeutung der Literaturgeschichte Prags entwickelt zu haben scheint. Diese wird mitunter auch in den Texten konkret thematisiert, so zum Beispiel bei Miloš Urban oder Sylvie Germain, in denen die literarische Funktion der Stadt Prag als Gedächtnisraum in gewisser Weise reflektiert wird. Diese ständige Reflexion und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stellt als eine Form der Erinnerungskultur das Fundament des Prag-Mythos dar. So findet in der Mythotopologie Prags eine Aufhebung der Zeit statt: Vergangenheit und Gegenwart, kollektiver und individueller Erinnerungsraum verschmelzen miteinander – alles scheint in diesem Schwellenraum miteinander verwoben zu sein und ineinander überzugehen. Dementsprechend lässt sich auch die Geschichte der:des Einzelnen nicht von der Stadtgeschichte lösen, mit der sich viele Autorinnen und Autoren sowie deren Figuren identifizieren. In diesem Zusammenhang erscheinen die Figuren mitunter als Flaneur:innen der Geschichte, so zum Beispiel in Jíři Karáseks Gotická duše, in Germains La pleurante des rues Prague oder auch bei Miloš Urban. In Die Rache der Baumeister wird dieser Prager Flaneur sogar von den Figuren selbst reflektiert: Wissen Sie eigentlich, wann der Wanderer von Prag gestorben ist? […] Inzwischen ist er zu einer rein literarischen Figur verkommen. […] Jedenfalls starb der Wanderer in dem Moment, als die Magistrale die 244 Germain, Sylvie: Die weinende Frau in den Straßen von Prag. S. 44.

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Stadt in zwei Teile schnitt.245 Zu Fuß gehen hier seitdem nur noch verrückte Nostalgiker […]. Ein lebensgefährliches Unterfangen, und trotzdem geben wir keine Ruhe. Die anderen verschanzen sich in ihren Autos – können wir es ihnen denn verdenken? Ihr Selbsterhaltungstrieb bringt sie dazu, sie sind außer sich vor Angst überfahren zu werden. [RdB, S. 83 f.] Weiterhin erscheint auch das Motiv des Todes in Zusammenhang mit der Präsenz der Vergangenheit allgegenwärtig. Viele der beliebtesten touristischen Prager Sehenswürdigkeiten gemahnen an den Tod – so zum Beispiel die berühmten Prager Friedhöfe oder die Königs- und Kaisergräber im St. Veitsdom. Der Tod steht nicht nur allegorisch für Vergänglichkeit, vielmehr ist er Teil der Geschichte der Stadt und begegnet uns im fiktiven, wie auch im realen Prag fortwährend. Ein weiteres Wahrzeichen von Prag ist die für Laien und Besucher kaum entzifferbare sagenumwobene Altstädter Rathausuhr (oder Aposteluhr). Auch hier erscheinen die Zeit und der Tod in einem untrennbaren Zusammenhang: Seitlich des Ziffernblattes steht mit einer Sanduhr in der Hand der Gevatter Tod, der an einer kleinen Glocke jede volle Stunde den Apostelgang einläutet. So wie die Zeit auf der Rathausuhr kaum abzulesen ist, gehorcht sie auch im fiktiven Prag ihren eigenen Gesetzen oder erscheint mitunter gänzlich aufgehoben. In vielen Prag-Texten, so zum Beispiel in Gustav Meyrinks Walpurgisnacht, finden sich konkrete Hinweise auf die Bedeutungslosigkeit der Dimension der Zeit. In diesem Kontext steht auch das Symbol der Uhr: Die Uhren ticken in Prag anders. In Walpurgisnacht ist es Polyxena, die in den Lauf der Zeit eingreift: Sie stellt die Zeiger der Uhr zurück, um Ottokar den Zeitpunkt für ihr Stelldichein zu signalisieren [vgl. Wn, S. 64]. Oftmals finden sich in den Texten auch Hinweise auf die hebräischen Uhren im Alten Judenviertel, deren Ziffernblatt analog zur hebräischen Schreibrichtung von rechts nach links verläuft, also umgekehrt zu den konventionellen römischen Ziffernblättern (so zum Beispiel in Guillaume Apollinaires Le passant de Prague). In einem Bild245 Gemeint ist hier eine Art Stadtautobahn, die am Bahnhof vorbei teilweise dreispurig mitten durch die Neustadt und über die Nusle-Brücke (Nuselský most) Richtung Süden aus der Stadt führt.

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band über Egon Erwin Kischs Reportagen befindet sich ein Zeitungsartikel mit dem Titel Unter den Uhren von Prag, gezeichnet von Matthias Brunhauser.246 Dieser beschreibt verschiedene Prager Uhren, die alle unterschiedlichen Zeitabläufen folgen: Die Straßenuhren dieser Stadt, die keine normalisierte Stadt ist, sind keine normalisierten Uhren. Sie gehen nicht alle ganz gleiche, ihre Zifferblätter sind voneinander äußerst verschieden und auch das Leben, das unter dem Ablauf einer prager Straßenuhr abläuft, unterscheidet sich von dem Ablauf unter jeder anderen prager Straßenuhr. [...] Aber wer kennt sich denn in der neuen Zeit aus?247

Abb. 8: Die Prager Rathausuhr am Altstädter Ring (Staroměstský orloj): Die Zeit und der Tod.

246 Unter den Uhren von Prag. In: AIZ (Arbeiter-Illustrierten Zeitung), 12. Jg., Nr. 22, 8. Juni 1933, S. 382. 247 Kisch, Egon Erwin: Unter den Uhren von Prag. Hrsg. von Fritz Hoffmann. Berlin; Weimar 1985. S. 28.

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In Prag gilt offenbar eine andere Zeitrechnung als andernorts, wobei das Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen oder die Infragestellung und Aufhebung der Dimension der Zeit im fiktiven Prag einerseits sicherlich Ausdruck eines bestimmten Zeitgefühls der Entstehungszeit der Texte ist, zum anderen aber einen festen Bestandteil der Mythotopologie der Stadt Prag darstellt.

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3 Das traumatische Prag: „Město se měnilo“ 3.1 Die Traumata der Besetzung in der Geschichte der Stadt Prag im 20. Jahrhundert Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs endete auch die Ära der Habsburger Monarchie, und mit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik (Československá republika, ČSR) wurde schließlich am 28. Oktober 1918 die lang umkämpfte nationale Unabhängigkeit des Staates ausgerufen. Im Laufe des darauf folgenden 20. Jahrhunderts wurde Prag zum Schauplatz sich ständig verändernder Macht- und Besatzungsverhältnisse. Verschiedene gesellschaftliche sowie ideologische Systeme und Regime wechselten sich hier ab: Auf den Habsburger Kaiser Franz Joseph II. folgte als erster demokratischer Staatspräsident der ČSR zunächst der Intellektuelle Tomáš Garrigue Masaryk. Nach dem Münchner Abkommen im Zweiten Weltkrieg (1938) und dem darauffolgenden Einmarsch der Nationalsozialisten zur „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ wurde die Stadt 1939 von deutschen Truppen besetzt. So unterlag Prag bis 1945 als Hauptstadt des Protektorats Böhmen und Mähren der Besatzung der Nationalsozialisten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die tschechoslowakische Republik von dem zweiten Staatspräsidenten Edvard Beneš regiert, welcher der Tschechoslowakischen NationalSozialistischen Partei angehörte. Dieser wurde jedoch mit der Machtergreifung der Kommunisten drei Jahre später vom Führer der kommunistischen Bewegung Klement Gottwald abgelöst. Ab 1948 war also die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KSČ) mit ihren stalinistischen Diktatoren an der Macht, und 1960 wurde der Staat mit der Erlassung einer neuen Verfassung zur Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) proklamiert. Nachdem der liberale Alexander Dubček Parteiführer der KSČ wurde, kam es im Laufe der 1960er Jahre zur so genannten Tauwetter-Periode und dem Versuch der Durchsetzung eines Liberalisierungs- und Demokratisierungsprogramms. Diese wurden im August 1968 mit dem Prager Frühling, der gewaltsamen Niederschlagung der friedlichen Reformbewegung durch den Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag jäh unterbrochen. In der darauffolgenden Zeit der Normalisierung (normalizace), wie die Periode nach dem

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Prager Frühling genannt wird, wurde seitens der sowjetischen Besatzung versucht, die Bedingungen und das „normale“ Funktionieren der sozialistischen Gesellschaft vor den Reformversuchen wiederherzustellen. Darunter fallen beispielsweise die Erneuerung der Zensur und das Verbot von politischen Organisationen und Vereinen. Vor allem die Normalisierung bedeutet in der tschechischen Literatur des fortschreitenden 20. Jahrhunderts einen starken Einschnitt. War es bereits in den 1960er Jahren vor der Niederschlagung des Prager Frühlings zu einer Lockerung der Zensur und der politischen Repressionen gekommen, so wurde die „Säuberung“ danach umso härter durchgeführt – sie „übertraf jene während der nationalsozialistischen Okkupation ebenso wie jene nach dem Februar 1948“248. Erst die so genannte Samtene Revolution führte im November 1989 schließlich zum Sturz des bis dahin herrschenden sozialistischen Regimes und die sowjetischen Truppen verließen die Tschechoslowakei endgültig im Jahr 1991. Václav Havel wurde anschließend zum Präsidenten gewählt, unter dem nach der friedlichen Auflösung der Tschechoslowakei im Jahre 1992 Prag zum 1. Januar 1993 zur Hauptstadt der unabhängigen Tschechischen Republik erklärt wurde. Unter diesen wechselnden Regimen und Fremdherrschaften und deren Ideologien war die Herausbildung eines tschechischen (bzw. tschechoslowakischen) Selbstverständnisses und einer eigenen zeitgenössischen Kunst und Kultur kaum möglich. Nachdem zunächst im beginnenden 20. Jahrhundert die Atmosphäre in Prag von einem sich emanzipierenden Nationalempfinden und den entsprechenden Auseinandersetzungen dreier Kulturen geprägt war, stand der Großteil der weiteren Stadtgeschichte dieses Jahrhunderts im Zeichen der Besetzung und Unterdrückung. In dieser Zeit entwickelten sich in der Literatur drei kulturell-kommunikative Bereiche: die heimische, öffentliche (offizielle) Literatur, die heimische (inoffizielle) Literatur im Untergrund (Schriften, die in Manuskriptform oder im Samizdat 249 herausgegeben wurden) und 248 Vgl. Holý, Jiří: Tschechische Literatur 1945-2000. Tendenzen, Autoren, Materialien. Ein Handbuch. Hrsg. von Gertraude Zand. Wiesbaden 2011. S. 77 . 249 Der Begriff Samizdat bedeutet wörtlich „Eigenauflage“, oder „selbst herausgeben“. Er stammt aus dem Russischen und ist eine Zusammensetzung von сам (selbst) und издавать

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Literatur, die im Exil verfasst und verbreitet wurde. 250 Vor allem in der Zeit der Normalisierung hatten viele Schriftsteller:innen „für die öffentlichen Institutionen aufgehört zu existieren“, und „ideelle und literarische Polemiken verschwanden gänzlich“251. Der tschechische Literaturwissenschaftler Květoslav Chvatík sieht in diesen turbulenten historischen Ereignissen und politischen Repressionen des 20. Jahrhunderts einen engen Zusammenhang mit der Entwicklung einer Prager Moderne: Die Stadt war Zeuge, wie ihre Monumente und Kulte aufgebaut und zerstört wurden. Kriege und Revolutionen, Fenstersturz und Okkupation, Aufstände und Jahre der Lethargie lösten einander wie im Zeitraffer ab. Die Prager kämpften in der Illegalität und auf den Barrikaden, sie wurden zu Tausenden hingerichtet, inhaftiert und aus dem Land vertrieben – die Stadt hat ihren geheimnisvollen Reiz bewahrt, sie blieb den Schicksalen der Menschen und dem hektischen Karneval der verschiedenen Glaubensrichtungen und Ideologien gegenüber gleichgültig. Rund um das unversehrt gebliebene historische Zentrum herum ist das neue Prag entstanden, ist bis zu dahin unbekannten Ausmaßen herangewachsen und droht somit, sich der Kraft der Tradition zu entfremden; nur die Literatur und die Kunst verbinden die Altstadt und die neuen Stadtteile und schaffen deren fragiles, fortwährend verletztes Gleichgewicht.252 Chvatík bezeichnet hier die Stadt als passiven „Zeugen“, der den menschlichen Schicksalen und den wechselnden Ideologien gleichgültig gegenüber stehe.253 Blieb aber die Stadt Prag in der Literatur diesem „hektischen Karneval“ gegenüber tatsächlich unbeeindruckt? Oder veränderte sich nicht vielmehr ebenso, wie auch die Einwohner:innen von den historischen und politischen Ereignissen in Prag nicht verschont geblieben sind, die Stadt und ihre Darstellung in der Literatur mit dem Zeitgeschehen des 20. Jahrhunderts? 250 251 252 253

(auflegen, herausgeben). Vgl. Holý, Jiří: Tschechische Literatur 1945-2000. S. 9. Ebd. S. 77. Chvatík, Květoslav: Die Prager Moderne. S. 347 f. Vgl. ebd. S. 348

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3.2 „Prager Ironie“ und die Kulissen der Machtlosigkeit 3.2.1 Die Maskerade der „großen Geschichte“ Ich habe von der Geschichte die Schnauze voll. Ich wünsche mir nur, daß sie mich in Ruhe läßt, daß sie mich vergißt.254 [Ota Filip]

Ota Filip wurde 1930 in Ostrava (Schlesisch-Ostrau) geboren. Sein Vater war deutscher Abstammung, und dementsprechend besuchte Filip die deutsche Schule und wuchs in einem zweisprachigen Umfeld auf. Seine Jugend verbrachte er in Prag: ab 1944 besuchte er dort das deutsche Gymnasium, studierte im Anschluss Journalistik und arbeitete danach als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und beim Rundfunk. 1959 wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei, wurde allerdings schon ein Jahr später wegen kritischer Äußerungen wieder ausgeschlossen. Trotz eines ihm auferlegten Schreibverbots publizierte Ota Filip weiterhin im Ausland. Ein Jahr nach der sowjetischen Okkupation verurteilte man ihn wegen „Staatsbeleidigung“ und „Unterwühlung der sozialistischen Gesellschaft“ zu achtzehn Monaten Gefängnis.255 1974 wurde Ota Filip schließlich aus der Tschechoslowakei ausgebürgert und lebt und schreibt seither in Deutschland. Im Exil entschied er sich für Deutsch als Sprache seines Schreibens. Häufig spricht Filip in Interviews über seine Exilerfahrungen und die damit verbundene Beziehung zu seiner Heimat. Er beschreibt, wie er unter der Geschichte zu leiden hatte und wie ihn die Vergangenheit immer wieder einholt. In seinem autobiographischen Roman Der siebente Lebenslauf (2001) schreibt Ota Filip, wie ihn die „verhurte Geschichte, sowie auch ihre kleineren Nebengeschichten, in die Mangel nahmen, zermahlten und ausspuckten.“256 Von der Geschichte hat er nun „die Schnauze voll“257, und er wünscht sich nur mehr, von ihr in Ruhe gelassen und vergessen zu werden. Dreimal musste er seine Staatsbürgerschaft, zweimal seine Sprache und zweimal seine Heimat wechseln, „ohne dabei das kranke 254 Filip, Ota: Der siebente Lebenslauf. Autobiographischer Roman. München 2001. S. 12. 255 Vgl. Grundbegriffe und Autoren ostmitteleuropäischer Exilliteraturen 1945-1989. Hrsg. von Eva Behring, Alfrun Kliems und Hans-Christian Trepte. Wiesbaden 2004. S. 673. 256 Filip, Ota: Der siebente Lebenslauf. S. 11. 257 Ebd. S. 12.

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Herz Mitteleuropas verlassen zu haben.“258 Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts mit „Stalin, Hitler, dem schrecklichen Holocaust, den Gulags und einer menschenverachtenden marxistisch-leninistischen Ideologie“259 hat Filip stark geprägt. Die Stadt Prag stellt dabei in seinem Lebenslauf das Zentrum dieser Geschichte dar: Von Anfang an war die große Geschichte auch in Prag meine Begleiterin. Sie führte mich an die Stätten ihrer unsinnigen Grausamkeiten, sie zeigte mir auch ihren Größenwahn, ihre Gerechtigkeit und ihre widerlichen Schwächen, von wildgewordenen Menschen vollbracht, die nicht wußten, was sie taten. Die Aufstände von Sklaven und gedemütigten Menschen sind immer grausam.260 Im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die diese Stadt verlassen haben, sehnt sich Ota Filip nicht nach seiner einstigen Heimat zurück. In seinen Erinnerungen an Prag tritt immer wieder eine starke Desillusionierung zutage; jedoch hat der Begriff „Heimat“ für den Exilautor, im Gegensatz zu den desillusionierten patriotischen Romanen der Jahrhundertwende, seine Bedeutung verloren: Domov a vlast jsou pro mě dnes jen zarputile přežívající pozůstatky pseudoromantických, za živa užvaněných mrtvolek z hrobek 19. století. Můj domov, můj dům v cizině, jež jsem si před třiceti lety mohl poprvé v životě svobodně zvolit, je mi vzácnější a milejší, než falešnými, jakoby vlasteneckými řečmi velkohubých politiků rozkecané pojmy o lásce k domovu a vlasti.261 258 259 260 261

Ebd. Ebd. S. 11. Filip, Ota: Der siebente Lebenslauf. S. 93. Filip, Ota: O ty můj milý cizojazyčný domove! [Oh du meine liebe fremdsprachige Heimat!] http://www.otafilip.homepage.t-online.de/O.ty.muj.htm (zuletzt besucht am 08.03.2017): Heimat und Heimatland sind für mich heute nur hartnäckig überlebende pseudoromantische Überreste, aus rege geschwätzigen Leichen aus den Gräbern des 19. Jahrhunderts. Meine Heimat, mein Haus im Ausland, das ich mir vor dreißig Jahren zum ersten Mal im Leben habe frei wählen können, ist mir wertvoller und lieber, als die mit falschen, möchtegernpatriotischen Reden großmäuliger Politiker ausgesponnenen Begriffe von der Liebe zur Heimat und zum Heimatland.

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Ota Filip hat mit Prag abgeschlossen, er hat resigniert und glaubt, dass es auch für die Machthaber der Geschichte besser sei, diese Stadt nicht bezwingen zu wollen: „Es hat keinen Sinn, Prag Widerstand zu leisten. Diese Stadt blieb immer stärker, als all die Fremden, die glaubten, sich ihrer bemächtigt zu haben.“262 In Ota Filips Roman Café Slavia (1985) kommt dieses von der Geschichte gemarterte Prag-Bild zum Ausdruck. Prag wird zur Bühne der historischen Ereignisse von 1910 bis 1968, die Handlung reicht von der Habsburger Monarchie bis hin zum Einmarsch der sowjetischen Truppen im Prager Frühling. Mit den historischen Ereignissen dieser Jahre verknüpft sich die Lebensgeschichte des Protagonisten Nikolaus Graf Belecredos, die er als Ich-Erzähler in zweiundachtzig Episoden aneinanderreiht. Diese scheinen unwirklich und fabuliert, vor der Prager Kulisse spielen sich die sonderbarsten Ereignisse ab, und dennoch beteuert Belecredos: „Zweifeln Sie nie an meinen Geschichten, auch wenn sie Ihnen erfunden vorkommen.“ 263 Café Slavia trägt Züge eines Schelmenromans und lässt sich so in einen Kontext tschechischer Erzählungen einordnen, die eine jüngere realhistorischen Vergangenheit verarbeiten, indem sie mit phantastischen, humoristischen und satirischen Elementen versuchen diese zu entmystifizieren. Der wohl bekannteste tschechische Picaro ist der brave Soldat Švejk von Jaroslav Hašek (Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk während des Weltkrieges, 1921-1923). Für die tschechische Literatur des 20. Jahrhunderts erweist sich dieser satirische Humor als charakteristisch, wie einer der bedeutendsten tschechischen Schriftsteller dieses Jahrhunderts, Bohumil Hrabal, in einem Interview im Jahre 1982 erklärt. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer Prager Ironie264: Die echte Prager Ironie ist der typische Ausdruck der Prager Mentalität, immer unter der Voraussetzung, daß Prag die Hauptstadt einer mitteleuropäischen Provinz ist, in der seit einigen Jahrhunderten drei Nationali262 Filip, Ota: Mein Prag. Fotografiert von Michael Schilhansl. Dortmund 1995. S. 17 . 263 Filip, Ota: Café Slavia. Frankfurt am Main 1985. S. 15. Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [CS] abgekürzt. 264 Hrabal, Bohumil: Gespräche mit Sergio Corduas. Prager Ironie. In: Hommage à Hrabal. Hrsg. von Susanna Roth. Frankfurt am Main 1989. S. 101-111.

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täten nebeneinander leben, Tschechen, Deutsche und Juden, die alle ihren eigenen Zentren, Millieus, Theater und Zeitungen haben und somit eine eigene Identität. Soziologisch gesehen ist das eine traumatische Situation, doch aus dem Blickwinkel der Kunst betrachtet entsteht aus dieser Mischung ein Klima und ein Nährboden, die der Literatur zugute kommen. Nach 1945 gab es diese Mischung nicht mehr, und daher kann man von Prager Ironie nur noch historisch sprechen. Ihre beiden Wortführer waren Jaroslav Hašek und Franz Kafka.265 Diese Prager Ironie sei Ausdruck einer bestimmten tschechischen Mentalität, eines Tschechentums (českosti): Hrabal spricht vom dramatischen Schicksal des gewöhnlichen Menschen und den Einwohnern eines kleinen Landes mitten in Europa.266 Diese Mentalität, wie sie etwa im Schwejk oder bei Franz Kafka deutlich wird, ist Ausdruck eines Lebensgefühls und der sozialen Umstände, Ausdruck von Sinn und Unsinn eines Systems: Je to melancholie věčné stavby, je to zdánlivě dětská hra, šílená a blbá ve vyšším smyslu, je to marný zápas o člověka a jeho pohled na svět, který jej obklopuje, je to boj hominismu proti formálnímu a konvenčnímu humanismu, je to zápas proti obšťastňující teorii státu a byrokratickému aparátu. Ovšem je to uznání marnosti tohoto boje, proto i ten naprasklý úsměv a groteska, která hlubokou vertikální sondou se dotýká i hudby sfér a téměř svatého blaženství.267 Der tschechische Literaturwissenschaftler Radko Pytlík, der Bohumil Hrabal in einen erzähltechnischen Kontext mit Jaroslav Hašek und Franz Kafka setzt, führt das Phänomen der Prager Ironie auf einen größeren historischen Zu265 Hrabal, Bohumil: Gespräche mit Sergio Corduas. Prager Ironie. S.101 ff. 266 Vgl. Pytlík, Radko: Bohumil Hrabal. Prag 1990. S. 7. 267 Hrabal, Bohumil: O pražské ironii [Über die Prager Ironie]. In: Ders.: Sebrané spisy Bohumila Hrabala [Gesammelte Schriften von Bohumil Hrabal]. Band 15. Hrsg. von Miroslav Červenka. Prag 1995. S. 151-154, hier S. 154. Dt.: Sie ist die Melancholie des ewigen Baus, scheinbar ein Spiel für Kinder, verrückt und blödsinnig in einem höheren Sinne, sie ist der vergebliche Kampf um den Menschen und seine Sicht auf die Welt, die ihn umgibt, sie ist die Schlacht der Menschlichkeit gegen einen formalen und konventionellen Humanismus, sie ist der Kampf gegen die beglückende Staatstheorie und den Bürokratieapparat. Natürlich ist sie die Anerkennung der Vergeblichkeit dieses Kampfes, daher auch dieses angeknackste Lächeln und die Groteske, die mit einer tiefen vertikalen Sonde auch die Musik der Sphären berührt und die annähernd heilige Glückseligkeit.

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sammenhang zurück: Die tschechische Nation versteht er als eine jahrhundertelang von mächtigeren und größeren Nationen unterdrückte, die sich nur in kürzeren Episoden der Selbstbestimmung von den fremden Vorherrschaften befreien konnten. Unter diesen Voraussetzungen stellte es sich für die tschechische Kultur als schwierig dar, eine Meinung in Form eines künstlerischen Ausdrucks zu äußern und sich so zu den historischen Ereignissen zu positionieren oder Verantwortung zu übernehmen.268 Tato mravní rozpolcenost, která u mnohých jedinců vede k přizpůsobivosti a k ztrátě odpovědnosti za osud celku, vede na druhé straně k vytvoření zvláštní výrazové sféry, která nahrazuje absenci hodnot oficiální kultury a provádí devalvaci sakralizovaných mocenských autorit. Tato sféra se vyznačuje značnou uvolněností, vykoupenou pouze fragmentárním a detailními postřehy a záběry. Vnímá historii v zábavných historkách a anekdotkách a rozmělňuje události do směšnohrdinských příběhů a povídaček.269 Auch Ota Filips Roman bedient sich in der Darstellung der Stadt mit ihren historischen Ereignissen und skurrilen Figuren dieser Prager Mentalität, und so gleicht Café Slavia einem ironischen Schauspiel: Die Geschichte spielte sich hier immer wieder vor anders gefärbten Kulissen ab, ihre vorwiegend tragische Komödien blieben jedoch im Prinzip dieselben, nur die Schauspieler zogen andere Kostüme und Uniformen an, neue Masken wurden angelegt, neue Programme und Ideologien wurden verkündet, aber sie waren stets nur das, was sie seit eh und je in der Stadt waren: 268 Vgl. Pytlík, Radko: Bohumil Hrabal. S. 8. 269 Pytlík, Radko: Bohumil Hrabal. S. 8. Dt.: Diese moralische Ambivalenz, die für viele Einzelne zu einer Anpassungsfähigkeit und zum Verlust der Verantwortung für das Schicksal der Gesamtheit führte, bewirkte auf der anderen Seite die Herausbildung einer besonderen expressiven Sphäre, die das Fehlen von Werten einer offiziellen Kultur ersetzt und zu einer Abwertung sakralisierter Machtautoritäten führte. Diese Sphäre zeichnet sich durch eine deutliche Befreiung aus, die sich von lediglich fragmentarischem und detaillierten Beobachtungen und Aufnahmen loslöst. Sie nimmt die Historie als unterhaltsame Geschichten und Anekdoten wahr und zerstückelt die Ereignisse in lächerlich-heldenhafte Begebenheiten und Ammenmärchen.

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Metaphern, weit von sachlichen Inhalten entfernt, manchmal ein Grund zu berauschender Euphorie, ein andermal wieder eine sich sehr oft wiederholende, absurde Entgleisung der Vernunft.270 In Café Slavia wird das „magische“ Prag mit seiner Geschichte, seinen großen Ereignissen und Heiligtümern dekonstruiert und ironisiert. In einem späteren Text Elegien aus dem Café Slavia von 2009 nimmt Filip Bezug auf seinen Roman und bezeichnet sich selbst als einen „böhmische[n] Zweifler, den man mit falsch sehenden Augen auf den Weg ins wunderliche Leben geschickt hat“271. Er macht deutlich, dass sein Schreiben autobiographisch inspiriert ist und mit einer ironischen Distanz des Erzählens einhergeht: „Die schlechten alten Zeiten sind vorbei, bessere gibt es jedoch nicht.“ 272 Eine Suche in der Vergangenheit birgt indessen die Gefahr, „dass man in unserer persönlichen Geschichte und auch in der großen Geschichte meistens nur seine kläglichen Reste, peinlichen Ruinen findet“.273 Die Ironie scheint das einzige Mittel zu sein, mit dem man dieser unangenehmen Vergangenheit entgegentreten kann. Auch Umberto Eco schreibt ein Jahr nach dem Erscheinungsdatum von Café Slavia in seiner Nachschrift zum Namen der Rose (1986) über die Notwendigkeit der Ironie in der Postmoderne, als einer „Zeit der verlorenen Unschuld“274. Die Herausforderung der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bestehe darin, dass man nicht wegwischen könne, was schon längst gesagt wurde. Statt dessen fordert Eco ein bewusstes Spiel der Ironie:275 Die Avantgarde zerstört, entstellt die Vergangenheit […]. Die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefasst werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld.276 270 Filip, Ota: Elegien aus dem Café Slavia. In: Ich träume von Prag. Deutsch-tschechische literarische Grenzgänge. S. 253-266, hier S. 259. 271 Filip, Ota: Elegien aus dem Café Slavia. S. 257. 272 Ebd. S. 259. 273 Ebd. S. 258. 274 Eco, Umberto: Nachschrift zum Namen der Rose. München 2003. S. 79. 275 Vgl. Eco, Umberto: Nachschrift zum Namen der Rose. S. 79. 276 Ebd. S. 78.

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Mit dieser schuldbewussten Prager Ironie geht der Protagonist Nikolaus Graf Belecredos in Café Slavia durch sein fiktives Leben. Er ist der „Letzte und der Vergessene“ [CS, S. 10], ein „Überbleibsel des Feudalismus in Prag“ [CS, S. 160], ein Nachkomme des deutschen Adels, der selbst darauf besteht, Österreicher zu sein [vgl. CS, S. 185]. In Prag erübrigt sich für ihn die Frage nach dem Sinn des Lebens: Ich war eben gezwungen, mich jeden Tag für den nächsten zu retten. Erst viel später wurde mir bewußt: Niki, du bist unheilbar mit den Gebrechen dieser Stadt verbunden! Aber wie heißen all die Krankheiten, die diese Stadt seit Jahrhunderten lähmen, zugleich aber auch den Nährboden bilden, auf dem sich so erfolgreich zahlreiche betrügerische Weltverbesserer und schlaue Versager, wahrhaften Helden zum Verwechseln ähnlich, vermehren können? [CS, S. 151 f.] In Elegien aus dem Café Slavia bezeichnet sich Ota Filip selbst als bourgeoises Element im proletarisierten Prag und erzählt von seiner Jugendliebe, die erleichtert war, als sie für immer aus Prag weggehen konnte, „aus dieser verdammten Stadt, die mich nur für meine bourgeoise Herkunft lebenslänglich bestrafen würde“277. Als „vaterlandsloser Zyniker“ fühlt sich Filip von seiner Heimat verraten: das Vaterland, das mich weder vor Hitler noch vor Stalin beschützt hatte, könne mir gestohlen bleiben […]. Hätte mich mein Schöpfer gefragt, […] wo ich geboren werden möchte, wäre ich auf die Knie gefallen und hätte ihn gebeten: Großer Gott, bringe mich nicht in Böhmen oder in Mähren auf diese Welt278 So ist auch die Figur des Grafen Belecredos als Bewohner der Stadt Prag der „großen Geschichte“ schutzlos ausgeliefert. Der Ort ist im Gegensatz zu den Menschen nicht vergänglich. Diese sind lediglich Figuren, die in der Geschichte der Stadt auftauchen und wieder verschwinden:

277 Filip, Ota: Elegien aus dem Café Slavia. S. 262. 278 Ebd. S. 260.

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Somit geriet ich […] in die große Geschichte! Und was ist die Geschichte, frage ich Sie, ich ein Nikolaus Graf Belecredos, der letzte Überlebende einer Zeit, die bald vergessen sein wird? Hier ist meine Antwort: Die Geschichte ist die Geschichte ihrer zahlreichen Interpretationen. Und damit basta. […] Die Redewendung ‚Misthaufen der Geschichte‘ gefiel mir sehr. Die Geschichte produziert viel Mist […]. Jeder von uns hinterläßt zum Schluß seinen eigenen Misthaufen, Düngemittel, mit dem unsere Nachkommen den fruchtbarsten Boden, in welchem unsere Saat keimen und wachsen soll, veredeln können. [CS, S. 48] Jeden Tag seines Lebens spaziert der Graf am Ufer der Moldau entlang zum Café Slavia, wo er sich Punkt zwölf einfindet um einen Kognak und einen Kaffee zu trinken und mit dem Kellner Alois über das Leben zu philosophieren. Als er zum ersten Mal das Kaffeehaus betritt, heißt ihn der Kellner willkommen: ‚Hier sind Sie gut aufgehoben, Herr Graf! Der Tisch ist von nun an Ihr Ankerplatz, der sichere Hafen. Mir können Sie alles erzählen, denn das hier ist kein gewöhnliches Café, sondern ein Zufluchtsort. Das Leben fließt an uns vorbei. Wenn Sie an ihrem Tisch sitzen, sind Sie von allem, was hinter diesen Fensterscheiben geschieht, abgekapselt. Punkt zwölf bekommen Sie ihren Kognak, Kaffee und Mineralwasser. Wir sind kein Café der Schwätzer, bei uns wird geschwiegen. Hören Sie unsere Stille, Herr Graf?‘ [CS, S. 85] Während sich draußen die Geschichte Prags abspielt und die Zeiten sich unerbittlich verändern, stellt das Café für Belecredos einen „sicheren Mittagshafen“ [CS, S. 156] dar: „An den glänzenden Fenstern floß draußen die Geschichte vorbei; die Damen und Herren beobachteten nur ab und zu ihre Farbtöne und lauschten mit hervorragend gespielter Gleichgültigkeit ihren Geräuschen.“ [CS, S. 261]. Das Café Slavia ist bis heute das bekannteste Prager Kaffeehaus und war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein literarisches Zentrum und beliebter Treffpunkt für tschechische sowie deutsche sowie internationale Intellektuelle und Künstler:innen.

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Die großen Kaffeehäuser Europas waren um die Jahrhundertwende mitunter mehr als ein beliebter Treffpunkt, in ihnen wurde Literaturgeschichte geschrieben.279 Die Kaffeehauskultur des Jugendstils ist in unseren geographischen Breiten mit der Tradition, der Legende und dem Mythos von Mitteleuropa verbunden. Der Kaffeehausbesuch war eine gesellschaftliche Geste, Gast in einem Kaffeehaus zu sein eine Rolle.280 Derart zelebriert auch der Graf Belecredos seinen täglichen Besuch im Café Slavia, das für ihn den sicheren Hafen darstellt, an dem das Leben sinnbildlich in Form der Moldau vorbei fließt: „Die Zeit floß dahin. Sie staute sich im Prager Moldaubecken.“ [CS, S. 154] Demonstrationen, Umzüge, Staatsbegräbnisse zogen am Café Slavia vorbei, fremde Armeen marschierten über die ehemalige Franzensbrücke in die Stadt ein. Straßen, Plätze, Gassen und Brücken wechselten in schneller Reihenfolge die Namen; das Spiel hieß sehr oft anders, die Kulissen und die Komödie blieben aber dieselben. Ab und zu wurden die Kostüme gewechselt, neue Masken angelegt, neue Programme und Ideologien verkündet, aber sie waren hier immer nur das, was sie seit eh und je tatsächlich waren: Metaphern, weit von sachlichen Inhalten entfernt, manchmal ein Grund zu berauschender Euphorie, ein andermal wieder eine absurde Entgleisung der Vernunft. [CS, S. 164] Die historischen Ereignisse in Prag werden unterdessen ironisiert, so zum Beispiel der Auftritt des großen Revolutionärs Wladimir Iljitsch Lenin auf der „Prager Konferenz, wo es um Alles oder Nichts ging“ [CS, S. 56] im Januar 1912. Anstelle politisch relevanter Diskussionen spielt sich vor den versammelten Bolschewisten Lenins persönliches Liebesdrama ab, und er wird von seinen beiden Geliebten gezwungen, sich zwischen ihnen zu entscheiden. Als Lenin schweigt, nimmt ihm die schöne, reiche Petite Komtesse die Entscheidung ab, und ihm bleibt „nichts anderes übrig, als wieder einmal den revolu279 Zur Bedeutung des Kaffeehauses in der Prag-Literatur vgl. den Abschnitt Die Prager Wirtsund Kaffeehauskultur und ihre Kneipengeschichten. 280 Rössner, Michael: Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten. Wien 1999. S. 127.

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tionären bolschewistischen Prinzipien, die er selbst formuliert hatte und die ihm an diesem Abend bestimmt unbequem waren, Treue zu halten.“ [CS, S. 58] Hätte seine Geliebte „ihm damals die zwei oder drei Minuten gegönnt, die Lenin noch nötig hatte, um seinen Entschluß zu formulieren, wäre die Geschichte Europas vielleicht anders ausgefallen.“ [CS, S. 56] Der Verlauf der europäischen Geschichte wurde also nicht etwa von dem großen Revolutionär bestimmt, sondern vielmehr von seiner ungeduldigen jungen Geliebten. Diese Szene ist exemplarisch für die Machtlosigkeit des Einzelnen, sich der „großen Geschichte“ zu erwehren – „Wie vielen Menschen bin ich in diesen Jahren begegnet, die stets die Schuld für ihr eigenes Versagen, für ihre Feigheit und Unbeholfenheit immer nur den schlimmen Zeiten angelastet hatten!“ [CS, S. 156]. Jedoch fällt Belecredos niemals Urteile über andere, und wenn er sich doch gezwungen sieht, „seine Meinung zu äußern, dann sprach er sie mit einem Unterton des Bedauerns und der Resignation aus.“ [CS, S. 11] […] jeder ist eben einmal dran! […] so läuft es eben! Man trinkt Kognak man genießt die Rolle des Zuschauers und schon ist man mitten drin im Spiel! […] Wir haben ein Signal übersehen, wir waren tatsächlich blind und taub, jeder auf seine Weise mit der eigenen Überheblichkeit beschäftigt. Ich sag’s ja, die Wetterfahnen hätten uns seit Jahrhunderten warnen sollen! Und jetzt ist es eben passiert, die Karambolage mit der böhmischen Geschichte. [CS, S. 178] Die historischen Ereignisse, die in Café Slavia dargestellt werden, sind größtenteils authentisch. So besuchte Lenin Prag tatsächlich im Januar 1912 für die VI. Gesamtrussische Konferenz der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Jedoch werden dem Geschehen absurde Details hinzugefügt, welche die Geschichte wiederum unglaubwürdig wirken lassen und ins Lächerliche ziehen, beispielsweise das gigantische, weltgrößte Stalin-Denkmal, welches in Prag in den 1950er Jahren hoch über der Moldau errichtet wurde: Stalin überragt die Allee der Heiligen auf dieser Brücke. Mit seinen kolossalen Ausmaßen erdrückt er die Vergangenheit! Wo immer Sie auch in Prag stehen, überall ist er zu sehen.

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Auf der einen Seite der Hradschin, ein Symbol der Vergangenheit, auf der anderen der majestätische Stalin, unsere Gegenwart und Zukunft. [CS, S. 240] Belecredos beobachtet über mehrere Jahre hinweg, wie die Statue langsam den Hang hinunterrutscht, bis es schließlich von ihrem Podest hinab in die Moldau stürzt: Stalin begann auf seinem Podest zu wackeln, mir schien es, als ob er einen Schritt nach vorne tun würde. Sein Spiegelbild zitterte auf der silbernen Wasseroberfläche. Die Karlsbrücke bebte, die Prager Türme drohten ostwärts umzukippen, hielten sich aber aufrecht. […] Stalin drehte sich um seine Achse; er fiel, als wäre er gestolpert, langsam vornüber auf den Moldauhang. […] Eine graue Staubwolke hüllte Stalins Gestalt bis zum Hals ein. Für den Bruchteil einer Sekunde leuchtete die Wolke in allen Regenbogenfarben auf. Sein Kopf ragte aus dem sonderbaren Licht noch heraus, aber plötzlich drehte er sich mit einer blitzschnellen Bewegung westwärts, als hätte eine unheimliche Kraft dem Generalissimus das Genick gebrochen. [CS, S. 246] Tatsächlich wurde das Stalin-Denkmal in Prag im Jahr 1962 gesprengt, als symbolischer Ausdruck für die Lockerung des kommunistischen Regimes in den beginnenden 1960er Jahren. Mit einer derartigen Überzeichnung von Sinnbildern wird verdeutlicht, dass die Geschichte und ihre Akteure in Café Slavia nicht ernst zu nehmen sind. Vielmehr wird das Weltgeschehen als eine Fügung von Zufällen, Irrtümern und Willkür, als eine Komödie angesehen, welcher die Einzelnen machtlos ausgeliefert sind. Belecredos hat gegenüber diesen Ereignissen resigniert und akzeptiert die Absurditäten und zahlreichen Malheurs als eine „Fehlkonstruktion“ seiner Geschichte. Es gibt meiner Meinung nach kein Ende und keinen Anfang. Der Vorhang geht für kurze Zeit herunter, Kulissen werden umgebaut, Klamotten gewechselt, neue Fratzen angelegt, Vorhang auf! und weiter läuft die Komödie! [CS, S. 167]

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In diesem Zusammenhang steht auch das Motiv der Moldau, die als breiter Strom mitten durch das Zentrum fließt und die Stadt in zwei Hälften teilt: Sie ist als Metapher für die unerbittlich vergehende und dahinfließende Zeit zu verstehen. Die Moldau symbolisiert die Geschichte, die sich draußen vor den Fenstern des Kaffeehauses abspielt und wie ein „Henkerrad der Zeit“ [CS, S. 202] ohne Sinn und Ziel dahinrollt: „An den glänzenden Fenstern floß draußen die Geschichte vorbei; die Damen und Herren beobachteten nur ab und zu ihre Farbtöne und lauschten mit hervorragend gespielter Gleichgültigkeit ihren Geräuschen.“ [CS, S. 261] Kein Mensch kann sich ihr widersetzen oder sie aufhalten, während die Zeit dahinfließt und sich „im Prager Moldaubecken“ [CS, S. 154] staut. So hat Belecredos das Gefühl, „auf dem Grund einer überfluteten Stadt“ [CS, S. 154] zu leben, in welcher der Wasserspiegel über die Jahre hinweg stetig ansteigt: „Unzählige Stürme, die den Strom in die Stadt schwemmten, tobten hoch über meinem Kopf auf der Wasseroberfläche. Unten, im Stadtkern, wo ich meine Kreise zog, gab es nur ab und zu gefährliche Strömungen, denen ich ausweichen mußte.“ [CS, S. 154 f.] Diese Strömungen stehen für die Ereignisse der „großen Geschichte“, von denen Prag heimgesucht und manchmal regelrecht überschwemmt wird. Eines Tages fließt die Moldau sogar unversehens in die umgekehrte Richtung: Eines Tages, als ich das Café Slavia verlassen hatte, fühlte ich mich auf der Nationalstraße gleich gegenüber dem Nationaltheater von einer bösen Strömung erfaßt. Sie drängte mich zwar zur Ecke Nationalstraße/Moldaukai, aber von dort kam ich stromabwärts nicht weiter als drei oder vier Schritte Richtung Karlsbrücke. Ich war verunsichert. Die Moldau floß in verkehrter Richtung, der Wind, der sonst immer von Süden oder von Westen kam, setzte den harten Stadtkern jetzt von Norden unter Druck. Es war zu schwierig, um gegen die unerwartete Strömungsänderung anzukämpfen, so drehte ich mich um, ging zurück auf die Brücke […] und schlenderte auf die Smichower Seite hinüber. [CS, S. 193] Diese plötzliche Veränderung der Flussrichtung kann als Hinweis auf die Okkupationen und Besetzungen der Stadt verstanden werden. War Prag bis nach dem ersten Weltkrieg Teil des Habsburgerreiches (Süden), so wurde es wäh-

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rend des Zweiten Weltkrieges von den deutschen Nationalsozialisten (Westen) okkupiert. Im Jahre 1948 wiederum, in dem der Roman an dieser Stelle spielt [vgl. CS, S. 190], kamen in Prag schließlich die Kommunisten an die Macht und die Stadt stand nunmehr aus dem Nordosten von der Sowjetunion „unter Druck“. Dem Grafen selbst ist es zu schwierig gegen diese „unerwartete Strömungsänderung anzukämpfen“ [CS, S. 193], und so fügt er sich und lässt sich mit dem Strom der „großen Geschichte“ treiben. Die Karlsbrücke indessen, über die der Graf jeden Tag von der Kleinseite hinab zum Café Slavia spaziert, verbindet über die Moldau hinweg die beiden Stadtteile miteinander. Die alte Steinbrücke ist von den reißenden Wassern gezeichnet, die seit Jahrhunderten gegen ihre Pfeiler drücken: Die Pfeiler der Brücke […] gleichen sechzehn versteinerten spätmittelalterlichen Rittern, denen man den Oberleib mit dem Schwert abgeschlagen hat. Sie knien seit Jahrhunderten im braunen Wasser. Ausgeblutet und mumifiziert, verkalkt, in Schlamm und Schiefer gerammt, haben sie in der Strömung des Flusses keine Linie halten können. Einst bildete die Brücke die kürzeste Verbindungslinie zwischen der Kleinseite und dem Altstädter Brückenturm, jetzt war sie mehrfach geknickt. Vom linken Moldauufer betrachtet wirkt es […] als hätten sich einige Pfeiler stromabwärts verschoben. [CS, S. 12] Die anderen Prager Brücken hingegen können sich dem Lauf der Zeit nicht widersetzen – häufig wird im Roman die mit den sich verändernden Machtverhältnissen scheinbar willkürliche Umbenennung der Brücken thematisiert. Der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung erklärt beispielsweise, warum er die Moldau immer über die Karlsbrücke anstatt über die Brücke des 1. Mai281 überquert: „Auf dieser Brücke fühlte ich mich nicht wohl. Sie hatte zu oft den Namen gewechselt.“ [CS, S. 7] Im Laufe des Romans kommentiert auch der Graf Belecredos die Namensänderung dieser Brücke: „Ich stieg die Treppe zur Brücke des 1. Mai hoch, die allerdings damals Franzensbrücke hieß und später noch mehrmals ihren Namen ändern sollte.“ [CS, S. 44] 281 Die heutige Brücke der Legionen (Most Legií) führt direkt vom Café Slavia hinüber auf die Kleinseite.

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Im Gegensatz zum Rahmenerzähler scheut er sich nicht, diese Brücke zu überqueren: Ab und zu […] stieg ich von der Brücke der Legionäre, die einmal Franzensbrücke geheißen hatte, später dann den Namen Adolf Hitlers trug, die Sie jedoch, mein Freund, aus mir unverständlichen Gründen die Brücke des 1. Mai nennen, auf die Schützeninsel hinunter. [CS, 154] Nicht nur die Brücken, sondern auch die Uferpromenade ist diesem scheinbar willkürlichen Eingreifen der Geschichte und der damit einhergehenden Namensänderung von Orten in der Stadt erlegen: Es war warm und die Sonne schien. Langsam schlenderte ich am Moldaukai – heute Smetana-Ufer, damals hieß es Franzenskai, er hatte jedoch in den Jahren so oft den Namen gewechselt, daß ich einige schon längst vergessen habe – zum Nationaltheater hin. [CS, S. 82 f.] Während sich in Prag alles verändert, scheint einzig die Karlsbrücke der unerschütterliche Fixpunkt im Herzen der Stadt zu sein, der diese über die Ufer der Moldau hinweg zusammenhält und die auch den Mittelpunkt der Handlung bzw. von Belecredos Aktionsradius darstellt. So sehr sich auch die Moldau mit ihren Wassern gegen die Pfeiler der alten steinernen Brücke stemmt – „An der Karlsbrücke hatte sich nichts verändert; nur die versteinerten frommen Gesichter der Statuen, hell von der Sonne beleuchtet, schienen tiefere und härtere Runzeln und Falten bekommen zu haben.“ [CS, S. 182] Die Karlsbrücke trägt in Café Slavia als Ort eine zentrale Bedeutung: Von dort blickt der Graf Belecredos in verschiedene Richtungen über das vielbeschriebene Stadtpanorama, und dort trifft er auch jeden Tag auf den Rahmenerzähler des Romans, dem er seine Lebensgeschichte erzählt. Ähnlich wie die Geschichte ihre Kostüme vor der Prager Kulisse wechselt und die Orte immer wieder mit neuen Namen versieht, so tritt auch der Graf Belecredos als Verkleidungskünstler jeden Tag in einer anderen Maske auf, die er oft den jeweiligen historischen Verhältnissen anpasst: „Einmal war er

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der kesse Bohemien, dann wieder der schwermütige, melancholische Herr aus besseren Kreisen, meistens aber war er ein ganz gewöhnlicher Passant mit gelangweiltem Ausdruck.“ [CS, S. 10 f.] Die einzige Möglichkeit der Unbeständigkeit der Geschichte zu begegnen ist die Maskerade. Belecredos Verkleidungen widerspiegeln die Verunsicherung der eigenen Identität in Konfrontation mit der Willkür der Geschichte und ihrer wahllosen ideologischen Richtungswechsel, denen er sich anzupassen versucht. Die Geschichte wird so zu einem regelrechten Karneval. Prag ist dabei das mythische Zentrum, der Mittelpunkt der tschechischen Nationalgeschichte. Aus dem geheimnisvollen Stadtraum entstehen legendäre und magisch anmutende Motive und Ereignisse, die sich mit der Realgeschichte des Ortes vermengen. Die Stadt wird dabei mitunter personifiziert. So ist „Die Stadt Prag“ in Café Slavia auch in der Liste der im Roman auftretenden „Personen“ verzeichnet [vgl. CS, S. 275]. Es entsteht der Eindruck, als würde die Stadt für das Geschehen in ihr verantwortlich gemacht werden, während die Bewohnerinnen und Bewohner ihr indessen schutzlos ausgeliefert sind: Und so rollt das „Henkerrad der Zeit […] ohne Sinn und Ziel“ [CS, S. 202] unerbittlich weiter in der „Stadt, die uns haßt“ [CS, S. 203]. Die letzten Geschichten von Belecredos erzählen vom Einmarsch der sowjetischen Truppen am 21. August des Jahres 1968. Der Kellner Alois kommentiert das Geschehen mit den Worten „Da haben wir wieder einmal die Bescherung!“ [CS, S. 266]. Belecredos sieht darin inzwischen lediglich das immer wiederkehrende Schicksal des tschechischen Volkes, welches sich derart schon seit Jahrhunderten fortsetzt und auch weiterhin fortsetzen wird: „Das ist in Prag immer so, dachte ich, man probt hier Aufstände, man lehnt sich gegen die Mächtigen auf, natürlich jedesmal mit Begeisterung und auf moralische Überlegenheit gestützt. Aber dann marschieren die Armeen ein und aus ist es.“ [CS, S. 266] Die Geschichte erscheint Belecredos seit der Schlacht am Weißen Berg im Jahre 1620 wie eine Fortsetzung, während seither die Böhmen mit ihrem Gejammer in diesem Ereignis „ die Rechtfertigung ihres permanenten Versagens“ sehen:

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Wie schon vor dreihundert Jahren wird auch jetzt die große Zeit der Versager und der einsamen Märtyrer kommen. Was alles hätten wir vollbringen können, wie groß und stark hätten wir vor dem Antlitz der Geschichte sein können, wenn wir nicht ständig von fremden Mächten besetzt und regiert worden wären! [CS, S. 266 f.] Und so wird die große Geschichte in Prag immer weiter gehen, ohne Anfang und ohne Ende [vgl. CS, S. 167] und ohne dass der Mensch in irgendeiner Weise Einfluss auf die Willkür des Zeitgeschehens hätte. Der Roman Café Slavia ist die Literarisierung eines „hektischen Karnevals“, wie Květoslav Chvatík die historischen und politischen Ereignisse in Prag im 20. Jahrhundert bezeichnet282 und Graf Belecredos ist die paradigmatische Verkörperung des Einzelnen, dessen Schicksal von dem der Geschichte überschattet und bestimmt wird. Als „Überbleibsel des Feudalismus in Prag“ [CS, S. 160] und als Österreicher gemahnt Belecredos über die erzählte Zeit hinaus auch an die Vergangenheit der Stadt als Teil der Habsburger Monarchie. In Café Slavia wird der Topos Prag zur skurrilen Bühne der historischen Ereignisse, auf der die Stadt mit ihren Einwohner:innen der „großen Geschichte“ ausgeliefert ist.

282 Vgl. Chvatík, Květoslav: Die Prager Moderne. S. 347 f.

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3.2.2 Die Götter haben diese Stadt verlassen: Prag im „Totální realismus“ ŽIJI V HLAVNÍM MĚSTĚ magie V Praze S tím si nemohu nic počít tak to je283 [Egon Bondy]

Die Menschen, die im nationalsozialistisch besetzten Prag geboren worden oder aufgewachsen sind, erlebten die Stadt bis 1989 überwiegend unter Okkupation bzw. in politisch stark repressiven Regimen. Bereits drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Abzug der deutschen Truppen aus Prag erlangte die Kommunistische Partei 1948 mit einem Putsch die politische Macht in der Tschechoslowakei. Eine künstlerische und literarische Produktion war in den darauffolgenden Jahren nur sehr eingeschränkt möglich. Demzufolge entschieden sich viele Prager Künstler:innen und Intellektuelle, die nicht emigrieren wollten, im Untergrund zu agieren, so zum Beispiel Egon Bondy (mit bürgerlichem Namen Zbyněk Fišer), der 1930 in Prag geboren wurde und als Ikone der Prager Underground-Bewegung gilt. Diese entstand in der Tschechoslowakei etwa ab den 1950er Jahren als inoffizielle, subkulturelle Parallelgesellschaft. Die Anhänger des Underground ließen sich in ihrem künstlerischen Schaffen nicht von den kulturellen Institutionen des kommunistischen Regimes einschränken und konnten ihre Werke infolgedessen gar nicht oder lediglich im Samizdat publizieren. Viele von ihnen wurden politisch verfolgt und ihre Literatur konnte erst nach 1989 legal herausgeben werden. Besonders aktiv war diese Bewegung in den 1970er Jahren, in der so genannten Zeit der Normalisierung, als der Großteil der tschechoslowakischen Bevölkerung nach der Niederschlagung des Prager Frühlings resigniert und sich dem sowjetischen Regime anpasste. 283 Bondy, Egon: Básnické dílo Egona Bondyho. Básnické sbírky z let 1971-1974 [Das Dichterische Werk von Egon Bondy. Gedichtesammlungen aus den Jahren 1971-1974]. Band 7. Prag 1992. S. 120. Dt.: Ich lebe in der Hauptstadt/ der Magie/ In Prag/ Damit kann ich nichts anfangen/ so ist das.

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Der tschechoslowakische Underground versteht sich selbst nicht unbedingt als künstlerische Stilrichtung, da er kein bestimmtes Konzept verfolgt. Das Selbstverständnis dieser Bohème drückt sich vielmehr in einer bestimmten geistigen, meist kritischen Haltung gegenüber dem Weltgeschehen aus. Die Slavistin Alfrun Kliems schreibt in Der Underground, die Wende und die Stadt. Poetiken des Urbanen in Ostmitteleuropa (2015), dass der tschechoslowakische Underground, ähnlich wie die amerikanische Beatnik-Generation, eine Anti-Haltung ausdrücke,284 jedoch mit der Besonderheit, dass sich diese nicht nur gegen das sozialistische Regime, sondern auch gegen die Passivität der Bevölkerung richte. Ivan Martin Jirous, eine der führenden Figuren im Prager Underground, beschreibt diese Bewegung folgendermaßen: Stručně řečeno, underground je aktivita umělců a intelektuálů, jejichž dílo je nepřijatelné pro establishment, a kteří v této nepřijatelnosti nejsou trpní a pasivní, ale snaží se svým dílem a svým postojem o destrukci establishmentu.285 Zwar weist der Underground auch Kliems zufolge keinen einheitlichen, verbindlichen Stil auf, jedoch „findet er seinen mythischen Ort, den Topos aus dem und an dem er sich konstituiert, in der Stadt“ 286. Die literarischen Texte des Underground reflektieren die Stadt der Wirklichkeit und den Topos des urbanen Lebens und bewegen sich dementsprechend häufig im Untergrund oder an Orten der Ausgrenzung. Sie thematisieren ein subkulturelles Millieu, soziale Minoritäten und Randgruppen, „vom ‚Rest‘ abgetrennte Räume, nicht selten Ghettos und Slums, urbane Außenbezirke“ 287. Derart sympathisierte der Prager Underground beispielsweise auch mit dem Judentum und der Ju284 Vgl.: Kliems, Alfrun: Der Underground, die Wende und die Stadt. Poetiken des Urbanen in Ostmitteleuropa. Bielefeld 2015. S. 22. 285 Jirous, Ivan Martin. Zpráva o třetím českém hudebním obrození. [Bericht über die dritte tschechische musikalische Wiedergeburt] In: Šulc, Jan: Pravdivý příběh Plastic People [Wahrheitsgetreue Geschichte der Plastic People]. Prag 2008. S. 22. Dt.: Kurz gesagt, der Underground ist eine Aktivität von Künstlern und Intellektuellen, deren Werk für das Establishment inakzeptabel sind, und welche in dieser Inakzeptabilität nicht passiv sind, sondern sich mit ihrem Werk und ihrer Haltung um die Destruktion des Establishment bemühen. 286 Kliems, Alfrun: Der Underground, die Wende und die Stadt. S. 19 287 Vgl. Kliems, Alfrun: Der Underground, die Wende und die Stadt. S. 27

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denstadt in Prag.288 Eine weitere Besonderheit des literarischen Underground ist die Thematisierung des Sozialismus bzw. des Lebens in der vom Sozialismus geprägten und unterjochten Stadt. Das epische Poem Pražský život (Prager Leben) aus Egon Bondys frühem Werk von 1951 mit dem Untertitel Jeskyně divů aneb Prager Leben (Die Höhle der Wunder oder Prager Leben) setzt sich mit dem Leben und der Atmosphäre in der Stadt Prag auseinander. In fünf Gesängen werden verschiedene Eindrücke aus der Geschichte Prags, dem damit verbundenen Lebensgefühl und dem subjektiven Empfinden des lyrischen Ichs beschrieben. Der Erste Gesang beginnt mit einer Szene im alten Prager Judenghetto am Beginn des 19. Jahrhunderts, in dem das lyrische Ich, Sohn eines jüdischen Kramladenbesitzers, in einem alten gotischen Haus wohnt. Die Straßen des Ghettos sind nicht gepflastert, die Wohnungen haben keine Kanalisation, und die Fäkalien werden auf die Straße geleert. In dem Kramladen der jüdischen Familie wird Gold gewogen, aus welchem Armreifen geschlagen werden; die Schwester des lyrischen Ich sitzt mit ihren schwarzen Haaren und schwarzen Augen am Fenster und singt sehnsüchtige Lieder von fernen Ländern. Diese Beschreibung wird kaum mit stilistischen Mitteln ausgeschmückt, und auch die charakteristischen „magischen“ Prag-Bilder von der Alten Judenstadt mit ihren kleinen, verwinkelten Gassen, den alten gotischen Häuschen oder von der Stadt im nächtlichen Mondschein werden mit Beschreibungen der schmutzigen Verhältnisse des Ghettolebens gebrochen: Je právě tak půlnoc a bledá dívka zívá klínem na měsíc […] sedím-li na komíně našeho domu zatímco pode mnou s lampiony na vysokých žerdích 288 Egon Bondy hat beispielsweise 1949 zusammen mit der Schriftstellerin Jana Krejcarová einen surrealistischen Sammelband mit dem Titel Židovská jména [Jüdische Namen] zusammengetragen. Alle beteiligten Autorinnen und Autoren haben sich für diesen Band ein jüdisches Pseudonym zugelegt, aus Solidarität mit dem Judentum und aus Protest gegen die antisemitische Stimmung in der Sowjetunion und auch in der Tschechoslowakei. Zbyněk Fišer hat sein Pseudonym Egon Bondy behalten.

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procházejí opilci z krčem a potulní zpěváci z chrámového chóru Je kolem plno smradu Vltava tlí a tlí289 Im Zweiten Gesang wird das scheinbar fröhliche und unbeschwerte Leben in Prag im beginnenden 20. Jahrhundert beschrieben: Das lyrische Ich liest täglich seine Zeitung, geht oft ins Kino, unterhält sich mit Freunden und trinkt im Kaffeehaus, „všechno je takové/ jako bych žil/ Všechno je jako/ ve skutečnosti“ [Alles ist so/ als würde ich leben/ Alles ist so, wie in Wirklichkeit]290: Bydlím v Praze a žiji v Praze jezdím trolejbusem a vše je jako by to bylo živé Prší a sněží jako dříve Co ty na to chlapíku?291 Alles scheint in Ordnung zu sein, aber der Schein trügt, und im zweiten Teil des Zweiten Gesanges ist die Rede von den politischen Repressionen in Europa und der Sowjetunion, von den Juden in Deutschland, von Hitler, von der Schlacht von Stalingrad, von Lev Trotzki, von Gottwald sowie Stalin und Lenin. Manches erscheint dem lyrischen Ich wie Bilder von Radierungen aus

289 Bondy, Egon: Pražský život. [Prager Leben]. In: Ders.: Básnická dílo Egona Bondyho. [Das Lyrische Werk von Egon Bondy] Band 1. Prag 1991. S. 11. Dt.: Es ist gerade Mitternacht/ und das blasse Mädchen gähnt mit ihrem Schoß dem Mond entgegen/ wenn ich auf dem Schornstein unseres Hauses sitze/ während unter mir/ mit Lampions an hohen Stangen/ die Betrunkenen aus den Kneipen vorbeispazieren/ und umherziehende Sänger aus dem Kir chenchor/ Ringsherum ist es voller Gestank/ Die Moldau modert/ und modert. 290 Bondy, Egon: Pražský život. S. 12. 291 Ebd. S. 14. Dt.: Ich wohne in Prag/ ich lebe in Prag/ ich fahre mit dem Trolleybus/ und überall ist es als wäre es lebendig/ Es regnet und schneit wie früher/ Wie denkst du darüber Kerlchen?

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einem alten Gespensterroman292 und er konstatiert auf deutsch: „Das Leben ist doch nur ein Unsinn“293. Im Dritten Gesang ist das Leben in der Stadt bereits verstummt, die Sonne gleicht nurmehr einem Kadaver und die Stadt steht indessen unter wie auch hinter den Hügeln („pod kopci stojí město/ a za kopci taky“ 294). Das lyrische Ich will fort, weiß jedoch nicht, wohin. Es zweifelt daran, überhaupt noch am Leben zu sein. Alles erscheint ihm vergeblich – es fragt nach dem „Warum“ und ist erfüllt von einem alles vereinnahmenden Nihilismus. Diese Stimmung erinnert an die desillusionierten patriotischen Texte um 1900 und an die tschechische Romantik, wie etwa an die Texte Karel Hynek Máchas. Egon Bondy nimmt im Dritten Gesang Bezug auf Máchas bekanntestes Werk, das lyrische Epos Máj (Mai, 1836). Auch in Máj kommt die Zerrissenheit und Desillusionierung des Menschen und die Frage nach dem Sinn des Lebens deutlich zum Ausdruck. Ebenso ist die Form von Bondys epischem Poem, die Einteilung in Gesänge und Intermezzo, Máchas Werk nachempfunden. Jedoch ist das lyrische Ich in Pražský život ganz und gar vom Nihilismus erfasst: „nemám důvěru v nic/ a přece bych chtěl mít/ a není nic“ (Ich habe kein Vertrauen in nichts/ und dennoch hätte ich es gerne/ und es gibt nichts). 295 Und so zitiert Bondy die berühmten ersten Verse Máchas und ersetzt das Wort „Liebe“ (láska) mit „irgendwas“ (něco):

Mácha: Máj Byl pozdní večer – první máj večerní máj – byl lásky čas. Hrdliččin zval ku lásce hlas,

292 293 294 295

Vgl. ebd. S. 16. Ebd. S. 18. Ebd. S. 19. Bondy, Egon: Pražský život. S. 21.

Bondy: Pražský život Je opět podzim První máj podzimní máj něčeho čas K něčemu zval hrdličky hlas

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kde borový zaváněl háj. O lásce šeptal tichý mech; květoucí strom lhal lásky žel296

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Je daleko toto prokleté město Je daleko je snad až na měsíci O něčem šeptal tichý mech lže kvetoucí strom něčeho žal297

In diesen Versen kommt die charakteristische ästhetisch-kritische Haltung der Prager Bohème zum Ausdruck: Es herrscht kein Glaube mehr an die Liebe und auch nicht an die alten tschechischen Dichter und ihre Poesie. Die Vergangenheit spendet keinen Trost mehr, und es besteht auch keine Hoffnung, Trost in der Zukunft zu finden. Die Gegenwart ist ohnehin trostlos und ohne jeglichen Glauben an Ideale oder Wertvorstellungen – der Faschismus hat alles zerstört, und die sozialistische Revolution lässt vergeblich auf sich warten. Das lyrische Ich identifiziert sich mit dem Schicksal seiner Nation und beschreibt, wie alles, was das tschechische Volk („wir“) erreicht hat, ihnen wieder entglitten ist oder entrissen wurde. Einzig die Erinnerung ist unvergänglich. Jedoch spendet auch diese keinen Trost, da sie immer wieder an die Niederlagen und das vergebliche Leben gemahnt: Čekali jsme na tebe dlouho Iljiči narodili jsme se když říkali že jsi mrtev naučili jsme se nevěřit v nic a odnavykli si milovat cokoli Naši otcové učili nás věřit v lásku My v ni nevěříme Naši otcové učili nás věřit v poesii My v ni nevěříme Naši otcové učili nás věřit v revoluci 296 Mácha, Karel Hynek: Máj. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt von Otto F. Babler und Walther Schamschula. Köln; Wien; Böhlau 1983. S. 7: „Ein Abend spät – der erste Mai – / ein Abendmai – der Liebe Zeit./ Wo Föhren Düfte streuen weit,/ das Täubchen ruft zur Lieb herbei./ Von Liebe lispelt leis das Moos,/ Leid log der Baum im Blütenschwall“. 297 Bondy, Egon: Pražský život. S. 21. Dt.: Es ist erneut Herbst/ Erster Mai/ herbstlicher Mai/ Zeit von irgendwas/ Zu irgendwas lud der Ruf der Turteltaube/ Fern liegt diese verfluchte Stadt/ Fern ist sie vielleicht bis auf dem Mond/ Von irgendwas wisperte das leise Moos/ es spinnt der blühende Baum ein Leid von irgendwas.

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My v ni nevěříme […] je skoro třicet let stoka stalinské hnojůvky čemu jsme měli tedy věřit? […] pro nás je jen fašismus […] Evropa je jen nemocnice člověka Už všechno tu umřelo jen lidé ne a to je právě tak hrozné A paměť Paměť jako horečka skáče298 Inhaltlich lässt sich Pražský život in Bondys poetisches Konzept des Totalen Realismus (Totální realismus)299 einordnen. Dieser ist als Parodie auf den Sozialistischen Realismus zu verstehen, auch der Totale Realismus bildet das Leben des Proletariats und des sozialistischen Alltags im sowjetischen Regime in Prag ab. Statt dieses zu glorifizieren, stellt jedoch der Totale Realismus die Absurditäten des realsozialistischen Alltags heraus. Die Slavistin Gertraude Zand hat das poetische Konzept des Totalen Realismus untersucht und stellt fest, dass darin das lyrische Ich zusehends in den Vordergrund rückt: Die „Reflexion der eigenen Lage und des individuellen Alltags“ führt zu einer „subjektiv-individualistische[n] Welthaltung“300. Während „die Reali298 Bondy, Egon: Pražský život. S. 23 f. Dt.: Wir haben lange auf dich gewartet Iljitsch/ wir wurden geboren als sie sagten du seist tot/ wir haben gelernt an nichts zu glauben/ und abangewöhnt was auch immer zu lieben/ Unsere Väter lehrten uns an die Liebe zu glauben/ Wir glauben nicht daran/ Unsere Väter lehrten uns an die Poesie zu glauben/ Wir glauben nicht daran/ Unsere Väter lehrten uns an die Revolution zu glauben/ Wir glauben nicht daran/ […] schon fast dreißig Jahre dauert die Kloake der stalinistischen Mistjauche/ woran sollten wir also glauben?/ […] für uns bleibt nur/ der Faschismus/ […] Europa/ ist nur ein Krankenhaus des Menschen/ Alles ist hier schon gestorben/ nur nicht die Menschen/ und das ist gerade so furchtbar/ Und das Gedächtnis/ das Gedächtnis springt wie ein Fieber. 299 Totální Realismus ist der Titel einer konkreten Sammlung lyrischer Texte von Egon Bondy aus dem Jahr 1950. Der Begriff lässt sich allerdings auch als Ausdruck einer bestimmten Poetik auch auf andere Texte Bondys anwenden. Weiterhin können auch Texte aus dem Werk von Bohumil Hrabal dem poetischen Konzept des Totalen Realismus zugeordnet werden. 300 Zand, Gertraude: Totaler Realismus und Peinliche Poesie. Tschechische Untergrund-Literatur 1948-1953. Frankfurt am Main 1998. S. 49.

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tät selbst irreale Züge annimmt, scheint es dem ehemaligen Surrealisten Egon Bondy offenbar nicht mehr notwendig, aus dem Unbewussten zu schöpfen. Es reicht, die vorhandenen Phänomene abzubilden.“ 301 Der Totale Realismus fordert dazu auf, die Literatur als realistische und wirklichkeitsgetreue Abbildung zu verstehen. Diese Wirklichkeit ist bereits verfremdet, indem in ihr zwei entgegengesetzte Welten aufeinander treffen bzw. gewaltsam miteinander verbunden werden – das „magische“ Prag und das „traumatische“ Prag des sozialistischen Regimes: Bondy evoziert – vor allem visuell, aber auch akustisch – einen sinnlichen Eindruck von den Prager Straßen: Soldaten, Offiziere und ihre Frauen, die durch die Stadt spazieren, Lautsprecher auf den Straßen, marschierende Jugendverbandsmitglieder in blauen Hemden, Transparente […]. Neben dem politisierten steht jedoch das das zeitlose, friedliche und unbeteiligte Prag: Straßenbahn und Trolleybus, Schwalben über Smíchov, spazierende Liebende, der Hafen an der Moldau. Manche Texte sind diesem Bereich der äußeren Wahrnehmung gänzlich gewidmet.302 Nach Gertraude Zand verdeutlicht diese inhaltliche Spannung des Totalen Realismus den unüberwindbaren Gegensatz zwischen „der großen Geschichte und dem banalen Alltag“303. Das lyrische Ich, das dabei „keinerlei Verbindung durch persönliche Stellungnahme oder Reflexion anstrebt“ 304, versucht nicht, diese Spannung zu überwinden oder sich der großen Geschichte entgegenzusetzen. Ähnlich wie in Ota Filips Café Slavia kann sich auch bei Egon Bondy der Einzelne der großen Geschichte weder entziehen, noch ihr entgegensetzen. Während Filip dieser tragischen Komödie der Historie in der postmodernen „Zeit der verlorenen Unschuld“305 im Sinne Umberto Ecos nur mehr mit Ironie begegnen kann, versucht der Totale Realismus die große Geschichte 301 Zand, Gertraude: „Auf dem Traktor sitz ich...“ Dekonstruktion der stalinistischen Mythologie nach Bondy. In: Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa, Band 2. Hrsg. von Alfrun Kliems. Berlin 2006. S. 493-512, hier S. 499. 302 Zand, Gertraude: Totaler Realismus und Peinliche Poesie. S. 92. 303 Ebd. S. 95. 304 Ebd. 305 Eco, Umberto: Nachschrift zum Namen der Rose. S. 79.

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ganz ohne verfremdende Mittel abzubilden. Bondy beschreibt in den oben zitierten Zeilen sehr deutlich das Gefühl, keinen Einfluss auf die Ereignisse zu haben und nicht mehr zu wissen, was man glauben kann und soll. Auch in Pražský život wird die Welt ähnlich wie in Café Slavia als schauriges Panoptikum dargestellt, als ein großes Schauspiel der durchtriebensten Schwindler, die ihre panoptikalen Zaubereien vorführen: Nežijeme ve světě ale v jeskyni divů v odporném panoptiku na představení nejdrzejších šmíráků a nejmazanějších podvodníků V jeskyni divů nám ukazují své panoptikální zázraky Štěstí v práci Smysl života306 Das einzige, was den Pragern angesichts dieser Maskerade übrig bleibt, ist der Lyrismus ihres Zynismus („A co nám zbylo/ je jen lyrismus našeho cynismu“307) – eben die Prager Mentalität, die Bohumil Hrabal später als Prager Ironie bezeichnet. Dieser spezielle Humor kommt in Pražský život auch auf sprachlicher Ebene zum Ausdruck. Im Totalen Realismus korrespondiert die Form bzw. die Sprache mit dem Inhalt und verdeutlicht die umfassende Resignation und Desillusionierung: Ebenso wie das alltägliche Prager Leben von bewusster Kunstlosigkeit, klischeehaften, leeren Floskeln („Štěstí v práci/ Smysl života“) und Versprechungen beherrscht wird, gibt es auch in Bondys Epos kaum stilistische Mittel und nur wenige, wenn dann triviale Reime. Sehr präsent hingegen ist der zynische Unterton, mit dem jegliche Hoffnung auf eine positive Veränderung vernichtet und die charakteristischen Bilder eines „magischen“ Prag dekonstruiert werden: 306 Bondy, Egon: Pražský život. S. 33. Dt.: Wir leben nicht in einer Welt/ aber in einer Höhle der Wunder/ in einem ekelhaften Panoptikum/ auf einer Aufführung der unverfrorensten Spanner/ und durchtriebensten Schwindler/ In der Höhle der Wunder/ zeigen sie uns ihre panoptikalen Zaubereien/ Das Glück in der Arbeit/ Der Sinn des Lebens. 307 Ebd. S. 23.

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život je často protivný ale já jsem věk budoucnosti sedím na rakvi jeskyně divů je tam celá na věčnou památku Vzpomínám na třetí a čtvrtou světovou válku a na světovou revoluci beru měsíc do úst a louskám ho jako ořech308 Wie Alfrun Kliems betont wird Prag bei Bondy „zum Flittchen mit Vorstadtqualitäten, ein wenig verlottert und sehr freizügig. Marginalisierter Anti-Flaneur trifft auf selbstbestimmte Dirne.“309 Die Moldau indessen erscheint dabei als brodelnder, ätzender Kanal, in dem die Ratten verenden – Prag ist keine idealisierte ruhmreiche Stadt mehr, sondern eine Einöde: V PODBŘEŽÍ […] Sedě tam pozoroval jsem tu plynoucí řeku jak zde prý teče od věku do věku […] jak pivo u Fleků Z jejích vod vyrážejí kanalisační plyny Majestátní město! Mystická nevěsto! […] Tady to příliš smrdí kanálem jenž tu hned pode mnou prýští […] bublá a prýští Krysy v něm chcípají na plyny z té alkalické vody stoupají stále bubliny Smráká se stále houšť marná sláva 308 Ebd. S. 35 f. Dt.: das Leben ist oftmals widerlich/ aber ich bin das Alter der Zukunft/ ich sitze auf dem Sarg der Höhle der Wunder/ er steht dort unversehrt/ zum ewigen Gedenken/ Ich erinnere mich an den dritten und vierten Weltkrieg/ und an die Weltrevolution/ ich nehme den Mond in den Mund/ und knacke ihn wie eine Nuss. 309 Vgl.: Kliems, Alfrun: Der Underground, die Wende und die Stadt. S. 98 f. Beispielsweise auch im Gedicht Madam Praha von Vlastimil Třešňák wird die Stadt mit einem Flittchen aus einer vorstädtischen Pawlatsche bezeichnet („cuchta z předměstské pavlače“).

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mým ideálem není Praha ale poušť […] A ta velká řeka […] chvěje se tady úplně zticha […] jak má bývalá milá s neučesanými vlasy s hubou kterou dávno ne[vy]pláchla si špinavá a nemytá jako díra určitá roztažená jako svině jen se protahuje líně […] když ji napadne tak dělá že je vášnivá a tu ač by člověk radši utek vždy se zblázní do těch fórů starých prostitutek310 Es werden nach wie vor die gleichen Orte thematisiert, jedoch erscheinen sie hier nicht mehr geheimnisvoll oder magisch sondern gruselig, abstoßend und ekelerregend. Alfrun Kliems spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „ästhetische[n] Spiel mit peripheren Orten, Un-Orten und Heterotopien“ 311. Die „Topografie des Underground“312 setzt sich zusammen aus solchen Nicht-Orten. Der Ethnologe Marc Augé hat den Begriff der Nicht-Orte (non-lieux) geprägt: „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder 310 Bondy, Egon: Bǎsnické dílo Egona Bondyho. Band 1. S. 42-46. Dt.: AM UNTERUFER/ […] Dort sitzend beobachtete ich den fließenden Fluss/ der hier, wie man sagt, von einem Zeitalter zum nächsten fließt/ wie das Bier im U Fleků/ Aus seinen Wassern steigen Kanalisationsgase/ Majestätische Stadt!/ Mystische Braut!/ […] Hier stinkt es ziemlich nach Kanal/ der hier direkt unter mir sprudelt […]/ blubbert und quillt/ Die Ratten verrecken in ihm an den Gasen/ und aus dem alkalischen Wasser steigen weiter Blasen/ Es dämmert immer dichter/ vergeblicher Ruhm/ Prag ist nicht mein Ideal/ sondern eine Wüste […] Und der große Fluss/ […] er zittert hier völlig leise/ […] wie meine ehemalige Liebste/ mit ungekämmten Haaren/ mit einem Maul, das sie lange nicht ausgespült hat/ dreckig und ungewa schen/ wie ein gewisses Loch/ gespreizt wie eine Sau/ räkelt sie sich faul/ […] wenn es ihr einfällt tut sie als wäre sie leidenschaftlich/ und hier obwohl man lieber fliehen würde/ bringen einen die Witze der alten Dirnen immer wieder um den Verstand. 311 Kliems, Alfrun: Der Underground, die Wende und die Stadt. S. 35. 312 Ebd.

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als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort.“ 313 Nach Augé ist es die „Übermoderne“, die solche Räume hervorbringt, „die selbst keine anthropologischen Orte sind“314. Alfrun Kliems wiederum betont, dass diese Nicht-Orte im Gegensatz zu den traditionellen Topoi aufgrund ihres „Durchgangscharakters eine nur geringe symbolische Ausstrahlung“ besitzen: „Die schwache Markierung solcher Nicht-Orte, von Bahnhöfen, Flughäfen, Autobahnen oder Einkaufszentren, führt dazu, dass diese in geringem Maße identitätsstiftend wirken“315. Es sind unpersönliche alltägliche Plätze oder Räume der Großstadt, welche sich die Texte des Prager Underground zu eigen machen, die sich eben in ihrer Anonymität und dadurch gewissermaßen auch in ihrer Fremdheit auszeichnen. Von Michel Foucault wiederum stammt der Begriff Heterotopie (Andere Räume, 1967)316, mit dem er zum Beispiel „Irrenanstalten, Toiletten, Friedhöfe, Festwiesen, Krankenhäuser, Kinderheime – aber auch Züge und Schiffe“ 317 bezeichnet. Heterotopien „existieren unkommunizierbar außerhalb der sozialen Ortung“ und „besitzen ein internes Ordnungsprinzip, das sie als das andere der Gesellschaft ausweist […]. Oft sind sie räumlich abgegrenzt, haben ihren eigenen Zeitlauf, sind gleichermaßen isoliert wie offen.“318 Diese andersartigen Räume erfordern das Überschreiten einer Schwelle, da sie gewissermaßen einen Raum der Fremdheit darstellen, in dem das Fremde nicht überwunden und keine Vertrautheit aufgebaut werden kann. So zeichnen sich sowohl Augés Nicht-Orte wie auch Foucaults Heterotopien abermals durch das Charakteristikum der Fremdheit aus. Im Vergleich zu den Schauplätzen in denen die Stadt Prag in der Literatur als Gedächtnisraum für eine kollektive Identitätsstiftung fungiert, bricht der Totale Realismus mit dieser Funktion. Die Topografien des Underground spiegeln in ihren Orten nicht etwa die Identifikation mit der Stadt oder ihrer Ge313 Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. München 2012. S. 82. 314 Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. S. 82. 315 Kliems, Alfrun: Der Underground, die Wende und die Stadt. S. 36. 316 Foucault, Michel: Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Hrsg. von Karlheinz Barck. Leipzig 1991. S. 34-46. 317 Zitiert nach Kliems, Alfrun: Der Underground, die Wende und die Stadt. S. 36. 318 Zitiert nach Kliems, Alfrun: Der Underground, die Wende und die Stadt. S. 36.

