Staatsverschuldung: Europäische Vorgaben, grundgesetzliche Maßstäbe und einfachrechtliche Ausgestaltung [1 ed.] 9783428551743, 9783428151745

Das staatsschuldenrechtliche Regime für die Bundesrepublik Deutschland ist äußerst komplex und beruht auf unterschiedlic

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German Pages 299 [300] Year 2017

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Staatsverschuldung: Europäische Vorgaben, grundgesetzliche Maßstäbe und einfachrechtliche Ausgestaltung [1 ed.]
 9783428551743, 9783428151745

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Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Band 99

Staatsverschuldung Europäische Vorgaben, grundgesetzliche Maßstäbe und einfachrechtliche Ausgestaltung

Von Fabian Disselbeck

Duncker & Humblot · Berlin

FABIAN DISSELBECK

Staatsverschuldung

Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Herausgegeben von Christia n Sei ler in Gemeinschaft mit Jochen von Bernstor f f, Michael Droege M a r t i n He c k e l, K a r l -He r m a n n K ä s t n e r, F e r d i n a n d K i r c h h o f H a n s v o n M a n g o l d t , M a r t i n Ne t t e s h e i m, T h o m a s O p p e r m a n n G ü nt e r P ü t t n e r, B a r b a r a R e m m e r t , M i c h a e l R o n e l l e n f i t s c h J o h a n n e s S a u r e r, Wo l f g a n g G r a f V i t z t hu m sämtlich in Tübingen

Band 99

Staatsverschuldung Europäische Vorgaben, grundgesetzliche Maßstäbe und einfachrechtliche Ausgestaltung

Von Fabian Disselbeck

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Geld und Währung, Frankfurt am Main

Die Juristische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen hat diese Arbeit im Sommersemester 2016 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 21 Alle Rechte vorbehalten

© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-6061 ISBN 978-3-428-15174-5 (Print) ISBN 978-3-428-55174-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-85174-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommer 2016 von der Juristischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Bis auf wenige Aktualisierungen entspricht die gedruckte Fassung dem Stand der Abgabe. Die Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne die große Unterstützung zahlreicher Menschen, die ich an dieser Stelle nicht alle abschließend nennen kann. Mein besonderer Dank gilt jedoch folgenden Menschen und Institutionen: Mein Doktorvater Herr Professor Dr. Christian Seiler hat mich von der ersten Idee bis zum Abschluss dieser Arbeit mit einer unermüdlichen Ausdauer unterstützt und sie in einem Maße betreut, die weit über das Erwartbare hinaus geht. Mit seinen wertvollen Ratschlägen und Ideen hat er mir die entscheidenden Impulse gegeben, um der Arbeit die richtige Richtung und Struktur zu geben. Für das alles bin ich ihm zutiefst dankbar. Bei Herrn Professor Dr. Michael Droege bedanke ich mich für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Mein Bruder Philipp hat im gleichen Zeitraum wie ich seine Doktorarbeit verfasst. Das Korrekturlesen und die vielen intensiven Gespräche waren eine großartige Hilfe und wichtige Stütze in dieser Zeit. Meinen Eltern danke ich für ihre stete Unterstützung. Sie haben mein Studium in Erfurt und Wellington überhaupt erst ermöglicht und damit den Weg für diese Arbeit geebnet. Meine Frau Christina hat mich in der ganzen Zeit rückhaltlos unterstützt und mir immer Halt gegeben. Ich danke ihr aus vollem Herzen. Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit hat mich sowohl in der Promotionszeit als auch während meines Studiums mit ihren Stipendien gefördert. Für diese Unterstützung bin ich sehr dankbar. Der Stiftung Geld und Währung danke ich für den großzügigen Druckkostenzuschuss. Berlin, im April 2017

Fabian Disselbeck

Inhaltsverzeichnis Einleitung  A. Thematische Einführung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Forschungsinteresse und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Erster Teil

Finanzierung des Staates durch Verschuldung: Grundlagen und vorgefundener Rechtsrahmen 

A. Kreditfinanzierung des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 I. Steuerstaatlichkeit als Prinzip staatlicher Regelfinanzierung: Ausgleich der Einnahmen und Ausgaben und Subsidiarität der Krediteinnahmen  . 26 II. Staatseinnahmen durch Kredit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1. Legitimation staatlicher Kreditaufnahme  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Ratio einer Begrenzung der Kreditaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3. Staatsverschuldung und Demokratieprinzip   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 B. Bisherige grundgesetzliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 I. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als zentrale Determinante der Finanzverfassung von 1969–2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 II. Die Regelbegrenzung der Staatsverschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Der Wandel vom allgemeinen Deckungsgrundsatz zum Situationsbezug der Kreditaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Die Regelkreditgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3. Die Obergrenze der Regelverschuldung: Junktim zwischen Investitions- und Kreditsumme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 III. Ausnahme: Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 IV. Die Ausnahmeoption für Sondervermögen des Bundes  . . . . . . . . . . . . 51 V. Ursachen der eingeschränkten Begrenzungswirkung: Kontrolldichte, Gestaltungsspielräume und exekutive Umgehungsstrategien . . . . . . . . . 53 1. Der Investitionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Die (drohende) Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts . 55 3. Fehlende Pflicht zur Rückführung von Schulden  . . . . . . . . . . . . . . . 55 4. Exekutive Umgehungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 a) Private Vorfinanzierung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 b) Restkreditermächtigungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

8 Inhaltsverzeichnis VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 C. Exkurs: Die Schweizer Schuldenbremse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 I. Funktionsweise der Schweizer Schuldenbremse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 II. Beurteilung der Schweizer Schuldenbremse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Zweiter Teil

Europäische Vorgaben 

A. Das Regelungsregime der Europäischen Union zur Begrenzung der Staatsverschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 I. Rechtsrahmen und Regelungssystematik im Überblick . . . . . . . . . . . . . 66 II. Primärrechtliche Maßstäbe des Unionsrechts zur Begrenzung der Staatsverschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1. Pflicht zur Vermeidung eines übermäßigen öffentlichen Defizits . . . 71 a) Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 b) Die konkreten Referenzkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 c) Ausnahmen beim Kriterium des jährlichen Finanzierungsdefizits . 73 d) Einschub: Die Ausnahmetatbestände des ursprünglichen Stabilitäts- und Wachstumspaktes von 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 e) Ausnahmen beim Kriterium des Schuldenstandes . . . . . . . . . . . . 79 2. Verhältnis von Investitionsausgaben zum Finanzierungsdefizit . . . . . 81 3. Sonstige einschlägige Faktoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 III. Sekundärrechtliche Maßstäbe zur Begrenzung der Verschuldung . . . . . 85 1. Der Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“ . . . . . . . . . . . . 85 2. Die mittelfristigen Haushaltsziele der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . 86 3. Die Tragfähigkeit der Finanzlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 IV. Überwachungs- und Defizitverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Das präventive Überwachungsverfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2. Das korrektive Defizitverfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a) Eröffnung des Defizitverfahrens durch den Bericht der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 b) Feststellung des übermäßigen öffentlichen Defizits durch den Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 c) Empfehlungen des Rates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 d) Fehlende Maßnahmen und Inverzugsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 e) Sanktionsmaßnahmen i. e. S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3. Ausschluss des Vertragsverletzungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 V. Systematik und Direktionskraft des Stabilitäts- und Wachstumspaktes  . 100 1. Die zeitlichen Dimensionen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes  . 101 2. Funktionsfähigkeit des Stabilitäts- und Wachstumspaktes . . . . . . . . . 105 VI. Rechtspolitische Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Inhaltsverzeichnis9 B. Begleitendes europäisches Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 I. Der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalpakt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Der Fiskalpakt im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Vorgaben des Fiskalpaktes für die nationalen Schuldenbremsen . . . 121 a) Die mittelfristigen Haushaltsziele als Schuldengrenze . . . . . . . . . 121 b) Korrekturmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3. Bewertung des Fiskalpaktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 II. Der Euro-Plus-Pakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Dritter Teil

Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

A. Die Neuregelung des Staatsschuldenrechts im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . 130 I. Entstehungsgeschichtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Kontext der Föderalismusreform  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2. Die Blaupause der Schuldenbremse durch das Bundesfinanzministerium und der Reformvorschlag des Sachverständigenrates . . . . . . . . 133 II. Verfassungsänderungen und Begleitgesetzgebung im Überblick . . . . . . 136 1. Einbettung in den europäischen Rahmen und die föderale Struktur der Bundesrepublik: Art. 109 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 2. Schuldenbremse im engeren Sinne: Art. 109 Abs. 3 GG  . . . . . . . . . 137 3. Konkretisierung der Schuldenbremse des Bundes: Art. 115 Abs. 2 GG  138 4. Präventionsregelung: Art. 109a GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 5. Übergangsregelungen und Konsolidierungshilfen: Art. 143d GG . . . 139 6. Einfachgesetzliche Begleitgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 7. Rechtsverordnung zur Regelung der Einzelheiten der Konjunkturkomponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 III. Kontinuitäten und Brüche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Abkehr von den alten Deckungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3. Haushaltsausgleich ohne Krediteinnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4. Mehrjährige Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 B. Die neue Schuldenregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 I. Materieller Haushaltsausgleich als zentraler Grundsatz des neuen Staatsschuldenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 II. Strukturell zulässige Staatsverschuldung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 1. Die strukturelle Verschuldungskomponente des Bundes . . . . . . . . . . 149 a) Verfassungsrechtliche Vorgabe: Wirtschaftsleistung als statischer Maßstab der Verschuldungsgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 b) Strukturelle Verschuldungskomponente und materieller Haushaltsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 c) Intention der strukturellen Verschuldungskomponente  . . . . . . . . 153

10 Inhaltsverzeichnis 2. Die strukturelle Verschuldungskomponente der Länder . . . . . . . . . . . 155 a) Regelungspflicht der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 b) Vereinbarkeit mit dem durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützen Kern des Bundesstaatsprinzips   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 III. Konjunkturell zulässige Staatsverschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 1. Verfassungsrechtliche Vorgabe: Wirtschaftliche Entwicklung als dynamischer Maßstab der Verschuldungsgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 a) Grund und Maß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 b) Symmetrieerfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2. Konjunkturell zulässige Verschuldung der Länder . . . . . . . . . . . . . . . 168 IV. Kontrollkonto der Schuldenbremse – Vorgaben des Verfassungsrechts  . 174 V. Ausnahmeregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Ausnahmesituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3. Der Tilgungsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4. Zielkonflikt der Regelung (Bewertung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 VI. Der Stabilitätsrat als gesamtstaatlicher P ­ räventionsmechanismus – Vorgaben des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 C. Die Schuldenregel des Grundgesetzes im europäischen Rechtsrahmen . . . . 184 I. Unionsrechtlicher Rahmen (Art. 109 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 II. Die Schuldenbremse des Grundgesetzes und der europäische Fiskalpakt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Vierter Teil

Die Ausgestaltung der Schuldenbremse durch Bundesgesetz und Rechtsverordnung 

A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 I. Strukturelle Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1. Ausgestaltung der Strukturkomponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Bereinigung um finanzielle Transaktionen und Abgrenzungen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 II. Konjunkturkomponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 1. Abweichung von der Normallage als Grund – Das Produktions­ potential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 2. Konjunkturelle Auswirkungen auf den Haushalt als Maß . . . . . . . . . 201 a) Konjunkturreagibilität des Haushaltes – Budgetsensitivität . . . . . 201 b) Erwartete konjunkturelle Lage – Produktionslücke . . . . . . . . . . . 205 aa) Statistische Konjunkturbereinigungsverfahren . . . . . . . . . . . . 207 bb) Produktionstheoretische Konjunkturbereinigungsverfahren . . 209 cc) Bestimmung der konjunkturellen Situation für die Schuldenbremse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Inhaltsverzeichnis11 c) Übereinstimmung mit dem europäischen Konjunkturbereinigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 d) Prüfung und Fortentwicklung unter Berücksichtigung des Standes der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 3. Vereinbarkeit der Verordnungsermächtigung mit Art. 80 Abs. 1 GG . 217 III. Kontrollkonto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 1. Funktionsweise und einfachgesetzliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . 224 a) Buchungen auf dem Kontrollkonto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 b) Korrekturmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2. Nachtragshaushalt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 IV. Ausnahmeregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 V. Stabilitätsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 1. Ausgestaltung durch das Stabilitätsratsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 a) Aufgaben, Zusammensetzung und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 230 b) Schwächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 c) Prüfen der Konsolidierungsverpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2. Der Stabilitätsrat als Nachfolger des Finanzplanungsrates . . . . . . . . 235 3. Die erweiterten Funktionen des Stabilitätsrates seit dem Fiskalpakt . 236 a) Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 b) Korrekturmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 VI. Die Verschuldungsgrenze des Fiskalpaktes im deutschen Recht (§ 51 Abs. 2 HGrG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 B. Ausgestaltung der Konjunkturkomponente durch Rechtsverordnung . . . . . . 243 I. Die Ermittlung der Konjunkturkomponente  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 1. Berechnung von Produktionslücke und Budgetsensitivität . . . . . . . . 243 a) Produktionslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 b) Budgetsensitivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 2. Buchung auf dem Kontrollkonto nach Haushaltsabschluss . . . . . . . . 248 II. Rechtspolitische Analyse der Ausgestaltung: Gefahren für eine wirk­ same Begrenzung der Staatsverschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 1. Unsicherheiten der Konjunkturbereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 2. Auswirkungen von Fehlschätzungen am Beispiel des Sprungschanzeneffekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 3. Vorausschätzungen der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 4. Bereinigung um finanzielle Transaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Ergebnis  A. Zusammenfassung in Thesen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 I. Erster Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 1. Kreditfinanzierung des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 2. Bisherige grundgesetzliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 3. Exkurs: Die Schweizer Schuldenbremse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

12 Inhaltsverzeichnis II. Zweiter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 1. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 2. Begleitendes Europäisches Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 III. Dritter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 1. Die Neuregelung des Staatsschuldenrechts im Überblick . . . . . . . . . 264 2. Insbesondere: Die neue Schuldenregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 3. Die Schuldenregel des Grundgesetzes im europäischen Rechtsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 IV. Vierter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 1. Ausgestaltung durch Bundesgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 2. Ausgestaltung der konjunkturellen Komponente durch Rechtsverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 B. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Urteile und Gerichtsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Legislative Dokumente (insbesondere Drucksachen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Abkürzungsverzeichnis a. A.

anderer Ansicht

Abb. 

Abbildung

Abl.

Amtsblatt

Abs. 

Absatz

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

a. F.

alte Fassung

AH-GF

Allgemeine Hinweise zum Gruppierungsplan und zum Funktionenplan

AÖR

Archiv des öffentlichen Rechts

Art 115 V

Verordnung über das Verfahren zur Bestimmung der Konjunkturkomponente nach § 5 des Artikel 115-Gesetzes

Aufl.

Auflage

BA

Bundesagentur für Arbeit

BayVBl.

Bayerische Verwaltungsblätter

BbankG

Gesetz über die Deutsche Bundesbank

Bd. 

Band

BeckOK

Beck’scher Online-Kommentar

BGBl. 

Bundesgesetzblatt

BHO Bundeshaushaltsordnung BIP

Bruttoinlandsprodukt

BK-GG

Bonner Kommentar zum Grundgesetz

BMF

Bundesministerium der Finanzen

BR

Bundesrat

BRH

Bundesrechnungshof

bspw.

beispielsweise

BStatG

Gesetz über die Statistik für Bundeszwecke

BT

Bundestag

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

bzw.

beziehungsweise

ca.

circa

CDU

Christlich Demokratische Union Deutschlands

COM

Commission

14 Abkürzungsverzeichnis CSU

Christlich Soziale Union Deutschlands

ders.

derselbe

dgl.

dergleichen

d. h.

das heißt

DM

Deutsche Mark

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung

Dr.

Doktor

Drs.

Drucksache

DuR

Demokratie und Recht

DVBl.

Deutsche Verwaltungsblätter

ECOFIN

Rat Wirtschaft und Finanzen

EFSF

Europäische Finanzstabilisierungsfazilität

EFSM

Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus

EFV

Eidgenössische Finanzverwaltung

EG

Europäische Gemeinschaft

EGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

Einf.

Einführung

EMU

European Monetary Union

EPC

Economic Policy Committee

ESM

Europäischer Stabilitätsmechanismus

ESVG

Europäisches System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen

et al.

et alii

EU

Europäische Union

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EUR Euro EUV

Vertrag über die Europäische Union

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

EZB

Europäische Zentralbank

f.

folgende [Seite]

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

ff.

folgende [Seiten]

FHG

Finanzhaushaltsgesetz 

FiFo

Finanzwissenschaftliches Forschungsinstitut der Universität Köln

FIFO

First in, First out

Fn. 