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schichte wider. Ganz im Gegenteil wirken die Nicht-Orte nurmehr „in geringem Maße identitätsstiftend“319. Die literarische Darstellung dieser Nicht-Orte und Heterotopien resultiert aus einer starken Desillusionierung, Resignation und Hoffnungslosigkeit infolge der traumatischen Erfahrungen der Okkupation und Unterdrückung Prags mit seinen Bewohner:innen und verdeutlicht vielmehr eine Abkehr von der vermeintlich „magischen“ Stadt. In den Prag-Darstellungen in der Literatur von 1945 bis 1989 finden sich kaum mehr Beschreibungen einer mystifizierenden, geheimnisvollen Atmosphäre. Eine resignierte Stimmung herrscht auch in Kouzelná flétna (Die Zauberflöte, 1989), einem Text von Bohumil Hrabal, der knapp vierzig Jahre nach Egon Bondys Pražský život verfasst wurde. Er nimmt darin Bezug auf die geschichtlichen Ereignisse im Jahr der Samtenen Revolution, bevor in Prag der Eiserne Vorhang gefallen ist. Diese „lyrische Reportage“, wie Hrabal den Text selbst in einem Vorwort klassifiziert, habe er verfasst, als ihn Tränengas und Wasserwerfer auf dem Wenzelsplatz im Januar 1989 an die Pflicht des Dichters erinnerten, „die unmittelbare Gegenwart nicht ausschließlich den Journalisten zu überlassen.“ 320 Der Ich-Erzähler, der sich gleich zu Beginn des Textes mit dem Autor Bohumil Hrabal identifiziert, berichtet von seinen Eindrücken vom Vorabend der Samtenen Revolution. Hrabal, der mit Egon Bondy befreundet war, gilt heute als einer der bedeutendsten tschechischen „Volkserzähler der Nachkriegszeit“ 321, und auch sein Schreiben zeichnet sich durch das poetische Konzept des Totalen Realismus aus. Die totale Desillusionierung des erzählenden Ichs steht im Vordergrund von Kouzelná flétna, die Sätze fließen in gedankenstromartigen, langen Sätzen in Form eines inneren Monologs dahin. Der fünfundsiebzigjährige Schriftsteller hat den „Gipfel der Leere erreicht“ [Zf, S. 7], und alles in seinem Leben erfüllt ihn mit Schmerz: „[M]ich schmerzt bereits die ganze Stadt, in der ich lebe, es schmerzt mich die ganze Welt“ [Zf, S. 9]. Er ist seines Lebens über319 Kliems, Alfrun: Der Underground, die Wende und die Stadt. S. 36. 320 Hrabal, Bohumil: Die Zauberflöte. Aus dem Tschechischen von Susanna Roth. Frankfurt am Main 1990. Vorwort auf einem Beiblatt. Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [Zf] abgekürzt. 321 Schamschula, Walter: Geschichte der tschechischen Literatur. Von der Gründung der Republik bis zur Gegenwart. Band III. Köln; Weimar; Wien 2004. S. 501.

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drüssig, und es scheint ihm, als sei er nur noch auf dieser Welt, um endgültig auf den Grund zu kommen, „um noch einen Stock tiefer zu steigen, hinunter bis auf den Boden der letzten Vorwürfe“ [Zf, S. 10]. Diese Ernüchterung bezieht sich zunächst auf das Subjekt, doch es wird deutlich, dass es sich von der äußeren Welt verraten und im Stich gelassen fühlt: „Die Götter haben dieses Land verlassen“ [Zf, S. 17]. In diesem Zusammenhang wird ein martialisches Prag-Bild evoziert, das den Beginn der Samtenen Revolution illustriert: an diesem Sonntag habe ich jenen Vorabend erlebt, als sich eine blutige Sonne über Prag senkte und zimtfarbene Wolken vor Sonnenuntergang das Kommen eines Orkans ankündeten, der Altstädter-Ring war von riesigen gelben Autos mit der Aufschrift Polizei und mit Gitterabsperrungen abgeriegelt, und in der Karpfengasse peitschten Wasserwerfer und fegten die Fußgänger unter Autos, in Hausnischen kamen jene Menschen zu sich, die gerade verprügelt worden waren, […] und während dieser Zeit weinten Menschen in den Unterführungen der Metro, nicht vor Rührung, sondern wegen des Tränengases, in den Straßen verhaftete die Polizei die Durchnäßten [S. 17 ff.] Diese Protestbewegung im November 1989, infolge derer die kommunistische Führung zurücktrat und das Regime der KSČ in der Tschechoslowakei beendet wurde, wurde als verhältnismäßig friedliche und gewaltfreie Revolution rezipiert. Trotz des erklärten sanften Widerstandes und der friedlichen Demonstrationen kam es im Rahmen der Studentenbewegungen dennoch immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen seitens der Sicherheitskräfte auf Demonstrant:innen. Jedoch ruft auch die bevorstehende Revolution beim erzählenden Ich nicht etwa hoffnungsvolle Zuversicht hervor, vielmehr fühlt es nur die Bedrohlichkeit einer gottverlassenen Stadt: ich hatte Angst und sah mit starren Augen direkt ins Herz der Stille und der Ruhe, denn die Götter haben diese Welt und diese Stadt verlassen, an diesem Sonntag Abend erst habe ich die wahrhaftige laute Einsamkeit und den Gipfel der Leere erreicht, habe die endliche Unruhe erlangt [Zf, S. 19]

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Hrabal weint im Stillen darüber, dass bereits vor langer Zeit „jene Kräfte gegangen sind, welche die Welt in Gang gehalten hatten“ [Zf, S. 22]. Zurückgeblieben ist ein junger Student, „der im Augenblick der Verbrennung zu demjenigen wurde, der er war.“ [Zf, S. 22] Gemeint ist hier der Student Jan Palach, der sich 1969 aus Verzweiflung über die Niederschlagung des Prager Frühlings öffentlich vor dem Nationalmuseum auf dem Wenzelsplatz selbst verbrannte. Palach wollte mit seinem Selbstmord ein Zeichen gegen die lethargische Hoffnungslosigkeit der tschechoslowakischen Öffentlichkeit setzen und ist als Märtyrer zu einer Symbolfigur für den Freiheitskampf der Tschechoslowakei gegen das sowjetische Regime in die Geschichte eingegangen. Diese Lethargie haftet auch dem erzählenden Ich in Kouzelná flétna an, für das in der totalen Desillusionierung, in der alles aus den Fugen geraten war [vgl. S. 27 f.], keine Hoffnung mehr auf einen Freiheitskampf dieses gottverlassenen Landes besteht: Und schließlich ist alles geschehen, wie es geschah, gleich einem Streichholz, mit dem man eine Zigarette ansteckt oder Kinder ein Feuer anzünden, so hat dieses Streichholz in Prag alles Sterbliche am Menschen entzündet, und zurückgeblieben ist einzig die Erinnerung, die jene entflammen läßt, die heute noch dagegen protestieren, daß fremde Armeen in diesem Land stehen. [Zf, S. 23] Hrabal hat in den vergangenen dreißig Jahren vor sich selbst und seiner Pflicht als Schriftsteller resigniert: „Wie billig ist es doch, Herr Hrabal, um es mit Heidegger zu sagen, die Götter hätten diese Welt verlassen, […] schön hört es sich an, Herr Hrabal, aber die Inhalte solcher Sätze entsprechen zehn Dekagramm Preßwurst für eine Krone sechzig“ [Zf, S. 25]. Dennoch ist er nicht in der Lage, sich aktiv oder auch nur im Geiste am Widerstand zu beteiligen und jenes gewisse Gute zu bejahen, „das in der Zukunft letztlich wird richtungsweisend sein müssen...“ [Zf, S. 27] In diesem allumfassenden Gefühl der Sinnlosigkeit sitzt das erzählende Ich schließlich allein auf dem menschenleeren Altstädter-Ring auf einem Bänk-

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chen gegenüber dem Denkmal des Magister Jan Hus. 322 Er fängt an zu träumen, und in diesem Moment offenbart sich Hrabal die verloren geglaubte Prager Magie, als plötzlich der Klang einer Flöte den nächtlichen Platz erfüllt: und aus dem Herzen des Altstädter-Rings erklang zaghaft eine Flöte, ihr leiser und doch so eindringlicher Klang, als sei er der Einsamkeit entsprungen, dieser Flötenklang war in sich ergreifend, aber noch vielmehr, weil einige Stunden zuvor die letzten Autos mit Tränengas und Wasserwerfern von hier weggefahren waren, […] doch hier auf dem Altstädter Ring erklang aus dem Herzen des Denkmals eine Flöte derart, daß ich erschrak, aufstand, die Hand hob und den Kopf drehte... ja, dieser Flötenklang schwebte empor und breitete sich über den ganzen Platz aus, er drang aus den Büschen rund um die hochragende Statue des Magisters Jan Hus [Zf, S. 29 f.] Diese Zauberflöte erinnert das erzählende Ich an die geistigen Größen, die in Prag miteinander verkehrten, wie etwa Franz Kafka, Albert Einstein oder Max Brod.323 Und so wird schließlich in den letzten Zeilen von Hrabals Zauberflöte doch wieder die Hoffnung und der patriotische Glaube an die Kraft des Volkes spürbar, als dem Erzähler bewusst wird, „daß diese Zauberflöte genau von den Orten her geklungen hatte, an denen vertikale Botschaften vermittelt werden... ich glaube, daß die Herrschaft des Volkes über Deine Dinge wieder zurückkehren wird in Deine Hände...“ [Zf, S. 31] Trotz der umfassenden Resignation und Desillusionierung, die das erzählende Ich in diesem Text empfindet, klingt bei Hrabal noch Gottvertrauen sowie der Glaube an, der sich aus der Vergangenheit speist und über die Gegenwart hinweg in die Zukunft reicht. Siegfried Unseld, der Leiter des Suhrkamp Verlags, erzählt in einer Anekdote aus dem Erinnerungsband an Bohumil Hrabal Wer ich bin, wie 322 Der Reformator Jan Hus, nachdem auch die hussitischen Revolutionskämpfe benannt sind, spielt für das tschechische Nationalbewusstsein eine wichtige Rolle. Zu Ehren dieses Nationalheiligen wurde 1915 das monumentale Hus-Denkmal auf dem Altstädter Ring eingeweiht. 323 Darüber hinaus referiert auch der Titel des Textes, Die Zauberflöte, auf eine weitere geistige Größe, die Ende des 18. Jahrhunderts in Prag verkehrte: Wolfgang Amadeus Mozarts gleichnamige Oper wurde kurz nach seinem letzten Prag-Aufenthalt im Jahre 1791 in Wien uraufgeführt.

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ihn dieser auf einem gemeinsamen Spaziergang über die Karlsbrücke über die tschechischen Nationalheiligen und Mythenfiguren der tschechischen Geschichte aufgeklärt habe: Vor der Statue des heiligen Nepomuk bleibt Hrabal stehen: Man muss die fünf Sterne um sein Haupt sehen, auf ihnen stehen die Buchstaben ta-c-u-i: ich habe geschwiegen. Auch Hrabal kann das sagen, ich habe geschwiegen. Dann fragt er mich doch, ob ich wüßte, daß Nepomuk sich geweigert habe, dem König Wenzel die Beichte seiner Gattin zu offenbaren, und deshalb sei er gefoltert und in der Moldau ertränkt worden, die fünf Sterne sind Zeichen der Lichterscheinung in der Moldau, die zum Auffinden der Leiche geführt und die spätere Verklärung Nepomuks bewirkt habe, die des Märtyrers, des Beichtgeheimnisses, des Patrons bei Wassernot und schuldloser Verdächtigungen. Wie sehr wir Tschechen einen solchen Patron brauchen, meinte Hrabal, wie oft sind wir solchen schuldlosen Verdächtigungen als Bedrohung ausgesetzt. Freilich, Hrabal lacht und zitiert die Fürstin Libuše aus dem 6. Jahrhundert: ‚Das tschechische Volk soll nie sterben.‘324 Sicherlich sind auch diese Sätze, die Unseld Hrabal in den Mund legt, mit der Färbung der Prager Ironie zu lesen, allerdings offenbart sich in ihnen auch der Glaube an das vom Schicksal gezeichnete tschechische Volk und eine patriotische Hoffnung auf dessen Zukunft. In einer weiteren Erzählung Výlet k nádražní hale (Ausflug zur Bahnhofshalle, 1993)325 von Jáchym Topol326 wird die Stadt Prag in den 1990er Jahren beschrieben, wenige Jahre nach Hrabals Zauberflöte also, in einer Zeit, als „die Herrschaft des Volkes“ nach der Samtenen Revolution wieder in ihre eigene Hände zurückgekehrt war [vgl. Zf, S. 31]. Doch auch in Topols Text 324 Unseld, Siegfried: Das große Fragezeichen des Wunderbaren. In: Wer ich bin. In Erinnerung an Bohumil Hrabal besorgt von Susanna Roth. Hrsg. von Susanna Roth. Frankfurt am Main 1998. S. 7-14, hier S. 7. 325 Einen ähnlichen Stadttext beschreibt Topol auch in seinen beiden Prag-Romanen Sestra (Die Schwester, 1994) und Anděl (Engel Exit, 1995). 326 Auch Jáchym Topol ist als Mitglied der tschechischen literarischen und musikalischen Untergrund-Bewegung bekannt. Topol selbst wurde zwar erst im Jahr 1962 geboren, jedoch zeichnet sich sein Werk durch charakteristische Merkmale der Untergrundliteratur aus, wie etwa einen rauen, umgangssprachlichen Ton sowie groteske und ironische Elemente.

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bleibt die Suche nach dem Bild eines „magischen“ Prag vergeblich. Unterdessen herrscht eine chaotischen Atmosphäre: Die Stadt gleicht einer postsozialistischen Rumpelkammer, einem Sumpf, in dem sich lächerliche, skurrile, gruselige und kriminelle, betrunkene, schmutzige und zwielichtige Gestalten und Figuren tummeln, in der sich alles mit allem vermischt. Die Menschen sind mit sich selbst beschäftigt, damit, sich selbständig zu machen oder irgendwie ein Geschäft aus der Stadt zu schlagen und schrecken dabei nicht vor kriminellen Machenschaften zurück. Auch die Stadt bekommt in Výlet k nádražní hale eine desillusionierte sowie desillusionierende Gestalt. Auf den ersten Seiten wird beschrieben, wie sich Prag verändert: „Město se měnilo“327. Alles wird renoviert und erneuert, es entstehen neue Hotels, Bürogebäude, Kaufhäuser, Gaststätten und Diskotheken. Im ehemaligen Judenviertel haben sich die verstaubten Keller und die dreckigen Spelunken in luxuriöse Geschäfte verwandelt, in denen teure, skurrile Antiquitäuten, Plunder und Teufelsstatuetten (sošky ďábla) feil geboten werden.328 Město se měnilo, staré rozbité zdi se strhávaly, rozpraskanou tajemnou mapu omítky přikryla reklama, chodníky dostaly nové dláždění, léta stojící plechové a dřevěné ohrady mizely přes noc. Zchátralých baráků se ujímali majitelé a zkoušeli je měnit na hotely, hostince, velkoobchody se sklem, cestovní kanceláře. Z přízemních bytů se na ulici prodávaly dřevěné hračky, párky, noviny, časopisy, perník i zlato, podle nátury, daňový přiznání bylo k smíchu i těm zatrpklejším humoristům. Prachy nesmrděj, říkali si smraďoši a porcovali ulice i náměstíčka podle velikosti svých stánků. Na periferiích a v odlehlých čtvrtích vznikala nová centra okolo diskoték, malých obchodních domů, nových hospod.329 327 Topol, Jáchym: Výlet k nádražní hale [Ausflug zur Bahnhofshalle]. Prag 1993. S. 7 ff. Dt.: Die Stadt veränderte sich. 328 Vgl. Topol, Jáchym: Výlet k nádražní hale. S. 8. 329 Ebd. S. 9 f. Dt.: Die Stadt veränderte sich, alte zerschlagene Wände wurden abgerissen, die rissige geheimnisvolle Karte auf dem Putz wurde von einer Werbung zugedeckt, die Fuß wege bekamen neues Pflaster, jahrelang stehende Blech- und Holzzäune verschwanden über Nacht. Verkommene Baracken wurden von Besitzern übernommen und sie versuchten sie in Hotels, Gasthäuser, Großhandel mit Glas oder Reisebüros zu verwandeln. Aus den Wohnungen im Parterre wurde Holzspielzeug, Würstchen, Zeitungen, Zeitschriften, Lebkuchen und Gold verkauft, dem Charakter entsprechend, die Steuererklärung war zum Lachen auch für die verbittertsten Humoristen. Geld stinkt nicht, haben sich diese Stinker gesagt und die

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Es herrscht ein riesiger Ausverkauf, aus dem skrupellose Geschäftsmänner versuchen ihre Vorteile zu ziehen, und auch wenn der Eiserne Vorhang gefallen ist, herrscht in Prag immer noch Korruption. Derart wird der Gauner, Blutsauger und Trinker Dunar vorgestellt, er ist Boss der Firma Nightland, einer Diskothek, in der die Mafia ihren Machenschaften nachgeht. 330 Nun lässt er sich von seinen Dienern um sechs Uhr morgens das Frühstück auf der Motorhaube seines BMWs servieren. Ein absurdes Bild des Überflusses verdeutlicht den Kontrast zwischen denen, die nicht vor unlauteren Geschäften zurückschrecken, und denen, die nach wie vor als Schichtarbeiter in die Fabrik gehen. Dunar genießt den Luxus knusprig gebackener Hühnchen, vergoldeter Zahnstocher, Körbchen und Tellerchen, Stamperl und Flaschen, während seine alten Bekannten zur Arbeit gehen: Bývalí spolužáci a kámoši a spolumuklové a spoluzaměstnanci z jedné fabriky, bývalí spolubratříci ze školky, z církvičky, strany, armády, dřív spolu žili takříkajíc bok po boku, pěst s pěstí, udáníčko s udáním. Teď polykali sliny, závist a nenávist. Jednou mu někdo z nich rozbije hlavu. Za dlouho nebo brzy, až se naplní čas.331 Während im Kommunismus vermeintlich der Zusammenhalt und die Gemeinschaft im Vordergrund standen, geht nun für den Einzelnen der eigene Vorteil über die gemeinsame Vergangenheit mit den früheren Genossen. Die Stadt Prag wird dabei als clownsgesichtiger Hampelmann beschrieben, der zwar seine ehemalige Maske des Bolschewismus abgelegt hat, nun aber als alkoholsüchtiger und stinkender Clown wieder die Manege betritt. Unter seiner Schminke verbirgt er die Narben der Vergangenheit: Straßen und Plätzchen nach der Größe ihrer Buden aufgeteilt. In den Peripherien und den abgelegenen Vierten entstanden neue Zentren ringsherum Diskotheken, kleine Geschäftshäuser, neue Wirtshäuser. 330 Vgl. ebd. S. 9 f. 331 Ebd. S. 11. Dt.: Ehemalige Mitschüler und Kumpels und Mitknastis und Kollegen aus der einer Fabrik, ehemalige Brudergefährten aus dem Kindergarten, aus dem Kirchlein, aus der Partei, vom Militär, früher lebten sie sozusagen Seite an Seite, Faust an Faust, Denuntiatiönchen mit Denuntiation. Jetzt schluckten sie Spucke, Neid und Hass. Irgendwann einmal schlägt ihm einer von ihnen den Schädel ein. Später oder früher, wenn die Zeit reif ist.

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Město shodilo tu bývalou tvář, tu pochmurnou a přísnou, tu masku hnijícího bolševismu, nasadilo jich teď tisíc. Některé byly nalíčenými veselými obličeji klaunů, a komu by to vadilo, že ti staří alkoholičtí cvoci z manéže páchnoucí pilinami a zvířecím trusem pod šminkou ukrývají sem tam neštovičku, jizvičku po bodnutíčku? Tyhle pestrobarevné šaškovské tlamy se šminkovaly pro bouřlivé mládíčko, pro turistky z nejrůznějších zemí, pro první plaché polibky a letmé dotyky, pro první marihuanovou cigaretu v tajemném příšeří zahraničí opředeného legendami, pro umělčíky v romantickém oparu, za nehtama rez ze železný opony, za kterou je konečně! místo tankový parády už jen divadélko škrholů332, pro syny a dcerky z dobrých rodin s těmi skvělými pasy, přijeli si zabláznit do východní Evropy, čekali zvěřinec, a našli džungli, čekali džungli, a našli sklad vyřazených kulis, hledali Ducha a dostal je Panák se zrcadlovým ksichtem...333 Ähnlich wie in Ota Filips Café Slavia334 wird Prag bzw. das Geschehen in der Stadt auch in Výlet k nádražní hale mit einer Maskerade verglichen. Die Stadt ist nicht sie selbst, sie hat ihre Authentizität verloren und sich stattdessen zahlreiche gruselige und gekünstelte Masken und Verkleidungen angelegt. In beiden Texten steht die Stadt metonymisch für ihre Bewohnerinnen und Bewohner und wird für die zeitgenössischen Ereignisse und das Verhalten der Menschen verantwortlich gemacht. In drastischen Beschreibungen veranschaulicht 332 Škrhola ist eine Figur aus dem alten tschechischen Puppenheater, ähnlich wie der Kasper, der den Archetyp des Dorfprimitiven verkörpert. 333 Topol, Jáchym: Výlet k nádražní hale. S. 11 f. Dt.: Die Stadt hatte ihr einstiges Gesicht abgeworfen, das düstere und strenge, die Maske des faulenden Bolschewismus, stattdessen setzte sie sich jetzt tausende auf. Einige waren fröhlich geschminkte Clownsgesichter, und wen würde das schon stören, dass die alten alkoholischen nach Sägespäne und Viehmist stinkenden Narren aus der Manege hier und da unter ihrer Schminke Narben von Pockenund Stichlein verstecken? Diese buntfarbigen Clownsmäuler schminkten sich für die stürmische Jugend, für die Touristinnen aus verschiedensten Ländern, für das erste scheue Küsschen und flüchtige Berührungen, für die erste Marihuanazigarette im geheimnisvollen Halbdunkel des legendenumwobenen Auslands, für Künstler im romantischen Nebel, unter den Nägeln der Rost des Eisernen Vorhangs, hinter dem er endlich ist! anstatt der Panzerparade nur noch theatralische Kasper, für die Söhne und Töchter aus gutem Hause mit ihren wunderbaren Reisepässen sind sie nach Osteuropa gekommen, um sich auszutoben, sie haben einen Tierpark erwartet und einen Dschungel gefunden, sie haben einen Dschungel erwartet und ein Lager aussortierter Kulissen gefunden, sie suchten den Geist und der Hampelmann mit dem Spiegelgesicht hat sie erwischt... 334 Vgl. hierzu Kapitel Die Maskerade der „großen Geschichte“.

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Jáchym Topol, wie sich die Stadt einerseits für den Tourismus regelrecht verkauft, auf der anderen Seite aber auch von Unternehmern eingenommen und okkupiert wird. Wie Verrückte sind die Menschen inzwischen in die Stadt eingefallen und haben Organisationen und Zeitungen gegründet, haben versucht Kultur zu schaffen oder die einheimischen Dummköpfe (domácí blbečky335) in irgendeiner Art und Weise übers Ohr zu hauen. Und als ihnen schließlich das Geld ausgegangen ist, sind sie wieder verschwunden – die Stadt und ihre Unternehmungslustigen haben sie ausgesaugt wie einen Schwamm („město a jeho podnikavci ho vysáli jak houbu“336). jiné části města majitelé vystřihli do počestnýho šatu solidního obchodníḱa, banky a směnárny, na ruinách vlály pestrobarevné vlajky a najaté síly odstřelovaly vzduchovkama holuby, aby nálože z kloaky nerušily trávení chytráků v kvádrech, těm se hovna převalují v oběhu naprosto diskrétně... a ještě jiné městské zóny se pitvořily v profesionálně vymydlené tvářce falešného hráče, snaživce.337 Im Gegensatz zu Café Slavia sind in Výlet k nádražní hale die Einzelnen nicht etwa tatenlos der Geschichte ausgeliefert, sondern werden vielmehr für die Ereignisse in der Stadt verantwortlich gemacht. Trotz allem ist die Vergangenheit in dieser Stadt immer gegenwärtig, und auch der Mond ist immer noch derselbe wie im 10. Jahrhundert: „V noci nad ním sice stejně samozřejmě jako v desátým století a jako kdykoli jindy visel měsíc v tmavý bráně.“ 338 Als der Ich-Erzähler von seinem Ausflug zur Bahnhofshalle nach Hause zurückkehrt, hört er die Stimme eines Chores: „a všechno už to bylo, a bude to 335 Ebd. S. 12. 336 Ebd. S. 12 f. 337 Ebd. S. 13 Dt.: andere Stadtteile haben die Eigentümer in einen ehrbaren Anzug eines soliden Geschäftsmannes ausgeschnitten, Banken und Wechselstuben, auf den Ruinen wehten die buntfarbigen Fahnen und gemietete Kräfte haben die Tauben mit dem Luftgewehr gesprengt, dass die Ladungen aus der Kloake die Verdauung der Klugscheißer in Quadern nicht stören, die vollkommen diskret ihre Scheiße im Verdauungstrakt wälzen... und auch andere Zonen der Stadt schnitten Grimassen in dem professionellen blitzsauberen Gesichtlein des falschen Spielers, des Strebers. 338 Ebd. S. 7. Dt.: In der Nacht schwebt zwar über ihr freilich der gleiche Mond in der dunklen Pforte wie im zehnten Jahrhundert und wie auch sonst immer.

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pořád, a něco se obrátí v dobrý, a něco ne“ 339. Im klassischen antiken Drama kommentierte der Chor das Geschehen auf der Bühne, häufig als moralische Instanz, häufig aber auch nur, um die zentralen Themen zu verdeutlichen. In diesem Fall verweist der Chor darauf, dass in Prag in der Geschichte alles schon früher da gewesen ist und sich immerfort nur wiederholt. Die Zeit erscheint in dieser Stadt verdichtet und die ständige Wiederholung sowie die Rückwendung in deren Vergangenheit stellen die Basis des Prag-Mythos dar und bewahren denselbigen. Obwohl sich die Stadt verändert hat (město se měnilo), bleibt sie im Grunde doch dieselbe, und nur ihre Masken bzw. die machthabenden Bewohner:innen verändern sich. Topol bricht mit tradierten Darstellung der Stadt: „Es geht um die soziokulturelle Entropie des Stadtraumes nach der Wende, um eine entmystifizierende Sicht auf Prag.“340 Die einzelnen rechtschaffenen Bürger:innen werden sich von dieser Stadt und von den dortigen Vorgängen immer verraten fühlen; auch wenn sich manche Dinge zum Guten wenden, tun es andere wiederum nicht. Und so bleiben die Hoffnungslosigkeit und Resignation bezüglich des Schicksals und der Unabhängigkeit der Stadt Prag immer präsent: Selbst nach dem Ende des kommunistischen Regimes wird Prag nicht etwa als frei und autonom empfunden, sondern vielmehr als nun vom Tourismus und vom Kapitalismus okkupiert.

339 Ebd. S. 42. Dt.: und all das war schon und wird immer sein, und manches wendet sich zum Guten und manches nicht. 340 Ebd. S. 236.

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3.3 Prag als Paradigma der Traumatisierung 3.3.1 De- und Rekonstruktion eines Erinnerungsortes im Werk von Libuše Moníková Die Stadt ist magisch und gleichzeitig sehr konkret, von einer fast schmerzhaften Schönheit und mit einer Jugend, die ihre Freiheit probt – ohne Vorbilder, ernst und realistisch.341 [Libuše Moníková]

Libuše Moníková wurde 1945 in Prag geboren und verließ 1971, wenige Jahre nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings, wie viele andere tschechoslowakische Intellektuelle die ČSSR. Seit 1981 arbeitete sie als freie Schriftstellerin und lebte bis zu ihrem Tod 1998 in Berlin. Als Schriftstellerin war es ihr ausgesprochenes Anliegen als Kulturvermittlerin zu wirken, und so entschied sich Moníková bewusst für einen Wechsel zur deutschen Sprache: „Ich bin eine deutsche Autorin. Ich würde auch, sagen wir, die Proportionen anders bestimmen, wenn ich über die Themen für die Tschechen schriebe.“342 Mit ihrem Schreiben versteht sie sich als Chronistin des Lebens und der Geschichte des tschechischen Volkes: „Seit ich schreibe und mich aufgrund dieser Tätigkeit öffentlich äußere, versuche ich, Kenntnisse über das Land, aus dem ich komme, zu verbreiten und es möglichst würdig zu vertreten.“343 Demzufolge ist sie auch eine tschechische Autorin, da sich alle ihre Texte auf Böhmen und vor allem auf ihre Heimatstadt Prag beziehen. 344 Als Zeitzeugin berichtet sie hauptsächlich über Ereignisse aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch ältere Episoden der böhmischen Geschichte werden in ihren Romanen immer wieder thematisiert. Ihr ist indessen bewusst, dass sie versucht, etwas zu vermitteln, „das kaum bekannt ist und wofür kaum Interesse besteht“345, und so rechnet sie auch nicht damit, dass 341 Moníková, Libuše: Prager Fenster. Essays. München; Wien 1994. S. 120. 342 Moníková, Libuše: Mitteleuropäische Romanexpedition (Gespräch mit Libuše Moníková). In: Literarisches Colloquium. Berlin 1991. S. 171-204, hier S. 202. 343 Moníková, Libuše: Prager Fenster. S. 18. 344 Moníková, Libuše: Das Reich der Kunst erschaffen (1990). In: Prager Fenster. S. 63. 345 Engler, Jürgen: Gespräch mit Libuše Moníková: „Wer nicht liest, kennt die Welt nicht“. In: Neue deutsche Literatur. Zeitschrift für deutschsprachige Literatur und Kritik. Jahrgang 45, Heft 515, 1997. S. 9-23, hier S. 18.

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die tschechische Historie, Kultur und Politik den deutschen Leser ergreifen oder faszinieren könne.346 Dennoch drehen sich ihre Werke immer wieder um ihre böhmische Heimat und die tschechische Geschichte. Ihre poetischen Absichten sind durch ihr Selbst- und Nationalbewusstsein als Tschechin begründet und spiegeln ihre Eigenwahrnehmung wider. So sieht auch Libuše Moníková in gewisser Hinsicht ihre Aufgabe als Schriftstellerin darin, als Gewissen oder Gedächtnis einer Nation zu fungieren, wobei sich der Rezipientenstatus im Sinne einer interkulturellen Kommunikation auf eine andere Nation verschiebt. Dementsprechend lässt sich auch Moníkovás Werk mit Franz Kafkas Theorie von der Bedeutung einer „kleinen“ Literatur und vom „Tagebuchführen einer Nation“347 lesen. Dabei liegt der Autorin in besonderer Weise ihre Heimatstadt Prag am Herzen: „Besessen bin ich von Prag, das ist meine Stadt, die mich geprägt hat, die ich vermisse.“348 Ihr Schreiben ist sehr persönlich und lässt viele autobiographische Details erahnen. Moníková verdeutlicht darin ein ambivalentes Verhältnis zur Stadt Prag: „Alles, was ich schreibe, was mich bewegt, kommt aus dieser Stadt, im Guten und im Bösen. Ich bin für jede andere hoffnungslos verloren.“349 Einerseits ist es die geliebte Stadt, deren Geschichte und Mythen die Schriftstellerin immer wieder rezipiert. Moníková identifiziert sich mit Prag und empfindet das „Schicksal“ der Stadt selbst als traumatisch. Auf der anderen Seite steht die Entfremdung von der Stadt, die sich aufgrund von historischen Ereignissen und Eingriffen von außen verändert hat und immer weiter verändert. In dieser Darstellung einer Stadt, die nicht mehr so ist, wie sie einmal war, spiegelt sich das Gefühl des Heimatverlustes wider. Neben dem Anliegen, als Kulturvermittlerin die Geschichte ihrer Heimat zu erzählen, leistet Libuše Moníková also in ihrem Werk eine persönliche Erinnerungsarbeit, in welcher der schmerzliche Verlust der Heimat und die Frage nach der eigenen Identität sehr präsent sind. Sie hat sich dem „Kampf im 346 347 348 349

Vgl. Engler, Jürgen: Gespräch mit Libuše Moníková. S. 18. Vgl. Kafka, Franz: Tagebücher (1990). S. 312 ff. Engler, Jürgen: Gespräch mit Libuše Moníková. S. 18. Moníková, Libuše: Selbstvorstellung. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Vorstellung neuer Mitglieder. Darmstadt 1993. S. 179-182, hier S. 181.

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Namen der Erinnerung“350 verschrieben, und ihre Texte sind eine permanente Auseinandersetzung mit der Geschichte – mit der Geschichte Prags, die gleichzeitig auch Moníkovás eigene Geschichte ist. Die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Vedder versteht die Romane der Exilantin als Erinnerungstexte. In ihrem Artikel „Ist es überhaupt noch mein Prag?“ 351 Sprache der Erinnerung in der Literatur Libuše Moníkovás untersucht sie die einzelnen Texte in Hinblick auf die „Rekonstruktion einer ursprünglichen Heimat“ 352. Dies wird vor allem anhand von Moníkovás Figuren deutlich, die sich immer wieder an das frühere Prag erinnern und es mit dem gegenwärtigen vergleichen. So zum Beispiel in ihrem zweiten Roman Pavane für eine verstorbene Infantin (geschrieben 1983), in dem sich die Protagonistin Francine Pallas von der in Deutschland herrschenden Unwissenheit und Ignoranz gegenüber dem tschechischen Nachbarland beleidigt fühlt: ‚Was für eine Landsmännin sind Sie denn?‘ Darauf bin ich nie vorbereitet. ‚Ich bin aus Prag.‘ ‚Ah, aus der Tschechei.‘ ‚Aus der Tschechoslowakei.‘ Er lässt dich durch meinen gereizten Ton nicht beirren. ‚Seien Sie bloß froh, daß Sie hier sind‘, belehrt er mich vertraulich. Ich warte nur, daß er fragt, wie mir die Flucht gelungen sei. Meine Antwort würde er nicht verstehen. Ich lege auf. Ich kann mich an diese Frechheit, an die joviale Ignoranz nicht gewöhnen, an das fette Nicht-Wissen, an die Vereinfachung, die ostentativ falsche Schreibweise meiner Daten, dazu das touristische Know-how über die ‚Goldene Stadt‘.353 350 Vgl. Kliems, Alfrun: Im Stummland. Zum Exilwerk von Libuše Moníková, Jiří Gruša und Ota Filip. Frankfurt am Main 2002. S. 111. 351 Zitat aus ihrem Roman Verklärte Nacht (München, Wien 1996. S. 125). 352 Vedder, Ulrike: „Ist es überhaupt noch mein Prag?“ Sprache der Erinnerung in der Literatur Libuše Moníkovás. In: Zwischen Distanz und Nähe. Eine Autorengeneration in den 80er Jahren. Hrsg. von Helga Abret und Ilse Nagelschmidt. Bern 1998. S. 7-27, hier S. 9. 353 Moníková, Libuše: Pavane für eine verstorbene Infantin. München 1988. S. 41 f. Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [PI] abgekürzt.

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Die Bezeichnung „Tschechei“ empfindet Francine als Verstümmlung [vgl. PI, S. 7]. Darüber hinaus fühlt sie sich aber auch von ihrer Heimat, die sie verlassen musste, verraten. Das tschechoslowakische Trauma der sowjetischen Okkupation und die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings sind für Francine zum Identitätstrauma geworden: „ich bin aus der Trauer einer ganzen Nation weggegangen“ [PI, S. 134]. Indessen hat sich ihre Heimat verändert, wie ihr bei einem Besuch in Prag bewusst wird. Die Stadt stellt für Francine nicht mehr den gewohnt vertrauten Raum dar: „Ich gehe weiter durch die kopfsteingepflasterten Gassen zum Zentrum, ich bemühe mich, mich heimisch zu fühlen. Mit den Hausmauern, dem Modergeruch aus den verfallenen Toren gelingt es mir besser als mit den Gesichtern.“ [PI, S. 38] Für Libuše Moníkovás Figuren sind diese in Pavane für eine verstorbene Infantin beschriebenen Emotionen einer Exilantin gegenüber ihrer tschechischen Heimat und der Stadt Prag paradigmatisch. In Moníkovás Romanen gibt es überwiegend Figuren mit Exilerfahrung, die sich immer wieder mit den „existentielle[n] Fragen zu Heimat und Fremde, Exklusion und Isolation, Heimatverlust und Anpassung, eben zum Problem der Identität“ 354 auseinandersetzen. Alfrun Kliems weist in ihrer Untersuchung Im Stummland. Zum Exilwerk von Libuše Moníková, Jiří Gruša und Ota Filip darauf hin, dass diese Figuren überall ein Gefühl der Fremdheit und des Fremdseins begleitet – im Exil, wie auch in ihrer ehemaligen Heimat. In den Figuren spiegelt sich eine „zeitlose Erfahrung des Ausgestoßenseins“355 wieder, die traumatisch ist und ihren Ursprung in Prag hat. Prag ist der Knotenpunkt von Libuše Moníkovás Romanen. In ihrem Essay Prag der neunziger Jahre schreibt sie, dass sich all ihre Texte auf ihre Heimatstadt beziehen, auch wenn sie am anderen Ende der Welt spielen: „In meinen Büchern kommt sie immer wieder vor, auch wenn ich über so entlegene Landschaften wie Sibirien, Japan oder Grönland schreibe.“356 Die Romane spielen entweder in Prag (Eine Schädigung, Der Taumel), oder die Figuren sind auf der Suche nach ihrer einstigen Heimat, und ihre Gespräche kreisen fortwährend um die Stadt (Die Fassade, Treibeis) oder sie 354 Kliems, Alfrun: Im Stummland. S. 99. 355 Ebd. S. 71. 356 Libuše Moníková: Prager Fenster. S. 120.

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kehren dorthin zurück (Pavane für eine verstorbene Infantin, Verklärte Nacht). Dabei wird Prag zu einem subjektiven Erinnerungsraum, mit dem sich die Figuren einerseits identifizieren, in den aber andererseits eingegriffen bzw. der von außen verändert wurde und der somit für die Protagonisten beschädigt ist. Im Folgenden wird die Bedeutung der Stadt Prag in drei von Libuše Moníkovás Romanen genauer untersucht. Es wird nachvollzogen, wie sich das Verhältnis der Figuren zu deren Heimatstadt verändert hat und wie sich das Trauma des Exils und die Suche nach Identifikation auf das Bild von Prag im Text auswirken. Eine weitere Autorin, die mit ihrem Schreiben einen individuellen Erinnerungsraum rekonstruiert, ist Lenka Reinerová. Als Tochter einer jüdischen Familie musste sie nach der Besetzung der deutschen Wehrmacht im Jahre 1939 nach Frankreich emigrieren und kehrte erst wieder 1946 in ihre Heimatstadt zurück. Auch sie gemahnt in ihren autobiographischen Erzählungen und ihren Erinnerungen an die Prager deutschsprachige Literatenschaft immer wieder an das Prag ihrer Jugend und bewahrt in ihrem Schreiben den Mythos einer „magischen“ Stadt: Denn Prag, das muß man wissen, ist neben seinem würdevollen Alter und seinen historischen Werten auch ein sonderbar närrischer Ort. Was übrigens in bestimmten Maße gleichfalls für die Menschen gilt, die hier zu Hause sind. Bin ich doch selbst einer von ihnen.357 Ähnlich wie Libuše Moníková rekonstruiert Lenka Reinerová in ihrem autobiographischen Schreiben ihren persönlichen Erinnerungsraum und schreibt damit den Mythos einer „magischen“ Stadt fort. Sie gemahnt immer wieder an das Prag vergangener Zeiten, wobei sie den Prozess des Erinnerns in ihren Erzählungen aktiv reflektiert und dem Geist der Vergangenheit eine Art Gestalt gibt, wie beispielsweise die des unsichtbaren Begleiters in Närrisches Prag. Eine Bekenntnis (2005): „So etwas kann man in Prag erleben, hier gibt es das eben.“358 Sie erzählt von einem Spaziergang durch die Stadt, vorbei an all den Orten ihrer Vergangenheit, bei dem ihr stets ein unsichtbarer Begleiter zur Seite steht, „der magische Geist, von dem es heißt, daß er Prag seinen 357 Reinerová, Lenka: Närrisches Prag. Eine Bekenntnis. Berlin 2005. S. 12. 358 Reinerová, Lenka: Närrisches Prag. S. 10 f.

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rätselhaften Zauber verleiht“359. Dieses Wesen ist für sie Sinnbild eines bestimmten Gefühls von Authentizität der Stadt und ihrer „Magie“, die Lenka Reinerová im heutigen Prag nicht immer wiederzufinden vermag: Könnte dieses Wesen etwa ein Geist von Prag sein, ein Zauberer, der Magier dieser Stadt, dem viele nachspüren, den aber nur wenige begreifen können? Ich kann diese Erscheinung […] gleichzeitig an drei Tischen im Café Slavia sitzen sehen, begegne ihr aber auch auf der Straße, in einem Menschengewühl oder sonstwo, vor allem dann sowie jemand etwas absolut Unsinniges oder gar Häßliches über unsere Stadt verbreiten oder ihr zufügen will. Und weil dieses Wesen vielleicht doch ein Zauberer ist, der kommt und geht, regungslos zuhört, alles aufnimmt und nichts verrät, kann ich bei ihm getrost abladen, was mir ungerufen und immer wieder unausweichlich begegnet in unserem wunderbar närrischen Prag. Ich zögere auch nicht, meinen stillen Begleiter um Beistand und Rat anzurufen, wenn sich mein Leben schwierig verknotet oder mir Rätsel aufgibt, deren Lösung ich nicht kenne.360 Die Erzählerin ärgert sich über die Unwissenheit und die Ignoranz der jüngeren Generation gegenüber der Prager Geschichte, insbesondere der Tradition der Prager Literatur, die zwar touristisch vermarktet wird, von der aber niemand mehr eine Ahnung zu haben scheint. Mit diesem unsichtbaren Begleiter erinnert Reinerová auch an Sylvie Germain und Die weinende Frau in den Straßen von Prag, die ebenfalls das personifizierte Gedächtnis der Stadt darstellt. Allerdings steht die unsichtbare Gestalt bei Reinerová eher für die „Magie“ der Stadt, ihren genius loci, während die Riesin bei Germain das kollektive Gedächtnis symbolisiert. Zu Beginn von Libuše Moníkovás erstem Roman Eine Schädigung (1981) wird ein graues, bedrückendes und trostloses Stadtbild entworfen. Explizit wird der Name der Stadt nicht genannt, jedoch ist Prag bereits auf den ersten Seiten unverkennbar361: Beschrieben wird die Strecke der bekannten Tram359 Ebd. S. 16. 360 Ebd. S. 6. 361 Libuše Moníkovás Werk ist stark von Franz Kafka inspiriert und beeinflusst. Dass die

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Linie 22, die an vielen Prager Sehenswürdigkeiten vorbeiführt. Der Text beschränkt sich jedoch auf den Streckenabschnitt hinter der Burg Richtung der Station Bílá hora (Der weiße Berg): Statt durch das touristische Zentrum „schwankt“ die Bahn „auf dem Hügel um die kahlen Neubauten, die die Stadt beschließen“362: Es ist schon längere Zeit her, als der Bahnstrecke entlang Wald wuchs und oben auf dem Berg Ausflügler die Stadt besahen. Die Straßenbahn war oft voll, bei Schnee lief man am Hang Ski. […] Einige Jahre veränderte sich das Terrain, und man hat sich an den aufgewühlten, kahlen Hang gewöhnt, kaum einer ist sich sicher, wie der Berg vorher aussah. […] Die alte Straßenbahn wurde vergessen, sie klettert hier noch immer bergauf, um an der ehemaligen Endstation zu wenden. Der Verkehr beginnt eigentlich unten am Kai, bergauf fährt niemand mehr, nur manchmal, aber sehr selten, vergißt ein Betrunkener auszusteigen oder ein müder Arbeiter, der unterwegs eingeschlafen ist. Wenn sie der Fahrer nicht rechtzeitig bemerkt, bleiben sie sitzen und fahren mit ihm um den ganzen Berg bis sie wieder dahin zurückkommen, wo sie aussteigen wollten. Manchmal weckt sie der Fahrer absichtlich nicht. Es ist für ihn eine willkommene Gesellschaft, niemand fährt auf den Berg gern allein. [ES, S. 8 ff.] Schon auf den ersten Seiten wird deutlich, dass Prag sich verändert hat und eine freudlose Melancholie die Stadt überschattet. Weiterhin wirkt sie auf unheimliche Weise bedrohlich, wobei die empfundene Beklemmung zunächst von der städtischen Peripherie ausgeht: In einem solchen Außenbezirk der Stadt, einem verlassenen Regierungsviertel, wird die Protagonistin Jana von einem Polizisten vergewaltigt und niedergeschlagen; der Polizist als Repräsentant des Staates ist Teil dieser Bedrohung. Ganz konkret geht diese jedoch Topologie der Stadt Prag eindeutig erkennbar ist, jedoch der Name der Stadt ungenannt bleibt, scheint eine Anlehnung an Kafkas Werk zu sein, in dessen Texten Prag in nur wenigen Ausnahmen konkret benannt wird. Da laut Moníkovás eigener Aussage alles, was sie schreibt aus dieser Stadt kommt, ist davon auszugehen, dass es sich bei der Nicht-Nennung des Stadtnamens in Eine Schädigung um einen bewussten intertextuellen Bezug zu Kafkas Werk handelt. 362 Moníková, Libuše: Eine Schädigung. Berlin 1981. S. 7. Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [ES] abgekürzt.

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von der Verwaltung der Stadt aus, die vom Berg aus alles beobachtet und registriert. Die Darstellung einer erhabenen Staatsmacht auf einem Berg erinnert in ihrer Exponiertheit und der undurchschaubaren Kontrollfunktion an Kafkas Schloß und ist in Eine Schädigung unschwer als sozialistischer Staatsapparat zu entschlüsseln: Die vorteilhafte Lage des Berges erleichtert der Verwaltung die Kontrolle über die Stadt, die Geräte auf den Türmen sind tagsüber in Betrieb und manche arbeiten automatisch auch nachts. Unter den Dächern wird registriert, verglichen, die Archive füllen sich. Wozu es gut sein wird, weiß niemand, die Zeitungen bringen keine Details. Jeder fühlt sich beobachtet, die Beklommenheit in der Stadt nimmt zu. Amtliche Bekanntmachungen sind bisher nur wenige erschienen, aber immer wird auf etwas gewartet, eine Katastrophe hängt in der Luft, und die Mehrheit erwartet sie gespannt. [ES, S. 8 f.] Desweiteren geht eine besondere Bedrohung von den modernen Türmen aus, die nicht in das historische hunderttürmige Stadtbild passen: „An die neuen Türme kann sich niemand gewöhnen. Im historischen Rahmen der Stadt wirken sie störend und wenn sie nicht Angst erweckten, wären sie mit ihrer stumpfen Form lächerlich.“ [ES, S. 8] Die Türme sind einerseits als architektonischer Eingriff eine optische Schädigung des malerischen Stadtpanoramas, darüber hinaus sind sie aber auch Sinnbild für die willkürliche und absurde Kontrolle des Überwachungsstaates. In ihrer phallischen Bedrohlichkeit verbildlichen sie die Vergewaltigung, die insbesondere Jana zugefügt wurde, aber auch die Stadt und ihre Bewohner:innen betrifft: „Die Aggressivität stammte von ihnen, wie sie hier standen, eine primitive Drohung, die Aufforderungscharakter hatte.“ [ES, S. 37] Die Protagonistin nimmt infolge ihrer eigenen Schädigung auch die der Stadt sehr genau wahr: „Manches in dieser Stadt bezieht sich auf sie“ [ES, S. 107]. Im Gegensatz zur städtischen Peripherie ist das Stadtzentrum zu Beginn des Romans noch ein idyllischer Ort, der Möglichkeit bietet, sich zu verstecken. Jana findet Unterschlupf auf einem Hausboot, das mitten im Stadtkern ankert:

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Das Boot liegt hinter der dritten Brücke in einem Arm, vom Hauptstrom abgeteilt durch eine mit Bäumen bepflanzte Insel, die sich bis zur Mitte des Flusses hinzieht, wo sie von der Brücke her betretbar ist. Der Verkehr ist über die Brücke ins Zentrum abgeleitet worden, in der Bucht ist eine weiche Stille, sie hat nicht beängstigende Gespanntheit, die unnatürliche Starrheit der evakuierten Gegend vorher. [ES, S. 41] Von dem Hausboot aus kann sie durch das Fenster über den Fluß auf die Altstadt blicken, die „gleich unbewegt schön ist; die mittelalterlichen Kirchenspitzen und Häuserdächer, von der Sonne überschwemmt, zusammengeklebt über einem Durcheinander von schmalen Gassen, wo die Gaslampen an den durchgewölbten Lehmwänden sich zu den gegenüberliegenden Mauern neigen und abends sie durch fahles Licht verbinden.“ [ES, S. 51] Von dem alten Stadtkern geht eine beruhigende Vertrautheit aus. Dort sucht Jana immer wieder nach ihr vertrauten Orten, um der ständigen Überwachung zu entkommen. Sie bewegt sich an „[u]nauffindbaren Plätzen inmitten der Stadt“ [ES, S. 107], in idyllischen, menschenleeren Gärten: Weiter steigen im Felsen hohe schmale Stufen zu einem zerstörten Altan, aus dem Fußboden wachsen Himbeersträucher, es riecht nach Kräutern, und über der Hofmauer unten sind die Dächer der Altstadt zu sehen. Es ist hier sehr ruhig, sie hört die Eidechsen rascheln. Sie begegnet in diesem Garten niemandem. [ES, S. 107] Oft geht sie spazieren, denn „sie hält es an einer Stelle nicht lange aus, sie ist noch ungeduldig.“ [ES, S. 107] Jana versteckt sich auch gerne im Kino oder in den alten Kinopassagen: „Die Passagen der Innenstadt waren schon ein Teil der gedämpften, unwirklichen Welt, in die sie untertauchte, man brauchte nur eine Eintrittskarte zu lösen.“ [ES, S. 77] Indessen nimmt die Bedrohung von außen zu und auch die Einwohner:innen der Stadt bewegen sich „von einem Verbot zum anderen, und der Raum dazwischen wird immer enger.“ [ES, S. 41] Die Stadt schrumpfte zusammen unter dem Betongürtel der Neubauten. Dort waren Abweichungen schon unterbunden, und der Horizont ließ

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keine Hoffnung. – Eine fremde Stadt mit einer fremden Sprache von fensterlosen Türmen gelenkt, die die Leute undeutlich, verschmiert reden ließen und einander überwachen, nur die Jagd auf einen Dritten machten sie voreinander sicherer. [ES, S. 74] Obwohl von dieser Stadt eine derartig beklemmende Bedrohung ausgeht, die sich zusehends verdichtet, betont Jana immer wieder, wie wichtig sie ihr ist [vgl. ES, S. 41]. Bis zum letzten Moment kann sie sich nicht entschließen, mit ihrer Freundin Mara zusammen Prag zu verlassen. Die Stadt in Die Schädigung ist in gewisser Weise selbst beschädigt. Sie wird nicht anthropomorphisiert, dementsprechend ist es ist nicht unbedingt die Stadt, von der die Bedrohung ausgeht, sondern vielmehr das Kontrollorgan, das im Roman nicht konkreter beschrieben wird. Durch dessen Eingriff fühlen sich die Bewohner:innen nicht mehr sicher, und die Stadt ist ihnen fremd geworden. Während die Randbezirke von einem immer enger werdenden Betongürtel umschlossen werden, bleibt die Altstadt im Kern unbeschädigt. Das historische Zentrum bietet der traumatisierten Jana auch nach ihrer Vergewaltigung Geborgenheit, es ist ihr persönlicher Stadtraum, in dem sie sich wohl fühlt, manchmal sogar unbeobachtet, wo sie sich verstecken und flanieren kann. Es sind unauffindbare, namenlose Plätze, an denen sie Schutz sucht. Diese Orte sind charakteristische Schwellenräume, die trotz der allgemein herrschenden Bedrohung noch die Idylle und die Magie des einstigen Prags spürbar machen: Der Blick über den Fluss auf die Altstadt, die verwinkelten Kinopassagen im Zentrum, sind „Teil der gedämpften, unwirklichen Welt“, in die man untertauchen kann, ebenso wie die versteckten Gärten, die wie verzaubert, fast paradiesisch wirken, welche sich inmitten der Stadt befinden und dennoch menschenleer sind. In Libuše Moníkovás zweitem Roman Pavane für eine verstorbene Infantin (1983) wird kein konkretes Bild von Prag entworfen. Stattdessen gibt es einige Passagen mit Revisionen der tschechischen Geschichte, stenografische Rückblenden in die historische Vergangenheit der Stadt:

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Allan Peterssons Symphonie Nr. 6. Ich sehe Prag vereist, im Dreißigjährigen Krieg verloren, ausgeraubt, leblos, der Codex argenteus in der Satteltasche eines schwedischen Offiziers, der sich den Weg mit Säbelhieben erzwungen hat – ein militanter Bibliophiler, ein Ablaßkrämer, der ein Geschäft wittert, ein Prälat im Harnisch –, und immer weitere Schneeschichten, bis zum Horizont ist alles erstarrt unter einem Eissturz, es bewegt sich schon lange nichts mehr, nur der Wind, der meine Stadt unter Eis legt.363 Das erzählende Ich beansprucht dabei die Stadt für sich, es ist ihre Stadt. Die Worte „Ich sehe ...“ sind ein Zitat aus der Weissagung der Stadtgründerin Libuše: „Město vidím veliké...“ (Ich sehe eine große Stadt...). Die Protagonistin Francine Pallas identifiziert sich mit der mythischen Stadtgründerin Libuše, und es kommt zu einer Vermischung des erzählenden „Ichs“ und der Identität der Fürstin („sie“). Mit der Komposition von Maurice Ravel Pavane pour une infante défunte (Pavane für eine verstorbene Prinzessin) imaginiert Francine bzw. die Fürstin ihr eigenes Begräbnis: Die Pavane gibt meinem Tod eine Bedeutung. Ich bin eine heidnische Fürstin, die auf einem steinernen Katafalk aufgebahrt liegt, den Leib nach dem Brauch zur Atemlosigkeit verschnürt. Sie ist Königin, sie darf sich nicht bewegen. Sie erlöst ihr Volk mit ihrem Tod bei Leben. Als ich hinabgelassen werde, höre ich die Stimme der Chronik: Da stirbt die große Königin von Böhmen. [PI, S. 41] An einer späteren Stelle im Roman befindet sie sich unter der Stadt: „Ich bin unter der Burg, in der Gruft der Kaiser, Könige und Königinnen, nur dem Schein nach Vorfahren, alle jünger als ich.“ [PI, S. 77] Zwischen den Sarkophagen liegen angenagte frische Knochen, und es riecht nach Raubtier: „ich weiche zurück, als ich einen lautlosen Schatten von einer Deckplatte hinabgleiten sehe, als löste sich ein Tier, das vor mir flieht. Ich gehe ihm nach.“ [PI, S. 77]

363 Moníková, Libuše: Pavane für eine verstorbene Infantin. S. 76. Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [PI] abgekürzt.

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Das erzählende Ich verfolgt das Raubtier immer tiefer in die dunklen, kalten und feuchten unterirdischen Gänge der Stadt. Schließlich kommt sie an die „frisch ausgebaggerte Metrostrecke“ [PI, S. 77]: Ich gehe auf dem Sand den runden Spuren des Tieres nach […]. Wir mühen uns weiter durch das Metronetz, es läßt den Abstand nie so groß werden, daß wir jeder für sich allein wären, auch das Tier ist einsam, es ist vielleicht nicht gewöhnt, verfolgt zu werden, auch zu jagen, aber auf diesem Weg verstehe ich, daß es eher dazu neigt auszuweichen; sein Wesen wird mir klar. [PI, S. 77 f.] Sie verfolgt das Tier unter der ganzen Stadt hindurch, bis sie es schließlich in einer Höhle im großen Lehmsaal unter dem Vyšehrad findet. Dieser Ort ist „älter als alle Wege und Bauten der Stadt“ [PI, S. 78]. Hier endet die Verfolgung, von hier aus gibt es keine weiteren Verzweigungen der unterirdischen Gänge. Und auch die „Einschnitte der Geschichte“, an denen das erzählende Ich auf dem Irrweg unter der Stadt entlang kam, „haben in der Chthonie des Raumes keine Geltung.“ [PI, S. 78] Hier befinden sie sich an dem Ort, an dem alles begann und nun endet – vom Vyšehrad aus hat die Fürstin Libuše die Gründung der Stadt Prag prophezeit: „Ich bin am Ort des Ursprungs; wir stehen uns gegenüber, am Ausgang unserer vergeblichen Geschichte – die Fürstin und ihr Wappentier“ [PI, S. 79]: Auf einem Podest aus gestampfter Erde drückt sich das Tier in die Wand; die Mähne durchnäßt, verfilzt, die Hinterbeine mager, mit hängender Haut. Die Wucherung auf seinem Kopf, die so krankhaft anmutet, mit scharfen Auswüchsen, wie ausgezackte Schädelknochen, ist Metall, eingewachsen, an dem es langsam, vielleicht seit tausend Jahren zugrunde geht. Es ist die Krone, – der zerschundene, zerrissene Schwanz, der heraldisch gespaltene Schweif des böhmischen Löwen. [PI, S. 78 f.] Der böhmische Löwe, das Wappentier und nationale Symbol des tschechischen Volkes, hat all seine Anmut verloren und haust demütig in den unterirdischen Gängen und Katakomben der Stadt. Sein ursprünglich in die Höhe ra-

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gender Doppelschweif ist zerrissen, die herrschaftliche Krone ist ihm krankhaft in den Schädelknochen eingewachsen. Die beiden symbolischen Verkörperungen, der Löwe und die mythische Stammmutter, bewegen sich lediglich in der Unterwelt von Prag, „[d]raußen ist Abend“ und sie befinden sich am „Ende“ [PI, S. 78], von dem aus kein Weg weiterführt. Die Begegnung der Fürstin mit dem geschundenen Tier beschreibt einen Moment der Ausweglosigkeit, der keinen Raum für Hoffnung lässt. Beide sind mit Prag verbunden: Historisch und symbolisch, wie auch physisch und emotional sind sie Teil dieser „vergeblichen Geschichte“ [PI, S. 79] einer Stadt. Sie begegnen sich schließlich am „Ort des Ursprungs“ [PI, S. 79], der Anfang und Ende von allem darstellt. Dieses unterirdische Labyrinth lokalisiert gewissermaßen den Mythos, welcher als solcher versucht den Ursprung eines Phänomens zu ergründen.

Abb. 9: Der böhmische Löwe. Wappentier des tschechischen Staatswappen

Diese beiden Szenen – die sterbende Fürstin und ihr Zusammentreffen mit dem geschundenen böhmischen Löwen – sind Ausdruck einer Endzeitstimmung. Während in Eine Schädigung die Stadt durch den Eingriff des Kontrollorgans fremd und bedrohlich geworden ist, liegt sie nunmehr, symbolisch ver-

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körpert durch die Fürstin und den Löwen, im Sterben. Prag wird in Pavane für eine verstorbene Infantin übertragen dargestellt, doch weist die Identifikation der Ich-Erzählerin mit der Stadt darauf hin, dass sich auch in dieser Darstellung die traumatische Erfahrungen des Exils und das damit verbundene Verhältnis zur Heimatstadt widerspiegeln. In Moníkovás ersten beiden Romanen kündigt sich bereits an, was sich in ihren späteren Werken immer deutlicher abzeichnet: die schmerzliche Verhältnis einer Exilantin zu dem Ort, den sie unfreiwillig verlassen musste. Einerseits ist Prag die geliebte Heimat, mit der viele Erinnerungen und Gefühle verbunden sind; auf der anderen Seite jedoch stellt die Stadt eine Bedrohung dar oder es herrscht dort eine hoffnungsund ausweglose Endzeitstimmung. Dreizehn Jahre später veröffentlicht Libuše Moníková Verklärte Nacht (1996)364, einen Roman, in dem die Protagonistin schließlich nach zwanzig Jahren nach Prag zurückkehrt. Leonora Marty durchwandert in der Stadt ihrer Kindheit verschiedene Orte, die mit persönlichen Erinnerungen verbunden oder für sie von tieferer Bedeutung sind. So wird in Verklärte Nacht ein sehr ausführliches Prag-Bild der neunziger Jahre entworfen, welches immer wieder angereichert ist mit der Prager Kultur- und Architekturgeschichte, mit historischen bzw. politisch einschneidenden Ereignissen und mit der böhmischen Mythengeschichte sowie den dazugehörigen Orten. Es vermischen sich Eindrücke aus Leonoras Vergangenheit und ihre Erinnerungen mit geschilderten Ereignissen aus der Stadtgeschichte sowie Impressionen aus der fiktiven Prager Gegenwart. Dabei wird die Protagonistin ständig von einem Gefühl der Entfremdung begleitet: Prag hat sich verändert, und Leonora fühlt sich dort nicht mehr willkommen oder zugehörig: „Ich bin nicht nach Prag gekommen, um mich hier mit Ausländern zu unterhalten. Ich bin auf meine ‚Landsleute‘ neugierig, die wiederum nichts von mir wissen wollen.“ [VN, S. 92] Sie streift kreuz und quer durch Prag – die Wege, die sie dabei zurücklegt sind ihr nach wie vor vertraut. Obwohl sie sehr lange nicht mehr dort war, herrscht noch immer „[d]ie Vertrautheit alter Abkürzungen und Durchschlupfe...“ [VN, S. 6] Indessen aber haben sich die Namen der Straßen und Plätze verändert: 364 Moníková, Libuše: Verklärte Nacht. München, Wien 1996. Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [VN] abgekürzt.

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„Früher habe ich über Namen nicht nachgedacht, sie waren selbstverständlich, wenn auch nicht immer klar; doch die Unklarheit war vertraut. Jetzt bin ich mir keines Wortes sicher.“ [VN, S. 6] Die Orte in Prag wurden mit den wechselnden Machthabern und Ideologien willkürlich umbenannt und es scheint, als fühle sich heute niemand mehr verpflichtet, sich an die Geschichte der Orte erinnern zu müssen: Jetzt ist der Name Jan Palach offiziell, ohne Risiko, ohne Anspannung und Verpflichtung zur Erinnerung – sie wurde von den Schildern übernommen. Es gibt kein kollektives Gedächtnis auf die Dauer, nur das kollektive Vergessen.“ [VN, S. 97] Nicht nur die Namen haben sich verändert, sondern die gesamte Atmosphäre in der Stadt ist anders, als Leonora sie erwartet hatte. Die Flaneurin empfindet Gefühle von Niedergeschlagenheit, Ärger, Resignation und Wut: „Wenn ich in dieser Stadt etwas zu erledigen habe, bin ich im voraus angespannt, gereizt und ungeduldig, vom Anfang an überzeugt, daß es nicht klappen würde.“ [VN, S. 33 f.] Dabei hat Leonora zu Prag eine besondere Beziehung: Wenn ich von der Stadt nichts will, komme ich mit ihr am besten klar, stoße auf Ecken und Gebäude, die ich nur aus Büchern kannte und für verloren hielt oder in der Realität für gar nicht auffindbar. Ich überlasse mich dem unwirklichen Gefühl, in dieser Stadt zu sein. Es gibt Orte, die mich sofort ansprechen: italienische Städte, New York. In Prag kommt dazu das Gefühl einer besonderen Auszeichnung. Als hätte ich in einem früheren Leben etwas Wichtiges oder Großes getan, daß ich in dieser Stadt geboren wurde und in ihr leben durfte. Dabei ist die Luft kaum zu atmen und die Siedlungen am Horizont von solcher Brutalität, als wären die verantwortlichen Städteplaner alle Kretins oder Schwerverbrecher. Die Neubauten in Ostberlin, in den Vororten von Salerno, von Paris sind keine Spur besser, um diese Städte habe ich aber nicht solche Angst. [VN, S. 34] Sie ist nach Prag gekommen, um eine Woche in einer angemieteten Wohnung in Prag 6 (dem Stadtviertel ihrer Kindheit) zu verbringen und die Stadt für sich allein zu haben. [Vgl. VN, S. 25] Jedoch findet sie die Orte ihrer Erinne-

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rung nicht wieder. Prag hat sich verändert, und folglich hat sich auch das Gefühl verändert, das Leonora mit der Stadt verbindet. Das zeitgenössische Prag missfällt der Protagonistin, es erweckt in ihr Abscheu und macht ihr sogar Angst. Sie beklagt sich über die Preise, über den Ausverkauf der Stadt durch den Tourismus, die mangelnde und unromantische Atmosphäre auf dem Weihnachtsmarkt, das Verkommen von Traditionen und das Verschwinden von kulturellen Einrichtungen, an deren stelle sich nun Läden mit „eingeschlepptem Plunder“ [VN, S. 35] befinden. Prag ist „überfremdet“ von der russischen Mafia und vielen jungen „Unternehmern“ [VN, S. 35], die ihren Profit aus der „Goldenen Stadt“ schlagen. Auch die Prager:innen mögen die neuen Einwohner:innen und Zugereisten nicht: Roma aus der Slowakei, die sich in Prag wohlfühlen, die Bande der ‚Mützler‘ aus Rußland und der Ukraine, die sich blutig bekämpfen, dazu als größte Belastung die unaufhaltsam anschwellenden Massen der Touristen machen die Menschen in der Stadt gereizt und misstrauisch. [VN, S. 15] Einen Höhepunkt findet das Gefühl der Ablehnung und Entfremdung, als Leonora im Hotel ankommt, in dem sie in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes wohnt: Da ich tschechisch sprach, wollten sie mich in ein Hinterzimmer stecken; mein Wutausbruch hat einige Verwirrung ausgelöst. Ich komme nach langen Jahren und möchte die Stadt sehen, sagte ich, nicht den Schutthaufen auf der Rückseite des Hotels, mit Blick auf Siedlungen, die früher nicht da waren und für mich auch nicht zur Stadt gehören. [VN, S. 36] Wegen der Aussicht vom Hotel über die Stadt lädt sie alte Freunde und Bekannte zu sich ein – die jedoch „rümpften die Nasen: das Hotel, ein Betonklotz aus den siebziger Jahren, interessierte die Pragerinnen nicht, ich konnte sie nur mit dem Blick locken. Einladung zur Betrachtung der eigenen Stadt.“ [VN, S. 37] Vom Hotel aus kann man die Stadt aus einem Winkel überblicken, aus dem der Fernsehturm nicht zu sehen ist. Diese neue Architektur ent-

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stellt das einst malerische Panorama. Indessen herrscht Stille an den historischen Orten wie dem Vyšehrader Friedhof, auf dem viele berühmte Prager Persönlichkeiten begraben liegen: „Der Ehrenfriedhof ist leer, die nationale Vergangenheit interessiert niemanden. Touristen kennen die Namen kaum.“ [VN, S. 39] Die Pragerinnen und Prager empfinden in diesen Tagen offenbar nicht mehr die gleiche Verbundenheit zu ihrer Stadt wie Leonora: Ich merke, daß ich mich anders bewege als die Passanten um mich herum. Sie gehen schneller mit ihren Einkaufstaschen, vermummt, haben es eilig von der Arbeit nach Hause zu kommen. Ein kurzer brennender Neid, wie jedesmal, wenn ich hier bin. Ich weiß, daß hinter den erleuchteten Fenstern keine Idylle herrscht, lasse mich aber immer wieder einfangen von der Normalität, von den Alltagssorgen, die ich nicht teile. Wenn ich meine Bekannten treffe, beneiden wir uns gegenseitig, sie mich wegen meiner Freiheit, ich sie wegen ihrer Gebundenheit. [VN, S. 46] Aber in Prag gehört sie nicht mehr dazu: „Deine Reise führt anderswohin. Es ist Zeit. Du bist schon in einem anderen Tunnel. Geh.“ [VN, S. 70], sagt Leonora zu sich selbst. Sie ist wütend und enttäuscht, am liebsten würde sie alle aus der Stadt rausschmeißen, die Deutschen, die Amerikaner und am besten auch gleich die Tschechen – „Mitsamt ihrer samtenen Revolution und dem ganzen Kitsch!“ [VN, S. 101 f.] Die Figur und Ich-Erzählerin Leonora Marty kann als Fortsetzung der Figur Francine Pallas aus Pavane für eine verstorbene Infantin verstanden werden. Leonora ist 1971 aus Prag emigriert und hat an verschiedenen deutschen Universitäten als Literaturdozentin unterrichtet (ebenso wie Francine). Inzwischen ist sie künstlerische Leiterin eines internationalen Tanzensambles, mit dem sie nun zum zehnjährigen Jubiläum ein Gastspiel in Prag aufführt. Auf einem Plakat zu der Aufführung der Oper Vec Makropulus (Die Sache Makropulus) von Leoš Janáček (ursprüngliche literarische Vorlage von Karel Čapek) betrachtet sich Leonora selbst:

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Eine Frau, die in hohem Bogen über die Bühne springt, die Türme der Stadt im Hintergrund. Sie nimmt die ganze Fläche ein, durch ihre Bewegungen verändert sie den Raum und die Zeit. Eine Furie, in wehenden Kleidern, mit einem Gesicht, das dreihundert Jahre alt sein kann oder dreißig. Emilia oder Leonora Marty. Diese Frau bin ich. [VN, S. 29] Ebenso wie sich die Figur Francine Pallas in der mythischen Stammmutter Libuše sieht, identifiziert sich Leonora Marty mit der Figur der unsterblichen, betörenden Operndiva Emilia Marty aus Vec Makropulus. Die Frau auf dem Plakat nimmt die ganze Fläche ein und kontrolliert Raum und Zeit vor dem hunderttürmigen Prag-Panorama. In der fiktiven Realität jedoch scheitert Leonora an dieser Allmachtsphantasie, die Stadt für sich zu beanspruchen und zu kontrollieren. Sie ist eigens nach Prag gekommen, um die Stadt für sich allein zu haben. Allerdings hat sich diese in ihrer Abwesenheit verändert und entspricht nicht ihren Erwartungen. Das erhoffte Gefühl heimatlicher Geborgenheit bleibt aus. „Ist es überhaupt noch mein Prag?“ [VN, S. 125], fragt sich Leonora. Im gesamten Roman ist diese traumatische Erfahrung der Heimatlosigkeit spürbar. Dementsprechend kritisch erscheint die Protagonistin gegenüber dem gegenwärtigen Prag wie auch ihren Landsleuten, über die sie sagt, dass sie „sich immer so gern als Opfer ausgeben“ [VN, S. 140]. Dabei ist vor allem ihre eigene Opferrolle präsent; sie identifiziert sich sogar mit dem Judentum: „Daß ich keine Jüdin bin, ist nur ein Mißverständnis“ [VN, S. 80]. Leonoras Gefühl des Ausgeschlossenseins und ihre Erfahrung als Exilantin sind offenbar so traumatisch, dass sie ihr eigenes Schicksal mit der Leidensgeschichte der ewig verfolgten und gepeinigten Anhänger des Judentums gleichsetzt. Mit diesem Vergleich versucht sie eine kollektive Identität mit der jüdischen Geschichte in Prag herzustellen, da ihr Prag andernfalls keine Angriffsfläche mehr für Identifikation bietet. Trotz aller Resignation gibt es am Ende des Romans Hoffnung: Leonora verliebt sich in einen Deutschen, mit dem sie schließlich erlebt, dass auch das gegenwärtige Prag schön sein kann. Die letzte Szene ist ein Liebesakt, der mehr „an eine Geburt und an ein Sterben“ [VN S. 148] erinnert als an die Vereinigung zweier Liebender. Schließlich findet Leonora in seinen Armen das Gefühl der Geborgenheit, das sie die ganze Zeit

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in Prag gesucht hatte: „Sein Busen ist fast größer als meiner, mit feinem gekräuseltem Haar, ich sauge mich an seiner Brustwarze fest, schließe die Augen. Er ist mütterlich.“ [VN S. 147 f.] Diese Szene verdeutlicht eine kindliche Sehnsucht nach mütterlicher Geborgenheit, die sich die Protagonistin in ihrer Heimatstadt Prag erhofft hatte. Der Liebesakt als Geburt und Sterben zugleich steht für die Notwendigkeit, die Vergangenheit und die damit verbundenen Erwartungen loszulassen, um sich mit der Gegenwart arrangieren zu können.365 In diesen drei Romanen wird das Verhältnis von Libuše Moníková zu ihrer Heimatstadt deutlich. Prag avanciert in den Texten zu einem symbolischen Identifikations- und Erinnerungsraum, den Moníková bzw. ihre Figuren immer wieder zu rekonstruieren versuchen. Die Welt Prags ist auch hier nicht die technische Welt der Moderne. Geschwindigkeit und damit Veränderlichkeit spielen scheinbar keine Rolle. In der Erinnerung vom Standpunkt des Exilierten aus, scheint Prag unveränderlich. Dies ist nicht nur eine Banalität, sondern auch ein Prager Motiv. Prag ist in Králs Text eine Traumlandschaft, seltsam menschenleer, aber topographisch korrekt und gleichsam stillgelegt. Das, was bei Nezval noch eine gedankliche Übung war, die Erinnerung an Prag, hat hier eine existentielle Komponente bekommen. […] Prag bleibt in der Erinnerung traumhaft.366 Die Darstellung der bedrohten Stadt und deren Überwachung durch ein Kontrollorgan verdeutlichen die traumatischen Gefühle des Heimatverlustes. Zwar gelingt es Jana in Die Schädigung noch immer die Orte wiederzufinden, an denen für sie die Magie der einst „Goldenen Stadt“ existiert, jedoch kündigt sich bereits in Moníkovás erstem Roman an, dass diese mehr und mehr zu verschwinden drohen. In Pavane für eine verstorbene Infantin kehrt die Erzählerin zurück an den Ursprung der Stadtgeschichte, der zugleich auch deren 365 Auch Lenka Reinerová thematisiert diese kindliche Sehnsucht in Närrisches Prag: „Wenn von dieser Stadt die Rede ist, bin ich kaum objektiv, durchaus nicht gerecht, verhalte mich wie Eltern, wenn von ihrem Kind gesprochen wird. Hier ist es allerdings umgekehrt: Ich bin ein Kind von Prag.“ (Ebd. S. 25) 366 Tippner, Anja: Die permanente Avantgarde? Surrealismus in Prag. S. 165.

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Ende suggeriert, und es wird deutlich, dass für die Stadt keine Hoffnung mehr besteht. Zwanzig Jahre später schließlich ist Prag in Verklärte Nacht eine andere Stadt, mit der sich die Protagonistin nicht mehr identifizieren kann. Innerhalb von Moníkovás Werk vollzieht sich so eine sukzessive Dekonstruktion der Stadt, wobei es sich jeweils um einen persönlichen Erinnerungsraum der Figuren handelt. Dieser vermischt sich zwar mit historischem Geschehen und der mythischen Stadtgeschichte, doch immer wieder wird auf die persönliche Beziehung der Figuren zur Stadt hingewiesen oder deren Bemühungen, den Stadtraum für sich zu beanspruchen. Die Figuren scheitern an dem Versuch ihren individuellen Stadtraum zu rekonstruieren, weil sich Prag in der Zwischenzeit verändert hat oder weil die unterschiedlichen Figuren mit ihren persönlichen Erinnerungen verschiedene Stadtbilder haben (so z. B. in Treibeis). Es entsteht ein Schwellenraum, an dem sich im Text Vergangenheit und Gegenwart miteinander vermischen, historische sowie individuelle Geschichte(n), und in dem die Figuren auf der Suche nach der einstigen Magie der Stadt sind. Auch in Moníkovás Texten wird Prag oft als Mutterstadt metaphorisiert – sie ist Ursprung von allem und sie bietet vermeintlich Geborgenheit. Vor allem die Schlußszene in Verklärte Nacht beschreibt diese Projektion, aber auch in Der Taumel (2000), Moníkovás letztem und unvollendet gebliebenem Roman, sagt eine Figur über Prag: „Es ist die Stadt […]. Die Stadt erzieht sich ihre Kinder.“367 Nicht lange bevor Libuše Moníková Prag verlassen hat, starb ihre Mutter an Lungenkrebs. Der frühe Tod der Mutter war für die Schriftstellerin sicherlich ein Schicksalsschlag, der möglicherweise das Gefühl des Heimatverlustes noch verstärkt und folglich auch ihr Prag-Bild geprägt hat. Die Stadt Prag ist im Werk von Libuše Moníková ein schmerzlicher Erinnerungsraum, mit dem sich die Figuren als traumatisierte Leidtragende identifizieren. Mit ihrer Art der Darstellung und der kontinuierlichen Rekonstruktion dieses Gedächtnisraumes schreibt Moníková den Prag-Mythos fort: Sie erinnert an die mythische Vergangenheit der Stadt sowie deren historische Ereignisse und verknüpft diese in ihren Romanen mit der Gegenwart des ausgehenden 20. Jahrhunderts und einer Stadt, die sich verändert hat und immer weiter verändert. 367 Moníková, Libuše: Der Taumel. München 2000. S. 65.

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3 Das traumatische Prag: „Město se měnilo“

3.3.2 Die „qualvolle Stadt“ als Ursprung und Ende von allem Besonders in der Prag-Literatur im ausgehenden 20. Jahrhundert wird die Funktion der Stadt als Gedächtnisraum in einzelnen Texten bereits konkret reflektiert, so zum Beispiel auch von der tschechischen Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Daniela Hodrová. Diese widmet ihrer Heimatstadt den Großteil ihrer literarischen Tätigkeit, sowohl ihr Prosawerk als auch ihre literaturtheoretischen Überlegungen. Dabei versteht sie den Stadttext als ein bedeutungstragendes offenes und bewegliches Zeichensystem (vgl. hierzu Kapitel Das Gedächtnis der Orte und die Lesbarkeit der Stadt). Einerseits spiegelt sich im fiktionalen Werk Hodorovás ihre persönliche Beziehung zu Prag wider, auf der anderen Seite funktioniert die Stadt aber gleichzeitig auch als kollektiver Erinnerungsraum, der sich im Text mit dem individuellen Erinnerungsraum verbindet. So entwirft Hodrová zum Beispiel in Město vidím... (Ich sehe eine Stadt..., 1992) ihren persönlichen Stadttext. Der Titel ist ein Zitat der berühmten Prophezeiung der mythischen Stadtgründerin Libuše und die Ich-Erzählerin imaginiert als Schöpferin ihren persönlichen Stadttext. Dementsprechend beginnt der Prolog auch in Anlehnung an das Johannesevangelium mit den Worten: „Na počátku pro mne město bylo slovem – Praha.“ 368 Die Erzählerin erinnert sich an den Ursprung ihres eigenen Seins und Bewusstseins, wie sie selbst auf die Welt gekommen ist und welche Bedeutung in diesem Zusammenhang ihre Umwelt und die Stadt für sie hatten. Prag entsteht in Hodrovás Text parallel mit der Menschwerdung des Subjekts, welches durch seine Worte die Stadt zum Leben erweckt, sie erschafft, so wie auch das ewige Wort Gottes Ursprung der Schöpfung des Menschen ist. 369 Ähnlich wie bei Libuše Moníková korrespondiert auch in Daniela Hodrovás Werk die Stadt in ihrer grundlegenden Eigenschaft als Ursprung mit dem Mythos: Alles entsteht aus der Stadt, alles verändert sich dort, alles vergeht und wandelt sich, und bleibt zugleich immer Prag. Die Stadt kann verschiedene Formen annehmen, dennoch ist sie immer Anfang und Ende von allem und zugleich mit dem mythischen Ursprung des Subjekts untrennbar verbunden. Die Zitierung 368 Hodrová, Daniela: Město vidím... S. 7. Dt.: Im Anfang war für mich die Stadt ein Wort – Prag. 369 Vgl. Johannesevangelium: „Im Anfang war das Wort“.

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bzw. Identifikation mit der mythischen Stadtgründerin Libuše und die Vorstellung, dass sich alles in der Stadt auf das Subjekt bezieht bzw. umgekehrt erst mit der Wahrnehmung des Subjekts entsteht, lassen darauf schließen, dass auch Hodrová sich mit Prag und mit der Vergangenheit der Stadt identifiziert. Im ersten Kapitel Libušino proroctví (Libušes Prophezeiung) vergleicht das erzählende Ich die Stadt mit dem Theater: „Od těch dob pro mě souvisí město nějakým tajemným způsobem s divdlem, město a divadlo jsou jedno, tvoří dohromady jakýsi posvátný výjev – visio, zjevující se po rozhrnutí opony.“ 370 In den einzelnen Kapiteln von Město vidím... werden verschiedene historische Szenerien des tschechischen Volkes an ihren jeweiligen Schauplätzen in Prag imaginiert. Die Stadt wird dabei zu einer Kulisse und jeder Ort zu einem Bühnenbild: „Může se tomu říkat třeba‚ žívá pamět míst‘ – každé místo je divadlem obrazů, které se na něm odehrály a stále odehrávají.“ 371 Für Hodrová ist die Stadt, wie auch der Text, ein unendlicher intertextueller Enstehungsprozess. In Město vidím... vermischt sich die Prager Stadtgeschichte mit imaginierten oder erfundenen Szenerien: „Místa s pamětí se mění v místo pouťových atrakcí, historie v iluzivní obrazy.“372 Dabei haucht „Die Magie der Worte“373 bzw. das menschliche Gedächtnis unbelebten Dingen und Orten ein Eigenleben ein, und es entsteht ein individueller Stadttext. Auch im Werk von Daniela Hodrová erscheint Prag als Mutterstadt, aus der und in der unablässig etwas entsteht, sich verändert oder verändern kann: Die Stadt wie auch der Stadttext sind ein immerwährender Prozess. So beschreibt sie diese Dynamik beispielsweise in ihrem Roman Theta (1989) folgendermaßen:

370 Hodrová, Daniela: Město vidím... S. 9. Dt.: Seit dieser Zeit hängt die Stadt für mich auf irgendeine geheimnisvolle Weise mit dem Theater zusammen, die Stadt und das Theater sind eins, zusammen erschaffen sie eine bestimmte heilige Szene – eine Vision, die sich nach dem Öffnen des Vorhanges offenbart. 371 Ebd. S. 16. Dt.: Man könnte es vielleicht das lebendige Gedächtnis der Orte nennen – jeder Ort ist eine Bühne der Bilder, die sich an ihm abspielten und immer noch abspielen. 372 Ebd. S. 70. Dt.: Orte mit Gedächtnis verwandeln sich in Orte von Jahrmarktattraktionen, Geschichte in illusorische Bilder. 373 Ebd. S. 18 ff. Kapitel Magie slov.

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3 Das traumatische Prag: „Město se měnilo“

„Město začalo ožívat slovy. Slova pokryla výlohy obchodů, zdi, haly a chodby metra, které až do té doby bylo mlčenlivým mauzoleem vládnoucí ideologie.“374 In Město vidím... gleicht die allererste Vorstellung bzw. Wahrnehmung der Ich-Erzählerin von der Stadt der eines schlafenden Raubtiers. Erst mit der Zeit verändert sich dieses eine Wort, welches zunächst den Namen des Untiers bedeutete in einen wirklichen Raum in der nächsten Umgebung ihres Geburtshauses: So hält sie daraufhin das riesige, dunkle und verwachsene Friedhofsareal, das unter dem Balkon der Wohnung liegt für die Stadt. Diese beschreibt es als einen unsicheren, lockenden und beunruhigenden Ort: Teprve potom […] změnilo se slovo, které až dosud bylo jménem šelmy, v nejistý, vábící i zneklidňující prostor, který se pode mnou tehdy na balkoně rozevřel. […] Snažím-li se vyvolat onen prvopočáteční vjem města, činím tak snad v domnění, že město vyvstávalo z nicoty souběžně s tím, jak jsem já přišla na svět a probírala se ke svému vědomí.375 In ihren Kindheitserinnerungen war für sie das Haus, was später die ganze Stadt wurde – sie gleicht einer Unterwelt: „peklem, očistcem a rájem, či spíš jen podsvětím, hranice jednotlivých prostorů byly totiž nezřetelné (a není to jeden z rysů charakterizujících toto město jako celek – to splývání míst milosti s místy zatracení?).“ 376 Auf der Suche nach der eigenen Identität bzw. der Selbstwerdung muss die Ich-Erzählerin gewissermaßen in diese Unterwelt 374 Ebd. S. 22. Dt.: Die Stadt begann mit den Worte zum Leben zu erwachen. Die Worte bedeckten die Schaufenster der Geschäfte, die Wände, die Hallen und die Gänge der Metro, die bis dahin ein schweigendes Mausoleum der herrschenden Ideologie gewesen waren. 375 Ebd. S. 7 f. Dt.: Erst dann […] veränderte sich das Wort, welches bis dahin der Name des Raubtieres war, in einem ungewissen, lockenden und beunruhigenden Raum, der sich damals unter mir auf dem Balkon ausbreitete. […] Wenn ich mich bemühe, mir diesen allerersten Sinneseindruck der Stadt hervorzurufen, so mache ich dies vielleicht in der Annahme, dass die Stadt aus dem Nichts auferstanden ist, parallel dazu, wie ich auf die Welt gekommen bin und wie ich mein Bewusstsein erlangt habe. 376 Ebd. S. 8 f. Dt.: einer Hölle, einem Fegefeuer und einem Paradies, oder eher nur einem Totenreich, die Grenze der einzelnen Räume war nämlich undeutlich (und ist das nicht nur einer der charakteristischen Grundzüge dieser Stadt als Ganzes – dieses Zusammenfließen von Orten der Gnade mit Orten der Verlorenheit?)

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hinabsteigen: „Sestup do města, sestup takřka ve smyslu iniciační katabáze, je pro mne sestupem do jeho minulosti, ale zároveň sestupem k sobě, k vlastně identitě.“377 Auf der einen Seite symbolisiert die Stadt also einen Teil der Identität der Erzählerin, welche als lauerndes Raubtier in einer unbekannten Unterwelt verborgen liegt. Dieses Ungeheuer wird erweckt, mit dem Beginn des Textes, vom Autor erschaffen, so wie der Golem, welcher der Legende nach durch einen kleinen Zettel mit dem Wort „Schem“378 zum Leben erweckt werden kann. Und genauso, wie die Erzählerin mit einem einzigen Wort im Prolog das schlafende Untier erweckt, wird dieses auch im Epilog wieder mit dem Ende des Textes in den Schlaf sinken: ‚Trýznivé město, Město loutek! Netvore!‘ Tvé probuzení mám nejspíš na svědomí i já, oživila jsem tě slovy. Marně teď hledám tvůj jazyk, abych vyňala šém, který je pod ním skryt. Vstupuji do tvých bran, z nichž většina dnes vede odnikud nikam, navštěvuji opuštěná místa tvé paměti, čtu a píšu o tobě romány. […] Unikáš mi jako ta ohnivá orlice uniká lvovi na Staroměstské mostecké věži. A přece doufám, město, že tak jako se lev jednou do roka na okamžik dotkne svým stínem orlice, tak se i já na okamžik, jedním slovem dotknu tebe, město-šelmo, jak jsem tě vnímala v ránem dětství. Tím slovem ti odejmu kouzelný šém. A tehdy znovu upadneš do spánku. Než zase...379 377 Ebd. S. 19. Dt.: Der Abstieg in die Stadt, Abstieg beinahe im Sinne eines Initiationsganges in die Unterwelt [Katabasis], ist zugleich ein Abstieg zu mir selbst, zu meiner eigenen Iden tität. 378 Schem kommt vom hebräischen ‫ השם‬und bedeutet „Der Name (Gottes)“. Nach einer Version der Legende wurde der Golem zum Leben erweckt, indem man ihm einen Zettel mit dem Schem (dem Namen Gottes) unter die Zunge gelegt hat. Durch das Entfernen dieses Schems wiederum, wurde auch der Golem wieder zu einer leblosen Gestalt. 379 Hodrová, Daniela: Město vidím... S. 92. Dt.: Qualvolle Stadt! Stadt der Puppen! Untier! Dein Erwachen habe wahrscheinlich auch ich auf dem Gewissen, ich habe Dich mit Worten zum Leben erweckt. Vergeblich suche ich jetzt deine Zunge, damit ich den Schem herausnehmen kann, der unter ihr versteckt ist. Ich betrete deine Tore, von denen die meisten heute nirgendwoher nirgendwohin führen, ich besuche die verlassenen Orte deines Gedächtnisses, ich lese und schreibe über dich Romane. […] Du entrinnst mir so wie der feurige Adler dem Löwen auf dem Altstädter Brückenturm entflieht. Und dennoch hoffe ich, Stadt, dass so wie der Löwe einmal im Jahr für einen Augenblick mit seinem Schatten den Adler berührt, auch ich dich für einen Augenblick mit einem Wort berühre, Stadt-Raubtier, so wie ich dich in früher Kindheit wahrgenommen habe. Mit diesem Wort entnehme ich dir den Schem. Und nun sinkst du erneut in den Schlaf. Ehe erneut...

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Neben der Identifikation mit der mythischen Stadtgründerin Libuše und der Identifikation mit der Heimat- und Mutterstadt weist die Darstellung von Prag im Werk von Daniela Hodrová einige signifikante Parallelen zu der von Libuše Moníková auf. Auch die Begegnung mit dem Raubtier in der Unterwelt der Stadt wird bei beiden Autorinnen thematisiert. Obwohl Hodrová das Schicksal des Exils nicht teilt und ihre Heimatstadt nie verlassen musste, hat Prag für sie etwas Quälendes: „Já jsem své rodné město opustit nemusela, a přece pro mě bylo a je trýznivé.“380 Dieses Dantesche Bild einer Città dolente381, einer qualvollen Stadt, ist charakteristisch für Hodrová sowohl für die in ihren Schriften vorgegebene individuelle Wahrnehmung der Stadt als auch für das Schicksal ihrer Figuren. Hodrová vermutet, dass die Darstellung der Unterwelt in Dantes Göttlicher Komödie das Gefühl des Autors, der im Exil lebte gegenüber seiner Heimatstadt Florenz widerspiegelt. In Anlehnung an dieses Werk benennt sie ihre Romantrilogie Trýznivé město (Qualvolle Stadt)382, was wiederum in der deutschen Übersetzung in Anlehnung an Dante mit Città dolente wiedergegeben wird. Die Trilogie spielt größtenteils auf den Wolschaner Friedhöfen (Olšanské hřbitovy) und in ihrer näheren Umgebung, also in den Stadtteilen Vinohrady und Žižkov, in denen die Autorin aufgewachsen ist. Diese Orte haben die Wahrnehmung und das Verhältnis der Autorin zu ihrer Heimatstadt nachhaltig geprägt – um diese Orte, und gewissermaßen auch über und unter ihnen, kreisen die drei Texte der Trýznivé město. Es sind die Toten aus der langen Geschichte der Wolschaner Friedhöfe und des nahe 380 Ebd. S. 23. Dt.: Ich musste meine Heimatstadt nicht verlassen, aber dennoch war und ist sie für mich qualvoll. 381 Vgl. Alighieri, Dante: Die Göttliche Komödie. Stuttgart 1972. S. 14. Inschrift auf dem Tor zur Hölle, dritter Gesang, Vers 1-9: „Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer, durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze, durch mich geht man zu dem verlornen Volke.“ [im italienischen Original: „Per me si va ne la città dolente, per me si va ne l’etterno dolore, per me si va tra la perduta gente.“] 382 Die Texte hat Hodrová jeweils über einen längeren Zeitraum von zwei bis drei Jahren verfasst – gearbeitet hat sie daran etwa seit 1977 und herausgegeben wurde die Trilogie schließlich 1991. Die Mehrdeutigkeit des Textes an sich verdeutlicht sich bereits in den Titeln der einzelnen Bände: Der erste Roman Podobojí bedeutet wortwörtlich „In beiderlei Gestalt“ (in der deutschen Übersetzung: Das Wolschaner Reich), der zweite Roman Kukly bedeutet „Die Puppen“ (Kokon), ist aber auch ein Familienname in diesem Band (in der deutschen Übersetzung: Im Reich der Lüfte ). Der dritte Roman trägt den Titel Théta (Theta ist der achte Buchstabe des griechischen Alphabets).

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gelegenen Galgenbergs (Parukářka), welche die qualvolle Stadt bevölkern, um hier neue Spuren zu hinterlassen und so in das wirkliche Leben zurückzukehren. Die Friedhöfe waren indessen laut eigener Aussage der Schriftstellerin für sie in ihrer Kindheit eigentlich keine Orte des Grauens. 383 Auch im Text erscheinen sie weniger qualvoll als geheimnisvoll, unsicher und vage – „es sind die Orte, an denen Mythen entstehen und berühmte historische Ereignisse erzählt werden – ‚wiederholt werden‘ – in der niederen Friedhofsebene“ 384. Ähnlich wie Libuše Moníková setzt sich Daniela Hodrová in ihrem Werk mit den Entstehungsorten des (Prag-)Mythos auseinander. Die Traumatisierung durch die Stadt führt zu einer Abwendung von derselben und zu einer Hinwendung bzw. Rückwendung zu deren mythischer Vergangenheit, deren Unterwelt bzw. zu ihrem Ursprung. In dieser Eigenschaft als Orte, an denen Mythen entstehen, sind die Friedhöfe und auch der Galgenberg im Sinne von Foucault als Heterotopien zu verstehen; als ebensolche andersartige Schwellenräume, die außerhalb der den Normen folgenden Gesellschaft ihren eigenen Gesetzen unterworfen sind. Interessant hierbei ist weiterhin die Verschiebung weg vom Zentrum: Hodrovás mythische Ursprünge sind nicht an den bisher behandelten klassischen Topoi zu lokalisieren, sondern vielmehr in deren näherem Umkreis, in den Stadtteilen Vinohrady und Žižkov. Dieser Teil der Stadt, welcher in Trýznivé město verschiedene konkrete Orte umfasst, gleicht einem ungreifbaren Zwischenraum, in dem alles ineinander übergeht und Gegensätze in einer spannungsgeladenen Einheit stehen: Geist und Substanz, Tod und Leben, Geschichte, Mythen und Gegenwart, alles, was sich im Roman ereignet wird nur als Möglichkeit vorgestellt oder ist nur ein Moment der Wahrnehmung. Es ist das „panta rhei“ des Stadttextes, welches sich im Sinne Hodrovás mit der Lehre der Einheit aller Dinge von Heraklit wiedergeben lässt, nach der alles was existiert ineinander übergeht, miteinander verbunden ist und in einer untrennbaren Einheit steht. So entsteht ein natürlicher Prozess beständigen Werdens und Wandels, der wiederum in Trýznivé město ad absurdum geführt wird, indem nichts unbezweifelbar so ist, wie es zu383 Vgl. Hodrová, Daniela: Město vidím... S. 15 f. 384 Vgl. Hodrová, Daniela: Citlivé město. S. 120: „kde se národí mýty a proslulé historické události vyprávějí – ‚opakují‘ – ve snížené, hřbitovní úrovni“.

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nächst scheint. Die Schicksale der Menschen, die in der Stadt leben, verbinden sich mit den mythischen und legendären Geschichten der Stadt, mit der Vergangenheit und den Totgeglaubten. In eben dieser verunsichernden Labyrinthaftigkeit als Text erscheint die Stadt tatsächlich als qualvoll, als Raum, mit dem auch das Subjekt untrennbar verbunden ist: Ve tkaném textu dostává město podobu sítě míst – osobních i kolektivních (míst s historickou pamětí). Subjekt jimi opakovaně prochází, obchází je (rituální circumambulatio), bloudí jimi hledaje svou identitu. Město, právě tak jako dům, nabývá kontur bytosti a splývá se subjektem. Představa živého a prostorového času vstupuje i do věcí. Předmětyvzpomínky, předměty s tajemstvím představují v textu nezřídka narativní uzly a někdy se ukazují stejně bytostně spjaté se subjektem jako prostor.385 Im Stadttext herrschen eigene heterotopische Gesetzmäßigkeiten für das Verhältnis von Materie und Substanz, von Raum und Zeit sowie von Gegenwart und Vergangenheit, welche Hodorvá wiederum selbst in Citlivé město erläutert: Jestliže v klasických lineárních textech byla minulost zpravidla čímsi neměnným, v různé míře zjevným, případně determinujícím další vývoj, nicméně vždy skončeným, od čeho se časový proud v přítomnosti odráží a žene k budoucnosti, v tkaném textu, stejně jako v citové paměti, je stále přítomná. […] Minulost, podobně živá jako přítomnost, s níž de facto splývá, zůstává, právě tak jako budoucnost, otevřená, nerozhodnutá, neustále je zde. Lze ji znovu prožívat a dokonce i měnit, […]. 385 Hodrová, Daniela: Citlivé město. S. 110. Dt.: Im gewebten Text bekommt die Stadt die Gestalt eines Netzes von Orten – persönlichen und kollektivne (Orten mit historischem Gedächtnis). Das Subjekt durchläuft sie wiederholt, geht um sie herum (rituelle circumambulatio), irrt durch sie auf der Suche nach seiner eigenen Identität. Die Stadt, genauso wie das Haus, gewinnt die Konturen eines Wesens und verschmilzt mit dem Subjekt. Die Vor stellung einer lebendigen und räumlichen Zeit durchdringt auch die Dinge. ErinnerungsObjekte, Objekte mit Geheimnissen stellen im Text nicht selten narrative Knotenpunkte dar und manchmal erscheinen sie genauso lebendig verbunden mit dem Subjekt wie der Raum.

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Minulost musí být znovu a znovu korigována a doplňována, znovu a znovu vyprávěna, […].386 Vergangenheit und Gegenwart gehören für Daniela Hodrová untrennbar zusammen und sind in dieser Form allgegenwärtig. In dieser Eigenschaft entspricht der Stadttext dem Mythos, der ebenso aus der ständigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entsteht. Diese unendliche Offenheit und Unabgeschlossenheit der Vergangenheit überträgt sich in Hodrovás Texten auch auf die Beschaffenheit von Orten und Räumen: Alles, was sich an einem Ort jemals ereignet hat, kann potentiell aus seinem genius loci jederzeit neu erstehen oder sich mit dem, was gegenwärtig an dem Ort geschieht oder geschehen könnte, vermischen. Ein Beispiel für die Verbindung von Geist, Geschichte und Wesenhaftigkeit eines Ortes und dessen Unendlichkeit ist das verlassene Ödland Hagibor. Hagibor ist ein Ort aus der Kindheit der Schriftstellerin, der häufig in ihren Texten auftaucht: „rozsáhlý zpustlý prostor v sousedství vinohradského židovského hřbitova“387. In Das Wolschaner Reich (Podobojí) wird im Kapitel Der Geist von Hagibor die Eigenschaft des Ortes als Schwellenraum beschrieben, an dem sich die Geschichte des Ortes mit einem Gedankenspiel vermischt: Jeder Raum hat gute und böse Geister, Orte der Verdammung und auserwählte Orte. Und außerdem existieren noch Grenzorte, Orte des Unentschiedenen und des Zauderns zwischen Gut und Böse, an denen das eine unbeachtet ins andere übergeht und sich in sein Gegenteil verwandelt. […] 386 Hodrová, Daniela: Citlivé město. S. 108. Dt.: Während in klassischen linearen Texten die Vergangenheit in der Regel etwas unveränderliches war, in unterschiedlichen Ausmaßen offensichtlich, beziehungsweise die weiteren Entwicklungen determinierend, dennoch immer abgeschlossen, von der aus der Zeitstrom in die Gegenwart entsteht und sich mit der Zukunft verbindet, in einem Textgeflecht, genauso wie in einem emotionalen Gedächtnis, ist sie immer gegenwärtig. […] Die Vergangenheit, ähnlich lebendig wie die Gegenwart, mit welcher sie sich de facto verbindet, bleibt, genauso wie die Zukunft offen, unentschieden, unaufhörlich ist sie da. Sie lässt sich von Neuem durchleben und sogar verändern […]. Die Vergangenheit muss immer und immer wieder korrigiert und ergänzt werden, immer und immer wieder erzählt werden […]. 387 Vgl. Hodrová, Daniela: Město vidím... S. 15. Dt.: ein weiträumiger, verödeter Raum in der Nachbarschaft der jüdischen Friedhöfe in den Vinohrady.

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Außerdem besteht eine enge Beziehung zwischen dem Ort und seinem Wesen, das man Genius loci nennt. Der Ort geht auf sonderbare Weise in dieses Wesen ein. Unweit vom Wolschaner Friedhof liegt das geheimnisumwitterte Hagibor, ein Ödland, das seinen Namen nach einem jüdischen Haus hat, das am Rand dieses Ödlands steht. Es ist aber nicht nur Hagibor, jüdischer Versammlungsort und danach deutsche Folterstätte, nach dem Krieg wird es in der Kindersprache zu Hadibor und Haďák, dieser Name stammt zweifellos von ‚had‘ ab, also von den Schlangen, die hier die Eingänge zur Unterwelt bewachen. Ein auserwählter Ort wird, durch das Auswechseln eines einzigen Buchstabens, mit eine Mal zu einem Ort der Verdammung.388 Ähnlich verhält es sich auch mit menschlichen Seelen: „Mrtví však v románu žijí dál, nic v něm definitivně nekončí, všechny děje se v nějaké podobě stále dokola opakují.“389 Auch die Romanfiguren befinden sich in einem ewigen Fluss – Tote oder Statuen erwachen zum Leben, Figuren verwandeln sich über die drei Bände hinweg in andere Charaktere oder auch Gegenstände: Die Seelen klammern sich durch Dinge oder besser Reliquien von Dingen an das Leben. Diese Reliquien scheinen eine Art Versprechen einer Wiedergeburt, ein Pfand für ein neues Leben zu sein. Denn da ist diese Aura, dieses äußerst merkwürdige Fluidum, das die Dinge umgibt und belebt und das Tote auf viel feinere Weise wahrnehmen als Lebende. Dinge berühren bedeutet fast schon das Leben selbst berühren.390 Mit der Poetik der totalen Offenheit und Unverbindlichkeit auf allen erzähltechnischen Ebenen geht auch eine Verunsicherung über die Erzählstimme einher: „Kdo píše román? Daniela Hodrová, anebo Eliška Beránková, do níž se vypravečka v Thétě zakuklila?“391 Auch das Wissen und Verständnis der 388 Hodrová, Daniela: Das Wolschaner Reich. Totenroman. Zürich 1992. S. 78 f. 389 Vgl. Hodrová, Daniela: Město vidím... S. 16. Dt.: Die Toten jedoch leben im Roman weiter, nichts endet in ihm endgültig, alle Handlungen wiederholen sich in irgendeiner Form immer wieder von Neuem. 390 Hodrová, Daniela: Das Wolschaner Reich. S. 240. 391 Hodrová, Daniela: Citlivé město. S. 109. Dt.: Wer schreibt den Roman? Daniela Hodrová, oder Eliška Beránková, in welche sich die Erzählerin in Théta verpuppt?

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Erzählstimme unterliegt der ständigen Beweglichkeit des Textes. Da Daniela Hodrovás Texte an vielen Stellen sehr persönlich sind und häufig mit einer autobiographischen Vergangenheit der Schriftstellerin ansetzen, kann man als Leser davon ausgehen, dass die Stimme der Autorin und die Stimme der Erzählerin als identisch zu verstehen sind. Warum also ist die Stadt Prag für die Schriftstellerin eine qualvolle Stadt, eine città dolente? ‚Trýznivým městem‘ je pro mne Praha […] – se svou minulostí, přítomností i budoucností. Je pro mě městem-světem jako labyrint Komenského.392 A také je pro mě podsvětím, tak jako ‚trýznivé město‘ – città dolente v Dantově Božské komedii, neboť v něm se mnou přebývají mrtvý kteří v něm žili a k nimž se v textu pokouším sestoupit. A je pro mne, zejména v posledním textu, divadlem, jakousi alchymickou nádobou, v níž podstupuji v životě i textu své proměny.393 Das traumatische und qualvolle an Prag liegt für Hodrová in der mythischen Omnipräsenz der Stadt, in ihrer Allverbundenheit mit dem Subjekt, welches sich wiederum mit der Stadt identifiziert; in ihrer Eigenschaft Ursprung von allem zu sein, sowie der untrennbaren Einheit von Gegenwart der Vergangenheit und somit auch in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Daraus resultiert eine totale Verunsicherung – sowohl in Hodrovás Poetik als auch in ihrem Stadttext. In diesen Punkten erinnert Hodrovás Darstellung an viele der bereits in diesem Abschnitt behandelten Texte. Die Semantisierung der Stadt 392 Trostschrift von Jan Amos Komenský (Dt.: Johann Amos Comenius): Labyrint světa a ráj srdce [Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens, 1623/ 1631]. In zwei Teilen beschreibt dieses Werk zunächst die Vergeblichkeit und die Nutzlosigkeit der Welt, die der Mensch nur in der Erkenntnis seiner wahren Liebe zu Gott überwinden kann. 393 Interview mit Daniela Hodrová von L. Svobodová: „Hledání Daniely Hodrové“ [Die Suche der Daniela Hodrová]. In: Tvar [Die Gestalt] 1991, Jahrgang 2, Nummer 45. S. 8. Dt.: Prag ist für mich eine ‚qualvolle Stadt‘ […] – mit ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart und Zukunft. Sie ist für mich eine Stadt-Welt wie das Labyrinth von Komenský. Und weiterhin ist sie für mich eine Unterwelt, so wie die qualvolle Stadt – ‚città dolente‘ in Dantes Göttlicher Komödie, denn in ihr bleiben mit mir die Toten, die in ihr gelebt haben und zu denen ich versuche im Text hinabzusteigen. Und sie ist für mich, namentlich im letzten Text, ein Theater, ein alchimistisches Gefäß, auf der im Leben und auch im Text ihre Verwandlungen auftreten.

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Prag als Gedächtnisraum erscheint somit als sehr charakteristisch in literarischen Darstellungen im gesamten 20. Jahrhundert – von den tschechischen patriotischen Texten der Jahrhundertwende bis hinzu Libuše Moníkovás, Lenka Reinerovás oder eben Daniela Hodrovás Werk. Die Stadt als Topos ist in ihren Eigenschaften der ideale Ort, um einen Gedächtnisraum zu verkörpern bzw. ihn zu lokalisieren und somit zu vergegenwärtigen. So wird dem Mythos in seiner Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in den Topologien Prags gewissermaßen Raum gegeben und er wird auf diese Weise immer wieder im gesamten Stadtbild omnipräsent.

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Vergleichende Zusammenfassung: De- und Remythologisierung einer „magischen“ Stadt Im Abschnitt Topologie der Erinnerung: Die Stadt als Gedächtnisraum wurde herausgearbeitet, auf welche Weise die Topologien der Stadt Prag in der Literatur des 20. Jahrhunderts als (mythische) Gedächtnisräume fungieren bzw. als solche inszeniert werden. Prag erscheint in den behandelten Texten symptomatisch als Topos existentieller Problematik, an dem ein allumfassendes Gefühl der Unsicherheit oder Heimatlosigkeit zu herrschen scheint. Im beginnenden 20. Jahrhundert steht diese Gefühlslage in einem engen Zusammenhang mit dem anbrechenden Zeitalter der Moderne, der Entwicklung der Großstädte und damit einhergehend mit starken Veränderungen der alltäglichen Lebenswelt, deren Komplexität die (Sinnes-)Wahrnehmung des Individuums stark beansprucht. Der Mensch zeichnet sich indessen durch das Bedürfnis einer gewissen Kenntnis der Vergangenheit aus, um sich seine eigene Identität erklären zu können. Besonders in Momenten der Orientierungslosigkeit versucht er häufig eine Erklärung für die gegenwärtige Verunsicherung in der Vergangenheit zu finden. Auf der Suche nach Identifikation macht sich das Individuum die Stadt als Gedächtnisraum zu eigen, welche nach Bogdan Bogdanović in vielerlei Hinsicht einem „einzigartige[n] Erinnerungsdepot“394 gleicht. So wird das Prag der Literatur an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert zu einem Topos der Identitätssuche. Die Großstadt Prag erscheint dabei als „Paradigma der Fremdheit“395, was wiederum auf eine wechselseitige Wahrnehmung des Anderen und dem Verstehensprozess des Eigenen zurückzuführen ist. Interessant hierbei ist, dass diese Suche nach Identität sich sowohl auf einer kollektiven als auch auf einer individuellen Ebene vollzieht. Damit einher geht eine Rückwendung in die Vergangenheit der Stadt, welche häufig als Geschichte des Individuums bzw. des Kollektivs wahrgenommen wird. Prag wird demnach als Gedächtnisraum sowohl zum Topos einer kollektiven als auch individuellen Identitätsstiftung. Aus dieser dialektischen Retrospektive wird 394 Bogdanović, Bogdan: Die Stadt und der Tod. Essays. S. 22. 395 Corbineau-Hoffmann, Angelika: Fragmentarität, Fremdheit, Fiktionalität. S. 169.

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der Prag-Mythos genährt, welcher sich in der Literatur des 20. Jahrhunderts in folgenden Formen offenbart: In der Darstellung bzw. Semantisierung eines jüdischen, eines polemischen und bzw. oder eines traumatischen Prags. Im Abschnitt über das „jüdische Prag“ wurde aufgezeigt, wie die Stadt besonders in der Rezeption als Ort jüdischer Traditionen eine starke Mythisierung und Mystifizierung erfuhr. In den Texten, die ein „jüdisches Prag“ thematisieren, fällt auf, dass sich die „Magie“ insbesondere aus der Rückwendung zur jüdischen Mythen- und Legendenwelt speist. Diese spiegelt sich insbesondere im Topos des Alten Jüdischen Friedhofs wider oder auch in der Alten Prager Judenstadt. Obgleich die Judenstadt bereits ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert aufgrund der Assanierung nicht mehr existierte, hat sie dennoch als Erinnerungsort eines „jüdischen Prags“ eine zentrale Rolle inne. In Zusammenhang mit der Thematisierung des Judentums kommt in der Mythotopologie Prags auch immer wieder das Paradigma der Heimatlosigkeit zum Ausdruck: Die Judenstadt wird als ein besonderer Raum des Dazwischen dargestellt. Je nach Lesart der Stadt erscheint das alte Judenghetto als ein Ort der Fremdheit oder der Vertrautheit, mitunter vereinen sich diese ambivalenten Kräfte sogar miteinander. Auf welche Weise der Topos erfahren wird, hängt wiederum von der subjektiven Wahrnehmung, den Erfahrungen und Erwartungen des Individuums ab sowie von der jeweiligen Suche bzw. dem Bedürfnis nach Identifikation. Die Stadt als Erinnerungsdepot gleicht mit ihrer Geschichte und ihren Geschichten einer Schwelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aus welcher sich das Individuum aus seiner Wahrnehmungswelt eines „Prager Spaziergängers“ sein individuelles Stadtbild erschafft. Die ständige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Stadt wird insbesondere im Abschnitt Das polemische Prag deutlich. Sie führt in den Topologien der Stadt Prag zu einer Allgegenwart der Geschichte, welche von einem kollektiven Gedächtnis an bestimmten Orten, aber auch im gesamten Stadtbild bewahrt wird. Mit der Geschichte spielt vor allem auch der Aspekt der Zeit eine Rolle. Diese gehorcht im Prag der Literatur ihren eigenen Gesetzen, so beschreibt beispielsweise Gustav Meyrink in Walpurgisnacht das Gesetz, auf dem alles „Magische“ beruht: „Wenn zwei Größen einander gleich sind,

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so sind sie ein und dasselbe und nur einmal vorhanden, auch wenn Zeit und Raum ihr Dasein scheinbar trennen.“ [Wn, S. 109 f.] Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen in der Mythotopologie miteinander und Prag wird zu einem Paradigma der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Das Kontinuum von Zeit und Raum wird aufgebrochen und der Prag-Mythos erscheint dabei omnipräsent. Weiterhin wird die Stadt in Verbindung mit ihrer tragischen und kämpferischen Historie auch immer wieder als Topos des Todes semantisiert. Im Abschnitt über Das traumatische Prag wiederum wurden Texte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersucht, in denen der Mythos aufgebrochen und dekonstruiert wird. Das Prag-Bild und dessen literarische Semantisierung widerspiegelt die historischen Traumata der Besetzung, des Kommunismus oder des Exils. Die Stadt wird zu einem Paradigma der Traumatisierung: Die Figuren dieser Texte versuchen nicht mehr sich mit ihrem (Er-)Lebensraum zu identifizieren, sondern leiden an Prag und seiner Geschichte. Oder es gelingt ihnen nicht mehr, in der Stadt ihren erhofften individuellen Erinnerungsraum zu rekonstruieren, wie beispielsweise bei Libuše Moníková. Die Stadt hat sich in der Folge der historischen Ereignisse verändert: Durch Einwirkung von außen ist die „Magie“ abhanden gekommen oder zerstört oder das traumatisierte Individuum hat die Fähigkeit eingebüßt, diese wahrzunehmen. Daraus erfolgt in Texten beispielsweise von Egon Bondy, Bohumil Hrabal, Ota Filip oder Jáchym Topol eine weitestgehende Dekonstruktion des ehemals „magischen“ Prags. Das Stadtbild ist nurmehr trist, hässlich und heruntergekommen, und Prag wird zur „qualvollen Stadt“ (Hodrová), die von den Göttern verlassen wurde. Die Willkür der Geschichte und das damit verbundene Gefühl des einzelnen Individuums, dieser ausgeliefert zu sein, führen auch zu einer Veränderung der einst identitätsstiftenden Topoi, wie zum Beispiel die Rezeption der Schlacht am Weißen Berg in Ota Filips Café Slavia: Wie schon vor dreihundert Jahren wird auch jetzt die große Zeit der Versager und der einsamen Märtyrer kommen. Was alles hätten wir vollbringen können, wie groß und stark hätten wir vor dem Antlitz der Geschichte sein können, wenn wir nicht ständig von fremden Mächten

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besetzt und regiert worden wären! Solche Stimmen werden sehr bald hier zu hören sein, und aus diesem dreihundert Jahre alten böhmischen Gejammer werden viele Menschen. Am Weißen Berg gab es damals wenigstens Scharmützel, das letzte vor den Toren der Stadt. Als mein nicht glorreicher Vorfahre am 8. November 1620 siegreich, nicht jedoch mit Ruhm bedeckt, in die Stadt zog, bimmelten – das habe ich in der Familienchronik gelesen – wenigstens einige Glocken. Heute schweigen sie. [CS, S. 266 f.] In den Topologien des traumatischen Prags kann sich das Individuum bzw. die Figur nicht mehr mit der Stadt und ihrer Geschichte identifizieren. Dies gilt besonders für die tschechische Literatur, die unter den Einflüssen der Geschichte zu leiden hatte, wie Daniela Hodrová beschreibt: Mytologizace a s ní současně či o krok později probíhající parodická demytologizace a remytologizace Prahy byla v české literatuře velmi často výrazem zápasu s ideologií […] – v ‚pražském textu‘ […] souvisí […] vnímání neskutečnosti města, jeho znicotnění a zdvojznačnění spíše s historickou situací a osobním příběhem autora.396 In der Folge werden ehemals „magische“ Topoi zu Heterotopien und NichtOrten, zu Räumen der Fremdheit, an denen das Überschreiten der Schwelle nicht mehr funktioniert und das Fremde nicht überwunden werden kann – so zum Beispiel der Friedhof. Als solcher ist er ein charakteristischer Prager Topos, in dem der Schwellencharakter der Stadt in der Präsenz der Vergangenheit und des Todes besonders gut zu Tage tritt. Wurde der Alte Judenfriedhof zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch als „magischer“ und mythischer Ort dargestellt, so gleichen die Wolschaner Friedhöfe bei Daniela Hodrová einem unheimlichen, lockenden und beunruhigenden Urwald; oder es herrscht nurmehr Stille wie bei Libuše Moníková auf dem Vyšehrader Friedhof: „Der 396 Hodrová, Daniela: Citlivé město. S. 117. Dt.: Die Mythologisierung und die mit ihr gleichzeitig oder um einen Schritt versetzt verlaufende parodistische Demytologisierung und Remythologisierung Prags, war in der tschechischen Literatur sehr häufig Ausdruck eines Kampfes mit Ideologien […] – im ‚Prager Text‘ hängt die Wahrnehmung der Unwahrheiten einer Stadt, ihre Fadenscheinigkeit und Doppeldeutigkeit eher mit der historischen Situation und der persönlichen Geschichte des Autors zusammen.

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Ehrenfriedhof ist leer, die nationale Vergangenheit interessiert niemanden.“ [VN, S. 39] Gleichzeitig findet hier auch eine Verschiebung statt, und es werden andere Friedhöfe dargestellt. Gerade mit Libuše Moníková und Daniela Hodrová wird schließlich deutlich, wie sich die Literatur darum bemüht, den Prag-Mythos wiederzufinden, zu bewahren bzw. ihn unter den gegenwärtigen Umständen zu erneuern oder weiterzuschreiben. Anhand von Moníkovás Werk wurde aufgezeigt, dass Prag zwar einen schmerzlicher Erinnerungsraum darstellt, in dem sich die Figuren als Leidtragende wiederfinden; dessen ungeachtet schreibt die Autorin aber mit ihrer Darstellung der Stadt und der kontinuierlichen Rekonstruktion dieses Gedächtnisraumes mit seiner mythischen Vergangenheit den Prag-Mythos fort. Auch bei Hodrová entpuppt sich gerade der Friedhof als mythischer Topos: Es sind „die Orte, an denen Mythen entstehen und berühmte historische Ereignisse erzählt werden – ‚wiederholt werden‘ – in der niederen Friedhofsebene“397. Mit der Demythologisierung einer „magischen“ Stadt findet also zugleich auch eine Remythologisierung statt: Der Mythos ist in seinem Ursprung unveränderlich, er verändert sich nur unter dem jeweiligen gegenwärtigen Blickwinkel, aus dem sich das Individuum zur Vergangenheit zurückwendet: Die Stadt hat sich verändert und scheint ihrer „Magie“ beraubt worden zu sein. Auch wenn in einzelnen Texten der Prag-Mythos dekonstruiert wird, so wird er damit nicht etwa überschrieben, sondern vielmehr weitergeschrieben, weil er sich als literarischer Text in den unendlich erweiterbaren und labyrinthisch verwobenen Text der Stadt Prag einfügt und sich somit als Gedächtnisraum erweitert. Es wird deutlich, dass zum „magischen“ Prag scheinbar auch das tragische Prag gehört. Milan Kundera schreibt in seinem Buch vom Lachen und Vergessen (1992) über das tschechische Wort Lítost, für das es seiner Ansicht nach kein Äquivalent in anderen Sprachen gibt. Obwohl Kundera glaubt, dass die menschliche Seele kaum ohne dieses Wort zu verstehen ist, ist es unübersetz397 Vgl. Hodrová, Daniela: Citlivé město. S. 120: „kde se národí mýty a proslulé historické události vyprávějí – ‚opakují‘ – ve snížené, hřbitovní úrovni“

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bar: „Lítost ist ein qualvoller Zustand, der durch den Anblick unserer unvermutet entdeckten Erbärmlichkeit ausgelöst wird. […] Wer mit der allgemeinen Unvollkommenheit des Menschen seine Erfahrungen gemacht hat, ist gegen Lítost-Anfälle verhältnismäßig gut gewappnet. Der Anblick der eigenen Erbärmlichkeit ist für ihn etwas Banales und Uninteressantes.“ 398 Weiter schreibt er über seine Theorie zu dem Begriff, dass dieser nicht zufällig in Böhmen entstanden sei: Die Geschichte der Tschechen, diese Geschichte ewiger Revolten gegen Stärkere, diese Abfolge glorreicher Niederlagen, die das Rad der Weltgeschichte in Bewegung setzten und den Untergang des eigenen Volkes begründeten, das ist die Geschichte der Lítost. Als dieses kleine, herrliche Land im August 1968 von Tausenden russischer Panzer besetzt wurde, habe ich auf den Mauern der Stadt folgende Aufschrift gesehen: ‚Wir wollen keinen Kompromiß, wir wollen den Sieg!‘ Wie gesagt, zu jenem Zeitpunkt gab es nur die Wahl zwischen mehreren Arten von Niederlagen, sonst nichts, dennoch lehnte diese Stadt den Kompromiß ab und verlangte den Sieg! Da sprach nicht die Vernunft, sondern die Lítost. Wer den Kompromiß ablehnt, dem bleibt letztlich nur noch die schlimmste aller möglichen Niederlagen. Aber genau das will die Lítost. Ein Mensch, der von Lítost besessen ist, rächt sich durch Selbstvernichtung.399 Prag ist bei Kundera die Hauptstadt dieses „traurigen Böhmen“ 400, in der mit der tschechischen Lítost auch eine immerwährende „Hoffnungslosigkeit“401 sowie „trostlose Einsamkeit“402 beheimatet sind. Während im Abschnitt Topologie der Erinnerung die Geschichte und Vergangenheit Prags der zentrale Ausgangspunkt für die Semantisierung und Darstellung der Stadt in der Literatur als Erinnerungsraum sind, steht im nachfolgenden Abschnitt das Individuum mit seinem persönlichen Empfinden 398 Kundera, Milan: Das Buch vom Lachen und Vergessen. Aus dem Tschechischen von Susanna Roth. München 1992. S. 165 f. 399 Kundera, Milan: Das Buch vom Lachen und Vergessen. S. 203 f. 400 Ebd. S. 207 401 Ebd. S. 205 402 Ebd. S. 206

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und Erleben im Fokus. Untersucht werden Prag-Texte, in denen die Stadt für die Figuren als Seelenspiegel fungiert und in denen dadurch eine Topologie der Entfremdung entsteht.

IV Topologie der Entfremdung: Die Stadt als Seelenspiegel 1 Prager Spaziergänger:innen und ihre Lesarten Den Flanierenden leitet die Straße in eine entschwundene Zeit. Ihm ist eine jede abschüssig. Sie führt hinab, wenn nicht zu den Müttern so doch in eine Vergangenheit, die um so bannender sein kann als sie nicht seine eigene, private ist.1 [Walter Benjamin]

Abb. 10: Sudek, Josef, Illustration zu Vítězslav Nezvals Pražský chodec (Fotografie, 1981)

Im III. Abschnitt über die Topologie der Erinnerung ging die Interpretation der Texte von der Stadt Prag als einem Gedächtnisraum aus, mit dem sich das Individuum bzw. die literarischen Figuren identifizieren. Es wurde herausgearbeitet, dass die Stadt mit ihrer Geschichte einen identitätsstiftenden Ort darstellt, der sowohl einer kollektiven als auch einer individuellen Suche nach Identifikation Raum gibt. Im folgenden Abschnitt über die Topologie der Entfremdung werden nun die literarischen Figuren selbst mit ihrem Seelenleben, 1

Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. S. 521.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Scheidig, Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62256-8_5

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1 Prager Spaziergänger:innen und ihre Lesarten

ihrer Wahrnehmungswelt und ihrem (Er-)Lebensraum in den Fokus genommen. Es wurde bereits an verschiedenen Stellen herausgearbeitet, dass das Individu-um sich in seiner Wahrnehmung und Reflektion der Stadt (oder eben deren Lesbarkeit) sich ähnlich wie der Leser eines Textes verhält. Betrachtet man die Prag-Figuren der Literatur des 20. Jahrhunderts, so fällt bald auf, dass die Bewegungsart des Spazierengehens oder des Flanierens die Wahrnehmung der Figuren lenkt und sich so die Räume und Bedeutungen des PragTextes er-schließen. Der Figur des Flaneurs entstand in der Literatur etwa in den 1830ern in Paris – laut Walter Benjamin hat Paris diesen Typus 2 des Spaziergängers, der scheinbar ziellos durch die Straßen der Stadt streift, erschaffen. Als Figur gehört er zu einer besonderen Form von Stadttexten, den so genannten „Tableaus“ (franz.: Bild, Gemälde)3, in denen der Blick des Schreibenden selbst wiedergegeben wird: „Das Flanieren bindet sich zunehmend an die künstlerische Verarbeitung der städtischen Erlebniswelt.“4 Daraus entstehen gewissermaßen literarische Stadt-Bilder, szenisch-literarische Darstellungen in der Art eines Gemäldes.5 Ebenso erscheinen literarische Stadt-Bilder zunächst als Momentaufnahmen, in gewisser Hinsicht als Schaubilder. LouisSébastien Mercier hat mit seinem Tableau de Paris aus dem Jahre 1781 diese Form von Standbildern in der Literatur etabliert und eine neue Form der Stadtbeschreibung begründet. Mit seinen Impressionen aus dem Alltagsleben der Großstadt setzte er neue Akzente für die Wahrnehmung städtischen Lebens. Das Tableau de Paris stellt den Versuch dar, im Zusammenfügen von Einzelbildern von Paris in der Literatur ein Gesamtbild der Großstadt zu schaffen, ein Porträt der eigenen Zeit, ein Sittengemälde, das die moralische 2 3

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Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. S. 525. So zum Beispiel Louis-Sébastien Mercier mit Tableau de Paris (1781), der als Begründer der Großstadt-Beschreibungen in der Literatur gilt, oder Charles Baudelaires Tableaux Parisiens (1861). Zum Tableau-Begriff vgl. weiterhin Corbineau-Hoffmann, Angelika: Brennpunkt der Welt. C’est l’abrégé de l'univers; Großstadterfahrung und Wissensdiskurs in der pragmatischen Parisliteratur 1780-1830. Bielefeld 1991. S. 112 ff. Keidel, Matthias: Die Wiederkehr der Flanerie. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion. Würzburg 2006. S. 16. Vgl. hierzu Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Berlin; New York 2003. Eintrag: Tableau; S. 568-570, hier 568.

IV Topologie der Entfremdung: Die Stadt als Seelenspiegel

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Physiognomie der Stadt darstellen und die gesellschaftlichen Kontraste sowie die Schnelllebigkeit der Großstadt einfangen sollte. 6 Mercier selbst bezeichnet mit einem Tableau „eine der unmittelbaren Beobachtung zugängliche Realität – und mehr noch: eine Realität, die sich der Darstellung gleichsam aufdrängt. Die Stadt erscheint als Kompendium potentieller ‚tableaux‘.“7 Das literarische Tableau ist also eine Sammlung von Bildern, die von einer Stadt mehrere Eindrücke liefern und durch die man als Leser:in gewissermaßen hindurchspazieren kann. Flaneur:innen werden so zu paradigmatischen Charakteren dieser Stadtlandschaften. Dieser literarische Typus zeichnet sich durch Müßiggang aus, ein scheinbar zielloses Umherstreifen, eben ein Flanieren (aus dem Französischen: „flaner“ für „umherschlendern, bummeln“): „Der flânerie liegt neben anderem die Vorstellung zu Grunde, daß der Ertrag des Müßigganges wertvoller ‹?› sei als der der Arbeit. Der Flaneur macht bekanntlich ‚Studien‘“8, schreibt Walther Benjamin in seinem Passagen-Werk. Vom herkömmlichen Spaziergänger unterscheidet sich jener insofern, als er an den Wahrnehmungskontext Großstadt gebunden ist und statt einer Naturerfahrung die Stadterfahrung9 sucht. Matthias Keidel untersucht in seiner Dissertation Die Wiederkehr der Flanerie (2006) die literarische Flanerie sowie das flanierende Denken und bemerkt, dass diese eine Reaktion auf die Modernisierungstendenzen in der Großstadt sind und dementsprechend „Entfremdungsgefühle in der Beziehung zwischen Subjekt und Metropole“ 10 widerspiegeln. Auch Benjamin stellt fest, dass die Figur des Flaneurs einen Wandel vollzogen und „sich ganz vom Typ des philosophischen Spaziergängers entfernt und die Züge des unstet in einer sozialen Wildnis schweifenden Werwolfs“ 11 angenommen habe. 6 7 8 9 10 11

Zitiert nach Corbineau-Hoffmann, Angelika: Brennpunkt der Welt. C’est l’abrégé de l'univers; Großstadterfahrung und Wissensdiskurs in der pragmatischen Parisliteratur 17801830. S. 117. Corbineau-Hoffmann, Angelika: Brennpunkt der Welt. S. 117. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. S. 567. Vgl. Jauß, Hans Robert: Spur und Aura. Bemerkungen zu Walter Benjamins ‚Passagen-Werk‘. In: Ders.: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne. Frankfurt am Main 1989. S. 189-215, hier S. 190. Vgl. Keidel, Matthias: Die Wiederkehr der Flanerie. S. 12. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. S. 526. Diesen Typus habe „Poe zuerst in seinem ‚Mann der Menge‘ auf immer fixiert.“ [Ebd.]

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1 Prager Spaziergänger:innen und ihre Lesarten

In der modernen Metropole begleiten den Flaneur zunehmend Gefühle der Fremdheit oder der Entfremdung: Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte. Das Gehn gewinnt mit jedem Schritt wachsende Gewalt; immer geringer werden die Verführungen der Läden, der bistros, der lächelnden Frauen, immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Straßenenecke, einer fremden Masse Laubes, eines Straßennamens. Dann kommt der Hunger. Er will nichts von den hundert Möglichkeiten, ihn zu stillen, wissen. Wie ein asketisches Tier streicht er durch unbekannte Viertel, bis er in tiefster Erschöpfung auf seinem Zimmer, das ihn befremdet, kalt zu sich einläßt, zusammensinkt.12 Besonders Prag lädt mit seinen malerischen Moldauufern, den verwinkelten Gassen der Altstadt oder der Kleinseite und dem prächtigen hunderttürmigen Panorama zum Flanieren ein. Die Prager Flaneur:innen, die durch die Stadt wandeln, schlendern oder sich in ihr verirren, stell en in der Prag-Literatur des 20. Jahrhunderts den Typus schlechthin dar. Das Flanieren ist die charakteristische Bewegungsform durch die „magische“ Stadt: Die Vorstadt wird zur Bühne eines trübe ausgeleuchteten Mysterienspiels, und der Pilger-Fußgänger, der mit der Magie der Nacht unter einer Decke steckt […] scheint selbst aus einem Gewirr von Straßenfäden und Lichtstreifen zu bestehen. […] Dieser nächtliche Fußgänger verkörpert in sich ein Stück von dem alten Prager Glauben an die Sterne und ihren Einfluß auf die Schicksale der Menschen.13 Im folgenden Abschnitt über die Topographien der Flanerie wird die Bedeutung des „Tableau de Prague“ insbesondere mit seinen Flaneur:innen des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts genauer charakterisiert. Im Fokus steht dabei die individuelle Lesart des Subjekts, welches sich als Prager Spaziergänger:in einen eigenen Stadttext erschließt. Diese entsteht in den einzelnen Texten in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der persönlichen Befindlichkeit der Protagonist:innen. 12 13

Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. S. 524 f. Ripellino, Angelo Maria: Magisches Prag. S. 92.

IV Topologie der Entfremdung: Die Stadt als Seelenspiegel

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1.1 Tableau des Selbstverlustes: Der nächtliche Spaziergänger und die dunkle Seite der Stadt Vielleicht stehen Wahnsinnige den letzten Dingen näher als solche mit ‚gesundem‘ Menschenverstand. Und wahnsinnig – ganz heimlich und versteckt wahnsinnig – sind irgendwie die meisten Marionetten in Prag. Oder besessen von irgendeiner kuriosen Idee.14 [Gustav Meyrink]

Abb. 11: Hudeček, František: Noční chodec (Ölgemälde, 1944)

Ein wahrlich malerisches Tableau von Prag entfaltet Vilém Mrštík in seinem Roman Santa Lucia (1893)15. Dieser handelt von Jordán, einem jungen Mann, der aus seiner mährischen Heimatstadt Brünn nach Prag geht, um dort Jura zu studieren.16 Die große schöne Stadt fasziniert ihn, und er träumt lange davon, dort zu leben [vgl. SL, S. 73]: 14 15 16

Meyrink, Gustav: Die Stadt mit dem heimlichen Herzschlag. S. 159. Mrštík, Vilém: Santa Lucia. Prag 1952. Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [SL] abgekürzt. Das Klischee vom provinziellen „Landei“ aus Mähren, das in die Großstadt nach Prag kommt und dort als solches auffällt findet sich häufiger, so zum Beispiel auch in Jaroslav Rudiš Nationalstraße (Národní třída, 2013). Es gehört in die Thematik des Gegensatzes von Stadt und Land – Brünn, heute die zweitgrößte Stadt Tschechiens wird in diesem Zusammenhang im Gegensatz zur Metropole Prag als Provinzstadt stereotypisiert.

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1 Prager Spaziergänger:innen und ihre Lesarten

A nejen ulice, domy, park, i toalety, i ekypáže, světla večer, slunce ráno, v noci tma, nebe, hvězdy, i to kamení, kterým vydlážděná byla Praha, i továrny které kouřily za Prahou – všechno, i ten prach a špína staroměstských brlohů zdály se mu nyní ozdobou té Prahy, kterou v srdci nosí, jako Ital nosí svoji Santa Luciu.17 Der Romantitel drückt symbolisch die Sehnsucht aus, die Jordán nach Prag empfindet – Santa Lucia referiert auf das gleichnamige neapolitanischen Volkslied, in dem der Fischerhafen von Neapel und die Schönheit der Stadt besungen werden.18 Auch für Jordán gleicht Prag einer „Schönheit“ [vgl. SL, S. 111 oder S. 186]. Er empfindet für die Stadt eine mächtige, aber ebenso vergebliche Liebe, die begleitet wird von bitteren Enttäuschungen, schmerzhaftem Leiden und zunehmender Vereinsamung. In Gedanken idealisiert er das Leben in Prag, so dass seine Liebe wächst, noch bevor er überhaupt einen ersten Fuß in die Stadt gesetzt hat. 19 Als er nach seinem ersten Prag-Besuch wieder nach Brünn zurückkehrt, geht ihm die Stadt nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder muss er an die „schwarze Verführerin“ [SL, S. 32] denken, die ihn nicht schlafen lässt [vgl. SL, S. 55], die er anbetet und verehrt und nach der er sich sehnt wie ein junger Mann, der sich zum ersten Mal unsterblich verliebt: [...] ale duše jeho touhou po Praze jen mřela. Svůdnice černá! Jak žila v něm ukryta v nedbalkách bílých vltavských mlh! Jen jednou ještě kdyby ji nahlédnout mohl do té kamenné její 17

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SL, S. 73: Dt.: Und nicht nur die Gassen, die Häuser, der Park, auch die Toiletten und die Equipagen, das Abendlicht, die Morgensonne, die Dunkelheit der Nacht, der Himmel, die Sterne, auch die Steine, mit denen Prag gepflastert war, auch die Fabriken, die hinter Prag rauchten – alles, auch der Staub und der Dreck der altstädtischen Höhlen schienen ihm nunmehr eine Zierde Prags zu sein, der Stadt, die er im Herzen trägt, so wie ein Italiener sein Santa Lucia. In dem Lied aus der Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Fischerhafen Santa Lucia, ein Stadtteil von Neapel, aus der Perspektive eines Fischers besungen, der zu einem Bootsausflug in der erfrischend kühlen Abendluft einlädt. Santa Lucia bedeutet „die heilige Leuchtende“. SL, S. 79: „Vytvořil si proto Prahu v podobě tak ideální, že ve své lásce k ní rostl a nutně hynul zároveň už dávno předtím, než do Prahy nastoupil první krok.“ Dt.: Darum erschaffte er sich Prag in seiner Gestalt so ideal, dass er in seiner Liebe zu der Stadt wuchs und gezwungenermaßen auch zugleich verkümmerte, schon lange bevor er einen ersten Schritt in die Stadt gesetzt hatte.

IV Topologie der Entfremdung: Die Stadt als Seelenspiegel

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tváře, pomyslil si, a kdykoliv na to vzpomněl, hlava mu klesla do založených loktů, rty se svraštily v tichém usmívání. Byl by nejraději hned letěl za ní, bez plánů, bez peněz, bez zaměstnání, jen s tou tichou láskou k ní a s tou divnou žádostí v prsou, třebas jenom na chvíli si pohověti v jejím klíně a pomilován buď rozloučit se s ní nebo na vždy zůstati v ní...20 Obwohl sich seine Mutter Sorgen um ihn macht und befürchtet, dass er sich in Prag verlieren wird, weil die Menschen dort falsch seien [vgl. SL, S. 94], bricht er eines Tages schließlich auf, um in der geliebten Stadt sein Jurastudium zu beginnen. Auf der Fahrt im Zug lernt er Hégr kennen, der sich als Arzt vorstellt und selbst seit Langem in Prag lebt. Auch er warnt ihn vor der Stadt und rät Jordán, an der nächsten Haltestelle auszusteigen und zurückzufahren [vgl. SL, S. 103]. Nachdrücklich fragt Hégr den jungen Mann, was er in der Stadt für Ziele habe und warum er ausgerechnet dorthin wolle, aber Jordán hat darauf nur vage Antworten – er müsse einfach einer unbestimmten Sehnsucht folgen. Hégr missfällt genau diese Motivation, da man seines Erachtens in Prag keinen Anschluss findet, wenn man dort nichts verloren hat, und am Ende jeder mit sich allein bliebt: Nemalujte si Prahu růžovými barvami. […] každý vidí v Praze jediný střed všeho světla, jediné ohnisko, z kterého se všecky paprsky rozbíhají, v něm se sbíhají a mimo ni že není ani práce možná. Je dost na tom, že středem tím je; ať tam táhne každý, kdo musí a kdo nemá co ztratit. Ale nyní jako by Praha byla továrna na genie, každý tam nese to svoje nejlepší, své srdce, hlavu, nervy, krev, a domů se vracejí mrzáci. Měl-li kus poctivosti v těle, tam jí ztratí, měl-li kus rozumu, tam napolo zblbne, odkvete nejkrásnější věk jeho života a pak shledá, že neodkvetl, ale oprchal. […] Studenti jsou v Praze jen na to, aby odtancovali karneval, a dost. A co nám potom? Společnost musíme mít, lidi musíme 20

SL, S. 32. Dt.: Aber seine Seele verzehrte sich in Sehnsucht nach Prag. Schwarze Verführerin! Wie sie in ihm weiterlebte, eingehüllt in ein Negligé weißer Moldaunebel! Nur noch einmal in ihr steinernes Antlitz blicken, dachte er, und wann immer er sich daran erinnerte, sank sein Kopf in die verschränkten Arme, die Lippen kräuselten sich zu einem stillen Lächeln. Er wäre am liebsten sogleich zu ihr geeilt, ohne Pläne, ohne Geld, ohne Arbeit, nur mit dieser stillen Liebe zu ihr und mit diesem seltsamen Verlangen in der Brust, eine Weile noch einmal in ihrem Schoß zu ruhen und liebkost zu werden, entweder von ihr Abschied zu nehmen oder auf immer in ihr zu bleiben...

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vidět, každý si rád pohovoří, každý se rád pobaví, a kde, prosím vás? Nakonec nezbude vám než některá ta hloupá sklepnice, hospodský žvast, hra v kulečník, v karty, přemílání novin a pletky se šičkami, trafikantkami, pátou čtvrtí a večer toulání po Příkopech a dost. Dál nedostanete, leda byste se vetřel. A k tomu nemá každý chuti ani zkušenosti. Teď tomu už je směju, ale bývaly doby, kdy jsem ještě nebyl tak otrlý a bylo mně divně při tom poznání.21 Jordán erwidert daraufhin, dass er denke, dass das alles den Menschen nicht in die Irre führen müsse und Einsamkeit auch etwas Schönes sein könne [vgl. SL, S. 109]. Doch Hégr insistiert heftig: „A Praha mě může mít ráda. Je to kuběna, která stráví nejlepší naše mízy, tělesné i morální, a usměje se na vás jenom tenkrát, když z vás může týti – kuběna a dost – .“22 Obgleich er sich erinnert, selbst irgendwann einmal einer von denjenigen gewesen zu sein, die sich in das unbekannte Großstadtmeer stürzten, ist Prag für Hégr eine Hure. Inzwischen versucht er sich nurmehr müde über Wasser zu halten, um nicht auf halber Strecke zu ertrinken [vgl. SL, S 110]. Jordán lässt sich trotz all die21

22

SL, S. 108 f. Dt.: Malen Sie sich Prag nicht mit rosaroten Farben aus. […] jeder sieht in Prag den einzigen Mittelpunkt allen Lichts, den einzigen Brennpunkt, von dem alle Strahlen auseinanderstreben und in dem sie zusammenlaufen und außerhalb dessen kein Schaffen möglich ist. Es genügt, dass es der Mittelpunkt ist; soll denn noch jeder, der muss und der nichts zu verlieren hat, dorthin ziehen? Stattdessen scheint es nun, als ob Prag eine Fabrik für Genies geworden wäre, jeder bringt sein Bestes dorthin, sein Herz, seinen Kopf, seine Nerven, sein Blut und alle kehren sie verkrüppelt nach Hause zurück. Besaß man einen Fun ken Ehrlichkeit im Körper, dort hat man sie verloren, und wenn man ein Stück Verstand hatte, wird man dort halb verrückt, man erblüht im schönsten Alter seines Lebens und dann stellt man fest, dass man gar nicht aufgeblüht ist, sondern sich verloren hat. […] Die Studenten sind nur in Prag, um eine Maskerade abzutanzen und damit ist es genug. Und was bleibt uns danach übrig? Wir brauchen Gesellschaft, wir müssen Menschen treffen, jeder unterhält sich gerne, jeder vergnügt sich gerne, und wo, bitteschön? Am Ende bleibt euch nichts anderes, als irgend so eine dumme Kellnerin, das Gequatsche im Wirtshaus, das Billardspiel, das Kartenspiel, das Geschwätz aus den Zeitungen und die Techtelmechtel mit den Näherinnen, den Kioskverkäuferinnen aus dem fünften Bezirk und abends das Gebummel am Graben und weiter nichts. Weiter dringt ihr nicht vor, außer ihr würdet euch aufdrängen. Und dazu hat nicht jeder Lust und schon gar nicht die Erfahrung. Jetzt lache ich nur mehr darüber, aber in vergangenen Zeiten, bis zu dieser Erkenntnis, als ich noch nicht so abgebrüht war, kam es mir komisch vor. SL, S. 109 f. Dt.: „Und Prag kann mich mal gern haben. Prag ist eine Hure, die uns die bes ten Lebenssäfte aussaugt, körperliche wie auch moralische, und sie lächelt euch nur dann an, wenn sie von euch profitieren kann – eine Hure und mehr nicht –.“

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ser Warnungen nicht beirren, und Hégr lädt ihn schließlich ein, bei sich in Vinohrady zu wohnen, bis er etwas Eigenes gefunden hat. Als er im herbstlichen Prag ankommt, gleicht die Stadt mit ihren rauchenden Schornsteinen einer schwarzen Schönheit. Von seinem Zimmer in der Straße „Na Smetance“ kann Jordán das ganze Stadtzentrum von Nordosten aus überblicken. Hier sitzt er oft und schaut stundenlang über die Stadt: Celý první den proseděl u okna a díval se na Prahu, jak u nohou mu leží a kouří lehkými obláčky dýmu přes hrbaté hřbety střech. Když se chýlilo k soumraku byla nejkrásnější. Jako by se vznášela vypjatá protějšími svahy, složena z těžkých věkovitých balvanů, stala tu němá, ohromná, jak nadechnutá svými tvary do zlatolesklé půdy západu. Celá jako zaprášená nořila se v popelavé tóny podvečerních mlh a z jejich houštky teprv jako stíny vyrůstaly domy, věže, kopule, chrámy. Praha celá, tichá na pohled jak sen, klidný jako nehybná tvář masky, přehozená řídkou clonou podvečerních závojů. Krasavice černá.23 Während das Großstadtleben in Prag am Tag von Lärm begleitet wird und voller Straßenverkehr und Menschengetümmel ist [vgl. SL, S. 115 ff.], taucht die Stadt am Abend in geheimnisvolle Schleier. Es wird ein erotisches Bild einer im Nebel badenden Schönheit evoziert, die sich für das nächtliche Vergnügen zurecht macht: Jak se pyšnila ztajenými svými vděky, jak skrývala své rysy, stále výš a výš. Hovíc sobě v mlžné koupeli zatahovala nad sebou své vzdušné záclony a čekala, až v tichu noční chvíle navštíví ji sen. Propadajíc se stále hloub a hloub do měkkých peřejí svých mlh vyrůstala už jen hroty 23

SL, S. 111. Dt.: Den ganzen ersten Tag über saß er am Fenster und blickte über Prag, wie ihm die Stadt zu Füßen lag und in sanften Wölkchen den Rauch über die buckeligen Rücken der Dächer bließ. Wenn die Abenddämmerung anbrach, war sie am schönsten. Es war als würde sie schweben, zwischen die gegenüberliegenden Hänge gespannt, zusammengefügt aus schweren altehrwürdigen Felsbrocken, stumm verharrte sie, wundervoll, mit ihren Formen, wie anghaucht vom Sonnenuntergang, im goldglänzenden Grund. Gleich wie verstaubt versank sie in aschgrauen Tönen im Nebel der Abenddämmerung und aus diesem Dickicht wuchsen allmählich wie Schatten Häuser, Türme, Kuppeln, Kirchen, ganz Prag, scheinbar leise wie ein Traum, friedlich wie das reglose Gesicht einer Maske, bedeckt mit der zarten Trübung abendlicher Schleier. Die schwarze Schönheit.

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nejvyšších svých věží nad roztřepené vlny par. A ty začaly blednout, sinat a pojednou zmizely jak vzdušný klam. I nejbližší zdi, zčernaly, atmosféra chladla, vzduch ztuhl v neproniknutelnou modř. Jen na západě na zelené půdě obzoru jak černá tvrz vyrůstal velký dóm a jako přetržený v půli k nebi tiskl tmavou svoji budovu. Konečně až tam se vzduly tiché stíny mlh a dóm jako by nastál, ale ze základu vytržen volný ploval v širém prostoru. Ještě jen Strahov prorážel nebe dvěma špičatými zuby, a konečně i ten se rozplynul v kalisku mlh a z Prahy nezbylo než ty tiché, nehybné spousty par, které od nebe až k zemi visely jak záclony. Jordán strhl oči s nebe a v duši mu zaplanulo moře hvězd. To Praha jako jedna do sebe spečená masa budovy, jeden do sebe složený palác rozžíhala večerní svoje světla a chystala se k nočním zábavám. Tu noc spal Jordán sám a sám.24 Jordáns Liebe zu Prag gleicht der zu einer unerreichbaren, erotischen und betörenden Frau. Im Vergleich zu den desillusionierten patriotischen Texten der Jahrhundertwende steht diese Leidenschaft in Mrštíks Werk allerdings in keinem Zusammenhang mit einer kollektiven Identitätsstiftung des tschechischen Volkes. Sie entsteht vielmehr aus der individuellen Sehnsucht des Prot24

SL, S. 111 f. Dt.: Wie stolz sie war mit ihrer geheimnisvollen Dankbarkeit, wie sie ihre Züge verbarg, immer höher und höher. Behaglich selbst in trüben Bädern zog sie hinter sich ihre luftigen Vorhänge und wartete, bis sie in der Stille der Nacht ein Traum besuchen würde. Immer tiefer und tiefer in die weichen Strudel ihrer Nebel versinkend wuchsen aus den zerfransten Wellen der Dämpfe nur noch die Spitzen ihrer höchsten Türme. Und sie begannen zu verblassen, zu verbleichen und verschwanden plötzlich wie eine luftige Täuschung. Auch die nächsten Wände verfinsterten sich, die Atmosphäre erkaltete, die Luft erstarrte in einem undurchdringlichen Blau. Nur im Westen auf dem grünen Grund des Horizonts wuchs wie eine schwarze Festung ein großer Dom, und als wäre er in der Mitte zerrissen drängte er sein dunkles Gebäude zum Himmel empor. Schließlich schwollen die stillen Schatten der Nebel bis zum Horizont und es war, als würde der Dom nicht mehr stehen, sondern vom Grunde losgerissen frei im offenen Raum schwimmen. Nur noch das Kloster Strahov durchbrach den Himmel mit zwei spitzen Zähnen und schließlich verschwand es auch im Schlamm der Nebel und von Prag blieb nichts als eine stille, unbewegliche Masse von Dämpfen, die wie Vorhänge vom Himmel bis zur Erde hingen. Jordán riss seinen Blick vom Himmel los und in seiner Seele entflammte ein Meer von Sternen. Auf einmal zündete Prag seine Abendlichter an und erstrahlte als ineinander verschmolzene Masse von Gebäuden, wie ein in sich zusammengesetzter Palast, und bereitet sich zum nächtlichen Vergnügen. In dieser Nacht schlief Jordán einsam und allein.

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agonisten. Die Stadt wird beschrieben als schwarze Schönheit, Verführerin und Hure. Da Prag im Tschechischen ein Femininum ist, entspricht auch das Pronomen „ta Praha“ dem eines weiblichen Subjekts, was sich der Text zu Nutzen macht, allerdings in der deutschen Übersetzung nur mit „die Stadt Prag“ wiedergegeben werden kann. Eines Tages lernt Jordán die schöne Klára kennen, in die er sich sofort verliebt. Obwohl sie ein Mädchen aus höheren Kreisen ist und ihn immer wieder zurückweist, bemüht er sich sehr um sie. Klára scheint mit Jordáns Zuneigung zu spielen und gibt sich betont geheimnisvoll, sie möchte seltsam („divná“) sein und sich auch nicht mit Leuten umgeben, die nicht merkwürdig sind [vgl. SL, S. 155]. Dennoch hat Jordán sie gern, ganz besonders an einem schönen Herbsttag, als er sie zufällig auf der Straße trifft: „Jak ji měl Jordán rád! Dnes pravě v tu chvíli, kdy se mu zdálo, že je celá Praha jeho a všichni lidé s ní.“ 25 Jordáns Zuneigung Klára gegenüber erinnert an seine Liebe zu Prag. Ebenso wie er von Prag besessen war, als er noch in Brünn lebte und immerzu von einem Leben in der großen und herrlichen Stadt träumte [vgl. SL, S. 72 ff.], erfüllt ihn nun die Bekanntschaft mit Klára mit dem Zauber des Unbekannten [SL, S. 148: „kouzlo neznámých“]: „a stále obklopen tou sladkou atmosférou mladého jejího zjevu ubíral se jako somnambul po ulicích dolů k Vltavě, přes most, a zastavil se teprv, když přišel až k tomu domu, z kterého vyšel den předtím navečer - - -“ 26 Allerdings bleibt Klára für Jordán undurchschaubar – sie ist abwechselnd kalt und abweisend, dann wieder kokettiert sie mit ihm. Wenn er Zeit mit ihr verbringen kann, ist er glücklich, doch weist sie ihn immer wieder zurück und ist für Jordán unerreichbar, sodass seine Sehnsüchte auch in dieser „Beziehung“ unerfüllt bleiben. Dementsprechend widerspiegelt das Verhältnis zu Klára auch Jordáns Verlangen nach der Stadt Prag, in der zwar lebt, jedoch kaum etwas erlebt: 25 26

SL, S. 153. Dt.: Wie gern sie Jordán hatte! Gerade heute, in diesem Augenblick, als es ihm schien, dass Prag ganz sein war und alle Leute mit dazu. SL, S. 148 f. Dt.: und noch immer umgeben von dieser süßen Stimmung ihrer jungen Erscheinung begab er sich wie ein Schlafwandler durch die Straßen hinunter zur Moldau, über die Brücke, und blieb erst stehen, als er zu dem Haus kam, aus dem er am Tag zuvor abends herausgekommen war.

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„Byl v Praze a nebyl. Viděl Prahu z okna a mimo to kamení posud jí nepoznal. […] Zhořkla mu Praha!“27 Die Figur Jordán ist ein beispielhafter Prag-Flaneur – oft wandert er den ganzen Tag durch die Stadt und irrt ziellos umher, um nicht allein Zuhause sein zu müssen und weil er kein Geld hat, um in ein Kaffeehaus einkehren zu können. Zusammen mit Klára geht er spazieren, und auch nachts streunt er durch die dunklen Gassen und geht sehnsüchtig an den Lokalen vorüber. Während seines ersten Besuchs in Prag flaniert er noch voller Neugier durch die jahrhundertealten Gassen: Jordan jako by neslyšel, zastavoval se u každého rohu, nad každým arkýrem, tajemnou sochou, ohlížel se po bizarních fasádách, malebných římsách, starobylé části Prahy, o které už jako dítě slyšel, že na červených jejích prejzích zčernala krev století.28 Später jedoch fühlt er sich im Strom der Masse zunehmend verloren und einsam; dementsprechend erscheint auch ein trauriges Bild von regennassen nächtlichen Straßen: Ve Vodičkově ulici bylo v té chvíli živo. Plyn jasně svítil s obou stran a postřikoval žlutým světlem mokrou dlažbu. V hučení a rachotu vozů střídalo se žvatlání dětí se zmateným hovorem dorostlých. […] A zas jiní lidé se hrnuli kolem, přebíhali se strany na stranu a mizeli v davu. Byl smutný, zádumčivý večer, ale zdálo se, že nikdo toho nedbal, nohy stejně tak svižně přešlapovaly rozlehlým blátem jako den předtím, kdy dlažba byla suchá a světlem se nesl vlečkami zvířený prach. Šedá, hustá mlha snesla se dolů. Vzdálenější postavy jak stíny šouraly se osvětlenou tmou. Lampy jen slabě osvěcovaly hlavy a ramena pod světly se vinoucího atmosférou plačtivého dne.29 27 28

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SL, S. 135. Dt.: Er war in Prag und war auch wieder nicht in Prag. Er sah Prag aus dem Fenster und außer diesen Steinen kannte er die Stadt bisher nicht. […] Prag war bitter für ihn geworden! SL, S. 58 f. Dt.: Als ob Jordán nichts hören würde, blieb er an jeder Ecke stehen, vor jedem Erker, vor jeder geheimnisvollen Statue, er schaute sich um nach bizarren Fassaden, malerischen Simsen, altertümlichen Vierteln von der Stadt Prag, von der er schon als Kind gehört hatte, dass auf ihren roten Dachziegeln das Blut von Jahrhunderten schwarz geworden sei. SL, S. 256. Dt.: In der Vodičková-Gasse war es um diese Zeit lebhaft. Die Laterne leuchtete hell nach beiden Seiten und besprühte das nasse Pflaster mit gelbem Licht. Im Dröhnen und

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In Santa Lucia wird der Unterschied von Prag bei Tag und bei Nacht bildlich sehr stark kontrastiert. Die Stadt entfaltet in der Abenddämmerung und in der Dunkelheit eine eigene Dynamik, sie lebt regelrecht auf,30 während der Prager Spaziergänger Jordán allein im nächtlichen Treiben durch die dunklen Gassen irrt. Er vereinsamt immer mehr – außer Klára und Hégr lernt Jordán kaum jemanden kennen und hat auch kein Geld, um auszugehen. Seine Bemühungen einen Nebenverdienst zu finden scheitern, und er kann sich nach und nach kaum mehr etwas zu Essen kaufen. Wie es ihm Hégr prophezeit hat, findet er keinen Anschluss und ist oft allein in der Wohnung in Vinohrady, sitzt am Fenster und lässt seinen Blick über die Häuser in die Ferne schweifen. Die seltenen glücklichen Momente, die er erlebt, sind ganz konkret mit der Stadt bzw. mit einer entsprechenden Stimmung in der Stadt verbunden, zu der sich auch seine Gemütsverfassung analog verhält. An einem Sonntag im September scheint die Sonne so wunderbar über Prag, dass es sofort fröhlicher und klarer auf den Straßen ist: Jako pod křišťálovým sklem leželo tu celé panorama a po všech těch střechách, po všech těch fasádách tmavých a světlých, nahých i stínem zastřených bloudil a přelíval se slunce bílý svit, blýskal od oknu k oknu, hrál do stříbra v bílých oblacích a rozkládal se široširým nebem, jaké jenom v neděli svítí, jaké bývá jenom v svátky největší. ‚Santa Lucia!‘ zvolal Jordán a zablýsknuv na Prahu běloučkými svými zuby chvíli ještě postál před nahou, sluncem zulíbanou tou Prahou v nejkrásnější její podobě, ještě chvílí měřil řízné jej stíny – liboval si osvícené její boky, hořící báně a osvícené obláčky stříbrného dýmu, ale pak odtrhl se od pyšného toho obrazu – jako by se nasytil chladných

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Rumpeln der Wägen wechselte sich das Geplapper von Kindern mit dem konfusen Gespräch von Erwachsenen ab. […] Und wieder strömten andere Leute vorbei, liefen von Seite zu Seite und verschwanden in der Menge. Es war ein trauriger, schwermütiger Abend, aber es schien, als würde das niemand bemerken, die Beine gingen genauso behände durch den dicken Morast, wie am Tag zuvor, als das Pflaster trocken war und aufgewirbelter Staub durch das Licht getragen wurde. Grauer, dichter Nebel ging hernieder. Weiter entfernt schlenderten Gestalten durch die erleuchtete Dunkelheit. Nur schwach erleuchteten die Lampen die Köpfe und Schultern unter den Lichtern der sich windenden Atmosphäre dieses kläglichen Tages. Vgl. Mrštík, Vilém: Santa Lucia. S. 185 f. oder S. 189 f.