Fußnote

FS

Festschrift

FSKP Fiskalpakt

Abkürzungsverzeichnis15 G 115

Gesetz zur Ausführung von Artikel 115 Grundgesetz (Artikel 115-Gesetz)

GDP

Gross Domestic Product

GG

Grundgesetz

ggf.

gegebenenfalls

GKV

Gesetzliche Krankenversicherung

GNP

Gross National Product

GVBl.

Gesetz- und Verordnungsblatt

GVOBl. M-V

Gesetz- und Verordnungsblatt Mecklenburg-Vorpommern

HGrG

Haushaltsgrundsätzegesetz

h. M.

herrschende Meinung

HmbGVBl.

Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt

HP-Filter

Hodrick-Prescott-Filter

Hrsg.

Herausgeber

Hs.

Halbsatz

HStR

Handbuch des Staatsrechts

i. d. F.

in der Fassung

i. e. S. 

im engeren Sinne

i. H. v.

in Höhe von

IMF

International Monetary Fund

IMK

Institut für Makroökonomie

ISAF

International Security Assistance Force

i.s.d.

im Sinne des

i. V. m.

in Verbindung mit

IW

Institut der deutschen Wirtschaft Köln

IWF

Internationaler Währungsfond

IWH

Institut für Wirtschaftsforschung Halle

i. w. S. 

im weiteren Sinne

JZ Juristenzeitung KritV

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

KOM / Kom

Kommission

KonsHilfG Konsolidierungshilfengesetz LHO

Landeshaushaltsordnung

lit. 

Buchstabe

MdB

Mitglied des Bundestages

MHP-Filter

Modifizierter Hodrick-Prescott-Filter

Mrd.

Milliarden

16 Abkürzungsverzeichnis MTO m. w. N. NATO NBER NdsVBl. n. F. NJW No. / no. Nr.  NRW / NW NVwZ NWVerfGH NZZ OECD

Medium Term Objectives mit weiteren Nachweisen North Atlantic Treaty Organization National Bureau of Economic Research Niedersächsische Verwaltungsblätter neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Number Nummer Nordrhein-Westfalen Neue Zeitung für Verwaltungsrecht Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen Neue Züricher Zeitung Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ÖPP Öffentlich-Private Partnerschaft Prof. Professor PV / CONS Provisional Version / Council (vorläufige Pressemitteilung des Rates) RiLi Richtlinie Rn.  Randnummer S.  Seite SächsGVBl. Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Slg. Sammlung sog. sogenannt SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands Spiegelstr. Spiegelstrich StabG Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft StabiRatG Stabilitätsratsgesetz StabRatÄndG Stabilitätsratsänderungsgesetz StBerG Steuerberatungsgesetz St.Rspr. Ständige Rechtsprechung StWG Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft Tab. Tabelle TFP Totale Faktorproduktivität TOP Tagesordnungspunkt u. a. unter anderem

Abkürzungsverzeichnis17 UAbs.  UN U.S. / US u. U. v. VAR VerfGH VerwArchiv vgl. VGR Vorb. VSKS VVDStRL WKM2 WRV z. B. ZEW ZG ZParl ZRP

Unterabsatz United Nations United States unter Umständen von / vom Vector Auto-Regression Verfassungsgerichtshof Verwaltungsarchiv vergleiche Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Vorbemerkung Vertrag über die Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wechselkurs Mechanismus 2 Weimarer Reichsverfassung zum Beispiel Zentrum für Europäische Währungsforschung Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Rechtspolitik

Einleitung A. Thematische Einführung Die Europäische Währungsunion steckt in ihrer schwersten Krise. Am Beispiel Griechenlands offenbaren sich Tragödie und Tragweite eines überschuldeten Staates, der seine Kredite nicht bedienen kann. Wirtschaft, Staat und Gesellschaft der hellenischen Republik sehen weiterhin unsicheren Zeiten und großen Herausforderungen entgegen. Und auch zahlreiche andere europäische Staaten drückt die Last überhöhter Staatsschulden. Sie gefährdet nicht nur kurzfristig die finanzpolitische Stabilität, sondern führt insbesondere langfristig zu einem Verlust an staatlicher Handlungsfähigkeit, zu Wachstumseinbußen und zu Belastungen nachfolgender Generationen. Die aktuelle Staatsschuldenkrise in Europa und ihre negativen Auswirkungen verdeutlichen mehr denn je den Wert gesunder öffentlicher Finanzen. Eine Reihe fiskal- und wirtschaftspolitischer Maßnahmen sind geeignet, um dieses Ziel zu erreichen. Ein ganz zentrales Element ist jedoch ein Rechtsrahmen, der die staatliche Kreditaufnahme nachhaltig begrenzt. Hieran mangelte es auch in der Bundesrepublik Deutschland. Die Schwäche des alten Staatsschuldenrechts war in zunehmendem Maße kaum noch zu ignorieren. Der Schuldenberg wuchs seit der Finanzverfassungsreform von 1969 immens an. Pendelte der gesamtstaatliche Schuldenstand bis 1969 noch um einen Wert von 20 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP),1 stieg er bis 2009 auf über 72,4 % des BIP an.2 Zwar fällt in diese Zeit die historisch 1  Siehe Beck/Prinz, Staatsverschuldung: Ursachen, Folgen, Auswege, 2013, S. 44 (Abb. 2). 2  Siehe Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, Reihe 5, 2015, Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts, 2016, S. 186. Die Schuldenstandsquote ist nach den Vorgaben des Maastricht-Vertrages (ESVG 2010) berechnet. In absoluten Zahlen ausgedrückt sind die Staatsschulden von knapp 63 Mrd. EUR (1.029 EUR pro Kopf) Ende 1969 auf rund 1.700 Mrd. EUR (20.698 EUR pro Kopf) Ende 2009 gestiegen. Siehe Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, Reihe 5, 2015, Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts, 2016, S. 14. Da die Zahlen zur Staatsverschuldung in der Regel schwer „greifbar“ sind, hat der CSU-Politiker Franz-Josef Strauß in einer Bundestagsrede vom 21.9.1978 den geplanten Schuldenzuwachs des Jahres 1979 humoristisch veranschaulicht: Würde man 35,5 Mrd. DM in 1.000 DM-Scheinen stapeln, ergebe sich ein Berg von 3.550 Metern. Dieser Berg würde die Zugspitze nochmals erheblich übertreffen, nämlich um das Vierfache des Kölner Doms. Das reine Papiergewicht würde

20 Einleitung

einmalige Herausforderung der Deutschen Einheit,3 aber unabhängig davon nahm die Staatsverschuldung stetig zu, auch in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs. Die negative Entwicklung der Staatsverschuldung und die damit verbundenen Belastungen werden insbesondere durch die Zins-SteuerQuote deutlich. Sie zeigt an, wie stark die ordentlichen Steuereinnahmen des Staates durch die Zinsbelastung gebunden sind und nicht zur Erfüllung der eigentlichen Staatsaufgaben zur Verfügung stehen.4 Betrug die ZinsSteuer-Quote für den Bund im Jahr 1969 gerade einmal 2,7 %,5 so schnellte sie bis zum Jahr 2009 auf 16,2 % hoch.6 Auch die weiteren Indikatoren zur Staatsverschuldung belegen die mangelhafte Begrenzungswirkung des alten Staatsschuldenrechts.7 Aus diesem Grund hat die Bundesrepublik Deutschland 2009 die Schuldenbremse eingeführt und ihr Staatsschuldenrecht grundlegend novelliert.8 sich auf ca. 2.800 Tonnen belaufen, umgerechnet 186 Eisenbahnwaggons à 15 Tonnen. Siehe Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.), Audio, http://www.kas.de/wf/doc/kas_ 15635-1442-1-30.mp3?150416091551 (abgerufen am 8.4.2017). 3  Die Belastungen der Deutschen Einheit führten zu einem sprunghaften Anstieg der Staatsverschuldung um rund 20 % des BIP innerhalb weniger Jahre (1990 bis 1998). Die Ölpreiskrisen der 1970er veranlassten den Staat ebenfalls zur erhöhten Kreditaufnahme. Siehe Beck/Prinz, Staatsverschuldung: Ursachen, Folgen, Auswege, 2013, S.  45 f. 4  Die Zins-Steuer-Quote beschreibt den Anteil der Zinsausgaben an den Einnahmen aus Steuern und steuerähnlichen Abgaben, siehe Dietz, Indikatoren zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit öffentlicher Haushalte, in: Wirtschaft und Statistik 10/2008, S. 862 (864). Das Bundesverfassungsgericht räumt in seinem Urteil aus dem Jahr 1992 zum Finanzausgleichsgesetz insbesondere der Zins-Steuer-Quote wesentliche Bedeutung bei der Beurteilung der haushaltswirtschaftlichen Handlungsfähigkeit ein, siehe BVerfGE 86, 148 (258 ff. und 262 f.) (Finanzausgleich II). 5  Eigene Berechnung auf der Grundlage von Bundesministerium der Finanzen, Statistiken und Dokumentationen, Monatsbericht Dezember 2008, S. 104 (Tab. 6). 6  Siehe Bundesministerium der Finanzen, Haushaltsüberwachung von Bund und Ländern, Monatsbericht Dezember 2010, S. 48 (51), (Tab. 2). Die Zinsausgaben bildeten mit rund 38 Mrd. EUR den größten Einzelposten bei den konsumtiven Ausgaben des Bundes im Haushaltsjahr 2009. Siehe Bundesministerium der Finanzen, Haushaltsabschluss 2009, Monatsbericht März 2010, S. 46 (58). 7  Die Entwicklung der Kreditfinanzierungsquote (Anteil der Ausgaben des Bundes, der durch Nettokreditaufnahme finanziert wird) und der Zins-Ausgaben-Quote (Anteil der Ausgaben des Bundes, der allein für Zinszahlungen aufgewendet werden muss) ist äußerst negativ: Die Kreditfinanzierungsquote stieg von 1,4 % im Jahr 1969 auf 11,1 % im Jahr 2009. Die Zins-Ausgaben-Quote stieg im selben Zeitraum ebenfalls massiv an, von 2,7 % auf 13,0 %, siehe Simmert/Wagner, Staatsverschuldung kontrovers, 1981, S. 485 und 491; Bundesministerium der Finanzen, Haushaltsüberwachung von Bund und Ländern, Monatsbericht Dezember 2010, S. 50 (Tab. 1) und S. 83 (Tab. 6). 8  Die nachfolgende Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise hat die öffentliche Aufmerksamkeit für die Staatsschulden erheblich verstärkt, sie war aber nicht



A. Thematische Einführung 21

Die Neufassung (Art. 109, 115 GG) wurde im Rahmen der Föderalismuskommission II erarbeitet und etabliert für den Bund und die Länder eine Schuldenregel, die sowohl ein „konjunkturelles Atmen“ der Haushalte ermöglichen als auch die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen sichern soll. Neben einer Ausnahmeregel für außergewöhnliche Notsituationen richtet die Neuregelung zudem einen Präventionsmechanismus (Stabilitätsrat) ein, der eine finanzielle Schieflage von Bund oder Ländern rechtzeitig erkennen und abwenden soll (Art. 109a GG). Seit der jüngsten Reform hat sich die Situation der Staatverschuldung nochmals erheblich verschlechtert. Auf dem Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 schrumpfte das BIP um rund 5,5 %.9 Eine so deut­ liche Rezession ist in der Geschichte der Bunderepublik einzigartig. Ihre unmittelbaren Auswirkungen und die Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise ließen den gesamtstaatlichen Schuldenberg im Jahre 2010 auf 81 % des BIP ansteigen.10 Die darauffolgende wirtschaftliche Erholung ermöglichte jedoch 2015 einen Rückgang der Schuldenstandsquote auf 71,2 % des BIP.11 Im Haushaltsjahr 2014 gelang es sogar erstmals seit 1969, den Bundeshaushalt ohne Nettokrediteinnahmen auszugleichen.12 Wie die Schuldenbremse wirkt und ob sie zu einem nachhaltigen Abbau des Schuldenstandes führt, wird sich allerdings erst in zehn bis fünfzehn Jahren zeigen. Für den Bund gilt sie seit 2016 ohne Einschränkungen und für die Länder ab 2020. Ihre Bewährungsprobe wird sie voraussichtlich während der nächsten konjunkturellen Ab- und Aufschwungphase haben, nämlich dann, wenn sie den Haushaltgesetzgeber bei der Kreditaufnahme tatsächlich bremst und von ihm fiskalische Disziplin verlangt. Mit der Schuldenbremse nahm die Bundesrepublik eine Vorreiterrolle bei den nachfolgenden europäischen Reformen zur staatlichen Kreditaufnahme ausschlaggebend für die Reform des deutschen Staatsschuldenrechts. Denn der Entwurf für eine neue Schuldenregel wurde vom Bundesfinanzministerium bereits im Februar 2008 in die Beratung der Föderalismuskommission II eingebracht, also vor dem Ausbruch der Krise, siehe Kom-Drs. 096. Die vorbereitenden Arbeiten gehen bereits auf den Sommer 2005 zurück. Siehe Dönnebrink et al., Das Schuldenregime für den Bund, in: Kastrop/Meister-Scheufelen/Sudhof (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 22 (43). 9  Siehe Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Bruttoinlandsprodukt ab 1970, 2015, S. 6. 10  Siehe Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, Reihe 5, 2015, Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts, 2016, S. 185. Der Schuldenstand ist nach den Vorgaben des Maastricht-Vertrages (ESVG 2010) berechnet. 11  Siehe Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, Reihe 5, 2015, Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts, 2016, S. 185. 12  Siehe Bundesministerium der Finanzen, Haushaltsabschluss 2014, Monatsbericht Januar 2015, S. 6 (8).

22 Einleitung

ein. Die seit 2010 anhaltende Staatsschuldenkrise löste eine beispiellose Krisenintervention aus. Der sprunghafte Anstieg der Staatsschulden, bedingt durch die Finanz- und Wirtschaftkrise, bedrohte die finanzpolitische Stabilität einiger Mitgliedstaaten der Europäischen Union derart, dass die Politik bis dato unvorstellbare Maßnahmen ergriff. Sie spannte vorübergehende Rettungsschirme (EFSF, EFSM) auf und etablierte einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus (ESM). Zudem novellierte sie mit den Reformen der sogenannten Six-Packs (2011) und Two-Packs (2013) die unionsrechtlichen Vorgaben zur Kreditaufnahme der öffentlichen Hand. Sie sollen den Stabilitäts- und Wachstumspaktes kräftigen, indem nationale Haushaltspolitik stärker überwacht und Sanktionen frühzeitiger verhängt werden können. Der intergouvernementale Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalpakt) wurde ebenfalls vor dem Hintergrund der Krise geschlossen. Er ergänzt das bestehende europäi­ sche Regelungsregime und verpflichtet die Vertragsparteien zur Umsetzung weiterer Vorgaben in ihr jeweiliges nationales Recht. An der Reformbedürftigkeit des Stabilitäts- und Wachstumspaktes bestand allerdings schon vor Ausbruch der Krise kein Zweifel. Ebenso wenig wie die frühere Verfassungslage in Deutschland konnte das Unionsrecht die Staatsverschuldung in zahlreichen anderen Mitgliedstaaten der EU eindämmen. Der durchschnittliche Schuldenstand der Mitgliedstaaten im Euroraum beispielsweise schwankte bis 2008 um 70 % des BIP und lag damit deutlich über dem Maastricht-Schwellenwert von 60 %.13 Krisenbedingt sprang er 2009 auf knapp 80 % und liegt mittlerweile (Stand 2015) bei über 90 %.14 Ob die jüngsten Reformen nachhaltig wirken und die Verschuldung zurückführen, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Viel wird voraussicht13  Siehe Eurostat, Online-Datenbank, Schuldenstand des Staates und damit zusammenhängende Daten, http://ec.europa.eu/eurostat/web/government-finance-statis tics/data/database (abgerufen am 8.4.2017) sowie Bundeszentrale für politische Bildung, Zahlen und Fakten, 2013, http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fak ten/europa/70570/oeffentlicher-schuldenstand (abgerufen am 8.4.2017). Die jüngsten Mitglieder des Euroraumes, Lettland (seit 2014) und Litauen (seit 2015), sind hier und nachfolgend nicht berücksichtigt. 14  Siehe Eurostat, Online-Datenbank, Schuldenstand des Staates und damit zusammenhängende Daten, http://ec.europa.eu/eurostat/web/government-finance-statis tics/data/database (abgerufen am 8.4.2017). Der durchschnittliche Schuldenstand in den Mitgliedstaaten der EU schwankte bis 2008 zwischen 60 % und 68 %, siehe Bundeszentrale für politische Bildung, Zahlen und Fakten, 2013, http://www.bpb.de/ nachschlagen/zahlen-und-fakten/europa/70570/oeffentlicher-schuldenstand (abgerufen am 8.4.2017). 2015 lag er bei rund 85 % und damit nur leicht besser als im Euro­ raum, siehe Eurostat, Online-Datenbank, Schuldenstand des Staates und damit zusammenhängende Daten, http://ec.europa.eu/eurostat/web/government-finance-statis tics/data/database (abgerufen am 8.4.2017).



B. Forschungsinteresse und Vorgehensweise23

lich davon abhängen, ob Rat und Kommission die Vorgaben strikt anwenden.15 Die asymmetrische Struktur der Wirtschafts- und Währungsunion, also ein Währungsraum mit Zentralbank bei gleichzeitig nationalen Finanzund Wirtschaftspolitiken, benötigt einen funktionierenden Begrenzungsmechanismus, um möglichem Trittbrettfahrer-Verhalten16 einzelner Mitgliedstaaten zu begegnen.

B. Forschungsinteresse und Vorgehensweise Das staatsschuldenrechtliche Regime für die Bundesrepublik Deutschland ist äußerst komplex und vielschichtig. Es beruht auf unterschiedlichen Rechtsquellen, vom europäischen Völker- und Unionsrecht über die Vorgaben des Grundgesetzes bis hin zur Ausgestaltung durch Bundesgesetz und Rechtsverordnung. Die einzelnen Normen sind teilweise diffizil und sehr detailliert. Sie beziehen sich zudem häufig auf voraussetzungsreiche Fachbegriffe und Definitionen, die originär aus den Wirtschaftswissenschaften stammen.17 Die konkreten Vorgaben zur staatlichen Kreditaufnahme lassen sich in diesem normativen Gesamtzusammenhang nur schwer identifizieren. Vor diesem Hintergrund möchte die Arbeit ein besseres Verständnis des staatsschuldenrechtlichen Regimes ermöglichen. Sie bietet einen umfassenden Überblick über die staatsschuldenrechtlichen Vorgaben, analysiert die Normen und ihre Funktionsweise im Detail und ordnet sie sodann in den rechtlichen Gesamtzusammenhang ein. Auf diese Weise verdeutlicht die Arbeit nicht nur die konkreten Vorgaben der Kreditaufnahme, sondern erörtert und beantwortet zudem zentrale Rechtsfragen des weitreichend novellierten Staatsschuldenrechts. Sie ermöglicht damit auch eine Beurteilung, ob die Normen geeignet sind, die Kreditaufnahme des Staates nachhaltig zu begrenzen. Die Struktur der Arbeit orientiert sich vorwiegend an den unterschied­ lichen Normebenen des Staatsschuldenrechts und ist in vier Teile gegliedert. Ausgangspunkt sind die Grundlagen der Staatsverschuldung und die bishe15  Die Mitteilung der Kommission vom 13. Januar 2015 für eine „Optimale Nutzung der im Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehenen Flexibilität“ lässt eine strikte Anwendung durch die Kommission allerdings fraglich erscheinen. Siehe Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank, COM(2015) 12 final. 16  Zur Problematik des „free-riding“ hoch verschuldeter Mitgliedstaaten siehe Häde, Art. 104 EGV, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2007, Rn. 2. 17  Aufgrund ihrer normtextlichen Verwendung sind sie jedoch auch zu Rechtsbegriffen geworden und damit der juristischen Auslegung zugänglich.

24 Einleitung

rige Ausgetaltung im Grundgesetz. Der zweite Teil behandelt das europäische Recht, gefolgt von der verfassungsrechtlichen Ebene im dritten Teil. Der vierte Teil untersucht die Ausgestaltung durch Bundesgesetz sowie die konkretisierende Rechtsverordnung. Im ersten Teil werden zunächst die Grundlagen der Kreditfinanzierung des Staates beleuchtet: die Regelfinanzierung des Staates durch Steuern und die Subsidiarität der Krediteinnahmen, Gründe für und gegen staatliche Kreditaufnahmen sowie die Vereinbarkeit der Staatsverschuldung mit dem Demokratieprinzip. Im Anschluss wird die bisherige Entwicklung des deutschen Staatsschuldenrechts untersucht.18 Um die neue Schuldenbremse umfassend einordnen und bewerten zu können, muss insbesondere die Ausgangslage, also die vorangegangene grundgesetzliche Ausgestaltung und ihre Schwächen, berücksichtigt werden. Interessante Einblicke bietet darüber hinaus die seit 2003 geltende Schweizer Schuldenbremse, da sie in ihren Grundzügen große Ähnlichkeit mit der deutschen Regelung aufweist. Zu Vergleichszwecken beleuchtet ein kurzer Exkurs ihre Funktionsweise und bewertet ihre Ausgestaltung. Der Schwerpunkt des zweiten Teils liegt auf den europäischen Vorgaben, da sie das deutsche Staatsschuldenrecht überwölben. Das Unionsrecht schafft ein komplexes und vielschichtiges Maßstabssystem, das insbesondere durch den präventiven und korrektiven Arm des Stabilitäts- und Wachstumspaktes geprägt ist. Aufbauend auf einer systematischen Darstellung werden die Funktionsfähigkeit und Direktionskraft der unionsrechtlichen Vorgaben analysiert, einschließlich der Reformen des sogenannten Six-Pack (2011) und Two-Pack (2013). Auch die völkerrechtlichen Vereinbarungen des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalpakt) und des Euro-Plus-Paktes, die den unionsrechtlichen Rahmen ergänzen, werden untersucht und bewertet. Der dritte Teil der Arbeit widmet sich der verfassungsrechtlichen Ebene, also der Schuldenbremse im Grundgesetz. In einem ersten Schritt werden der entstehungsgeschichtliche Hintergrund erläutert sowie die Kontinuitäten und Brüche zum alten Recht aufgezeigt. Sodann werden die einzelnen Elemente der Verfassungsänderung untersucht: der Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleichs, strukturelle und konjunkturelle Komponente der Schuldenbremse, Kontrollkonto, Ausnahmeregelung und Präventionsmechanismus 18  Die europarechtlichen Bestimmungen zum Staatsschuldenrecht sind erst seit der gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion relevant. Da die wesentlichen Bestimmungen des Primärrechts seit dem Vertrag von Maastricht weitestgehend unverändert geblieben sind, kann hier auf eine Analyse der bisherigen Entwicklung des Europarechts verzichtet werden.



B. Forschungsinteresse und Vorgehensweise25

(Stabilitätsrat). Aufgrund der Einbettung in den europäischen Rechtsrahmen vergleicht die Arbeit zudem die Maßstäbe des Unionsrechts und des Fiskalpaktes mit denen der deutschen Schuldenbremse. Im vierten Teil beleuchtet die Arbeit die Ausgestaltung durch Bundesgesetz und Rechtsverordnung. Zu Beginn wird, neben der Strukturkomponente, auch die Bereinigung um finanzielle Transaktionen untersucht. Bei der Analyse der Konjunkturkomponente stehen Grund und Maß im Vordergrund, insbesondere die Bestimmung von Produktionslücke und Budgetsensitivität. Das ausgestaltende Gesetz konkretisiert zudem das Kontrollkonto. Demnach sind seine Funktionsweise sowie der Umgang mit Nachtragshaushalten näher zu beleuchten. Anschließend analysiert die Arbeit die Ausgestaltung des Stabilitätsrates, insbesondere seine Aufgaben und Zusammensetzung, seine Verfahren sowie die erweiterten Funktionen seit dem Fiskalpakt. Die Rechtsverordnung legt das Verfahren zur Bestimmung der Konjunkturkomponente fest. Die Arbeit untersucht das gewählte Verfahren und legt in einer rechtspolitischen Analyse die Gefahren für eine wirksame Begrenzung des Staatsschuldenrechts offen.

Erster Teil

Finanzierung des Staates durch Verschuldung: Grundlagen und vorgefundener Rechtsrahmen A. Kreditfinanzierung des Staates I. Steuerstaatlichkeit als Prinzip staatlicher Regelfinanzierung: Ausgleich der Einnahmen und Ausgaben und Subsidiarität der Krediteinnahmen Ob und in welcher Höhe der Staat Krediteinahmen benötigt, richtet sich nach dem Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben des Staates. Für die Einnahmen legt die Finanzverfassung des Grundgesetzes in Art. 105 bis 108 GG die Steuer als „typische Einnahmequelle“1 des Staates fest. Das in Rechtsprechung2 und Literatur3 entwickelte Steuerstaatsprinzip fordert grundsätzlich und in erster Linie die Finanzierung des Staates durch Steuern.4 Eine andere Grundstruktur der staatlichen Finanzierung widerspräche nach Paul Kirchhof der besonderen staatsrechtlichen Qualität des Gemeinwesens der Bundesrepublik Deutschland: „Ein Gemeinwesen zeigt sein alltägliches Gesicht in der Art seiner Finanzierung. Der erobernde Staat deckt seinen Bedarf aus der Kriegsbeute, der unterwerfende Staat aus der Dienstverpflichtung seiner Untertanen, der erwerbswirtschaftlich tätige Staat aus dem Erfolg seines Produzierens und Handels, der kreditfinanzierte Staat aus einer 1  Isensee,

Steuerstaat als Staatsform, in: FS für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 409. 78, 249 (266  f.) (Fehlbelegungsabgabe); BVerfGE 93, 319 (342) (Wasserpfennig); BVerfGE 82, 159 (178) (Absatzfonds); BVerfGE 91, 186 (201 f.) (Kohlepfennig); BVerfGE 67, 256 (278) (Investitionshilfegesetz). 3  Zum Prinzip des Steuerstaates: vgl. Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: FS für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 409 ff.; Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, 1995, § 27, Rn. 51 ff. und 69 ff.; ders., Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  IV, 1999, § 87, Rn. 43  ff; Vogel/Waldhoff, Vorb. zu Art. 104a–115 GG, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 1998, Rn. 327 ff.; Seiler, Steuerstaat und Binnenmarkt, in: FS für Isensee, 2007, S. 875. 4  Siehe Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 3. Für die Analyse des Staatsschuldenrechts sind weitere abgabenrechtliche Folgerungen des Steuerstaatsprinzips nicht relevant. 2  BVerfGE



A. Kreditfinanzierung des Staates27 Vorbelastung der Zukunft und der inflationär geldschöpfende Staat aus einem Betrug der Geldeigentümer. Der Staat des Grundgesetzes verzichtet weitgehend auf diese Finanzierungsarten und entscheidet sich für eine Steuerfinanzierung öffentlicher Aufgaben, d. h. eine staatliche Teilhabe am Erfolg privaten Wirtschaftens.“5

Die in Art. 105 und 106 GG festgeschriebenen Steuergesetzgebungs- und Ertragskompetenzen des Bundes und der Länder sichern die Voraussetzungen zur Erlangung staatlicher Finanzkraft, die staatliche Aufgabenwahrnehmung überhaupt erst ermöglicht. Die gleichheitsrechtlich und republikanisch gebotene Unabhängigkeit staatlichen Handelns,6 die Orientierung am Gemeinlastprinzip, also an der Allgemeinheit des Staatsvolkes,7 und die voraussetzungslose Erhebung sind Wesensmerkmale der Steuerfinanzierung. Die sich unter anderem aus der Sozialpflichtigkeit des Eigentums8 rechtfertigende staatliche Teilhabe am Erfolg privaten Wirtschaftens9 orientiert sich am Prinzip individueller finanzieller Leistungsfähigkeit. Die Summe der sich daraus ergebenden Einnahmen spiegelt wiederum die gegenwärtige – durch die Bürger erwirtschaftete – finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates wider. Die Steuern bilden den überwiegenden Teil der „laufenden Einnahmen“,10 die zur Deckung der für notwendig erachteten Ausgaben des Staates zur Verfügung stehen. Ein darüber hinausgehendes Ausgabegebaren übersteigt demnach die zur Verfügung stehende staatliche Leistungsfähigkeit.11 5  Kirchhof, Staatliche Einnahmen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  IV, 1999, § 88, Rn. 1. 6  Gemeint ist eine Unabhängigkeit sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite des Staatshaushaltes. Auf der Einnahmenseite bedeutet es die Unabhängigkeit des Staates gegenüber dem steuerzahlenden Bürger, seinem Financier. Auf der Ausgabenseite bedeuet es die durch die Steuer ermöglichte und gebotene freie Fiskalität, also die grundsätzliche Verfügbarkeit des Eingenommenen. Siehe hierzu: Kirchhof, Staatliche Einnahmen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  IV, 1999, § 88, Rn. 46 und Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 6. 7  Kirchhof, Staatliche Einnahmen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  IV, 1999, § 88, Rn. 28; BVerfGE 93, 121 (134 f.) (Einheitswerte II). 8  Kirchhof, Staatliche Einnahmen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  IV, 1999, § 88, Rn. 47 f.; BVerfGE 93, 121 (Einheitswerte II). 9  Als weiterer Rechtfertigungsgrund gilt die Bereitstellung marktnotwendiger, umfassender Infrastruktur, die privatwirtschaftlich erfolgreiches Handeln erst ermöglicht. Zur staatstheoretischen und verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Steuern siehe Vogel/Waldhoff, Vorb. zu Art. 104a–115 GG, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 1998, Rn. 397 ff.; ferner Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR I, 1995, § 27, Rn. 64. 10  Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 1 GG bezieht sich bei der Festsetzung der Umsatzsteuerverteilung auf Bund und Länder auf die Größe der „laufenden Einnahmen“. 11  Kirchhof, Staatliche Einnahmen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  IV, 1999, § 88, Rn. 13, stellt hierzu fest: „Der Maßstab des finanzwirtschaftlich Möglichen wird so zu einem Maßstab des finanzrechtlich Zulässigen.“

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

Der demokratisch verfasste Rechtsstaat verlangt, dass die hoheitlich erhobenen und vereinnahmten Steuereinnahmen in der Budgethoheit des Parlamentes ihre demokratische Kontrolle finden.12 Das Verfassungsrecht sichert dieses traditionsreiche „Königsrecht“ des Parlamentes in Art. 110 GG ab.13 Die dort verankerten Haushaltsgrundsätze üben mittelbaren Einfluss auf die Staatsfinanzierung durch Kredit aus. Denn der Verfassungsgrundsatz der Vollständigkeit des Haushalts14 verlangt, dass alle zu erwartenden Einnahmen im Haushalt erfasst werden. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass das Parlament seine demokratische und rechtsstaatliche Kontrollfunktion erfüllen kann. Ebenso bedarf das staatliche „Ausgeben“ der parlamentarischen Ermächtigung, wie es regelmäßig durch den Beschluss des jährlichen Haushaltsgesetzes erfolgt. Das Haushaltsbewilligungsrecht enthält jedoch auch die Pflicht, Haushaltseinnahmen und -ausgaben in Deckung zu bringen (Art. 110 Abs. 1 S. 2 GG). Auch wenn hierunter zunächst nur ein formaler Haushaltsausgleich zu verstehen ist,15 also ein rechnerischer Ausgleich, der auch Einnahmen aus Krediten und anderen Quellen umfassen kann,16 sprechen Teile des rechtswissenschaftlichen Schrifttums dem Grundsatz auch eine materielle Bedeutung zu,17 die den Gesetzgeber verpflichtet „mittelfristig die Ausgaben aus regelmäßigen Einnahmen [zu] 12  Siehe BVerfGE 55, 274 (303) (Berufsausbildungsabgabe); BVerfGE 82, 159 (179) (Absatzfonds). 13  Siehe hierzu Kisker, Staatshaushalt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  IV, 1999, § 89, Rn. 5 ff. 14  § 8 HGrG. Siehe BVerfGE 55, 274 (303) (Berufsausbildungsabgabe); BVerfGE 82, 159 (179) (Absatzfonds), vgl. hierzu Heintzen, Staatshaushalt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 120, Rn. 25 ff.; Kisker, Staatshaushalt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  IV, 1999, § 89, Rn. 62 ff. und Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S. 494 ff. 15  Hillgruber, Art. 110 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2010, Rn. 53 und 55 sowie Wendt/Elicker, Staatskredit und Rücklagen, VerwArchiv 2004, S. 471 (485 ff.) erkennen in Art. 110 Abs. 1 S. 2 GG ausschließlich ein formales, rechnerisches Ausgleichsgebot ohne jegliche materielle Bedeutung. Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S.  494 ff. 16  Vgl. bspw. Hillgruber, Art. 110 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GGKommentar, 2010, Rn. 15 f. sowie Siekmann, Art. 110 GG, in: Sachs (Hrsg.), GGKommentar, 2007, Rn. 65 f. 17  So beispielsweise Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 88. Siehe auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 50 III 10b, S. 1249 ff. A. A. und h. M. siehe u. a. Kirchhof, Ferdinand, Der notwendige Ausstieg aus der Staatsverschuldung, DVBl. 2002, S. 1569 (1574); Kisker, Staatshaushalt, HStR IV, 1999, § 89, Rn. 75; und Isensee, Budgetrecht des Parlamentes zwischen Schein und Sein, JZ 2005, S. 971 (974). Siehe hierzu auch Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 139 f. m. w. N.