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jejích půvabů a toužil po jiných, živějších, sladších, rozkoších slibného jejího klínů.31 Die Stadt erscheint in Santa Lucia als Bild einer erotischen, aufreizenden, nackten, aber ebenso hochmütigen und gefühlskalten Frauengestalt. Doch empfindet Jordán indessen ihr gegenüber nicht mehr die gleiche naive Sentimentalität wie zuvor und will sich auch nicht mehr in dieser Anbetung verlieren; stattdessen sieht er Prag nun klarer und bestimmter ohne die alles verschleiernden, geheimnisvollen Nebel. Gut gelaunt geht er spazieren: Sám posud před ní stál jak před nerozřešenou hádankou, kterou musil rozbít jak tajemný šperk, o kterém nevěděl, je-li falešný nebo pravý. Jordán zapomněl v tu chvíli na všechny hříchy, na všechno kolem, co bude zejtra, co bude pozejtří, a poddal se celé rozkošné té závrati smyslů, které v něm drážděny byly životem, chudobou, psanými i nepsanými eklogami Praze.32 Tagsüber im hellen Sonnenlicht, in dem sich das bunte Labyrinth der Gassen und Straßen, die Kirchen, Paläste, Klöster und Häuschen vor Jordáns Fenster erstrecken, erscheint Jordán die Stadt reiner und klarer [vgl. SL, S. 187 f.], und er schöpft wieder Hoffnung. Jedoch erfüllt ihn schon wenige Tage später die Nacht wiederum mit einer Sehnsucht nach der unerreichbaren Geliebten Prag – je nach Tageszeit, Wetter- und Lichtverhältnissen verändert sie ihr 31

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SL, S. 152. Dt.: Wie unter kristallklarem Glas lag das ganze Panorama da und über all diesen Dächern, über all diesen dunklen und hellen, nackten und in Schatten gehüllten Fassaden schweifte und ergoss sich das weiße Licht der Sonne, sie blitzte von Fenster zu Fenster, spielte silbern in weißen Wolken und erstreckte sich über dem weiten Himmel, so wie sie nur am Sonntag scheint, so wie sie es nur an den höchsten Feiertagen zu tun pflegt. ‚Santa Lucia!‘ rief Jordán und blinzelte über Prag mit seinen glänzenden Zähnen, er blieb noch eine Weile stehen vor der nackten, von der Sonne geküssten Stadt in ihrer schönsten Gestalt, noch eine Weile maß er ihre scharfen Schatten – erfreute sich ihrer erleuchteten Hüften, brennenden Kuppeln und erleuchteten Wölkchen silbernen Rauches, aber dann riss er sich von diesem stolzen Bild los – so als wäre er von ihrer kalten Anmut gesättigt und sehnte sich nach anderen, lebendigeren, süßeren vielversprechenderen Wollüsten ihres Schoßes. SL, S. 152 f. Dt.: Bisher stand er selbst vor ihr, wie vor einem unngelösten Rätsel, welches er zerstören müsste wie einen geheimnisvollen Edelstein, von dem er nicht wusste, ob er falsch oder echt war. Jordán vergaß in jenem Moment alle Sünden, alles um ihn herum, was morgen sein würde, was übermorgen sein würde und er ergab sich ganz dem entzückenden Schwinden der Sinne, die in ihm reizvoll zum Leben erweckt wurden, zur Armseligkeit, durch geschriebene und nicht geschriebene Eklogene über Prag.

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Gesicht und ihre Züge [SL, S. 188]. Und in der Nacht erwacht sie regelrecht zum Leben:

Abb. 12: Praha našich snů [Das Prag unserer Träume]

‚Žije!‘ pomyslil si v duchu a utíkal před ní do polí, vyhýbal se jí jako krásce, které zaplatil za prohýřenou noc a více se k ní hlásit nesmí. A přece jej zas sváděla, hříšná, lákala jej k sobě, i když z daleka se na ni díval a Praha odpočívati se zdála v tmách. Spala, svůdná, v náruči těch, kteří platili víc. Šuměla nad ním, temným hukotem provázela ztlumené vzdechy svých nenasytných úst, a když nemohla jinak, hlasitými výkřiky připomínala mu z dálky, že vlaky se blíží k jejímu tělu a nové a nové davy, nové a nové oběti se ztrácejí v bezedný její klín. Rozmrzen, rozhárán, na duši ztrhán neustálými těmi otřesy stále napjatých, stále živých a jako v ozvěně stále tam s tím proudem v jednom tempu chvějících se nervů zchváceným, bezmocným krokem vracel se domů, bezvládně klesl na židli a aspoň za sklem se díval na hříšnou, když nemohl k ní.33 33

SL, S. 185 f. Dt.: „Sie lebt!“ dachte er im Geiste und entfloh vor ihr auf die Felder, er wich ihr aus wie einer Schönheit, die er für eine durchzechte Nacht bezahlt hatte und von der er mehr nicht verlangen durfte. Und dennoch verführte sie ihn wieder, sündhaft lockte sie ihn

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Er versucht vor ihr zu fliehen, doch die sündhafte Schönheit verführt ihn immer wieder, und er kann ihr nicht entkommen. Er fühlt sich zunehmend zerrissen von dieser Anziehungskraft, der er weder widerstehen noch ihr nachgeben kann. Die Darstellung der Stadt als Frauenfigur unterscheidet sich bei Mrštík deutlich von dem Frauenbild der patriotischen Texte, etwa von Karel Hynek Mácha oder Jiří Karásek ze Lvovic.34 Während die Allegorisierung der Stadt Prag als einer unheilvollen, unglücklichen und stiefmütterlichen Frauenfigur einer kollektiven Identitätsstiftung des verlorenen tschechischen Volkes entspringt, ist die Darstellung bei Mrštík kaum als patriotisch zu deuten. Die Liebe Jordáns zu Prag steht in keinem Zusammenhang mit der nationalen Unabhängigkeitsbewegung, sie ist vielmehr individuell motiviert. Als heranwachsender junger Mann verliebt er sich regelrecht in die Stadt und will in Prag leben, um dort sein Glück zu finden. Es handelt sich in Santa Lucia um eine individuelle Identitätssuche des Protagonisten. Die Stadt erscheint in diesem Zusammenhang als erotisierte Frauenfigur, als „Hure“ und „schwarze Schönheit“, die mit Jordán ebenso wie das Mädchen Klára kokettiert: Mal zeigt sie sich rein und schön und erstrahlt in ihrer vollen Pracht im Sonnenlicht, mal lässt sie ihn an ihrem Nachtleben teilhaben, dann wieder ist sie düster, abweisend und unerreichbar, und so wächst in Jordán das Gefühl der Zerrissenheit, Vereinsamung und der Desillusionierung. Der zunächst vorherrschende Gegensatz von Tag und Nacht nimmt mit zunehmender Isolation des Protagonisten ab, und die nächtliche Bedrohlichkeit wird auch tagsüber spürbar. So beobachtet Jordán offenbar den ganzen Tagesverlauf eines grauen Herbsttages aus seinem Fenster. Dabei entsteht ein

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zu sich, auch wenn er aus der Ferne auf sie blickte und Prag sich in der Dunkelheit auszuruhen schien. Sie schlief, verführerisch, in den Armen derer, die mehr bezahlten. Sie rauschte über ihm, düsteres Brausen begleitete die dumpfen Seufzer ihrer unersättlichen Münder und wenn sie nicht anders konnte, erinnerte sie ihn aus der Ferne mit lauten Schreien, dass die Züge sich ihrem Körper näherten und neue immer neue Massen, neue und neue Opfer sich in ihrem bodenlosen Schoß verlieren würden. Missmutig, zerrüttet, in der Seele zerrissen, immer noch angespannt von diesen andauernden, immer lebendigen Erschütterungen und immer noch im gleichen Puls mit dem Strom dort, wie im Echo, erzitterten die Nerven, abgehastet, mit kraftlosem Schritt kehrte er nach Hause zurück, schwer viel er in den Stuhl und wenigstens hinter Glas betrachtete er die Sünderin, wenn er schon nicht zu ihr konnte. Vgl. hierzu Kapitel Matička Praha und das Bild einer toten Stadt.

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ausdrucksstarkes Bild – über mehrere Seiten wird der Blick über die Stadt beschrieben, wie sie am Morgen, unschuldig in silberne Nebelschwaden gehüllt, die aus dem Moldaubecken emporsteigen, erwacht: Praha oddychovala v ránu, a jako by za jejími vzdechy i město měnilo svou tvář, když vítr přestal dýchat, za obrysy budov, spustila se atmosféra světlých, měkkých mlh. Ta pára se nesla z Prahy od tisícerých jejích úst a za chvíli oblila celou její podobu, jako by tam dole kdesi v loži Vltavy vřely její pěny a odtud vystupovaly vzhůru, aby zakalily celé její pozadí. Se všech stran vystupovaly bílé ty obláčky kouře hrající na slunci stříbrem.35 Gegen Mittag dann, als würde sie untergehen, verschwindet die Stadt in einer riesigen Grube aus Staub und Ruß: Ohromné to stádo ulic, náměstí a tříd zdálo se prchati před těžkými těmi spoustami, které se trhaly místy a šedé obnažovaly černé jejich zdi, a jednu chvíli se zdálo dokonce, že Praha celá pustila se svých základů, celé to panorama divukrásných věží hýbá se pod tajemnou tou rouškou a plynouti se zdá jak černé ohromné loďstvo s vyzdviženými stožáry kamsi dolů proti řece vzhůru, kde leží památná Zbraslav - - K poledni už Prahy nebylo. Na místě ní zela prázdná, ohromná, hluboká jáma zavalená čmoudem, zaprášená sazemi. Země na tom místě jako by se propadla a jenom šumný strašný ten hukot města, hlučící tam dole temnými hlubokými spády, tam praskající v jasný, veselý třesk suchých nárazů, tam dunící jak rozevřená vrata splavu, vycházel tam zdola jako z podzemí. Zdálo se, že to neviditelná, nepřehledná továrna pracuje a z plných prsou dýmá nový a nový těžký, duši i tělo ubíjející kouř. Mrtvo, pusto, smutno bylo na těch místech, kde jako na břehu rozlitého moře v mlhách nebylo vidět nic, jenom ty těžké, kalné kusy dýmu topící se v příboj mlh, roztřepených, šedých jako rubáš kryjící nahotu své mrtvoly. A přitom stále ten hrozný, ječivý zvuk hloubky, jako by se tam 35

SL, S. 188: Dt.: Prag atmete im Morgen aus, und so als würde hinter ihren Seufzern die Stadt ihr Antlitz verändern, wenn der Wind zu atmen aufhörte, löste sich hinter den Umrissen der Gebäude die Atmosphäre der hellen, weichen Nebel. Aus tausenden seiner Münder verflog der Dampf aus Prag und nach einer Weile umfloß er die ganze Gestalt der Stadt, als ob irgendwo dort unten im Flussbett der Moldau die Gischt aufschäumen würde und von dort emporsteigen, um den ganzen Hintergrund der Stadt zu trüben. Von allen Seiten stiegen die weißen Rauchwölkchen empor, die sich in der Sonne silbern widerspiegelten.

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vody slily v hučivém svém proudění a vřící svoje pěny dmuly až k stříbrolesklým nebesům. Hrůzný a krásný pohled zároveň […] Nebylo Prahy víc.36 Die einst so stolze und glorreiche Stadt gleicht nurmehr einer Grabstätte [SL, S. 189], die sich erst gegen Abend wieder aufklärt und erneut auflebt. Dennoch erscheint Prag in Santa Lucia nicht gänzlich als tote Stadt – im Gegenteil dringt immer wieder synästhetisch der Großstadtlärm in Form von Wagenrädern, Pferdekutschen und Musik in das Bild, das Jordán von seinem Fenster aus überblickt. Když Jordán okno otevřel, zdola zavanul k němu ten známý, dlouhý, táhlý, nepřetržitý hukot velikého města, přerušovaný ostrým skřípěním koles, pak temným jakýmsi duněním kladiv, rachotem vozů, suchými třesky kočárů, pískáním a troubením vojenské hudby a žalostným, přerývaným nářkem odkudsi z blízka se nesoucího kolovrátku. Všechny ty výbuchy zvuků, šeptání ulic, hluché pády klad, všechny ty prudké otřesy lehce zvířeného a tisícerými zvuky proudícího vzduchu splývaly tu v jeden veliký, široký, tu slaběji, tu silněji se ozývající chorál měst, kterým hlučely tam dole nakupené jezy lidstva.37 36

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SL, S. 189. Dt.: Eine riesige Schar von Gassen, Plätzen und Straßen schien vor diesen schweren Fluten zu fliehen, die sich an manchen Stellen zerrissen und das Schwarz der Wände in Grau entkleideten, und für einen Moment sogar schien es, dass ganz Prag sein Fundament verlassen habe und das ganze Panorama wunderschöner Türme sich unter diesem geheimnisvollen Schleier bewegen würde und zu schwimmen schiene wie eine schwarze riesige Flotte mit den Masten irgendwohin flussabwärts ausgerichtet, wo das erinnerungswürdige Zbraslav liegt - - - Gegen Mittag war Prag nicht mehr da. An seiner Stelle gähnte dort eine leere, riesige, tiefe Grube mit Rauch verschüttet, verstaubt mit Ruß. Es war, als ob die Erde an diesem Ort versinken würde und nur der rauschende schreckliche Lärm der Stadt, dort unten mit dunklen tiefen Tonfällen tosend, dort knisternd im klaren, fröhlichen Krachen trockener Stöße, dort wie ein offenes Schleusentor dröhnend, von dort unten wie aus dem Untergrund entsteigen würde. Es schien als würde diese unsichtbare, unüberschaubare Fabrik arbeiten und aus voller Brust immer wieder aufs Neue schweren, die Seele und den Körper erschlagenden Rauch qualmen. Leblos, verlassen, traurig war es an jenen Orten, wie am Ufer des verschütteten Meeres im Nebel war nichts zu sehen, nur die schweren, trüben Stücke des Qualmes, in der Brandung der Nebel ertrinkend, ausgefranst, grau wie ein Totengewand, das die Blöße seiner Leichen bedeckt. Und gleichzeitig immer dieser furchtbare, kreischende Klang der Tiefe, als ob dort die Wasser im Rauschen seines Flusses verschmolzen und seine brodelnden Schaumkronen bis zum silberglänzenden Himmel anschwellen würden. Eine gruseliger und schöner Anblick zugleich [...] Prag gab es nicht mehr. SL, S. 188. Dt.: Als Jordan das Fenster öffnete, wehte ihm von unten das vertraute, lange,

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Nicht die Stadt ist dem Tod geweiht, sondern die Figur Jordán. Er erkrankt vor Einsamkeit und bekommt starkes Fieber, jedoch hat er niemanden, der sich um ihn kümmert, und zuletzt kann er sich auch nicht auf seinen Freund Hégr verlassen, der ihm seinen letzten Kreuzer abnimmt. Schließlich übermannt ihn eine grenzenlose Hoffnungslosigkeit, und er streift weinend durch das winterliche und regnerische Prag. Er kann sich kaum auf den Beinen halten, zitternd am ganzen Leib bricht er fast zusammen und leidet unter Wahnvorstellungen: Viděl se na lůžku se složenýma rukama – s hořící svíčkou u hlavy. – Hrozný, veliký strach zatřásl varhánkovitými jeho spodky a nový proud vln tetelivých, mrazově horkých stekl po jeho těle k drkotajícím patám. Stoje nad hrobem svého vlastního těla, zhrozil se sám své vlastní myšlenky. Nebyl si jasně vědom38 Am nächsten Tag wird er von einer Kutsche abgeholt und weggebracht: „To bylo všechno, co se o něm vědělo. O víc se nikdo nestaral. Němý jako stěna, tichý jako stín vytratil se z nádherného toho domu, jako by ho nikdy ani nebylo a jako by tam nebyl nikdy ani patřil - - - - - -“ 39 Jordáns Dasein in der Stadt ist von Anfang an dem Untergang geweiht. Bereits mit dem Titel Santa Lucia, der auf den Hafen von Neapel verweist, welcher hier stellvertretend für

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gedehnte, fortwährende Rauschen der Großstadt entgegen, durchbrochen vom scharfen Quietschen der Wagenräder, dann von irgendwelchen dunkel dröhnenden Hämmern, dem Gepolter der Wagen, dem trockenen Krachen der Kutschen, dem Pfeifen und Hupen der Militärsmusik und einem bitterlichen, abgehackten Wehklagen eines irgendwo in der Nähe surrenden Spinnrades. All die Explosionen der Geräusche, das Flüstern der Straßen, der dumpfe Fall der Balken, all die scharfen Erschütterungen von leicht aufgewirbelter und von tausenden Klängen durchströmten Luft, flossen da in einem großen breiten, an manchen Stellen leichter, an manchen kräftiger klingenden Chorall der Städte zusammen, durch den die dort unten angehäuften Wehrn der Menschheit lärmte. SL, S. 276. Dt.: Er sah sich mit gefalteten Händen auf dem Bett – mit einer brennenden Kerze neben dem Kopf. – eine schreckliche, große Angst schüttelte seine faltigen Unterhosen und ein neuer Strom zitternder, eisig heißer Wellen rann seinen Körper hinab bis zu seinen klappernden Fersen. Er steht über dem Grab seines eigenen Körpers, er erschauerte selbst vor seinem eigenen Gedanken. Er war nicht bei klarem Bewusstsein. SL, S. 279. Dt.: Das war alles, was man von ihm wusste. Um mehr hat sich niemand geschert. Stumm wie eine Wand, leise wie ein Schatten machte er sich davon aus diesem herrlichen Haus, so als ob er nie gewesen wäre und als ob er nie dort gewesen wäre geschweige denn dort hingehört hätte.

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die Stadt Prag steht, wird die Todesthematik eröffnet. In dem gleichnamigen Volkslied fordert ein Fischer dazu auf, nachts aus dem Hafen aufs Meer hinaus zu fahren. Der Hafen sowie die Fahrt aus dem Hafen können als Todessymbole verstanden werden, die Jordáns Schicksal ankündigen. Insbesondere der Name des Protagonisten selbst ist wohl der augenscheinlichste Hinweis auf seinen Niedergang. Der hebräische Name Jordan leitet sich von dem israelischen Grenzfluss ab und bedeutet sinngemäß übersetzt „der herabsteigende Fluss“. Das Überqueren dieses Grenzflusses stellt das Ein- bzw. Übertreten ins gelobte Land dar und wird somit häufig als Metapher für das Sterben gebraucht. Prag als Santa Lucia erscheint in diesem Sinne als Hafen, von dem aus der Protagonist „über den Jordan geht“. Und so wird auch die Moldau mit ihren rauschenden Wassern zum unheilverkündenden Todesboten [vgl. SL, S. 60 ff.]: A Vltava šuměla jim pod nohama, vody vrážely do tvrdých koz a vlnky žblunkaly pod nimi v náhlých převratech proudu. Vzduchem táhl ostrý vítr, zdvíhal s mostu prach a z prázdna sochy jako černé mrtvoly vyvstávaly po obou stranách mostu. Jordán se ohlédl za sebe a chvatem, jako by ze hřbitova utíkal, běžel na Křižovnické náměstí.40 Die Stadt Prag hat in Mrštíks Santa Lucia viele Gesichter und trägt somit auch unterschiedliche Bedeutungen. Zunächst erscheint sie als verruchte, schwarze Schönheit, einerseits geheimnisvoll und düster, dann wieder strahlend schön und klar. Sie ist wandelbar, je nach Jahres- und Tageszeit ändern sich immer wieder ihre Züge und ihre Erscheinung. Prag ist Jordáns Objekt der Begierde, er sehnt sich nach der Stadt, jedoch bleibt sie für ihn ebenso wie Klára eine unerreichbare Geliebte. In diesem Sinne widerspiegelt das Bild der Stadt auch Jordáns Gefühlsleben, und es lässt sich eine gewisse Analogie zur Befindlichkeit des Protagonisten feststellen: Ist er zu Beginn voller Neugier und Hoffnung in Prag sein Glück zu finden, verliert er sich doch zuneh40

SL, S. 60. Dt.: Und die Moldau rauschte ihnen unter den Füßen, die Wasser stießen gegen harte Pfähle und die kleinen Wellen plätscherten unter ihnen in jähen Wirbeln des Stromes. Durch die Luft zog ein scharfer Wind, erhob den Staub von der Brücke und aus dem Nichts erstanden die Statuen wie schwarze Leichname zu beiden Seiten der Brücke. Jordán blickte hinter sich und mit Hast, so als würde er von einem Friedhof fliehen, rannte er auf den Kreuzherrenplatz.

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mend im Laufe des Romans selbst, bis er schließlich an seiner Einsamkeit erkrankt. Gegen Ende des Romans bricht der Winter in der Stadt ein, und es herrschen eisige Kälte, Regen und Schnee. Prag wird zu einer todbringenden Stadt, an und in der Jordán langsam zugrunde geht. Ein ähnliches Schicksal widerfährt auch der Figur Vilém aus Jiří Karáseks Gotická duše (Die gotische Seele). Mit seiner gotischen Seele hat er eine besondere Affinität für die düstere Seite der Stadt, die auch die Hoffnungslosigkeit seines Innenlebens widerspiegelt. Auch er ist ein Flaneur, der in der im Roman gegenwärtigen Welt am Ende des 19. Jahrhunderts in den Kirchen und Klöstern der Stadt Prag nach der Stimmung des Mittelalters sucht und sich dabei mehr mit den Toten und der Vergangenheit identifiziert als mit seinem gegenwärtigen Leben. Prošel celou Prahou, všemi jejími kostely. Měsíce trvalo, co nepromluvil slova se živou bytostí. Hovořil jen s mrtvými věcmi chrámů, kaplí, hrobek, ambitů. Cítil, že jeho duše ocitla se v očarovaném jich kruhu. Spojoval život s nimi. Navazoval jej k jich mystickému vlivu.41 Von Anfang an wird Vilém von einer starken Melancholie und quälenden Selbstzweifeln geplagt, die in einem engen Zusammenhang mit seiner Identifikation mit dem tschechischen Volk stehen. Er hat das Gefühl, sich von sich selbst zu entfremden („Odcizoval sobě samému duši, stavě proti ní chladný, vypočtený život s maskou lhostejností.“ 42) und wandert mit Vorliebe in der Abenddämmerung ziellos durch die Kirchen und Klöster im Prager Zentrum: „A chodil zase z komnaty do komnaty. A tma ponenáhlu vzrůstala ve všech koutech. A pak přicházela noc.“43

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Karásek ze Lvovic, Jiří: Gotická duše. S. 15. Dt.: Er durchstreifte ganz Prag, mit all seinen Kirchen. Monatelang sprach er kein Wort mit einem lebendigen Geschöpf. Er sprach nur mit den toten Dingen der Kirchen, Kapellen, Grabstätten und der Kreuzgänge. Er fühlte, dass seine Seele in den Zauber ihrer Kreise geriet. Er vereinte sein Leben mit ihnen. Er ver band sich mit ihrem mystischen Einfluss. Ebd. S. 14. Dt.: Er entfremdete sich selbst von seiner Seele, und ersetzte sie durch ein kaltes und berechnendes Dasein mit einer Maske der Gleichgültigkeit. Ebd. S. 55. Dt.: Er ging wieder von Gemach zu Gemach. Und Dunkelheit entwuchs allmählich aus allen Ecken. Und dann brach die Nacht herein.

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Eines Abends verirrt er sich auf dem Petřín und blickt über die Stadt, die im Sonnenuntergang in Flammen unterzugehen scheint: Zabloudil na Petřín a díval se na město […]: dlouho stál, bez myšlenky, se zrakem strnulým... […] Zapadající paprsek slunce rozvířil ve vzduchu zlatý poprašek. A pak zhasínal, a soumrak zastíral tvary. […] Praha, její minulost se rozhovořila ve zvonech, pod padajícím soumrakem... [...] Krvavou záplavou se zardělo nebe. Veliká fantasmagorie zapálených kostelův a vybíjených klášterů vstávala před zraky. Na rudém nebi se rýsoval gigantický černý kalich. Vyšehrad klesal. Zdi Hradčan se řítily. Malá Strana mizela v plamenech. Kartouzský klášter na Újezdě se halil do dýmu požáru. A celá země se chvěla jako zemětřesením. A zase Praha se uklidňovala.44 Die Relation zwischen diesem apokalyptischen Stadtbild und dem Gemütszustand des Protagonisten in Gotická duše wurde bereits im Kapitel Matička Praha und das Bild einer toten Stadt genauer untersucht und interpretiert: Vilém besinnt sich in diesem Moment des (Sonnen-)Unterganges auf die tragische Vergangenheit seines Volkes und seines Landes. Während Jordán zu Prag eine eher persönliche „Beziehung“ pflegt, erscheinen Viléms Trauer und sein Leid zunächst im Zusammenhang mit einer kollektiven Identitätsstiftung. In seiner Trostlosigkeit stellt er eine beispielhafte Figur der tschechischen desillusionierten patriotischen Texte dar. Seine eigene Verlorenheit, das Gefühl der Fremdheit und seine Selbstzweifel stehen mit der Geschichte der Stadt Prag und dem tschechischen Volk in einem konkreten, patriotisch motivierten Zusammenhang und sind der Grund für seine umfassende Desillusionierung: 44

Ebd. S. 38 ff. Dt.: Er verirrte sich auf den Petřín und schaute über die Stadt. […] er blieb dort lange stehen, gedankenlos, mit starrem Blick... […] Der untergehende Strahl der Sonne wirbelte in der Luft eine goldene Staubschicht auf. Und dann erlosch er und die Dämmerung verschleierte die Formen. […] Prag begann in der einbrechenden Dämmerung mit seinen Glocken seine Vergangenheit zu erzählen... […] Ein blutiger Schwall errötete den Himmel. Eine große Phantasmagorie entflammter Kirchen und zerschlagener Klöster erhob sich vor dem Blick. Am roten Himmel zeichnete sich ein riesiger schwarzer Kelch ab. Der Vyšehrad senkte sich. Die Mauern der Prager Burg stürzten zusammen. Die Kleinseite erlosch in Flammen. Das Kartouzský Kloster auf der Újezd hüllte sich in den Rauch des Brandes. Und die ganze Erde erzitterte wie von einem Erdbeben. Und auf einmal beruhigte sich Prag wieder.

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Probudil se z hypnózy. Namáhavě se vracel přítomnosti. Pocítil cizost a nevyjasněnost všeho, něco tvrdého v celém svém vztahu k věcem a oddělenost od ostatního světa. Všechno dávno minulé, co stálo však v pozadí jako neodvratitelný přízrak, tušil teď jako mučivý podklad přítomného žití. Toho, cítil, nebylo možno v tomto městě nikterak se zbaviti. Povstal: byl úplně sám. […] Mrtvé ticho se prostřelo městem. V temnosti kobaltu prohlubovalo se nebe.45 Jedoch erscheint dieses kollektive Schicksal so vereinnahmend, dass nicht nur Prag, sondern auch der Protagonist selbst dem Untergang geweiht ist und in bzw. an der verhängnisvollen Stadt zugrunde geht. Auch in Gotická duše spiegelt sich in der Darstellung Prags das Seelenleben des Protagonisten wider. Vom Petřín aus verliert er sich in seinem Blick über die Dächer und schiefen Schornsteine der Stadt, die in der untergehenden Sonne von Schattenformationen verdunkelt werden. Ergänzt wird dieses Bild synästhetisch durch den metallischen Klang der Glocken, deren Widerhall sich rauschend über die Dächer der Stadt ausbreitet und in ihm Gefühle von großer Schwere und Müdigkeit hervorrufen. Auch in Gotická duše resultiert aus dieser allumfassenden Desillusionierung schließlich das Bild einer toten Stadt: „Mrtvo, věčné mrtvo. […] Šel slavnostně dlažbou mrtvé Prahy.“ 46 Der Stadtraum wird dabei zu einem Gedächtnisspeicher für die Vergangenheit der Stadt und des tschechischen Volkes sowie auch für Viléms eigene Geschichte. Ähnlich wie die Figur Jordán wird Vilém von Krankheit und Fieber geplagt und fühlt sich zunehmend geschwächt und verloren, einsam, kraft- und willenlos. 45

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Ebd. S. 41. Dt.: Er erwachte aus der Hypnose. Mühsam kehrte er in die Gegenwart zurück. Er fühlte die Fremdheit und Unklarheit von allem, irgendetwas Unerbittliches in seiner ganzen Beziehung zu den Dingen und eine Abgesondertheit vom Rest der Welt. Alles was längst vorbei war, stand jedoch im Hintergrund wie ein unabwendbares Schreckgespenst, erahnte er nun, als die qualvolle Grundlage des gegenwärtigen Lebens. Dessen, fühlte er, war es in dieser Stadt unmöglich sich jemals auf irgendeine Weise wieder zu entledigen. Er erhob sich: er war völlig allein. […] Totenstille breitete sich über die Stadt. Der Himmel vertiefte sich in Dunkelheit von Kobalt. Ebd. S. 34 f. Dt.: Tod, ewiger Tod. […] Feierlich ging er über das Pflaster der toten Stadt Prag.

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Er leidet an einem unermesslichen Gefühl der Fremdheit und Einsamkeit und fühlt sich der Welt, in die hinein er geboren wurde, nicht zugehörig: Žil jen, aby se díval do svého nitra. A v dáli, v barevném šumu, byl svět, jehož neznal. Nežil s ostatními. Necítil s nimi. Nemyslil s nimi. Byla lež, co žil. Ano, klame sebe. Byl znepokojen. Ale jak se sblížiti s tím, čemu byl cizí, nevěděl. Vymýšlel si nová slova, by se uspokojil, a nechával dne míjeti za dnem. Nevycházel ze své samoty. Není schopen žiti. Nenarodil se pro život, jako se nenarodí slepec, aby viděl. Marně se nutí vejíti do života. Jest odsouzen státi mimo život.47 Eines Abends will er nach langer Zeit der Krankheit wieder auf die Straße gehen, doch entscheidet er sich doch dagegen und blickt lediglich aus seinem Fenster in die Abenddämmerung: Oko jeho se roztěkalo nad velikým prostranstvím města, jež se jevilo jeho zraku. Bylo to zkamenělé moře střech, zčernalých prejzů, tašek a cihel, rozeznávaných v nejbližším okolí, neurčitých dále, v jediný tón špinavé barvy splynulých nejzáze. Mrtvé vlny, moře vzkypělé, prudce se vzepjavší a jako rázem umrtvené: hned se ukazovaly jako hřebeny vln souběžné pevné čáry v zdánlivém zmatku, rozběhlém do všech směrův obzoru; hned zase místo stlačených střech, že zrak ztrácel linie v roztříštěnosti celku. Byla to jako zděšená tlačenice zmateného davu, panika bojácných zástupů pod přízrakem hrůzy náhle rozlité: ale tlačenice bez hybnosti, výkřiků, němá, z níž měl jen dojem tísně. A vždy více to stoupalo: jakoby se tlačily ohromné zástupy na schodiště, v nesmírnu prostranství položené. Čím dále, tím byla směsice hustší, až

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Ebd. S. 48. Dt.: Er lebte nur, um in sein Inneres zu schauen. Und in der Ferne in farbigem Rauschen, war die Welt, die er nicht kannte. Er lebte nicht mit anderen. Er fühlte nicht mit ihnen. Er dachte nicht mit ihnen. Es war eine Lüge, die er lebte. Ja, er belügt sich selbst. Er war beunruhigt. Aber wie er sich dem annähern sollte, was für ihn fremd war, wusste er nicht. Er dachte sich neue Worte aus, um sich zu befriedigen, und lies Tag für Tag vergehen. Er entkam seiner Einsamkeit nicht. Er war nicht in der Lage, zu leben. Er war nicht zum Leben geboren, so wie ein Blinder nicht zum Sehen geboren war. Vergebens zwang er sich ins Leben einzutreten. Er war dazu verurteilt außerhalb des Lebens zu stehen.

IV Topologie der Entfremdung: Die Stadt als Seelenspiegel

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u čáry obzoru splývalo vše v jediný břidlicový, šedavý pruh, nad nímž už visela kalná vzdálenost oblohy, probodená vztyčenými hroty věží, zchmuřená a kouři zalitá.48 In der Weite des Blickes über die Stadt, die mit einem tosenden Meer verglichen wird, kommt die Vergeblichkeit des menschlichen Daseins zum Ausdruck. Das aufbrausende, stürmische Meer erscheint metaphorisch für eine unbekannte, unkontrollierbare Gewalt, die stärker ist als der menschliche Wille. Auch Vilém entfremdet sich in der Folge zunehmend von der Stadt, während sich seine Krankheit verschlimmert: O ieho nebytí bylo rozhodnuto. To cítil. Poručil jeti domů. Jel týmiž ulicemi. Ale ted ležel na všem smutek a stín. Domy byly zachmuřené. Tváře lidí mrzuté a vrásčité. A mrazilo jej, ač slunce hřálo. Všechen šum ulic byl mu cizí. I hlasy chodcův, i hrkot kočárův, i tepot podkov o dláždění, i písmena obchodních štítů, deštěm setřená. A pak se přihodilo, že zrovna na mostě potkal pohřeb. Díval se na průvod v tak zoufalé skleslosti, jako by mimo něj vezli jeho vlastní mrtvolu.49 48

Ebd. S. 54 f. Dt.: Sein Auge zerfloß über der großen Weite der Stadt, die sich vor seinem Blick offenbarte. Es war ein versteinertes Meer von Dächern, geschwärzten Klosterziegeln, Dachziegeln und Ziegelsteinen, erkennbar in nächster Umgebung, unbestimmt in der Weite, in einem einzigen Ton schmutziger Farbe verschmelzend im Äußersten. Tote Wellen, aufbrausendes Meer, sich heftig aufbäumend und wie plötzlich ersterbend: gleich zeigten sie sich die festen geradlinigen Wellenkämme in scheinbarem Durcheinander, in alle Richtungen des Horizonts verlaufend; gleich wieder statt der in sich zusammengedrückten Dächer, als ob der Blick die Linie in der Zersplitterung des Ganzen verlor. Es war, wie ein erschrockenes Gedränge einer verwirrten Menschenmenge, Panik ängstlicher Massen unter dem Geist plötzlich entströmenden Entsetzens: aber das Gedränge war ohne Bewegung, ohne Schreie, stumm, er hatte davon nur den Eindruck von Beklommenheit. Und immer weiter stieg es empor: als ob sich riesige Menschenmengen auf einer Treppe drängten, in den grenzenlosen Raum gelegt. Je weiter, desto dicker war das Gewimmel, bis zu den Horizontlinien verschmolz alles in einem einzigen schiefer-grauen Streifen, über dem schon die trübe Weite des Himmel schwebte, durchbohrt von hoch aufgerichteten Turmspitzen trübe und von Rauch umgossen. 49 Ebd. S. 60. Dt.: Über sein Nichtsein war entschieden. Das fühlte er. Er befahl nach Hause gefahren zu werden. Er fuhr durch die gleichen Straßen. Aber jetzt lag auf allem Trauer und Schatten. Die Häuser waren düster. Die Gesichter der Menschen mürrisch und runzelig. Und es fror ihn, obwohl die Sonne warm war. All der Lärm der Straßen war ihm fremd. Auch die Stimmen der Fußgänger, auch das Rattern der Kutschen, und das Schlagen der

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Schließlich schwindet sein Lebenswille gänzlich, und wie auch Mrštíks Protagonist stirbt Vilém am Schluss der Erzählung allein und unverstanden. Sowohl in Santa Lucia als auch in Gotická duše wird die Unmöglichkeit verdeutlicht, in Prag glücklich und unbeschwert leben zu können. Die unheilvolle Stadt ist unausweichlich mit einem bedrückenden Gefühl und mit Erkrankung verbunden, welche sich wiederum in schwülen Sommernächten oder im apokalyptischen Bild der Abenddämmerung verdeutlichen: Když přijel do Prahy, úzkost ho neopouštěla. Ještě více se zvyšovala dusnou letní nocí visící strnule nad městem, očekávajícím bouři. Světla žehla doruda v palčivém ovzduší. Hluk prochazečů v ulicích a zpěv z pivnic a hudba plechových nástrojů v restauračních zahradách — — všechno jako by zaznívalo ve vzduchu příliš obtíženém. Činilo všechno zaspalým, bezbranným. Usmrcovalo zvolna, ale neodvratně... A pak jej nebe polekalo zlověstně rudým zážehem. Tušila se v něm rozezlenost blízkých blesků, jež budou přebíhati v divých zásvitech, až ovzduší zhoustne ještě více. I měsíc byl tak nezvykle veliký pod mraky a potemnělý jako měděná deska. Nebyly to chorobné vjemy porušeného organismu? Viděli toto všechno a cítili také ostatní lidé? Pátral úzkostlivě a chtěl čísti v jich tvářích. Ale nedopátral se a nedočetl ničeho.50

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Hufe auf dem Kopfsteinpflaster, auch die vom Regen verwischten Buchstaben der Geschäftsschilder. Und dann geschah es, dass er gerade auf der Brücke auf eine Beerdigung stieß. Er beobachtete die Parade mit solch verzweifelter Hoffnungslosigkeit, als ob sie seine eigene Leiche an ihm vorüber tragen würden. Ebd. S. 72 f. Dt.: Als er nach Prag kam, verließ ihn die Beklommenheit nicht. Sie steigerte sich umso mehr mit den schwülen Sommernächten, die starr über der Stadt hingen, in Erwartung auf den Sturm. Das Licht glühte feuerrot in der hitzigen Atmosphäre. Der Lärm der Spaziergänger in den Straßen und der Gesang aus den Bierschänken und die Musik der Blechinstrumente in den Restaurantgärten — — es war als würde alles allzu bedrückend in der Luft erklingen. Alles erschien eingeschlafen, wehrlos. Allmählich aber unaufhaltsam ausgemerzt... Und dann erschreckte ihn der Himmel mit einer unheilverkündenden feuerroten Zündung. Es lies sich darin der Zorn nahender Blitze erahnen, die in wildem Aufleuchten überlaufen, bis sich die Atmosphäre noch mehr verdichten würde. Auch war der Mond so ungewöhnlich groß unter den Wolken und verdunkelt wie eine Kupferplatte. Waren das nicht die krankhaften Sinneswahrnehmungen eines gebrochenen Organismus? Sahen und fühlten dies alles auch die anderen Menschen? Er spähte bang und wollte in ihren Gesichter lesen. Aber er erspähte nichts und er konnte nichts herauslesen.

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Das Gefühl der Fremdheit und der Entfremdung sind allgegenwärtig und eine endgültige Resignation sowie eine tödliche Erkrankung, die in beiden Werken von Anfang an spürbar sind, scheinen unausweichlich. Vilém fühlt durchweg, dass sich eine Krankheit seiner Seele bemächtigt. Er ist vom Reich der Toten fasziniert und identifiziert sich mit der Vergangenheit mehr als mit der Gegenwart. Während in Santa Lucia der Hafen als Symbol des Todes erscheint, welches Jordáns Untergang ankündigt, wird in Gotická duše das Bild eines stürmischen Meeres zum Todesboten – insofern ähnelt sich auch das Prag-Tableau der beiden Texte in seiner Symbolik. Sowohl Jordán als auch Vilém erscheinen als paradigmatische Prag-Flaneure, die durch die Stadt spazieren, sich in ihren Gassen oder im Blick über die Dächer und Türme verlieren und so im Text ein „Tableau de Prague“ entstehen lassen. In der PragLiteratur des 20. Jahrhunderts erscheint der Flaneur durchaus nicht nur als müßiger Spaziergänger im Sinne Nezvals, der auf der Suche nach magischen Orten, Momenten oder Begegnungen durch das poetisierte Prag lustwandelt. Vielmehr ist es häufig die dunkle Seite der Stadt, die die Figuren anzieht und sie bei Nacht durch die Gassen streifen lässt. Prag ist eine sonderbare Stadt. Und bei Nacht wird sie manchmal ganz sonderbar und unheimlich. Wie alle alten Städte, die eine verworrene und blutige Geschichte haben, wartet sie auf die Nacht um ihren Erinnerungen nachzusinnen. Da treten einem, der verloren durch die Straßen geht, ganz wilde, seltsame Gestalten nahe. Aus den Schatten der alten Türme kamen sie, aus Winkeln, die bei Tag nichts bedeuten, und sie scheinen bleiche Gesichter zu haben und lange blutbefleckte Mäntel, unter denen verborgene Schwerter leise klirren. Auf dem Altstädter Ring sind einmal die Köpfe böhmischer Adeliger gefallen, da gibt es im Nachtwind manchmal ein Gemurmel von Stimmen, und grausame Schatten schleichen die Laubengänge entlang; und wenn einer mit einer leeren Seele des Weges kommt, dann schließen sie sich an ihn und nehmen Besitz von ihr, daß er einen Teil seiner Lebenskraft an sie abgeben muß. Und wenn der Mond hervorkommt, dann senden die höchsten Spitzen der Kirchen einander glänzende Zeichen zu, kurze Blitze über

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die geduckten Dächer der Häuser hin, und das ist die Sprache, in der sie sich zur Nacht verständigen.51 Solche nächtlichen Flaneure finden sich in einem Großteil der Texte, die in der vorliegenden Untersuchung bereits behandelt wurden. So zum Beispiel in Wilhelm Raabes Holunderblüte, in Rainer Maria Rilkes König Bohusch, in Guillaume Apollinaires Le passant de Prague, in Karl Hans Strobls Studentengeschichten, in Franz Kafka Beschreibung eines Kampfes, in verschiedenen Werken von Paul Leppin sowie in Gustav Meyrinks Romanen Der Golem und Walpurgisnacht. Auch in den Prag-Texten aus der zweiten Hälfte des 20. und um die Wende zum 21. Jahrhundert ist die nächtliche Szenerie oft ein entsprechender Rahmen, um eine bedeutungsvolle Stimmung zu evozieren. So zum Beispiel in Egon Bondys Pražský život (Prager Leben, 1951), Bohumil Hrabals Kouzelná flétna (Zauberflöte, 1989), Jáchym Topols Výlet k nádražní hale (Ausflug zur Bahnhofshalle, 1995), Jaroslav Rudišs Potichu (Die Stille in Prag, 2007) oder sogar in Umberto Ecos Prag-Kapitel in Il Cimitero di Praga (Der Friedhof in Prag, 2010). Oft steht in diesem Zusammenhang auch der verweilende Blick über dem Stadtpanorama in der Abenddämmerung, so eben in Mrštíks Santa Lucia, in Gotická duše von Jiří Karásek wie auch in Miloš Martens Nad městem. Mit ihrer düsteren Seite spiegelt die Stadt bei Nacht auch die dunkle Seite der Seele des Helden wider. Zum Beispiel drückt sich auch in Auguste Hauschners Die Familie Lowositz die Erregung und der Ärger der Figur Rudolf in einem ausdrucksstarken Bild der Stadt in der Dämmerung aus. Nach einer Unstimmigkeit in einer Diskussion mit seinem Lehrer Dr. Markus über Schopenhauer läuft Rudolf wütend und blindlings darauf los: Ein Baum gegen den er anstieß, hemmte ihn. Als er den Kopf hob, fiel es ihm auf, in was für einer eigenartigen Beleuchtung die Gegend dalag. Noch kämpften Dämmerung und Dunkel miteinander, das Flimmern der Sterne war noch ohne Kraft. Die Stadt am linksseitigen Ufer wirkte wie eine umrißlose, grau hingestrichene Fläche, mit den aufgesetzten 51

Strobl, Karl Hans: Die Flamänder von Prag. Neuausgabe von Der Schipkapass. KarlsbadDrahowitz; Leipzig 1932. S. 93.

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Glanzlichten der hellen Wohnungsfenster und der Gaslaternen. In den farblos fahlen Fluß fiel nur aus den Brückenkandelabern ein lichter Schein, der sich in dem Gekräusel des Wassers eine aufleuchtende Straße bahnte. Stromaufwärts aber wurde es schon etwas heller. Rechts oben hinter dem Hradschin verkündete ein matter Schimmer den aufgehenden Mond und überrieselte den stolzen Bau der alten Königsburg mit einem Silberschleier. Am fernen Horizont aber schien ein Nordlicht aufzuflammen. Purpurn leuchtete der Himmel, spiegelte sich dunkelrot im Fluß, das Kettenwerk der Brücke hing in schwarzen Bogen zwischen ihnen. [FL, S. 160] Rudolf vermutet zunächst eine Feuersbrunst und begibt sich auf die Suche nach dem Ort der Brandstätte. Tatsächlich handelt es sich jedoch in diesem Fall um ein großes Fest auf der Schützeninsel zum Sterbetag von Jan Hus, also um ein tatsächliches Feuer in der Dämmerung der Stadt, während in vielen anderen Texten die über der Stadt untergehende Sonne häufig das Bild eines Infernos evoziert. Während der nächtliche Spaziergänger in Bewegung ist, sind diese Panoramen Standbilder: Solche Momente sind Ausdruck des Verweilens, ein kontemplatives Innehalten oder Versinken im Blick, der über die Stadt schweift. In den tschechischen patriotischen Texten erscheint Prag im Moment des Abendrots dem Untergang geweiht und spiegelt so die Desillusionierung des Protagonisten über das Dasein des tschechischen Volkes wider. Das Bild einer toten Stadt oder die Allegorisierung Prags als tragischer Mutterfigur sind Ausdruck einer kollektiven Identitätsstiftung. Aber auch in anderen Texten suggerieren die Bilder der Abenddämmerung eine Untergangsstimmung und widerspiegeln vielmehr eine individuelle existentielle Problematik. Nicht etwa die Stadt ist dem Untergang geweiht, sondern das Individuum bzw. die Figur selbst, wie beispielsweise Jordán in Santa Lucia oder Vilém in Gotická duše. So steht die untergehende Sonne und das Licht der Abenddämmerung für die Orientierungslosigkeit des Protagonisten und seine düstere, melancholische Stimmung. Es bleibt also festzuhalten, dass diese literarischen Panorama-Bilder von der Stadt Prag im Sonnenuntergang eine dramatische Untergangsstimmung erschaffen. Diese kann Ausdruck eines kollektiven patriotischen oder eines in-

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dividuellen, persönlichen Gefühls der Orientierungs- und Perspektivlosigkeit bzw. des Niedergangs sein. Prag erscheint dabei abermals nicht unbedingt als tote Stadt, sondern als eine dem Untergang geweihte. Auch in diesem Bild speist sich die Magie aus der Präsenz der Vergangenheit im Stadtbild, die sich vorwiegend in der Architektur ausdrückt. Die Kirchen und Paläste mit ihren Türmen und ihre eindrucksvollen gotischen und barocken Architekturen oder die Karlsbrücke mit ihren jahrhundertealten Heiligenfiguren, all diese Komponenten werfen im Licht der Abenddämmerung Schatten, die als eindrucksvolle und unvergängliche Schatten der Zeit verstanden werden können. Sie werden von einem roten, feurigen Licht überflutet, häufig ist die Luft schwül und stickig und alles wirkt bedrohlich, unheilverkündend, dem Untergang geweiht. Zusätzlich wird dieses Bild häufig synästhetisch gerahmt durch das Läuten und den Klang der Kirchturmglocken, die ebenso an die Vergangenheit gemahnen, so zum Beispiel in Jiří Karáseks Gotická duše oder auch in Rainer Maria Rilkes Gedicht Bei Nacht aus seinem Prag-Zyklus Larenopfer: Bei Nacht Weit über Prag ist riesengroß der Kelch der Nacht schon aufgegangen; der Sonnenfalter barg sein Prangen in ihrem kühlen Blütenschooß. Hoch grinst der Mond, der schlaue Gnom, und neckend streut er das Gesträhne der weißen Silberhobelspäne hernieder in den Moldaustrom. Da plötzlich, wie beleidigt, hat zurückgerufen er die Strahlen, weil er gewahr ward des Rivalen: der Turmuhr helles Stundenblatt.52

52

Rilke, Rainer Maria: Larenopfer. In: Gedichte 1895-1910. Band 1. Hrsg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt am Main, Leipzig 1966. S. 25.

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Wenn die Nacht schließlich hereingebrochen ist, verändert sich dieses Bild, und es offenbart sich mitunter ein sternenklarer Himmel oder ein heller Mondschein über der Stadt. Jedoch untermalen auch diese in der Regel eine eher bedrohliche als romantische Szenerie, so zum Beispiel in Jáchym Topols Výlet k nádražní hale (Ausflug zur Bahnhofshalle): Město se měnilo. V noci nad ním sice stejně samozřejmě jako v desátým století a jako kdykoli jindy visel měsíc v tmavý bráně, někdy plný a oteklý jako tvář opilce, jindy plaval v mracích a nebyl skoro vidět, skleněná cetka, nežhnul, ale stejně doháněl zparchantělé městské psy k šílenství. V tomhle svitu, kdykoli měsíc dosáhl svý chladný intenzity, milenci dopili láhev a vrhli se na sebe, koutky vykousaný z velký lásky, vrahoun otočil kudlou v ráně a zašklebil se, v tomhle světle hodná máma zničehonic provedla svýmu plaváčkovi něco úděsnýho a žlutá síla tekla dolů a stékala na koleje tramvají a vlaků a ty se v té záplavě světla leskly... Pán světa chytil noc ve středu temnoty a obrátil ji naruby jako čerstvě staženou kůži, na nebi hořelo slunce.53 Die Stadt verändert sich zwar unaufhörlich, doch der Mond ist immer noch derselbe wie im 10. Jahrhundert. Er symbolisiert Wechsel, Wandel und Weiterentwicklung, und so wird auch mit dem Beginn der Erzählung Výlet k nádražní hale darauf hingewiesen, dass sich die Zeiten immer weiter verändern, jedoch die Vergangenheit in der Gegenwart für immer präsent bleibt, wie chaotisch die jeweilige Gegenwart in der Stadt auch sein mag.

53

Topol, Jáchym: Výlet k nádražní hale. S. 7. Dt.: Die Stadt veränderte sich. In der Nacht schwebte über ihr zwar freilich der gleiche Mond in der dunklen Pforte wie im zehnten Jahrhundert und wie auch sonst immer, manchmal voll und angeschwollen, wie das Gesicht eines Trinkers, ein andermal schwamm er in den Wolken und war kaum zu sehen, ein gläserner Flitter, er glühte nicht, aber dennoch trieb er die lumpigen Stadtköter zum Wahnsinn. In diesem Licht, wann immer der Mond seine kalte Intensität erreicht hatte, leerten die Liebenden eine Flasche und fielen übereinander her, von großer Liebe aufgebissene Mundwinkel, der Totschläger drehte mit dem Messer in der Wunde und grinste, in diesem Licht vollbrachte eine brave Mama unvermutet an ihrem Schreienden etwas Entsetzliches und die gelbe Kraft floß nach unten und troff auf die Gleiße der Straßenbahn und der Züge und die in diesem überfließenden Licht glänzten... Der Herr der Welt packte die Nacht mitten in der Dunkelheit und drehte sie verkehrt herum wie eine frisch abgezogene Haut, am Himmel brannte die Sonne.

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Während die Standbilder einen Augenblick des Verweilens und der Kontemplation darstellen, befindet sich der nächtliche Spaziergänger auf seinen Streifzügen durch Prag in Bewegung: er irrt umher, gedankenverloren scheinbar ohne Ziel, kehrt in Prager Lokalitäten und Etablissements ein, sucht nach Ablenkung oder gibt sich dem Rausch hin... Ein paradigmatischer nächtlicher Spaziergänger, der in seiner Charakteristik den bereits behandelten Figuren Jordán (Santa Lucia) und Vilém (Gotická duše) ähnelt, ist der Protagonist in Paul Leppins Prager Gespensterroman Severins Gang in die Finsternis (1914). Es ist die Geschichte einer „rastlosen großstädtischen Wanderschaft“54. Der dreiundzwanzigjährige Severin hat sein Studium aufgegeben und arbeitet als Beamter in einem Büro. Fast jede Nacht streift er durch die verwinkelten dunklen Gassen von Prag und die Judenstadt,55 und von Anfang an begleitet ihn dabei eine innere Unruhe und eine besondere Affinität zu den abgelegenen Orte der Stadt: Und es war immer eine gespannte Erwartung, eine krause und absonderliche Neugier, die ihn befiel, wenn er am Abend, vom Schlafe betäubt, auf die Straße trat. Mit weit geöffneten Augen sah er in die Stadt hinein, in der die Menschen sich wie Schattenbilder bewegten. Der Lärm der Wagen, das Gerassel der Straßenbahn mischte sich mit den Stimmen der Leute zu einem harmonischen Brausen, in dem ab und zu ein vereinzelter Ruf oder ein Schrei aufklang, dem er mit einem aufmerksamen Empfinden nachlauschte, als ob ihm eben etwas Besonderes entgangen sei. Am liebsten waren ihm die Straßen, die abseits von dem großen Getriebe lagen. Wenn er die Augen zusammenkniff und durch die halbgeschlossenen Lider schaute, bekamen die Häuser ein phantastisches Aussehn. Dann ging er an den Mauern der großen Gärten vorbei, die sich an die Krankenhäuser und Institute schlossen. Der Geruch des faulenden Laubs und der feuchten Erde schlug ihm entgegen. Irgendwo in der Nähe wußte er eine Kirche. Hier war es schon am frühen Abend leer und nur einige Fußgänger kamen. Severin stand im 54 55

Gauß, Karl-Markus: Erotomane im nächtlichen Prag. In: Die Zeit, 5. Mai 1989, http://www. zeit.de/1989/19/erotomane-im-naechtlichen-prag (zuletzt besucht am 08.03.2017). Auch viele von Paul Leppins Erzählungen behandeln die Judenstadt als nächtlichen Topos des Vergnügens. Vgl. hierzu Kapitel Topos der Vertrautheit: Die Judenstadt als Ort der nächtlichen Vergnügens.

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Schatten der Häuservorsprünge und dachte darüber nach, warum sein Herz klopfe.56 Unmittelbar wird auch der Bezug zwischen der Stimmung des Helden und der Stadt in der Dunkelheit hergestellt: „Lag es an dieser Stadt mit ihren großen dunklen Fassaden, ihrem Schweigen über großen Plätzen, mit ihrer abgestorbenen Leidenschaft? […] Es kam ihm vor, daß ein Bann ihn drückte. Ein böses Verlangen wuchs in ihm auf, den Bann zu lösen und ihn zu wandeln.“ [SGF, S. 12 f.] Unbestimmte Ängste und unstillbare Sehnsüchte quälen den jungen Mann: „Oft glaubte er, an der eigenen Kargheit verzweifeln zu müssen. Es war eine Bitterkeit in ihm, die sich in ohnmächtige Flüche verrannte; und eine Mattigkeit, die nach unseligen Stunden verlangte.“ [SGF, S. 13] Er vereinsamt im Laufe des Romans zunehmend: „Es gab Augenblicke, wo sich sein Herz an der Schwelle dessen glaubte, was er nur dunkel tastend verstand und was für ihn ohne Namen war.“ [SGF, S. 45] In der Dunkelheit führt die Stadt ein gewisses Eigenleben, dessen Severin während seiner Spaziergänge am Tage nicht gewahr wird. Das nächtliche Prag, das über den Protagonisten eine unbestimmte Macht ausübt, erscheint verändert und widerspiegelt die Melancholie und die Trostlosigkeit, die Severin umtreiben: Die Stadt, die er sonst tagsüber oder in den Abendstunden kreuz und quer durchstreift hatte, erhielt eine ungekannte und scheue Macht über ihn. Sie zerrte ihn aus schreckhaften Träumen in ihren Schoß. Dann ging er frierend, die verkohlte Zigarette zwischen den Lippen, an den schlafenden Häusern vorbei, sah in die späten Lichter einsamer Fenster hinein und horchte auf den Gesang der heimkehrenden Schwärmer und auf den schweren Schritt der Schutzleute. Früher war er auch häufig mit weinheißen Augen und ermattet vom Lärm in den Kneipen in den Nachtstunden nach Hause gegangen. Nun merkte er erst den Unterschied. Seine Sinne waren hell und wachsam; er sah, wie die Nacht alle Dinge veränderte, daß sie ein zweites und anderes Leben als am Tage lebten. Er sah, wie sie aus nüchternen und kahlen Plätzen melancholische Landschaften machte, aus engen 56

Leppin, Paul: Severins Gang in die Finsternis. Ein Prager Gespensterroman. Mit einem Nachwort von Hugo Rokyta. Prag 1998. S. 12. Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [SGF] abgekürzt.

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Gassen feuchtwandige Burgverließe. Seine Unrast trieb ihn bis zu der äußersten Grenze der Vorstädte, wo die Zinskasernen in endloser Reihe hintereinander standen, in das fünfte Viertel, in dessen langweilig modernen Straßen man sich bei Lichte verirrte. Hie und da krochen noch ein paar Trümmer der alten Judenstadt aus dem Dunkel hervor, das Kloster der barmherzigen Brüder schob seinen ungeheuern Rumpf gegen die nachrückenden Neubauten, an denen noch die Gerüste hingen. Am Ufer des Frantischek brannten nur ein paar vereinzelte Lampen, und das Wasser des Flusses schlug schwer und ungleichmäßig gegen die Brücke. [SGF, S. 56 f.] Während es ihm im Sommer besser geht, befindet sich Severin in der dunklen Jahreszeit dem Wahnsinn nah, er leidet unter einer ungewissen und furchtbaren Niedergeschlagenheit und streift wie ein rastloses Tier durch die Stadt. Nach einer leidenschaftlichen Liaison mit Mylada wendet diese sich plötzlich wieder von ihm ab und überlässt Severin einem furchtbaren und einsamen Grauen [vgl. SGF, S. 119] und dem Schmerz der Zurückweisung: „vom Jammer vernichtet, lief er durch die Nacht und das Entsetzen kam riesengroß hinter ihm her und er konnte ihm nicht entweichen“ [SGF, S. 119 f.], bis er sich schließlich auf den Feldern hinter der Vorstadt wiederfindet. Der Atem quoll ihm röchelnd aus der Kehle, seine Adern klopften und drohten seinen Hals zu zersprengen. Er riß sich den Kragen auf und allmählich gelang es ihm wieder, sich zu besinnen. Die Wolken, die über den Himmel trieben, zerteilten sich für eine Weile und entblößten den Mond. […] Der Mond verschwand und über den Feldern ballte sich die Finsternis. Severin lief weiter. Immer mehr entfernte er sich von der Stadt und kehrte ihren trüben Lichtern den Rücken zu. Der Nachtwind kämmte seine Haare und griff ihm durch das offene Hemd an seine nackte Brust. […] Eine furchtsame Müdigkeit fesselte seine Füße. [… ] Ein trostloser, mit Geschwüren beladener Haß brach in ihm auf; er hob die Hand und drohte mit der Faust in die Dunkelheit. [SGF, S. 120 f.] In der Zeit, die auf diese Nacht folgt, erleidet Severin einen totalen „Niederbruch“ und seine Lebenskraft „zerbrach und zerbröckelte unter der Gewalt

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einer hoffnungslosen Traurigkeit“ [SGF, S. 121 f.]. Er versinkt in schweren Depressionen: Es war ihm unmöglich, etwas zu tun und zu denken, das nicht zu der selbstquälerischen Lust in einer Beziehung stand, mit der er seinen Schmerz genoß und immer wieder von Anbeginn erneuerte. Ein unbarmherziger und verwahrloster Zorn überfiel ihn nach Stunden einer in sich gekehrten Teilnahmslosigkeit. [SGF, S. 122] Bis zum Morgengrauen irrt er durch die dunklen Gassen der Stadt und droht den Verstand zu verlieren: „Sein Bewußtsein spaltete sich und lebte getrennt von ihm ein selbständiges Leben. Die Vergangenheit und die Gegenwart zogen wie die Bilder eines Panoramas an ihm vorbei und er sah verwundert und willenlos in seine eigene Existenz.“ [SGF, S. 132] Er fühlt sich von Prag verraten: Die Stadt, die er kannte, war anders. -- Ihre Straßen führten in die Irre und das Unheil lauerte auf den Schwellen. […] Überall hatte der Satan seine Fallen aufgestellt. In den Kirchen und in den Häusern der Buhlerinnen. In ihren mörderischen Küssen wohnte sein Atem und er ging in Nonnenkleidern auf Raub aus – […] Es war finster geworden und mit tränenden Lichtern breitete sich Prag zu seinen Füßen. Ein Hund heulte irgendwo und sein angstvolles Gebell hörte sich an, als ob es aus der Tiefe käme, aus einem verschollenen Erdschacht unter den schiefen Gassen des Hradschin – [SGF, S. 134] Paul Leppin beschreibt mit Severins Gang in die Finsternis die dunkle Seite der Stadt. Der Gespensterroman weist starke Parallelen zu Vilém Mrštíks Santa Lucia auf. In sehr anschaulichen Prag-Bildern und Panoramen spiegelt sich das Seelenleben des Protagonisten wider. Auch in Leppins Werk wird der Kontrast zwischen Tag und Nacht entsprechend stark herausgearbeitet: Während die Stadt tagsüber schön, friedlich und zum Flanieren einladend erscheint, wirkt sie nachts bedrohlich, insbesondere im kalten Mondschein. Severin irrt allein und verloren durch die dunklen Gassen und entfremdet sich zusehend von von sich selbst wie auch von allen übrigen Menschen. Darüber hinaus wird bei Leppin ein ähnlicher Gegensatz zwischen Sommer und

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Herbst bzw. Winter herausgearbeitet: Während Severin im Sommer Hoffnung schöpft und zur Ruhe findet, beginnt er in der dunklen Jahreszeit wiederum mit seinen nächtlichen Streifzügen, mit denen auch eine bedrückende und traurige Gemütsstimmung einhergehen. Auch bei Leppin wird in der Figur Mylada die Analogie zwischen der Liebe zu einer koketten, unerreichbaren Frau und der Unmöglichkeit in der Stadt Prag seine Sehnsucht zu stillen und Seelenfrieden zu finden ausgedrückt. So wie Mylada hat auch das nächtliche Prag eine Macht über Severin, der er nicht zu entkommen vermag und die ihn immer wieder zu sich hinunter zieht, bis er schließlich verzweifelt und keinen Ausweg mehr weiß. Dementsprechend gehört auch Severin zu jener jungen, studentischen Generation, die sich laut Mrštíks Figur Hégr in Prag nur dem Nachtleben hingeben und sich vergnügen will und sich dabei zusehends selbst verliert, nicht mehr weiter weiß und halb verrückt wird.57 Severin liebt die Stadt, jedoch scheitert er in seinem Dasein in Prag, weil er den nächtlichen Vergnügungen nicht entkommen kann, die ihm seinen Lebenskräfte rauben. Die Stadt lässt Severin keinen Frieden, und aus der anfänglichen Erwartung und Neugierde werden eine unbestimmte Unruhe, untröstliche Niedergeschlagenheit, quälende Angstzustände, die ihn unausweichlich in den Wahnsinn treiben. Zu Beginn der 1940er Jahre wird der „Noční chodec“ (Nächtlicher Spaziergänger) schließlich wenige Jahrzehnte nach Paul Leppins Roman mit der tschechischen Künstlerbewegung Skupina 42 (Gruppe 42) zu einem regelrechten Programmpunkt. Der künstlerische Fokus dieses Kollektivs richtete sich auf die Stadt und das städtische Leben aus, jedoch stand nicht mehr die mittelalterliche Schönheit Prags im Zentrum der Darstellung. In den Jahren der nationalsozialistischen Okkupation wird es zunehmend schwerer, in der Prag-Literatur die von Nezval beschriebenen „Wunder“ zu entdecken – vielmehr stehen nun die trostlosen Aspekte des Großstadtlebens im Vordergrund. Vorherrschend sind triste Szenerien und die klamme Atmosphäre der Stadtrandviertel oder, wie Angelo Maria Ripellino in seinem Buch Magisches Prag 57

Vgl. Mrštík, Vilém: Santa Lucia. S. 108 f.

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beschreibt, „ein verzweifelter Überdruß, die nackte Angst der Stadt Prag unter der Bedrückung des Protektorats“58: Lattenzäune, Elendsviertel, verfallene Mietshäuser, blatternarbige Mauerwände, tote Stichgleise, Wasserleitungen, Schlachthöfe, Straßenlampen auf hohen Masten, riesige Schutt- und Schrotthalden, Stundenhotels, Ausschänke wie Rattenlöcher, geteerte Pissoirs, Reklameanschläge, bröckelige, fensterlose Seitenmauern baufälliger Häuser59 Nach wie vor ist auch in diesen Stadt-Bildern die Figur des Spaziergängers zentral: Der Flaneur wird in der Skupina 42 zum Symbol menschlicher Existenz in der Stadt, einsam in den Straßen umherirrend. Der Maler František Hudeček hat den nächtlichen Spaziergänger zum vorherrschenden Thema seines Schaffens gemacht und dem Prager Flaneur in den 1940er Jahren einen ganzen Zyklus (Noční chodec) von Gemälden, Aquarellen und Graphiken gewidmet. Auf den Bildern ist jeweils von hinten eine nächtliche Gestalt zu sehen, umgeben von Häusern und Schatten, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Häufig sieht der Nächtliche Spaziergänger taumelnd aus, möglicherweise vom Alkohol berauscht, er hat die Schultern zusammengezogen und hält den Kopf gesenkt, sein Gesicht ist nicht erkennbar. Dunkle und hauptsächlich Blautöne sind dominierend, die den Bildern endgültig den Anstrich der Melancholie verleihen.60 Auch in dem Gedicht Ranní chodec (Morgendlicher Spaziergänger, 1946) von Jiří Kolář, einem Gründungsmitglied der Gruppe 42, kommt die Einsamkeit der Figur des nächtlichen Flaneurs zur Geltung, die sich in Hudečeks Bildern widerspiegelt. Jiří Kolář: Ranní chodec Noc chytá plíseň Hvězdy černají Kouř... 58 59 60

Vgl. Ripellino, Angelo Maria: Magisches Prag. S. 91. Ripellino, Angelo Maria: Magisches Prag. S. 91. Vgl. Abb. 10: Hudeček, František: Noční chodec.

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Rovnou ze srdce nabírat a pít vás Střechy střechy ležácké Pro smutek dány oceáne Bez vrtochu kýlů […] Čekal jsem až se otevřou krámy A plakal jsem Probuď se jednou do mého zpěvu Město Probuď se do mého zpěvu Patřím k pokolení uhlí a cementu V uříceném stínu za sebou slyším míhat se krysyProhnaný smích Sténot prolezlý jak děvka […] Ženy každodenní ženy prubírní ženy řeznické špalky Ženy služky v srdečních krajinách Ženy dělnice bez rukou V zrcadlech výkladních skříní Si vytírají z koutků úst a očí poslední zbytky spánku […] V hodině kdy hudebníci a párkaři skládají V hodině slevování lidských taxíků Když okna ustala v pláči a chrchlotu V hodině vražd loupeží a zrodu básní Byl jsem opět sám. […] Probuď se jednou do mého zpěvu Město tak samo tak smutné Těžce dýchající průchody Se vzdálenou hudbou tam mezi komíny Ženo Na jejíž počest se dějí neštěstí […] Drahá melancholie Viděl jsem tě V dechu kanálů […]

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Probuď se jednou do mého zpěvu Město patřím k tvému pokolení V uříceném stínu... […] Oči chutnají nebe Jazyk kávu Obojí hořké S novinami spadanými před úsvitem na stoly Hraje vítr rukou A zhasíná světla Hlava na hlavě Vzduch zkažený Jak hroznou smrtí končí noc61 In der Ernüchterung des Morgengrauens nach einer durchzechten oder durchwanderten Nacht und der Einsamkeit der frühmorgendlichen Straßen liegt eine unerbittliche Trostlosigkeit – mit der endenden Nacht überkommen den morgendlichen Spaziergänger erneut Bitterkeit und Melancholie. Die Verantwortung dafür wird ähnlich wie in Severins Gang in die Finsternis auch in Ranní chodec den lasterhaften Frauen angelastet, die auch Jiří Kolářs lyrisch61

Kolář, Jiří: Ranni chodec [Morgendlicher Spaziergänger]. In: Ders.: Dílo Jiřího Koláře. Křestný list. Ódy a variace [Jiří Kolářs Werke. Taufschein. Oden und Variationen] Band 1. Prag 1992. S. 61-66. Dt.: Der Schimmel ergreift die Nacht/ die Sterne werden schwarz/ Rauch... Euch direkt aus dem Herzen zu schöpfen und zu trinken/ Dächer Lagerdächer/ Wegen der Trauer dem Ozean gewidmet/ Ohne die Laune von Kielen/ Ich wartete bis die Kramläden aufmachen/ Und weinte/ Erwache einmal in meinem Gesang Stadt/ Erwache in meinem Gesang/ Ich gehöre zur Gattung der Kohle und des Zements/ Im erhitzten Schatten höre ich hinter mir die Ratten huschen/ Durchtriebenes Gelächter/ durchkrochenes Stöhnen wie eine Hure/ alltägliche Frauen probiererische Frauen Fleischerblockfrauen/ Frauen Dienstmädchen in Gegenden des Herzens/ Frauen Arbeiterinnen ohne Hände/ In den Spiegeln der Schaufenster/ wischen sie sich aus den Mundwinkeln und den Augen die letzten Reste des Schlafes […]/ In der Stunde in der die Musiker und Würstchenverkäufer niederlegen/ In der Stunde der Ermäßigung menschlicher Taxis/ Wenn die Fenster im Weinen und Stottern inne hielten/ In der Stunde der Raubmorde und der Geburt der Gedichte/ War ich wiederum allein./ Erwache einmal in meinem Gesang/ Stadt so einsam so traurig/ Schwer atmende Passagen/ Mit ferner Musik dort zwischen den Schornsteinen/ Oh Frau/ Ihr zu Ehren geschehen Unglücke/ Teure Melancholie Ich habe dich gesehen/ Im Atem der Kanäle/ Erwache einmal in meinem Gesang Stadt/ Stadt ich gehöre zu deinem Geschlecht/ im erhitzten Schatten/ Die Augen kosten den Himmel/ Die Zunge den Kaffee/ Beides ist bitter/ Mit der vor dem Morgengrauen auf die Tische gefallenen Zeitung/ Spielt der Wind mit der Hand/ Und das Licht erlöscht Kopf auf Kopf Verdorbene Luft/ Welch schrecklicher Tod beendet die Nacht.

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em Ich keinen Frieden lassen und es zu verführen trachten. Sowohl die Stadt als auch die Frau werden im Gedicht im Vokativ angesprochen („Město“; „Ženo“), woraus sich wiederum eine Analogie zur Stadt als einer unheilvollen Frauengestalt ableiten lässt, die in einem untrennbaren Zusammenhang mit der allumfassenden Niedergeschlagenheit steht. Auch der Vers „Stadt ich gehöre zu deinem Geschlecht“ erinnert an die patriotische Literatur der Jahrhundertwende und die Semantisierung Prags als Mutterstadt (Matička Praha). Am Ende des Gedichtes steht nicht etwa der Anbruch eines neuen Tages, sondern der Tod, der die Nacht beendet. Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beherbergt das Prag der Literatur unzählige nächtliche Spaziergänger. Beispielsweise in Michal Ajvazs Druhé město (Die andere Stadt62, 1993): Der Roman begleitet einen Ich-Erzähler auf der Suche nach einer geheimen „anderen Stadt“ bei seinen nächtlichen Streifzügen durch Prag. In einem Antiquariat kauft er ein Buch in einem lila Einband mit einer unbekannten Schrift, die in der Nacht zu leuchten beginnt. Er begibt sich auf die Suche nach dem Geheimnis dieses Buches und gerät er immer tiefer in eine geheime Welt im Jenseits, verborgen an unbekannten Orten und in den Tiefen der Stadt Prag. Jedes Kapitel beschreibt die Ereignisse einer Nacht und trägt als Titel den Ort, an dem es spielt, so zum Beispiel V univerzitní knihovně (In der Universitätsbibliothek), Petřín (Laurenziberg), Malostranská kavárna (Kleinseitner Kaffeehaus), Karlův most (Karlsbrücke), Obchod v Maislově ulici (Geschäft in der Maiselgasse) oder Schody (gemeint sind die Nuselské schody – die lange Treppe, die den unteren Teil von Vinohrady mit dem Stadtteil Nusle verbindet). Es sind verschiedene Orte in Prag, an denen er zufällig vorbeikommt oder die er aufgrund von Hinweisen auf den Spuren nach der mysteriösen anderen Stadt aufsucht. Mit wenigen Ausnahmen befinden sich diese Orte in einem relativ kleinen Radius in der Altstadt, rund um das Klementinum63, auf der Kleinseite und auf dem Hradschin. Jedoch sind es weniger die klassischen Prager Sehenswürdigkeiten, die 62 63

Der Roman Druhé město wurde bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt und der Titel kann im Deutschen entweder mit Die zweite oder Die andere Stadt wiedergegeben werden. In dem ehemaligen Jesuitenkolleg mitten in der Altstadt befindet sich heute die tschechische Nationalbibliothek und verschiedene andere wissenschaftliche Institute.

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die Schauplätze von Druhé město darstellen, als scheinbar unbedeutende Orte, die in der Nacht mit ominösem Leben erfüllt werden. Prag gleicht so einem geheimnisvollen, winterlich verschneiten Labyrinth, das der Erzähler jede Nacht auf der Suche nach der anderen Stadt durchstreift. Der Grundgedanke von Druhé město ist an den Magischen Realismus angelehnt, der davon ausgeht, dass hinter der erfahrbaren Welt noch eine andere, zweite (druhé) Realität existiert. So verbindet auch die andere Stadt reale Orte mit einer „magischen Realität“: Je možné, že v naší těsné blízkosti existuje svět, který tak překypuje podivným životem, který tu snad byl dříve než naše město a o kterém přitom vůbec nevíme? Čím víc jsem o tom přemýšlel, tím víc jsem připouštěl, že to docela dobře možné je, že to odpovídá našemu způsobu života, tomu, jak žijeme uvnitř vymezených kruhů, které se bojíme opustit. Cítíme úzkost z temné hudby, která se ozývá z druhé strany hranice a která rozleptává náš řád, máme strach z toho, co se rýsuje v přítmí koutů, nevíme, jestli to jsou rozbité, rozpadající se tvary našeho světa, nebo zárodky nové fauny, která jednou promění města ve své loviště, předvoj armády monster, která číhavě pomalu táhne našimi byty. Proto raději nevidíme tvary, které se zrodily na druhé straně, a neslyšíme zvuky, které v noci znějí za zdmi, skutečné je pro nás jen to, co vrostlo do našeho světa, co se spojuje s ostatními věcmi a událostmi v těch několika hrách, jež monotónně opakujeme a o jejichž vnitřních souvislostech mluvíme jako o příčině, důvodu, smyslu;64 64

Ajvaz, Michal: Druhé město [Die andere Stadt]. Prag 1993. S. 58. Es handelt sich bei der vorliegenden Ausgabe um eine Auflage, die Ajvaz später als unfertig bzw. nicht korrigiert bezeichnet hat. Der Roman wurde in einer überarbeiteten Version 2005 neu herausgegeben. Dt.: Möglicherweise existiert in unserer unmittelbaren Umgebung eine Welt, die so reich an wunderlichem Leben ist, die hier vielleicht schon vor unserer Stadt war und über die wir zugleich überhaupt nichts wissen? Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr musste ich zugeben, dass es ziemlich gut möglich wäre, dass das unsere Lebensweise widerspiegeln würde, und zwar insofern, dass wir in einem abgegrenzten Kreis Leben, den zu verlassen wir uns fürchten. Wir fühlen die Beklommenheit aus der dunklen Musik die von der anderen Seite der Grenze widerhallt und die unsere Ordnung verätzt, wir haben Angst davor, was sich im Halbdunkel der Ecken abzeichnet, wir wissen nicht, ob es zerstörte, zerfallene Gestalten unserer Welt oder die Ursprünge einer neuen Fauna sind, die einmal die Stadt in ihren Jagdgrund verwandeln werden, die Vorhut einer Armee von Monstern, die langsam lauernd in unsere Wohnungen zieht. Deswegen sehen wir die Gestalten lieber nicht, die auf der anderen Seite geboren wurden, und wir hören die Laute nicht, die in der Nacht hinter

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Während die „reale“ Welt, in der der Mensch eingeschlossen ist, eng und beschränkt ist, entzieht sich der Raum hinter den Grenzen der erfahrbaren Oberfläche seiner Wahrnehmung.65 In der anderen Welt gelten eigene Gesetze, sie ist ein wilder Dschungel, magisch und geheimnisvoll, voller seltsamer Festlichkeiten, Lebewesen, Geräuschen und Stimmen: Existuje pro nás jen to, co se včleňuje do her, které hrajeme: není divu, že nic nevíme o světě, který se prostírá za okrajem prostoru těchto her; asi bychom si jej nevšimli, ani kdyby pořádal své slavnosti přímo uprostřed našeho denního shonu.66 Im Prinzip ist Druhé město die konsequente Fortführung von Nezvals Gedanken der Poetisierung der realen Welt: Ajvazs Ich-Erzähler hält sich an Orten auf (oder geht an ihnen vorüber), die ihm seit langer Zeit vertraut sind und die er gut zu kennen glaubt. Doch plötzlich ereignen sich dort unwahrscheinliche und seltsame Dinge, die sich nicht rational nachvollziehen lassen, und so erscheinen ihm die Orte plötzlich ganz anders, wie magisch verändert. Das Konzept von Druhé město erinnert an die künstlerische Strömung des Magischen Realismus, der den Dingen ein Eigenleben zuschreibt, ähnlich wie für Nezval die Stadt Prag durch ihre Literatur belebt wird. Beide Ideen gehen davon aus, dass Dingen und Orten ein eigener Geist bzw. ein gewisses Eigenleben innewohnt – ein genius loci67. Als Flaneur bewegt sich der Erzähler in Druhé město auf unterschiedliche Arten durch Prag. Zumeist geht er zu Fuß, jedoch setzt er sich von Zeit zu Zeit auf unvermutete Weise in Bewegung. So verfolgt er zum Beispiel eines Nachts eine Gruppe von maskierten Menschen, die jeder einen toten Fisch

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den Wänden erklingen, wirklich ist für uns nur das, was in unsere Welt hineingewachsen ist, was sich mit den anderen Dingen verbindet und mit den Geschehen in diesen wenigen Spielen, die wir monoton wiederholen und über deren innere Zusammenhänge wir sprechen wie über die Ursache, den Grund, den Sinn; Ajvaz, Michal: Druhé město. Vgl. S. 59. Ebd. Dt.: Für uns existiert nur das, was in die Spiele, die wir spielen eingegliedert ist: kein Wunder, dass wir nichts über die Welt wissen, die sich über den Rand des Raumes dieser Spiele erstreckt; wahrscheinlich würden wir sie auch nicht bemerken, wenn sie ihre Feste mitten in unserem täglichen Trubel abhalten würden. Vgl. hierzu auch Kapitel Das Gedächtnis der Orte und die Lesbarkeit der Stadt.

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bei sich tragen, und findet sich plötzlich zusammen mit ihnen in einer Warteschlange vor einem Skilift wieder.68 Dieser beginnt in der Altstadt beim Klementinum und zieht den Erzähler durch ein Labyrinth enger und kleiner Höfe und Gassen durch das nächtlich verlassene Prag69: durch die Seminařská-Gasse, über den Kreuzherrenplatz und die Karlsbrücke auf die Kleinseite, durch die Nerudagasse bis hinauf zum Hradschin. In einer anderen Nacht fliegt er über die Stadt, nachdem er von einem Verkäufer in einem geheimnisvollen Geschäft Tropfen gegen schlechte Laune bekommen hat: letěl jsem v mrazivé noci opuštěnými ulicemi, podél řad tmavých oken, […] nabral jsem výšku a letěl jsem nad zasněženými střechami, kolem komínů, ze kterých stoupaly úzké proužky kouře z kamen dohasínajících ve tmě ztichlých pokojů, […] zvolna se otáčeje kolem své osy jsem prolétal podél zdi Klementina, podél dlouhé řady zrůdných obličejů v hlavicích pilastrů. Nad zpěněným jezem jsem přeletěl tmavou řeku; když jsem míjel malostranský chrám svatého Mikuláše, obletěl jsem tělo žraloka, ztuhlé mrazem, zamáchal jsem rázněji rukama a začal jsem stoupat nad strmými střechami a úzkými temnými dvorky na Hrad.70 Und wieder ein anderes Mal fliegt er auf einem Betttuch über die Stadt. 71 Durch diese ungewöhnlichen Arten sich fortzubewegen gelangt der Erzähler meist in die andere Stadt bzw. offenbart sie sich so seiner Wahrnehmung. Diese seltsam traumartigen Szenen, in denen er durch bzw. über das nächtliche Prag schwebt, spielen sich nicht nur an versteckten Orten ab, sondern be68 69 70

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Vgl. Ajvaz, Michal: Druhé město. S. 52 ff. Vgl. ebd. S. 54. Ebd. S. 87 f. Dt.: ich flog in der eisigen Nacht durch verlassene Straßen, entlang an Reihen von dunklen Fenstern, […] ich gewann an Höhe und flog über den verschneiten Dächern, vorbei an Schornsteinen aus denen schmale Rauchstreifen aus glühenden Steinen in der Dunkelheit verstummter Zimmer stiegen, […] langsam drehte ich mich um die eigene Achse als ich an der Wand des Klementinums entlang flog, entlang der langen Reihe monströser Gesichter in den Kapitellen der Wandpfeiler. Ich überquerte das schäumenden Stauwehr des dunklen Flusses; als ich an der Kleinseitener Kirche des heiligen Nikolaus vorbeiflog, umkreiste ich die Körper der Haifische, steif vom Frost, ich wedelte energisch mit den Armen und begann über die steilen Dächern und die schmalen dunklen Höfe des Schlosses aufzusteigen. Vgl. ebd. S. 101 ff.