A. Kreditfinanzierung des Staates29

finanzieren“.18 Ein solcher materieller Gehalt könnte jedenfalls nur auf längere Zeiträume angelegt sein und sich auf diese beschränken, da die Verfassung ausdrücklich die Möglichkeit der Kreditaufnahme vorsieht und damit die Verpflichtung jedes einzelnen Jahreshaushalts auf einen materiellen Ausgleich ausschließt.19 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Steuer dem rechtsstaatlichen Gebot der Vorhersehbarkeit der Steuerlast für den Steuerpflichtigen und dem Rückwirkungsverbot genügen muss und die Steuereinnahmen nicht durch kurzfristige Anpassung des Steuerrechts erhöht werden können, um so einen jährlichen materiellen Haushaltsausgleich zu erreichen.20 Es sind jedoch gerade die Schwankungen des Steuer­ aufkommens, die dem Haushaltsgesetzgeber das Vorsichtsprinzip bei der Veranschlagung der Ausgaben nahelegen, um so ein stetes Haushaltsdefizit zu verhindern. Diese Maßstäbe festigen gemeinsam mit dem neuen Art. 109 Abs. 3 S. 1 GG, der grundsätzlich einen Haushaltsausgleich ohne Krediteinnahmen festschreibt,21 die ordentliche und fortlaufende Finanzierung des Staates und damit letztlich auch das Steuerstaatsprinzip. Der Staatskredit nimmt mit seiner Rück- und Zinszahlungspflicht zukünftige Steuereinnahmen vorweg und täuscht so eine vermeintlich höhere ordentliche Finanzkraft des Staates vor. Der Gesetzgeber, der die Regierung zur Aufnahme von Krediten ermächtigt, verschiebt seine Finanzierungsverantwortung in die Zukunft22 und umgeht so eine Finanzierung der für notwendig erachteten Ausgaben durch ordentliche Steuereinnahmen. Den Einnahmen aus Krediten kann demnach

18  Kirchhof, Staatliche Einnahmen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  IV, 1999, § 88, Rn. 13; siehe Püttner, Staatsverschuldung als Rechtsproblem, 1980, S. 10. So auch Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 89, der davon spricht, dass „der Haushalt grundsätzlich durch endgültige reguläre Einnahmen, also insbesondere Steuereinnahmen, zum Ausgleich gebracht werden muss.“ Das Bundesverfassungsgericht sieht in der Bestimmung zum Haushaltsausgleich „eine ernste Mahnung zur Sparsamkeit an alle am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe.“ BVerfGE 1, 144 (161) (Geschäftsordnungsautonomie). A. A. Wendt/Elicker, Staatskredit und Rücklagen, VerwArchiv 2004, S. 471 (485 ff.). 19  Nach Mußgnug, Gesetzesgestaltung und Gesetzesanwendung im Leistungsrecht, VVDStRL 47, 1989, S. 113 (130 f.) schließt Art. 110 Abs. 1 S. 2 GG i. V. m. Art. 115 GG a. F. ein „langfristiges Wirtschaften auf Pump“ aus. A.  A. Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 312 ff., der im Haushaltausgleichsgebot keine zusätz­ liche staatsschuldenrechtliche Direktivkraft sieht. 20  Siehe Wendt/Elicker, Staatskredit und Rücklagen, VerwArchiv 2004, S. 471 (485 f.). 21  Siehe hierzu unten 3. Teil Abschnitt B.I. 22  Siehe Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 87.

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

nur ein subsidiärer Finanzierungszweck zukommen.23 Die historische Analyse unterstützt diese Argumentation. Bis zur Finanzverfassungsreform des Jahres 1969 erlaubte die ursprüngliche Fassung des Art. 115 GG a. F. – wie bereits schon Art. 87 der Weimarer Reichsverfassung24 – die Kreditaufnahme ausschließlich zur Deckung eines außerordentlichen Bedarfs25 und in der Regel für werbende Zwecke. Die Subsidiarität der Kreditaufnahme gegenüber Steuereinnahmen als Regelfinanzierung wird auch in der einfachgesetzlichen Regelung zu Kreditermächtigungen durch Haushaltsgesetze angedeutet. § 13 Abs. 1 Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG) und § 18 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung (BHO) berechtigen das Bundesministerium der Finanzen nach dem jeweiligen Haushaltsgesetz, Kredite nur für die Deckung von Ausgaben oder zur kurzfristigen Überbrückung von Kassenanspannungen (sog. Kassenverstärkungskredite)26 aufzunehmen. Für die Haushaltspraxis bedeutet dies ein Verbot der Bildung kreditfinanzierter Rücklagen, sogenannter Vorratskredite.27 Das Grundgesetz versteht die Staatsfinanzierung durch Kredit mithin als Ausnahme.

23  Zur Subsidiarität der Kreditaufnahme vgl. Jahndorf, Grundlagen der Staats­ finanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 87 ff. Für Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 138 ff. (143), ist die Steuerstaatlichkeit nur ein Teil eines verfassungsrechtlichen Prinzips der Nachrangigkeit der Kreditaufnahme. 24  Vgl. hierzu Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 113 ff. Einen kurzen Überblick über verfassungsrechtliche Vorkehrungen zur Begrenzung der Staatsverschuldung, beginnend mit der preußischen Staatsschuldenverordnung von 1820, bietet Mußgnug, Staatsüberschuldung und Verfassungsrecht, in: Kantzenbach (Hrsg.), Staatsüberschuldung, 1996, S. 59 (66 ff.). 25  Die Aufnahme von Anleihen war bereits in der Verfassung des Norddeutschen Bundes ausschließlich im Falle eines „außerordentlichen Bedürfnisses“ erlaubt (Art. 73 der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867). 26  Siehe Wendt, Art. 115 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2010, Rn. 23. 27  Siehe Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 89 f. Vgl. auch Wolffgang, Die Fortgeltung von Kreditermächtigungen nach § 13 Abs. 2 Satz 1 HGrG – Grundlage für eine „Schattenkreditwirtschaft“?, DVBl. 1984, S. 1049 (1054). Der VerfGH NRW sieht darüber hinaus im Wirtschaftlichkeitsgebot, als finanzrechtliche Ausprägung des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips, im Regelfall eine Schranke für die Bildung kreditfinanzierter Rücklagen. Vgl. Urteil des VerfGH NRW vom 2.9.2003, in: DÖV 2004, S. 121 ff.; A. A. Wendt/Elicker, Staatskredit und Rücklagen, VerwArchiv 2004, S. 471 ff.



A. Kreditfinanzierung des Staates31

II. Staatseinnahmen durch Kredit Die Rechtsregeln zur Eröffnung, wie zur Begrenzung staatlicher Kreditaufnahmen, knüpfen an wirtschaftswissenschaftliche Theorien und Argumentationen an. Verfassung und Gesetz haben die Erkenntnisse einer ökonomischen Debatte in das Recht überführt und auf diese Weise normative und ökonomische Maßstäbe aneinander gebunden. Demgemäß muss eine rechtswissenschaftliche Analyse auch ökonomische Argumentationen berücksichtigen, ohne dadurch ihr eigenes Normgefüge in Frage zu stellen.28 1. Legitimation staatlicher Kreditaufnahme Im Wesentlichen werden regelmäßig drei Begründungsansätze für die Rechtfertigung der staatlichen Kreditaufnahme angeführt: konjunkturpolitische Erwägungen, die Finanzierung rentabler Investitionen (Deckungslehre) sowie eine gerechte Lastenverteilung zwischen den Generationen („goldene Regel“).29 Der zentrale wirtschaftswissenschaftliche Legitimationsstrang einer staatlichen Kreditaufnahme wurzelt in der passiven und aktiven Konjunktur­ politik,30 die auf Schwankungen der wirtschaftlichen Entwicklung reagiert. Der ökonomischen Theorie John Maynard Keynes folgend kompensiert die öffentliche Hand in Phasen des wirtschaftlichen Abschwungs zum einen steuerliche Mindereinnahmen, die sich aus der schwächeren wirtschaft­ lichen Aktivität ergeben, und ermöglicht zum anderen sozialpolitisch bedingte Mehrausgaben – die beispielsweise auf Grund erhöhter Arbeitslosigkeit notwendig werden – durch zusätzliche Kreditaufnahme. Prozyklisch wirkende Steuererhöhungen oder Ausgabensenkungen können auf diese 28  Zum Verhältnis von Wirtschaftswissenschaften und Rechtswissenschaften vgl. grundlegend den Sammelband von Engel/Morlok (Hrsg.), Öffentliches Recht als Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998 sowie Lepsius, Die Ökonomik als neue Referenzwissenschaft für die Staatsrechtslehre?, in: Die Verwaltung 1999, S. 429. Für eine Bewertung der Funktionen und Gefahren von Staatsverschuldung aus ökonomischer Sicht vgl. Duwendag, Staatsverschuldung – Notwendigkeit und Gefahren, 1983, S. 58 ff., 99 ff., 145 ff. sowie Klepzig, Die „Schuldenbremse“ im Grundgesetz – Ein Erfolgsmodell?, 2015, S. 43 ff. 29  Für eine kritische Analyse der Argumente für öffentliche Verschuldung vgl. auch Zimmermann, Ökonomische Rechtfertigung einer kontinuierlichen Staatsverschuldung?, in: Henke (Hrsg.), Zur Zukunft der Staatsfinanzierung, 1999, S. 157 (160 ff.). 30  Vgl. hierzu v. Arnim/Weinberg, Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S. 25 ff. und S. 27 ff., die zwischen konjunkturell und strukturell bedingter Staatsverschuldung unterscheiden.

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

Weise vermieden werden. Sie würden den privaten Konsum voraussichtlich zusätzlich belasten und bestehende Nachfragelücken verstärken. Neben dieser passiven Konjunkturpolitik fordert das aktive „deficit spending“ diskretionäre Konjunkturprogramme31 und Steuersenkungen zum Ausgleich der nachfragebedingten Schwäche der Wirtschaft. Der Kreditaufnahme steht in der Theorie eine kontraktive Konjunkturpolitik32 in Zeiten starken wirtschaftlichen Wachstums gegenüber. Diese soll durch Steuererhöhungen oder Senkung der Staatsausgaben die Wirtschaft vor Überhitzung und Inflationsdruck bewahren und die Rückzahlung der zuvor aufgenommen Schulden ermöglichen. Die konjunkturpolitisch motivierte Kreditaufnahme findet ihre normative Grundlage im grundgesetzlichen Gebot, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zu berücksichtigen (Art. 109 Abs. 2 GG).33 Während diese Konzep­ tion, also die schuldenfinanzierte aktive und passive Konjunktursteuerung der Wirtschaft, auf die Rezeption der Theorien Keynes in den 1960er Jahren zurückgeht,34 reichen die Begründungsmuster der klassischen Deckungslehre und das Gebot der intertemporalen Lastenverteilung weiter zurück. Die klassische Deckungslehre stellt die Art der Ausgaben, für die der Staat Kredit aufnimmt, in den Vordergrund. Die in der deutschen Finanzwissenschaft von Adolph Wagner geprägte Position rechtfertigt Kredite zur Deckung rentabler Investitionsausgaben.35 Produktive Investitionen des Staates, die sich langfristig selber tragen und so zur Wohlstandsmehrung beitragen, können über Kredite finanziert werden. Ausschlaggebend ist, ob die jeweilige Investition als rentabel bewertet wird. Zudem erlaubt der klassische Deckungsgrundsatz Verschuldung zur Überbrückung von kurzfristig und unvorhersehbar auftretenden Bedürfnissen36 oder bei außerordentlichen Umständen, wie beispielsweise Kriegen. Mit den Tatbestandsmerkmalen der 31  Vgl. Schneider, „Beschäftigungs- und Konjunkturpolitik“, in: Albers (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, 1977, S. 478 (494 ff.). Eine aktive Konjunkturpolitik („active deficit spending“) möchte mittels diskretionärer (d. h. flexibler und einzelfallbezogener) Fiskalpolitik die Wirtschaft „ankurbeln“. Zum Begriff „diskretionär“ siehe unten 2. Teil Abschnitt A.III.2., Fn. 109. 32  Eine kontraktive Konjunkturpolitik soll die wirtschaftliche Aktivität „bremsen“ und die fiskalischen Belastungen der expansiven Konjunkturpolitik ausgleichen. 33  Die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse (Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG) spiegelt das Konzept der passiven Konjunktursteuerung wider. Siehe hierzu unten 3. Teil Abschnitt B.III. sowie 4. Teil Abschnitte A.II. und B. 34  Siehe hierzu Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 50. 35  Vgl. Wagner, Lehr- und Handbuch der politischen Ökonomie, 4. Hauptabteilung: Finanzwissenschaft, 1883, S. 135 ff. 36  Vgl. Wirtschaftslexikon, Woll (Hrsg.), „Deckungsgrundsätze“, 1993, S. 116.



A. Kreditfinanzierung des Staates33

Rentabilität und des außerordentlichen Bedarfs wurde die Deckungsregel erstmalig in Art. 87 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) verfassungsrechtlich positiviert: „[…] im Wege des Kredits [dürfen] Geldmittel nur bei außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken beschafft werden.“ Für den Regelfall schloss Art. 87 WRV damit die kreditäre Finanzierung laufender oder regelmäßig wiederkehrender Ausgaben aus.37 In der politischen Praxis wurden jedoch beide Tatbestandsvo­ raussetzungen zunehmend verwässert.38 Eng mit dem klassischen Paradigma verbunden ist der Begründungsansatz der Lastenverteilung zwischen den Generationen. Das weithin bekannte Zitat von Lorenz von Stein „[…] ein Staat ohne Staatsverschuldung thut entweder zu wenig für seine Zukunft, oder er fordert zu viel von seiner Gegenwart.“39 bringt den Kern der intertemporalen Lastenverteilungstheorie auf den Punkt. Die Finanzierung öffentlicher Investitionen, von denen ein zukunftswirksamer Nutzen ausgeht (beispielsweise eine Schule, ein Autobahnausbau oder eine Brücke), soll über den Zeitverlauf hinweg so angepasst werden, dass sich eine möglichst gerechte Verteilung von Lasten und Nutzen auf die Generationen ergibt.40 Dieser Lastenverteilungsgrundsatz der Finanzwissenschaft des 19. Jahrhunderts, der von Richard Abel Musgrave in den 1950er Jahren als „pay as you use“-Prinzip aktualisiert wurde,41 fordert eine (teilweise) Lastenverschiebung in die Zukunft,42 da eine sofortige, vollständige Steuerfinanzierung die Gegenwart unverhältnismäßig hoch beHöfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 119. hierzu Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 120. Ausführlich zu der historischen Entwicklung der deutschen Staatsverschuldung im 20. Jahrhundert Hansmann, Wege in den Schuldenstaat, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 2007, S. 425 (427 ff.). 39  von Stein, Lehrbuch der Finanzwissenschaft, 3. Aufl. 1875, S. 716. Diese Aussage findet sich in mehreren Auflagen des Lehrbuchs der Finanzwissenschaft (erstmals in der 2. Aufl. von 1871) und wird in der Literatur regelmäßig zitiert. Vgl. u. a. Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 96 und Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 51, S. 1265, m. w. N. zu Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts, die sich ebenfalls mit der intertemporalen Lastenverteilung befassen. Siehe auch Grossekettler, Lorenz von Stein und die moderne Staatswirtschaftslehre, 1998, S. 18 ff. 40  Generation ist in diesem Zusammenhang nicht im wörtlichen Sinne zu verstehen, denn die Investitionszeiträume können variieren und stimmen nicht zwingend mit denen einer Generation überein. 41  Siehe Musgrave, Finanztheorie, 1969, S. 523. 42  Zur wirtschaftswissenschaftlichen Debatte um die tatsächliche Möglichkeit der Lastenverschiebung in die Zukunft vgl. v. Arnim/Weinberg, Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S. 37 ff. Vgl. auch die Kritik von Pünder, Gerechte Lastenverteilung zwischen den Generationen, DVBl. 2008, S. 946 (947). 37  Siehe 38  Siehe

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

lasten würde. Die Lastenverschiebung erfolgt zum einen durch die offensichtliche Zins- und Tilgungslast und zum anderen durch Wachstumseinbußen, da die staatliche Kreditaufnahme private Investitionen verdrängt und damit das gesamtwirtschaftliche Produktionspotential vermindert.43 Der intertemporale Lastenverteilungsgrundsatz, der auch als „goldene Regel“ bezeichnet wird, findet sich in den großen Finanzverfassungsrechtsreformen von 1967 und 1969 wieder. Das damals etablierte und bis zum 31. Juli 2009 gültige Kredit-Investitionsjunktim des Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG a. F. ermöglichte eine Finanzierung der Investitionen durch Kredite, also zu Lasten zukünftiger Steuerzahler.44 Zudem ergänzte die Neufassung des Art. 109 Abs. 2 GG a. F. i. V. m. Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG a. F. den ursprünglich bloß objektbezogenen Lastenverteilungsgrundsatz um einen konjunkturellen Situationsbezug. De lege lata wird der zukunftswirksame Nutzen von Investitionen und damit indirekt auch die ökonomische Lastenverteilungstheorie heute noch beim europäischen Defizitverfahren des Stabilitäts- und Wachstumspaktes gemäß Art. 126 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 AUEV berücksichtigt, jedoch nur als ein Maßstab unter vielen.45 2. Ratio einer Begrenzung der Kreditaufnahme Die im Steuerstaatsprinzip begründete Subsidiarität der Kreditaufnahme46 betont die Begrenzungsfunktion des Staatsschuldenrechts.47 Der Staat muss die Grenzen seiner eigenen finanziellen Leistungsfähigkeit beachten und darf sich nicht zu Lasten der Zukunft übermäßig verschulden. Die Staatsschulden und die damit verbundenen Zinszahlungen48 belasten die öffentlichen Haushalte und wirken sich nachteilig auf das langfristige Wachstum der Wirtschaft aus. Auf diese Weise werden in zunehmendem Maße Handlungsspielräume und Leistungsfähigkeit des Staates in der Zukunft verengt und die ökonomischen Lebensbedingungen nachfolgender Generationen 43  Siehe v. Arnim/Weinberg, Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S. 42 f. Zum Effekt des „crowding-out“ siehe sogleich Abschnitt A.II.2. 44  Art. 115 Abs. 2 S. 1 GG a. F. bot lediglich die Möglichkeit zur Verschuldung, ohne den Haushaltsgesetzgeber hierzu zu verpflichten. 45  Siehe unten 2. Teil Abschnitt A.II.2. 46  Siehe oben Abschnitt A.I. 47  Siehe BVerfGE, 79, 311 (352) (Staatsverschuldung I). Siehe auch Kirchhof, Die Staatsverschuldung als Ausnahmeinstrument, in: FS für Mußgnug, 2005, S. 131 (134 f.) („Diese Grundsatzentscheidung für den Steuerstaat begrenzt auch die staatliche Kreditaufnahme.“) sowie Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 102. 48  Zur aktuellen Zinsbelastung in Deutschland vgl. oben Einleitung Abschnitt A.



A. Kreditfinanzierung des Staates35

maßgeblich belastet. Mehrere Gründe sprechen daher für eine restriktive Begrenzung staatlicher Verschuldung. Ein zentrales Argument gegen staatliche Kreditaufnahme sind mögliche Wachstumseinbußen, die sich aus der Verschuldung des Staates ergeben können. Dieser Aspekt wird in den Wirtschaftswissenschaften insbesondere von dem „aggregate investment approach“ hervorgehoben49 und mit der Verdrängung privater Investitionen („crowding out“) begründet. Durch die verstärkte Kreditaufnahme des Staates steigen die Zinsen und damit verteuern sich die Kredite auf dem Anleihemarkt. Dies wiederum lässt private Investitionen unattraktiver werden. Auf diese Weise wird der künftige private Kapitalstock und damit tendenziell auch das Produktionspotential reduziert.50 Neuere empirische wirtschaftswissenschaftliche Untersuchungen lassen auf einen signifikant negativen Einfluss hoher Schuldenstandsquoten auf das Wirtschaftswachstum schließen.51 Vor dem Hintergrund der bevorstehenden demographischen Entwicklung, welche eine steigende finanzielle Belastung der jüngeren und kommenden Geburtenjahrgänge erwarten lässt,52 verstößt eine ausufernde Staatsverschuldung zudem gegen das Gebot der Generationengerechtigkeit.53 Denn neben die explizite tritt die sogenannte implizite Staatsschuld, welche Pensionsansprüche und Belastungen durch die Sozialversicherungssysteme auf Grund einer veränderten Altersstruktur berücksichtigt.54 Angesichts der zu erwar49  Siehe Gandenberger, Intertemporale Verteilungswirkung der Staatsverschuldung, in: Haller/Albers (Hrsg.), Probleme der Staatsverschuldung, 1972, S. 189 (202 ff.) m. w. N. 50  Zum Effekt des „crowding out“ siehe u. a. Pohl, Staatsverschuldung und die crowding-out-Debatte, in: Simmert/Wagner (Hrsg.), Staatsverschuldung kontrovers, 1981, S. 366 ff. und Dhom, Staatsverschuldung mit Verdrängungs-Effekt?, in: Simmert/Wagner (Hrsg.), Staatsverschuldung kontrovers, 1981, S. 381 ff. Kritisch hierzu Heun, Staatsverschuldung und Grundgesetz, Die Verwaltung 1985, S. 10 ff.; Siekmann, Art. 115, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 2007, Rn. 4. Zudem wird angeführt, dass eine steigende Staatsverschuldung das private Konsumverhalten negativ beeinflusst, indem zukünftigen Steuerbelastungen, die sich aus dem Schuldendienst des Staates ergeben, bereits heute durch zurückhaltenden Konsum Rechnung getragen wird. Siehe Ehrlicher, Grenzen der öffentlichen Verschuldung, in: Simmert/ Wagner (Hrsg.), Staatsverschuldung kontrovers, 1981, S. 103 (116). 51  Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2010/11, S. 187 m. w. N. 52  Siehe Birg, Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, 2001. 53  Isensee, Schuldenbarriere für Legislative und Exekutive, in: FS Friauf, 1996, S. 705 (706), argumentiert, die Verantwortung für kommende Generationen sei nicht nur eine ökologische Zielsetzung des Grundgesetzes, sondern insbesondere auch eine finanzielle, die in Art. 115 GG konkretisiert wird. 54  Vgl. hierzu Brümmerhoff, Finanzwissenschaft, 2007, S. 622 f.

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

tenden hohen Zukunftslasten erscheint die Rechtfertigung der „gerechten“ Lastenverschiebung zukunftswirksamer Investitionen zumindest fragwürdig. Verstärkt wird die Belastung durch eine steigende Pro-Kopf-Verschuldung als Folge des Bevölkerungsrückganges.55 Geht man darüber hinaus von einem nahezu kontinuierlichen Strom zukunftswirksamer staatlicher Investi­ tionen aus, ergibt sich nicht zwingend die Notwendigkeit einer Lastenverschiebung durch Kreditfinanzierung.56 In einer Art Generationenvertrag würde jede Generation durch ihre aktuellen Steuereinnahmen Zukunftsinvestitionen tätigen. Gleichzeitig würde sie Investitionen genießen, die von der vorherigen Generation erbracht wurden, ohne hierfür die Lasten tragen zu müssen. Schließlich droht die Verschuldung des Staates zu Lasten der Zukunft die finanzpolitische Willensbildung der Bürger zu verzerren. Das als „Staats­ schul­den­illusion“57 bezeichnete Phänomen beschreibt die Problematik, dass der Genuss schuldenfinanzierter (sozial-)politischer „Wohltaten“ unmittelbar spürbar ist, während die tatsächliche Finanzierungslast auf unbestimmte Zeit in die Zukunft verschoben wird. Die Möglichkeit der Revolvierung von bestehenden Krediten erlaubt, dass der bestehende Schuldensockel an nachfolgende Generationen weitergereicht wird.58 Mangels hinreichend bestimmter sachlicher und zeitlicher Abstimmung von Zukunftslast und -nutzen ist eine gerechte intertemporale Lastenverschiebung nicht zu erreichen.59 Der bei ordentlicher (Steuer-)Finanzierung entstehende Rechtfertigungsdruck entfällt durch den bequemen Weg einer zeitlich unbestimmten Verschuldung. Die Gefahr, dass Politiker ihr Handeln auf relativ kurzfristige Legislaturpe55  Siehe Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, S. 721 (722). Vgl. hierzu auch die empirische Analyse von Seitz et al., Die Auswirkungen der demographischen Veränderungen auf die Budgetstrukturen der öffentlichen Haushalte, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2007, S. 147, die insbesondere Ausgabensteigerungen für den Bund aufzeigt (S. 162). 56  Siehe v. Arnim/Weinberg, Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S. 47 ff. 57  Als Synonym wird auch der Begriff der „Fiskalillusion“ verwendet. Siehe Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  V, 2007, § 123, Rn. 1 und grundlegend Funke, Die Verschuldungsordnung, 1995, S. 221 ff. Kirchhof, Grenzen der Staatsverschuldung in einem demokratischen Rechtsstaat, in: v. Arnim/ Littmann (Hrsg.), Finanzpolitik im Umbruch: Zur Konsolidierung öffentlicher Haushalte, 1984, S. 271 (273), spricht davon, dass Staatsverschuldung „als Zaubermittel“ erscheint. 58  Zur revolvierenden Staatsschuld und der Gefahr, die von ihr ausgeht, sobald die Märkte die Kreditwürdigkeit des Staates anzweifeln vgl. von Lewinski, Nationale und internationale Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  X, 2012, § 217, Rn. 28. 59  Siehe Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 160 f.



A. Kreditfinanzierung des Staates37

rioden und dazwischen liegende (Landtags-)Wahlen verengen, kann diese Problematik verstärken. 3. Staatsverschuldung und Demokratieprinzip Mit der Einschränkung der finanziellen Handlungsfähigkeit nachfolgender Generationen, die sich nicht in den politischen Willensbildungsprozess zum Zeitpunkt der Schuldenaufnahme einbringen können, stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Demokratieprinzips für die Staatsverschuldung.60 Zu prüfen ist die von Günter Püttner vertretene These, dass dem Demokratieprinzip und seinem Grundsatz der „Macht auf Zeit“ eine materielle Begrenzungsfunktion zu entnehmen sei.61 Übermäßige Staatsverschuldung bedeutet nach dieser Auffassung eine unzulässige „Vorwegdisposition“ über die Einnahmen künftiger Gesetzgeber und die Einengung ihrer Handlungsspielräume.62 Dieser Position hält das Bundesverfassungsgericht jedoch zu Recht entgegen, dass es ebenso Aufgabe des demokratischen Gesetzgebers ist, „über die Amtsperioden hinauszusehen, Vorsorge für die dauerhafte Befriedigung von Gemeinschaftsinteressen zu treffen und damit auch die Entscheidungsgrundlagen nachfolgender Amtsträger inhaltlich vorauszube­ stim­men.“63 Das Grundgesetz konkretisiert in Art. 109 und Art. 115 GG insoweit das Demokratieprinzip und begrenzt zum Schutz künftiger Generationen die Verschuldungspolitik.64 Der Zeitraum, in dem der Gesetzgeber legitimiert ist, Richtungsvorgaben zu entwickeln und Entscheidungen zu treffen, ist auf eine Legislaturperiode begrenzt, nicht jedoch der Zeitraum, für den diese Entscheidungen potentiell wirken können. Immerhin lässt sich dem Demokratieprinzip die offenere Maßgabe entnehmen, die realen Gestaltungsmöglichkeiten zukünftiger Generationen nicht über Gebühr einzuen60  Siehe hierzu Kratzmann, Verschuldungsverbot und Grundrechtsinterpretation, 2000, S.  114 ff. m. w. N. sowie Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, S. 80 ff. und Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 152 ff. 61  Siehe Püttner, Staatsverschuldung als Rechtsproblem, 1980, S. 10 ff. 62  Siehe Püttner, Staatsverschuldung als Rechtsproblem, 1980, S. 11. 63  BVerfGE 79, 311 (343) (Staatsverschuldung I). 64  BVerfGE 79, 311 (343) (Staatsverschuldung I); Im Ergebnis ebenso unzutreffend ist die These von von Arnim, Grundprobleme der Staatsverschuldung, BayVBl. 1981, S. 514, dass dem Demokratieprinzip eine materiell-inhaltliche Begrenzungsfunktion entnommen werden kann und Staatsverschuldung mit dem Demokratieprinzip unvereinbar ist. Sie überhöht den konkreten Gehalt, der dem demokratischen Prinzip zu entnehmen ist, und macht sich darüber hinaus ungesicherte Kenntnisse polit-ökonomischer Theorien zu eigen. Siehe hierzu auch Thye, Die neue „Schuldenbremse“ im Grundgesetz, 2010, S. 52 f. Vgl. auch Henseler, Verfassungsrechtliche Aspekte zukunftsbelastender Parlamentsentscheidungen, AÖR (108) 1983, S. 489 (497 ff.).

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

gen. In diesem Sinne mag man ein „staatsschuldenrechtliches Erdrosselungsverbot zu Lasten zukünftiger Haushaltsgesetzgeber“65 vertreten.

B. Bisherige grundgesetzliche Ausgestaltung Die Finanzverfassung – und damit auch das Staatsschuldenrecht – waren von 1969 bis 2009 wesentlich durch das Konzept des gesamtwirtschaft­ lichen Gleichgewichts geprägt.66 Hiernach richtete sich der ordentliche Verschuldungsrahmen, dessen Obergrenze durch die Summe der veranschlag­ ten Investitionen gebildet wurde.67 Auch bei der Ausnahmeregelung stand das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht im Mittelpunkt. Eine außerordentliche Kreditaufnahme war nur zur Abwehr einer Störung des Gleichgewichtes zulässig.68 Für Sondervermögen konnten gesetzliche Ausnahmen von den Vorgaben des Art. 115 Abs. 1 GG a. F. zugelassen werden.69 Ein Blick auf die Entwicklung der Staatsverschuldung in Deutschland zeigt,70 dass das alte Recht die Staatsverschuldung kaum begrenzen konnte. Die Ursachen hierfür lagen insbesondere in einer geringen Kontrolldichte, weiten Gestaltungsspielräumen und exekutiven Umgehungsstrategien.71

I. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als zentrale Determinante der Finanzverfassung von 1969–2009 In der Finanzverfassung72 des Grundgesetzes i. d. F. vom 15. Mai 1969 nahm das Konzept des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts eine zentrale Stellung ein. Die Verpflichtung der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern, dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht Rechnung zu tragen ­ 65  Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 109 ff. (116). So auch Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 155. 66  Siehe unten Abschnitt B.I. 67  Siehe unten Abschnitt B.II. 68  Siehe unten Abschnitt B.III. 69  Siehe unten Abschnitt B.IV. 70  Siehe oben Einleitung Abschnitt A. 71  Siehe unten Abschnitt B.V. 72  Unter der Finanzverfassung des Grundgesetzes werden hier die Art. 104a bis 115 GG verstanden. Darüber hinaus kann man die Finanzverfassung i. w. S., also den Abschnitt „X. Das Finanzwesen“, in das Haushaltsverfassungsrecht und das Finanzverfassungsrecht i. e. S.  unterteilen. Siehe Henneke, Öffentliches Finanzwesen, Finanzverfassung, 2000, S. 8 (Rn. 38 ff.).



B. Bisherige grundgesetzliche Ausgestaltung39

(Art. 109 Abs. 2 GG a. F.), prägte die Architektur der Finanzverfassung.73 Konkreter Ausdruck dieser allgemeinen Verpflichtung waren bis zur Grundgesetzänderung des Jahres 200974 insbesondere die grundgesetzliche Konjunkturausgleichsrücklage nach Art. 109 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 GG a. F., die Finanzhilfen des Bundes nach Art. 104b Abs. 1 Nr. 1 GG und die Ausnahmeregelung zur Kreditbeschaffung des Bundes nach Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG  a. F.75 Diese Bestimmungen wurden mit den Finanzreformen 1967 und 1969 in das Grundgesetz eingefügt.76 Deren Entstehungsgeschichte zeigt den Einfluss des damals vorherrschenden wirtschafts- und finanzpolitischen Verständnisses einer Globalsteuerung der Wirtschaft und einer aktiven konjunkturpolitischen Funktion des Staates.77 Dieses Verständnis hat sowohl die Beratungen der Kommission für die Finanzreform (sog. Troeger-Kommission)78 als auch die Reform der Finanzverfassung ganz wesentlich geprägt. Als besonders einflussreich stellten sich die Theorien von John Maynard Keynes heraus, welche dem Staat eine aktive Rolle bei der Planung und Steuerung der Gesamtwirtschaft einräumen, um so wirtschaftspolitisch angestrebte Ziele, wie beispielsweise Vollbeschäftigung, zu erreichen.79 Dem Zeitgeist der „Planungseuphorie“ entsprechend, sollte die Verantwortung des Gesamtstaates für ein volkswirt73  Auch im novellierten Staatsschuldenrecht muss gemäß Art. 109 Abs. 2 GG n. F. dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht Rechnung getragen werden, allerdings nur noch im Rahmen der unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 126 AEUV. Seine Bedeutung für das Staatsschuldenrecht insgesamt ist damit deutlich gesunken. Siehe hierzu unten 3. Teil Abschnitte A.II.1. und A.III.2. 74  Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 91c, 91d, 104b, 109, 109a, 115, 143d)“ vom 29.7.2009, BGBl. I 2009, S. 2248. Die Möglichkeiten für Finanzhilfen des Bundes (Art. 104b Abs. 1 Nr. 1 GG) bestehen fort. 75  Siehe unten Abschnitt B.III. 76  Fünfzehntes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 8.6.1967, BGBl. I 1967, S. 581 und Zwanzigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 12.5.1969, BGBl. I 1969, S. 357. 77  Die Entstehungsgeschichte der Art. 109 und 115 GG a.  F. reicht bis in die 1950er Jahre zurück. Bereits die Gutachten des wissenschaftlichen Beirates beim Bundesminister für Wirtschaft vom Oktober 1955 und Juni/Juli 1956 erörterten die Bedeutung einer antizyklisch steuernden Konjunkturpolitik. Sowohl diese Gutachten als auch der Finanzbericht des Bundesministers der Finanzen des Jahres 1961 leiteten den Kabinettsbeschluss der Bundesregierung vom 11. März 1964 zur Vorbereitung gesetzlicher Maßnahmen zur Beeinflussung der konjunkturellen Entwicklung ein. Siehe hierzu und zur Entstehungsgeschichte insgesamt Rodi, Art. 109 in: Kahl/ Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 19 und 13 ff. 78  Siehe Kommission für die Finanzreform (Troeger-Kommission), Gutachten über die Finanzreform der Bundesrepublik Deutschland, 1966. 79  Siehe Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes („General Theory“), 6. Aufl., 1983 (Erstauflage von 1936). Siehe oben Abschnitt A.II.1.