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leben und verändern die Stadt auf magische Weise. Sie zeigen Prag von einem anderen Blickwinkel, wobei auch diese Streifzüge den gewohnten Aktionsradius des Protagonisten zwischen der Altstadt und dem Hradschins kaum erweitern. Tatsächlich wird in Druhé město ein magisches Prag dargestellt – magisch insofern, als sich in der Stadt Szenen ereignen, die die Grenzen des Wahrscheinlichen überschreiten. So zum Beispiel entdeckt er eines Nachts, dass die Heiligenfiguren auf der Karlsbrücke innen hohl sind und sich dort ein seltsames Eigenleben abspielt: „Jak je to zvláštní, celý život jsem chodil skoro každý den po Karlově mostě a nikdy jsem si nevšiml, že podstavec sousoší je otevírací. Za dvířky byl vyhloubený prostor, vycházelo z něho světlo a dopadlo na sníh.“72 Der Erzähler denkt über die Bewohner der anderen Stadt nach, die sich in allen Ecken und Winkeln des wahrnehmbaren Raumes angesiedelt haben und nun auch Räume bevölkern, die man gar nicht für belebt gehalten hätte: „Přitom musíme počítat s tím, že nastane čas, kdy se tenký povrch věcí prodře a děrami, které se v něm objeví, na nás zamžourají zkoumavé oči lemurů vnitřků.“73 In der Statue der Heiligengruppe Barbara, Margarethe und Elisabeth zum Beispiel befindet sich sogar eine steinerne Bar: Před sousoším se na sněhu vratce tyčily čtyři vysoké barové stoličky. V otvoru v podstavci bylo vidět horní polovinu těla barmana v bílém saku, za ním stály na policích pečlivě vyrovnané řady lahví, nahoře v dutých tělech soch svítila barevná barová světla. […] Barman před něho postavil na kamenný pult sklenici s černým nápojem, ze kterého stoupala světélkující fialová pára. Usadil jsem se na vedlejší stoličce, opřel se loktem jedné ruky o barový pult a druhou rukou jsem uneseného zatahal za rukáv.74 72

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Ebd. S. 93. Dt.: Wie seltsam es doch ist, mein ganzes Leben bin ich fast jeden Tag über die Karlsbrücke gegangen und niemals ist mir aufgefallen, dass der Sockel der Statuengruppe sich öffnen lässt. Hinter dem Türchen war ein ausgehöhlter Raum, aus dem Licht auf den Schnee fiel. Ebd. S. 94. Dt.: Dabei müssen wir damit rechnen, dass eine Zeit kommen wird, in der sich die dünne Oberfläche der Dinge durchscheuert und sie uns durch die Löcher, die in ihnen zum Vorschein kommen, mit forschenden Augen der Lemuren aus dem Inneren anblinzeln. Ebd. S. 95 f. Dt.: Vor der Figurengruppe ragten im Schnee vier wackelige hohe Barhocker empor. In der Öffnung des Sockels war die obere Hälfte des Körpers des Barmanns in einem weißen Sakko zu sehen, hinter ihm standen in einem Regal sorgsam aufgereihte Flaschen, oben in den hohlen Körpern der Stauen leuchtete ein buntes Barlicht. […] Der Barmann stellte auf die steinerne Theke ein Glas mit einem schwarzen Getränk vor ihn, aus

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Auf der Suche nach der anderen Stadt verliert sich Ajvaz’ Ich-Erzähler gewissermaßen zunehmend selbst – er ist wie besessen von der Vorstellung, den Eingang in diese Welt zu entdecken und scheint dabei zu vergessen, dass es sinnlos ist, nach einem Übergang zu suchen 75: Häufig wird er ermahnt, dass nur wer aufhören würde nach dem Mittelpunkt der Stadt zu suchen, ihn auch finden könne.76 Jedoch ist die Anziehungskraft der anderen Stadt sehr stark und die Suche nach einem Zustand, in dem man nicht mehr sucht, indessen ein Teufelskreis: v mém životě popraskaly všechny souvislosti, stal se nahodilou tříští, všude trčí rozbité fragmenty, jejichž ostré hrany se mi neustále zařezávají do kůže, každá vteřina je novým, ničím nepodepřeným začátkem, kdy se na mne řítí ze tmy úplně neznámý svět, na který nejsem vůbec připravený; těžko mohu zapomenout na ztracený střed, když všechny otevřené rány volají po jednotě, která ze středu tryská.77 Gegen Ende des Romans schließlich überredet der Erzähler einen wissenschaftlichen Mitarbeiter im Klementinum, in dem sich einer der Eingänge in die andere Welt befindet, ihm diesen zu zeigen. Der Bibliothekar führt ihn entlang der Bücherregale tief in die Bücherei, die sich allmählich in einen Urwald verwandelt. Die Seiten der Bücher werden zu Blättern von Pflanzen, es fließt ein Fluss so breit wie die Moldau, und er wird dort von wilden Tieren verfolgt. Der Erzähler gelangt zu einem Steintempel, an dem ihm der Wächter seine Erkenntnisse über die andere Stadt erläutert: To, co hledáš, nemůžeš nikdy najít. [… ] Není žádné město autochthonů, je nekonečný řetěz měst, kruh bez počátku a konce, kterým se

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dem ein lila phosphoreszierender Dampf aufstieg. Ich setzte mich auf den Hocker neben ihn, stützte mich mit einem Ellenbogen auf die Bartheke und mit der anderen Hand zupfte ich ihn begeistert am Ärmel. Vgl. ebd. S. 66. Vgl. ebd. S. 82 ff. Ebd. S. 83. Dt.: In meinem Leben platzten alle Zusammenhänge, es wurde zu willkürlichen Splittern, überall ragen zerbrochene Fragmente hervor, deren scharfe Kanten mir unaufhörlich in die Haut schlitzen, jede Sekunde ist ein neuer, bodenloser Anfang, in dem aus der Dunkelheit diese völlig unbekannte Welt auf mich zurast, auf die ich überhaupt nicht gefasst bin; wie soll ich da den verlorenen Mittelpunkt vergessen, wenn alle offenen Wunden nach der Einheit rufen, die aus der Mitte sprudelt.

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lhostejně přelévá měnící se vlna zákonů. Je město-džungle a město, kde lidé obývají pilíře vysokých viaduktů křižujících se v nesčetných nadjezdech a podjezdech, město z pouhých zvuků, město v bažině, město hladkých bílých koulí pomalu se kutálejících na betonu, město skládající se z bytů, které jsou roztroušené po několika světadílech, město, kde z tmavých mraků neustále padají sochy a tříští se o dlažbu, město, kde dráha měsíce vede vnitřkem bytů. Všechna města jsou si navzájem středem a okrajem, počátkem a koncem, mateřským městem a kolonií.78 Nikam nechoď, každá krajina je počátkem i koncem, každé město je stejnou měrou fantasmagorií šíleného snu i nudnou skutečností. Město, ve kterém žiješ, není o nic méně snem a halucinací než město mramorových tygrů na malachitové pláni, na jejichž bocích svítí jako drahokamy kapky rosy, když na horizontu vychází rudé slunce. Vrať se do svého snu, obětuj bohům ze svého snu, používej snové stroje rotující a kmitající v bizarním snu techniky, v omamném a neuvěřitelném baletu. […] Vrať se domů… Anebo se nevracej, procházej z města do města, projdi řetězcem měst. Oboje vyjde nastejno... 79 Die nihilistische Erkenntnis des Eremiten erklärt alles, was der Mensch erlebt, zu einem Traum, einer Halluzination oder Phantasmagorie und verneint somit jeglichen Versuch einer Sinngebung oder Sinnsuche des menschli78

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Ebd. S. 147 f. Dt.: Das, was du suchst, kannst du niemals finden. […] Es ist keine Stadt von Autochthonen, es ist eine unendliche Kette von Städten, ein Zyklus ohne Anfang und Ende, durch die gleichgültig die sich wandelnde Welle der Gesetze fließt. Es ist ein Stadt-Dschungel und eine Stadt, wo die Menschen die Säulen der hohen Viadukte bewohnen, die sich in unzähligen Über- und Unterführungen kreuzen, eine Stadt aus bloßen Geräuschen, eine Stadt im Sumpf, eine Stadt kalter, weißer Kugeln, die langsam auf dem Beton rollen, eine Stadt, die aus Wohnungen besteht, die über mehrere Kontinente verstreut sind, eine Stadt, in der aus dem Dunkel der Wolken unaufhörlich Statuen fallen und auf dem Pflaster zerspringen, eine Stadt in der die Bahn des Mondes in das Innere der Wohnungen führt. Alle Städte sind sich gegenseitig Mittelpunkt und Peripherie, Anfang und Ende, Mutterstadt und Kolonie. Ebd. S. 149. Dt.: Geh nirgendwohin, jedes Land ist der Anfang und das Ende, jede Stadt ist das gleiche Maß einer Phantasmagorie eines irrsinnigen Traumes und langweiliger Wirklichkeit. Die Stadt, in der du lebst, ist nicht weniger ein Traum und eine Halluzination, als die Stadt der marmornen Tiger auf einer Ebene von Malachit, an deren Seiten Tautropfen wie Edelsteine glänzen, wenn am Horizont die roten Sonne aufgeht. Kehr in deinen Traum zurück, opfere den Göttern aus deinem Traum, gebrauche aufs Neue rotierende und vibrierende Maschinen in bizarren Technikträumen, in einem betäubenden und unglaublichen Ballett. […] Geh zurück nach Hause... Oder geh nicht zurück und spaziere von Stadt zu Stadt, durchquere die Kette von Städten. Beides kommt aufs Gleiche heraus...

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chen Daseins, so auch die Suche des Ich-Erzählers nach der anderen Stadt. Zuletzt wird dieser von einer Einwohnerin aus der anderen Stadt fortgejagt. Auf der Flucht findet er sich auf einmal in einem Zimmer ohne Fenster mit einer alten grauhaarigen Frau wieder, die vor sich sorgfältig geordnete Rollen Toilettenpapier liegen hat: „Byl jsem na záchodcích v suterénu kavárny Slávie.“80 Der Ausgang aus der anderen Stadt befindet sich in der Toilette des Café Slavia, einem der berühmtesten Kaffeehäuser in Prag und einem bekannten literarischer Topos. In Ota Filips gleichnamigem Roman stellt es zum Beispiel für den Protagonisten Graf Belecredos den sicheren Hafen dar, einen Zufluchtsort vor der unerbittlichen großen Geschichte. Es ist ein klassischer, beinahe kitschiger Topos, den Ajvaz hier gewählt hat, um den Protagonisten aus der anderen Stadt wieder nach Prag zurückkehren zu lassen. Verzichtet der Roman sonst weitestgehend auf die charakteristischen „magischen“ Schauplätze, so ist das Café Slavia der Ort, an dem der Erzähler am Ende seiner Suche schließlich ankommt. Obwohl er zunächst zum Ausgang hinaus eilen will, beschließt er, sich dort hinzusetzen und einen Kognak 81 zu trinken, weil er vom Umherirren im Dschungel der anderen Stadt erschöpft ist und sich nun auch in Sicherheit vor seiner Verfolgerin wähnen kann. 82 An diesem Punkt im Café Slavia wird die Suche nach der anderen Stadt und somit die nächtlichen Streifzüge durch Prag beendet: Mit dem Entschluss, sich im Café hinzusetzen setzt er auch seinem Umherirren einen Schlusspunkt. Er gelangt selbst zu der Erkenntnis, dass es gut ist, wieder in seine Welt zurückzukehren, zumal man, um tatsächlich in die andere Welt zu gelangen, auch davon überzeugt sein muss, von dort niemals wieder zurückzukehren: Teď jsem věděl, že do druhého města může vstoupit jen ten, kdo odchází s vědomím, že cesta, na kterou se vydává, nemá žádný smysl, protože smysl znamená místo ve tkáni vztahů vytvářejících domov, že dokonce není ani nesmyslná, protože nesmyslnost je jen doplňkem smyslu a patří do jeho světa.83 80 81 82 83

Ebd. S. 151. Dt.: Ich befand mich auf der Toilette im Kellergeschoss des Café Slavias. Ebenso begibt sich Ota Filips Figur Graf Belecredos jeden Mittag um zwölf Uhr ins Café Slavia um dort einen Kognak zu trinken. Vgl. Ajvaz, Michal: Druhé město. S. 151. Ajvaz, Michal: Druhé město. S. 154 f. Dt.: Jetzt wusste ich, dass die andere Stadt nur derje-

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Diese Einsicht gleicht einer Selbst(wieder)findung – war der Protagonist zunächst wie besessen davon, das Geheimnis der anderen Stadt zu ergründen und ist unzählige Nächte durch Prag geirrt, so befindet er es am Ende für gut, im Diesseits zu bleiben. Ajvazs Ich-Erzähler stellt sich somit als einer der wenigen Prag-Flaneure heraus, die sich in Prag nicht gänzlich verlieren, sondern am Ende wieder zu sich selbst finden. Der nächtliche Prag-Flaneur unterscheidet sich vom gewöhnlichen städtischen Müßiggänger, indem er nicht etwa zum Vergnügen ziellos durch die Stadt spaziert. Seine Streifzüge durch die Dunkelheit widerspiegeln vielmehr eine Suche nach etwas Unbestimmten oder bis zu einem gewissen Grad einen Selbstverlust bzw. eine existentielle Krise. Sowohl Leppins Figur Severin als auch Jordán aus Santa Lucia, Karáseks Vilém werden von einer unbestimmten Sehnsucht und Unruhe geplagt, die sie nachts hinaus in die Prager Gassen drängt, in denen sie umherirren oder sich gar verirren. Auch die Nachforschungen von Ajvazs Ich-Erzähler über die andere Stadt sind in gewisser Hinsicht eine unbestimmte Suche, da es zum einen sinnlos ist, nach der anderen Stadt zu suchen und er zum anderen auch nicht genau weiß, wonach er sucht und meist eher zufällig oder aufgrund von unbestimmten Hinweisen Bruchstücke des Geheimnisses lüftet. So berührt der Stadttext in seiner Mehrdeutigkeit, wie es die Literaturwissenschaftlerin Daniela Hodrová beschreibt, die unergründlichen Peripherien der anderen Stadt. Gemeint ist hier der gigantische Hypertext der Stadt, der durch seine permanente Offenheit und Beweglichkeit als Zeichensystem für den Leser zum Labyrinth wird.84 Die andere Stadt ist für das Individuum auch mit einem anderen Geisteszustand verbunden: Periferie nese pečeť ‚divočiny‘ podsvětí, jež s nocí vychází na povrch, divočiny jiného města, jež je vždy nějak spjata se smrtí. Divoké, jiné město […] je ambivalentním, nebezpečným prostorem a stavem, který

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nige betreten könne, der mit dem Bewusstsein fortgeht, dass der Weg, auf den er sich begibt keinen Sinn hat, weil Sinn bedeutet einen Ort im Gewebe der Beziehungen geformter Heimaten, was am Ende gar nicht mal sinnlos ist, weil die Sinnlosigkeit ist nur der Nachtrag des Sinnes und gehört in seine Welt. Hodrová, Daniela: Citlivé město. S. 220. Vgl hierzu auch Kapitel Das Gedächtnis der Orte und die Lesbarkeit der Stadt.

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chodci hrozí zblouděním, neporozuměním, smrtí. Zároveň je však líhní znaků, jimiž se město, ve dne omílané všedním provozem, v noci a v jiném stavu vědomí obnovuje ve vší své záhadnosti.85 Im nächtlichen Spaziergänger und dessen unbestimmtem Umherirren offenbaren sich nicht nur „Entfremdungsgefühle in der Beziehung zwischen Subjekt und Metropole“86, sondern vielmehr eine Entfremdung des Subjekts von sich selbst. Prag als Topos ist ein Ort der sukzessiven Selbstentfremdung, und die nächtliche Flanerie, insbesondere eine nicht zielgerichtete, ist demzufolge die symptomatische Bewegungsart für diesen Prozess. Sie steht für eine zuweilen rastlose Identitätssuche und ein Sich-Verlieren, so wie sich auch der Flaneur in der Stadt verliert oder verirrt. Das Spazieren durch die Prager Gassen und der Blick über die hunderttürmige Stadt sind mitunter Ausdruck einer Kontemplation, einer Reflektion über das eigene Dasein. Bricht jedoch die Nacht über Prag herein, wird der nächtliche Spaziergänger wie von einer unbestimmten Macht durch die Stadt getrieben, ohne dass er sich dessen unbedingt bewusst ist. Dieses Umherirren wird oft von fiebrig beklemmenden Seelenzuständen begleitet; Melancholie, Niedergeschlagenheit und Ernüchterung begleiten den Spaziergänger indessen im Morgengrauen, wenn die Stadt langsam wieder erwacht. Häufig werden auch die bedeutungstragenden Gegensätze von etwa Tag und Nacht oder Sommer und Winter deutlich herausgearbeitet. In einem engen Zusammenhang damit steht die Bedeutung des Lichts – während Prag im hellen Sonnenschein schön und freundlich erscheint, bestimmen in der Dunkelheit scheinbar auch finstere Mächte die Stadt. In manchen dieser Prag-Tableus ist es abermals die Präsenz der Vergangenheit, die Ursache für die starken Selbstzweifel und die Entfremdung des Sub85

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Hodrová, Daniela: Citlivé město. S. 119. Dt.: Die Peripherie trägt das Siegel der ‚Wildnis‘ der Unterwelt, welche mit der Nacht an die Oberfläche hinaustritt, die Wildnis einer anderen Stadt, die immer irgendwie mit dem Tod verbunden ist. Die wilde andere Stadt ist ambivalent, ein gefährlicher Raum und Zustand, der dem Fußgänger mit dem Verirren, mit Unverständnis, dem Tod droht. Gleichzeitig ist es jedoch eine Brutstätte von Zeichen, mit denen sich die Stadt, am Tag abgeschliffen vom Alltagstrott, in der Nacht und in einem anderen Geisteszustand in all ihrer Rätselhaftigkeit erneuert. Keidel, Matthias: Die Wiederkehr der Flanerie. S. 12.

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jekts von sich selbst ist. Allerdings ist es nicht unbedingt die Geschichte der Stadt, die dessen Identitätskrise auslöst, sondern vielmehr ein individueller Sinnverlust oder Auseinandersetzung mit sich selbst. Oft werden auch einzelne Frauenfiguren oder die Frau an sich als Unheilsbringerinnen dargestellt, denen ein erheblicher Teil der Verantwortung für den Untergang bzw. Selbstverlust des Protagonisten unterstellt wird. Diese Frauenfiguren können wiederum als Allegorisierung der Stadt Prag verstanden werden. In vielen Texten jedoch bleiben die tatsächlichen Gründe für die unergründlichen Selbstzweifel und den Selbstverlust unbestimmt und im geheimnisvollen Dunkel der Stadt verborgen.

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1.2 Le passant de Prague: Der ewig wandernde Jude als ewiger Flaneur Einer der möglicherweise bekanntesten Prag-Flaneure, der insbesondere auch den Themenbereich des „jüdischen“ Prags tangiert, entstammt einem Text, auf den im Zusammenhang mit der Prag-Literatur des 20. Jahrhunderts immer wieder referiert wird: Guillaume Apollinaire hat mit seinem Prager „Passanten“ einen Mythos erschaffen – Le passant de Prague gilt für viele Prager Schriftsteller der 1920er Jahre als Inspirationsquelle. Der französische Surrealist indessen stellt für die tschechische Avantgarde eine Schlüsselfigur dar, mehr noch: „die tschechischen Autoren [waren] von dem großen Neuerer der Poesie [...] wie besessen“ 87. Walter Schamschula bezeichnet ihn in seiner Geschichte der tschechischen Literatur sogar als Auslöser der Bewegung der Moderne in der tschechischen Hauptstadt. Der Aufenthalt Apollinaires in Prag im Jahr 1902 hat einen tiefen Eindruck hinterlassen. So hat zum Beispiel der tschechische Nobelpreisträger Jaroslav Seifert ihm als Person eine Ode (Guillaume Apollinaire in Na vlnách T.S.F., 1925) und seinem Besuch im berühmten Café Slavia das Gedicht Kavárna Slávie gewidmet. Vor allem die Avantgardegruppierung Devětsil (Pestwurz), die sich ab den 1920ern in verschiedenen Verbänden offiziell der Organisation des künstlerischen Lebens widmete, betrachtete den Franzosen als Leitfigur. Sie waren inspiriert und fasziniert von Apollinaires moderner und schöpferischer Poesie, die für sie Paris und auch Prag in neuem und frischen Glanz erscheinen lies. Apollinaire selbst hat über seinen Aufenthalt in Prag zwei kürzere Texte verfasst – zum einen kurz nach einem Besuch der böhmischen Hauptstadt die Erzählung Le passant de Prague (1902)88 und einige Jahre später das Gedicht Zone (1912). Insbesondere Le passant de Prague ist ein sehr charakteristischer, möglicherweise sogar wegweisender Prag-Text, der viele Themen- und Motivbereiche des Prag-Mythos implizit oder explizit behandelt. Die kurze Erzählung beschreibt den Eindruck eines Reisenden vom Prag der Jahrhundertwende – ein zunächst scheinbar kulturell aufgeschlossener und interessierter Ich-Erzähler 87 88

Schamschula, Walter: Geschichte der tschechischen Literatur. Band III. S.14. Apollinaire, Guillaume: Der Wanderer von Prag. In: Einladung nach Prag. Hrsg. von Traugott Krischke. Übersetzung von Walther Widmer und Paul Noack. München 1966. S. 307317. Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [PdP] abgekürzt.

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kommt in die Stadt und trifft zufällig auf den Ewigen Juden Isaak Laquedem, der ihn zu einem Spaziergang durch die Stadt einlädt. Apollinaire selbst hielt sich im März 1902 einige Tage in Prag auf und hat die Erzählung im Anschluss innerhalb kurzer Zeit konzipiert, da sie bereits am 1. Juni desselben Jahres in der La Revue blanche erschienen ist. Man kann daher davon ausgehen, dass Le passant de Prague autobiographisch inspiriert ist. Auch anhand von Reisenotizen lässt sich nachvollziehen, dass der Text auf Apollinaires eigenen Reiseeindrücken basiert.89 Offenbar war er von der hedonistischen Lebenslust und Ungezwungenheit der Tschechen, insbesondere von der Prager Halbwelt beeindruckt: Prague. Putanisme, […] ville juive se transforme le soir en bordel […] Folies caprice: aux hôtel on dort avec femme si on veut. […] bohémiens ou […] putes en chemise presque toutes tchèques quémandent - offrent pimpam mégères maquerelles aux portes.90 Die im Text beschriebenen Ereignisse wirken zunächst authentisch. Die Erzählung beginnt folgendermaßen: „Im März 1902 war ich in Prag. Ich kam aus Dresden. Von Bodenbach, der österreichischen Zollgrenze, an zeigte mir das Benehmen der Bahnbeamten, daß die deutsche Schroffheit im Reich der Habsburger nicht existiert.“ [PdP, S. 307] Das Geschehen wird also von einem Erzähler-Ich genau datiert und realtopographisch situiert. Auch wenn sich der Erzähler nicht explizit mit Apollinaire identifiziert, wird deutlich, dass es sich um die „Stimme“ 91 des Autors handelt. Es gibt im Text verschiedene Hinweise, die auf eine Identität zwischen Autor und Erzähler schließen lassen, so zum Beispiel die französische Herkunft oder den Wohnort Paris. Die fiktive Welt ist zunächst in mimetisch konsistenter Darstellungsweise entworfen, und so erscheint das anfänglich beschriebene Geschehen authentisch und wahrscheinlich. Im Text werden verschiedene Prager Realien bzw. Themenbereiche der Jahrhundertwende thematisiert, so zum Beispiel die Mehr89 90 91

Vgl. Notes et Variantes. In: Apollinaire, Guillaume: Œuvres en prose. Textes établis, présentés et annotés par Michel Décaudin. Paris 1977. S.1112-1117, hier S. 1113. Apollinaire, Guillaume: Notes et Variantes. S. 1113. Nach der Einteilung der Erzähltheorie von Gèrard Genette handelt es sich hierbei um eine autodiegetische Erzählerstimme.

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sprachigkeit und das Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die Prager Judenstadt mit ihren Einwohner:innen und Bordellen, sowie die Kaffee- und Wirtshauskultur. Der Chronist Vladimír Diviš92 rekonstruiert sogar anhand der Erzählung Apollinaires Aufenthalt in Prag. Anhand der beschriebenen, größtenteils real existierenden historischen Prag-Orte und Denkmäler (so zum Beispiel die Hauszeichen und ihre Jahreszahlen) lässt sich sogar die Route seines Spaziergangs recht genau nachvollziehen. Prag wird zunächst als Habsburgische Vielvölkerstadt erkennbar – der Bahnhofsbeamte am „Franz-Josef-Bahnhof“ [PdP, S. 307], wie der Hauptbahnhof in der Zeit der Monarchie hieß, trägt ein „nicht gerade reizvolles österreichisches Käppi“ und die „Herumlungerer“ vor dem Bahnhof werden „mit italienischer Unterwürfigkeit“ und „unverständlichem Deutsch“ [PdP, S. 307] charakterisiert. Auf der Suche nach einem Logis begibt sich der Reisende in die „alten Straßen“ [PdP, S. 307] der Innenstadt: Einer etwas unpassenden, aber sehr bequemen Gewohnheit folgend, wenn man eine Stadt nicht kennt, wandte ich mich an einige Passanten um Auskunft. Zu meinem Erstaunen verstanden die ersten Fünf kein Wort Deutsch sondern nur Tschechisch. Der sechste an den ich mich wandte, hörte mich an, lächelte und antwortete französisch: ‚Sprechen Sie französisch, Monsieur, wir verabscheuen die Deutschen mehr als es die Franzosen tun. Wir hassen diese Menschen, die uns ihre Sprache aufzwingen wollen, die unsere Industrie und unsere Bodenschätze ausbeuten wollen, deren Ergiebigkeit alles hervorbringt, Wein, Kohle, Edelsteine und Metalle, alles außer Salz. In Prag spricht man nur Tschechisch. Aber wenn Sie Französisch sprechen, werden diejenigen, die Ihnen antworten können, das mit Freude tun.‘ [PdP, S. 307]

92

Diviš, Vladimír: Apollinaire. Chronik eines Dichterlebens. Deutsch von Eliška Glaserová. Prag 1966. Der Chronist Vladimír Diviš schreibt, dass es über Apollinaires Reise durch Böhmen keine nachweisbaren Belege gibt, lediglich in den Erinnerungen von André Billy, einem engen Vertrauten von Apollinaire, ist vermerkt, dass jener während seines zweitägigen Aufenthaltes in Prag sich lediglich von Camembert ernährte (Hermelin) und das er größtenteils zu Fuß und ohne Geld reiste.

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Dem Ich-Erzähler schmeicheln die Begeisterung, die er in den Straßen von Prag für die französische Kultur und Sprache erfährt, und die „böhmischen Sympathien, die sich bei dieser Gelegenheit kundtaten“ [PdP, S. 308]. Er begibt sich auf einen Spaziergang: „Ich hatte die Absicht, so lange es noch hell war, spazierenzugehen und anschließend in einem böhmischen Gasthaus zu essen. Meiner Gewohnheit nach fragte ich einen Passanten.“ [PdP, S. 308] So macht er schließlich Bekanntschaft mit einer seltsamen Gestalt, mit der auch das Element der Befremdung in die Erzählung tritt: „Ich bin zwar wie Sie fremd, kenne aber Prag und seine Schönheiten so gut, daß ich Sie einlade, mich durch die Stadt zu begleiten.“ [PdP, S. 308] Gemeinsam spazieren die beiden durch Prag und der Ich-Erzähler betrachtet unterwegs „diesen Menschen“ [PdP, S. 308] eingehend: Er schien mir um die Sechzig zu sein, aber noch rüstig. Seine Kleidung, soweit sie zu sehen war, bestand aus einem langen kastanienfarbenen Mantel mit Otterkragen und einer schwarzen Stoffhose, die so eng anlag, daß sich die sehr muskulösen Waden abzeichneten. Er trug einen breiten schwarzen Filzhut, wie ihn oft die Professoren haben. Über seine Stirn lief ein schwarzes Seidenband. Seine Schuhe aus weichem Leder, ohne Absätze, dämpften seine gleichmäßigen und langsamen Schritte, wie bei einem, der einen langen Weg vor sich hat und am Ziel noch nicht ermüdet sein will. […] Ich prüfte die Einzelheiten seines Profils. Fast verschwand sein Gesicht in der Fülle des Kinn- und Schnurrbartes und der übermäßig langen, aber sorgfältig gekämmten Haare, weiß wie Hermelin. Dennoch sah man seine dicken, violetten Lippen. Behaart und krumm stach die Nase hervor. [PdP, S. 308 f.] Der Fremde erzählt ihm lauter wundersame Dinge, sodass der Franzose ihn zunächst für einen Verrückten hält: „Erschrocken horchte ich auf und dachte, ich hätte es mit einem Verrückten zu tun.“ [PdP, S. 309] Es stellt sich hingegen heraus, dass er eine Legendengestalt ist: „Ich bin der umherirrende Jude. Sie haben es zweifellos schon erraten. Ich bin der Ewige Jude – wie mich die Deutschen nennen. Ich bin Isaak Laquedem.“ [PdP, S. 310] Durch diese Figur verbindet sich die mimetisch dargestellte Stadt der Jahrhundertwende im Text mit der Prager Legendenwelt. Zwar handelt es sich bei diesem Mythos

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des ewig wandernden Juden nicht um einen Stoff aus der Böhmischen Mythologie, sondern um eine christliche Volkssage aus dem 13. Jahrhundert. Jedoch soll sich dieser der Legende nach im Jahr 1602 in Prag aufgehalten haben, also genau 300 Jahre bevor Apollinaire selbst dort war. Somit ist er Teil des Prag-Mythos. Im Laufe der Handlung wird der Ich-Erzähler nun Zeuge wunderlicher Ereignisse. Der ewig wandernde Jude erscheint in Le Passant de Prague als Prag-Flaneur. Zunächst ist die Figur an sich ein Symbol des vermeintlich heimatlosen jüdischen Volkes.93 Der Erzähler hält ihn für eine sinnbildhafte Legendengestalt: „Ich meinte […] Sie würden nicht existieren, Ihre Legende schien mir, wäre ein Symbol für Ihre umherirrende Rasse.“ [PdP, S. 312] Laquedem stellt sich daraufhin vor, indem er auf die Chronik der literarischen Zeugnisse und Überlieferungen seiner eigenen „Geschichte“ [PdP, S. 311] verweist. Die Aufzählung literarischer Verarbeitungen des Stoffes wirkt beinahe wie ein Lexikoneintrag. Der tatsächliche Ursprung der Legende des Ewigen bzw. des Wandernden Juden geht zurück auf das Neue Testament. Weiterhin sind ab dem späten Mittelalter verschiedene literarische Belege im gesamten mitteleuropäischen Raum zu finden.94 Der Stoff erfährt im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Bearbeitungen, sodass es gibt keine einheitliche Ausdeutung der Legende gibt. Im Allgemeinen ist die Figurenkonzeption des Ewigen Juden als ein Motiv des Wanderns zu verstehen. In früheren Versionen wird diese Verdammnis zum ewigen Wandern meist als Leidensweg dargestellt. Von Reue, Ruhe- und Rastlosigkeit getrieben, hat der Jude das persönliche Ziel, den erlösenden Tod zu finden.95 Günther A. Höfler untersucht in seinem Aufsatz „Unsterblich fremd“ das Ahasvermotiv: „Die Bestimmung Ahasvers ist Fremdsein als Strafe“96. Der Legende nach geht der Ewige Jude auf eine Figur 93

94 95 96

Zur Stereotypisierung der Juden als einem heimatlosen und leidenden Volk vgl. auch die ‚Kapitel ‚Tripolis Praga‘? Zur Konstruktion nationaler und kultureller Identität und Nationale Identitätskonstruktion und damit einhergehende Stereotypisierung am Beispiel von Auguste Hauschners Die Familie Lowositz“. Vgl. Frenzel, Elisabeth: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 1998. S. 16-22 (Eintrag: Ahasver). Vgl. beispielsweise Der ewige Jude (Eine lyrische Rhapsodie) von Christian Friedrich Daniel Schubart: Werke. Weimar 1959. S. 19. Höfler, Günther A.: Unsterblich fremd. Uneigentliche Aspekte des Ahasvermotivs. In: Der

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zurück, die Jesus auf seinem Weg nach Golgotha verweigerte, sich vor seinem Haus auszuruhen und daraufhin mit einem Fluch belegt wurde, der ihn überall wo er hinkam zum ewigen Fremden machte. Höfler hinterfragt die Art und Schwere dieser auferlegten Strafe, die sich auf ein ein gängiges antisemitisches Feindbild zurückführen lässt: „Der Jude“ erscheint häufig stereotyp als Schuldiger, der hinter allem Übel dieser Welt steckt, ohne weitere konkrete oder rechtfertigende Begründung für diese Schuldzuweisung. So erscheint auch der ewig fremde Ahasver als die Personifizierung „jüdischer Schuldhaftigkeit“97. Gleichwohl wird die Behandlung dieses Stoffes auch als Hinweis auf eine „weltoffene Haltung einzelner Figuren“98 gelesen. Mit dem Durchbruch der Moderne erfährt schließlich auch die Bearbeitung dieses Sujets einen Wandel. Der Ewige Jude wird zu einer „Allegorie des Schicksals bzw. zu der des ruhelosen modernen Menschen schlechthin“99. Anstelle der bis dahin weitgehend „weltanschaulich-didaktischen Funktion“ des Stoffes tritt vielmehr eine „poetisch vermittelte Alterität“100: In dieser Funktion exemplifiziert er auf mannigfaltige Weise soziale Wurzellosigkeit sowie individuelle und kulturelle Identitätsbrüche. Die Ahasvergestalt wird zum bevorzugten Medium der Illustration existentieller Beunruhigungen und weltanschaulicher Irritationen jener Umbruchzeit. Sie kann sowohl das archaische Fremde verkörpern als auch das Befremdende an der Moderne.101 In Apollinaires Le passant de Prague findet eine Neubewertung dieser alten Stereotype statt: Laquedem wandert nicht, um den erlösenden Tot zu finden, sondern vielmehr flaniert er aus Lebensfreude und empfindet seine Wanderungen als glücklich, und auch dem Franzosen erscheint er „erfreulich lebUmgang mit dem ‚Anderen‘. Juden, Frauen, Fremde... Hrsg. von Klaus Hödl. Wien; Köln; Weimar 1996. S. 11-22, hier S. 13. 97 Höfler, Günther A.: Unsterblich fremd. S. 16. 98 Daemmerich, Horst S. und Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. Basel 1995. S. 372 (Eintrag: Wanderer). 99 Höfler, Günther A.: Unsterblich fremd. S. 11. 100 Ebd. 101 Ebd. S. 22.

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haft“ [PdP, S. 313]. Der Ewige Jude hat es aufgegeben zu bereuen und betrachtet es gegenwärtig als eine Ehre, der einzige Zeuge der Gegenwart Christi auf Erden und ein Betrachter der gesamten Menschheitsgeschichte [vgl. PdP, S. 313] sein zu können. Er bezeichnet sich zwar selbst als fremd [vgl. PdP, S. 308], indessen bewegt und verhält er sich in Prag jedoch wie ein Einheimischer. Für den Erzähler dagegen bleibt der Jude ein Faszinosum. Er beschreibt die äußere Gestalt der Figur sehr detailliert und verfolgt gebannt dessen Erzählungen. Immer wieder ist er überrascht vom optimistischen Wesen Laquedems. Der Ewige Jude ist für den Ich-Erzähler sowohl Inbegriff des Fremden als auch das Vorbild eines glücklichen, unabhängigen Menschen, der weder Angst vor dem Tod hat, noch die Unsterblichkeit fürchtet: Ich habe mich an mein Leben ohne Ende und ohne Ruhe gewöhnt, denn ich schlafe nicht, ich gehe ohne Unterlaß, und ich werde noch gehen, wenn die fünfzehn Zeichen des Jüngsten Gerichtes erscheinen. Aber ich gehe keinen Leidensweg, meine Wanderungen sind glücklich. Als unsterblicher und einziger Zeuge der Gegenwart Christi auf Erden, bestätige ich den Menschen die Wirklichkeit des göttlichen Dramas und des Erlösers der auf Golgatha starb. Welch ein Ruhm! Welch eine Freude! Aber seit neunzehn Jahrhunderten bin ich auch ein Betrachter der Menschheit, die mir größtes Vergnügen bereitet. Meine Sünde, Monsieur, war die Sünde eines Genies, und ich habe es längst aufgegeben, sie zu bereuen. [PdP, S. 313] Laquedem führt den Franzosen auf dem Spaziergang durch Prag an verschiedene Orte, die den Tod repräsentieren: Er zeigt ihm das Grab des Astronomen Tycho de Brahe, die Altstädter Aposteluhr, an der der Sensemann seitlich des Ziffernblattes am Strang der Glocke zieht102, und die königlichen Gräber und das des heiligen Nepomuk im Sankt Veitsdom auf dem Hradschin. Die Begegnung mit Laquedem stellt für den Erzähler eine Schwellenerfahrung dar, in der er mit dem Tod und mit der Unsterblichkeit konfrontiert wird. Die Faszination der Figur des Ewigen Juden liegt zum einen in ihrer prototypischen Fremdheit und zum anderen in ihrer Unsterblichkeit. Ein zentrales Thema, das sich durch Apollinaires Œuvre zieht, ist der Mensch, der den Tod 102 Vgl. Abb. 8: Die Prager Rathausuhr am Altstädter Ring.

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nicht kennt.103 Im Text ist nicht nur der Jude unsterblich: Der Erzähler glaubt sein Ebenbild in einem Amethysten wiederzuerkennen, den ihm Laquedem in der Sankt-Wenzels-Kapelle des Veitsdomes zeigt. Darin spiegelt sich „ein Gesicht mit blitzenden, irren Augen“ [PdP, S. 313] wider, von dem man behauptet, es sei die Maske Napoleons: ‚Das ist mein Gesicht‘, schrie ich, ‚mit meinen dunklen, eifersüchtigen Augen!‘ Und es stimmt. Es ist da, mein Leidensportrait, nahe der Bronzetür, wo der Ring hängt, an dem der heilige Wenzel sich festhielt, als er gefoltert wurde. Ich war bleich und unglücklich, mich irr gesehen zu haben, ich, der ich solche Angst hatte, es zu werden. [PdP, S. 313] Der Erzähler projiziert die Eigenschaften, die er eigentlich dem Ewigen Juden zugeschrieben hat, nun auf sich selbst – in Wahrheit ist er ein leidender und unglücklicher Umherirrender, geplagt von Selbstzweifeln, Traurigkeit, Angst. Die Figur Laquedem führt dem Franzosen wie ein Seelenspiegel sein eigenes Unglücklichsein vor Augen. Obwohl er der vermeintlich unglücklichen und umherirrenden „Rasse“ [vgl. PdP, S. 312] angehört, erfüllen ihn Lebenslust und Zufriedenheit und er versucht immer wieder den Franzosen aufzuheitern und zu begeistern: Lachen Sie doch! Haben Sie keine Angst, weder vor der Zukunft noch vor dem Tod. Nie ist man sicher, daß man wirklich stirbt. Glauben Sie wirklich, nur ich würde nie sterben? […] Gibt es nicht viele Menschen auf der Welt, die glauben, Napoleon lebe noch? […] Vielleicht werden auch Sie nicht sterben. [PdP, S. 314] Auch von der böhmischen Lebensfreude kann sich der Franzose nicht anstecken lassen. Als er zusammen mit Laquedem in einem Wirtshaus einkehrt, wird dort ausgelassen musiziert und getanzt, geplaudert, gegessen und getrunken: Die drei Musikanten machten einen Teufelskrach und begleiteten sehr intensiv das Paprikagulasch, die Schwenkkartoffeln, gemischt mit Kümmelkörnern, das Brot mit Mohnkörnern und das bittere Pilsner Bier, das man uns servierte. […] Die Musiker spielten und sammelten dann ein. 103 Vgl. beispielsweise die Erzählung Der verwesende Zauberer.

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Währenddessen war der Saal angefüllt mit den kehligen Lauten seiner Gäste, alles Böhmen mit Kugelköpfen, runden Gesichtern und Himmelfahrtsnasen. Laquedem redete selbstsicher. Ich sah, daß er auf mich deutete. Man sah mich an; einer kam, drückte mir die Hand und sagte: ‚Vive la Frantzé!‘ Die Musik spielte die Marseillaise. Allmählich füllte sich das Wirtshaus. [PdP, S. 314] Laquedem verachtet die „Zurückhaltung“ des Franzosen [PdP, S. 315], während er sich selbst der allgemeinen Heiterkeit hingibt und ungezwungen mit der hübschen Wirtstochter tanzt oder sich später am Abend in einem Bordell der Judenstadt vergnügt: Er holte sich eine üppige Ungarin. Bald entblößt, zog er das Mädchen fort, das vor dem Alten Angst hatte. Sein beschnittenes Glied erinnerte an einen Knotenstock oder eine der farbigen Stangen der Rothäute, die mit Ocker, Scharlach und dem Violetten eines Gewitterhimmels bemalt sind. Nach einer Viertelstunde kamen sie wieder. Das Mädchen, müde, verliebt, dennoch schaudernd, schrie in deutscher Sprache: ‚Er ist die ganze Zeit gewandert, er ist die ganze Zeit gewandert!‘ [PdP, S. 315] Der Ich-Erzähler bleibt indessen nur Beobachter der Ereignisse. Obwohl ihm in Prag in Bezug auf sein Dasein als Franzose von allen Seiten Sympathien entgegengebracht werden, ist er geplagt von unbestimmten Selbstzweifeln. Diese werden insbesondere in Apollinaires zweitem Text über seinen Aufenthalt in Prag deutlich von 1912: Zone Tu es dans le jardin d’une auberge aux environs de Prague Tu te sens tout heureux une rose est sur la table Et tu observes au lieux d’écrire ton conte en prose La cétoine qui dort dans le cœur de la rose Épouvanté tu te vois dessiné dans les agates de Saint-Vit Tu étais triste à mourir le jour où tu t’y vis Tu ressembles au Lazare affolé par le jour Les aiguilles de l’horloge du quartier juif vont à rebours

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Et tu recules aussi dans ta vie lentement En montant au Hradchin et le soir en écoutant Dans les tavernes chanter des chansons tchèques104 In Zone empfindet das lyrische Ich zunächst angesichts der Schönheit der Welt ein Glücksgefühl. Doch die Vergänglichkeit und der Tod scheinen dieses immer wieder zu trüben, und das lyrische Ich wird unvermittelt von Schrecken und tiefer Traurigkeit heimgesucht. Prag fungiert für Apollinaire als Seelenspiegel – die Stadt vermittelt dem Subjekt das Gefühl, wie Lazarus von den Toten auferweckt worden zu sein. Somit wird auch in diesem kurzen Text die Thematik der Unsterblichkeit aufgegriffen. Das lyrische Ich fühlte sich offenbar vorübergehend seines Lebens enthoben und kehrt nur langsam wieder zurück. Allerdings wirkt diese Rückwärtsbewegung schwerfällig, so wie der steile Aufstieg auf den Hradschin, und insofern unnatürlich, als man sich im Leben in gewisser Hinsicht vorwärts und nicht rückwärts bewegt. Diese existentiellen Problematiken sind für die Prag-Literatur des gesamten 20. Jahrhundert charakteristisch: Das Subjekt ist in den Topographien der Stadt Prag starken Selbstzweifeln ausgesetzt, möglicherweise auch einem kompletten Selbstverlust oder wenigstens einer intensiven Konfrontation mit sich selbst. In diesem Zusammenhang steht auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – sei es mit der eigenen oder mit der Geschichte der Stadt. Apollinaires Prag-„Passanten“ (sowohl der Ich-Erzähler in Le Passant de Prague als auch das lyrische Ich in Zone) können in diesem Sinne als paradigmatische Prag-Figuren verstanden werden: Sie sind Flaneure, die sich auf ihren Wegen durch die Stadt mit sich selbst konfrontiert sehen. Tatsächlich erscheint ihnen der Quarz im Veitsdom wie ein Spiegel, in dem sie sich wie104 Apollinaire, Guillaume: Œuvres poètiques. Préface par André Billy, texte établi et annoté par Marcel Adéma et Michel Décaudin. Paris 1965. S. 42. Deutsche Übertragung von Peter Salomon (München 2007): Du bist in dem Garten eines Gasthofs in der Umgebung von Prag/ Du fühlst dich sehr glücklich eine Rose steht auf dem Tisch/ Und du beobachtest anstatt an deinem Roman zu schreiben/ Den Goldkäfer der schläft im Herzen der Rose/ Entsetzt siehst du dich gespiegelt in den Achaten von Sankt-Veit/ Du warst todtraurig an dem Tag als du dich dort sahst/ Du gleichst dem Lazarus der in den Tag vernarrt ist/ Die Zeiger der Turmuhr im Judenviertel gehen rückwärts/ Und auch du gehst langsam in dein Leben zurück/ Aufsteigend zum Hradschin und abends lauschend/ Wie man in den Schenken tschechische Volkslieder singt.

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derzuerkennen glauben. Auch die Figur Laquedem fungiert als (umgekehrter) Seelenspiegel – während der ewig wandernde Jude mit sich und seinem Schicksal glücklich ist und dem Franzosen rät, weder Angst „vor der Zukunft noch vor dem Tod“ [PdP, S. 314] zu haben, plagen diesen umfassende Selbstzweifel. Er ist unglücklich und leidet unter Gefühlen wie Eifersucht oder der Angst irr zu werden [vgl. PdP, S. 313]. Auch Vítězslav Nezval, einer der führenden Prager Surrealisten und ein großer Bewunderer Apolliniares widmet dem Franzosen und diesem charakteristischen Gefühl des Selbstverlustes in Prag die letzten Worte in seinem Pražský chodec (Der Prager Spaziergänger). Nezval bezeichnet die Stadt symbolisch als einen magischen Spiegel aus verstaubtem Kristall, in dem sich der Mensch verirrt und gleichzeitig wiederfindet, so wie sich auch der Ich-Erzähler in Le passant de Prague in dem Amethysten widerspiegelt: Prag, ich drehe dich zwischen meinen Fingern wie einen Amethyst. Aber nein. Ich gehe nur und erblicke in dem magischen Spiegel aus verstaubtem Kristall, der Prag ist, die Erregung eines Menschen, dem es zum Schicksal wurde, sich zu finden und zu irren, sich dadurch zu finden, daß er irrte.105 In Le Passant de Prague verabschiedet sich der Franzose schließlich von Laqedem mit den Worten: „Adieu, Ewiger Jude, glücklicher Reisender ohne Ziel! Ihr Optimismus ist nicht alltäglich und die, die Sie als bleichen und von Gewissensbissen gepeinigten Abenteurer darstellen, sind verrückt.“ [PdP, S. 316] Mit diesem Text wird die Legende des Ewigen Juden im Prag der Jahrhundertwende neu ausgelegt: Die Darstellung des leidtragenden gepeinigten Juden, der auf der Suche nach Erlösung niemals zur Ruhe kommt, ist im Zeitalter der Moderne überholt. Die Unmöglichkeit des Stillstandes und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sind Merkmale der modernen Großstadt. In diesem Lebensraum findet sich der ewig wandernde Jude wieder, er widerspiegelt in gewisser Hinsicht die Erfahrungen des modernen Großstadtmenschen und des großstädtischen Lebens: Die Heterogenität und Multikontextualität dieses sozialen Umfeldes lässt dem einzelnen Subjekt kaum mehr 105 Nezval, Vítězslav: Der Prager Spaziergänger. S. 165.

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Raum, um zur Ruhe und zu sich selbst zu finden. Diese Unsicherheit spiegelt sich wiederum in der Figur des Franzosen wider. Weiterhin erscheint das Motiv der Wanderschaft in „direktem Zusammenhang mit Stationen der Lebensfahrt in thematischen Darstellungen der Selbstverwirklichung und des Reifens“106. Das Motiv der ewigen Wanderschaft steht somit wiederum im Kontext der Unsterblichkeit. Die Unmöglichkeit des Stillstandes führt Apollinaires ewig wandernder Jude ins Absurde, indem er ausschließlich alle Tätigkeiten im Gehen verrichtet: Laquedem liest im Gehen, er isst ohne sich zu setzen, und manchmal liebt er sogar im Gehen [vgl. PdP, S. 313]. Die Figur kann schließlich auch als ein Symbol für die Stadt Prag verstanden werden: Mit seiner Unsterblichkeit ist er gewissermaßen ein Speicher der Geschichte, er ist Zeuge von neunzehn Jahrhunderten Menschheitsgeschichte, in ihm vereinen sich Alterität und Fremdheit, ständiger Fortschritt und schließlich auch das Verschmelzen von Geschichte und Mythos. Mit seinem äußeren Erscheinungsbild wirkt er wie eine Mischung aus einem Gelehrten und einem rüstigen Wanderer [vgl. PdP, S. 308], somit steht auch sein Äußeres für Wissenschaft und Vorwärtsbewegung. Bemerkenswert ist weiterhin das Beherrschen verschiedener Sprachen: Mit dem Ich-Erzähler unterhält er sich, nachdem er ihn an seinem Akzent erkannt hat, auf Französisch. In der Kneipe, die ausschließlich von Böhmen bevölkert ist plaudert der Jude munter [vgl. PdP, S. 314] mit den Tschechen, und natürlich ist er auch des Hebräischen mächtig. Der Legende nach spricht der Ewige Jude alle Sprachen. In seiner wunderbaren und gar erbaulichen Historie 107 aus dem Jahre 1849 über die Figur Ahasverus berichtet der Pfarrer und Schriftsteller Ottmar Schönhuth von einem sehr ernsten, frommen und bescheidenen Mann: Er verstehet und kann reden auch alle Sprachen der Provinzen und Völker, dahin er kommt, damit die Reise ihm nicht vergeblich und ohne Furcht möge abgehen. Dieses solle nun abermal sich Niemand wundern

106 Daemmerich Horst S. und Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur. S. 372 (Eintrag: „Wanderer“). 107 Schönhuth, Ottmar Friedrich Heinrich: Ahasverus, der ewige Jude. Eine wunderbare und gar erbauliche Historie. Reutlingen 1849.

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lassen, denn das Erkenntniß und die Wissenschaft der vielerlei Sprachen im neuen Testament ist eine besonders große Gabe des heiligen Geistes.108 Dementsprechend bewegt sich Laquedem auch in der „Tripolis“: Die Figur ist nicht etwa ein Sinnbild für die umherirrende, trauernde „Rasse“ [PdP, S. 312], wie der Erzähler zunächst mutmaßt, vielmehr symbolisiert er Gleichzeitigkeit, unermüdlichen Fortschritt und Lebensfreude. Obwohl im Allgemeinen die Umdeutung der Figur im Vordergrund steht, gibt es auch eine Passage über jüdisches Leiden, in der die Hinrichtung eines Juden 1334 in München beschrieben wird [vgl. PdP, S. 310]. Daneben steht das jüdische Dasein auch innerhalb des Textes immer wieder in Verbindung mit dem Tod. Auf der einen Seite genießt Laquedem das Leben und die Freuden in Prag: ‚Sie leben!‘ sagte ich. Ja, ich lebe ein nahezu göttliches Leben, einem Wotan gleich, niemals traurig. Aber ich fühle es, ich muß abreisen. Ich habe genug von Prag. [PdP, S. 316] Andererseits erscheint der Ewige Jude auch in Le Passant de Prague als Symbol für den Tod, die Trauer und das Leiden. Als sich die beiden verabschieden und „er sich in der kalten Nacht entfernte“, stößt Laquedem plötzlich „einen klagenden Schrei wie ein verwundetes Tier aus und fiel zu Boden.“ [PdP, S. 316] Schreiend stürzte ich hin. Ich kniete nieder und öffnete sein Hemd. Mit verstörten Augen wandte er sich mir zu und sprach wirr: ‚Danke. Die Zeit ist gekommen. Alle achtzig oder hundert Jahre überfällt mich ein schreckliches Leiden. Doch ich genese und habe dann die notwendigen Kräfte für ein neues Jahrhundert Leben.‘ Und er jammerte: ‚Oï, oï‘, was im Hebräischen ‚O weh‘ bedeutet. Durch das Geschrei herbeigelockt, waren unterdessen alle Huren des Judenviertels auf die Straße gelaufen. Die Polizei eilte herbei. Auch Männer, kaum bekleidet, die hastig ihr Bett verlassen hatten. In den Fenstern erschienen Köpfe. Ich zog mich zurück und sah, wie sich die 108 Schönhuth, Ottmar Friedrich Heinrich: Ahasverus, der ewige Jude. S. 18.

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Polizisten, die Laquedem trugen, entfernten, gefolgt von einer Menge von Männern, barhaupt, und Mädchen in gestärkten, weißen Nachthemden. Bald war niemand mehr auf der Straße, nur ein alter Jude mit den Augen eines Propheten. Er musterte mich mit Argwohn und murmelte deutsch: ‚Es ist ein Jude. Er stirbt.‘ Und ich sah, wie er, bevor er sein Haus betrat, den Mantel öffnete und sein Hemd zerriß, diagonal. [PdP, S. 316 f.] So entsteht ein Kontrast von Leben und Tod: Prag ist zunächst Ort der Lebensfreuden und der Ausgelassenheit, aber unausweichlich auch des Todes und der Trauer, insbesondere im Zusammenhang mit der Thematik des Judentums. Scheinbar untrennbar gehören das Dasein als Jude und das Sterben zusammen: „Es ist ein Jude. Er stirbt.“ [PdP, S. 317] Die Stadt Prag als Topos wird Le Passant de Prague zu einer ambivalenten Schwelle – in ihr verschwimmen die Grenzen einer auf Wahrscheinlichkeit basierenden fiktiven Gegenwart und die der Prager Mythen- und Legendenwelt. Die „magische“ Stadt legitimiert die Erscheinung der Legendengestalt des Ewigen Juden, die den Ich-Erzähler zwar zunächst verwundert, jedoch im weiteren Textverlauf nicht weiter als unwahrscheinlich hinterfragt wird. Die Legendengestalt erscheint in Prag vielmehr als einer von verschiedenen Fremdkontexten, die den Franzosen offenbar irritieren. Diese Irritation geschieht hingegen nicht auf einer Ebene der Infragestellung der Welt, sondern manifestiert sich in Form von Selbstzweifeln und der Angst, den Verstand zu verlieren. Durch die Konfrontation mit dem Fremden, mit fremden Kulturen und dem ewigen Leben hinterfragt der Ich-Erzähler seine Eigenwahrnehmung sowie seine eigene Existenz. Der ewig wandernde Jude hingegen, der als Figur die Verlebendigung einer Legende darstellt, bewegt sich im fiktiven Prag wie selbstverständlich. Symbolisch vereinen sich in ihm die verschiedenen Fremdkontexte, die Unsterblichkeit wie auch der Tod, und so wird er zum Sinnbild eines ständigen Begleiters durch die fremde und ambivalente Stadt Prag. Als Symbolfigur eröffnet der ewig wandernde Jude in Le passant de Prague einen weitreichenden Themenkomplex, der sowohl den Prag-Mythos tangiert

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als auch die Wahrnehmung und Rezeption des Fremden, welche mit dem Erlebnisraum Großstadt korreliert. Dementsprechend thematisiert Apollinaires kurzer Text viele wichtige Prager Motiv- und Themenbereiche, wie die Judenthematik, die Todesthematik, die Darstellung der Stadt als Seelenspiegel und das damit einhergehende Gefühl des Selbstverlusts, böhmische und jüdische Stereotypisierung, die Kaffee- und Wirtshaus- sowie auch Bordell-Kultur und eben den Typus des Flaneurs mit seinen verworrenen Wegen durch die Stadt. Es bleibt offen, ob mit dem Prager „Passanten“ der Franzosen selbst oder der Ewige Jude gemeint ist. Einerseits erscheint der Jude natürlich als Wanderer, aber auf der anderen Seite zeichnet sich ein Passant dadurch aus, dass er am Geschehen unbeteiligt vorbeigeht, was eher für den Franzosen sprechen würde. Als Prager Spaziergänger ist Nezval selbst gleichermaßen Flaneur, Poet und Leser. Als Flaneur lässt er sich von der Prag-Literatur leiten und wird somit zum Leser der Stadt, während er als Poet die Poesie der Stadt in seinem eigenen Text fixiert und damit Prag-Literatur erschafft. Der Prager Spaziergänger ist ein in höchstem Maße autoreflexiver Text. Er referiert auf das alte, „magische“ Prag, das er bewahren und ihm ein Denkmal setzen will. Gleichzeitig aber entsteht die Stadt, die sich verändert hat, auch im Text neu, da sie so in einen von Nezval konstruierten subjektiven Kontext gesetzt wird: „Ein Dichter ist, wer Mythen stürzt und schafft, wer sie stürzt, um neue, immer wahrhaftigere zu schaffen.“ [PS, S. 81] Nezval ist von einer rückwärts gewandten Sehnsucht getrieben auf der Suche nach der alten Magie der Stadt und den Mythen der Vergangenheit: Jeder Mensch hat wenigstens einmal im Leben das besondere Gefühl gehabt, das uns gewöhnlich überkommt, wenn bei unserer Heimkehr die Möbel in der Wohnung umgestellt sind. Wer in Prag lebt, dem bereitet diese Stadt nicht selten ein ähnliches Gefühl. [PS, S. 48 f.] Das Flanieren bezieht sich sowohl auf die Bewegung des Prager Spaziergänger als auch auf den reflektierenden, diskursiven Schreibprozess – ein zerstreuendes, assoziatives Umherschweifen, scheinbar ohne Ziel und doch immer auf der Suche. Während Nezval bewusst nach magischen Orten,

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Momenten oder Begegnungen sucht, widerfahren dem Flaneur als charakteristischem Typus der Prag-Literatur diese in der Regel unerwartet und zufällig. Nezvals Spaziergänger ist keine typische fiktive literarische Figur, und er erschafft auch keine neuen Mythen. Vielmehr reflektiert er bewusst seine Rolle und bezieht sich explizit auf die Tradition dieser Figur in der Literatur und den Glauben an die Magie der Bücher über Prag: „Das Warten auf etwas, was in mir die Hoffnung auf eine momentane Freude wecken sollte […] nötigt mich, von Buch zu Buch zu schweifen.“ [PS, S. 7] Bereits mit seinem Titel Pražský chodec verweist Nezval auf einen bestimmten Prag-Text, der ihn seinerzeit besonders inspiriert hat – Le passant de Prague von Guillaume Apollinaire: Übrigens war es Apollinaire, der seine Prosa über Prag so genannt hat und – ich zögere nicht, es zu sagen – zu den ersten gehörte, die in mir an der Geburt dessen beteiligt waren, was ich als ‚neues Gefühl‘ bezeichne. Mir scheint, es geht in der Poesie um nichts so sehr wie gerade um das ‚neue Gefühl‘. Sobald dieses ‚neue Gefühl‘ vorhanden ist, erhält alles einen neuen Sinn. Und mir scheint, gerade in diesem Punkt ist das Mißverständnis zwischen Kritikern und Schöpfern am verhängnisvollsten. Nichts determiniert in dem Maße wie gerade das ‚neue Gefühl‘ alle Schritte der Dichter, und keine noch so tiefen, noch so dringenden Probleme werden an dieser Tatsache rütteln können. Es war das ‚neue Gefühl‘, das mich so und nicht anders die Städte erleben ließ. Und dieses ‚neue Gefühl‘ lenkt bis heute, ja selbst in diesem Augenblick meine Schritte durch Prag. [PS, S. 13] Dieses „neue Gefühl“ erfüllt die Stadt für den Prager Flaneur mit einer bestimmten Magie, mit einer Sinnhaftigkeit. Inspiriert von der Literatur liest der Spaziergänger die Stadt gewissermaßen und lässt seine Wege von den PragGeschichten leiten.

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1.3 Reisende in Prag: Auf der Suche nach der eigenen Identität – ich gedachte der alten hunderttürmigen Stadt Prag und eines andern schönen Mädchens, welches aber schwarze Haare hatte, und ich gedachte anderer Holunderblüte. O Prag, du tolle, du feierliche Stadt, du Stadt der Märtyrer, der Musikanten und der schönen Mädchen, o Prag, welch ein Stück meiner freien Seele hast du mir genommen!109 [Wilhelm Raabe]

Der Topos Prag also erscheint in der Literatur als „Paradigma der Fremdheit“110 und somit als Ort existentieller Problematik, an dem eine Entfremdung des Subjekts bzw. des Protagonisten von seinem (Er-)Lebensraum wie auch sich selbst stattfindet. In den vorhergehenden Kapiteln wurde diese Thematik der intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst und der Identifikation mit der Stadt Prag an den Figuren Jordán (Santa Lucia), Vilém (Gotická duše) und mit Apollinaires Le Passant de Prague deutlich. Wie im Kapitel Heteroimago einer phantastischen Stadt aufgezeigt wurde, kommt der Aspekt der Fremdheit auch schon im 19. Jahrhundert, insbesondere in Texten von Nicht-Prager:innen, zum Tragen, von Reisenden, die als Besucher:innen in die Stadt kommen und sich dementsprechend als unkundige Tourist:innen bewegen. Daraus leiten sich auch die spezifischen Orte ab, die in diesen Texten behandelt werden: Der Aktionsradius der Protagonist:innen beschränkt sich meist auf das klassische Prager Stadtzentrum mit seinen beeindruckenden historischen Sehenswürdigkeiten. Im Vergleich zum vorhergehenden Kapitel Tableau des Selbstverlustes geht es im Folgenden um Reisende in Prag. Es handelt sich um Figuren, welche die Stadt Prag aus dem Blickwinkel des Fremden wahrnehmen (Heteroimago) und dementsprechend wird in den im folgenden behandelten Texten das Konzept der Fremdheit im Zusammenhang mit der Eigenwahrnehmung der Protagonist:innen (Autoimago) noch einmal in den Fokus genommen. So verliert sich der Medizinstudent Hermann in Wilhelm Raabes Holunderblüte regelrecht in der Alten Prager Judenstadt. Auf der Suche nach dem „berühmten Kirchhof der Juden“ [Hb, S. 94] führt ihn eine Unbekannte, ein „Irr109 Raabe, Wilhelm: Holunderblüte. S. 93 f. 110 Corbineau-Hoffmann, Angelika: Fragmentarität, Fremdheit, Fiktionalität. S. 169.

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licht“ [Hb, S. 96], wie er sie später nennt, zunächst „kreuz und quer durch die abscheulichsten Winkel, Gassen und Durchgänge“ [Hb, S. 95] des Judenviertels. Doch auch seinen Geist verwirrt dieses Mädchen, das er sein „allerliebstes Judenkind“ [Hb, S. 96] nennt, und er kann sich in der Folge nicht mehr auf sein Studium konzentrieren. Er ist wie belegt mit einem Zauber „und es war ein mächtiger Zauber und sollte ein böser Zauber werden“ [Hb, S. 99]: weder nächtliches Schwärmen und tolles Trinken, weder Melniker, Pilsener Bier und Slibowitz hatten mehr den gewohnten Reiz für mich; aber berauscht war ich nichtsdestoweniger, und unendliche Quantitäten ungarischen Tabaks konsumierte ich über meinen verworrenen Träumen. Auf meine Stube in der Nekazalkagasse 111, ins Kollegium, an den Seziertisch, überallhin verfolgte mich die kleine Hexe aus der Judenstadt, Jemima Löw.“ [Hb, S. 99 f.] Hermann ist von diesem Mädchen berauscht und fühlt sich zunehmend dem Wahnsinn nahe: „Krank zum Sterben war ich damals, ein schleichendes Fieber verzehrte mich, und nur im Fiebertraum gehen solche wechselnde Gestalten und Empfindungen durch des Menschen Seele.“ [Hb, S. 103] In diesem Zustand irrt er selbstverloren durch die Gassen: „Wenn ich dann genug geraucht und geträumt hatte, so erhob ich mich, das Träumen stehenden Fußes fortzusetzen, und durchstreifte die Gassen dieser Stadt, die selbst einem Traume gleich ist.“ [Hb, S. 100] Er flaniert durch das damalige multiethnische Prag der Habsburger Monarchie, vorbei an den klassischen Sehenswürdigkeiten der Innenstadt: Auf dem großen Ring hörte ich die Mädchen am Brunnen böhmisch und deutsch durcheinanderschwatzen, hörte am Abend den Liedern der frommen Beter an der Mariensäule zu. Die ungarischen Grenadiere auf der Wache am Rathause wurden von Italienern abgelöst; wie in einer Zauberlaterne wechselte das bunteste Leben. Dann schlenderte ich ein andermal auf dem Wissehrad umher, wo über versunkenen königlichen Palästen die Gänse schnatterten und die Ziegen weiden und wo ungemein zerrissene Wäsche getrocknet wird. Wieder ein andermal lehnte 111 Wahrscheinlich ist hier die „Nekazánka“-Gasse gemeint, die sich bis heute in der Nähe des Bahnhofs befindet.

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ich unter dem Schutze des heiligen Nepomuk auf der berühmten Brücke und sah, ohne meiner unsterblichen, vernünftigen Seele einen Grund dafür geben zu können, stundenlang in die Moldau hinab. Dann stieg ich nachher wohl durch die steilen Gassen der Kleinseite die Treppe zum Hradschin herauf und sah über die Mauerbrüstung die stolze Böhmenstadt zu meinen Füßen liegen. Manche heiße Sommerstunde verbrachte ich in der kühlen, dämmerigen Halle des Domes von Sankt Veit; [Hb, S. 100 f.] Obwohl Jemima ihn mit einer unbeschreiblichen Leidenschaft erfüllt, behauptet Hermann, das junge Mädchen gar nicht zu lieben: „Mein Herz nahm es mir, und doch liebte ich es nicht, und eine traurige Geschichte ward daraus.“ [Hb, S. 94] Er ist so verwirrt, dass es ihm unmöglich ist, den Gefühlen, die ihn bewegen, einen Ausdruck zu verleihen [vgl Hb, S.103]. Als er eines Tages erfährt, dass sie unheilbar herzkrank ist, wird Hermann „ergriffen von einem dumpfen, unendlich bangen Schmerzgefühl“ [Hb, S. 105] und er macht sich schwere Vorwürfe, dass er ihr als Arzt nicht helfen kann. Schließlich verliert er sich in Selbstzweifeln: Gleich einem Trunkenen irrte ich an diesem Tage umher und versuchte es vergeblich, meine Schuld und Unschuld gegeneinander abzuwägen. Vergeblich versuchte ich alles mögliche, die Last von meiner Seele abzuwälzen oder sie wenigstens leichter zu machen, indem ich mir die Worte dieses jungen Mädchens als nichtsbedeutende Grillen und Phantasien eines törichten Kindskopfes darstellte. Endlich schwankte ich heim in die Nekazalkagasse, holte meine Bücher und mangelhaften, liederlichen Kollegienhefte hervor und fing an, mit zitterndem gierigem Eifer alles das, was darin über das Herz des Menschen, das körperliche Herz, seine Funktionen, seine Gesundheit und Krankheit geschrieben war, zu lesen. Ich habe nachher selbst ein Buch darüber geschrieben, welches von der Wissenschaft für sehr brauchbar erklärt wird und welches manche Auflagen erlebt hat; – ach, wenn nur die Wissenschaft wüßte, was mich dieser Ruf als Autorität in Herzkrankheiten gekostet hat! Es gehen nicht bloß Dichterwerke aus großem Schmerz und Unmut hervor. [Hb, S. 110]

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Analog zu dieser Stimmung und Hermanns Verzweiflung erscheint auch die Stadt Prag düster, von einem Sommergewitter überschattet: Sehr schwül war es an diesem Tage, weiße schwere Wolken wälzten sich über die Dächer herauf und zogen sich zu drohenden, bleigrauen Massen zusammen, und trotzdem, daß die Luft kaum zu atmen war, trieb's mich doch wieder herab von meiner Stube in die heißen Gassen. Als eben der erste Donner dumpf rollend die Fenster der Stadt erklirren machte, zog ich abermals die klappernde Glocke des Pförtnerhauses am Judenkirchhof. [Hb, S. 110] Hermann verzweifelt in Prag daran, dass er Jemima nicht heilen kann, und ihm bleibt sein Lebtag das Schuldgefühl, sie getötet zu haben [vgl. Hb, S. 113]. Jedoch erzählt die Rahmenhandlung der Novelle auch von einem angesehenen Herzspezialisten, der sich an seine Studentenzeit in Prag zurückerinnert. Das Gefühl der Fremdheit und die damit einhergehende Entfremdung von sich selbst weisen der Figur Hermann zugleich seine Bestimmung, so dass er sich gewissermaßen in Prag zunächst verlieren musste, um schließlich sich selbst und seine Berufung zu finden. Auch in Albert Camus’ Roman La Mort heureuse (Der glückliche Tod, 1938)112, einer frühen und unvollendet gebliebenen Version seines späteren Erfolgsromans L’étranger (Der Fremde, 1942), kommt der Protagonist als Reisender in die Stadt Prag. Der glückliche Tod ist in zwei Teile gegliedert: Der natürliche Tod und Der bewusste Tod. Der erste Teil handelt von Patrice Mersault, einem Angestellten, der in Algier in beschränkten Verhältnissen lebt. Sein bis dato ereignisarmes Leben erfährt eine einschneidende Wendung, als er den reichen „Krüppel“113 Roland Zagreus kennenlernt. Dieser ist der Meinung, dass man ohne Geld nicht glücklich werden könne bzw. dass man ohne Reichtum keine Zeit hätte, um glücklich zu sein. Mersault überkommt „in seinem Herzen die Revolte gegen das Leben“ [GT, S. 58], und er 112 Camus, Albert: Der glückliche Tod (Originaltitel: La Mort heureuse). Übersetzt von Eva Rechel-Mertens; Nachwort und Anmerkungen von Jean Sarocchi. Hamburg 2010 (Erstveröffentlichung auf Französisch postum 1971). 113 Vgl. Camus, Albert: Der glückliche Tod. S. 11 ff. Im Folgenden wird diese Quellenangabe mit [GT] abgekürzt.

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ermordet Zagreus, stiehlt dessen Geld und lässt es wie einen Selbstmord aussehen. In der Folge erkrankt er an einer fiebrigen Grippe und begibt sich schließlich ein paar Tage nach dem Verbrechen auf eine Reise nach Europa. Auf der Suche nach sich selbst und seinem persönlichen Glück reist er von Algier über Frankreich nach Prag: „An die Grenzen der Welt, die hier im Schlummer lag, rief ein Schiff mit langgezogenem Ton die Menschen zu Aufbruch und Neubeginn.“ [GT, S. 58 f.] Das Kapitel über Mersaults Aufenthalt in Prag ist semantisch sehr dicht. Der Protagonist leidet unter einer starken Anspannung und fühlt sich zunehmend unwohl; Gefühle wie Ekel, Beklemmung, „Verlassenheit und Einsamkeit“ [GT, S. 65] plagen ihn. Diese stehen im Text häufig in einer direkten Verbindung mit der Stadt bzw. mit den dortigen Eindrücken und Begegnungen des Protagonisten. Der Mord indessen wird nicht erwähnt, vielmehr ist das Fieber, von dem er geschwächt ist und das möglicherweise seine Wahrnehmung beeinträchtigt, die Begründung für seinen Gemütszustand [vgl. etwa GT, S. 65, 67, 69]. Insbesondere das Gefühl der Fremdheit steht im Vordergrund seiner Wahrnehmung: Viele unbekannte Sinneseindrücke erfüllen ihn mit starkem Unbehagen, so zum Beispiel das schmutzige Hotelzimmer, der omnipräsente Geruch von Essiggurken in den Gassen von Prag, der ihn überallhin zu verfolgen scheint. Wo auch immer sich Mersault aufhält, empfindet er eine quälende Einsamkeit, sei es an den verlassenen Orten der Stadt, in seinem Hotelzimmer oder auch im belebten Getümmel der Karlsbrücke: Diese ganze von Stimmen, Melodien und Gartendüften beladene Flut mit den kupferfarbenen Spieglungen des Abendhimmels und den gewundenen grotesken Schatten der Statuen auf der Karlsbrücke trug Mersault nur das schmerzliche, brennende Bewusstsein einer Einsamkeit ohne Wärme zu, an der die Liebe keinen Anteil hatte. [GT, S. 73] Zu Beginn des Kapitels kommt der „Fremde“ [GT, S. 63] zunächst etwas erschöpft mit einem „übermüdeten Gesicht“ [GT, S. 64] in Prag an und nimmt sich das billigste Zimmer in einem Hotel, von dem aus er auf das „Prager Gässchen“ blicken kann und das Quietschen der Trambahnen hört, „die den Wenzelsplatz hinunterfuhren.“ [GT, S. 63] Von Anfang an fühlt sich

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Mersault in der Stadt unwohl, es ekelt ihn vor dem Schmutz und dem Staub im Hotelzimmer, und ihn plagen existentielle Gedanken einer allumfassenden Sinnlosigkeit: Ein abscheulicher süßer Geschmack kam ihm in den Mund angesichts von so viel Verlassenheit und Einsamkeit. Bei dem Gefühl, so weit von allem und selbst von seinem Fieber entfernt zu sein, und dem deutlichen Empfinden, wie viel Sinnloses und Jämmerliches auch auf dem Grund noch so gut geplanter Lebensläufe existiert, wurde er, in diesem Zimmer, das schändliche und verborgene Gesicht einer Art Freiheit gewahr, die aus Zweideutigkeit und Ratlosigkeit entsteht. Rings um ihn her schwappten wie Schlamm die schlaffen, kraftlosen Stunden und überhaupt alles, was Zeit war. [GT, S. 65] Während er in dem schmutzigen Hotelzimmer eine starke Beklemmung verspürt, dringt von draußen vor dem Fenster „das dumpfe, geheimnisvolle Branden des Lebens“ und der „Lärm der Menschen“ zu ihm herauf, „das Gewimmel von Wesen, deren jedes über eine eigene Persönlichkeit verfügte“ [GT, S. 66]. Die pulsierende Welt außerhalb seines Zimmers ist voller Leben, und in diesem Gegensatz von Drinnen und Draußen wird sich Mersault des „tiefen Risses bewusst, durch den er dem Leben geöffnet war“ [GT, S. 66]. Schließlich verlässt er das Zimmer und begibt sich durch eine Durchfahrt hinter dem Hotel auf einen Spaziergang in die Altstadt: Sie führte auf den alten Rathausplatz, und vor dem leicht verhangenen Abendhimmel, der sich über Prag niedersenkte, hoben sich schwärzlich die gotischen Turmspitzen des Rathauses und der alten Teynkirche ab. Eine zahlreiche Menge war unter den Arkaden der kleinen Gassen unterwegs. [GT, S. 67] Mersault bezweifelt, ob er noch die Fähigkeit besitzt, „das zärtliche, zarte Spiel des Lebens zu spielen“ und er versucht die Blicke der vorübergehenden Frauen aufzufangen. „Aber gesunde Leute haben ein natürliches Talent, fiebrigen Blicken auszuweichen“ [GT, S. 67], und Mersault ist nach der langen Reise ungepflegt: Schlecht rasiert, ungekämmt, in den Augen den Ausdruck eines gehetzten Tieres“ [GT, S. 67]; so gelingt es ihm nicht, ein Teil des

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lebendigen Trubels zu werden. Auf der Suche nach einem Restaurant verirrt sich Mersault im dunklen Judenviertel: Er drang in dunklere und weniger bevölkerte Gassen. Ohne dass es am Tage geregnet hätte, war der Boden doch feucht, und Mersault musste um die schwarzen Lachen zwischen den vereinzelten Pflastersteinen einen Bogen machen. Dann begann ein dünner Regen niederzugehen. Es war sicher nicht weit bis zu den belebten Straßen, da man die Zeitungsverkäufer, die den Narodni Politika ausriefen, bis hierher hören konnte. Er indessen bewegte sich die ganze Zeit im Kreise. Plötzlich blieb er stehen. Ein sonderbarer Geruch kam ihm aus dem Dunkel entgegen. Stechend, beißend, weckte er in ihm alle quälenden Ängste. Er fühlte ihn auf der Zunge, ganz hinten in seiner Nase und an seinen Augen. Der Geruch war erst weit fort, dann an der Straßenecke, und zugleich was er zwischen dem jetzt dunkel gewordenen Himmel und dem glitschigen klebrigen Pflaster wie der böse Zauber der Nächte von Prag. [GT, S. 68] Mit allen Sinnen nimmt der Flaneur die Eigenheiten der Stadt wahr. Es stellt sich heraus, dass der eigentümliche Geruch von den Essiggurken herrührt, die auf der Straße verkauft werden. Dieser verfolgt Mersault bis in ein düsteres Lokal, in das er sich zum Abendessen begibt: Er erfüllte den düsteren Kellerraum, mischte sich unter die geheimnisvolle Melodie des Akkordeons, […] machte die Gespräche plötzlich bedeutungsvoller, so als hätte sich von den Rändern der Nacht, die über Prag schlummerte, der ganze Wesensinhalt einer bösen und leidvollen alten Welt in die Wärme dieses Raumes und der hier anwesenden Menschen geflüchtet. Mersault […] fühlte sich jäh bis aufs Äußerste angespannt und spürte, dass der Riss, den er in sich trug, noch größer wurde und ihn noch mehr der Angst und dem Fieber öffnete. [GT, S. 70] Auch in diesem Innenraum fühlt er sich nicht wohl und wird erneut von einer qualvollen Beklemmung heimgesucht. Fluchtartig verlässt er das Restaurant und kehrt zurück in die nächtlichen Gassen der Stadt: „Sterne blitzten über den Häusern.“ [GT, S. 70] Als er vor einer Mauer mit hebräischen Buchstaben steht, wird ihm schließlich klar, dass er sich im Judenviertel befindet:

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„Über der Mauer hingen die Zweige einer süßlich duftenden Weide herab. Durch das Gitter hindurch sah man zwischen den Gräsern eingesunkene große dunkle Steine. Es war der alte Judenfriedhof von Prag“ [GT, S. 70]. Mersault fängt plötzlich an zu laufen, gelangt wieder zurück zu seinem Hotel und muss sich an eine Mauer gelehnt „unter Qualen erbrechen“ [GT, S. 70]. Tagsüber besucht Mersault die Prager Sehenswürdigkeiten und flaniert durch Kirchen und Klöster, von deren Barockarchitektur für ihn eine besondere Faszination ausgeht: Durch diesen Geruch hindurch sah er die Museen und begriff die Fülle und das geheimnisvolle Genie der Barockkunst, die Prag mit ihrem Goldglanz und ihrer Pracht erfüllte. Das goldene Licht, das tief im Halbdunkel sanft auf den Altären schimmerte, schien ihm dem aus Nebel und Sonne gemischten messinggelben Himmel entnommen, der Prag so häufig überwölbt. Das Gewirr der Voluten und Rosetten, das komplizierte Dekor, das wie aus Goldpapier ausgeschnitten wirkte und so rührend an die Kinderkrippen erinnert, die man zu Weihnachten aufstellt, weckten in Mersault ein Gefühl für das Grandiose, das Groteske und die seltsame Anordnung der Formen; das alles hatte etwas von einem fieberhaften, kindischen und großsprecherischen Romantizismus, mit dem der Mensch sich der Dämonen in seinem Innern erwehrt. […] Wenn Mersault aus dem leisen Geruch nach Staub und dem Nichts hervortrat, der unter den düsteren Wölbungen wohnte, kam er sich wieder wie ein Mensch ohne Heimat vor. [GT, S. 72] Das Innere der Barockkirchen spendet Mersault eine gewisse Geborgenheit und die Erhabenheit der Barockkunst erfüllt ihn mit einer tröstlichen Melancholie. Wenn er jedoch aus den Kirchen wieder zurück in die Gassen der Stadt tritt, überkommt ihn erneut die Einsamkeit. Auch die Abgeschiedenheit des Hradschin mit seinen stillen, großen Palästen, den gepflasterten Höfen und der Kathedrale erfüllen ihn mit Unbehagen: „etwas Bedrückendes lag in so viel Schweigen und Größe. Und so stieg Mersault denn auch schließlich immer wieder zu dem Geruch und der Melodie hinab, die nunmehr seine Heimat bildeten.“ [GT, S. 73] Wo er sich auch in Prag aufhält quält ihn das Gefühl, einsam und allein zu sein, und sogar der unerträgliche Geruch von

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„Essig und Gurke“ [GT, S. 70], seiner ursprünglich „geheimen Furcht“ [GT, S. 72], spendet ihm in dieser grenzenlosen Fremdheit zunehmend ein wenig Vertrautheit. Auch Mersault erscheint als nächtlicher Flaneur, so verweilt beispielsweise in einer Nacht für einen Moment auf der berühmten Karlsbrücke: Diese ganze von Stimmen, Melodien und Gartendüften beladene Flut mit den kupferfarbenen Spieglungen des Abendhimmels und den gewundenen grotesken Schatten der Statuen auf der Karlsbrücke trug Mersault nur das schmerzliche, brennende Bewusstsein einer Einsamkeit ohne Wärme zu, an der die Liebe keinen Anteil hatte.114 In den dunklen Gassen des Judenviertels hat er zudem eine Begegnung mit dem Tod: Im schwachen Licht der Straßenlaterne liegt ein Toter mitten auf der Straße, während daneben ein Mann einen wilden Tanz aufführt: Dieser rastlos tanzende Mensch, der Tote mit den gekreuzigten Armen, die ruhigen Zuschauer, der groteske Gegensatz und die ungewohnte Stille – alles ergab in seiner Mischung aus Beschaulichkeit und Unschuld in dem ein wenig bedrückenden Spiel von Licht und Schatten eine Minute des Gleichgewichts, nach der, so schien es Mersault, alles sich in Wahnsinn auflösen müsste. Er trat noch etwas näher heran. Der Kopf des Toten schwamm in Blut. Er war auf die Seite gesunken und zur Ruhe gekommen. In diesem entlegenen Winkel von Prag, zwischen dem spärlichen Lichtschein auf dem leicht glitschigen Pflaster, dem langen feuchten Gleiten der Autos, die wenige Schritte von dort vorüberfuhren, und, weiter entfernt, den in bestimmten Abständen rasselnd ankommenden Trambahnen, trat einem der Tod in einer süßlichen, penetranten Form entgegen, und sein Ruf, sein feuchter Atem war es, was Mersault in dem Augenblick verspürte, als er mit langen Schritten davoneilte, ohne sich noch einmal umzusehen. [GT, S. 74 f.] Dieses Erlebnis stellt den Höhepunkt der quälenden Leiden dar, die Mersault in Prag verfolgen. In dieser Verzweiflung steigen in ihm Bilder seiner Vergangenheit auf, und aus der Einsamkeit wird ein unerträgliches Heimweh: 114 Camus, Albert: Der glückliche Tod. S. 73.

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Mit leerem Herzen und verkrampftem Leib gab er sich der Aufruhr seines Inneren hin. Bilder aus seinem Leben quollen vor seinen Augen herauf. […] Aus der Tiefe der leidvollen Nächte von Prag, aus Essiggerüchen und kindlichen Melodien hob sich ihm das angstverzerrte Gesicht der alten Barockwelt entgegen, das ihm bis in sein Fieber gefolgt war. […] Eine brennende geheime Glut quoll in ihm mit Tränen empor, es war die Sehsucht nach Städten voller Sonne und Frauen, nach grünen Abenden, die sich heilend über Wunden breiteten. Die Tränen brachen hervor. In ihm entstand ein großer See von Einsamkeit und Stille, über den der traurige Sang von seiner Befreiung dahinstrich. [GT, S. 75 f.] Überstürzt reist er noch in derselben Nacht ab. Er verlässt Prag „mit Einsamkeit und Entfremdung vollgesogen wie mit Gift“ [GT, S. 83] und fährt mit dem Zug über Breslau nach Wien, wo er langsam wieder Wärme und Hoffnung in sich aufsteigen fühlt [vgl. GT, S. 82 f.]. Am Ende des Romans jedoch erkrankt Mersault an einer Rippenfellentzündung und stirbt. Prag ist in Der glückliche Tod der Ort, an dem Mersault fast an seinem Seelenzustand zerbricht. Als Topos, an dem sich die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet, kann er hier keinen Frieden mit sich selbst schließen. Insbesondere widerspiegelt sich sein Leid und seine Fehlbarkeit im barocken Stadtbild. Die barocke Baukunst ist ein Sinnbild des Leide(n)s, ihre Formen sind Ausdruck des Vanitas- und des „Memento mori“-Gedankens, die den Menschen an seine Sterblichkeit und die Ehrfurcht vor Gott gemahnen. Prag erscheint somit abermals als Stadt des Todes, nicht zuletzt durch die Begegnung mit einem Toten im Judenviertel. Die Besonderheit von Camus’ Text liegt in der synästhetischen Darstellung einer umfassenden Verlorenheit, die den Protagonisten schmerzlich quält: der abscheulich süße Geschmack „von so viel Verlassenheit und Einsamkeit“ [GT, S. 65], „das schmerzliche, brennende Bewusstsein einer Einsamkeit ohne Wärme“ [GT, S. 73] – mit allen Sinnen nimmt Mersault sein Leiden wahr, welches sich wiederum auch in der Wahrnehmung der Eindrücke der Stadt widerspiegelt. Leitmotivisch ziehen sich der Geruch der Essiggurken und die Melodie des Akkordeons, „eine langsame, vom Staub der Jahrhunderte überlagerte Weise“ [GT, S. 69], die an

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böhmische Musikalität sowie die Kraft der Vergangenheit gemahnt, durch das Kapitel. Der Roman und die Figur Mersaults lassen einige autobiographische Bezüge zu Albert Camus’ eigenem Leben erkennen. Auch Camus wuchs als Junge in Armut und beschränkten Verhältnissen115 auf, er erkrankte an Tuberkulose (auch Mersault leidet an dieser Krankheit) und im Alter von 22 Jahren unternahm er eine Reise nach Mitteleuropa. An diese Reise erinnert Camus’ Essayband Licht und Schatten mit Reiseberichten aus den Jahren 1935/ 36. Im Vorwort einer späteren Ausgabe (Literarische Essays, 1959) erläutert er, dass ihm die Mängel von Licht und Schatten durchaus bewusst seien, ihm diese Werke jedoch sehr am Herzen lägen, da sie ihm selbst gegenüber Zeugnis ablegten und ihn an seine Kindheit erinnerten. Er schreibt von Einsamkeit, Verzweiflung und einer fruchtbaren und zugleich zerstörerischen Leidenschaft, die in diesen Essays zur Geltung kommen. Der Essay Tod im Herzen116 berichtet von Albert Camus’ Besuch in Prag im Jahr 1936. Bei seiner Ankunft beschwingt ihn zunächst „ein eigenartiges Gefühl von Freiheit“117, obwohl er nur wenig Geld besitzt. Auf der Suche nach einem „anspruchslosen Hotel“ 118 geht er vom Bahnhof aus den Wenzelsplatz entlang Richtung Altstadt: Ich war von einer Million Menschen umgeben, die schon vor meiner Ankunft gelebt hatten, von deren Dasein jedoch nichts bis zu mir gedrungen war. Sie lebten. Ich war tausende von Kilometern von der Heimat entfernt. Ich verstand ihre Sprache nicht. Sie schritten alle rasch aus. Und indem sie mich überholten, lösten sie sich alle von mir ab. Ich verlor den Boden unter den Füßen.119 Er findet sich im Großstadtgetümmel von Prag wieder, und die anfängliche Unbefangenheit weicht dem Gefühl der Fremdheit. Im Vergleich zu Camus’ Heimat Algier, die damals eine deutlich kleinere Hafenstadt als heute war, gleicht Prag in diesen Jahren bereits einer Metropole. In einem späteren Essay 115 116 117 118 119

Camus, Albert: Literarische Essays. Hamburg 1959. Vorwort, S. 10. Camus, Albert: Tod im Herzen. In: Ders.: Literarische Essays. S. 48-62. Camus, Albert: Tod im Herzen. S. 48. Ebd. Ebd.

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Sommer in Algier vergleicht Camus Städte wie Paris und Prag mit seiner Heimatstadt. Während die europäischen Großstädte nicht leicht aus sich herausgehen und sich in dieser Zurückhaltung gefielen 120, hätten Städte, die am Meer liegen das Glück, sich „dem Himmel wie ein Mund oder eine Wunde“121 zu öffnen. Weiter schreibt er im Essay Minotaurus, dass man in den Städten Europas eine „bevölkerte Einsamkeit“122 suchte: Doch wo findet man Einsamkeit, so notwendig für die Kraft, wo den tiefen Atem, in dem der Geist sich sammelt und der Mut sich messen kann? Es gibt die großen Städte. Nur braucht es da noch Bedienungen. Die Städte, die Europa uns darbietet, sind übervoll vom Aufruhr der Vergangenheit. Feinhörige können das Schwirren von Flügeln, das Beben von Seelen vernehmen. Man spürt den Taumel der Jahrhunderte, der Revolutionen, des Ruhmes. Man wird daran erinnert, daß das Abendland unter Getöse geschmiedet wurde. Das gibt nicht genügend Stille.123 Diese „bevölkerte Einsamkeit“ gepaart mit dem Gefühl der Fremdheit ist es, die auch die Figur Mersault in Prag so schmerzlich empfindet. Camus berichtet weiterhin in Tod im Herzen von den abendlichen Aufenthalten in einem Kellerlokal und den Verständigungsproblemen im Restaurant, in dem er versucht sich auf Deutsch zu verständigen, der Kellner hingegen nur tschechisch spricht. Alles geht ihm „auf die Nerven“, doch am meisten fürchtet er das „Alleinsein in meinem Hotelzimmer, ohne Geld, ohne Lebensfreude, einzig auf mich und meine kläglichen Gedanken angewiesen.“124 In den nächsten Tagen breitet sich die Unruhe weiter in ihm aus, er fühlt sich unwohl, langweilt sich und beschließt „planmäßig“125 die Stadt zu erforschen. Allerdings genügt er sich dabei selbst nicht: Ich irrte in den prunkvollen Barockkirchen umher, in denen ich eine Heimatstätte wiederzufinden suchte, und wenn ich sie verließ, fühlte ich 120 121 122 123 124 125

Camus, Albert: Sommer in Algier. In: Ders.: Literarische Essays. S. 93-106, hier S. 93. Camus, Albert: Sommer in Algier. S. 93. Camus, Albert: Minotaurus. In: Ders.: Literarische Essays. S. 124-150, hier S. 125. Camus, Albert: Minotaurus. S. 124. Camus, Albert: Tod im Herzen. S. 50. Ebd. S. 51.

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mich nach dem enttäuschenden Zusammensein mit mir selbst noch leerer, noch verzweifelter. Ziellos flaniert er durch die Stadt, schlendert „die von schäumenden Wehren zerschnittene Moldau entlang“ und verbringt „nicht endenwollende Stunden in der Weitläufigkeit des verlassen und stumm daliegenden Viertels um den Hradschin.“126 Sein hallender Schritt in den Gassen erfüllt ihn mit Panik. Das Gefühl der Fremdheit und der Einsamkeit sind so allgegenwärtig, dass er seiner nicht Herr werden kann: Sobald ich ins Freie trat, war ich ein Fremder. […] Und welchen anderen Gewinn soll ich aus der Reise ziehen? Da stehe ich nackt und bloß. Eine Stadt, deren Aushängeschilder ich nicht lesen kann, fremde Buchstaben, die keinen vertrauten Halt bieten, ohne Freunde, mit denen ich sprechen könnte, ohne Zerstreuung auch. Ich weiß wohl, daß mich nichts aus diesem Zimmer, in das die Geräusche einer fremden Stadt dringen, zu befreien und in das zartere Licht eines Heims oder einer geliebten Umgebung zu führen vermag. Soll ich rufen, schreiben? Es würden doch nur fremde Gesichter auftauchen.127 In den Straßen von Prag wurde Camus stets „von einer schmerzhaften Vorahnung verfolgt“128, er verzweifelt zunehmend an Einsamkeit und Heimweh 129 und hat in Prag das Gefühl, zwischen Mauern zu ersticken 130. Er kommt schließlich zu der Erkenntnis, dass man mit sich allein nicht glücklich werden kann. Und was mir von Prag bleibt – ich darf es heute wohl sagen –, ist der Geruch der sauren Essiggurken, die an jeder Straßenecke verkauft und stehend verzehrt werden und deren säuerlicher, würziger Duft meine Bangigkeit weckte und verdichtete, sobald ich mein Hotel verließ.131

126 127 128 129 130 131

Ebd. Ebd. S. 52. Ebd. S. 54. Vgl. ebd. S. 56. Vgl. ebd. S. 59. Ebd. S. 53.

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1 Prager Spaziergänger:innen und ihre Lesarten

Obwohl Camus’ La Mort heureuse sowie der Reiseessay Tod im Herzen deutlich später verfasst wurden als die bisher in diesem Abschnitt genannten Werke, ähneln sich beide Texte erstaunlich in ihren Prag-Beschreibungen und den behandelten Thematiken sowie Motiven. In ihrem Aufbau, den Eindrücken und dem Reiseverhalten erinnern Camus’ Texte stark an Guillaume Apollinaires Erzählung Le Passant de Prague von 1902. Auch Apollinaires Text basiert auf einer Reise nach Prag im Alter von 22 Jahren – es handelt sich also um etwa gleichaltrige junge Männer, die es auf der Suche nach sich selbst nach Prag verschlägt. Der Versuch der Selbstfindung scheitert jedoch an diesem schicksalhaften Topos, und die Figuren sehen sich vielmehr einem annähernden oder kompletten Selbstverlust ausgesetzt. Dabei ist hervorzuheben, dass beide Texte, La Mort heureuse und Le passant de Prague, aus vermutlich authentischen Reiseeindrücken hervorgehen. Die beschriebene existentielle Problematik und die Leidensgefühle stehen jeweils mit dem realen Ort Prag in einer bestimmten Verbindung – sie sind dort entstanden oder wurden zumindest laut den Reisebeschreibungen der beiden Autoren dort schmerzvoll empfunden. Sowohl Apollinaires Ich-Erzähler als auch die Figur Mersault und Camus’ lyrisches Ich in Tod im Herzen kommen in Prag am Bahnhof an und bahnen sich auf der Suche nach einem Hotelzimmer einen ähnlichen Weg über den stark belebten Wenzelsplatz in die Altstadt. In allen drei Texten wird die Fremdheit der tschechischen Sprache hervorgehoben und die Tatsache, dass die Prager wider Erwarten kein Deutsch sprechen können oder wollen. Tagsüber besichtigen die jeweiligen Figuren dieselben Sehenswürdigkeiten, den Hradschin, den Veitsdom mit den Königs- und Kaisergräbern, die Moldau mit der steinernen Karlsbrücke und ihren Heiligenfiguren (insbesondere der Statue des heiligen Johannes von Nepomuk), den Judenfriedhof wie auch das Judenviertel, wo sie jeweils abends in Lokalen oder Kneipen einkehren. In allen Texten wird beschrieben, wie sich das Subjekt in diesen Etablissements trotz der böhmischen Ausgelassenheit und der musikalischen Unterhaltung unwohl und fremd fühlt. Auch der Versuch der Selbsterkennung verbindet die Figuren miteinander: Während Apollinaires Ich-Erzähler glaubt, sich in der Maske im

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Veitsdom wiederzuerkennen, bezeichnet Mersault auf der Suche nach etwas Vertrautem den unangenehmen Geruch der Essiggurken und die Melodie als seine Heimat. Den Höhepunkt von Le passant de Prague und La Mort heureuse stellt jeweils die Begegnung mit dem Tod in der Szene mit dem Sterbenden bzw. Toten in der dunklen Gasse des Judenviertels, in der auch der Kontrast von Tag und Nacht gipfelt. Prag birgt als realtopographische Stadt wie auch als literarischer Topos die Faszination der Gegenwart der Vergangenheit, die Präsenz bzw. das Überdauern von Jahrhundertealtem, sei es nun der Ewige Jude, dem der Ich-Erzähler in Apollinaires Le passant de Prague begegnet, die Barockarchitektur oder die geheimnisvolle Melodie des Akkordeons. Es ist der „Aufruhr der Vergangenheit“, der in dieser Stadt präsent ist, hier spürt man den „Taumel der Jahrhunderte, der Revolutionen, des Ruhmes“132, wie Camus in seinem Reiseessay schreibt, und so bleibt es auch dem Subjekt an diesem Ort verwehrt, Frieden mit der Gegenwart zu schließen. Die Todesthematik verbindet Camus’ Texte auch mit Vilém Mrštíks Santa Lucia: Wie Hégr es zu Beginn des Romans prophezeit hat, wird Jordán in Prag keinen Anschluss finden. Stattdessen leidet er so an dem Gefühl von Einsamkeit und Fremdheit, bis er schließlich daran zugrunde geht. Auch Mersault plagen diese Gefühle schmerzlich. Interessanterweise weist sogar die Namensetymologie der beiden Figuren eine beachtliche Analogie auf. Während der Name Jordán auf den Grenzfluss ins gelobte Land referiert und das Sterben symbolisiert, lässt sich der Name Mersault möglicherweise aus dem Wortfeld des französischen Verbs „mourir“ für „sterben, umkommen, vergehen“ zurückführen (je meurs, tu meurs, usw.). Nicht unwahrscheinlich erscheint daher auch die Mutmaßung in Kamel Daouds Roman Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung, der Name leite sich von „Meurt sot“ (dt.: „stirbt dumm“) oder „Meurt seul“ (dt.: „stirbt allein“) 133 ab. Diese Interpretation bezieht sich auf den Protagonisten aus aus Camus’ L’étranger, dessen Name Meursault sich lediglich in einem Vokal unterscheidet. So scheint das 132 Camus, Albert: Minotaurus. S. 124. 133 Daoud, Kamel: Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung. Köln 2016. S. 16.

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Schicksal der beiden Figuren bereits mit ihrer Namensgebung besiegelt. Auch die extreme Vereinsamung, unter der Jordán wie auch Mersault in Prag leiden, wird auf ähnliche Weise dargestellt: So zum Beispiel der Großstadtlärm, der von unten aus den Gassen hoch in die Zimmer dringt, in denen der Protagonist jeweils eine besonders starke Einsamkeit verspürt. Auch das Flanieren durch die Gassen haben die beiden gemein und das damit verbundene Gefühl, kein Teil der lebendigen Masse zu sein. Obwohl zwischen den beiden Texten über ein halbes Jahrhundert liegt, weisen Camus’ Reiseeindrücke darüber hinaus auch mit Wilhelm Raabes Holunderblüte erstaunliche Gemeinsamkeiten auf. Ähnlich wie Hermann ist auch Camus vergeblich auf der Suche nach dem Alten Friedhof im Judenviertel: „Ich wollte einen bestimmten Judenfriedhof finden, den ich am Vortag nicht hatte finden können.“134 Und ebenso verirrt sich die Figur Mersault in einer sternenklaren Nacht im Judenviertel und findet sich plötzlich vor dem Judenfriedhof wieder. Die drückende Witterung, die in Tod im Herzen beschrieben wird, verstärkt die geheimnisvolle und unheilverkündende Stimmung in der Stadt, die auch in Raabes Text vorherrscht: „Es war ein schwüler Tag. Vom bedeckten Himmel fiel ein kupfriges Licht auf die Spitzen und Kuppeln von Alt-Prag.“135 Und obwohl die Figur Wilhelm in Prag zu seiner Bestimmung findet, Herzspezialist zu werden, verspürt er auch viele Jahre später die Erinnerung an seinen Aufenthalt in Prag als schmerzhaft. Ein interessantes Detail haben weiterhin Apollinaires Ich-Erzähler und Raabes Protagonist bei ihrer Ankunft in Prag gemeinsam: Beide haben die Angewohnheit, nach dem Weg zu fragen. Mit diesem Akt und den damit verbundenen Schwierigkeiten wird jeweils die Thematik des Auf-der-Suche-Seins und somit auch der Fremdheit eröffnet. Während Wilhelm dabei von Jemima bewusst in die Irre geleitet wird, braucht es bei Apollinaire mehrere Anläufe, bis er jemanden findet, der ihn versteht: 134 Camus, Albert: Tod im Herzen. S. 54. 135 Ebd. S. 54. vgl. hierzu Hb, S. 110: Sehr schwül war es an diesem Tage, weiße schwere Wolken wälzten sich über die Dächer herauf und zogen sich zu drohenden, bleigrauen Massen zusammen, und trotzdem, daß die Luft kaum zu atmen war, trieb's mich doch wieder herab von meiner Stube in die heißen Gassen.

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Einer etwas unpassenden, aber sehr bequemen Gewohnheit folgend, wenn man eine Stadt nicht kennt, wandte ich mich an einige Passanten um Auskunft.mZu meinem Erstaunen verstanden die ersten Fünf kein Wort Deutsch sondern nur Tschechisch. [PdP, S. 307] Eine weitere Gemeinsamkeit, die Camus’ Prag-Texte beispielsweise mit Gotická duše von Jiří Karásek aufweisen, ist die starke Faszination, die von der Barockarchitektur ausgeht. Auch Karáseks Protagonist Vilém wird von existentiellen Selbstzweifeln geplagt und fürchtet wahnsinnig zu werden. Mit seiner „gotischen Seele“ flüchtet er sich in die Kirchen der Stadt Prag, um dort die Stimmung des Mittelalters zu suchen. Von der prächtigen Barockkunst und der jahrhundertealten Kirchenarchitektur geht für den Protagonisten jeweils eine trostspendende Melancholie aus, und sowohl Mersault als auch Vilém empfinden die dort herrschende Einsamkeit und Ruhe als beruhigend. Es bleibt festzuhalten, dass sich in Camus’ Texten aus der Mitte der 1930er Jahre die Motive zunehmend verdichten und mit vielen signifikanten früheren Prag-Texten teilweise sehr markante Gemeinsamkeiten aufweisen. In diesen Texten steht vor allem das klassische Prag-Zentrum mit seinen historischen Sehenswürdigkeiten im Vordergrund: Die Magie der Stadt scheint sich dabei insbesondere aus der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und der Präsenz der Vergangenheit im Stadtkern zu speisen, wie bereits im Abschnitt Topologie der Erinnerung: Die Stadt als Gedächtnisraum herausgearbeitet wurde. Ging es in den Darstellungen von Prag als Gedächtnisraum im Wesentlichen um die Geschichte der Stadt, mit der in der Literatur eine kollektive Identitätsstiftung einhergeht, so steht in den zuletzt vorgestellten Prag-Texten etwa von Raabe, Mrštík, Apollinaire oder Camus eine individuelle Identitätssuche, der Versuch der Selbstfindung oder die Suche nach dem persönlichen Glück im Vordergrund. Die Figuren erscheinen jeweils als Flaneure, die durch ihren Blick spezifische Stadt-Bilder entstehen lassen, welche sich wiederum als Ganzes zu einem „Tableau de Prague“ zusammenfügen. Dieses zeichnet sich in den einzelnen Texten durch eine starke Subjektivität aus – viele der genannten Werke resultieren aus Reiseerfahrungen und -berichten. Die einzelnen Protagonisten befinden sich in Prag auf der Suche, sie verirren sich im Flanieren durch die Gassen der Stadt und wandern scheinbar ziellos durch

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verschiedene Stadtviertel. Diese eigentlich subjektiven Stadt-Bilder weisen jedoch untereinander auffällige Gemeinsamkeiten auf. Oftmals erscheinen die Figuren zumindest zeitweise auch als Geschichtsflaneur:innen, die auf den Spuren der Vergangenheit durch Prag wandeln. Obgleich sie hier nicht unbedingt als zentrales Element zu verstehen ist, ist die Geschichte nicht von der Topologie Prags ablösbar. In dem dabei entstehenden Tableau wird immer wieder ein Zusammenhang zwischen dem Selbstbild des Protagonisten und dem literarischen Prag-Bild deutlich. Bestimmte Orte und Aspekte der Stadt widerspiegeln die Problematik der Identitätssuche und finden in einem Repertoire von Motiven und Thematiken ihren Ausdruck, so zum Beispiel die Konfrontation mit dem Tod, die Darstellung der Moldau als Totenfluss, die eindrucksvollen Gotiktürme der Teynkirche auf dem Altstädterring, die Barockarchitektur, das Glockenläuten, die verwinkelten Gassen der Judenstadt, die Kneipen, Kaffeehäuser und Lokalitäten des nächtlichen Vergnügens, der Hradschin, der Blick über die Dächer und das hunderttürmige Panorama, die untergehende Sonne hinter dem Hradschin bzw. Petřín, Nebel und Wolken oder der Gegensatz von Tag und Nacht sowie Oben und Unten. All diese Komponenten stellen wiederum ebenso Mythologeme des Prag-Mythos dar und sind somit als bedeutungstragende Einheiten der Mythotopologie der „magischen“ Stadt Prag zu verstehen. Dieses vielschichtige literarische Prag-Tableau stellt nun kein einzelnes Standbild dar, vielmehr entsteht die Räumlichkeit „nicht mehr durch Kumulation des Sichtbaren zum ‚Tableau‘, sondern durch die Bewegung des Gehens, die den Raum durchmißt.“136 Entscheidend also ist die Bewegung der:s Schauenden, einer:s Gehenden, die:der das Tableau durchschreitet bzw. es literarisch festhält. Gleichzeitig eröffnen die Prag-Bilder in ihrer literarischen Fixierung einen Raum, der es wiederum einer:m Leser:in ermöglicht, durch die Stadt zu flanieren, sei es nun innerhalb des Textes oder wie bei Nezval mit dem Gedanken einer Poetisierung der realen Stadt. So wird die Stadt für die:den Prager Flaneur:in lesbar – sowohl für die:den Leser:in eines Prag-Textes, als auch für die:den Spaziergänger:in als Figur im Text. 136 Corbineau-Hoffmann, Angelika: Paradoxie der Fiktion. Literarische Venedig-Bilder 17971984. S. 46.

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2 Topographien der Flanerie Prag, diese Stadt voll finsterer Gassen und geheimnisvoller Höfe ist der Schauplatz. Träumerisch und traurig sind die selten handelnden Menschen.137 [Rainer Maria Rilke]

Prag als Topos einer individuellen Identitätssuche verbindet sich in der PragLiteratur mit einem spezifischen Stadt-Bild, welches im Abschnitt über die Prager Spaziergänger:innen und ihre Lesarten herausgearbeitet wurde. Dieses literarische Tableau entsteht mit der Bewegung einer:s Schauenden bzw. Gehenden und spiegelt in den einzelnen Texten die seelischen Innenräume der Protagonist:innen wider. Diese sind in der Regel geprägt von finsteren, düsteren und melancholischen Motiven und Thematiken – insbesondere der Tod erscheint in diesem Zusammenhang allgegenwärtig. Die starke Todessymbolik ist weiterhin auch eng mit der Funktion der Stadt als einem Gedächtnisraum verknüpft, wie bereits im Abschnitt über Das polemische Prag: Topographien des Kampfes und des Todes herausgearbeitet und erläutert wurde. In einer engen Verbindung dazu steht beispielsweise die Allegorisierung der Stadt Prag als Mutterstadt. Im folgenden Abschnitt werden einzelne Komponenten aufgeschlüsselt, denen die:der literarische Prag-Flaneur:in auf ihrem:seinem Spaziergang durch die Stadt gewahr wird. Häufig sind diese als Allegorisierungen des Todes zu verstehen. Die Protagonist:innen begegnen auf ihren Streifzügen anderen Figuren, sie halten sich an bestimmten Orten bzw. in Räumen auf, oder sie verlieren sich in ihrem Blick über die Stadt immer wieder in einem bestimmten Detail. Im Folgenden werden einige dieser Außenräume des Prag-Tableau mit ihren Funktionen untersucht und ihre Bedeutungen für die Mythotopologie der Stadt ergründet.

137 Rilke, Rainer Maria: Die Zukunft. In Ders.: Sämtliche Werke. Band 4. Hrsg. vom RilkeArchiv. Frankfurt am Main 1961. S. 981 f.

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2.1 Allegorisierungen des Todes 2.1.1 Im Strom der „großen Geschichte“: Die Moldau als Totenfluss Du sterntragende Moldau, dahingleitend in deinem nächtlichen Bett zwischen den beiden ungleichen Hälften, der schwarzen, zerrissenen Rose, die zusammengehalten werden von den Spangen massiver Brücken, dein verdunkeltes Blut wälzt sich durch die alte Wunde der so oft schon geprüften Verdammung Prags; was alles fließt in dich hinein, und doch erfüllst du gerade vor unseren Augen dein Schicksal: Erhabenheit.138 [Vítězslav Nezval]

Ein zentrales Element in der Mythotopologie von Prag, sowohl topographisch als auch sinnbildlich-thematisch, ist die Moldau, die als breiter Strom mitten durch das Stadtzentrum fließt. Die Funktion und die Semantisierung der Moldau als Totenfluss wurde bereits in den Kapiteln Verschmelzen von Vergangenheit und Gegenwart oder in Tableau des Selbstverlustes: Der nächtliche Spaziergänger und die dunkle Seite der Stadt angedeutet. Auch im Kapitel Die Maskerade der „großen Geschichte“ wurde dargestellt, dass die Moldau in Ota Filips Café Slavia als Metapher für die unerbittlich vergehende und dahinfließende Zeit zu verstehen ist. Bei Filip symbolisiert sie die Geschichte, die sich draußen vor den Fenstern des Kaffeehauses abspielt und wie ein „Henkerrad der Zeit“ [CS, S. 202] an den glänzenden Fenstern des Cafés vorbei ohne Sinn und Ziel dahinrollt [vgl. CS, S. 261]. Prag wird in diesem Zusammenhang als Topos zu einer skurrilen Bühne der historischen Ereignisse, an dem die Stadt mit ihren Einwohner:innen der „großen Geschichte“ [vgl. CS, S. 48] ausgeliefert ist. Der Roman beschreibt das Leben des Grafen Nikolaus Belecredos, dessen Mittelpunkt Prag ist. Die Geschichte des Protagonisten wird mit den historischen Ereignissen in den Jahren von 1910 bis 1968 verknüpft. Im-mer wieder wird vor allem die Willkür und die Unerbittlichkeit der Geschich-te thematisiert, welcher der Einzelne hilflos ausgeliefert ist. Damit einher geht Belecredos Dasein als Prag-Flaneur – jeden Tag seines Lebens geht er quer durch die Stadt, um mittags um Punkt zwölf Uhr im Café Slavia einen Kognak und einen Kaffee zu trinken. Auf seinen Spaziergängen bewegt 138 Nezval, Vítězslav: Der Prager Spaziergänger. S. 82.

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er sich innerhalb eines bestimmten Aktionsradius, mit dem sich im Roman nach allen Himmelsrichtungen der Stadt Panoramablicke eröffnen. So entsteht in Café Slavia ein umfassendes und anschauliches Tableau der Stadt im Wandel sämtlicher Tages- sowie Jahreszeiten, in dessen Zentrum immer die Moldau erscheint. Im Nordwesten wird dieser Raum von Belecredos Wohnung auf der Kleinseite im obersten Stockwerk der Botschaft der Volksrepublik China begrenzt. Oft steht er dort „an dem Fenster mit dem schönsten Ausblick über Prag“ [CS, S. 205] und blickt über den Stadtkern, über „die von fettem Ruß geschwärzten Dächer der Kleinseite, den faulig grünen, riesigen, himmelanschwellenden Busen der Kuppel von Sankt Niklas, die Moldau und die Karlsbrücke.“ [CS, S. 12] Vom Palais aus kann er mit seinem weitsichtigen Auge hinunter über die Karlsbrücke bis hin zur „Karlsstatue, links vom Altstädter Brückenturm“ [CS, S. 12] sehen, und nach rechts blickt er über die Abhänge des Laurenzibergs [vgl. CS, S. 26]. Der Petřín (Laurenziberg) bildet im Ro-man die westliche Grenze von Belecredos Bewegungsraum. Wiederum von dort aus blickt er eines Winters gen Osten über die Stadt, durch deren Mitte sich die Moldau wie ein schwarzes Trauerband schlängelt: Oben am Laurenziberg angekommen sah ich im Osten einen silbernen Streifen aufglühen, der das Weiß der Erde von der grauen Finsternis des Himmels trennte. Es hörte auf zu schneien. Aus dem farblosen Modlaubecken begannen Mauerstümpfe zu wachsen. Erst später erkannte ich, die Umrisse der zahlreichen Türme. Mir kam es vor, als wäre ein jeder aus der weißen Finsternis an falscher Stelle gewachsen. Eine leichte Brise, die aus dem Westen kam, verdrängte den nächtlichen Schleier über der Stadt ostwärts. Ich konnte die Moldau sehen; der Fluß glich einer schwarzen Trauerschleife, mitten in die Stadt gelegt und mit silbernen Brückenspangen ans linke und rechte Ufer geheftet. [CS, S. 102 f.] Die Karlsbrücke mit dem Kreuzherrenplatz, auf dem die Karlsstatue (Kaiser und König Karl IV.) steht, bilden die nordöstliche Begrenzung von Belecredos Spaziergängen, während der Aktionsradius im Süden vom Café Slavia und der heutige „Brücke der Legionen“ (Most Legií), die vom Kaffeehaus zum gegenüberliegenden Moldauufer führt, begrenzt wird.

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Belecredos lässt sich häufig auf dem Kreuzherrenplatz nieder, um sich auszuruhen oder zu verweilen. In der Morgendämmerung erscheint der Blick von dort auf die wiederum gegenüberliegende Seite der Stadt apokalyptisch und unheilvoll und Prag ist im Begriff, ins Moldautal in sich zusammenzustürzen: Der verstaubte Himmel über der Stadt, bis zur Morgendämmerung nur auf die Kirchentürme gestützt, reißt auf. Ein riesiger Kupferkessel voll glühenden Lichts kippt jetzt ins Moldautal um. Die Wucht des Lichtschlages ist so heftig, daß sich in diesem Augenblick alle Kirchentürme westwärts zu neigen scheinen und nur, weil sie an ihre Schatten gelehnt sind, aufrecht stehen bleiben und nicht zusammenbrechen und uns erschlagen. [CS, S. 14] Eines Nachts schaut der Graf vom Kreuzherrenplatz auf das klassische PragPanorama der Kleinseite und des Hradschin. Auch dieses Bild enthält die bereits behandelten charakteristischen Motive wie den Mondschein, die verheißungsvollen Glockenschläge der Prager Turmuhren und die Moldau, die das Spiegelbild des Mondes mit ihrer zugefrorenen Eisdecke verschlingt: ich stehe wieder in dieser frostigen Nacht auf dem Kreuzherrenplatz, das Licht des Halbmondes fällt vom Laurenziberg dem Kaiser und König direkt ins eiserne Gesicht. Ein kleiner Eiszapfen, der von der Spitze des aus dem kaiserlichen Gewand ragenden Gliedes hing, glitzerte wie ein Bergkristall. Der zersprungene Stein, von dem der Blinde Jüngling einst dem Kaiser und König die Zukunft prophezeit hatte, glüht unter meinen Schuhsohlen. Dann schreite ich […] über die Karlsbrücke und singe jedem Brückenheiligen, ob echt oder falsch ein Lied. Die Heiligen links, ihre Gesichter liegen im Schatten, neigen ihre Köpfe, die rechts, voll im Licht des Mondes, der sich plötzlich rot färbt, lächeln mich an. Ein zweiter Mond liegt auf dem Eis der zugefrorenen Moldau und ist graurot. Dann schlägt von der gotischen Spitze der scharf gezeichneten Silhouette des Hradschins der große Sigismund mehrmals auf die Stadt ein. Mit jedem Aufschlag ändert sich das Licht; der Mond auf dem Eis glüht auf und sickert lautlos durch die hartgefrorene graue Decke ins Wasser. Es wird finster. Mit dem letzten Schlag der ehrwürdigen Glocke öffnet sich am östlichen Horizont eine Wunde. Ihr Eiter ist gelb. [CS, S. 61]

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Die gleiche Aussicht erscheint im Frühling erfrischend freundlich und farbenfroh, mit „unzähligen Farbtupferl […] vom strahlenden Grün der Kastanienbäume am Moldauufer“, dem mild glitzernden „Rot der Dächer“ und dem vom Wind über die Stadt getragenen „Blau des Firmaments“ [CS, S. 183]. Es wird deutlich, wie sich das Stadtbild mit den Jahres- und Tageszeiten verändert, und so ein Kontrast entsteht, der beispielsweise auch in Vilém Mrštíks Santa Lucia ein wichtiges Element ist, um die Seelenzustände des Protagonisten zu spiegeln. Dennoch symbolisiert die Moldau in Zusammenhang mit dem unerbittlichen Strom der „großen Geschichte“ in Café Slavia in erster Linie einen Fluss des Todes. Immer wieder erscheinen ihre bedrohlichen Wasser im Zentrum der beschriebenen Bilder, vorwiegend in unheilvollen Rot- und Brauntönen (z. B. ein Strom „voller Blut“ [CS, S. 176]), oder sie gleicht „einer schwarzen Trauerschleife“ [CS, S. 103]: Die braune Ader, die angeschwollen, jedoch ruhig unter den Glasscheiben des Café Slavia lag, begann zu zucken. Von unten stiegen neue Farbtöne an die Wasseroberfläche; vielleicht war es das Blut der hingerichteten, ermordeten, geköpften oder erstochenen Opfern, die man seit Jahrhunderten nachts in den Strom warf. [CS, S.127] Im Laufe des Romans verfinstert sich der Fluß zunehmend: „Die Moldau floß nicht mehr, sie zog dahin wie schwarzes Pech“ [CS, S. 264]. Und immer wieder drohen die Wasser die Karlsbrücke einzureißen: „Das braune Tauwasser hob das Eis und drückte es mit unheimlicher Kraft gegen die Pfeiler der Karlsbrücke. Die neunundzwanzig Heiligen drohten umzukippen.“ [CS, S. 64 f.]. Eine Frau, die beim Grafen Unterstützung sucht, bringt sich vor seinen Augen in der Moldau um, nachdem Belecredos kein Verständnis für ihre missliche Lage aufbringen konnte. [vgl. CS, S. 87 f.] Auch sein Freund Wenzel wird von den Russen in der Moldau ertränkt. Nicht zuletzt rutscht sogar das weltgrößte Stalin-Denkmal hinunter ins Tal des Todesflusses: Stalin drehte sich um seine Achse; er fiel, als wäre er gestolpert, langsam vornüber auf den Moldauhang. Verspätet donnerte die Detonation über Prag in alle Himmelsrichtungen hinweg. […]

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Steine schlugen in die matt glänzende Moldau, andere prasselten auf die Dächer oder fielen auf das Pflaster. Zahlreiche Splitter sausten an meinem Fenster vorbei, noch später kam das Echo der Detonation zurück in die Stadt, es fiel von allen Seiten ins Moldaubecken ein, stieß über der Staubwolke, die wie eine graue Glocke über der Stadt hing, an der noch vor weniger als einer Sekunde Stalin über der Moldau gestanden hatte, wieder zusammen. [CS, S. 246 f.] So steht auch die Moldau in gewisser Hinsicht in einem Zusammenhang mit den historischen Ereignissen in Prag – besonders dem Zusammenbruch und einem Nicht-Funktionieren des Sozialismus: Nach und nach stürzt alles in die Moldau, bis schließlich die ganze Stadt in einem apokalyptischen Bild des Untergangs in sich zusammenzusinken scheint: Die Stille erdrückte mich. […] Die tausend Türme im Blickfeld meines weitsichtigen Auges sind gewachsen, jedoch alle schief und in alle Himmelsrichtungen. Die zwei Türme der Teynkirche hatten sich bereits zu einem Kreuz verflochten. Die drei Spitzen des St. Veitsdomes spielten verrückt und drohten, auf drei Stadtteile zu fallen. Am rosaroten südlichen Horizont sah ich den Wyschehradfelsen in die Moldau umkippen. Die Türme der St.-Peter-und-Paul-Kirche bewegten sich nach Osten, der südliche Turm ging einigermaßen aufrecht, der nördliche nach vorne gebeugt und in der Hälfte gebrochen. Die zwei Türme der Karlsbrücke stemmten sich gegen die unsicheren Ufer; es gelang ihnen jedoch nicht, die bis zum Brechen gespannten Bögen mit der Last der dreißig Heiligen in zwei geraden Linien zu halten. [CS, S. 264] Auch in dieser Beschreibung sind es maßgeblich rote und schwarze Farbtöne, die das apokalyptische Bild bestimmen – ähnlich wie etwa in Vilém Mrštíks Santa Lucia oder Jiří Karáseks Gotická duše. Mit der Farbgebung wird die Assoziation einer todbringenden Feuersbrunst evoziert, die die Stadt in Schutt und Asche zu legen droht: Die Luft bewegte sich nicht; mit grauem Staub und roter Asche belastet legte sie sich auf die Dächer der Nacht zum Schlaf. Die Flugbahnen der Tauben waren kurz; die Vögel konnten nicht mehr fliegen, so segelten sie von den rußschwarzen Mönchnonnendächern in die tiefen Schatten

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der engen Gassen. Ich hörte die Aufschläge ihrer Flügel auf das harte Pflaster und ihren Todesruf. [CS, S. 264 f.] Die Moldau indessen, ganz im Zeichen des Todes, fließt nicht mehr – „sie zog dahin wie schwarzes Pech; ich konnte kein Schäumen und Plätschern des Wassers am Stauwehr hören.“ [CS, S. 264] Das gesamte Prag-Panorama verfinstert sich im Laufe des Romans zunehmend, und auch der einzige „Farbtupfer“ am Horizont dieses dem Untergang geweihten Bildes verdunkelt sich nach und nach: Häufig beobachtet Graf Belecredos von den Moldauufern oder von der Karlsbrücke einen Angler in einem hellblauen Boot. Zunächst wird es noch als „strahlend hellblau“ [CS, S. 89] bezeichnet, während es in Belecredos Blickfeld immer mehr in die Ferne rückt: „Der Himmel war rot, der Hradschin ebenfalls, der Strom war voller Blut; nur unterhalb der dunkelrotfarbenen Spitze der Schützeninsel stand still im Fluß der einst hellblaue Fleck des Bootes“ [CS, S. 176]. Schließlich ist es eines Tages gänzlich verschwunden:

Abb. 13: Karlsbrücke mit Fährmann (Illustration in Praha našich snů)

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Alles schien in der Frühlingssonne auf seinem Platz, dennoch konnte ich meine Unruhe nicht loswerden. […] Seit heute mittag liegt das Boot nicht mehr unterhalb der Nordspitze der Schützeninsel. […] Der einst hellblaue Fleck auf der Wasseroberfläche der Moldau fehlte. [CS, S. 220] Gegen Ende des Romans bezeichnet Belecredos die Moldau sogar als Acheron, den Totenfluss der griechischen Mythologie, über den die Seelen der Toten in die Unterwelt gebracht werden. Der Angler im einst hellblauen Boot indessen ist der Prager Charon, und der Graf ist froh, dass er sich von ihm noch nicht „in seinem morschen Boot über den Acheron rudern“ lassen muss, sondern noch zu Fuß ins Café Slavia gehen kann: Auf der Karlsbrücke angelangt sah ich den Prager Acheron: ein toter, matt glänzender, zusammengeschrumpfter Wasserstreifen. Unterhalb der Schützeninsel saß im einst hellblauen Boot ein Greis über zwei Angelruten geneigt. Zwischen den Granitblöcken oberhalb des Stauwehrs schwammen unzählige bunte Zierfische, noch zappelnd oder schon tot, mit lila angefaulten Bäuchen nach oben. [CS, S. 259] Auch in Café Slavia ist die Stadt Prag dem Untergang geweiht: Die Bilder werden zusehends bedrohlicher und unheilvoller, und die Stadt scheint nach und nach über dem Totenfluss zusammenzustürzen. Mit dem Verfall der Stadt geht auch der Verfall des Protagonisten einher, der sich als einzelner Bewohner der Stadt ihrer „großen Geschichte“ ausgeliefert fühlt: Die Zeit, in der ich zu leben hatte, war für mich stets eine wunderliche Fehlkonstruktion der Ewigkeit. Sie stürzte zusammen und verschüttete mich […]. In jenen Monaten, in denen ich unter den Trümmern meiner geborstenen Zeit begraben lag, wanderte ich in Prag umher. [CS, S. 233] Belecredos hat resigniert und bewegt sich nur noch als mehr oder weniger unbeteiligter Flaneur in seinem gewohnten Radius durch die Stadt und ihre Geschichte:

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Ich hatte aufgegeben, weiß aber bis heute nicht was. Habe ich Schlachten geschlagen und sie wahrscheinlich verloren, habe ich erfolgreich um mein Überleben gekämpft, bin ich ein Sieger oder ein Verlierer? Ich weiß es nicht […]. Ich habe nie meine Kräfte in heldenhaften Posen vergeudet. Leider bin ich am Ende genauso müde und erschöpft und verbraucht wie einer, der sein ganzes Leben lang verbittert für oder gegen etwas gekämpft hat. Ein müder Held, ein erschöpfter Weltverbesserer oder ein Mensch wie ich bieten denselben kläglichen Anblick. [CS, S. 234] Prag ist für den Grafen Belecredos der absurde Schauplatz einer willkürlichen und unsinnigen Anhäufung von Ereignissen, der „großen Geschichte“, in der er mittendrin als Zuschauer [vgl. CS, S. 178] und Flaneur den Verfall der Stadt beobachtet, während auch er selbst langsam zugrunde geht und seine Beobachtungen in Bildern und Geschichten festhält: „Behaltet mich im Gedächtnis als den Mann und Vater, der euch allen die Tore zu den Verrücktheiten dieser Stadt geöffnet hat! Genießt sie, solange es noch möglich ist.“ [CS, S. 255]

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2.1.2 Unverhoffte Begegnungen: Die Figur des Anderen als Seelenspiegel Wer aber ist die Fremde? Eine Vision, die selber Visionen trägt und sät. […] Eine Vision, gebunden an einen Ort, hervorgegangen aus den Steinen einer Stadt. Ihre Stadt – Prag. Nie ist sie woanders erschienen, obgleich sie gewiß die Macht dazu hat.139 [Sylvie Germain]

Häufig begegnet die:der Prag-Flaneur:in auf ihren:seinen Spaziergängen durch die Stadt einer unbekannten, geheimnisvollen oder eigenartigen Gestalt. Daniela Hodrová bezeichnet diese Figur als „Doppelgänger“ 140 und versteht sie als Seelenspiegel der Protagonist:innen, als Ausdruck ihres inneren Seelenlebens. Das Zusammentreffen mit dieser Figur wiederum bedeutet Hodrová zufolge eine Begegnung mit sich selbst. 141 So wie das gesamte Tableau der Stadt in den einzelnen Texten des Gefühlsleben der Held:innen widerspiegelt oder zu einer unheilvollen Ankündigung wird, so steht auch diese Begegnung mit einer:m Unbekannten in einem Zusammenhang mit einer bedeutungsvollen Stimmung im jeweiligen Prag-Text: „Postupně houstne atmosféra, z níž se může vynořit dvojník.“142 Auch Giuseppe Dierna, der in seinem Artikel Praha za soumraku RakouskaUherska: mýtus a jeho dvojník (Prag im Zwielicht Österreich-Ungarns: Der Mythos und sein Doppelgänger) die Todessymbolik in der tschechischen Literatur im 19. Jahrhundert untersucht, stellt fest, dass solche Doppelgängerfiguren in der tschechischen, sowie in der deutschsprachigen Prag-Literatur erscheinen, wenngleich sie sich in ihrer jeweiligen Bedeutung unterscheiden: Jakožto město přeťaté řekou, a mající tedy již samotnou svou topografií sklony k reduplikaci, začíná byt Praha počátkem nového století živnou půdou pro zrození dvojníků. Avšak jestliže se pro německé spisovatele stal dvojník fragmentem destruktivní potenciality města, pro spisovatele české bude postava Doppelgänger (spojená – a překrývající se – s čast139 Germain, Sylvie: Die weinende Frau in den Straßen von Prag (Originaltitel: La pleurante des rues Prague). Aus dem Französischen von Christel Gersch. Berlin 1994. S. 14 140 Vgl. Hodrová Daniela: Citlivé město. S. 203-207. 141 Vgl. ebd. S. 211 ff. 142 Ebd. S. 204. Dt.: Allmählich verdichtet sich die Atmosphäre, aus der ein Doppelgänger emporsteigen kann.

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ým obrazem sebevraha) spíše metaforou vykrvácení české duše, její nepomíjivé vnitřní slabosti, její chronické neschopnosti využívat svých sil143 Es wird deutlich, dass die Doppelgänger in der Prag-Literatur eine Figur darstellen, die den Protagonist:innen in irgendeiner Form ihr eigenes und innerstes Selbst vor Augen führen soll. Darüber hinaus erscheinen diese Figuren aber auch häufig als Schwellengestalten, die sich durch ein plötzliches, unvermutetes Erscheinen sowie Verschwinden auszeichnen und nicht unbedingt als menschliche Gestalten dargestellt werden. Dementsprechend erinnern sie in ihrer Funktion und Darstellung weiterhin meist an eine Allegorisierung des Todes. Insbesondere in den tschechischen desillusionierten Texten um die Jahrhundertwende kommt es häufig zu einer solchen Begegnung mit einem unbekannten Fremden. So zum Beispiel in Jiří Karáseks Gotická duše oder auch in seinem Román Manfreda Macmillena (Roman über Manfred Macmillen, 1907).144 Karáseks Figur Vilém in Gotická duše wünscht sich ausdrücklich in seinem einsamen melancholischen Dasein, in dem er sich zusehends verliert, jemanden zu treffen, mit dem er sich identifizieren kann und der ihn in seinem Leiden versteht: 143 Dierna, Giuseppe: Praha za soumraku Rakouska-Uherska: mýtus a jeho dvojník. S. 111. Dt.: Als Stadt durchschlagen mit einem Fluss, und mit ihrer samtenen Topographie mit der Neigung zur Reduplikation, beginnt Prag am Anfang des neuen Jahrhunderts ein Nährboden für die Geburt von Doppelgängern zu werden. Wenn jedoch für deutsche Schriftsteller der Doppelgänger einer Fragment des destruktiven Potentials der Stadt geworden ist, wird für tschechische Schriftsteller die Figur des Doppelgängers (im Zusammenhang – und sich überlagernd – mit dem häufigen Bild des Selbstmörders) vielmehr zu einer Metapher für die ausblutende böhmische Seele, ihre unvergängliche innere Schwäche, ihre chronische Unfähigkeit, ihre eigene Kraft zu gebrauchen. 144 In Jiří Karáseks Román Manfreda Macmillena, dem ersten Teil seiner Trilogie Romány tří magů (Romane dreier Magier), hat der Protagonist Manfred eine Begegnung mit sich selbst: Als er in der Kreuzherrenkirche am Grab von Vratislav z Mitrovic, einer bekannten tschechischen Persönlichkeit aus der Zeit von Bilá hora steht, verliert er sich in Gedanken. Er befindet sich wie in einem Fieberzustand („jako v horečce“) und hat das Gefühl, dass jemand hinter ihm steht: „Ano byl to někdo, kdo byl druhé mé já.“ Karásek ze Lvovic, Jiří: Romány tří magů. Román Manfreda Macmillena. Prag 1907. S. 38. Dt.: Ja, da war jemand, der mein zweites Ich war.

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Odcizoval sám sobě duši, stavě proti ní chladný, vypočtený život s maskou lhostejností. Přál si, by se setkal s bytostí mezi životem a smrtí s takovým mysticimem, jenž by rozřešil jeho tajemství beze jména, a zmocnil se stejně duše, jako těla. A přál si, by mohl k té bytostí býti takový, jaký byl sám k sobě.145 Als er sich eines Abends auf dem Petřín in seinem Blick über die Stadt in der Dämmerung verliert, kommt es zu dieser Begegnung: Vilém wird in seiner Selbstversunkenheit von jemandem gestört, der sich unweit von ihm auf eine Bank setzt und ihm ebenfalls wie ein Einzelgänger erscheint („kdo se zdál stejným samotářem“146). Von dem Fremden scheint eine seltsame Anziehungskraft auszugehen: Mimoděk pohleděli na sebe. A hned jako by je něco sbližovalo. Neoslovili se však. Ba neodvážili se už podruhé do sebe tak sezadívati. Ale cítil od té chvíle, že jest jako pod magnetickým vlivem příchozího. Byl to někdo, kdo by mu mohl býti přítelem? A žíti, jen žíti... Všechno, jen ne toto živoření, tento položivot. Nic celého. Nic pořádného. Ani pořádná vášeň, pořádný cit, ba ani pořádná nuda. Samý polocit, polovášeň, polonuda. [...] K čemu to všechno jest? Samá pošetilost, samé týrání pro neuskutečnitelné chiméry!147

145 Karásek ze Lvovic, Jiří: Gotická duše. S. 14. Dt.: Er entfremdete sich selbst von seiner Seele, und ersetzte sie durch ein kaltes und berechnendes Dasein mit einer Maske der Gleichgültigkeit. Er wünschte sich, ein Geschöpf zu treffen zwischen Leben und Tod, mit einer solchen Mystik, die sein namenloses Geheimnis entschlüsseln würde und sich seiner Seele wie auch seines Körper bemächtigen würde. Und er wünschte, er könnte diesem Geschöpf gegenüber so sein, wie er zu sich selbst war. 146 Ebd. S. 38. Dt.: der sich selbst genauso wie ein Einzelgänger vorkam 147 Ebd. S. 38. Dt.: Unwillkürlich sahen sie einander an. Und sofort war es, als würde sich irgend etwas nähern. Sie richteten jedoch kein Wort aneinander. Ja sie wagten es nicht einmal sich ein weiteres mal so anzublicken. Aber er fühlte von diesem Moment an, dass er von dem Zeitgenossen wie unter einem magnetischen Einfluss stand. War es jemand, der ihm ein Freund sein könnte? Und Leben, nur Leben... Alles, nur nicht dieses Elend, dieses Halbleben. Nichts Ganzes. Nichts Richtiges. Nicht einmal eine richtige Leidenschaft, ein richtiges Gefühl, noch nicht einmal eine richtige Langeweile. Nur Halbgefühl, Halbleidenschaft, Halblangeweile. [...] Und wozu das alles? Nur Torheit, nur Quälerei für unerreichbare Chimären!

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Zunächst verliert sich Vilém erneut in seinen Selbstzweifeln, doch dann besinnt er sich wieder auf den Fremden und betrachtet eingehend dessen von der Dämmerung verschleierten Gesichtsausdruck: Podíval se náhle v zraky cizincovy. Neviděl ještě nikdy takových očí. Zelenavý jich odstín přecházel tmou v měkký, zlenivělý a žlutavý, jantarový tón, teplem jako žhoucí, jenž jako by vsával a vpíjel tmu. Oči, jež lákaly a zároveň ironisovaly, rozevíraly se a přivíraly, hned jako se zostřenou pozorností, hned zase jako v naprosté apatii. Pocítil nepokojnou lásku k cizinci a toužil se zmocniti se jeho tajemství. Pozoroval pohyby jeho rtův a nervosní chvění prstův: a najednou mu se zdál cizinec tak podivně známým, a rty nebyly rty někoho cizího, ale rty jeho vlastními, a ruce – to byly jeho vlastní ruce. Ztotožnil se s cizincem a byl jako hypnotisován jím, že všechno kolem zdálo mu se jako zemdlené a zaspalé...148 Vilém erkennt sich selbst in dem Fremden und ist besonderes von dessen Augen fasziniert. Doch dann eröffnet sich vor seinem Blicken die unheilvolle, apokalyptische Stimmung der im Sonnenuntergang zusammenstürzenden Stadt149, in der er sich abermals verliert. Diese abwechselnde Betrachtung und Vertiefung in den Anblick des Fremden und des Pragpanoramas verdeutlicht eine Verbindung zwischen dem Unbekannten, in dem sich Vilém selbst wiedererkennt, und der dem Untergang geweihten Stadt. Das Schicksal der Stadt steht mit Viléms eigener Bestimmung in einem untrennbaren Zusammenhang – der Protagonist identifiziert sich mit der Geschichte Prags, die gleichzeitig 148 Ebd. S. 39. Dt.: Plötzlich sah er in die Augen des Fremden. Noch nie hatte er solche Augen gesehen. Ein grünlicher Farbton überquerte das Dunkel in weichem, faulendem und gelblichem, bernsteinfarbenem Ton, wie von Wärme glühend, der die Dunkelheit einzusaugen und zu absorbieren schien. Augen, die zu locken schienen und gleichzeitig ironisierend, sie öffneten sich und schlossen sich halb wieder, bald wie mit geschärfter Aufmerksamkeit, bald wieder wie in völliger Apathie. Er spürte dem Fremden gegenüber eine unruhige Liebe und sehnte sich danach, sich seines Geheimnisses bemächtigen zu können. Er beobachtete die Bewegungen seiner Lippen und das nervöse Zittern seiner Finger: und auf einmal kam ihm der Fremde seltsam bekannt vor, und die Lippen waren nicht die Lippen eines Fremden, sondern die Lippen seiner selbst, und die Hände – das waren seine eigenen Hände. Er erkannte sich selbst in dem Fremden und war von ihm wie hypnotisiert, sodass ihm alles um ihn herum ermattet und eingeschlafen vorkam. 149 Vgl. hierzu auch die Kapitel Matička Praha und das Bild einer toten Stadt und Tableau des Selbstverlustes: Der nächtliche Spaziergänger und die dunkle Seite der Stadt.

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die seines Volkes und seine eigene ist. Als er schließlich aus seiner Hypnose wieder zu sich kommt, ist der Fremde weg, und er empfindet erneut eine schmerzliche Einsamkeit: „Povstal: byl úplně sám. I cizinec zatím odešel. Mrtvé ticho se prostřelo městem. V temnosti kobaltu se pro-hlubovalo nebe. Cítil ted něco jako prudkou lítost za neznámým...“150 Zu einer zweiten Begegnung kommt es, als Vilém krank und alleine in seinem Gemach liegt und leise jemand sein Zimmer betritt. Vilém betrachtet den Unbekannten genau, seine starr blickenden Augen, seinen annähernd athletischen Körperbau und sein Gesicht: Obličej jeho byl křídově bledý, skoro mrtvolný, vrámovaný do hustých vlasův a vousův onoho nejčernějšího odstínu, s jakým se obrážejí za bezměsíčné noci tmavé věci v hladině vodní. Dodávaly obličeji vzezření neobyčejně chmurného a přísného. Mrazivost vála z vysokého čela. […] Celý obličej se zdál mrtvý až na rty, jež se pohnuly chvílemi sotva znatelně, propouštějíce oddech, a na bradu, jež se zachvívala jemně. […] Tak stál zde Neznámý, ani ne tak vyzývavě, jako spíše vyčítavě. Jako by chtěl říci, že se nevzdálí tak snadno. A že svůj záměr, s nímž sem vešel, také stůj co stůj uskuteční...151 Regungslos steht der Fremde vor Vilém mit seinem Gesicht, das wie im Schlaf zu sein scheint. Vilém versucht sich zu besinnen, wo er einen solchen Menschen schon einmal gesehen hätte, doch er kann sich nicht erinnern. Er wartet darauf, dass der Unbekannte etwas sagt, aber dieser schweigt und starrt 150 Vgl. Karásek ze Lvovic, Jiří: Gotická duše. S. 41. Dt.: Er erhob sich: er war völlig allein. Auch der Fremde war indessen gegangen. Totenstille breitete sich über die Stadt. Der Himmel vertiefte sich in Dunkelheit von Kobalt. Jetzt fühlte er so etwas wie ein plötzliches Bedauern für den Unbekannten. 151 Ebd. S. 56. Dt.: Sein Gesicht war kreidebleich, beinahe leichenartig, eingerahmt in dichtes Kopf- und Barthaar jenes allerschwärzesten Farbtons, mit dem in mondlosen Nächten sich die dunklen Dinge in der Wasseroberfläche widerspiegeln. Sie gaben dem Gesicht ein ungewöhnlich düsteres und strenges Aussehen. Eine eisige Kälte wehte von der hohen Stirn. […] Sein ganzes Gesicht schien tot, bis auf die Lippen, die sich manchmal kaum merklich bewegten, den Atem hindurchlassend, und bis auf das Kinn, welches sanft zitterte. So stand er hier der Unbekannte, nicht einmal sehr herausfordern, sondern eher vorwurfsvoll. Als ob er sagen wollte, dass man nicht so leicht aufgäbe. Und dass seine Absicht, mit der hierher gekommen war, sich auch verwirklichen würde, koste es, was es wolle...

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ihn nur unverwandt an. Dann fängt Vilém plötzlich zu reden an: „Znám tě... [...]. Vím, kdo jsi. A věděl jsem, že přijdeš... že právě dnes... v tuto hodinu přijdeš. Jsem připraven. Mluv. Ano, čekal jsem tebe.“ 152 Vergeblich versucht er den Unbekannten zum Reden zu bewegen und das Gespräch gleicht indessen vielmehr einem Selbstgespräch, während der Fremde beharrlich schweigt und lediglich still lächelt. Schließlich hält ihn Vilém für einen Repräsentanten des Todes, jemanden, der nicht von dieser Welt ist („ty už nejsi z tohoto světa“153), der den Menschen das Leben neidet und den Tod auf die Welt gebracht hat („Nenáviděl jsi života a přivedl jsi na svět smrt.“ 154). Auf einmal jedoch nähert sich ihm der Fremde: A cizinec pozvedl pojednou ruce. Mystické probodení zazářilo na nich. Vzkřikl jako v úžase. Byl to přece On. Klesl na kolena. Vztáhl ruce. Objal nohy Cizincovy. A procitl. Klečel před krucifixem, objímaje nohy Ukřižovaného.155 In diesem Moment kommt sein Diener in den Raum, und es stellt sich heraus, dass Vilém einen Fiebertraum hatte. Schließlich bricht er bewusstlos zusammen („A klesl pojednou v bezvědomí.“156). Der unbekannte Fremde stellt in Gotická duše einerseits eine Doppelgängerfigur dar, die den Protagonisten widerspiegelt bzw. nur von ihm imaginiert wird, auf der anderen Seite ist er aber auch eine Verkörperung des Todes. In der Szene auf dem Petřín erkennt Vilém sich selbst in dem Unbekannten, der das Geschöpf verkörpert, dem zu begegnen er sich gewünscht hat – jemand, der sich wie er selbst in einem Zustand zwischen Leben und Tod befindet: „Přál si, by se setkat s bytostí, mezi životem a smrtí“ 157. Auch in der Begeg152 Ebd. S. 56. Dt.: Ich kenne dich... ich weiß wer du bist. Und ich wusste, dass du kommst... dass du genau heute in dieser Stunde kommst. Ich bin bereit. Sprich. Ja, ich habe dich erwartet. 153 Ebd. S. 57. Dt.: du bist schon nicht von dieser Welt. 154 Ebd. S. 58. Dt.: Du hast das Leben gehasst und hast den Tod auf die Welt gebracht. 155 Ebd. S. 58. Dt.: Und plötzlich hob der Fremde die Hände. Eine mystische Durchbohrung erleuchtete sie. Er schrie auf wie vor Entsetzen. Das war doch Er. Er sank auf die Knie. Er streckte seine Hände aus. Er umarmte die Beine des Fremden. Und er erwachte. Kniend vor dem Kruzifix, die Beine des Gekreuzigten umarmend. 156 Ebd. Dt.: Und auf einmal sank er in Ohnmacht. 157 Ebd. S. 14. Dt.: Er wünschte sich, ein Geschöpf zu treffen, zwischen Leben und Tod.

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nung an Viléms Krankenbett erkennt er im Gesicht des Fremden sein eigenes – das regungslose Gesicht eines Schlafenden. Weiterhin scheint der Fremde auch eine Vision des Todes zu sein, auf den der Protagonist gewartet hat. So wie Prag in Gotická duše als eine dem Untergang geweihte Stadt erscheint, so fühlt sich auch Vilém dem Tode nah, welcher durch den sich nähernden Unbekannten immer mehr an Gestalt gewinnt. Einige dieser unverhofften Begegnungen wurden bereits in den vorhergehenden Kapiteln eingehend untersucht und vorgestellt, so zum Beispiel die des Ich-Erzählers mit dem ewig wandernden Juden in Guillaume Apollinaires Le passant de Prague, die als eine Konfrontation mit dem Tod und der Unsterblichkeit und zugleich eine Auseinandersetzung mit den eigenen Selbstzweifeln zu verstehen ist. Oder die Figur Zrcadlo (Spiegel) im Kapitel Verschmelzen von Vergangenheit und Gegenwart. Häufig wird Zrcadlo in Gustav Meyrinks Walpurgisnacht von den anderen Figuren für eine Verkörperung des Todes gehalten, der kaiserliche Leibarzt sieht in ihm einen „Unzurechnungsfähigen, vielleicht sogar Wahnsinnigen“ [Wn, S. 94]. In seiner Funktion als Seelenspiegel jedoch repräsentiert er vielmehr den Tod und fungiert in gewisser Hinsicht als Todesbote, der den Menschen ihr eigenes Inneres vor Augen führt: Manchem Menschen ist ihre Seele so fremd geworden, daß er tot zusammenbricht, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, daß er sie erblickt. Er erkennt sie dann nicht mehr, und sie erscheint ihm zum Medusenhaupt verzerrt; sie trägt das Antlitz der üblen Taten, die er vollbracht hat und von denen er heimlich fürchtet, sie könnten seine Seele befleckt haben. [Wn, S. 93 ff.] Und so bricht auch der blasierte Österreicher im Grünen Frosch unvermittelt tot zusammen, als ihm Zrcadlo gegenüber tritt. Seine Seele ist tot, und infolgedessen kann ihm der Seelenspiegel nur mehr eine „Totenmaske“ [Wn, S. 90] entgegen halten. Der Begriff der „Doppelgängerfigur“ erscheint insofern nicht ganz zureichend, als er die Funktion der Figur als Allegorisierung des Todes nicht impliziert. Deshalb ist für die vorliegende Untersuchung die Bezeichnung der

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„Figur des Anderen“ treffender, da sie diese im Grunde gegensätzlichen Bedeutungen nicht ausschließt. Einerseits führt die Figur des Anderen als Seelenspiegel den Protagonist:innen ihr eigenes Selbst vor Augen und offenbart ihnen ihr verborgenes Inneres. Auf der anderen Seite ist sie aber ebenso eine Personifikation der Fremdheit, welche die Figur mit etwas Unbekanntem und möglicherweise Beängstigendem konfrontiert. So offenbaren sich in dieser Figur des Anderen erneut die ambivalenten Kräfte der Stadt Prag, die an diesem Topos auf das Individuum einwirken. Besonders der Golem aus Meyrinks gleichnamigen Erfolgsroman stellt ein eindrückliches Beispiel für eine solche Figur des Anderen dar. Der Golem hat wenig mit der ursprünglichen jüdischen Sagengestalt gemein, deren Namen er trägt, er wird vielmehr beschrieben als ein Unbekannter, ein „vollkommen fremder Mensch, bartlos, von gelber Gesichtsfarbe und mongolischem Typus“, der alle 33 Jahre auftaucht, „durch die Judenstadt schreitet und plötzlich unsichtbar wird“ [Go, S. 48 f.]: Immer einmal in der Zeit eines Menschenalters geht blitzschnell eine geistige Epidemie durch die Judenstadt, befällt die Seelen der Lebenden zu irgendeinem Zweck, der uns verhüllt bleibt, und läßt wie eine Luftspiegelung die Umrisse eines charakteristischen Wesens erstehen, das vielleicht vor Jahrhunderten hier gelebt hat und nach Form und Gestaltung dürstet. […] Vielleicht ist es nur so etwas wie ein seelisches Kunstwerk, ohne innewohnendes Bewußtsein – ein Kunstwerk, das entsteht, wie ein Kristall nach stets sich gleichbleibendem Gesetz aus dem Gestaltlosen herauswächst. [Go, S. 51] Er gleicht einer seelischen Explosion, „die unser Traumbewußtsein ans Tageslicht peitscht“ [Go, S. 51]. Wie ein Fieber bemächtigt sich diese Gestalt, ein „eigentliches Phantasie- oder Gedankenbild“ [Go, S. 53], gegen deren Willen der Seele der Menschen, um sich verkörpern zu können: Ja, ja, er hat recht, er sprach nicht im Fieber, fühlte ich – das unfaßbare Gespenst des Verbrechens ist es, das durch diese Gassen schleicht Tag und Nacht und sich zu verkörpern sucht. Es liegt in der Luft und wir sehen es nicht. Plötzlich schlägt es sich nie-

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der in einer Menschenseele, wir ahnen es nicht – da, dort, und ehe wir es fassen können, ist es gestaltlos geworden und alles längst vorüber. [Go, S. 42] Der Protagonist Athanasius Pernath ist zwar seinem Namen nach selbst der „Unsterbliche“ (aus dem Altgriechischen: Vorsilbe „a-“ = un + „thanatos“ = der Tod), doch nachdem er zu Beginn des Romans das Buch Ibbur erhalten hat, ergreift diese unbestimmten Macht von ihm Besitz. Als „Ibbur“ wird nach dem jüdischen Volksglauben die Seele eines Toten bezeichnet, die sich vorübergehend einer irdischen Menschenseele bemächtigt.158 Bei Meyrink verkörpert sich diese im Golem. Auch wird die Ambivalenz einer solchen Figur des Anderen deutlich, die zugleich in der Konfrontation mit dem eigenen Ich sowie dem beängstigenden Unbekannten zur Geltung kommt: Trotz eines furchtbaren Grauens, das die Menschen in dem Moment überkommt, in dem der Golem von ihnen Besitz ergreift, verlässt sie keine Sekunde die Gewissheit, „daß jener andere nur ein Stück ihres eigenen Innern sein“ [Go, S. 54] könne. Der Protagonist wird zunächst in seiner Wohnung vom Wesen des Golems in leiblicher Gestalt heimgesucht, bevor sich dieser schließlich seines Körpers bemächtigt, als Pernath versucht, sich die Wesenszüge des Fremden in Erinnerung zu rufen: Meine Haut, meine Muskeln mein Körper erinnerten sich plötzlich, ohne es dem Gehirn zu verraten. Sie machten Bewegungen, die ich nicht wünschte und nicht beabsichtigte. Als ob meine Glieder nicht mehr mir gehörten! Mit einem Male war mein Gang tappend und fremdartig geworden […] Ich trug ein fremdes, bartloses Gesicht mit hervorstehenden Backenknochen und schaute aus schrägstehenden Augen. Ich fühlte es und konnte mich doch nicht sehen. Das ist nicht mein Gesicht, wollte ich entsetzt aufschreien [Go, S. 27 f.]

158 „Ibbur“ bedeutet Seelenwanderung und ist die Geburt einer rechtschaffenen Seele in einer guten Person, wodurch die Gutherzigkeit dieser Person verstärkt wird. Es war die natürliche Erweiterung dieser Vorstellung anzunehmen, daß ein böser Geist Wohnsitz in einem anderen nehmen könnte.“ (Das Oxford-Lexikon der Weltreligionen. Hrsg. von John Bowker, übersetzt von Karl-Heinz Golzio. Düsseldorf 1999. S. 241, Eintrag „Dibbuk“)

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Vor seinem inneren Auge verwandelt sich Pernath, er verliert sich buchstäblich selbst und erkennt in dem fremden Gesicht, das nicht mehr sein eigenes ist, eindeutig den Unbekannten wieder („Ganz deutlich wußte ich: so ist er.“ [Go, S. 28]). Nun wußte ich, wie der Fremde war, und ich hätte ihn wieder in mir fühlen können – jeden Augenblick –, wenn ich nur gewollt hätte; aber sein Bild mir vorzustellen, daß ich es vor mir sehen würde Auge in Auge – das vermochte ich noch immer nicht und werde es auch nie können. Es ist wie ein Negativ, eine unsichtbare Hohlform, erkannte ich, deren Linien ich nicht fassen kann – in die ich selber hineinschlüpfen muß, wenn ich mir ihre Gestalt und ihres Ausdrucks im eigenen Ich bewußt werden will – [Go, S. 28] Pernath ist sich seines Zustands geistiger Krankheit bewusst, und er hat das Gefühl, „eine lange Strecke voll tiefer Dunkelheit durchlaufen“ [Go, S. 29] zu müssen, um dieses Rätsel seiner Vergangenheit lösen zu können. In diesem Sinne ist auch er ein Flaneur auf der Suche nach seinem eigenen Geheimnis, nach seiner Vergangenheit, an die er sich nicht mehr erinnern kann, ein Heimatloser auf der Suche nach sich selbst. [vgl. Go, S. 57 f.] Der Sage nach verlässt Ibbur die irdische Seele erst wieder, wenn diese eine versäumte Pflicht aus ihrem früheren Erdenleben wieder gut gemacht hat. Später erklärt sein Freund Hillel Pernath anhand einer Spiegelmetapher, dass es schmerzlich ist, sein eigenes Inneres vor Augen geführt zu bekommen: „Auch ein silberner Spiegel, hätte er Empfindung, litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und glänzend geworden, gibt er alle Bilder wider, die auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung.“ [Go, S. 78] Ferner zieht er in Betracht, dass die Begegnung mit dem so genannten „Golem“ „die Erweckung des Toten durch das innerste Geistesleben“ [Go, S. 80] bedeutet: „Wer aufgeweckt worden ist, kann nicht mehr sterben. Schlaf und Tod sind dasselbe.“ [Go, S. 80] Seit seiner vermeintlichen Begegnung mit dem Golem lebt Pernath wie in einem Traumzustand, er zweifelt an seinem Verstand und sucht vergeblich seine eigene Vergangenheit, an die er sich nicht erinnern kann.

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In Gustav Meyrinks Romanen kommt in solchen Figuren wie dem Schauspieler Zrcadlo oder dem Golem die dunkle „magische“ Macht der Stadt zur Geltung, die dem Autor zufolge ihre Einwohner:innen in gespensterartige Seelen und Marionetten verwandelt würde. In seinem Essay Die Stadt mit dem heimlichen Herzschlag (1928) erklärt Meyrink dieses Phänomen folgendermaßen: Jeder Mensch, den ich dort gekannt, gerinnt zum Gespenst und zum Bewohner eines Reiches, das den Tod nicht kennt. Marionetten sterben nicht, wenn sie von der Bühne verschwinden; und Marionetten sind alle Wesen, die die Stadt mit dem heimlichen Herzschlag gefangenhält. Andere Städte, so alt sie auch sein mögen, muten mich an, wie unter der Gewalt ihrer Menschen stehend: wie desinfiziert von keimtötenden Säuren – Prag gestaltet und bewegt wie ein Marionettenspieler, seine Bewohner von ihrem ersten bis zum letzten Atemzug. […] Mir war, als begriffe ich dumpf eine Art schattenhaften Zusammenhangs. Oder war es Zufall? Ich glaube es nicht; die Stadt mit dem heimlichen Herzschlag hat eine seltsame Art, durch den Mund ihrer Marionetten zu reden!159 Auch im Golem scheint von der Stadt eine unbestimmte Kraft auszugehen und besonders die alten und verfallenen Häuser der Judenstadt erwecken den Eindruck, als würden sie ein unheimliches Eigenleben führen. [vgl. Go, S. 30 f.] Erst nach langer Zeit und vielen Erlebnissen schöpft Pernath am Ende des Romans wieder Hoffnung: „Die Zufriedenheit eines Menschen, der nach langer Wanderung heimkehrt und die Türme seiner Vaterstadt von weitem blinken sieht, erfüllte mich auf ganz besondere Weise.“ [Go, S. 266] Der Golem wird von einer Rahmenerzählung umfasst, die von einem Ich-Erzähler berichtet, der wiederum Pernaths Geschichte träumt: Bereits im ersten Kapitel Schlaf wird deutlich, dass auch dieser das Gefühl hat, nicht er selbst zu sein. Er spürt, wie sein eigener Körper schlafend im Bett liegt und seine Sinne nicht mehr an ihn gebunden sind: „Langsam beginnt sich meiner ein unerträgliches Gefühl von Hilflosigkeit zu bemächtigen. […] Wer ist jetzt ‚ich‘, will ich plötzlich fragen; da besinne ich mich, daß ich doch kein Organ mehr besitze, mit dem ich Fragen stellen könnte“ [Go, S. 10 f.]. Am Ende des Ro159 Meyrink, Gustav: Die Stadt mit dem heimlichen Herzschlag. S. 158 ff.

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mans wacht der Erzähler auf und es wird ihm klar, dass er die Geschichte von Pernath geträumt hat: „Alles, was dieser Athansius Pernath erlebt hat, habe ich im Traum miterlebt, in einer Nacht, mit gesehen, mitgehört, mitgefühlt, als wäre ich er gewesen.“ [Go, S. 270] Er begibt sich auf die Suche nach ihm und findet ihn schließlich oben auf dem Hradschin in einem Haus in der „kleine[n], kuriose[n] Alchimistengasse“ [Go, S. 277], von wo aus man über die ganze Stadt blicken kann: „Athanasius Pernath dreht sich langsam zu mir, und mein Herz bleibt stehen: Mir ist, als sähe ich mich im Spiegel, so ähnlich ist sein Gesicht dem meinigen.“ [Go, S. 278 ff.] Die Figur des Golems wird tatsächlich auch im Roman als „Doppelgänger“ bezeichnet160, jedoch bedeutet sie weitaus mehr: Als Gestalt spiegelt der Golem dem Protagonisten nicht nur sein eigenes Selbst wider, sondern er bemächtigt sich seiner, was schließlich zum Selbstverlust führt und Pernath in einen rätselhaften Traumzustand versetzt. Meyrink zufolge liegt die Verantwortung hierfür wiederum bei der Stadt Prag, die ihre Bewohner:innen willkürlich zum Leben erweckt und sie auch wieder entseelt, ähnlich wie der Golem in der jüdischen Sage mit dem magischen Zahlenwort belebt werden kann: Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem künstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Getto ein kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem gedankenlosen automatischen Dasein berief, in dem er ihm ein magisches Zahlenwort hinter die Zähne schob. Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte, in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so müßten auch, dünkt mich, alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick zusammenfallen, löschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein nebensächliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen, bei dem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gänzlich Unbestimmtes, Haltloses – in ihrem Hirn aus. [Go, S. 32 f.]