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

schaftliches Gleichgewicht mit den Mitteln der Globalsteuerung institutionalisiert werden. Die Rechtspflicht, dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht Rechnung zu tragen, kann als Staatszielbestimmung qualifiziert werden,80 welche den Gesamtstaat auf eine stabilitätswahrende und konjunkturausgleichende Wirtschaftspolitik verpflichtet. Neben die klassische Bedarfsdeckungsfunktion der öffentlichen Haushalte tritt eine Lenkungsfunktion, die aggregierte81 volkswirtschaftliche Größen durch fiskalische Maßnahmen so beeinflussen soll, dass im Idealfall ein (dynamischer) gesamtwirtschaftlicher Gleichgewichtszustand82 erreicht wird. Mit der verfassungsrechtlichen Verankerung des originär wirtschaftswissenschaftlichen Begriffs stellt sich die Frage nach seiner rechtswissenschaftlichen Bestimmung.83 Die Entstehungsgeschichte84 deutet auf einen inneren Zusammenhang mit dem in § 1 S. 2 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StWG)85 beschriebenen „magischen Viereck“,86 das die Stabilität des Preisniveaus, einen hohen Beschäftigungsstand, eine ausgeglichene außenwirtschaftliche Bilanz und ein angemessenes Wirtschaftswachstum beschreibt.87 Da diese Zielgrößen untereinander in einem Spannungsverhältnis stehen, kann nur eine „relativ80  Siehe Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 147; Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  VII, 1992, § 159, Rn. 16; Prokisch, Die Justiziabilität der Finanzverfassung, 1993, S.  136 f.; Hillgruber, Art. 109 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2010, Rn. 89 m. w. N. 81  Unter „aggregierten“ Größen versteht man in der Volkswirtschaftslehre die Zusammenfassung mehrerer Einzelgrößen zu gesamtwirtschaftlichen Einheiten, wie beispielsweise die gesamtwirtschaftliche Nachfrage aller Haushalte. Siehe hierzu Pokropp, „Aggregation“, in: Albers (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, 1977, S. 61 ff. 82  Zur näheren verfassungsrechtlichen Bestimmung des Begriffs siehe sogleich. 83  Für eine ausführliche Diskussion des Begriffs vgl. Rodi, Art. 109 in: Kahl/ Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 172 ff. sowie Prokisch, Die Justiziabilität der Finanzverfassung, 1993, S. 136 ff., der insbesondere auf das Problem wirtschaftswissenschaftlicher Begriffe in der Finanzverfassung eingeht (S. 147 ff.). 84  Siehe Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 13 ff. 85  BGBl. I 1967, S. 582. 86  Ausführlich zu magischen Vielecken Ott, Magische Vielecke, in: ders. (Hrsg.), Fragen der wirtschaftlichen Stabilisierung, 1967, S. 93  ff.; siehe auch Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 93 (Fn. 409). 87  Hierin wird eine die Verfassung konkretisierende Interpretation des einfachen Gesetzgebers gesehen. Siehe hierzu Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 216. Vogel/Waldhoff, Vorb. zu Art. 104a–115 GG, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 1998, Rn. 304 sehen hierin sogar eine „authentische Konkretisierung“.



B. Bisherige grundgesetzliche Ausgestaltung41

optimale Gleichgewichtslage der Teilziele“88 gemeint sein: „Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht unterliegt damit ständigen Schwankungen und erscheint demgemäß stets als prekär“89 und labil. Eine stabile gesamtwirtschaftliche Gleichgewichtslage kann also nur als theoretischer Bezugspunkt verstanden werden.90 Die Gleichgewichtslage wird im Grundgesetz nicht definiert. Die einfachgesetzliche Beschreibung des „magischen Vierecks“ in § 1 S. 2 StWG gestattet zwar aus Gründen der Normenhierarchie keine unmittelbaren Rückschlüsse auf das grundgesetzlich Gewollte, liefert aber doch eine angemessene Konkretisierung des auf Verfassungsebene nur abstrakt normierten Grundgedankens. Die Verfassung beschränkt an dieser Stelle ihre eigene Aussagekraft auf einen Kerngehalt und bleibt so offen für legislativ aufgegriffene Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften.91 Auch das Bundesverfassungsgericht bestätigt den „in die Zeit hinein offenen Vorbehalt für die Aufnahme neuer, gesicherter Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften als zuständiger Fachdisziplin“.92 Das traditionelle wirtschaftswissenschaftliche Verständnis des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes beinhaltet einen fiktiven Idealzustand, in dem sich auf den Geld-, Güter- und Arbeitsmärkten Angebot und Nachfrage sowie weitere ökonomische Determinanten, wie zum Beispiel die Außenhandelsüberschüsse und -defizite, die Waage halten.93 Das Verfassungsrecht weist den Haushaltswirtschaften der öffentlichen Hand dieses wirtschaftswissenschaftliche Modell als wesentliche Referenzgröße zu und setzt es als solches auch zumindest theoretisch voraus.94 88  BVerfGE

79, 311 (339) (Staatsverschuldung I). 79, 311 (339) (Staatsverschuldung I). 90  Siehe Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 223. 91  Der rechtliche Kerngehalt kann ohne jeglichen Bezug auf wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse nicht verstanden werden. So aber Vogel/Wiebel, Art. 109 GG, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 1971, Rn. 87 f. Wie hier: v. Arnim, Grundprobleme der Staatsverschuldung, BayVBl. 1981, S. 514 (S. 514 ff.); Heun, Art. 109 GG, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 2008, Rn. 22. Die vollständige Übernahme des außerjuristischen Begriffsverständnisses widerspricht nach Hollmann jedoch ebenfalls dem spezifisch rechtlichen Charakter der Norm. Dies gilt insbesondere für eine dynamische Inbezugnahme. Siehe Hollmann, Rechtsstaatliche Kontrolle der Globalsteuerung, 1980, S. 122 f. 92  BVerfGE 79, 311 (338) (Staatsverschuldung I). 93  Ausführlich zum Konzept des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Streit, Theorie der Wirtschaftspolitik, 2000, S. 159 ff. 94  Das Bundesverfassungsgericht formuliert hierzu: „Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ist mithin nicht nur eine Bezugsgröße, der Rechnung zu tragen ist, sondern Ziel und Zweck des Handelns.“, BVerfGE 79, 311 (335) (Staatsverschuldung I). 89  BVerfGE

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

Die Wirtschaftswissenschaften haben jedoch über diese allgemeinen Maßgaben hinaus keinen Konsens hinsichtlich der näheren Bestimmung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts erzielen können. Mehr noch, die vom Bundesverfassungsgericht vorausgesetzten „gesicherten Erkenntnisse“ sind von einer sozialwissenschaftlichen Disziplin, welche sich nicht vollständig von normativen Wertungen lösen kann, kaum zu erwarten. Denn die Volkswirtschaftslehre ist geprägt von einem breiten Theorienpluralismus, der von unterschiedlichen ökonomischen Schulen mit wechselnder Meinungsführerschaft bestimmt wird.95 Der Versuch, dem Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts mit wirtschaftswissenschaftlichen Argumenten und Plausibilitätserwägungen eine verfassungsrechtlich zwingend geforderte Wirtschafts- und Fiskalpolitik interpretativ entnehmen zu können, übersteigt die Möglichkeiten rechtswissenschaftlicher Exegese.96 Statt eine konkrete Haushaltswirtschaft vorzuschreiben, verlangt das Grundgesetz vielmehr, dem Gleichgewicht „Rechnung zu tragen“, und enthält somit vor allem ein verfahrensrechtliches ­Berücksichtigungsgebot und nur eine schwach ausgeprägte materielle Dimension.97 Normiert wird also das Ziel des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, der Weg dorthin bleibt dagegen offen.98 Dies gilt insbesondere in Anbetracht der vom verfassungsändernden Gesetzgeber bewusst gewählten finanz- und wirtschaftspolitischen Offenheit.99 Diese normierte Konzeption fordert daher vom Haushaltsgesetzgeber grundlegende Diagnose- und Prog95  Für eine ausführliche Darstellung der wichtigsten Ansätze siehe Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 191 ff. 96  Siehe Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 239. Friauf, Öffentlicher Haushalt und Wirtschaft, VVDStRL 27, 1969, S. 1 (37), spricht dem Begriff nur ein „Minimum an konkretisierbarem Rechtsgehalt“ zu. Maunz, Art. 109 (Erstbearbeitung), in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, 1979, Rn. 38 betont, dass sich die einzelnen Teilkomponenten rechtlich nicht genau fixieren lassen. Kube, Art. 109 GG, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, 2011, Rn. 109, stellt die „tatbestandliche Unbestimmtheit“ und „rechtsfolgenseitige Abwägungsoffenheit“ des Begriffs heraus. 97  Siehe Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 276. Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 205 betont den wirtschaftswissenschaftlichen Pluralismus und schließt daher ein „unverändertes Anknüpfen an die Wirtschaftstheorie Keynes, wie sie dem (Verfassungs-)Gesetzgeber der 60er Jahre vorschwebte […], heute aus mehreren Gründen aus“. Hierzu zählen eine durch die Globalisierung veränderte Problemlage, das Verschwimmen von Globalsteuerung und Strukturpolitik sowie ein Pluralismus der Wirtschaftswissenschaften, der nicht durch das Grundgesetz entschieden, sondern von diesem mit Offenheit aufgenommen wird. Als Rechtsfolge kommt daher dem einfachen Gesetzgeber die Pflicht zur Festlegung eines normativen Rahmens zu, siehe Rn. 207, 277 und 525. Dies mündet für Rodi in die Forderung nach einer Revision des StWG. 98  Siehe Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 2008, S. 53 m. w. N. 99  Siehe Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 239 ff.



B. Bisherige grundgesetzliche Ausgestaltung43

noseanalysen, die erhebliche wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse nicht außer Acht lassen dürfen.100

II. Die Regelbegrenzung der Staatsverschuldung 1. Der Wandel vom allgemeinen Deckungsgrundsatz zum Situationsbezug der Kreditaufnahme Durch die Verfassungsreform von 1969 wurde im Staatsschuldenrecht die bis dato geltende objektbezogene Deckungsregel („Ausgaben zu werbenden Zwecken“) weitestgehend durch eine situationsgebundene Kreditaufnahme abgelöst.101 Der klassische Objektbezug rekurrierte auf die Rentabilität beziehungsweise den außerordentlichen Bedarf eines einzelnen Objektes, erfüllte also eine Finanzierungsfunktion. Demgegenüber sollte die Neuregelung von 1969 eine gesamtwirtschaftliche Betrachtungsweise der Haushaltsund Finanzpolitik ermöglichen. Dieser Zielsetzung entsprechend orientierte sich die Regelbegrenzung am gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht des Art. 109 Abs. 2 GG  a. F.,102 während die Obergrenze dieses regulären Verschuldungsrahmens durch die Summe der Investitionsausgaben gebildet wurde.103 Der Bezug zur gesamtwirtschaftlichen Situation wurde darüber hinaus besonders deutlich in der vom verfassungsändernden Gesetzgeber als Ausnahmetatbestand vorgesehenen Überschreitung der Regelkreditgrenze bei Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG a. F.).104 2. Die Regelkreditgrenze In der Staatspraxis war die Obergrenze der Regelverschuldung, also die Summe der veranschlagten Investitionen (Art.  115 Abs.  1 S.  2 Hs.  1 GG a. F.), der vorwiegend beachtete Maßstab. Die Gesamtaussage der Regelverschuldungsgrenze ergab sich jedoch erst in Verbindung mit Art. 109 Abs. 2 GG a. F. Die Verpflichtung, dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht Rechnung zu tragen, galt grundsätzlich für die gesamte Haushaltswirt100  Diese Position vertritt auch das Bundesverfassungsgericht, siehe BVerfGE 79, 311 (336 f.) (Staatsverschuldung I). 101  Ausführlich zur Entwicklung der objektbezogenen Deckungsregel Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 111 ff. 102  Siehe hierzu sogleich Abschnitt B.II.2. 103  Diese Obergrenze der Regelverschuldung in Höhe der Investitionen ist dem Situationsansatz eigentlich wesensfremd. Siehe unten Abschnitt B.II.3. 104  Siehe unten Abschnitt B.III.

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

schaft, also auch für die öffentliche Kreditaufnahme.105 Art. 109 Abs. 2 GG a. F. und Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG a. F. standen damit in einem „normativen Ergänzungszusammenhang“.106 Von Art. 109 Abs. 2 GG a. F. sollte eine Regulierungsfunktion für die staatliche Kreditaufnahme ausgehen,107 insbesondere in der gesamtwirtschaftlichen Normallage.108 Welche konkreten – und damit auch handhabbaren – Maßstäbe daraus für die Kreditaufnahme abzuleiten waren, ist jedoch nicht eindeutig.109 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sollte Art. 109 Abs. 2 GG a. F. „u. a. verhindern, daß sich – jeweils unterhalb der Höchstgrenze des Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG – ein stetig wachsender Schuldensockel bildet, der schließlich die Fähigkeit des Staatshaushaltes, auf die Probleme der Gegenwart und der Zukunft zu reagieren, in Frage stellt.“110 Die Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern musste bei der jährlichen Kreditaufnahme also auch den Schuldenstand als subsidiären Maßstab beachten. Teile des Schrifttums entnahmen dem Art. 109 Abs. 2 GG a. F. darüber hinaus ein finanzwirtschaftliches Übermaßverbot.111 Das Bundesverfassungsgericht schloss sich dieser Konzeption jedoch nicht an. Die Kreditauf105  Siehe Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  V, 2007, § 123, Rn. 44. Zur Funktion des Art. 109 Abs. 2 GG a. F. für die Begrenzung der Kreditaufnahme siehe Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 105 ff. und 187 ff. Zur Bedeutung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts im Staatsschuldenrecht seit 2009 vgl. unten 3. Teil Abschnitt A.II.1. und A.III.2. 106  Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 153  ff. Zum Verhältnis von Art. 109 Abs. 2 GG a. F. und Art. 115 GG a. F. Vgl. die Darstellung des Meinungsstandes bei v. Arnim/Weinberg, Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S.  117 ff. Püttner, Staatsverschuldung als Rechtsproblem, 1980, S. 12 und 20 sieht hingegen Art. 115 GG a. F. als lex specialis, der Art. 109 Abs. 2 GG a. F. verdrängt. 107  Siehe BVerfGE 79, 311 (355 f.) (Staatsverschuldung I). 108  Vgl. Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 105. 109  Höfling, Ökonomische Theorie der Staatsverschuldung in rechtswissenschaftlicher Perspektive, in: Engel/Morlok (Hrsg.), Öffentliches Recht als Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998, S. 85 (94), spricht von „modelltheoretischer Maßstabsdominanz“ des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts für die Schuldenpolitik. Vgl. auch Wucherpfennig, Staatsverschuldung in Deutschland, 2007, S. 124 ff. 110  BVerfGE 79, 311 (355 f) (Staatsverschuldung I). 111  So Birk, Die finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben und Begrenzungen der Staatsverschuldung, DVBl. 1984, S. 745 (748) und Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  V, 2007 § 123, Rn. 45. A. A. Heun, Staatsverschuldung und Grundgesetz, Die Verwaltung 1985, S. 1, 20 ff. Ausführlich zur Frage des finanzwirtschaftlichen Übermaßverbotes des Art. 109 Abs. 2 GG a.  F. Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 288 ff.