160 Vgl. beispielsweise Go, S. 40 oder S. 218.

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So entsteht von Prag wiederum ein Tableau des Selbstverlustes mit dem für das Individuum unausweichlichen Schicksal der Entfremdung von sich selbst. Die Figur des Anderen führt dem Protagonisten sein innerstes Seelenleben vor Augen und bemächtigt sich dessen zugleich. Sie leiden unter diesem Zustand und befinden sich in dem Moment der Begegnung in einer Art Fiebertraum oder Hynosezustand, aus dem sie plötzlich wieder zu sich kommen. Ihr Gegenüber erscheint den Figuren fremd und unwahrscheinlich und sie hinterfragen jeweils dessen Existenz bzw. die Glaubhaftigkeit seiner Erscheinung. Die Ambivalenz der Figur des Anderen speist sich insbesondere aus dem Gegensatz von Fremd- und Vertrautheit: sie tritt als seelenverwandte Gestalt in das Leben der vereinsamten Protagonist:innen (so zum Beispiel in Gotická duše), verdeutlicht aber zugleich deren Zerrissen- und Verlorenheit, indem sie als Todesbote fungiert und unvermittelt, ohne den erhofften Trost zu spenden, wieder verschwindet. Die Figur des Anderen erscheint als personifizierte Fremdheit, da sie in ihrem fremd- und andersartigen Erscheinungsbild Faszination bis hin zu Angst auslöst. Diese Gestalt scheint kein Teil der „realen“ Welt zu sein, was sie wiederum zu einer symbolischen Allegorie des Todes macht, eben auch, weil sie sich der Seele der Protagonist:innen bemächtigt. In Der Golem kann diese Figur des Anderen in gewisser Hinsicht sogar als die Personifizierung der magischen Kräfte der Stadt verstanden werden, die mit ihrem „heimlichen Herzschlag“ wie eine Marionettenspielerin die Macht über das Leben ihrer Bewohner:innen hat.

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2.2 Die Prager Wirts- und Kaffeehauskultur und ihre Kneipengeschichten Im Kaffeehaus wird geschrieben, korrigiert, geredet. Im Kaffeehaus spielen sich Familienszenen ab, im Kaffeehaus wird geweint und über das Leben und auf das Leben geschimpft. Im Kaffeehaus ißt man auf Pump, im Kaffeehaus werden die halsbrecherischsten Geldtransaktionen vorgenommen. Im Kaffeehaus wird gelebt, gefaulenzt, die Zeit totgeschlagen.161 [Milena Jesenská]

Neben den Figuren, die den literarischen Stadtraum durchwandern und erschließen, sind weiterhin auch konkrete Örtlichkeiten mit ihren spezifischen Funktionen in der Prager Mythotopologie wesentlich. In einigen vorhergehenden Kapiteln wurde bereits die Semantik bestimmter Orte untersucht, so zum Beispiel die Bedeutung der Judenstadt mit ihren Nachtlokalitäten, die für viele Prager deutschsprachige Schriftsteller einen Ort der Zuflucht und Geborgenheit, geistige Heimat und Inspiration darstellte.162 Die Prager Kneipen und Spelunken sowie die Kaffee- und Wirtshäuser spielen als Topoi in der Literatur des 20. Jahrhunderts eine besondere Rolle. Das Wirtshaus gilt in der tschechischen Kultur als tradierter Gemeinplatz, als Ort des Zusammentreffens und der Kommunikation163 und bis heute ist insbesondere Prag für seine tief verwurzelte Kaffee- und Wirtshauskultur bekannt. Diese Lokalitäten stellten gerade für die Studenten- und Künstlerkreise zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen zentralen Ort des alltäglichen Lebens dar. Tatsächlich verbrachten gerade Studenten die meiste Zeit des Tages in Kaffeehäusern, da die Wohnverhältnisse in Prag schlecht waren und man sich so zumindest im Hellen und Warmen befand und einen Tisch zum Studieren hatte. Dementsprechend war das Kaffeehaus ein populärer Treffpunkt der Prager Bohème und ein Ort des Verweilens, an dem verschiedene künstlerische und literarische 161 Zitiert nach Jähn, Karl-Heinz (Hrsg.): Das Prager Kaffeehaus. Literarische Tischgesellschaften. Berlin 1988. S. 318 (Nachwort des Herausgebers). 162 Vgl. hierzu Kapitel Gefühl der Heimatlosigkeit und Rückwendung in das „Alte Prag“. 163 Vgl hierzu die Publikation Hospoda a pivo v české společnosti [Das Wirtshaus und das Bier in der tschechischen Gesellschaft] des Instituts für tschechische Literatur der Akademie der Wissenschaften der tschechischen Republik (Ústav pro českou literaturu Akademie věd České republiky, Prag 1997).

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Vereinigungen miteinander verkehrten. Der spätere Literaturnobelpreisträger Jaroslav Seifert beschreibt in seinen Lebenserinnerungen die Atmosphäre im Kaffeehaus folgendermaßen: Sie dröhnten von Scherzen, von dem Geräusch der Schritte, dem Scharren der Stühle und Sessel und dem Klappern des Geschirrs. Nein, still war es dort nicht. Allenfalls vormittags... Im Kaffeehaus wurde diskutiert, geplant, leidenschaftlich polemisiert, und nie hatte ich das Gefühl, dort Zeit zu vergeuden...164 Unter den Bohèmiens war es weiterhin nicht ungewöhnlich, im Laufe des Tages zwei bis drei verschiedene Kaffeehäuser zu besuchen, um sich die Zeit zu vertreiben: „Hier saß man bei stadtbekannt miserablem Kaffee, einem ‚Weißen‘, einem ‚Türken‘ oder einem ‚Kapuziner‘, beisammen, las, diskutierte, paffte Zigarren oder lauschte nur auf Gespräche. Oder man spielte Schach.“ 165 So beschließt beispielsweise der Protagonist Hans Schütz aus Karl Hans Strobls Der Schipkapaß, weniger Zeit in Wirts- und Kaffeehäusern zu verbummeln: Wenn er im Wirtshaus aß, so war der Nachmittag verloren, das wußte Hans genau. An das Mittagessen schloß sich eine Billardpartie. Dann eine oder zwei Stunden Kaffeehaus oder ein Bummel durch die Stadt, und so war eine Brücke gebildet, die bis zum Abend hinüberführte, zur Fechtstunde oder zur Kneipe, oder sonst irgendeinem Teufelszeug“166 Die verschiedenen literarischen Prager Gruppierungen trafen sich mit Vorliebe in bekannten Künstlercafés, so zum Beispiel im Café Arco, im Café Continental, im Café Union, im Café Central oder im vermutlich bekanntesten Café Slavia am Ufer der Moldau. „Manche Schriftsteller hatten ihr Stammcafé, viele aber ließen sich nicht auf ein Lokal festlegen und wanderten ruhelos umher“, wie Karl-Heinz Jähn in Das Prager Kaffeehaus über die Literarischen Tischgesellschaften schreibt. So wurde Prag gegen Ende des 19. Jahrhunderts 164 Zitiert nach Jähn, Karl-Heinz: Das Prager Kaffeehaus. Literarische Tischgesellschaften. S. 320 (Nachwort). 165 Jähn, Karl-Heinz: Das Prager Kaffeehaus. Literarische Tischgesellschaften. S. 318 (Nachwort). 166 Strobl, Karl Hans: Die Flamänder von Prag. S. 23.

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mit seinen Kaffeehäusern und den dort rege verkehrenden Literat:innenkreisen zu einem literarischen Zentrum der Moderne. Später, ab den 1950er Jahren, wurden von den Akteuren des Prager Undergrounds um Egon Bondy „die innenstädtischen Cafés zugunsten vorstädtischer Kneipen, Stehbuffets und Gasthäuser“167 eingetauscht. Als künstlerische Bohème suchten sie sich neue Orte bzw. Nicht-Orte168, die auch ihr nonkonformes Leben sowie ihre Kunstauffassung repräsentierten. Auch in den Texten der Prag-Literatur des 20. Jahrhunderts stellen die Wirtsund Kaffeehäuser der Stadt einen zentralen Topos dar. Dies zeichnete sich bereits in der tschechischen Literatur im 19. Jahrhundert ab, so zum Beispiel mit Jan Nerudas Sammlung Povídky malostranské (Kleinseitner Geschichten, 1878), in denen verschiedene Lokalitäten auf der Prager Kleinseite zu Schauplätzen von Beobachtungen und Schilderungen des kleinbürgerlichen Milieus werden. Die Gaststätte ist der Ort des Geschehens, beispielsweise in der Geschichte U Tří lilií (‚Zu den drei Lilien‘, 1876), die in einer Gewitternacht im gleichnamigen Tanzlokal spielt, oder das Gasthaus „Zum Steinitz“ in der Geschichte Pan Ryšánek a pan Schlegl (Herr Ryšánek und Herr Schlegl, 1875): Es ist lächerlich, wenn ich daran zweifeln wollte, daß einer meiner Leser das Kleinseitner Gasthaus ‚Zum Steinitz‘ nicht kennt. Es ist führend unter den dortigen Restaurants; das erste Haus links hinter dem Brückenturm, Ecke Brückengasse-Badgasse, große Fenster, große Glastür. Das einzige Restaurant, das sich kühn in die belebte Gasse hineinstellt und in das man unmittelbar vom Gehsteig gelangt – alle anderen Restaurants sind entweder in Seitengassen, oder man betritt sie durch ein Durchgangshaus, oder sie haben in echter Kleinseitner Bescheidenheit wenigstens einen Laubenvorbau. Darum geht ein echter Kleinseitner, ein Sohn dieser stillen, verschwiegenen Gassen voll poetischer Winkel, niemals ins Gasthaus ‚Zum Steinitz‘. Dort verkehren höhere Beamte, Professoren, Offiziere, welche der Zufall auf die Kleinseite geweht hat und wohl schon bald wieder von dort fortwehen wird, mit ihnen noch ein paar Pensionisten, einige alte reiche Hausbesitzer, die ihr Geschäft schon längst anderen übergeben haben – das ist alles. Bürokra167 Kliems, Alfrun: Der Underground, die Wende und die Stadt. S. 68. 168 Vgl. hierzu Kapitel Die Götter haben diese Stadt verlassen: Prag im „Totální realismus“.

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tisch-aristokratisch. […] Kurz gesagt, ‚Zum Steinitz‘ war der Kleinseitner Olymp, wo sich die Kleinseitner Götter trafen.169 Die Geschichte handelt von zwei Männern, die sich in diesem Gasthaus über elf Jahre hinweg schweigend an einem Tisch gegenübersitzen und nie ein Wort miteinander wechseln. Nerudas Geschichten beschreiben exzentrische und eigenartige Prager Typen sowie unglaubliche und sonderbare Ereignisse. Dieser verschrobene Prag-Typus, der vorzugsweise in Kneipen und Wirtshäusern anzutreffen ist, taucht auch in der Prag-Literatur des 20. Jahrhunderts immer wieder auf, beispielsweise in Egon Erwin Kischs Reportagen. Der so genannte „rasende Reporter“ hat Prag eingehend studiert und berichtet in seinen Reportagebänden über Prager Kinder (1913), Aus Prager Gassen und Nächten (1912) oder in Prager Pitaval über Historische Kriminalfälle aus Böhmen (1931). Anschaulich schildert er das Prag der damaligen Zeit mit seinen charakteristischen Figuren, fragwürdigen bis hin zu kriminellen Ereignissen oder Beobachtungen aus der Prager Halb- und Unterwelt; so handelt sein Roman Der Mädchenhirt (1914) zum Beispiel vom Milieu der Prager Dirnen und Zuhälter. Neben diesen Milieustudien und sozialen Reportagen verarbeitet er auch autobiographische Erinnerungen, so zum Beispiel in Abenteuer in Prag (1920). Auch Gustav Janouch berichtet in seinen Prager Begegnungen von Gesprächen und Zusammentreffen mit Prager Schriftsteller:innen in verschiedenen Wirtsund Kaffeehäusern der 1920er Jahre. Namentlich Egon Erwin Kisch soll in der Altstädter „Künstlerkneipe Dalles“ in der Liliengasse 12 folgendes über die „Magie“ der Stadt Prag gesagt haben: Prag ist ganz anders. […] Das ist nicht so einfach. Heimat und Welt – das ist in Prag auch ganz anders. Prag ist ein Zauber, etwas, das einen bindet und hält und immer wieder hierher zieht. Man kann nicht vergessen. Prag ist eben ganz anders.170 169 Neruda, Jan: Herr Ryšánek und Herr Schlegl. In. Ders.: Geschichten aus dem alten Prag. Aus dem Tschechischen übersetzt von Josef Mühlberger und Hans Gaertner. Auswahl und Nachwort von Antonín Měšťan. Stuttgart 1992. S. 5-19, hier S. 5 f. 170 Janouch, Gustav: Prager Begegnungen. S. 6.

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Weiterhin schreibt Janouch über eine Begegnung mit dem bekannten Schwejk-Autor Jaroslav Hašek im Altprager Nachtlokal U techniky am Karlsplatz.171 Im Leben des Bohèmien Hašek spielten die Prager Wirtshäuser eine besondere Rolle: „Beruflich und privat gescheitert gehörte er in der Vorkriegszeit als eine anrüchige Figur zum Dekor der Prager Nachtlokale.“ 172 Ab 1904 war er in der tschechischen anarchistischen Bewegung aktiv, welche sich vorwiegend in Wirtshäusern abspielte. Hašek rebellierte gegen bestehende bürgerliche Ordnungen und führte den „ungebundenen Lebensstil eines Bohemiens, Trinkers und Radaubruders, […] eines öffentlichen Clowns und Mystifikators“173. Er war Mitbegründer der „Partei des maßvollen Fortschritts in den Grenzen der Gesetze“ (Strana mírného pokroku v mezích zákona), und obwohl diese Partei 1911 tatsächlich am Wahlkampf teilnahm, ist sie als Parodie auf die Entstehung des Parteiwesens und eine Kritik am opportunistischen und angepassten politischen Verhalten der Tschechischen Sozialdemokratischen Partei zu verstehen. Die Parteiversammlungen, die in der Parteizentrale der Gaststätte „Kuhstall“ (Kravín) in Vinohrady stattfanden, glichen mehr einem gro-ßen Saufgelage als einem politischen Konvent. Hašek, der selbst als Soldat im Ersten Weltkrieg für die k. u. k.-Armee gedient hatte, war 1918 in russischer Kriegsgefangenschaft zur Roten Armee desertiert und dort der kommunistischen Partei Russlands beigetreten. Auch nach seiner Rückkehr 1920 engagierte er sich in der kommunistischen Arbeiter:innenbewegung in Prag. So-wohl in Zusammenhang mit seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg als auch mit seinem Leben als Bohème steht sein bekanntestes Werk Osudy dobrého vojáka Švejka za světové války (Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk während des Weltkriegs, 1921-1923). Die Wirtshausfigur Josef Schwejk taucht ab 1911 in kürzeren Theaterstücken und Kurzgeschichten auf. Die gesammelten Geschichten in Romanform verfasst Hašek schließlich erst ab dem Jahr 1921, kurz vor seinem Tod. Seine literarische Tätigkeit drückt sich vorwiegend in sozialkritischen Satiren, Humoresken und Parodien aus, und dementsprechend ist auch der Schwejk ein satirischer Schelmenro171 Ebd. S. 250 ff. 172 Chvatík, Květoslav: Die Prager Moderne. S. 365. 173 Schamschula, Walter: Geschichte der tschechischen Literatur. Von der Romantik bis zum Ersten Weltkrieg. Band II. Köln; Weimar; Wien 1996. S. 284.

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man, der einen narrenhaften Drückeberger darstellt. Entgegen den damaligen intellektuellen Literaturkonventionen schreibt Hašek für das Volk und benutzt eine derbe, vulgäre und ironische böhmische Volks- und Umgangssprache (hovorová, obecná čeština), die sich unter anderem durch viele Germanismen auszeichnet. Für Kurt Tucholsky ist die Figur des Schwejk Ausdruck einer „urgesunde[n] Volkskraft, die gegen die Brillen- und Monokelmenschen revoltiert“174: Herr Schwejk ist dumm-pfiffig, klein, völlig unbekümmert um alles, was mit ihm geschieht, aber voll des größten Interesses für alles, was um ihn herum vorgeht. […] Diesen Schwejk nun stellt der Verfasser in den Weltkrieg, und es begibt sich, daß der kleine Tscheche die gesamte österreichische Monarchie übers Ohr haut, wozu nicht viel gehört – mehr: daß er ihrer Herr wird, daß er sich mit der unschuldigsten Miene von der Welt über sie lustig macht, und daß alles vor diesem idiotischschlauen Kerl versinkt, Sieg, Niederlage, Ehre, Ruhm, General und Krankenschwester. Die Gespräche des Herrn Soldaten sind alle von leichter Blödelei angefüllt, an jeder Gesprächsecke überfallen ihn die Erinnerungen seiner Gasse, und wenns ernst wird, beginnt er, dem erstaunten Partner mit einer Geschichte aufzuwarten. So etwas von Pointenlosigkeit soll nochmal geboren werden.175

Abb. 14: Lada, Josef: Illustration der Wirtshausfigur Schwejk, 1926

174 Tucholsky, Kurt: Herr Schwejk. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Reinbek 1975. S. 456-461, hier S. 456. 175 Tucholsky, Kurt: Herr Schwejk. S. 459.

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Der Roman kann als Gesellschaftskritik an der Blasiertheit der Monarchie sowie der österreichischen Militärmaschine und am Krieg schlechthin verstanden werden. Für den tschechischen Literaturtheoretiker Květoslav Chvatík stellt Jaroslav Hašek eine wichtige Komponente der tschechischen Moderne dar. Als Avantgardist wird Hašek häufig in einem Atemzug mit Franz Kafka oder Bohumil Hrabal genannt. Auch Hrabal gilt mit seinen Figuren, deren Geschichten ähnlich wie die des Schwejk eine charakteristische Prager Mentalität und humorvolle (Selbst-)Ironie widerspiegeln, als einer der bedeutendsten tschechischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. In seinem Leben wie in seinen Romanen spielen die Prager Wirtshäuser eine zentrale Rolle. Über ihn sagt man, dass er die tschechische Sprache revolutioniert habe. Auch Hrabals Schreiben zeichnet sich durch einen besonders umgangssprachlichen Duktus aus, insbesondere seine Figuren sprechen eine Sprache, die sich in deutschen Übersetzungen kaum wiedergeben lässt. Diesen Erzählcharakter hat Hrabal selbst als „pabení“ bezeichnet, was im Deutschen mit „Bafeln“ übersetzt wird. Folgendermaßen erklärt Hrabal den Charakter eines Pábitel (Bafler): Ein Bafler, wenn er sich nicht mit anderen ins Gespräch einläßt, unterhält mit dem Reden sich selbst, er gibt Informationen über Vorfälle, deren Bedeutung übertrieben, verschoben, umgekehrt ist, denn der Bafler presst die Realitäten durch das diamantene Auge der Inspiration. Der Bafler ist voller Bewunderung für die sichtbare Welt, so daß dieser Ozean der schönen Erinnerungen ihn nicht schlafen läßt. Er ist so fasziniert vom Erzählen, daß der Eindruck entsteht, daß die Zunge sich den Bafler ausgesucht habe, um durch seinen Mund sich selbst zu erblicken und zu zeigen, wozu sie fähig sei.176 Die Wirtshausfigur Schwejk entspricht dem Typus eines beispielhaften Baflers. Auch Hrabal selbst war ein solcher Erzähler aus Leidenschaft und hinterließ ein umfangreiches schriftstellerisches Werk. Dementsprechend ist ebenso sein eigener Erzählstil geprägt von der typischen Prager Mentalität, was bereits in den Kapiteln über die „Prager Ironie“ und die Kulissen der Machtlosig176 Zitiert nach Schamschula, Walter: Geschichte der tschechischen Literatur. Band III. S. 502.

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keit ausführlicher beschrieben wurde. Hrabal spricht in Zusammenhang mit der „Prager Ironie“, die er vor allem den Werken von Jaroslav Hašek oder auch Franz Kafka zuschreibt, von transzendentalen Umwälzungen, die in den damaligen Jahren vor sich gingen, und von einer „Art negativer Mystik dieses Zeitalters ohne Gott“177. Die „Prager Ironie“ bringt dabei ein bestimmtes Lebensgefühl und die sozialen Umstände zum Ausdruck: Sie ist die Melancholie der ewigen Bauten, sie ist anscheinend ein Spiel für Kinder, ganz verrückt und blödsinnig für jeden überlegenen Geist, sie ist der vergebliche Kampf um den Menschen und für seine Sicht auf die Welt, die ihn umgibt178 Auch seine eigenen Erzählungen sind unterhaltsame Miniaturen von Typen und Darstellungen über Absurditäten aus dem Prager Alltagsleben, so zum Beispiel die Sammlungen Bambini di Praga (Kinder von Prag, 1978) oder Chcete vidět zlatou Prahu? (Möchten Sie das goldene Prag sehen?, 1989). Hrabals Prag zeigt keine magische, mystische oder geheimnisvolle Stadt, er thematisiert vielmehr ungeschönt die Zeit des Sozialismus und die damit einhergehenden Veränderungen und Absurditäten des alltäglichen Lebens. In seinen Erzählungen spiegelt sich jene charakteristische tschechische Melancholie wider, die Milan Kundera mit dem unübersetzbaren Begriff „lítost“179 bezeichnet. Hrabal beschriebt das Arbeiter:innenleben, die Fabriken, die Vorstädte und Arbeiter:innenviertel, „die Zigeuner:innen“ und die Kneipen. So ist etwa der Titel der Erzählung Magická Praha (Magisches Prag)180 auch ironisch zu verstehen: Magická Praha stellt einen Gourmet-Spaziergang durch gehobenere Prager Hotels und Gaststätten dar, von denen Hrabal jeweils die Spezialitäten des Hauses vorstellt:

177 Hrabal, Bohumil: Gespräche mit Sergio Corduas. Prager Ironie. S. 103. 178 Ebd. S. 104 179 Vgl. hierzu Vergleichende Zusammenfassung: De- und Remythologisierung einer ‚magischen‘ Stadt. 180 Hrabal, Bohumil: Magická Praha. In: Ders.: Sebrané spisy Bohumila Hrabala [Gesammelte Schriften von Bohumil Hrabal]. Band 15. Hrsg. von Miroslav Červenka. Prag 1995. S. 170172.

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Ale potlačený vznět je ušlechtilost […] a jedině gurmán se slabou vůlí neodolá a poručí si jednu ze specialit. Pak zase plzeňské a potom už lze se vracet večerem nazpátek přes Karlův most do Husovy ulice, kde stojí hostinec U zlatého tygra. A zase, když se posadíte, tak před vámi stojí hladinka plzeňského piva. Na stolku u dveří je deset talířků s pivním sýrem a deset talířků se studentským kaviárem, to jest krájenými vuřty s cibulí a octem. Když se gurmán sdostatek pomučil, poručí si jednu specialitu Tygra. A dá si další plzeňské pivo, které i z nežízně udělá žízeň. Tak gurmánův sanitární den pomalu končí a on je příští den opět schopen konzumovat další speciality pražských restaurací.181 Der Gourmet-Flaneur spaziert vom Bahnhof durch die Altstadt, über den Wenzelsplatz, den Hradschin und die Kleinseite und beendet seine kulinarischen Streifzüge schließlich in Hrabals Stammlokal „U zlatého tygra“ (Zum goldenen Tiger), in dem er auch geschrieben haben soll. Für Hrabal liegt die Magie der Stadt Prag offenbar in ihren Kneipen und Wirtshäusern verborgen, so gibt es auch einige Erzählungen, die diesem „magischen“ Ort huldigen. Zum Beispiel ist Moje Libeň (Mein Libeň) dem Prager Stadtteil gewidmet, in dem Hrabal ab 1950 lebte: „Ta Libeň, ta stará Libeň se v mém životě zjevila jako záchranný pás.“182 In der Erzählung besucht er nach und nach alle Ausschänke und Gasthöfe dieses Viertels, wobei er den großen und den kleinen Libeňer Slalom unterscheidet. Dabei begleitet Hrabal das Gefühl, dass all die Gassen und Straßen und alle Wirtshäuser dieses Stadtviertels einzig für ihn existierten („Ten čas jsem měl pocit a pak trvalý dojem, že všechny ty uličky 181 Hrabal, Bohumil: Magická Praha. S. 172 Dt.: Aber die unterdrückte Begeisterung gebührt dem Adel [...] und nur ein Gourmet mit schwachem Willen kann nicht widerstehen und bestellt sich eine der Spezialitäten. Dann wieder ein Pilsener und dann kann man schon am Abend über die Karlsbrücke in die Husová zurückkehren, wo das Wirtshaus Zum Golden Tiger steht. Und auf’s Neue, wenn Sie sich hinsetzen, dann steht ein Schnitt Pilsener Bier vor Ihnen. Auf einem Tischchen an der Tür stehen zehn Tellerchen mit Bierkäse und zehn Tellerchen mit Studenten-Kaviar, das sind Würste mit geschnittenen Zwiebeln und Essig. Wenn der Gourmet sich zur Genüge abgequält hat, bestellt er sich eine Spezialität des Tigers. Und er trinkt ein weiteres Pilsener Bier, welches auch aus Undurst Durst macht. So geht dann langsam der sanitäre Tag des Gourmets zu Ende und am nächsten Tag ist er erneut wieder in der Lage, weitere Spezialitäten der Prager Restaurants zu verköstigen. 182 Hrabal, Bohumil: Moje Libeň. In: Ders.: Sebrané spisy Bohumila Hrabala [Gesammelte Schriften von Bohumil Hrabal]. Band 12. Hrsg. von Miroslav Červenka. Prag 1995. S. 216220, hier 216. Dt.: Libeň, das alte Libeň erschien in meinem Leben, wie ein Rettungsgurt.

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a ulice, všechny ty hospody, všechno že je připraveno jen a jen pro mne“183). In seinem autobiographisch angelegten Roman Svatby v domě (Hochzeiten im Hause, 1987) schreibt er im zweiten Teil Vita Nuova, dass der Himmel in Libeň für ihn ein sonnendurchfluteter Ausschank sei („sluncem zalitý výčep jsou nebesa v Libni“184). Darüber hinaus gehört die Kneipe bzw. das Kaffeehaus auch in Hrabals bekanntesten Romanen Příliš hlučná samota (Allzu laute Einsamkeit, 1980) und Obsluhoval jsem anglického krále (Ich habe den englischen König bedient, 1971) zu den zentralen Schauplätzen der Handlung. In der Bohemistik werden diese Kneipengeschichten, wie etwa die Werke Nerudas, Hašeks oder Hrabals mitunter als eigenständiges Genre verstanden – so zum Beispiel von dem Prager Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Jiří Holý.185 Die Kneipengeschichten zeichnen sich eben durch ihren Schauplatz aus, an dem ein volkstümlicher Umgangston herrscht und es häufig um Kuriositäten sowie kuriose, originale Gestalten geht. Im Folgenden wird die Prager Kaffeehaus- und Kneipentopologie anhand konkreter Textbeispiele genauer analysiert.

183 Hrabal, Bohumil: Moje Libeň. S. 217. Dt.: Damals hatte ich das Gefühl und dann den bleibenden Eindruck, dass all die Gassen und Straßen, all die Wirtshäuser, alles einzig und allein für mich vorbereitet ist. 184 Hrabal, Bohumil: Vita nuova. In: Ders.: Sebrané spisy Bohumila Hrabala [Gesammelte Schriften von Bohumil Hrabal]. Band 11. Hrsg. von Miroslav Červenka. Prag 1995. S. 179419, hier S. 297. 185 Vgl. beispielsweise Holý, Jiří: Skaz a hospodská historka [Skaz und die Kneipengeschichte]. In: Mezi okrajem a centrem. Studie z komparatistiky. [Zwischen Peripherie und Zentrum. Studien aus der Komparatistik] Hrsg. von V. Svatoň, A. Housková, O. Král. Prag 1999. S. 121-132

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2.2.1 Innenräume als Rückzugs- und Lebensräume und die Figur des Oberkellners Irgendwo in dem schleierhaften blaugrauen Dunst über den von Grünspan bezogenen Kuppeln und den gestrengen Kirchtürmen, glaube ich in solchen Augenblicken zu wissen, gibt es ein Café mit vielen Tischchen, und von jedem kann man hinunterblicken in unsere Stadt, und die das von dort aus tun, haben hier fast alle einmal gelebt.186 [Lenka Reinerová]

Die Wirts- und Kaffeehäuser können in den verschiedenen Prag-Texten unterschiedliche Bedeutungen tragen. In seiner Abgeschlossenheit kann ein solcher Raum für die Protagonist:innen als ein Ort des Rückzugs oder der Geborgenheit fungieren. Er spendet dem Subjekt mitunter eine vermeintliche Sicherheit (beispielsweise für Leppins Figur Severin) oder stellt zumindest einen Kontrastraum zum verunsichernden und befremdlichen „offenen“ Stadtraum dar, so zum Beispiel die Semantisierung des Café Slavias in Ota Filips gleichnamigem Roman als Ankerplatz bzw. sicherer Hafen am Moldauufer im ungewissen Strudel der großen Stadtgeschichte.187 Das Café Slavia wurde schließlich selbst zu einem literarischen Topos; unter anderem widmete auch der Nobelpreisträger Jaroslav Seifert dem Zusammentreffen der tschechischen Avantgarde mit dem Surrealisten Guillaume Apollinaire ein Gedicht mit dem Titel Kavárna Slávie (1967). So waren die Prager Kaffeehäuser mehr als ein beliebter Treffpunkt – in ihnen wurde vielmehr Literaturgeschichte geschrieben. Rainer Maria Rilke stellt in einer seiner Zwei Prager Geschichten (1899) am Beginn von König Bohusch eine Kaffeehausszene eindrücklich dar: Eines nachmittags sitzt eine intellektuelle Runde zusammen im „NationalCafé, welches vor dem Prager tschechischen Theater liegt“ 188, bei Kognak, Absinth und einem angeregten Gespräch im klaren „Nachmittagslicht“, das durch die Frontfenster des Cafés scheint, durch die man „gerade die Rampe des Nationaltheaters sehen“189 kann. Diese unverwechselbare Lage am Ufer 186 Reinerová, Lenka: Das Traumcafé einer Pragerin. Erzählungen. Berlin 1999. S. 7. 187 Vgl. hierzu die Kapitel Die Maskerade der „großen Geschichte“ und „Im Strom der „großen Geschichte“: Die Moldau als Totenfluss. 188 Rilke, Rainer Maria: König Bohusch. S. 151. 189 Ebd. S. 154.

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der Moldau lässt im „National-Café“ das Café Slavia wiedererkennen. Die Gesellschaft besteht aus dem selbstgefälligen Schauspieler Norinski mit seinem „profunden und versonnenen Wesen“, „welches so großen Künstlern meistens eignet“190, dem schönen Maler Schileder, „der so traurige Dinge malte“191, dem Novellisten Pátek mit seinem „spitzen Modebart“ 192, dem Lyriker Machal, dem Studenten Rezek, der schweigend etwas abseits sitzt und „aus einem großen Stammglas heißen Tschaj mit viel Kognak“ 193 trinkt, und dem unsicheren Dichter Bohusch. Weiterhin anwesend ist Karás, „der lange blasse Kritiker des ‚Tschas‘“194. Der „große Mime Norinski“ betritt das Café und begrüßt die Anwesenden, indem er „mit unnötiger Wichtigkeit den andern am Stammtisch die Hand reichte.“ 195 Es entspinnt sich eine Unterhaltung, in der sich die Künstler gegenseitig aufziehen. Norinski fragt Machal „mit herablassender Gönnerstimme“196 nach seinem Schauspiel, doch dieser sinniert indessen abwesend vor sich hin: Der Lyriker schaute eine Weile schweigend in sein Absinthglas und erwiderte leise und kummervoll: ‚Es ist Frühling.‘ Alle erwarteten noch etwas, aber der Dichter schien schon wieder unterwegs nach dem blassen Garten seiner Träume. Er sah sein Absinthglas wachsen und wachsen, bis er selbst sich mittendrin fühlte in dem opalnen Licht, ganz leicht, ganz gelöst in dieser seltsamen Atmosphäre.197 […] Die anderen sprachen jetzt, während Machal sich gewiß wieder im Absinthglas sitzen fühlte, von lauten Dingen und Alltäglichkeiten in wirrem Durcheinander, und über allem schwebte die Baßstimme des Schauspielers mit ausgebreiteten Flügeln. Bohusch aber dichtete in seiner Ecke an seiner Apologie des Frühlings.198

190 191 192 193 194 195 196 197 198

Ebd. S. 151. Ebd. S. 152. Ebd. Ebd. Ebd. S. 151. Ebd. Ebd. S. 153. Ebd. Ebd. S. 155.

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Abb. 15: Oliva, Viktor: Der Absinthtrinker (1901); berühmtes Gemälde im Café Slavia

Diese Szene erinnert an das berühmte Gemälde des tschechischen Malers Viktor Oliva, welches im Café Slavia fast eine ganze Wand füllt: Piják absintu (Der Absinthtrinker, 1901) zeigt einen Mann, der seinen Kopf schwer vom Absinth in die linke Hand stützt – ein Zeichen von Melancholie – und den Blick starr ins Leere richtet. Vor ihm auf dem Tisch liegt eine aufgeschlagene Zeitung, daneben steht ein volles Glas mit leicht grünlich schimmerndem Absinth. Mit einem seiner Bestandteile, dem Wermut (Artemisia absinthium), steht dieses Getränk auch symbolisch für Bitterkeit und Trauer, was im Gesichtsausdruck des Absinthtrinkers anschaulich zur Geltung kommt. Auf dem Tisch sitzt eine nackte, grüne, halb durchsichtige Frauengestalt, die „grüne Fee“, wie der Absinth auch genannt wird. Außer dem Grün der Frau und des Getränks weist das Gemälde kaum Farben auf, der Caféraum ist ansonsten leer, im Hintergrund steht lediglich der Kellner, leicht nach vorne gebeugt, bereit dem Gast seine Wünsche zu erfüllen.

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Auch Jaroslav Seifert schreibt darüber, wie er mit seinen Schriftstellerfreunden im Café Slavia Absinth trank: „Dort saßen wir und an einem Fenster zur Uferstraße und tranken Absinth. Das war ein wenig Koketterie mit Paris.“ 199 Absinth gilt als das Getränk der Künstler:innen und Literat:innen, ihm wird sowohl eine halluzinogene als auch erotisierende Wirkung nachgesagt: „Es scheint, als sei die gesamte europäische Elite der Literatur und der bildenden Künste im Absinthrausch durch das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert getorkelt.“200 Das Prager Kaffeehaus als beliebten Zufluchtsort der Einkehr und Kontemplation stellt auch die deutschsprachige Schriftstellerin Lenka Reinerová in ihrem Werk dar. Die gebürtige Pragerin emigrierte nach der Besetzung der deutschen Wehrmacht 1939 nach Frankreich und kehrte 1946 wieder in ihre Heimatstadt zurück, in der sie bis zu ihrem Tod 2008 lebte. Sie wurde jedoch nach ihrer Rückkehr in der Tschechoslowakei zunächst mit einem Veröffentlichungsverbot belegt und durfte erst wieder nach 1989 publizieren. Als Person wie auch in ihrem Werk bewahrte Lenka Reinerová den Mythos eines literarischen Prags der Jahrhundertwende mit seinen berühmten schreibenden Persönlichkeiten und dem Zauber, welcher der Stadt damals innewohnte. Sie setzte sich für ein Erhaltung der Tradition der deutschsprachigen Literatur in Prag ein, welches über die kommerzielle Vermarktung der Figur Franz Kafkas hinausgehen sollte, und gründete 2004 das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren (Pražský literární dům autorů německého jazyka). Als letzte Vertreterin der Generation der Prager deutschsprachigen Literatur wahrt die Schriftstellerin insbesondere mit ihrem eigenen Schreiben Bilder und Erinnerungen an eine Stadt, die sich im Laufe der Jahrzehnte merklich verändert hat, so zum Beispiel in den autobiographischen Erzählungen und Erzählbänden Es begann in der Melantrichgasse (1985), Zu Hause in Prag manchmal auch anderswo (2001) oder in Närrisches Prag. Eine Bekenntnis (2005). In der Erzählung Das Traumcafé einer Pragerin (1996) beklagt sie beispielsweise das Verschwinden der „Zufluchtswinkel aus dem Prag ferner 199 Seifert, Jaroslav: Am Fenster des Kaffeehauses Slavia. In: Das Prager Kaffeehaus. Literarische Tischgesellschaften. S. 248-251, hier S. 248. 200 Bertschi, Hannes; Reckewitz, Marcus: Von Absinth bis Zabaione, Berlin 2002. S. 7.

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Jahre“201, und sie erinnert sich zurück an die Zeit, in der „es die Prager Kaffeehäuser mit ihren Stammtischen und verständnisvollen Herren Oberkellnern noch hier unten in unseren Straßen gab“ 202. Sie imaginiert ein Café, mit dem sie ihre Erinnerungen bewahrt und den bedeutenden Besuchern früherer Kaffeehäuser ein Denkmal setzt: Wohin, so frage ich mich oft, wenn ich durch mein Prag streife, wohin sind die Kaffeehäuser verschwunden, in denen man über einer Tasse schwarzen Kaffees […] einen halben oder beinahe einen ganzen Tag diskutieren und Pläne schmieden, viel erfahren, interessante Menschen beobachten oder auch kennenlernen, Freundschaften schließen oder gar eine große Liebe finden konnte? Und weil es sie nicht mehr gibt, diese Zufluchtswinkel ferner Jahre, spinne ich an meinem ganz persönlichen Prager Traum.203 Reinerová stellt sich vor, dass ihre verstorbenen Freunde Stammgäste im überirdischen Kaffeehaus sind und auf sie wie Schutzengel hinabblicken204, insbesondere „Egonek“, Egon Erwin Kisch, der ihr sehr nahe stand. Sie versammelt in diesem Text die großen Prager Schriftstellerfiguren des 20. Jahrhunderts, so zum Beispiel auch den „schlanken, in den Schultern etwas zusammengesunkenen“ Franz Kafka, der damals „in der angeregt lärmenden Gesellschaft eher zu den stillen Teilnehmern zählte, nicht regelmäßig, sondern nur ab und zu dabei war, oft kränkelte und nicht in Prag weilte.“205 Die Erzählerin berichtet Kafka im Traumcafé, dass er in letzter Zeit „zu einer Art Wahrzeichen von Prag geworden“206 ist: ‚Haben Sie schon bemerkt, Herr Kafka, daß man in Prag jetzt Ansichtskarten mit Ihrem Abbild verkauft?‘ ‚Wirklich?‘ Ein dünnes Lächeln erscheint auf dem blassen Gesicht. ‚Aber doch auch mit den Herren Rilke, Werfel und anderen?‘ ‚Gewiß, aber der Schlager, verzeihen Sie, der Schlager sind eben Sie. 201 202 203 204 205 206

Reinerová, Lenka: Das Traumcafé einer Pragerin. S. 7. Reinerová, Lenka: Das Traumcafé einer Pragerin. S. 17. Ebd. S. 7. Vgl. ebd. S. 8. Ebd. S. 17. Ebd. S. 18.

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[…] Macht es Ihnen Spaß, daß Sie nun von jungen Mädchen aus Italien und Spanien, Deutschland und Amerika sozusagen auf dem Herzen getragen werden? Haben Sie gesehen, wie Ihr Porträt auf weißen, seegrünen, himbeerfarbenen und azurblauen T-Shirts auf touristischem Busen wippt? Aber selbst das genügt Ihren Verehrerinnen und Verehrern an der Schwelle des 21. Jahrhunderts nicht. Aus Ihrer Stirn, hinter der Sie so viele Fragen quälten, aus Ihrem oft so schmerzenden Kopf wächst, mit Verlaub, auch noch die Silhouette des Hradschin. Die Burg, zum Glück nicht auch noch das goldene Gäßchen, in dem Sie ja ein bisschen zu Hause waren.‘207 Reinerová nimmt resigniert zur Kenntnis, dass die früheren, authentischen Kaffeehäuser aus Prag verschwunden sind und Kafka indessen neu hier eingezogen ist, „was übrigens nicht sonderlich erstaunlich ist in dieser magischen Stadt.“208 Das Traumcafé indessen stellt für Reinerová einerseits einen individuellen Erinnerungsraum dar, indem sie Personen versammelt, die in ihrem Prager Leben für sie von Bedeutung waren, so zum Beispiel auch ihre Mutter.209 Dabei identifiziert sie sich mit der Stadt, sie schreibt „mein Prag“ und spinnt sich ihren „ganz persönlichen Prager Traum“210. Auf der anderen Seite ist das Café aber auch ein Fluchtraum, auf den sie nicht immer zugreifen kann, wie zum Beispiel in den Jahren des Zweiten Weltkrieges, in denen sie auch selbst nicht in Prag lebte: Das Traumcafé funktionierte unter jenen katastrophalen Umständen nicht. Ich konnte die Hilfe seiner Stammgäste nicht anrufen, es kam mir auch gar nicht in den Sinn. Vielleicht hat damals ein gütiger Geist zwischen die Erde und den Himmel einen undurchlässigen Vorhang […] gezogen, damit die Untaten, die hier in den fünfziger Jahren so verheerend um sich griffen, nicht auch noch die Gefilde des Träumens erfaßten.211

207 208 209 210

Ebd. S. 17 f. Ebd. S. 19. Vgl. ebd. S. 13. Ebd. S. 7. Zur Thematik der Rekonstruktion Prags als einem persönlichen Erinnerungsraum vgl. Kapitel De- und Rekonstruktion eines Erinnerungsortes im Werk von Libuše Moníková. 211 Reinerová, Lenka: Das Traumcafé einer Pragerin. S. 14 f.

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Reinerová erinnert in Das Traumcafé einer Pragerin auch an den August 1968 und die darauffolgende Zeit, in der die „Magie“ der Stadt von Panzern und „Schmutznebel“212 überschattet wurde. Es sind weniger die magischen, als die bedauerlichen Momente der Stadt, die sie in ihrem Text versammelt. Auch am Ende der Erzählung bricht mit dem Lärm der Stadt die gegenwärtige Wirklichkeit Prags herein: Da zieht vor meinem Prager Fenster eine Wolke über den Himmel. Ein Auto hupt, eine Straßenbahn kreischt, die Sirene einer Ambulanz zerreißt die Luft. Mein Traum wird unterbrochen. Unterbrochen, aber nicht abgebrochen. Weil, wie wir schon sagten, im Traumcafé alles möglich ist.213 Wie schon im Gemälde Der Absinthtrinker wird auch in Reinerovás Traumcafé der Figur des Kellners eine besondere Rolle beigemessen: Gibt es im Traumcafé eigentlich auch einen Oberkellner? […] Ohne ein wenig Klatsch von Tisch zu Tisch und ohne die wohlwollende überlegene Fürsorge des Herrn Ober wäre wohl selbst ein Traumcafé kein wahres Kaffeehaus.214 Obwohl dieser sich im Absinthtrinker im Hintergrund hält, ist er doch präsent, in wohlwollender überlegener Fürsorge215, wie es Reinerová ausdrückt. Die Figur des Oberkellners erscheint in vielen bekannten Prag-Texten des 20. Jahrhunderts, so erzählt beispielsweise Bohumil Hrabals Roman Obsluhoval jsem anglického krále (Ich habe den englischen König bedient, 1971) vom Leben und Werdegang eines Kellners in Prag. Auch in Ota Filips Café Slavia spielt die Figur des Kellners Alois eine zentrale Rolle – er stellt für den Protagonisten eine Vertrauensperson dar: ‚Hier sind Sie gut aufgehoben, Herr Graf! Der Tisch ist von nun an Ihr Ankerplatz, der sichere Hafen. Mir können Sie alles erzählen, denn das hier ist kein gewöhnliches Café, sondern ein Zufluchtsort. Das Leben 212 213 214 215

Ebd. S. 26. Ebd. S. 45. Ebd. S. 35. Ebd.

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fließt an uns vorbei. Wenn Sie an ihrem Tisch sitzen, sind Sie von allem, was hinter diesen Fensterscheiben geschieht, abgekapselt. Punkt zwölf bekommen Sie ihren Kognak, Kaffee und Mineralwasser. Wir sind kein Café der Schwätzer, bei uns wird geschwiegen. Hören Sie unsere Stille, Herr Graf?‘ [CS, S. 85] Jeden Tag seines Lebens vertraut Belecredos dem Kellner seine Geschichten an. In seinen Träumen ist „Herr Alois, der Ober, ein schwarzer Seraphim mit wässrigen Augen“ [CS, S. 261], der das Café überwacht, während draußen an den glänzenden Fenstern die Geschichte vorbei fließt: „die Damen und Herren beobachteten nur ab und zu ihre Farbtöne und lauschten mit hervorragend gespielter Gleichgültigkeit ihren Geräuschen.“ [CS, S. 261] Jedoch werden auch hier die Figuren immer wieder durch den Einbruch der Wirklichkeit ernüchtert und schließlich resigniert sogar der ansonsten so höfliche und optimistische Alois, nachdem er schon alles gesehen und erlebt hat: Mir reicht es. Fünfzig Jahre sehe ich das Leben an den Fenstern des Cafés vorbeifließen, es wird mir langweilig. Ich erinnere mich an jeden Gast, der hier gegessen hat. Sie hockten hier, waren still oder redeten viel, tranken dies oder jenes. Hier hatte jeder seinen Beichtstuhl und mich als Pfarrer. Ich trug die Sorgen und Plagen meiner Gäste mit, und eines Tages kommt ein Gast nicht mehr, er ist entweder verschwunden oder tot. Seine Lasten bleiben jedoch an mir hängen, wer nimmt sie mir ab? […] Das ist das Schicksal eines Obers im Café Slavia. Er weiß zu viel, und man weiß, daß er viel zu erzählen hat. [CS, S. 251] Am Ende verbleibt anstelle des konstant wachenden Engels eine von der großen Geschichte der Stadt ausgelaugte Gestalt: „Es war nicht mehr der alte Oberkellner, es war ein ausgetrocknetes Gespenst, eine Statue kurz vor dem endgültigen Zerfall.“ [CS, S. 261 f.] Dennoch hat er nichts von alledem, was der Graf Belecredos ihm erzählt hat, vergessen, [vgl. CS, S. 262] und so sind in den Prager Kaffeehäusern mit ihren fürsorglichen und loyalen Oberkellnern, auch die Geschichten ihrer Besucher:innen und Stammgäste gespeichert. In dieser Form stellen auch die Kaffeehäuser Erinnerungsorte dar, an denen die Gäste und Kellner mit ihren Erzählungen und Geschichten vergangene Ereignisse bewahren.

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Nicht nur im Kaffeehaus, sondern mitunter auch in den Prager Wirtshäusern kann man in der Prag-Literatur einer solchen Figur begegnen. Ein ähnlich ergebener Charakter wird in Gustav Meyrinks Walpurgisnacht mit dem Wirt im „Grünen Frosch“ beschrieben: „ein alter Herr mit goldener Brille und dem wohlwollend ernsten Gesicht eines Notars“, der sich durch eine „über jeden Zweifel erhabene loyale Gesinnung“ [Wn, S. 81] auszeichnet. Dieser bedient den Herrn kaiserlichen Leibarzt „mit menschenfreundlichem Aufleuchten in den grauen Augen“ [Wn, S. 81]: „Exlenz befehlen?“ und verschwindet wieder zusammen mit seinem Kellner Pikkolo „nach einer tiefen Verbeugung in den Labyrinthen des ‚Grünen Frosches‘“ [Wn, S. 81]. Er bewegt sich unauffällig durch die Gaststube und achtet sehr genau auf das Ambiente des Gasthauses: Der ‚Notar‘ ging geräuschlos von einem Sessel zum anderen, um von verschiedenen Punkten aus wie ein Maler zu visieren, ob der Gesamteindruck auch ein befriedigender sei, und gab dem Pikkolo stumme Winke, wo noch Champagnerkühler aufzustellen waren. [Wn, S. 84] Als Teil der Prager Wirts- und Kaffeehauskultur unterstreicht diese loyale und vertrauenswürdige Figur des (Ober-)Kellners den Eindruck eines sicheren und Geborgenheit spendenden Rückzugsortes, an dem auch immer eine fürsorgliche Person zugegen ist, der man sich anvertrauen kann. Der Gegensatz zwischen abgeschlossenen, ruhigen Innenräumen als Orten des Rückzugs und der Sicherheit, welche im Kontrast zum Großstadtlärm und der verunsichernden Großstadt stehen, wurde bereits in den vorhergehenden Kapiteln erwähnt. So sucht beispielsweise auch die Figur Jordán aus Vilém Mrštíks Santa Lucia in Nachtlokalen und Bierstuben nach Zuflucht oder Zerstreuung, wie zum Beispiel im U Fleků [SL, S. 163] oder im Bordell U Löflerů auf der Kleinseite [SL, S. 169]. Diese bleiben ihm jedoch größtenteils verwehrt, da Jordán kein Geld hat, um ausgehen oder einkehren zu können. Auch sein Zimmer in Vinohrady stellt in gewisser Hinsicht einen sicheren Rückzugsort für ihn dar, von dem aus er über die Stadt blickt, während der Lärm der Großstadt mit ihrem Straßenverkehr und dem Menschengetümmel zu ihm hinauf an sein Fenster dringt [vgl. SL, S. 115 ff.] Jedoch lockt ihn die ver-

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hängnisvolle Stadt immer wieder aus diesem Raum zu sich hinaus, insbesondere in der Dunkelheit zum nächtlichen Vergnügen.

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2.2.2 Zwischen Geborgenheit und Einsamkeit: In der „Unterwelt“ der Prager Kneipen und Spelunken Wenn man vergangenes Leben überdenkt, dann bemerkt man, daß es sich eigentlich immer in irgendwelchen Lokalen abspielte. Es gibt Fensternischen, die ein Schicksal bestimmen, Kaffeehaustische, die Anfang oder Ende, Glück oder Unrast bedeuten, verhängnisvolle Billardzimmer, tragische Kneipen. Aber es gibt auch geruhsame Winkel, auf die man später mit Anhänglichkeit zurückblickt, Schmollecken, […] Dusterstuben, wo Träumer und Enttäuschte immer willig empfangen werden.216 [Paul Leppin]

Während die Kaffeehäuser zumeist einen eher intellektuellen Treffpunkt der Prager Bohème darstellen, steht in den Wirtshäuser und Kneipen in der Regel die abendliche bzw. nächtliche Zusammenkunft des einfachen böhmischen Volkes im Vordergrund: An diesem Ort der Zerstreuung amüsiert man sich, es wird getrunken, geplaudert, gesungen und getanzt. Es ist ein Topos der Unbeschwertheit und des Ausgelassenseins, gleichwohl ist es aber auch ein ambivalenter Ort, was bereits mit Albert Camus’ La mort heureuse oder Guillaume Apolliniares Le passant de Prague deutlich wurde: Diese Lokalitäten der dunklen Gassen der Altstadt führen den Protagonisten, die Prag jeweils als Touristen besuchen, ihre eigene Fremdheit schmerzlich vor Augen. Während sich die Ortsansässigen hier der Musik und ihrer Ausgelassenheit hingeben, fühlt sich der Besucher an diesem Ort nicht zugehörig und wird von starken Fremdheitsgefühlen geplagt, die nicht nur daher rühren, dass er die böhmische Sprache nicht versteht.217 So beschreibt der Erzähler in Apollinaires Text seinen Besuch im böhmischen Wirtshaus: Die drei Musikanten machten einen Teufelskrach und begleiteten sehr intensiv das Paprikagulasch, die Schwenkkartoffeln, gemischt mit Kümmelkörnern, das Brot mit Mohnkörnern und das bittere Pilsner Bier, das man uns servierte. […] Die Musiker spielten und sammelten dann ein. Währenddessen war der Saal angefüllt mit den kehligen Lauten seiner 216 Leppin, Paul: Weinstubenerinnerungen. In: Ders.: Alt-Prager Spaziergänge. S. 65-69, hier S. 65. 217 Vgl. hierzu Kapitel Der ewig wandernde Jude als ewiger Flaneur.

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Gäste, alles Böhmen mit Kugelköpfen, runden Gesichtern und Himmelfahrtsnasen. Laquedem redete selbstsicher. Ich sah, daß er auf mich deutete. Man sah mich an; einer kam, drückte mir die Hand und sagte: ‚Vive la Frantzé!‘ Die Musik spielte die Marseillaise. Allmählich füllte sich das Wirtshaus. [PdP, S. 314] Ähnlich ergeht es Camus’ Figur Mersault, der sich zum Abendessen in ein düsteres Lokal begibt: „Dann ging er weiter und betrat ohne nachzudenken ein Restaurant, aus dem der Klang eines Akkordeons drang. Er ging ein paar Stufen hinab, blieb mitten auf der Treppe stehen und fand sich in einem düsteren, von rotem Lichtschein erfüllten Kellerraum.“ [GT, S. 68 f.] In diesem Innenraum fühlt er sich ähnlich unwohl und beklemmt wie in seinem Hotelzimmer. Der beißende Geruch von Essiggurken, der sich überall ausbreitet, unterstreicht die unbehagliche Atmosphäre: Er erfüllte den düsteren Kellerraum, mischte sich unter die geheimnisvolle Melodie des Akkordeons, […] machte die Gespräche plötzlich bedeutungsvoller, so als hätte sich von den Rändern der Nacht, die über Prag schlummerte, der ganze Wesensinhalt einer bösen und leidvollen alten Welt in die Wärme dieses Raumes und der hier anwesenden Menschen geflüchtet. Mersault […] fühlte sich jäh bis aufs Äußerste angespannt und spürte, dass der Riss, den er in sich trug, noch größer wurde und ihn noch mehr der Angst und dem Fieber öffnete. [GT, S. 70] Fluchtartig verlässt Mersault schließlich das Restaurant und kehrt zurück in die nächtlichen Gassen der Stadt. Dennoch besucht er von nun an jeden Abend dieses Kellerlokal: „Er aß in dem Restaurant, das er entdeckt hatte und das ihm wenigstens eine gewisse Vertrautheit bot.“ [GT, S. 73 f.] In diesen beiden Darstellungen steht die Heteroimago des tschechischen Volkes im Vordergrund. Diese scheint bei den Protagonisten jeweils einen befremdlichen Eindruck hervorzurufen. Obwohl der Erzähler in Le passant de Prague als Franzose im Wirtshaus sehr gastfreundlich empfangen wird, hält er sich im Rahmen der allgemeinen Geselligkeit zurück: „Das Fest wurde ausschweifend, aber ich beteiligte mich nicht daran.“ [PdP, S. 315] Das Unbehagen Mersaults drückt sich wiederum sehr anschaulich in synästhetischen Ein-

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drücken in dem „düsteren, von rotem Lichtschein erfüllten Kellerraum“ aus: Dort beobachtet er Mädchen, die in einer Ecke sitzen und etwas essen, „wovon ihre Lippen sehr fettig waren“ [GT, S. 69], oder einen mageren Mann mit gelbem Haar, der zusammengesunken auf einem Stuhl sitzt und zwischen seinen „aufgesprungenen Lippen ein schon von Speichel aufgeweichtes Streichholzende“ hält, „an dem er mit einem unangenehmen Geräusch saugte“ [GT, S. 69]. Mersault fühlt sich in dem düsteren Kellerraum überreizt und beobachtet und besonders der Geruch von Essig und Gurken komplementiert die Überlastung seiner Sinne. Für den Fremden stellt das Prager Wirtshaus einen charakteristischen Topos des Entfremdung dar: Nicht nur, dass ihm hier das Gefühl der Fremdheit in gewisser Weise vor Augen geführt wird, es wird zusätzlich begleitet von einem starken Unwohlsein bis hin zu Ekelgefühlen gegenüber den dort Anwesenden. Die Heteroimago des tschechischen Volkes scheint hier auf die Genusssucht sowie die niederen Instinkte und Gelüste reduziert, was in den Protagonisten jeweils das Gefühl verstärkt, nicht dazu zu gehören. Auch in Gustav Meyrinks Der Golem wird eine Kneipenszenen im „Salon Loisitschek“ in der Judenstadt beschrieben, in dem ein „großes Konzehr“ [Go, S. 64] stattfindet. Die tumultartige Szenerie mutet ähnlich ausgelassen an, wie bei Camus oder Apollinaire, doch wird der Kneipe als Topos dort eine gänzlich andere Bedeutung zugeschrieben. Auch in dieser rauchigen Schenke tummeln sich allerlei zwielichtige Figuren: Schwaden beißenden Tabakrauches lagerten über den Tischen, hinter denen die langen Holzbänke an den Wänden vollbesetzt von zerlumpten Gestalten waren: Dirnen von den Schanzen, ungekämmt, schmutzig, barfuß, die festen Brüste kaum verhüllt von mißfarbigen Umhängetüchern, Zuhälter daneben mit blauen Militärmützen und Zigaretten hinter dem Ohr, Viehändler mit haarigen Fäusten und schwerfälligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und blatternarbige Kommis mit karierten Hosen. [Go, 64 f.]

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Das Konzert gleicht einem wilden „Gestolper von Klängen“ [Go, S. 65], begleitet von „seltsamen hebräischen Röchellauten“ [Go, S. 65]. Die Musik wird immer konfuser und geht schließlich „in den Rhythmus des böhmischen ‚Schlapack‘ – eines schleifenden Schiebetanzes – über, bei dem die Paare die schwitzigen Wangen innig aneinanderpreßten.“ [Go, S. 66] Der Protagonist Pernath sitzt dort mit seinen Bekannten, die ihm mit der Erzählung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Bataillon die Geschichte des ‚Loisitschek‘ erzählen: Dr. Hulbert, ein ehrenwerter und glücklich lebender Professor und Doktor, eine „Leuchte seiner Wissenschaft“ [Go, S. 68] ist untröstlich, nachdem er von seiner Frau betrogen wurde. Er verfällt dem Alkohol und findet beim ‚Loisitschek‘ eine neue „Heimstätte für den Rest seines zerstörten Lebens.“ [Go, S. 69] Im Winter bekommt der ehemals berühmte Gelehrte dort auf den hölzernen Bänken ein Nachtlager, während er im Sommer „irgendwo auf dem Schutt eines Neubaus“ [Go, S. 69] schläft. „Allmählich sammelte sich um ihn, was an lichtscheuem Gesindel in der Judenstadt sein Wesen trieb, und so kam es zur Gründung jener seltsamen Gemeinschaft, die man noch heutigentags ‚das Bataillon‘ nennt.“ [Go, S. 69] „Bettler, Vagabunden, Zuhälter und Dirnen, Trunkenbolde und Lumpensammler“ [Go, S. 70] schließen sich zu einem Verband zusammen, der sich unter der Leitung von Dr. Hulbert um die „Ausgestoßenen der menschlichen Gesellschaft“ [Go, S. 70] kümmert. Diese Geschichte verdeutlicht die Bedeutung der Kneipen und Spelunken als Ort der Gemeinschaft und des Zusammenhalts. Insbesondere für diejenigen, die in der äußeren Welt den Halt verloren haben, bietet dieser abgeschlossene, geschützte Innenraum eine Zuflucht. Eine ähnliche Bedeutung erfüllt der Kneipentopos im Werk wie auch im Leben von Paul Leppin. Im Kapitel Topos der Vertrautheit: Die Judenstadt als Ort des nächtlichen Vergnügens wurde bereits erläutert, inwiefern für den Prager Deutschen die Etablissements der Alten Prager Judenstadt einen heimatähnlichen Ort der Geborgenheit darstellten. In seiner Erzählung Bergpredikt in der Schänke wird die Schankstube als Schauplatz zum Ort des Asyls vor dem Fortschritt und des Zusammenhalts dargestellt, unabhängig von den damals sehr präsenten Standes- oder Nationalitätenfragen:

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Es ist alles sehr schön, was die Zeitungen schreiben, vom Tempo der Zeit und daß der Verkehr neuen Raum will. Aber ich bitte Sie, wo ist da noch Platz für ein bisschen Geheimnis? Das ist es, was die Welt heut glücklos macht, trübselig finster trotz Lichtverschwendung und greller Reklame. Man hat vergessen, daß der Mensch ein Asyl braucht, Muße sich zu besinnen. Glauben Sie nicht, daß man früher edelsinniger war, sanftmütiger und barmherziger. Aber da gab es Schankstuben, wo man mit sich allein war, Wanduhren, die anklägerisch tickten, Stunden, die einem zeigten, was Leben bedeutet. Da kam man in engen Basaren aus Straßenlärm in plötzliche Stille, Flurgänge führten verstohlen in schmalbrüstige Höfe, wo zwischen Hausrat und schiefem Gerümpel das Weinzimmer schlummerte. Man hatte Zeit, sein Tagewerk zu betrachten, mitsammen zu sprechen, einander ins Herz zu sehen.218 Ebensolche Orte bewahren für Leppin die Magie der Stadt – dort hält die Zeit inne, und man ist „eine große Gemeinde“, deren einzelne Mitglieder zwar „durch Titel und Uniformen, Namen und Stockwerke von einander getrennt“219 sind, sich aber in den Prager Gassen der benachbarten Seelen sicher sein können. Im Gegensatz zum Gefühl der Fremdheit, das die Gasthäuser in den Texten von Camus und Apollinaires bei den Protagonisten auslösen, beschreibt Leppin einen Ort der Gnade, an dem sich alle miteinander verbunden fühlen: Das war das Feine, Gutwertige dabei, daß keiner sich ausgeschlossen fühlte, alle heimlich verbunden waren, durch die Stadt, die Moldau, die Brücken, die jedem gehörte. Im Dunkeln, wenn das Brausen verstummte, war es besonders zu spüren. Das alte Prag, wenn Nacht es verzauberte, war das Paradies der Kumpane. Das Gemurmel und Schäkern, heilfrohes Dusagen fast ohne Ende. Der Polizeisoldat und die Schnepfen, Studenten und Sonderlinge, der Würstelmann unterm Kandelaber waren wie Brüder und Schwestern. Und sehen Sie, das ist es, was ich erzählen wollte, was mir an Tagen wie heute querköpfig durch den Sinn geht, wenn das rote Wässerlein da im Glase funkelt, junge Leute vor mir beim Tische sitzen und mich zum Schwatzen verleiten. Es sind 218 Leppin, Paul: Bergpredigt in der Schänke. In: Ders.: Alt-Prager Spaziergänge. S. 19-23, hier S. 19. 219 Leppin, Paul: Bergpredigt in der Schänke. S. 19.

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dumme Geschichten, aber ich sage Ihnen, damals war Jugend dabei und auch sehr viel Gnade.220

Abb. 16: Gaststube am Königlichen Weinberg (Illustration in: Leppin, Paul: Alt-Prager Spaziergänge)

In seiner Erzählung Weinstubenerinnerungen (1921) konstatiert er, dass sich gerade die entscheidenden Momente des Lebens „in irgendwelchen Lokalen“221 abspielen: „Es gibt Fensternischen, die ein Schicksal bestimmen, Kaffeehaustische, die Anfang oder Ende, Glück oder Unrast bedeuten, verhängnisvolle Billardzimmer, tragische Kneipen.“ 222 Daneben blickt man aber auch auf „geruhsame Winkel“ zurück, „Schmollecken“ und „Dusterstuben, wo Träumer und Enttäuschte immer willig empfangen werden.“ 223 In den Weinstuben entscheiden sich Schicksale, man kann sich dort besinnen und seinen inneren Frieden wiederfinden: „Tollblütiger Schmerz, verblendete Freude finden hier wieder ihr Maß, eine knarrende Uhr gemahnt an die Flüchtigkeit aller Dinge, der Wirt ist ein Philosoph und sein Schankhaus eine Schule der Weisheit.“224 220 221 222 223 224

Leppin, Paul: Bergpredigt in der Schänke. S. 19 f. Leppin, Paul: Weinstubenerinnerungen. S. 65. Leppin, Paul: Weinstubenerinnerungen. S. 65. Ebd. Ebd.

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Für viele von Leppins Figuren bedeuten die Altprager Kneipen und Spelunken ein Stück (geistiger) Heimat. In Severins Gang in die Finsternis verdeutlicht Leppin dagegen die Ambivalenz dieses Topos. Der Protagonist treibt sich bis zum Morgengrauen in den Nachtlokalen herum oder versteckt sich im Winter vor der Kälte: In den Nachtlokalen spielten die Musikanten auf den heiseren Violinen. Severin blieb vor den trüben Scheiben stehen und spähte zwischen den Fenstervorhängen ins Innere. Er hörte die Billardkugeln auf den grünen Brettern aneinanderschlagen und das Klappern des Büfettgeschirres. Wenn sich die Türe öffnete, kam der fade Geruch der Frühsuppe auf die Straße. Der Winter war kalt, und Severin drückte die Hände mit den schmerzenden Gelenken in die Tasche. Zuweilen ging er auch zu der Musik hinein. Dann ließ er sich einen brennenden Punsch bringen und hielt die Finger über die blaue Flamme. Der abgestandene Zigarrenrauch beizte ihm die Augen, aber die Wärme tat ihm wohl. Es waren zumeist immer dieselben Lokale, in denen sich Severin vor der Kälte versteckte, der ‚Weiße Kranz‘ auf dem Obstmarkte, wo die Gäste den Kopf auf die überschlagenen Arme legten und bei den Tischen schliefen, die ‚Falte‘ in der Kleinen Karlsgasse, wo er oft stundenlang der einzige Besucher blieb, oder das russische Kaffeehaus an der Grenze zwischen Prag und Weinberge, wo die südslawischen Studenten verkehrten. Er kannte das alles noch von früher her, als er in den Nächten den Abenteuern nachgegangen war. Jetzt saß er fremd und erwartungslos in dieser Welt, die ihm unwirklich und automatenhaft erschien, in den Spelunken, wo die schäbigen Reste der Lustigkeit an der eigenen Stumpfheit erloschen, in den Kaffeesalons, wo die Bänke mit rotem Samt gepolstert waren und wo die Gäste wie Kellnerburschen und die Kellner wie Lebemänner aussahen.225 Severins Leben nimmt im Roman eine Wende, und somit wandelt sich auch die Bedeutung dieses Ortes für ihn: Hat er sich in den Kaffeehäusern und Kneipen bisher wohl und der Gesellschaft zugehörig gefühlt, so führen sie ihm nunmehr die Sinnlosigkeit seines Daseins vor Augen, und er empfindet dort nun ein Gefühl der Fremdheit. Ähnlich wie bei Camus und Apollinaire 225 Leppin, Paul: Severins Gang in die Finsternis. S. 57 f.

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wird auch mit Leppin deutlich, dass das Wirtshaus einerseits ein Ort der Selbstbesinnung und der Kontemplation sein kann – allerdings nicht ausschließlich in positiver Hinsicht. Obgleich sich der Protagonist in meist ausgelassener und heiterer Gesellschaft befindet, fühlt er sich andererseits mitunter allein und die gesellige Atmosphäre in der Kneipe oder im Wirtshaus führt ihm seine Einsamkeit nur noch schmerzlicher vor Augen. Vornehmlich in den Studentengeschichten von Karl Hans Strobl sind die Prager Wirtshäuser, Beiseln, Kneipen und Spelunken als Handlungsschauplätze zentral: Es war der gewöhnliche Verlauf solcher Bummelabende. Singspiel, dann Gasthaus, dann Kaffeehaus. Als sie um zwei Uhr aus dem Café Continental gingen, kam die Abenteuerlust über sie. […] Groß schlug vor, einer der kleinen Beisel der Judenstadt zu besuchen und unter Dirnen, Soldaten und betrunkenen Nachtschwärmern bis zum Morgen zu bleiben. […] In diesem Gewirr von Gäßchen mit stinkenden Tümpeln, dunklen Ecken und löchrigem Pflaster, mit den rot verhangenen Kneipen und den schwarzen Haustoren, über denen bunte Laternen lockten, dachte Binder an Horaks Worte von der boshaften Heimtücke der Stadt. Die ganze Zwecklosigkeit dieser nächtlichen Zecherei, das Blödsinnige dieser endlosen Biergespräche fiel ihm schwer auf die Seele. Wozu das alles?226 Mit einer ganzen Reihe seiner Werke hat Strobl vielen bekannten Prager Wirtshäusern ein authentisches Denkmal gesetzt, insbesondere mit seiner „Wirtshaus-Trilogie“227 Die Vaclavbude. Eine Prager Studentengeschichte (1902), Der Schipkapaß (1908; in späteren Auflagen Die Flamänder von Prag) und Das Wirtshaus zum König Przemysl (1913). Es handelt sich hierbei jeweils um reale Orte; so befand sich zum Beispiel Die Vaclavbude in der Alten Judenstadt in der der Geistgasse (Dušní): „Es war eigentlich kein Haus, sondern eine zwischen zwei andere Häuser eingezwängte Hofmauer. Über der wackeligen, schief hängenden Tür stand auf einem schmutzigen Täfelchen die Num-

226 Strobl, Karl Hans: Die Vaclavbude. S. 83 f. 227 Vgl. Strobl, Karl Hans: Prager Wirtshäuser. S. 3.

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mer 126.“228 Im Hinterzimmer dieses Wirtshauses von Vaclav Zimmermann (auch „Zimmermannscher Paukboden“ genannt) konnten Studenten in der Judenstadt eine Bleibe finden. Der dritte Teil von Karl Hans Strobls WirtshausTrilogie ist dem Wirtshaus zum König Przemysl gewidmet, welches mit der Assanierung der Altstadt verschwunden ist: Der Teil der Stadt in dem das Haus ‚Zum König Przemysl‘ stand, ist der Erneuerung Prags zum Opfer gefallen. Breite Straßen mit neuzeitlichen Häusern kreuzen einander rechtwinklig auf der Stätte einstigen Winkelwerkes, enger, gewundener Gäßchen, versteckter Durchgänge, überraschender Einblicke in uralte Höfe. Als ich nach Jahren wieder nach Prag kam hatte ich Mühe, die Stelle aufzufinden, wo jenes Haus gestanden hatte.229 Der Schipkapaß wiederum spielt in der berühmt-berüchtigten Studentenkneipe am Hang des Šarka-Tals im Nordwesten außerhalb der damaligen Stadt, in der „die Luft mehr Alkohol als Sauerstoff und Stickstoff“ 230 hatte. Der Germanist und Kafka-Experte Hartmut Binder schreibt über diesen Ort: „Für die deutschen Studenten war der Schipkapaß Ausflugsort, Bierdorf, Lazarett nach Mensurblessuren und Zufluchtsstätte in geldlosen Zeiten, wo man auf Pump seinen Durst stillen konnte.“ 231 Nach 1910 wurde dieses Wirtshaus immer weniger besucht und brannte 1934 schließlich aus. Seinen Namen hatte der Schipkapaß aus dem Russisch-Türkischen Krieg, weil seine Lage angeblich an den gleichnamigen Gebirgspass im Balkangebirge erinnerte. Der Wirt Moritz Milde wurde dementsprechend nach einem türkischen General der entscheidenden Schlacht Osman Pascha gerufen. Paul Leppin beschreibt das „sagenhaft, von Anekdoten umwitterten Burschenwirtshaus ‚Zum Schipkapaß‘“ und das dortige „Treiben trinkfester Gesellen“232 folgendermaßen:

228 229 230 231

Strobl, Karl Hans: Die Vaclavbude. S. 20. Strobl, Karl Hans: Das Wirtshaus zum König Przemysl. S. 181. Strobl, Karl Hans: Die Flamänder von Prag. S. 56. Binder, Hartmut: Wo Kafka und seine Freunde zu Gast waren. Prager Kaffeehäuser und Vergnügungsstätten in historischen Bilddokumenten. Furth im Wald 2000. S. 140. 232 Leppin, Paul: Erinnerungen an Abraham. In: Ders.: Alt-Prager Spaziergänge. S. 81-85, hier S. 81.

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Gelbes Bier schäumte in Gläsern, Petroleumlampen qualmten, Zuleika, die Wirtsfrau bereitete dampfende Würste auf knisterndem Sparherd und auf der Rechnung paradierte nach bewährtem Brauch im Verkehr mit Neulingen ein Posten für den Genuß des Sonnenunterganges.233 Mit dem „Studentenwirt“ Osman Pascha sei indessen laut Leppin „der letzte Repräsentant einer konfusen Romantik“ gestorben, „für die im scharfen Licht unbarmherziger Nachkriegszeiten kein Raum mehr vorhanden war. Die Gespenster des Suffs, das hohe Lied unverzagter Pumpfröhlichkeit verflatterten vor der nüchternen Klarheit bezwingender Probleme.“ 234 Im Roman Der Schipkapaß beschreibt Karl Hans Strobl, wie man über einen Feldweg hinter dem Veitsdom durch friedliche Dörfer hinaus aus der Stadt auf den „Balkan“ gelangt: Schon schaut das Dach des ‚Schipkapasses‘ durch die Baumkronen. Es deckt ein an Merkwürdigkeiten reiches Haus. Ein paar kleine Zimmer dienen der Familie Osmans und seinen Gästen. Das eine davon heißt der ‚Ahnensaal‘. Außer einer alten Kommode auf drei Beinen, einem wackeligen Kasten, einem blinden Spiegel und anderem Mobiliar dieser Art befindet sich darin […] noch eine Anzahl von Strohsäcken, auf denen nach großen Schlachten die Verwundeten ihre Ruhe finden.235 Als der Protagonist Hans Schütz zusammen mit seinem Freund Gregorides eines Morgens früh um neun dort einkehrt, werden die beiden überschwänglich vom Wirt Osman begrüßt: ‚Zwei Oberflamänder!‘ schrie er; ‚zwei auf einmal, im Regen und um neun Uhr früh! Zu viel der Ehre! ‚Wir wollen uns erholen und bleiben ein paar Tage bei dir.‘ ‚Ich bin euer ergebener Diener. Wo wollt ihr schlafen, im Rittersaal, im Ahnensaal oder auf dem Heuboden? Oder wird überhaupt geschlafen? Wird durchgesoffen? Was? Wieder einmal kein Geld, was?

233 Leppin, Paul: Erinnerungen an Abraham. S. 81. 234 Ebd. 235 Strobl, Karl Hans: Die Flamänder von Prag. S. 113 f.

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Der Osman muß pumpen. Erholen wollt ihr euch? Na – gut. Ihr werdet euch schon erholen, vorwärts!‘236 Auch das Wirtshaus selbst mit all seinen Räumlichkeiten und dem Interieur beschreibt Strobl sehr eingehend. Besonders eindrucksvoll ist der Adlersaal des Wirtshauses, der für „das Gemütliche bestimmt“237 war: Rings an den Wänden sind Bänke angebracht, die dazu dienen, um hinter den Bierkrügen zu sitzen, und drei Tische stehen da, um die Bierkrüge vor sich hinzustellen. Obwohl der Schipkapaß kein Schiff ist, so sind Bänke und Tische doch fest in Boden und Mauern verankert, denn es gibt auch hier Stürme zu bestehen, bei denen ein fester Halt nötig ist238 Die Figur Hans hatte eigentlich beschlossen, weniger Zeit in Wirts- und Kaffeehäusern zu vergeuden. Als ihn jedoch seine Freundin verlässt, beschließt er auf den Schipkapaß zu steigen, um dort wieder zu sich zu finden. Die Erholung besteht für die Burschenschaftler darin, sich einige Zeit fernab vom Alltag zu regenerieren, ohne sich mit den üblichen Angelegenheiten und Problemen auseinandersetzen zu müssen. Darüber hinaus herrscht, ähnlich wie in Leppins Bergpredikt in der Schänke, auf dem Schipkapaß politischer Frieden, denn dort schwebt „schützend wie über heiligem Boden die Losung des Comment suspendu“239, und es finden sich „Prager Studenten der verschiedensten Farbenbekenntnisse“ ein, die sich sicher sein können, „stets die bis zum Äußersten Entschlossenen vorzufinden und durch keinerlei farbenpolitische Bedenken gestört zu werden“240. Den Wirt Osman Pascha selbst beschreibt Strobl schließlich als das „Merkwürdigste auf dem Schipkapaß“ überhaupt: Er gehöre „zu den Leuten, die älter werden ohne sich zu verändern. Und wenn die Nase nicht mit einer Art von Jahresringen den Verlauf der Zeit bestätigt hätte, so könnte man glauben, 236 237 238 239 240

Strobl, Karl Hans: Die Flamänder von Prag. S. 104. Ebd. S. 116. Ebd. Ebd. S. 118. Ebd.

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sie stehe für ihn still.“241 Neben seiner eigenen Trinkfestigkeit („So viel Gäste auch auf dem Schipkapaß verkehren, Osman selbst ist sein bester Gast.“ 242) zeichnet sich auch diese Figur in ihrem Dasein als Wirt durch eine außerordentliche Aufmerksamkeit und Fürsorge für seine Gäste aus: Wenn er in einem der großen, braunen Literkrüge einem seiner Flamänder das Bier vorsetzt, so tut er ihm wie die liebenswürdigste Münchener Kellnerin Bescheid und sorgt dafür, daß der Gast rasch zum Kruge kommt. […] So erhält sich Osman Pascha an Leib und Seele gesund. Ein ungeheuerliches Lebensgefühl wurzelt in ihm, eine eiszeitliche Bärenhaftigkeit, und sie hat ihm einen Umgang mit Menschen zur Art gemacht, dem nur starke Nerven gewachsen sind.243 Das Wirtshaus bzw. die Kneipe ist in den Stroblschen Studentengeschichten ein Ort, an dem die Handlung nicht nur lokalisiert, sondern auch vorangetrieben wird und sich handlungsrelevantes Geschehen ereignet. Häufig ist dieser Ort Schauplatz der damaligen Nationalitätenkonflikte zwischen den deutschen Studentenschaften und der tschechischen Bevölkerung. Folgendermaßen reflektiert beispielsweise der Protagonist Hans im Schipkapass die unüberwindbaren Gegensätze der Prager Bevölkerungsgruppen244: Er hatte sich nie viel um Weiber gekümmert, […] denn er war immer allzusehr von den Angelegenheiten seiner Burschenschaft in Anspruch genommen. Aber heute […] sah er jedem Mädchen nach und bedachte, wie das wohl wäre, wenn sich nur eine zu ihm fände und ihm mit leisen Händen seine Stirn berührte. Aber das war in Prag unmöglicher als anderswo, denn hier gab es keine Brücke zwischen den Nationen, und einem deutschen Studenten blühte bei tschechischen Mädchen kein Glück. Sie waren alle zu Haß gegen die Deutschen erzogen, zu einem dumpfen, abgründigen Haß.245 241 242 243 244

Ebd. S. 117. Ebd. Ebd. Die Nationalitätenkonflikte sind in Strobls Werken sehr präsent, sie scheinen unüberwindbar und sie finden häufig einen tragischen Ausgang. Diese Thematik wurde bereits im Kapitel Nationalitätenkämpfe und nationale Stereotypisierung in den Studentenromanen von Karl Hans Strobl ausführlich dargestellt. 245 Strobl, Karl Hans: Die Flamänder von Prag. S. 28.

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Der Wirt Ottokar in Das Wirtshaus zum König Przemysl verkauft hingegen kein Bier an Deutsche246, und dem deutschen Student Fritz, der sich in die schöne Wirtstochter Ludmilla verliebt hat, werden dort Hochmut und Missachtung entgegengebracht. Häufig kommt es in Wirtshäusern, Spelunken und Kneipen auch zu seltsamen und mitunter bedeutungstragenden Begegnungen mit einer Figur des Anderen – so erlebt zum Beispiel in Meyrinks Walpurgisnacht der kaiserliche Leibarzt im „Grünen Frosch“, wie Zrcadlo, der Seelenspiegel, einem blasierten Österreicher seine tote Seele offenbart, woraufhin dieser tot zusammenbricht. 247 In Strobls Vaclavbude beispielsweise erscheint der Geist des dänischen Astronomen Tycho de Brahe, der im 16. Jahrhundert in Prag am Hofe Rudolfs II. lebte und arbeitete. Während eines Saufgelages in einer Spelunke gesellt sich plötzlich ein Unbekannter zu den Burschenschaftlern und erzählt ihnen von den „Prager Begebenheiten in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts […] von Rudolf dem Vierten248, von Kepler, Tycho de Brahe und dem dunklen, abenteuerlichen Hofleben jener Zeit“ 249. Auch der Astronom wird in diesem Text als „Fremder“ eingeführt, was insofern relevant ist, als abermals das Element der Fremdheit den Ursprung einer Aversion gegen Prag darstellt: De Brahe erzählt den Studenten, wie auch ihm diese Stadt zu seiner Zeit „schwer auf dem Gemüt“ gelastet habe, wie „ein lauerndes, heimtückisches Ungetüm“250. Die Burschenschaftler sind gebannt, als der Astronom mutmaßt, dass seine Abscheu gegen die böhmische Hauptstadt möglicherweise von seinen unbewussten Widerwillen „gegen das fremde Volk“251 herrühre: „Das niedrige Volk prägt den Häusern und Straßenecken seine Mienen auf. Und diese Mienen hatten soviel Gemeines und Abstoßendes für ihn.“252 Die deutschen Burschenschaftler erkennen in de Brahes Einschätzung Parallelen zu ihrer 246 Strobl, Karl Hans: Das Wirtshaus zum König Przemysl. S. 28. 247 Diese Szene wurde bereits in den Kapiteln Verschmelzen von Vergangenheit und Gegenwart und Unverhoffte Begegnungen: Die Figur des Anderen als Seelenspiegel genauer untersucht. 248 Anmerkung der Verfasserin: Gemeint ist hier Rudolf II. 249 Strobl, Karl Hans: Die Vaclavbude. S. 87. 250 Ebd. S. 88. 251 Ebd. 252 Ebd.

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gegenwärtigen Heimatstadt und fühlen sich dementsprechend in ihrer Abneigung gegen das „niedrige“ tschechische Volk bestätigt. Es bleibt festzuhalten, dass der Topos des Wirtshauses, der Kneipe oder Spelunke einen paradigmatischen Ort des Selbstverlustes darstellt. Er unterscheidet sich vom Schauplatz des Kaffeehauses insofern, als er vornehmlich abends oder nachts frequentiert wird. Der Kneipenbesuch ist in der Regel mit dem Konsum von Alkohol und anderen Genussmitteln verbunden, sodass möglicherweise auch der Rausch die Grundlage für das Gefühl sich zu verlieren darstellt. Allerdings ist dieser Gemütszustand nicht unbedingt im negativen Sinne zu verstehen, sondern kann auch eine Art Neubeginn bedeuten – sich dem Rausch hingeben um vergessen und sich in der Folge wiederfinden zu können, so zum Beispiel auf dem Schipkapaß, wo die Gäste weit aus der Stadt hinaus regelrecht vor der Realität flüchten, um sich auf diese Weise „zu erholen“. In diesem Fall stellt der Topos in seiner abgeschlossenen Form als Innenraum, ähnlich wie das Kaffeehaus, einen Ort des Rückzugs und der Kontemplation dar, der Sicherheit und Geborgenheit spendet. Dies kommt namentlich bei Paul Leppin zur Geltung: In Bergpredikt in der Schänke beschreibt er, wie man durch „schmalbrüstige Höfe“ und „in engen Basaren aus Straßenlärm“ und „zwischen Hausrat und schiefem Gerümpel“253 in die plötzliche Stille einer Weinstube gerät. Mit Leppin wird wiederum auch deutlich, dass das Gefühl der Zu- und Zusammengehörigkeit mitunter nur scheinbar oder vergänglich ist. Somit wird die Ambivalenz dieses Topos deutlich, die zwischen Geborgenheit und Fremdheit oder Vereinsamung changiert. Mit diesem Topos wird ein Kontrast zwischen einem vermeintlich Schutz bietenden Innenraum und dem ungewissen äußeren Stadtraum eröffnet. Auch Vítězslav Nezval beschreibt in seinem Prager Spaziergänger mit dem Gasthaus „Zum grünen Frosch“ am Náměstí Franze Kafky (Franz-Kafka-Platz) unweit vom Altstädter Ring einen solchen Ort. Er beschreibt sehr genau die Lage und die umliegenden Häuser des Platzes, was er jedoch besonders hervorhebt, ist dessen Ruhe und Abgeschiedenheit:

253 Leppin, Paul: Bergpredigt in der Schänke. S. 19.

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doch vor allem ist es die Abgeschlossenheit dieses Platzes, der Mittelpunkt einer Vielzahl alter Städte sein könnte, und schließlich eine gewisse unaussprechliche Nostalgie, was mir diesen Ort so überaus teuer macht. Hier fühle ich mich wahrhaft fern von allem, was mich an Menschen und Dinge erinnern könnte, an die mich die Pflicht bindet, hier bin ich wahrhaft unterwegs. [PS, S. 96] Somit erscheinen sowohl die Prager Kaffee- und Wirtshäuser, die Kneipen, Weinstuben und Spelunken als auch andere Innenräume der Stadt wie zum Beispiel (Hotel-)Zimmer und Kirchen einerseits als Topoi des Rückzugs, der Zuflucht oder der Kontemplation, die in gewisser Hinsicht Ruhe, Sicherheit und Geborgenheit spenden. Die öffentlichen Lokalitäten dienen dabei augenscheinlich besonders der Zerstreuung und dem Vergnügen. Auf der anderen Seite greift allerdings auch in diesen vermeintlich geschützten Räumen immer wieder eine Form der Verunsicherung um sich, ein Gefühl der Be- oder Entfremdung (wie etwa in La Mort heureuse, Le passant de Prague oder Severins Gang in die Finsternis), der Einbruch der Realität (wie etwa die omnipräsenten Nationalitätenkonflikte in Karl Hans Strobls Studentengeschichten) oder der Vergangenheit (wie etwa in Die Rache der Baumeister), beziehungsweise die Verwehrung des Zugriffs auf diesen Raum überhaupt (wie etwa in Santa Lucia). Insbesondere in den Nachtlokalen kommt diese Ambivalenz zwischen Geborgenheit und Verunsicherung oder auch dem Gefühl der Einsamkeit zum Tragen; entweder man ist Teil der Kneipengesellschaft, die in vielen Werken in ihrer Prager Mentalität authentisch dargestellt wird, oder man fühlt sich ihrer nicht zugehörig und ist von dem allgemeinen Trubel und der Heiterkeit befremdet. Es ist für viele der bekannten Prager Schriftsteller:innenpersönlichkeiten eben dieser Topos, an dem die „Magie“ der Stadt Prag besonders zum Tragen kommt, so etwa für Paul Leppin, Egon Erwin Kisch oder Bohumil Hrabal. Die Kaffee- und Wirtshäuser sind nicht nur ein wichtiger Topos in der Literatur des 20. Jahrhunderts, sondern auch im Leben der Schriftsteller:innen selbst. Dieser Ort repräsentiert ein bestimmtes Prager Lebensgefühl und bewahrt so in seiner vielfältigen kulturellen Tradition die Geschichten der Stadt.

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Somit erscheinen auch die Kneipen und Kaffeehäuser als Gedächtnisorte, indem sie auf das Alte Prag mit seiner (ehemaligen) „Magie“ referieren oder an eine vermeintlich bessere Zeit gemahnen. Diese Topoi der „Unterwelt“ gehören stehen in einer engen Verbindung mit der „dunklen Seite“ der Stadt, da die Flaneur:innen dort in der Regel nachts einkehren, bzw. Unterschlupf oder Vergnügen suchen. In den Topographien der Flanerie stellen die Kneipen, Wirts- und Kaffeehäuser Rückzugsorte dar, die sowohl Geborgenheit und Sicherheit spenden, als auch den Protagonist:innen ihre Einsamkeit und Verlorenheit vor Augen führen können.

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3 Abwanderung in die Peripherien: Neue Schauplätze einer entmystifizierten Stadt im 21. Jahrhundert Damals hat ihr der Geruch von Prag gefallen. Es war eine bunte, laute und schöne Großstadt mit eleganten Kaufhäusern, breiten Straßen und Hotdogs, die es bei ihnen im Grenzland nicht gab. Jetzt ist Prag alles mögliche für sie, nur keine wohlriechende, schöne, bunte und große Stadt. Groß und schön kann Prag nur den hiesigen Knödelfressern vorkommen, die nie irgendwo anders gewesen sind.254 [Jaroslav Rudiš]

Im Vergleich der behandelten Texte fällt auf, dass sich die Schauplätze der Prag-Literatur im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert bzw. verschoben haben. Konzentrierte sich das Handlungsgeschehen zunächst größtenteils auf das historische Zentrum und die Altstadt, so wurden insbesondere ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend auch die umliegenden Stadtteile thematisiert. In den Kapiteln über Das traumatische Prag wurde deutlich, dass besonders in den Jahren, in denen sich die Tschechoslowakei unter der Okkupation der Sowjetunion befand, Prag von den Kunstschaffenden nicht mehr als „Goldene Stadt“ wahrgenommen wurde. Namentlich die Texte von Egon Bondy, Bohumil Hrabal oder Jáchym Topol veranschaulichen, wie die Realität des Sozialismus die einst „magische“ Stadt in nurmehr triste, graue, dreckige, mitunter hässliche Heterotopien verwandelt hat. Die Handlungsräume der Werke von Libuše Moníková, Daniela Hodrovás Trilogie Trýznivé město (Quälerische Stadt) Sylvie Germains Novelle La pleurante des rues de Prague (Die weinende Frau in den Straßen von Prag) oder Miloš Urbans Sedmikostelí (Die Rache der Baumeister) zeigen wiederum auf, dass in den 1990er Jahren eine Verschiebung vom historischen Stadtkern weg in die zentrumsnahen Prager Stadtviertel stattfand, und wie etwa Nusle, Prag 6, die Prager Neustadt, Žižkov oder Vinohrady zu Schauplätzen der Prag-Literatur avancierten. Auch im beginnenden 21. Jahrhundert spielt die Stadt Prag als Schauplatz in einigen Werken nach wie vor eine zentrale Rolle: Einer der gegenwärtig bekanntesten tschechischen Schriftsteller Jaroslav Rudiš beispielsweise ist 254 Rudiš, Jaroslav: Die Stille in Prag (Originaltitel: Potichu). München 2012. S. 71.

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sich der literarischen Tradition dieser Stadt bewusst. In Interviews betont er, dass er zwar das zeitgenössische Prag darstelle, jedoch besonders das Geschichtliche immer im Hintergrund seiner Geschichten stehe. 255 Diese sind indessen nicht mehr im Stadtzentrum mit der Altstadt, auf der Kleinseite oder dem Hradschin zu verorten, sondern spielen in den umliegenden Stadtvierteln und den Plattenbausiedlungen der Prager Vorstädte. Seine Figuren sind Menschen des 21. Jahrhunderts, die in Prag leben und arbeiten; beispielsweise der Protagonist Vandam im Roman Národní třída (Nationalstraße, 2013), ein unsympathischer „Raufbold und Kneipentyp“ 256 mit Drogen- und Gefängnisvergangenheit, der jeden Tag in seiner Stammkneipe Severka Bier und Schnaps trinkt, in der schon sein Vater Stammgast war: „Und dann tranken wir wieder und zogen über die ganze Welt her. Über die Politiker, die Bonzen und über die Weiber und über jeden, der uns mal schief angesehen hatte. Der Nachmittag wurde zum Abend und dann kam die Nacht.“ 257 Er lebt in der Prager Nordstadt in einer Plattenbausiedlung und ist stolz dort zu leben, weil er sie als seine Heimat betrachtet: Ich wohne in der Betonburg hier. […] Und es gibt genug Leute, die froh sind, dass sie hier wohnen dürfen. Die auf diesen Ort stolz sind. Ja ich auch. […] All die Plattenbauten. Samt Kino, Kulturhaus und unserer Jägerkneipe, die Severka, also Polarstern, heißt und in der die ollen Väter dieser Betonburg jedes Schichtende begossen haben. Sie haben die Straßenbahnstrecke gebaut, die Straßenbahnwendeschleife und das Straßenbahndepot, die Spielplätze, Parkanlagen und die Krippe, in der später meine Mutter gearbeitet hat. Selbst Kindergarten, Grundschule und Sonderschule haben sie gebaut, Berufsschule, Realschule, Gymnasium sowie unser Einkaufszentrum, das Bajkonur heißt, wie auch die Poliklinik, Entbindungsanstalt, Friedhof und die Bullerei, wo ich paarmal gewesen bin, nicht immer war ich selbst schuld. 255 Vgl. beispielsweise in einem Interview mit dem Deutschlandfunk aus der Reihe Gesichter Europas vom 30.11.2013: Die Stadt der Bücher, Bücher der Stadt – Prag und seine Literaten. http://www.deutschlandfunk.de/die-stadt-der-bucher-bucher-der-stadt-prag-und-seine.media.1a31b11931d0322e23de557cf0d8b806.pdf (zuletzt besucht am 08.03.2017) 256 Rudiš, Jaroslav: Nationalstraße. München 2016. S. 136. 257 Rudiš, Jaroslav: Nationalstraße. S. 124.

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[…] Das hier ist unsere Welt. Unser Kosmos. Fremde haben hier nichts zu suchen.258 Diese Plattenbausiedlungen der Vorstädte können als das neue Prager Ghetto des 21. Jahrhunderts verstanden werden. An solchen Orten fernab vom historischen und literarischen Zentrum der Stadt spielt sich nunmehr das alltägliche Leben der Pragerinnen und Prager ab. Es sind die Geschichten einer sozial schwächer gestellten Gesellschaftsschicht, von Fremdenfeindlichkeit und Wirtshausschlägereien. Die Severka, eine beliebige Vorstadtkneipe, ist der Ort, an dem die mitunter sonderbaren, rücksichtslosen und zwielichtigen Gestalten beim Bier ihrer Politikverdrossenheiten freien Lauf lassen. Doch auch in diesem Milieu steht die Prager Stadtgeschichte immer im Hintergrund259 und so ist der Roman auch nach der Národní třída (Nationalstraße) benannt, wo im November 1989 die Samtene Revolution begann, die Vandam „losgetreten“260 haben soll. Weiterhin hat er laut eigener Aussage von seinem historischen Vorbild Jan Žižka gelernt, seine Faust zu schwingen: „Wie Žižka, der Hussitenführer, als er auf dem Berg Vítkov die katholischen Kreuzzügler geschlagen hat“261. Auch Jaroslav Rudiš beschreibt in seinem Roman Potichu (Die Stille in Prag, 2007) das Lebensgefühl im heutigen Prag, einer lärmverseuchten und von Tourist:innen überfüllten Großstadt: Diese Stadt, die sich jeden Morgen über ihm zusammenkrümmt und vor Schmerzen ins Gesicht stöhnt, dass er sich die Ohren zuhalten muss. Eine Stadt, die schon vor Europa existiert hat, die in Europa liegt und möglicherweise zusammen mit Europa untergehen wird, denn Europa beginnt allmählich, an allen Enden zu brennen.262 Die Welt scheint „aus dem Gleichgewicht geraten […], aber da sie einst im Einklang mit sich selbst war, könnte sie wieder in diesen Zustand zurückfin258 259 260 261 262

Ebd. S. 23 f. Vgl. beispielsweise ebd. S. 17, S. 62 oder S. 65. Ebd. S. 62. Ebd. S. 110. Rudiš, Jaroslav: Die Stille in Prag. S. 110.

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den.“ [SP, S. 83 f.] Die Stille in Prag stellt keine magische oder geheimnisvolle Stadt dar, sondern erzählt in kurzen Kapiteln von den Lebensgeschichten und dem Gefühlsleben der fünf Protagonist:innen, die sich jeweils in ihrem individuellen Mikrokosmos durch den Stadtraum bewegen. Ihre Geschichten sind jedoch miteinander verwoben, und am Ende des Romans kreuzen sich schließlich an einem Abend ihre Wege. Nachdem der historische Stadtkern vom Tourismus besetzt wurde, spielt sich das Leben der Figuren nicht mehr dort ab. Ihre Aktionsradien befinden sich indessen in den umliegenden Stadtteilen, um das Stadtzentrum herum, in Vinohrady, Žižkov, auf der Letná-Höhe oder dem Weißen Berg. So entsteht im Roman aus verschiedenen Himmelsrichtungen ein Blick auf Prag – unter anderem auch von oben, aus einem Flugzeug, mit dem die Kulturwissenschaftlerin Hana von einer Geschäftsreise zurückkehrt: Das Flugzeug fliegt über Prag. Hana blickt auf das, was die Scharen von Touristen in die Stadt lockt. Den Hradschin. Die Karlsbrücke. Den Wenzelsplatz. Den jüdischen Friedhof. Dazwischen den Altstädterring mit astronomischer Uhr und Marktständen mit Bier und riesigen Marionetten von Schwejk und Kafka. Die Innenstadt verschwindet. Nun liegen die Plattenbauten unter ihnen, die wie ein Armreif um die Stadt liegen. Hana würde nie dort leben wollen, aber sie mag sie trotzdem lieber als die Sehenswürdigkeiten aus dem Reiseführer. In den Plattenbauten wird wenigstens noch gelebt. [SP, S. 51] Die klassischen Prager Wahrzeichen werden in Die Stille in Prag nur in Zusammenhang mit dem Tourismus genannt, und Hana empfindet bei ihrer Rückkehr eine Beklemmung, weil ihr die Stadt als von den Besuchern in Beschlag genommen erscheint. Einen Ort, der in Prag indessen authentisch geblieben ist, stellt die Letná-Höhe dar, auf der Hana gerne spazieren geht. Dieser Park liegt jenseits der Moldau auf einem Hügel nördlich vom Stadtzentrum. Hana befindet sich in ihrem Leben an einem Wendepunkt, sie fühlt sich nicht mehr wohl in Prag und überlegt, die Stadt zu verlassen: „Das ist genau ihr Lebensgefühl. Verloren inmitten der Menge. Verloren in Prag. Im

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Leben. In ihrer Beziehung mit Wayne. In sich selbst.“ [SP, S. 223] Die LetnáHöhe hingegen ist einer der wenigen Orte, „die sie in Prag wirklich liebt und die sie vermissen würde. […] Wo es sich manchmal sogar lohnt allein zu sein. Oder zu zweit. Laut zu sein. Oder ganz leise.“ [SP, S. 72] Es ist einer der rar gewordenen Orte, an denen man in Prag noch Stille erfahren kann, auch wenn unter einem die Stadt vorbeirauscht und man von dort aus auf „die still daliegende Moldau mit den Touristendampfern“ [SP, S. 152] hinunterblickt: Zu ihren Füßen liegt die unruhige Stadt im Würgegriff von Autokolonnen, die Dächer glänzen golden in der Nachmittagssonne und Hana wird klar, dass sie sich hier auf der Letná zu Hause fühlt. […] Die muffige Stadt kann man hier oben zwar sehen und hören, aber riechen kann man sie nicht. [SP, S. 135] Dieses Gefühl, sich in Prag verloren zu haben, und in diesem Zusammenhang der Blick von oben über die Stadt erinnern stark an die im Abschnitt Topographien der Flanerie und der individuellen Identitätssuche beschriebenen Figuren, wie etwa an Vilém aus Jiří Karáseks Gotická duše. Hana graut es indessen im gegenwärtigen Prag so sehr vor den Tourist:innenmassen, dass sie von ihrer Geschäftsreise gar nicht mehr nach Hause zurückkehren will, und das nicht nur, „weil sie die Stadt mit der alten Burg und der steinernen Brücke mit Horden von Touristen nicht mehr riechen kann“ [SP, S. 22]. Sie ist angewidert von den Tourist:innen, „deren Nasen in Prag-Reiseführern stecken und die nur noch Kafka, Barockkirchen und U Fleků im Kopf haben“ [SP, S. 42]: Wenn sie wüssten, wie leblos und ausgelaugt die Stadt geworden ist. Ein riesiges, schmuddeliges und muffig riechendes Museum. Ein Ort, den man für ein verlängertes Wochenende ansteuert, an dem man sich volllaufen lassen kann und den Rausch dann auf dem Rückflug ausschläft. Mehr ist in dieser Stadt nicht drin. [SP, S. 42] Die Anstürme der Tourist:innen drohen die Stadt zu zerstören, sie mit ihren digitalen Kameras in kleine Stücke zu zerschneiden, „die sie auf ihren winzig kleinen Speicherkarten nach Hause tragen“ [SP, S. 71]:

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Prag befindet sich heute zerstückelt auf Abermillionen von Digitalfotos, die für immer in der Versenkung der Festplatten verschwinden. […] Wegen der Touristen zerfällt Prag immer mehr. Es leert sich immer schneller. Was der Kommunismus und der Kapitalismus unberührt gelassen hatten, wurde vom Massentourismus um die Ecke gebracht. Es fällt bloß keinem auf, weil es ohne Blutvergießen und ohne Folter stattfindet. Eines Tages wird Prag zu einem leeren Poster an der Wand geworden sein und die Touristenhorden werden zu anderen Zielen ausschwärmen. [SP, S. 71 f.] An Prag stört Hana ferner besonders der Gestank. Im Kapitel Der Geruch der Stadt wird ihr erster Besuch bei einem Schulausflug geschildert: „Damals hat ihr der Geruch von Prag gefallen. Es war eine bunte, laute und schöne Großstadt mit eleganten Kaufhäusern, breiten Straßen und Hotdogs, die es bei ihnen im Grenzland nicht gab.“ [SP, S. 71] Heute findet sie die Stadt ohne Parfüm kaum zu ertragen, und sie schützt sich damit „vor der übernächtigten und nach Schweiß und Muff riechenden Stadt“ [SP, S. 70]. Jetzt ist Prag alles mögliche für sie, nur keine wohlriechende, schöne, bunte und große Stadt. Groß und schön kann Prag nur den hiesigen Knödelfressern vorkommen, die nie irgendwo anders gewesen sind. Die Taxifahrer da drüben zum Beispiel: kurze Hose, weiße Socken, Sandalen und Kapuzenjacke. Einer von ihnen kratzt sich gerade zwischen den Beinen. Willkommen im Pimmelland. [SP, S. 71] Die „magische“ Stadt der Jahrhundertwende, deren geheimnisvolle Altstädter Gassen zum Flanieren einluden, wird in Die Stille in Prag gnadenlos entzaubert. Die:den klassische:n Prager Spaziergänger:in gibt es nicht mehr, vielmehr vermeiden es die Figuren die Innenstadt zu Fuß zu durchqueren und bewegen sich statt dessen mit dem Auto oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fort. Hana beispielsweise nimmt den Bus – grundsätzlich würde sie kein Taxi fahren: „Diese Hornochsen wird sie nie und nimmer unterstützen.“ [SP, S. 71] Die Figur Petr etwa ist Straßenbahnfahrer der Linie 22263, der Straßenbahn, die von einer Seite der Stadt gemütlich auf die andere schaukelt. 263 Diese Bahnstrecke wird beispielsweise auch in Libuše Moníkovás Eine Schädigung (1981) beschrieben.

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[vgl. SP, S. 198] Diese Straßenbahnlinie führt direkt durch den Stadtkern vorbei an vielen Sehenswürdigkeiten bis hinauf zum Weißen Berg, dem Austragungsort der historischen Schlacht von 1612: Das Einzige, was Petr an seiner Arbeit Spaß macht, ist die Stadt, durch die er sich mit seiner Straßenbahn den Weg bahnt. An die Gleise gefesselt, tastet die Tram die Stadt ab, untersucht sie unter der stinkenden Smoghülle, die wie ein ewiger Deckel über Prag liegt. Sobald Petr die Anhöhe vom Weißen Berg hinter sich lässt, verschwindet er einem UBoot gleich unter der gelblichen Wolke. [SP, S. S. 85] Doch auch in diesem Zusammenhang wird die Stadt erneut durch die Luftverschmutzung entzaubert. In den Kapiteln Gefühle und Langfingeroper wird ferner deutlich, dass diese Art die Stadt zu passieren nicht etwa einer gemütlichen Spazierfahrt gleicht. Vielmehr werden die überfüllten Wagons im hektischen Innenstadtverkehr und eine Gruppe von Rumän:innen beschrieben, die in Petrs Straßenbahn andere Fahrgäste bestiehlt: Station I. P. Pavlova. Nirgendwo steigen so viele Leute aus und ein wie hier. Verschwitzt stolpern sie raus. Frisch klettern sie rein. Alles muss schnell gehen, bloß nicht grübeln. Die Straßenbahnen stehen dicht aneinandergepresst wie beim Gruppensex. […] Auf jeden Fall nimmt ihn die tägliche Tramsession auf der I. P. Pavlova richtig mit. Die ununterbrochen mit Autos vollgestopfte Fahrbahn mit einem Schienenfahrzeug zu überqueren ist jedes Mal ein Glücksspiel. Mindestens einmal im Monat knallt ein nervöser Fahrer mit seinem aufgemotzten Riesenschlitten direkt in eine Straßenbahn. [SP, S. 115] Im Gegensatz zu Hana mag Petr den Geruch der Stadt: „Man sagt, Prag stinkt. Und das stimmt ja auch. Aber genau das gefällt Petr. Die Stadt stinkt dermaßen, dass er den Geruch schon wieder schön findet.“ [SP, S. 56] Der Amerikaner Wayne wiederum, der in Prag als Anwalt arbeitet, musste sich erst an die vielen unschönen Eigenheiten der Stadt gewöhnen: Der Anblick von Männern mit Haarbüscheln in der Nase stört ihn nicht mehr und auch der fettige Schweinebraten macht ihm nichts mehr aus, nicht einmal die Prager Taxifahrer, die womöglich sich selbst übers Ohr

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hauen würden, wenn sie dadurch ihre Einträge steigern könnten, bringen ihn aus der Fassung. Wayne hat sich an die dreckigen Straßen, an die Hundescheiße auf den Gehsteigen und an die übertrieben stark geschminkten Frauen gewöhnt. [SP, S. 198] Neben der olfaktorischen Belastung ist die Geräuschkulisse der Stadt schwer zu ertragen. Die Figur Vladimír hat dem Lärm, unter dem er sehr leidet, den Krieg erklärt. Er sammelt Geräuschfrequenzen, „die er an verschiedensten Stellen der Stadt aufnimmt und in Klangkonserven einkocht, genau-so wie seine Mutter einst Gurken oder Pfirsiche eingekocht hat“ [SP, S. 81]. Sein Wohnzimmer hat er zu seinem Labor umgebaut, „zur Werkstatt seiner Befreiung, zu einer Fabrik für die Befreiung der Stadt, des Landes, des gesamten Universums.“ [SP, S. 14] In gewisser Weise kann man Vladimír als einen Lärm-Flaneur bezeichnen: Mit seinem absoluten Gehör spaziert er durch die Straßen und überlegt, wie er dem „Kampf gegen den Lärm“ beginnen soll, den „Kampf für die Befreiung der Stadt und ihrer Bewohner“ [SP, S. 63]. Langsam schlendert er durch die langen schattigen Straßen von Vinohrady. Der Platz des Friedens, Náměstí Míru. An der Kirche vorbei steuert er die Straßenbahnhaltestelle an, etwa zehn Menschen stehen da, keiner beachtet ihn. Vielleicht sieht und hört ihn keiner. Vielleicht hat ihn die Stille schon längst unsichtbar gemacht. [SP, S. 63] Seit dem Tod seiner Frau hört Vladimír ständig ein Rauschen und die „Stimmen der Zukunft und der Vergangenheit. Menschliche Stimmen. Stimmen der Stadt. Stimmen der stöhnenden Stadt“ [SP, S. 79]. Er hat sein Leben dem Stadtlärm verschrieben, weil er glaubt, die Stadt brauche ihn [vgl. SP, S. 110], um sie von ihrem Leiden zu erlösen. Die Stadt leidet, weil sie keinen sauberen Ton trifft, „sie schrammelt, dudelt und krächzt wie ein Orchester mit betrunkenen Spielern, die weder Talent noch Gefühl oder musikalisches Gehör besitzen. […] disharmonische Symphonie der kranken Großstadt“. [SP, S. 82] Vladimír weiß, warum die Stadt stöhnt, sich vor Schmerzen krümmt und zerfällt, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Nicht einmal den Menschen, die hier leben. Den Touristen schon gar nicht.

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Es ist Lärm. An allem ist der Lärm Schuld. Das Getöse. Das Dröhnen. Das Chaos. Der Lärm, hinter dem sich die Menschen verschanzen, weil sie Angst voreinander haben. Lärm, in den sie sich bereitwillig flüchten. Lärm, von dem sie eingeholt und vernichtet werden, ohne es überhaupt zu bemerken. Die Lärmepidemie. [SP, S. 80] Dieses Leiden widerspiegelt vor allem auch Vladimírs eigenes Innenleben, das Gefühlsleben eines Menschen, der an der Geräuschkulisse der Großstadt zu zerbrechen droht. Das Einzige, was ihm Schutz bietet, sind bestimmte Orte der Stille, wie zum Beispiel die Letná-Höhe, die paradoxerweise für Vladimír einst einen Ort des Lärmes darstellte: Vladimír gefällt es dort. Er gehört dahin. Geboren wurde er in den großen Lärm hinein. 1962. Genau an jenem Oktobertag, als auf der Letná zum ersten Mal versucht wurde, mit Dynamit das riesige Figurenensemble mit Stalin und der Arbeiterklasse in die Luft zu sprengen. Im Volksmund wurde das Werk Anstehen beim Fleischer genannt. Der steinerne Gigant widersetzte sich der Zerstörungswut. Man brauchte mehrere Tage und anderthalb Tonnen Sprengstoff. [SP, S. 193] Die Letná-Höhe widerspiegelt die Absurdität der politischen Verhältnisse in Prag und kann in gewisser Hinsicht mit ihrer wiedergefundenen Ruhe auch als Symbol der Hoffnung für die Stadt verstanden werden. Ebenso wie Hana geht Vladimír manchmal dorthin, um auf der Terrasse sitzend über die Moldau zu blicken und „auf die wogende Stadt unter ihm, auf die glänzenden Dächer, die unter den Sonnenstrahlen erglühen, auf die Wolken am Horizont, die vom Westen in den Osten ziehen“ [SP, S. 194] – auf der Letná lässt sich die „Magie“ der Stadt tatsächlich noch erahnen. Ein weiterer Ort der Stille ist für Vladimír seine Wohnung in Žižkov: „Es gibt nur wenige Orte, an denen er in Prag dem Lärm entfliehen kann, und einer davon ist seine Wohnung. Sie ist eine schalldichte Festung, trotz mancher poröser Stellen.“ [SP, S. 14] Er hat sorgfältig versucht sie schalldicht zu isolieren vor dem Lärm, der „von der Außenwelt durchsickert“ [SP, S. 13], und ein Gerät mit einem Gegenschall erfunden, das „den Lärm zerschlägt, verschluckt und zur Stille bekehrt.“ [SP,

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S. 84] Dank diesem Gerät herrscht in seiner Wohnung zwar Stille, jedoch funktioniert es draußen nicht – „womöglich hat der Straßenlärm eine gewisse Schallgrenze erreicht oder die Stadt ist bereits zu schwer erkrankt und lässt sich nicht mehr retten. Die Stadt klagt weiter.“ [SP, S. 84] Der in den Kapiteln über Die Prager Wirts- und Kaffeehauskultur und ihre Kneipengeschichten beschriebene Gegensatz von abgeschlossenen, geschützten Innenräumen und dem äußeren chaotischen Stadtraum wird in Die Stille in Prag besonders anschaulich herausgearbeitet. Auch in Hanas Wohnung in der Nähe der LetnáHöhe ist es ganz still [vgl. SP, S. 108], und als Wayne dort eines Tages mit dröhnenden Kopfschmerzen erwacht, beschuldigt er dafür „die Stadt, die von draußen in die Wohnung eindringt.“ [SP, S. 127]. Während die Figuren in Die Stille in Prag an dem Lärm und dem Chaos der Stadt leiden, stellen ihre Wohnungen, die sich in den in den zentrumsnahen Stadtvierteln in Vinohrady, Žižkov und Bubeneč befinden, jeweils einen vermeintlich geschützten Rückzugsraum dar. Obgleich die Figuren das Stadtzentrum meiden, wohnen und leben sie doch in dessen Nähe, sodass es scheint, als wollten sie auf den Blick über die Stadt nicht verzichten. Allerdings erscheint auch dieses Panorama getrübt, denn die ehemals hunderttürmige Stadt wird nun von einem einzigen Turm in Žižkov überragt – dem Prager Fernsehturm, den Petr und Vladimír jeweils aus den Fenstern ihrer Wohnungen in Žižkov sehen können: Die Spitze des Fernsehturms bohrt sich in die Wolken wie ein Raumschiff, das soeben abhebt. Er ist nie auf dem Turm gewesen, hat aber nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Aber den Blick aus dem Küchenfenster mag er wirklich gerne. [SP, S. 16] Es ist eine von vielen fragwürdigen Eigenheiten im gegenwärtigen Prag, an die sich auch Wayne erst gewöhnen muss: Wayne sieht den angestrahlten Fernsehturm. In Prag gibt es an die tausend Türme und nur einer davon ist hässlich – dieser hier. Im Laufe der Jahre hat sich Wayne an vieles gewöhnt. […] Nur der Anblick des Fernsehturms von Žižkov ist ihm immer noch fremd. Der Beinstumpf eines riesigen Tiers, eines Tiers, das in grauer Vorzeit auf Prag getreten ist, dort stehen blieb, einer infektiösen Krankheit

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erlag und aus seinen offenen Wunden kleine schwarze Babys gestreut hat. Ein Beinstumpf im Scheinwerferlicht, wie in Disneyland. Man kann ihm in Prag nirgendwo entkommen. [SP, S. 198] Schon Libuše Moníková hat in ihrem Roman Eine Schädigung (1981) die modernen Türme der Stadt thematisiert, von denen eine besondere Bedrohung ausgeht, weil sie nicht in das hunderttürmige Panorama passen und sich niemand an sie gewöhnen kann: „Im historischen Rahmen der Stadt wirken sie störend und wenn sie nicht Angst erweckten, wären sie mit ihrer stumpfen Form lächerlich.“ [ES, S. 8] 264 Ihre Beschreibung erinnert stark an den Fernsehturm, dessen Bau allerdings erst nach dem Erscheinen ihres Buches im Jahr 1985 begann. Am Ende des Romans Die Stille in Prag wird die Stadt schließlich tatsächlich für eine Weile von einer absoluten Stille erfüllt. Vladimír zerschlägt den Stromkasten im Akropolis, einem Klub in Žižkov, von dem aus der Lärm in seine darüberliegende Wohnung gedrungen ist und in dem sich alle anderen Protagonist:innen auf einem Konzert befinden: Er drischt auf die Kabel ein. Mit voller Kraft. Er will noch weiter. Am liebsten würde er die Kabel aus dem Körper des Hauses herausziehen. Aus dem Körper der Stadt entfernen. Er will Stille. Eine endgültige dauerhafte Stille. [SP, S. 225] Für Vladimír ist dies der Moment der Befreiung – er löst einen totalen Stromausfall aus, was es noch nicht einmal im Krieg gegeben hat oder als die Russen einmarschiert sind: „Die ganze Stadt ohne Strom […]. Die Stille. In der er sich selbst hören kann. Die Stadt. Das Land. Den Planeten. Das ganze Universum besteht aus Stille. Vladimír hört, wie er selbst zur Stille wird.“ [SP, S. 236 f.] Auch die anderen Figuren werden von dieser befreienden Stille erfüllt: „Draußen herrscht absolute Ruhe. Die Dunkelheit wirkt durch das Leuchten der Sterne noch schwärzer.“ [SP, S. 227] Mit dem Stromausfall fallen neben dem 264 Vgl. hierzu Kapitel De- und Rekonstruktion eines Erinnerungsortes im Werk von Libuše Moníková.

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Lärm auch die Lichter der Stadt aus, und so erscheinen auf einmal am Prager Himmel die Sterne, die dort sonst nie zu sehen sind [vgl. SP, S. 76]: „Draußen sind alle Lichter aus. Nur die Sterne am Himmel leuchten.“ [SP, S. 228] Die Punkerin Vanda erleidet bei dem Konzert einen Stromschlag und wird infolgedessen regelrecht von der Stille erfüllt: „Stille. […] Sie spürt nichts, am wenigsten ihren eigenen Körper. Sie sieht nur die Sterne am Himmel. Sie sehen vollkommen aus, klar und wunderschön.“ [SP, S. 230] In vielen Prag-Texten des 20. Jahrhunderts ist der klare Mondschein über der Stadt ein wichtiges Detail des nächtlichen Stadtpanoramas.265 So werden zum Beispiel auch in Albert Camus’ Der glückliche Tod die sternenklaren Nächte in Prag thematisiert [vgl. GT, S. 67: „Es dauerte nur noch einen Augenblick, dann sah er den ersten Stern rein und nackt zwischen den Turmspitzen der Teynkirche aufleuchten.“]. In seinem Essayband Licht und Schatten aus den Jahren 1935/36, der kurz nach seinem Prag-Aufenthalt erschien, schreibt er ferner auch über den Mangel an Stille und den omnipräsenten Lärm in den damaligen europäischen Großstädten: Doch wo findet man Einsamkeit, so notwendig für die Kraft, wo den tiefen Atem, in dem der Geist sich sammelt und der Mut sich messen kann? Es gibt die großen Städte. Nur braucht es da noch Bedienungen. Die Städte, die Europa uns darbietet, sind übervoll vom Aufruhr der Vergangenheit. Feinhörige können das Schwirren von Flügeln, das Beben von Seelen vernehmen. Man spürt den Taumel der Jahrhunderte, der Revolutionen, des Ruhmes. Man wird daran erinnert, daß das Abendland unter Getöse geschmiedet wurde. Das gibt nicht genügend Stille.266 Knapp achtzig Jahre später haben es Jaroslav Rudišs Figuren in einer Großstadt des 21. Jahrhundert gänzlich verlernt, einsam sein zu können, weil in ihrem Lebensraum kaum mehr Einsamkeit existiert: „Alle haben Angst vor der Einsamkeit. […] Die Menschen haben die Fähigkeit verloren, allein zu sein.“ [SP, S. 111] So ist das letzte Kapitel Hoch über Prag dem friedlichen 265 Vgl. hierzu Kapitel Tableau des Selbstverlustes: Der nächtliche Spaziergänger und die dunkle Seite der Stadt. 266 Camus, Albert: Minotaurus. S. 124.

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Blick von der Letná-Höhe über die von utopischer Stille erfüllte Stadt gewidmet: Die Straßen ertrinken in Dunkelheit. Ganz Prag ist dunkel. […] Tagsüber hört man hier die Stadt nicht. Der einzige Moment, in dem man die Stadt mitkriegt, kommt erst gegen Morgen. So leise wie gerade jetzt ist die Stadt aber nie.‘ Die Stadt ist unglaublich still. Man hört nur den Wind, der von der Nordsee den Herbst heranweht. […] Auf einmal gehen die Straßenlichter wieder an. Eines nach dem anderen. Ganz langsam. […] Die Sterne über Prag sind verschwunden. [SP, S. 238 f.] Die Stille in Prag stellt ein synästhetisches literarisches Großstadt-Tableau dar, in dem sich auch Rudišs Figuren verloren fühlen und gewissermaßen auf der Suche nach ihrem persönlichen Glück sind, das sich schließlich für einen Moment in der Stille offenbart. Der Protagonist Vandam in Rudišs Nationalstraße hingegen hört häufig Stille. Er lebt allerdings in einem Viertel der Stadt, das früher Wald war und in dem es kaum Zugereiste oder Fremde gibt. Im Nachwort zur deutschen Ausgabe von Nationalstraße schreibt Rudiš darüber, wie er Tschechien und seine Einwohner:innen wahrnimmt und dass es in seinem Buch auch um Fremdenhass geht: Ich wollte ein Buch schreiben über unser Land, das zwar im Herzen von Europa liegt, aber gern so tut, als passierte nichts um uns herum. Ich wollte darüber schreiben, wie wir die Welt von unseren Kneipen aus beobachten und hoffen, alle Kriege und Krisen mögen an uns vorbeiziehen. […] Ich wollte ein Buch schreiben über uns Tschechen, die wir unter uns leben und große Angst vor dem Fremden und vor den Fremden haben. […] Ich wollte ein Buch schreiben über unsere tschechische Angst. Über Vorurteile. Über Unsicherheit. Über Hass. Über Aggression. Über den verbreiteten Mythos, uns als die ewigen Opfer der Geschichte zu betrachten und davon überzeugt zu sein, dass wir niemanden etwas Böses angetan haben. Schuld sind immer die anderen.“267 267 Rudiš, Jaroslav: Nationalstraße. S. 157 f.

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Dementsprechend konstatiert auch Vandam im Roman: „Wir würden nicht mal einer Fliege was tun, wir Tschechen.“ 268 Auch in Die Stille in Prag ist der Amerikaner Wayne der Meinung, dass sich die Tschechen nicht wehren, dass sie vielmehr stolz darauf seien „was sie alles verloren haben“: Die Tschechen berichten mit viel größerer Lust von ihren Niederlagen als von ihren Siegen. […] Eine schwer zu ertragende Nostalgie herrscht in dem Land, denkt Wayne weiter, Nostalgie mit einer Prise Gefühlsduselei und einer Menge sadomasochistischer Gelüste. Mit dieser Sehnsucht nach Vergangenheit zieht Mitteleuropa alle Romantiker der Welt an […]. Nostalgie, schön und betörend, wie jeder Fluss der Erinnerung, ansonsten aber träge, steif und ohne Zukunft. [SP, S. 197] Die Stille in Prag ist hinsichtlich der Darstellung Prags im 21. Jahrhundert ein radikaler Text, der die Stadt hoffnungslos entzaubert: Prag erscheint nicht als „magisch“, sondern als unerträglich laut, hässlich und stinkend. Die Protagonistin Hana beispielsweise würde die Stadt gerne verlassen, weil sie sich dort nicht mehr wohlfühlt, wohingegen sich Petr an die Hässlichkeit und den Gestank gewöhnt hat. Die Schönheit der Stadt ist mit ihrer Vergangenheit verbunden, die aber in diesem Roman nicht mit der Gegenwart vereinbar ist. Im Gegensatz zu vielen Prag-Texten des 20. Jahrhunderts erkennen Rudišs Figuren die Präsenz der Vergangenheit im Stadtbild nicht, bzw. sie wird von anderen Eigenheiten und (Sinnes-)Eindrücken überschattet. Es sind keine tagträumerischen oder nachtschwärmerischen Gestalten mehr, die auf der Suche nach sich selbst durch die nächtlichen Gassen und Stadtviertel flanieren. Jedoch wird die Metropole Prag nach wie vor als Ort der gefährdeten Subjektivität dargestellt, allerdings ist diese bereits als bedrohender Lebensraum etabliert, von Tourist:innen und Zugereisten überflutet, die alle die Schönheit und „Magie“ der Stadt sehen und erleben wollen, sie dabei aber gleichzeitig sukzessive zerstören.

268 Ebd. S. 67.

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Vergleichende Zusammenfassung: Selbstsuche, Selbstfindung und Selbstverlust Während im Abschnitt Topologie der Erinnerung: Die Stadt als Gedächtnisraum die Geschichte und damit auch das kollektive Gedächtnis der Stadt die Semantisierung Prags in der Literatur maßgeblich bestimmen, so steht im Abschnitt Topologie der Entfremdung: Die Stadt als Seelenspiegel das „Tableau de Prague“ in einem direkten Zusammenhang mit der persönlichen bzw. subjektiven Vergangenheit eines Individuums. Die Erwartungen, Erfahrungen, Empfindungen und Befindlichkeiten eines Protagonist:innen sind für die Darstellung der Stadt in den in diesem Abschnitt behandelten Texten ausschlaggebend. Während der Topos Prag in den patriotischen Texten Gotická duše oder Nad městem, den Studentengeschichten von Karl Hans Strobl, in Egon Bondys Pražský život und Bohumil Hrabals Die Zauberflöte, Ota Filips Café Slavia, Jáchym Topols Výlet k nádražní hale oder Sylvie Germains Die weinende Frau in den Straßen von Prag als Gedächtnisraum einer sowohl kollektiven als auch individuellen Identitätsstiftung fungiert, steht die Darstellung der Stadt in den Texten, in denen sie als Seelenspiegel verstanden werden kann, kaum in einem Zusammenhang mit historischen bzw. zeitgenössischen Ereignissen. Die Identitätssuche der Protagonisten in Wilhelm Raabes Holunderblüte, Santa Lucia von Vilém Mrštík, Severins Gang in die Finsternis von Paul Leppin, Guillaume Apollinaires Le passant de Prague oder Der glückliche Tod von Albert Camus ist eher individuell motiviert und nicht auf die Stadtgeschichte ausgerichtet. Die dort auftretenden Figuren identifizieren sich nicht unbedingt mit Prag, und es findet keine Rückwendung in die Vergangenheit der Stadt statt. Auf der Suche nach sich selbst, nach Identifikation oder Klärung der eigenen Identität kommen diese Figuren in die Stadt, von bzw. in der sie etwas erwarten, das jedoch nicht eintritt. Nicht immer handelt es sich um eine bewusste oder begründete Suche – mehr oder weniger ziellos, von einer unbestimmten Sehnsucht und Unruhe getrieben, die sie besonders nachts hinaus in die Prager Gassen drängt, durchstreifen die Protagonisten die Topographien Prags, erschließen sie, lassen sich treiben, verirren oder verlieren sich. Prag wird so zum Topos einer existentiellen Problematik, einer sukzessiven Selbst-

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entfremdung. Häufig wird dieser individuelle Sinnverlust und das damit verbundene Umherirren von fiebrig beklemmenden Seelenzuständen begleitet, Melancholie, Niedergeschlagenheit sowie Ernüchterung, und die meisten dieser Charaktere vollziehen in dieser Auseinandersetzung eine qualvolle „Wanderschaft“ mit und zu sich selbst – selten mit einem guten Ausgang. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Bewegungsart: Im (Spazieren-)Gehen kommt die Suche zum Ausdruck, von der die Prag-Flaneur:innen angetrieben werden, sei es eine Suche nach Glück und Seelenfrieden, nach dem Sinn des Lebens oder mitunter gar eine Flucht vor der eigenen Vergangenheit. Die nächtlichen Prag-Flaneur:innen unterscheiden sich von ordinären städtischen Müßiggänger:innen, indem er nicht etwa aus Genuss ziellos durch die Stadt spazieren, sondern ihre Streifzüge durch die Dunkelheit eine Suche nach etwas Unbestimmten oder bis zu einem gewissen Grad einen Selbstverlust bzw. eine existentielle Krise widerspiegeln. Dieses Flanieren kommt besonders mit der Figur des ewig wandernden Juden in Apollinaires Le passant de Prague zum Ausdruck – wobei Laquedem selbst nicht der Suchende ist, sondern sich in ihm die Verlorenheit des Ich-Erzählers widerspiegelt. Laquedem ist eine positive Figur, dessen ewige Wanderschaft sowie Unsterblichkeit vor allem mit Lebensfreude verbunden ist. Darüber hinaus erscheint er aber auch als Symbol für den Tod und so kommen in der Figur des ewig wandernden Juden die charakteristischen Ambivalenzen der Stadt Prag sehr anschaulich zur Geltung. Mit dem Durchmessen der Stadtlandschaften entsteht ein „Tableau de Prague“, welches die individuelle, existentielle Problematik der:des jeweiligen Protagonistin:en widerspiegelt, das Stimmungsbild der Figuren zum Ausdruck bringt, die Fatalität und Ausweglosigkeit ihrer Situation. Diese geht in der Regel mit einer Entfremdung des Individuums von sich selbst einher und die Protagonist:innen verlieren sich auf ihrer Suche in Prag zunehmend und enden im Wahnsinn oder gar Tod. An diesem Topos der Fremdheit, die in den Texten in einer Selbst-Entfremdung zum Ausdruck kommt, ist es scheinbar unmöglich, sein Glück zu finden. Die Stadt als Seelenspiegel „individuelle[r]

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Innenräume“269 wird aus der Wahrnehmung der Protagonist:innen geschildert. Es entsteht ein düsteres, finsteres Tableau, dass dem Untergang geweiht scheint und in dem besonders die dunkle Seite der Stadt zur Geltung kommt. So verhält es sich zum Beispiel in Vilém Mrštíks Roman Santa Lucia, in dem hauptsächlich das nächtliche Prag semantisiert wird. Die Stadt erscheint als erotisierte Frauenfigur, als „Hure“ und „schwarze Schönheit“, die mit dem Protagonisten Jordán kokettiert und ihn in den Wahnsinn treibt – sie wird als düster, abweisend sowie unerreichbar geschildert, und so wächst in Jordán das Gefühl der Zerrissenheit, Vereinsamung, bis hin zu grenzenloser Hoffnungslosigkeit und Desillusionierung. Eine ganz ähnliche Semantisierung der Stadt wird auch in Leppins Roman Severins Gang in die Finsternis evoziert, in dem die dunkle Seite Prags bereits im Titel anklingt. Auch in Gotická duše spiegelt sich in der Darstellung Prags das Seelenleben des Protagonisten wider: Vom Petřín aus verliert er sich in seinem Blick über den Dächern und schiefen Schornsteinen der Stadt, die in der untergehenden Sonne von Schattenformationen verdunkelt werden. Solche literarischen Panorama-Bilder sind für die Darstellung Prags charakteristisch: Farbenprächtige, apokalyptische Abenddämmerungen, die eine dramatische Untergangsstimmung erschaffen, symbolisieren das Eintauchen in die Nacht und somit den Übertritt auf die dunkle Seite der Stadt. Prag erscheint hier abermals am Übergang zwischen Tag und Nacht als Schwellenraum, in dem sich Gegensätze vereinen. Oft werden diese Darstellungen synästhetisch durch den metallischen Klang der Glocken ergänzt, deren Widerhall sich von den Türmen über die Dächer der Stadt ausbreitet und Gefühle von großer Schwere und Müdigkeit hervorrufen. Im Gegensatz zum Umherirren und Flanieren durch die (nächtlichen) Prager Gassen sind diese Standbilder Ausdruck einer Vertiefung oder Kontemplation der Protagonist:innen, einer Reflektion über das eigene Dasein. Obwohl die Identitätssuche der beiden Protagonisten Jordán aus Santa Lucia und Vilém aus Gotická duše unterschiedlich begründet ist und letzterer über die Stadt Prag versucht, eine kollektive Identitätsstiftung herzustellen, erscheint der Verlauf des mit der Suche einhergehenden Selbstverlustes sehr äh269 Corbineau-Hoffmann, Angelika: Fragmentarität, Fremdheit, Fiktionalität. S. 181

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nlich. Dies lässt eine Besonderheit im Rückschluss auf das Konstrukt eines Prag-Mythos erkennen: Der Mythos als solcher ist eigentlich ein kollektives Phänomen, das von einem kollektiven Gedächtnis bewahrt wird. Im besonderen Falle des Prag-Mythos scheint sich abzuzeichnen, dass dieser vor allem in der Darstellung in der Literatur auch individuell bzw. subjektiv fortgeschrieben wird. Die Semantisierung der Stadt unterscheidet sich in den Texten von Autor:innen, die selbst keine Prager:innen, sind nicht signifikant von der von Schriftsteller:innen, für die Prag eine Heimat darstellt. Es scheint vielmehr ein Konsens über die Art und Weise der Darstellung der „magischen“ Stadt vorzuherrschen. Weiterhin ist in den in diesem Abschnitt behandelten Texten besonders auffällig, dass die „magische“ Stadt als solche selten thematisiert wird. Der Begriff „magisch“ wird in den Texten kaum gebraucht – vielmehr herrscht eine fortwährend dunkle, bedrohliche, unheimliche Atmosphäre. Fremdheit, Entfremdung und Einsamkeit, Leid und das Verlieren des Verstandes stehen mit dem Bild der Stadt in einer direkten Verbindung. Der Abschnitt über die Topologie der Entfremdung ist in drei Teile untergliedert: Während in den Kapiteln über die Prager Spaziergänger:innen und ihre Lesarten vor allem die Protagonist:innen mit ihrem Seelenleben sowie Außenräume der Stadt, die als Seelenspiegel fungieren, im Fokus stehen, wird der Blick in den Kapiteln über die Topographien der Flanerie auf bestimmte Topoi in der Stadt, Innenräume und Peripherien sowie die Begegnungen mit anderen Figuren gelenkt. Besonders die Prager Kneipen, Wirts- und Kaffeehäuser sind In-nenräume, die auch zum Seelenspiegel des jeweiligen Innenlebens der Figuren werden können. Der sukzessive Selbstverlust der Protagonist:innen wird in den Topographien der Stadt Prag dementsprechend sowohl mit Außen- als auch Innenräumen wiedergegeben. Erscheinen diese abgeschlossenen Innenräume einerseits als Orte, die Geborgenheit, Sicherheit und ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln, die für Lebensfreude und Alltagsflucht stehen sowie Regeneration, Rückzug und die Möglichkeit der Kontemplation versprechen, so werden sie ebenso häufig zu Topoi der Einsamkeit, in denen sich die Vereinsamung und Entfremdung des Indivi-

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duums widerspiegelt. Somit wird die Ambivalenz der Stadt Prags auch in der Semantisierung dieser Innenräume deutlich, die einerseits als Topoi der Geborgenheit und des Rückzugs erscheinen, andererseits aber genauso als paradigmatische Orte der Fremdheit und des Selbstverlustes fungieren. Besonders für Prag-Fremde herrscht in den Prager Kneipen und Wirtshäusern eine bedrückende Einsamkeit, die ihnen ihre eigene Fremdheit in der Stadt schmerzlich vor Augen führt. So vereinigen sich in den Topologien Prags verschiedene bedeutungstragende Komponenten, die auf den Selbstverlust des Individuums hindeuten bzw. den Untergang des Protagonisten ankündigen. In den finsteren Stadtlandschaften ist die Thematik des Todes omnipräsent und sie verbindet auch den III. Abschnitt der vorliegenden Arbeit über Die Stadt als Erinnerungsraum mit dem IV. über Die Stadt als Seelenspiegel. Viele Prager Schauplätze, wie die Friedhöfe oder der St. Veitsdom gemahnen an den Tod, und auch die Figuren, die in den Topologien Prags auftreten, sind oft als dessen Repräsentant:innen zu verstehen, wie etwa der ewig wandernde Jude in Apollinaires Le passant de Prague, der Schauspieler Zrcadlo in Meyrinks Walpurgisnacht oder die golemartige Riesin in Germains Die weinende Frau in den Straßen von Prag. Weiterhin sind auch die Moldau als Totenfluss und die unverhofften Begegnungen mit der Figur des Anderen Motive, die den Tod ankündigen, repräsentieren oder widerspiegeln. Prag ist ein Topos der Identitätssuche und die Figuren, die im Abschnitt Topologie der Entfremdung vorgestellt wurden sind nicht etwa auf der Suche nach der „Magie“ dieser Stadt, sondern in irgendeiner Form nach sich selbst. Die Stadt Prag erscheint dabei immer wieder als Topos einer schmerzlichen, ungestillten und möglicherweise unstillbaren Sehnsucht. Paul Leppin hat die damit einhergehenden charakteristischen Motive des „Tableau de Prague“ in seinem Gedicht „Sehnsucht nach Prag“ ausdrucksvoll vereint:

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Sehnsucht nach Prag Dem alten Prag war ich treulich verbunden In selig vergluteten Jugendstunden. Schien Frühsonne zärtlich über den Giebeln, begannen die wilden Tauben zu liebeln. Als bange Traumlast verharrten die Zeiten In des Burghofs hallende Herrlichkeiten, Brennende Wolken, Gold und Karmin, Verflammten am Abend überm Hradschin. Tief hing des Himmels heißes Entzücken Über holprigen Gassen, heiligen Brücken; Ergrauten Schicksals verwitterte Spuren Verschönten das Antlitz ehrwürdiger Uhren. Seither hat sich manches grausam gerändert. Bin lange nicht mehr durch die Altstadt geschlendert, Durch Landschaft betupft mit lenzlichen Pinseln, Das Blütenwunder der Moldauinseln. Manchmal, in eines Staubkorns Geflimmer, Blickt Sehnsucht herein in Krankenzimmer, Erwachen Klänge, die einst mich erfreuten: Dann hör ich die Glocken des Veitsdom läuten.270 In diesem Gedicht kommen die stärksten und häufigsten Motive, welche die Darstellung der Stadt Prag im 20. Jahrhundert bestimmen anschaulich zum Tragen: Gleich der erste Vers stellt den immerwährenden Vergangenheitsbezug zum Alten Prag her und die Verbundenheit des lyrischen Ichs mit der Stadt. Noch liegt eine hoffnungsvolle Stimmung im Sonnenaufgang und im charakteristischen Blick über die Dächer der hunderttürmigen Stadt. In der zweiten Strophe jedoch klingt bereits mit dem Gegensatz zwischen Morgen (Tag) und Abend (Nacht) und dem infernalen Sonnenuntergang etwas Unheil270 Leppin, Paul: Alt-Prager Spaziergänge. S. 79

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volles an. Auch die nicht immer positiv empfundene Präsenz der Vergangenheit wird als „bange Traumlast“ bezeichnet. In der dritten Strophe wird eine Verbindung zwischen dem klassischen Prag-Zentrum mit seiner ewigen Schönheit und der Zeit (Motiv der Uhren) hergestellt. Das schöne „Antlitz“ überstrahlt die schicksalhafte und tragische Geschichte der Stadt. In der vierten Strophe erfolgt schließlich der Einbruch der Realität: Die Stadt hat sich verändert – zumindest für das lyrische Ich existiert die alte Schönheit der frühlingshaften Kirschbaumblüte oder das malerische Panorama der Moldauufer nicht mehr. Die Schönheit der Außenräume steht im Kontrast zu einem Innenraum, ein Krankenhaus, in dem sich das lyrische Ich mittlerweile von der Außenwelt abgeschnitten ist. Am Ende des Gedichts steht eine Krankheit und nur noch die Glockenklänge, welche Vergänglichkeit symbolisieren, erinnern das lyrische Ich an die Schönheit der Stadt Prag.

Schlussbetrachtung und Forschungsausblick Von einer „magischen“ zu einer „tragischen“ Stadt? Pražské magično prostě má svou pestrou topografii a kdo je hledá, nemůže zůstat čumět na Karlově most na Hradčany. […] Nerozluštím je, pokud budu živ. Tak jako nikdo nerozluští magičnost Prahy.1 [Egon Bondy]

Mit der Untersuchung der Mythotopologie Prags offenbart sich eine durch und durch ambivalente Stadt, ein Topos des Dazwischen, ein Schwellenraum, in dem verschiedene Kräfte wirken, sich vereinen und einander widerstreben. Auch Ripellino betont in Magisches Prag, dass die „Magie“ der Stadt in einem bedeutungsvollen Zusammenhang mit ihren Ambivalenzen steht: „Die Magie Prags und Böhmens beruhte seit jeher in der Vermischung heterogener Elemente.“2 Diese Heterogenität ist vielfältiger Natur – sie lässt sich allein schon anhand der zentralen Lage Prags im Herzen des kulturhistorischen Raumes Europas nachvollziehen, die sowohl geographisch als auch kulturell einen Übergang zwischen Ost- und Westeuropa markiert. Auch historisch bzw. politisch steht diese Stadt unter heterogenen Einflüssen: Waren es um die Jahrhundertwende noch drei Kulturen, die Prag belebten und gestalteten, so erscheint Verlauf des 20. Jahrhunderts Böhmen bzw. die Tschechoslowakische Republik mit ihrer Hauptstadt häufig als fremdbestimmter Raum, der sich zunächst der Besatzung der Nationalsozialisten und später der Okkupation der Kommunisten einer jahrzehntelangen politischen Entmachtung ausgesetzt sieht. Sowohl die zentrale geographische Lage als auch das Schicksal einer kleinen Nation zwischen größeren oder mächtigeren Staaten und die damit einhergehenden nationalen Traumata prägen das Bewusstsein und die Eigenwahrnehmung der Pragerinnen und Prager, die sich über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg in diesem umkämpften Stadtraum befinden. 1

2

Bondy, Egon: K Praze magické. In: Analogon– Praha skrz prsty, 18/ 1996. S. 32-33, hier S. 32 f. Dt.: Die Prager Magie hat halt ihre bunte Topographie und wer sie sucht, der kann nicht auf der Karlsbrücke stehen bleiben und auf den Hradschin glotzen. […] Solange ich lebe, werde ich sie nicht entschlüsseln. Genauso wie niemand die Magie von Prag entschlüsselt. Ripellino, Angelo Maria: Magisches Prag. S. 262.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Scheidig, Prag und sein Narrativ von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62256-8_6

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Von einer „magischen“ zu einer „tragischen“ Stadt?

Mit dieser turbulenten Vergangenheit, den Traumata der Besetzung und der weit zurückreichenden Gründungsgeschichte erscheinen die Topographien Prags bereits vielfach besetzt, sodass das einzelne Großstadtindividuum wenig Freiraum für individuelle Identitätsentfaltung findet. Jedoch scheint es ein zentrales Bedürfnis des Menschen zu sein, sich mit der Stadt in der er lebt zu identifizieren und sich in seinem persönlichen Stadttext wiederzufinden oder gar widerzuspiegeln. Gerade im beginnenden 20. Jahrhundert empfinden viele Künstler:innen und Intellektuelle der Stadt gegenüber eine Hassliebe, die möglicherweise daraus resultiert, dass sich die künstlerischen Freigeister als Individuen in der angespannten Lage der Nationalitätenkämpfe, den veralteten Denkmustern und der Konstruktion von nationalen Identitäten eingeengt fühlen und sich dementsprechend mit Prag nicht mehr identifizieren können. Möglicherweise haben viele Schriftsteller:innen die Stadt verlassen, um ihre Identitätssuche andernorts entfalten zu können, zum Beispiel im Berlin der „Goldenen Zwanziger Jahre“. Aber auch im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts konnten oder wollten viele der hier genannten Autor:innen insbesondere aufgrund der politischen Lage nicht in Prag bleiben. Solche Schicksale spiegeln sich zahlreich in den Figuren und Ich-Erzähler:innen der Prag-Texte wider und die Stadt erscheint immer wieder als paradigmatischer Topos der Heimatlosigkeit. Diese kulminiert in Die Prager Orgie von Philip Roth mit der Vorstellung von Prag als Heimat des heimatlosen jüdischen Volkes. Das ambivalente Gefühl gegenüber der verlassenen (Heimat-)Stadt resultiert aus dem verwehrten Zugriff auf Prag als Identifikationsraum. Sowohl viele Schriftsteller:innen der untersuchten Texte als auch ihrer Figuren können das Prag der Gegenwart nicht mehr mit dem in der Vergangenheit oder ihrer Erinnerung in Einklang bringen – die veränderte Stadt bietet nicht mehr wie ehemals Sicherheit, Geborgenheit und Vertrautheit (so etwa in den Werken von Paul Leppin, Franz Kafka, Gustav Meyrink, Libuše Moníková und Daniela Hodrová). So erscheint das Prag der Literatur über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg als ein verunsichernder Topos, an dem sich die Figuren in besonderer Weise einer Auseinandersetzung mit sich selbst oder dem Schicksal der „großen

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Geschichte“ ausgesetzt sehen. Die Stadt mit ihren Topologien wird für das Individuum zu einem Ort einer individuellen oder auch kollektiven Suche nach Identität und Identifikation, wobei auch die kollektive Identitätsstiftung Teil einer individuellen Identitätsstiftung ist; als Versuch, die eigene Identität mit der seines Volkes und damit wiederum mit Prag als Mutter- bzw. Heimatstadt zu verbinden. Den Figuren gelingt es jedoch in den meisten Fällen nicht, sich in den Topologien Prags wiederzufinden oder auf sie zuzugreifen und sie für sich zu beanspruchen. Häufig endet für das Individuum die Suche nach Identifikation in den Topologien von Prag in einem tragischen Selbstverlust, welcher mit Verzweiflung und Wahnsinn einhergeht oder mit dem Tod endet. Der Niedergang des Individuums spiegelt sich in der Darstellung und Semantisierung Prags im Text wider, in einer dem Untergang geweihten Stadt mit ihrer dunklen, düsteren Seite, in der Allegorisierung einer Femme fatale oder in Verbindung mit einer starken Todessymbolik, die in den Topographien Prags allgegenwärtig ist. Die Ich-Krise als literarisches Thema ist freilich gerade im Zeitalter des „Fin de Siècle“, in dem sich der Prag-Mythos manifestiert, ein gängiges, das auch in anderen populären Großstadtnarrativen thematisiert wird. Im beginnenden 20. Jahrhundert gibt es zahlreiche literarische Figuren, die an bzw. in der Lebenswelt Großstadt leiden oder gar daran zugrunde gehen, so etwa das erzählende Ich in Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), die Protagonist:innen aus Manhattan Transfer (1925) von John Dos Passos oder Franz Biberkopf aus Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929). Die Städte Paris, New York und Berlin erscheinen in diesen Darstellungen als moderne Metropolen und die jeweiligen Texte literarisieren die Reizüberflutung der Großstadterfahrungen: Beschleunigung und Schnelllebigkeit, Fortschritt und Technisierung, Anonymisierung und Anonymität, der Kontrast von Armut, Elend, Kriminalität auf der einen und Reichtum, Konsum, Trubel und Vergnügen auf der anderen Seite. In synästhetischen Bildern vereinen sich der Verkehrs- und Menschenlärm sowie die Gerüche der Stadt, und nicht selten entsteht ein Tableau, das gezeichnet ist von Hässlichkeit, Ekel, Krankheit oder Tod. In diesen modernen literarischen Großstadtdarstellungen wird der Fokus auf ein Einzelschick-

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Von einer „magischen“ zu einer „tragischen“ Stadt?

sal gelenkt, das im Kontrast zur anonymen Masse bzw. dem mitunter dämonisierten Großstadtraum steht. Mit entsprechenden literarischen Darstellungsformen wie dem „stream of conciousness“ (Bewusstseinsstrom) oder dem inneren Monolog wird die auf das erlebende Individuum einströmende Reizüberflutung wiedergegeben. Auch das montageartige, scheinbar zufällige Zusammenfügen kurzer Szenerien zu einem großen Ganzen, wie etwa in Manhattan Transfer, erscheint als geeignete Technik, um die Schnelllebigkeit, das Labyrinthische oder Dschungelhafte der Großstadt literarisch zu erfassen. Sicherlich finden sich im Narrativ der Stadt Prag auch einige Parallelen zu den hier genannten Darstellungen moderner Metropolen. Jedoch erscheint Prag gerade in Hinblick auf seine heterogenen Besonderheiten und Eigenschaften in der Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht als eine sich entwickelnde Großstadt. Obgleich auch hier unzweifelhaft Fortschritt und Industrialisierung Einzug gehalten haben, bleibt dieser Stadt im Vergleich zu beispielsweise Paris, Berlin oder New York ein immerwährender kleinstädtischer, provinzieller Charakter anhaften und liest man sich durch anthologische Abhandlungen europäischer Großstadtdarstellungen, so findet Prag kaum Erwähnung. Gerade Paris hatte für die Prager Avantgarde immer einen Vorbildcharakter und obwohl die Fürstin Libuše dem Gründungsmythos zufolge der Stadt großen Ruhm prophezeite, kann das „magische“ Prag mit dem Glanz der unanfechtbaren Hauptstadt der europäischen Moderne nicht mithalten. Auch um die Stadt Paris existiert ein Narrativ, das der Inbegriff des Mythos der Moderne schlechthin ist und an dem unzählige namhafte Autor:innen von Honoré de Balzac, Victor Hugo, Charles Baudelaire, Emile Zola, bis hinzu Rainer Maria Rilke oder Walter Benjamin schon seit dem 19. Jahrhundert mitgeschrieben haben. Hinsichtlich eines Forschungsausblicks wäre es sicherlich sehr aufschlussreich, diese beiden Stadt-Mythen und die Entwicklung ihrer Narrative einem eingehenden Vergleich zu unterziehen. Mehr als mit dem modernen Facettenreichtum von Paris ist das „Tableau de Prague“ in einigen Aspekten mit dem literarischen London vergleichbar, gerade in Hinblick auf die dunkle Seite der Stadt, die etwa in den Romanen von Charles Dickens aus der Mitte des 19. Jahrhunderts oder Sherlock Holmes von

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Sir Arthur Conan Doyle im Vordergrund steht. Insbesondere die Beschreibungen der Alten Prager Judenstadt entwerfen ein ganz ähnliches Bild, wie Dickens’ Londoner Slums. Beispielsweise in Oliver Twist (1837/38) kommt die düstere Seite Londons zur Geltung – Dickens schildert das Elend des alltäglichen Lebens der armen Bevölkerungsschichten in den Slums und die schmalen schmutzigen Gassen mit den überfüllten Häusern. Im London Dickens’ kommt die moralische Verwerflichkeit des mit Armut, Gewalt, Kriminalität und Tod konfrontierten Menschen in hässlichen und schmutzigen Bildern zum Ausdruck, häufig spielen sich die Szenerien bei Nacht, in der Dämmerung oder im Morgengrauen ab. Gerade die Illustrationen der alten Prager Judenstadt, die vor der Assanierung am Ende des 19. Jahrhunderts spielen, wie etwa in Der Golem von Gustav Meyrink, der interessanterweise auch einige von Dickens’ Romanen ins Deutsche übersetzt hat, erinnern an die Beschreibungen der Londoner Slums aus Dickens’ Werk. Tatsächlich erinnert das „Tableau de Prague“ mit seinen spezifischen Topologien und Thematiken an verschiedene mitteleuropäische Stadtnarrative, insbesondere etwa an die „toten Städte“ in Georges Rodenbachs Bruges-la-Morte (Das tote Brügge, 1892) oder Thomas Manns Tod in Venedig (1912). Besonders interessant ist der Zusammenhang zwischen der Todesthematik und der Wassernähe dieser Städte. Während die Topographien Venedigs oder Brügges für ihre dunklen Wasser bekannt sind, die sich in verwinkelten, düsteren Kanälen durch die ganze Stadt schlängeln, und insbesondere die Fahrt durch die Lagune mit ihrem fauligen Geruch in Tod in Venedig das metaphorische Übertreten der Schwelle ins Reich des Todes symbolisiert, ist in Prag das Motiv der Moldau mit einer starken Todessymbolik behaftet. Auch die Themse in Dickens’ London wird beispielsweise in seinem Essay Night Walks (1859) als finsterer und grauenhafter und nach Unrat stinkender Fluss dargestellt, aus dem die Geister der Selbstmörder:innen steigen. Die Wassermotivik erscheint in einem engen symbolischen Zusammenhang mit der Thematik des Todes: Zum einen in Anlehnung an den Totenfluss als Symbol der Überquerung einer Schwelle oder der Entgrenzung ins Reich des Todes, zum anderen aber auch in Hinblick auf den morbiden Charme einer nebligen und düsteren

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kanaldurchzogenen Stadt. So werden Städte wie Brügge, Venedig, aber eben auch London mit ihrer Meeres- oder Wassernähe gewissermaßen zu Grenzstädten. Auch in Vilém Mrštíks Roman Santa Lucia wird Prag als Hafenstadt semantisiert, obwohl Böhmen bekanntermaßen weit von einer Meereslage entfernt ist. Die Stadt Triest beispielsweise ist als literarisches mitteleuropäisches Narrativ zwar wenig bekannt 3, jedoch weist gerade diese Hafenstadt einige interessante Gemeinsamkeiten mit Prag auf. Der Literaturwissenschaftler Matteo Colombi hat in seiner Dissertation Multiethnizität und Multikulturalität in Prag und Triest 1919-1939. Literarischer und historischer Raum im typologischen Vergleich diese beiden Städte bereits einander anschaulich gegenüber gestellt. Nicht nur als Küstenstadt hat Triest im beginnenden 20. Jahrhundert eine Grenzlage, sondern insbesondere in Hinblick auf die Multiethnizität und Multikulturalität, welche faktisch viel komplexer war, als in Prag. Ähnlich wie Prag prägten auch Triest die historischen Traumata Europas im 20. Jahrhundert, insbesondere der erste Weltkrieg und der Italienische Faschismus. Auch in der Triester Literatur spiegeln sich die Besonderheiten dieser Grenzstadt wider, so zum Beispiel im Werk von Italo Svevo oder Umberto Saba. Hinsichtlich der charakteristischen Herausstellungsmerkmale und Besonderheiten des Prag-Narrativs und seiner Mythotopologie wäre sicherlich eine eingehende vergleichende Betrachtung zu Venedig mit seinem Narrativ besonders fruchtbar. Gerade Venedig hat eine weit zurückreichende literarische Tradition und gilt schon seit Jahrhunderten als weltweiter Anziehungs- und Sehnsuchtsort, der von vielen internationalen großen Schriftsteller:innen illustriert wurde, so etwa von Johann Wolfgang von Goethe, George Gordon Lord Byron, Honoré de Balzac, Thomas Mann oder auch Rainer Maria Rilke. In ihrer Habilitationsschrift Paradoxie der Fiktion hat die Komparatistin Angelika Corbineau-Hoffmann literarische Venedig-Bilder von 1797-1984 einge-

3

Interessanterweise hat gerade der gebürtige Triester Claudio Magris, der den bekannten Aufsatz über Prag als Oxymoron verfasst hat, auch das literarische Triest und den damit verbunden Mythos in seinem Buch Triest. Eine literarische Hauptstadt in Mitteleuropa (1982) beschrieben.

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hend untersucht. Einleitend verweist sie auf die „Doppelgesichtigkeit“4 Venedigs – mit ihrer Meereslage stellt diese Lagunenstadt in besonderer Weise einen topographischen Grenzort dar und auch die Geschichte Venedigs ist von einem ambivalenten Bild geprägt: Auf der einen Seite die glanzvolle Schönheit der Stadt und der Reichtum der Republik Venedigs als ältestem Staat Europas, bedeutender Handelsplatz sowie See- und Wirtschaftsmacht und auf der anderen Seite der machtpolitische Niedergang im 18. Jahrhundert – wie ihn etwa Lord Byron in seiner Ode to Venice (1818) beschreibt. Die verwinkelten Topographien der Gassen und Kanäle und die Pracht der Kirchen, historischen Plätze und Paläste stehen im Kontrast zum potentiellen Verfall dieser Stadt, die mit dem steigenden Wasserspiegel droht, im Meer zu versinken. Auch im Narrativ Venedigs ist das Stadt-Bild geprägt von der Bedeutung seiner Vergangenheit sowie der Schönheit bzw. Besonderheit ihrer Topographien. Ähnlich wie Prag ist insbesondere auch Venedig mit seiner starken Todessymbolik für das erlebende Ich in der Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts ein signifikanter Topos der Erinnerung, wie etwa in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (1913-1927) zum Ausdruck kommt. Ein komparatistischer Vergleich in Hinblick auf die Funktion der literarischen Darstellung der beiden Städte Prag und Venedig als Gedächtnisspeicher einerseits sowie als Seelenspiegel bzw. als Topoi der Selbsterfahrung und des Selbstverlustes, der Entfremdung und des Todes andererseits, würde sicherlich interessante Ergebnisse liefern, die möglicherweise weitere Rückschlüsse auf das Verhältnis von realer Stadt und der kulturellen Bedeutung ihrer fiktionalen Abbildung in der Literatur zuließen. Mit dem Versuch abschließend das Narrativ der Stadt Prag in einen Bezug zu anderen europäischen Städten der Literatur zu setzen fällt insbesondere auf, dass die Semantisierung und Darstellung nicht etwa aus dem gegenwärtigen Bild einer modernen oder sich modernisierenden Großstadt resultiert. Die „Magie“ Prags entsteht nicht mit der lebendigen Gegenwart einer Metropole, sondern vielmehr durch ihre lebendige Vergangenheit. Statt moderner Groß4

Corbineau-Hoffmann, Angelika: Paradoxie der Fiktion. Literarische Venedig-Bilder 17971984. S. 5.

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stadtlandschaften ist das literarische Bild der Stadt Prag geprägt von den historischen Architekturen, die vom Glockenläuten des hunderttürmigen Panoramas ergänzt werden, welches symbolisch an die Zeit bzw. die Vergangenheit gemahnt. Auch das Labyrinthische und die Irrwege der Flanerie sind auf die ehemalige Judenstadt und das historische Zentrum mit seinem verwinkelten Gassengewirr konzentriert, anstatt unter dem Aspekt einer großstädtischen, unüberschaubaren Weitläufigkeit inszeniert. Der immerwährende Vergangenheitsbezug sowie die rückwärtsgewandte Sehnsucht in das „Alte Prag“ der Vergangenheit bzw. der Erinnerung – eben das „magische“ Prag – sind die zentralen Thematiken, die sich durch das gesamte 20. Jahrhundert ziehen. Erst im ausgehenden Jahrhundert wird schließlich mit der Abwanderung in die Peripherien auch zunehmend das jeweilige zeitgenössische Prag abgebildet. Jedoch fungiert auch in diesen Darstellungen die Stadt oft als Erinnerungsraum – es wird an ein früheres Prag gemahnt und somit wird auch in diesen Texten der Mythos weitergeschrieben bzw. gewahrt. Weiterhin fällt mit der Inbezugsetzung des Topos Prag zu anderen Stadtnarrativen auf, dass sich die Identitätsproblematik und die Thematisierung der Verlorenheit oder der Ich-Krise nicht nur um die Jahrhundertwende wiederfindet, sondern zu einem festen Bestandteil des Prag-Mythos geworden ist und zu literarischen Darstellungen über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg gehört. Das „magische“ Prag existiert nurmehr in der Vergangenheit und es wird zunehmend dekonstruiert. Die Stadtlandschaften erscheinen oft trist, hässlich und heruntergekommen, Prag hat sich verändert und wird zur qualvollen, von den Göttern verlassenen Stadt. Das „traumatische Prag“ mit seiner „großen Geschichte“ scheint das Narrativ des 20. Jahrhunderts derart geprägt zu haben, dass man nach Darstellung einer tatsächlich magisch erscheinenden Stadt annähernd vergeblich sucht. Ebenso ist die Suche der Figuren in gewisser Weise auf die „Magie“ der Stadt ausgerichtet und so muss die Identifikation mit der Stadt fehlschlagen. Das Individuum findet sich indessen an diesem paradigmatischen Topos der Fremdheit und des Dazwischen wieder, an dem es bestimmten Grenzerfahrungen ausgesetzt ist, infolge derer es zu einer Entgrenzung bzw. Entfremdung kommt.

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Die Metropole Prag erscheint in der Literatur vielmehr als Metropolis – als Mutterstadt. Die sich in den Topologien Prags widerspiegelnde Sehnsucht und das Gefühl der Heimatlosigkeit erinnern an das kindliche Bedürfnis nach mütterlicher Geborgenheit, zu der zurückzukehren jedoch unmöglich ist. Und so scheitert das Individuum an dem Versuch, die „Magie“ der Stadt (wieder)zufinden bzw. sie für sich zu beanspruchen. Prag erscheint somit in der Literatur des 20. Jahrhunderts mit seinen Ambivalenzen und Besonderheiten vielmehr an einer Schwelle von einer magischen zu einer tragischen Stadt.

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