B. Bisherige grundgesetzliche Ausgestaltung45

nahme war vielmehr „nach Maßgabe dessen eingeschränkt, was in Wahrung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geboten erscheint.“112 Bei positiver wirtschaftlicher Entwicklung musste die Neuverschuldung also deutlich unter der Investitionsgrenze verbleiben. Der antizyklische Ansatz des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts verlangte in der gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtslage und in Phasen des Aufschwungs sogar eine Zurückführung der Nettokreditaufnahme bis hin zur Tilgung bestehender Schulden.113 Dies galt insbesondere für die langfristige Perspektive dieses Ansatzes, nach der auch zukünftigen Haushaltsgesetzgebern ein ausreichender Handlungsspielraum erhalten werden musste.114 Das bedeutete zugleich ein Verbot einer konjunkturunabhängigen, beständigen Verschuldungspolitik,115 welches in der Perspektive eines Konjunkturzyklus von mehreren Jahren nahezu kongruent mit einer Verpflichtung auf ausgeglichene Haushalte ist.116 Damit verbunden galt auch, dass schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme117 und damit zusammenhängende außerordentliche Ausgaben zu gegebener Zeit zurückgeführt werden mussten. Sie durften sich nicht so stark auftürmen, dass die Haushaltspolitik zur Unbeweglichkeit gezwungen wäre und damit die Verpflichtungen aus Art. 109 Abs. 2 GG a. F. nicht mehr erfüllt werden konnten.118 Da die verschuldungsrelevanten Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts weder quantifizierbar noch eindeutig waren, war die tatsächliche Direktionskraft des Art. 109 Abs. 2 GG a. F. gegenüber den Regelungen des Art. 115 Abs. 1 GG a. F. stark eingeschränkt. Das Bundesverfassungsgericht stellte in diesem Zusammenhang fest, dass die Regulierungsfunktion des Art. 109 Abs. 2 GG a. F. „sich indes praktisch nicht entfalten [kann], solange eine Regelung fehlt, die handhabbare Orientierungen dafür 112  BVerfGE

79, 311 (334) (Staatsverschuldung I). Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 2008, S. 56. Eine prozyklisch wirkende Haushaltspolitik (Parallelpolitik) war mit dem Konzept des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nicht vereinbar. So auch Friauf, Staatskredit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  IV, 1990, § 91, Rn. 34. 114  Siehe Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 2008, S. 57. 115  Siehe hierzu Friauf, Staatskredit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IV, 1990, § 91, Rn. 34; Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  V, 2007, § 123, Rn. 46. 116  Siehe auch Wendt, Art. 115 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, 2001, Rn. 31 und Siekmann, Art. 115, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 2007, Rn. 13 und 51. 117  Zum „Gebot der Reversibilität von Konjunkturprogrammen“ vgl. Wendt, Art. 115 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2001, Rn. 32. 118  Siehe Wendt, Art. 115 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2001, Rn. 34; Fischer-Menshausen, Art. 115 GG, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, 1996, Rn. 14a. 113  Siehe

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

festlegt, ob und in welchem Umfang in einer gesamtwirtschaftlichen Normallage unter den Gesichtspunkten des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts eine staatliche Kreditaufnahme als unbedenklich angesehen werden kann, einer besonderen Rechtfertigung bedarf oder ausgeschlossen sein muß“.119 Dem Haushaltsgesetzgeber eröffnete sich also ein weiter Beurteilungs- und Einschätzungsspielraum, der ihm nahezu jede Kreditaufnahme unterhalb der Investitionssummenbegrenzung ermöglichte.120 Der 1969 vollzogene Wandel zu einem stärkeren Situations- und Konjunkturbezug der ordentlichen Kreditaufnahme entfaltete in der Staatspraxis also nur eine schwache Kreditbegrenzungswirkung. Im Ergebnis erweiterte er sogar die Spielräume der zulässigen Kreditaufnahme. 3. Die Obergrenze der Regelverschuldung: Junktim zwischen Investitions- und Kreditsumme Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG a. F. legte die obere Begrenzung des ordentlichen Verschuldungsrahmens fest. Demnach durften die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushalt veranschlagten Investitionen nicht überschreiten. Die Obergrenze der Kreditaufnahme in der gesamtwirtschaftlichen Normallage orientierte sich an der sogenannten „goldenen Regel der Finanzpolitik“, nach der kommende Generationen an den Finanzierungslasten für Investitionen mit zukunftsbegünstigendem Charakter beteiligt werden.121 Idealerweise fallen so Nutzungsvorteile und Finanzierungslasten zusammen. Von der vormaligen konkreten objektbezogenen Deckungsregel blieb mit der Bindung an die Summe der Investitionsausgaben lediglich der Grundgedanke einer globalen Deckungsregel als Restgröße übrig.122 Die Begrenzung auf Investitionsausgaben sollte verhindern, dass Einnahmen aus Krediten für konsumtive Zwecke – respektive für die laufende Staatstätigkeit – verwendet werden. Damit sollte zugleich vermieden werden, dass folgende Generationen zahlen müssen, ohne über einen dauerhaften Vorteil zu verfügen.123 Dem 119  BVerfGE

79, 311 (356) (Staatsverschuldung I). war lediglich dazu verpflichtet, die jeweiligen Entscheidungsgründe plausibel dazulegen. Siehe Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 123, Rn. 53. 121  Die „goldene Regel“ wird in der Finanzwissenschaft auch als „pay as you use“-Prinzip beschrieben, siehe Musgrave, The Theory of Public Finance – A Study in Public Economy, 1959, S. 558. Siehe hierzu oben Abschnitt A.II.1. 122  Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 146  f. spricht von einem „Übergang von einer objektbezogenen Deckungsregel zur objektgruppenorientierten Begrenzungsnorm“. 123  Siehe Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  V, 2007, § 123, Rn. 3 ff. 120  Er



B. Bisherige grundgesetzliche Ausgestaltung47

Begriff der Investitionen kam daher große Bedeutung für die Obergrenze der im Regelfall gestatteten Verschuldung zu. Diesem Telos folgend forderte das Bundesverfassungsgericht124 den Gesetzgeber auf, seinem Gesetzgebungsauftrag nachzukommen und den Investitionsbegriff mit folgender Vorgabe zu konkretisieren: „Der haushaltswirtschaftliche Vorgriff auf zukünftige Einnahmen soll jedenfalls dadurch begrenzt werden, daß der Kredit nur im Umfang der Ausgaben mit zukunftsbegünstigendem Charakter in Anspruch genommen werden darf.“125 Der daraufhin durch den einfachen Gesetzgeber in § 13 Abs. 3 Nr. 2 BHO festgeschriebene Investitionsbegriff126 kodifizierte lediglich die bis dato großzügig auslegende Staatspraxis, ohne dem zugrundeliegenden Kerngedanken des wirtschaftlichen Mehrwerts von Investitionen hinreichend Rechnung zu tragen.127 Dieser gesetzlich zugrunde gelegte Bruttoinvestitionsbegriff war eine wesentliche Ursache für die eingeschränkte Begrenzungswirkung des Staatsschuldenrechts.128 Seine weite Auslegung erhöhte regelmäßig die Obergrenze der zulässigen Verschuldung.129 124  BVerfGE

79, 311 (352, 354 f.) (Staatsverschuldung I). 79, 311 (334) (Staatsverschuldung I). Für eine kritische Analyse des Urteils, insbesondere zum Investitionsbegriff des Bundesverfassungsgerichts, vgl. Osterloh, Staatsverschuldung als Rechtsproblem?, NJW 1990, S. 145 (147 ff.). 126  Gesetz zur Änderung des HGrG und Gesetz zur Änderung der BHO jeweils vom 18.07.1990, BGBl. I 1990, S. 1446 und BGBl. I 1990 S. 1447. 127  Das Bundesverfassungsgericht spricht von einer „nur formelle[n] Erfüllung“, BVerfGE 119, 96 (143) (Staatsverschuldung II); siehe auch Höfling, Haushaltsverfassungsrecht als Recht minderer Normativität?, in: DVBl. 2006, S. 936. Die Bundesverfassungsrichter DiFabio und Mellinghoff sprechen in ihrem Sondervotum in diesem Zusammenhang sogar von enttäuschtem Vertrauen und von einer Missachtung des Konkretisierungsauftrages, BVerfGE 119, 96 (160) (Staatsverschuldung II). Vgl. auch Fricke, Kreditbegrenzung im Staatshaushalt. Eine vertane Chance des Bundesgesetzgebers, in: Finanzarchiv Neue Folge, 1990, S. 222. Zu den weiteren einfachgesetzlichen Vorgaben für die Kreditaufnahme vgl. Friauf, Staatskredit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IV, 2. Aufl., 1999, § 91, Rn. 60 ff. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen hat sich bereits 1980 für eine enge Auslegung des Investitionsbegriffs ausgesprochen, siehe Gutachten zum Begriff der öffentlichen Investitionen vom 26.4.1980, in: Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.), Wissenschaftlicher Beirat beim BMF – Gutachten und Stellungnahmen 1974–1987, 1988, S. 313 (358 f.). 128  Eine weitere Ursache ist die geringe Bedeutung der Kreditgrenze für den Haushaltsvollzug und somit einer schwachen Bindungswirkung für die Exekutive. Siehe unten Abschnitt B.V.4. 129  Zur Problematik des Investitionsbegriffs siehe unten Abschnitt B.V.1. sowie Heun, Art. 115, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 2008, Rn. 21 ff., insbesondere Fn. 147; Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 2008, 61 ff.; Droege, „Notruf nach Karlsruhe“ – Die Begrenzung der Staatsverschuldung und das Heraufziehen des Jurisdiktionsstaates im Haushaltsverfassungsrecht, VerwArchiv 2007, S. 101 (107 ff.) und Wendt, Art. 115 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2001, Rn. 36 ff. 125  BVerfGE

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

Die Summe der Investitionsausgaben durfte nicht ohne Weiteres als Obergrenze der Verschuldung ausgenutzt werden. Sie stand vielmehr unter dem einschränkenden Vorbehalt der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, die auch eine niedrigere Verschuldung fordern, womöglich sogar eine Pflicht zur Tilgung begründen konnten.130 Die Analyse der Regelkreditgrenze zeigt jedoch, dass die Kumulation dieser zwei Maßstäbe sich rechtstechnisch nur unsauber miteinander verbinden ließ. Während das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht dem Motiv des Situationsbezuges folgte, blieb die Investitionssummenbegrenzung im Kern dem Denkmuster der klassischen Deckungslehre verhaftet. Diese zwei wesensfremden Konzepte ließen sich im Staatsschuldenrecht nicht spannungsfrei verbinden.

III. Ausnahme: Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Der Haushaltsgesetzgeber durfte die ordentliche Kreditgrenze nur überschreiten, um eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwehren (Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG a. F.). Diese Regelung sollte ursprünglich Ausnahmecharakter genießen.131 Nicht jede beliebige, sondern nur eine ernsthafte und nachhaltige Störung des stets labilen Gleichgewichts sollte diese Option eröffnen.132 Darüber hinaus sollte die außerordentliche Kreditaufnahme nach Umfang und Verwendung geeignet sein,133 die Störungslage abzuwenden oder zu beenden.134 Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ nahm somit erneut eine Schlüsselrolle ein und musste im Einklang mit Art. 109 Abs. 2 GG a. F. interpretiert werden.135 Dem parlamentarischen (Haushalts-)Gesetzgeber kam bei der Feststellung der (drohenden) Störung jedoch ein weiter Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu. Er war lediglich verpflichtet, seine Gründe darzulegen136 und hierbei die 130  So auch Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  V, 2007, § 123, Rn. 46. 131  Siehe BVerfGE 79, 311 (344) (Staatsverschuldung I). 132  Siehe BVerfGE 79, 311 (339) (Staatsverschuldung I). 133  Zur Eignung der Kreditaufnahme vgl. Wendt, Art. 115 GG, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2001, Rn. 57 ff. 134  Siehe BVerfGE 79, 311 (339) (Staatsverschuldung I). 135  Siehe hierzu oben Abschnitt B.I. 136  Einfachgesetzlich wurde die Darlegungspflicht in §  18 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 BHO a. F. (BHO i. d. F. bis zum 31.12.2010) ausdrücklich festgelegt. Sie ergab sich jedoch bereits aus dem Regel-Ausnahme-Charakter der Vorschriften des Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG a. F. Siehe auch BVerfGE 79, 311 (343 ff.) (Staatsverschuldung I); BVerfGE 119, 96 (140 f.) (Staatsverschuldung II).



B. Bisherige grundgesetzliche Ausgestaltung49

Einschätzungen anderer Institutionen, wie beispielsweise des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, zu berücksichtigen.137 Auch wenn das Bundesverfassungsgericht die Begrenzungsfunktion der Ausnahmeregelung explizit hervorhob,138 kam dieser in der Staatspraxis nur eine geringe Steuerungskraft zu. Der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab beließ den handelnden Haushaltsgesetzgebern eine großzügige Einschätzungsprärogative. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte in seinem Urteil vom 9. Juli 2007 die weite Auslegung des Begriffs des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und erachtete die Einschätzung, ob eine (drohende) Störung vorliegt, als nur eingeschränkt verfassungsgerichtlich kontrollierbar.139 Allein in den Jahren von 1983 bis 2007 wurde die Regelkreditgrenze elf Mal – zum Teil deutlich – überschritten.140 In ihrem Sondervotum zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 9. Juli 2007141 forderten die Verfassungsrichter Di Fabio und Mellinghoff, bei der Prüfung einer möglichen Störung strenge Maßstäbe anzulegen, die eine Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses ausschließen sollten. Kurzfristige Schwächen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage oder übliche volkswirtschaftliche Schwankungen sollten hierfür nicht ausreichen.142 Dieser konsequenten Position konnte sich das Bundesverfassungsgericht in dieser Deutlichkeit nicht anschließen.143 Umstritten ist, ob neben der Geeignetheit der Kreditaufnahme zur Abwehr der Störung auch die weitergehenden Anforderungen des Verhältnismäßigkeits­ prinzips,144 das heißt die Erforderlichkeit und die Angemessenheit, gewahrt 137  Vgl. Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vom 14.8.1963, zuletzt geändert am 31.10.2006 (BGBl. I 2006, S. 2407). Weitere Institutionen von Relevanz für die Einschätzung der gesamtwirtschaftlichen Lage sind der Konjunkturrat (§ 18 StabG), die Deutsche Bundesbank (§ 13 BbankG) und – bis zu seiner Auflösung – auch der Finanzplanungsrat (§ 51 HGrG). 138  Siehe BVerfGE 79, 311 (352) (Staatsverschuldung I). 139  BVerfGE 119, 96 (140) (Staatsverschuldung II). 140  Siehe Engels/Hugo, Verschuldung des Bundes und rechtliche Schuldengrenzen, DÖV 2007, S. 445 (446). 141  Sondervotum DiFabio/Mellinghoff, BVerfGE 119, 96 (161 ff.) (Staatsverschuldung II). 142  Siehe Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR  V, 2007, § 123, Rn. 62; A. A. Heun, Art. 115, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 2008, Rn. 25. 143  Siehe BVerfGE 119, 96 (147) (Staatsverschuldung II). 144  Grundsätzlich zur Frage nach der Geltung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht Heusch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht, 2003, S. 45 ff.

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

sein mussten. Das Bundesverfassungsgericht lehnte dies, mangels eines Eingriffs in geschützte Rechts- und Freiheitsbereiche, sowie wegen der Offenheit der Regelung für politische Abwägungen, die mögliche andere öffentliche Interessen berücksichtigen kann, ab. Es betonte insbesondere den „Gestaltungsfreiraum für politisches Handeln“ des Gesetzgebers.145 Demgegenüber wird in Teilen der Staatsrechtslehre146 vertreten, dass auch außerhalb der unmittelbaren Eingriffslage der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dazu dient, „die Durchbrechung von Rechtsregeln auf das rechtfertigungsfähige Maß zu reduzieren“,147 und darüber hinaus der Schutzzweck des Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG a. F. (Lastenäquivalenz der Generationen) nur erfüllt werden konnte, wenn die Ausnahmemöglichkeit nur mangels anderer Alternativen in Anspruch genommen werden darf.148 Die Zukunftsbelastungen einer überhöhten Staatsverschuldung engen den Handlungsspielraum nachfolgender Generationen so stark ein, dass ein Abwägungsgebot notwendig erscheint, welches die Interessen künftiger Parlamente berücksichtigt. Über eine reine Evidenzkontrolle hinaus unterlag die Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes einer Vertretbarkeitskontrolle. Die „Beurteilung und Einschätzung des Haushaltsgesetzgebers müssen nicht nur frei von Willkür sein; sie müssen auf Grund der vorliegenden wirtschaftlichen Daten und vor dem Hintergrund der Aussagen der gesetzlich verankerten Organe der finanz- und wirtschaftspolitischen Meinungs- und Willensbildung […] und der Auffassungen in Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft nachvollziehbar und vertretbar erscheinen.“149 Auf Grund des originär politischen Charakters des Haus145  Siehe BVerfGE 79, 311 (342) (Staatsverschuldung I). Zustimmend Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 2008, S. 71  ff.; Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S.  290 ff.; Heun, Staatsverschuldung und Grundgesetz, Die Verwaltung 1985, S.  21 ff.; Heun, Art. 115, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 2008, Rn. 26 ff. 146  Siehe v. a. Birk, Die finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben und Begrenzungen der Staatsverschuldung, DVBl. 1984, S. 745 (S. 748 f.); Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 123, Rn. 68 ff.; Isensee, Schuldenbarriere für Legislative und Exekutive, in: FS Friauf, 1996, S. 705 (714 ff.) und Henseler, Verfassungsrechtliche Aspekte zukunftsbelastender Parlamentsentscheidungen, AÖR (108) 1983, S. 489 (534 ff.), der von einem „Übermaßverbot“ spricht. A. A. Droege, „Notruf nach Karlsruhe“ – Die Begrenzung der Staatsverschuldung und das Heraufziehen des Jurisdiktionsstaates im Haushaltsverfassungsrecht, VerwArchiv 2007, S. 101 (111), der ein Übermaßverbot ablehnt. 147  Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 123, Rn. 68. 148  Siehe Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 123, Rn. 68 und Isensee, Schuldenbarriere für Legislative und Exekutive, in: FS Friauf, 1996, S. 705 (715). 149  BVerfGE 79, 311 (344) (Staatsverschuldung I).



B. Bisherige grundgesetzliche Ausgestaltung51

haltsgesetzes („Regierungsprogramm in Gesetzesform“)150 erschien eine darüber hinaus gehende Inhaltskontrolle nicht gerechtfertigt.151

IV. Die Ausnahmeoption für Sondervermögen des Bundes Die Sondervermögen des Bundes,152 die sowohl einen aktiven Vermögensbestand als auch Verbindlichkeiten umfassen können,153 galten im alten Staatsschuldenrecht als eine „offene Flanke der Staatsverschuldung“.154 Die Einrichtung eines Sondervermögens musste sachlich geboten sein und die zugewiesene Aufgabe besser erfüllen können als der ordentliche Haushalt. Diese Voraussetzung wirkte angesichts des großen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums des Gesetzgebers im Ergebnis jedoch lediglich als eine äußerste Missbrauchsschranke.155 Die kreditrechtlichen Vorgaben des Art. 115 Abs. 1 Satz 1 (Gesetzesvorbehalt) und Satz 2 GG a. F. (Investitionssummenbegrenzung und Ausnahmeregelung bei Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts) galten grundsätzlich auch für Sondervermögen des Bundes.156 Art. 115 Abs. 2 GG a. F. räumte jedoch dem Bundesgesetzgeber die Möglichkeit eines gesetzlichen Dispenses von diesen Vorgaben ein, wobei dessen zulässiger Umfang in der Literatur umstritten war.157 Während sich die Möglichkeit zur Schaffung von Ausnahmen unzweifelhaft auf den formellen Gesetzes150  BVerfGE

79, 311 (344) (Staatsverschuldung I). Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 2008, S. 75. 152  Nach herrschender Auffassung fallen unter den Begriff des Sondervermögens „rechtlich unselbständige abgesonderte Teile des Bundesvermögens, die in der Regel, aber nicht notwendig durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes entstanden und zur Erfüllung einzelner Aufgaben des Bundes bestimmt sind sowie unmittelbar durch den Bund oder durch vom Bund beauftragte Dritte verwaltet werden.“, Höfling/Rixen, Art. 115, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2003, Rn. 385. 153  Auch wenn es sich nicht um bloße Schuldenmassen handeln durfte. Siehe Siekmann, Art. 115, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 2007, Rn. 58. 154  Weinzen, Offene Flanke der Staatsverschuldung schließen: Art. 115 Abs. 2 GG streichen, DÖV 2007, S. 509. Siehe auch die ausführliche Analyse von Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, S. 60 ff. 155  Siehe Höfling/Rixen, Art. 115, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2003, Rn. 388; siehe dazu auch Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S.  514 ff. 156  Siehe Wendt, Art. 115 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2001, Rn. 68. Insbesondere die systematische Auslegung spricht dafür, dass Abs. 2 sich sowohl auf Satz 1 als auch auf Satz 2 des Abs. 1 bezieht. Siehe Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 324. 157  Ausführlich zum Meinungsstand Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S.  514 ff. 151  Siehe

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

vorbehalt des Abs. 1 Satz 1 bezieht,158 ist umstritten, inwieweit sie auch für die materielle Grenze des Abs. 1 Satz 2 galt.159 Ein vollumfassender Dispens, ohne jegliche materielle Beschränkung durch Abs. 1 Satz 2, wurde nach überwiegender Auffassung aus Gründen der Systemwidrigkeit und der Gefahr der Umgehung des Budgetrechts abgelehnt.160 Dem Schutzzweck des Art. 115 GG a. F. folgend, bedurfte Absatz 2 einer einschränkenden Handhabung,161 um eine weitgehende Umgehung der Kreditbegrenzungsregel des Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG a. F. auszuschließen. Folgerichtig betont Höfling für den Ausnahmevorbehalt Missbrauchsschranken,162 die sowohl die Inanspruchnahme auf Erfordernisse der „strukturellen und wirtschaftlichen Besonderheiten“163 des jeweiligen Sondervermögens einschränken als auch bei einem krassen Missverhältnis der Verschuldung eines Sondervermögens zur Größenordnung des gesamten Bundesetats greifen sollten. Unabhängig davon galt die Verpflichtung des Art. 109 Abs. 2 GG, dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht Rechnung zu tragen, grundsätzlich auch für die Haushalts- und Wirtschaftsführung der Sondervermögen des Bundes.164

158  Nach Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S. 543 f. verbleibt jedoch die Gesamtverantwortung für das Staatsschuldenniveau beim Gesetzgeber. Dieser ist von jeder Kreditaufnahme der Sondervermögen in Kenntnis zu setzen. 159  Höfling/Rixen, Art. 115, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2003, Rn. 378 betonen, dass die Ausnahmeoption des Art. 115 Abs. 2 GG a. F. nicht völlig grenzenlos sein könne. 160  Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Ausnahmevorbehalts vgl. Selmer, Art. 115 II GG – eine offene Flanke der Staatsverschuldung?, in: FS für Stern, 1997, S. 567 (574 ff.). 161  Dies wurde methodisch teils im Wege einer teleologischen Reduktion (so Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof [Hrsg.], HStR V, 2007, § 123, Rn. 76), teils im Wege einer restriktiven Auslegung (siehe Höfling/Rixen, Art. 115, in: Kahl/Waldhoff/Walter [Hrsg.], BK-GG, 2003, Rn. 441 f.) erreicht. Ausführlich zu den Verfassungsgrenzen für Ausnahmen nach Art. 115 Abs. 2 GG a. F. Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S. 520 ff. 162  Siehe Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 332 f. Im Ergebnis so auch Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S. 544, der ausschließlich eine „aufgaben- und strukturadäquate Variierung des Begrenzungsmaßstabes“ als zulässig erachtet. 163  Siehe BT-Drs. V/3605, S. 14; Höfling/Rixen, Art. 115, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2003, Rn. 443 und Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S.  529 f. 164  Siehe BVerfGE 86, 148 (266 f.) (Finanzausgleich II). Vgl. Lappin, Kreditäre Finanzierung des Staates unter dem Grundgesetz, 1994, S. 185 sowie ausführlich Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S. 441 ff. m. w. N. und S. 459 ff.



B. Bisherige grundgesetzliche Ausgestaltung53

V. Ursachen der eingeschränkten Begrenzungswirkung: Kontrolldichte, Gestaltungsspielräume und exekutive Umgehungsstrategien Die Bundesregierung gelangte, wie eine Ursachenanalyse des Bundesfinanzministeriums165 belegt, im Vorfeld der Neuregelung des Staatsschuldenrechts 2009 zur Einsicht, dass die „geltenden Fiskalregeln weder den Anstieg der Schuldenquote […] verhindern noch die Neuverschuldung nachhaltig eindämmen konnten.“166 Wesentliche „Schwächen des Art. 115 GG“ a. F.167 waren hiernach der zu weit gefasste Investitionsbegriff,168 die Möglichkeit der „unlimitierten Kreditaufnahme“169 bei (vermeintlicher) Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts170 sowie die fehlende Verpflichtung zum antizyklischen Verhalten in Phasen des wirtschaftlichen Aufschwungs (Rückführung der Kreditaufnahme beziehungsweise Bildung von Rücklagen). Weitere Schwachpunkte waren exekutive Umgehungsstrategien im Haushaltsvollzug und durch Nebenhaushalte,171 die „Ausweichoption“ einer Verschuldung in Sondervermögen sowie ein fehlender Rückführungsmechanismus.172 1. Der Investitionsbegriff Ausschlaggebendes Kriterium, um die Regelverschuldungsgrenze bestimmen zu können, war der Investitionsbegriff (Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG a. F.), der sich an dem Regelungskonzept eines intertemporalen Lastenausgleichs, also der Globaläquivalenz von Kosten und Nutzen, messen lassen sollte.173 Da jedoch die Kredite regelmäßig durch die Aufnahme von 165  Kommissions-Drucksache (Kom-Drs.) 096 der Kommission zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen (Föderalismusreform II). Vgl. auch die Begründung des Gesetzesantrages zur verfassungsändernden Novellierung des Staatsschuldenrechts vom 24. März 2009, BR-Drs.  262/09, S. 1. 166  Kom-Drs. 096 Anlage 1, S. 1. 167  Kom-Drs. 096 Anlage 1, S. 1. Das Bundesfinanzministerium spricht sogar eindeutig von einem „fehlerhaften ökonomischen und politischen Anreizsystem …“ (S. 2). 168  Siehe hierzu unten Abschnitt B.V.1. 169  Kom-Drs. 096 Anlage 1, S. 1. 170  Siehe hierzu unten Abschnitt B.V.2. 171  Siehe hierzu unten Abschnitt B.V.4. 172  Siehe hierzu unten Abschnitt B.V.3. Für eine ausführliche Analyse der Schwächen des alten Staatsschuldenrechts siehe Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, S. 26 ff. 173  Das Bundesverfassungsgericht stellte hierzu fest: „Der haushaltswirtschaftliche Vorgriff auf zukünftige Einnahmen soll jedenfalls dadurch begrenzt werden, daß der Kredit nur im Umfang der Ausgaben mit zukunftsbegünstigendem Charakter in Anspruch genommen werden darf. Entscheidend für den Inhalt und die Wirksamkeit

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

Anschlusskrediten, die nicht unter die Regel des Art. 115 Abs. 1 S. 1 GG a. F. fielen, prolongiert wurden, wurde die Belastung durch Tilgung und Zins häufig auf einen Zeitraum erst nach der Nutzung des Investitionsgutes hinausgeschoben. Auch blieb der auf die Investition folgende Wertverzehr unberücksichtigt, während die Belastung fortbestand und durch die Zinslast sogar noch wuchs. Der globale Ansatz kumulierter Bruttoinvestitionen durchbrach also den im konkret objektbezogenen Deckungsgrundsatz noch enthaltenen Äquivalenzgedanken, vor allem weil Nettotilgungen ausblieben und der Schuldenstand dadurch stetig anwuchs. Der Investitionsbegriff wurde 1990 als Antwort auf den Regelungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts174 in § 13 Abs. 3 Nr. 2 Bundeshaushaltsordnung (BHO) nach dem bis dato geltenden „Gruppierungsplan zur ökonomischen Bestimmung investiver Ausgaben“ bestimmt. Nach dieser Haushaltspraxis wurde der Begriff sehr weit und unscharf verwendet:175 So wurden beispielsweise Werterhaltungsmaßnahmen, Ersatzinvestitionen und damit verbundene Anschaffungen als Investitionen gewertet, während Wertverluste nicht kreditmindernd berücksichtigt wurden. Ebenso wurden Desinvestitionen in Form von Vermögensveräußerungen oder Darlehensrückflüssen nicht in die Ermittlung der tatsächlichen Investitionssumme einbezogen. Andererseits wurden Darlehen – unabhängig von ihrem möglichen konsumtiven Verwendungszweck – stets als investive Ausgaben angesehen. Die Verwendung dieses umfangreichen Bruttoinvestitionsbegriffes ging weit über den Schutzzweck des Art. 115 Abs. 1 GG a. F. hinaus, der vielmehr auf den „pay as you use“-Grundsatz und damit die tatsächlichen (Netto-)Investitionen verwies.176 dieser Begrenzung wird somit der Begriff der Investition, den die Verfassung allerdings undefiniert läßt.“, BVerfGE 79, 311 (334) (Staatsverschuldung I). Das Gericht bekräftigt diese Auffassung im zweiten Urteil zur Staatsverschuldung: „Kreditfinanzierung und Ausgaben für Investitionen sind verbunden durch ihre Zukunftswirksamkeit. In dieser Verbindung dient die Verschuldungsgrenze im Normalfall dem intertemporalen Ausgleich wie der generationenübergreifenden Verteilungsgerechtigkeit […]. [Ob dieser Auffassung] bereits nach geltendem Verfassungsrecht Rechnung getragen werden kann, ist fraglich.“, BVerfGE 119, 96 (144) (Staatsverschuldung II). Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 155 ff. begründet ausführlich, dass das ökonomische Gebot der intertemporalen Lastengerechtigkeit nicht zwingend auch ein verfassungsrechtliches ist. 174  Siehe BVerfGE 79, 311 (354  f.) (Staatsverschuldung I). Siehe hierzu oben Abschnitt B.II.3. 175  Siehe hierzu und nachfolgend Engels/Hugo, Verschuldung des Bundes und rechtliche Schuldengrenzen, DÖV 2007, S. 445 (448 f.). 176  A. A. NWVerfGH, VerfGH 9/06, Urteil vom 24.04.2007, Rn. 56 ff. Wie hier Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 173 ff.; v. Arnim/Weinberg, Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S. 112 ff.; Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 123, Rn. 36 m. w. N.



B. Bisherige grundgesetzliche Ausgestaltung55

Demzufolge wären an sich nur solche Investitionen anzuerkennen gewesen, die eine wirtschaftliche Substanz, das heißt einen realen Wert für künftige Haushaltsjahre, schaffen und so zukünftige Haushaltsgesetzgeber von eigenen Aufwendungen entlasten.177 2. Die (drohende) Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Der Beurteilungs- und Einschätzungsspielraum, der durch den unbestimmten Rechtsbegriff der „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ (Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG a. F.) eröffnet und mit der Begründungs- und Darlegungslast nur formell eingeengt wurde, ermöglichte der Staatspraxis eine nahezu unbegrenzte Aufnahme von Krediten, mittels derer eine (drohende) Störung abgewehrt werden sollte. Allerdings konnte der Ausnahmecharakter grundsätzlich nur mit einer eingetretenen oder unmittelbar bevorstehenden konjunkturellen Krisensituation begründet werden.178 Dem Bundesverfassungsgericht zufolge179 waren eine Störung, die Absicht der Störungsabwehr und – im Rahmen der Finanz- und Haushaltsplanung – die Prognose der Erfolgsaussichten darzulegen.180 Zwei Gründe waren im Ergebnis für die Möglichkeit der unlimitierten Kreditaufnahme ursächlich: zum einen der offene Maßstab der Geeignetheit zur Abwehr der Störung und zum anderen die fehlende konkrete Obergrenze für die zulässige außerordentliche Kreditaufnahme. Der weitreichenden Ausnahmeregelung fehlte zudem eine indirekte Begrenzung, wie sie sich beispielsweise aus einer Pflicht zur Nettotilgung oder einem Sanktionsmechanismus181 ergeben hätte. 3. Fehlende Pflicht zur Rückführung von Schulden Auch wenn Art. 109 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 GG a. F. die Möglichkeit zur Bildung von Rücklagen und somit zu einer umfänglichen antizyklischen Fis177  Siehe Friauf, Staatskredit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IV, 2. Aufl., 1999, § 91, Rn. 49. Für eine Analyse weiterer Schwächen des Investitionsbegriffs vgl. Gröpl, Schwächen des Haushaltsrechts – Wege zu einer nachhaltigen Finanzwirtschaft, in: Die Verwaltung 2006, S. 215 (222 ff.). 178  Maunz, Art. 115 GG (Erstbearbeitung), in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, 1981, Rn. 50. 179  BVerfGE 79, 311 (339 f., 345) (Staatsverschuldung I); bestätigt durch BVerfGE 119, 96 (96, 147) (Staatsverschuldung II). 180  Siehe Heintzen, Art. 115 GG, in: Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, 2003, Rn. 16. 181  Siehe sogleich Abschnitt B.V.3.

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

kalpolitik eröffnete, blieb diese jedoch, abgesehen von den Haushaltsjahren 1969 und 1970, ungenutzt und übte somit in der Staatspraxis faktisch keine Direktionskraft aus.182 Die aufgenommen Kredite zur antizyklischen Stärkung der Konjunktur wurden nicht durch Haushaltsüberschüsse in Phasen des Aufschwungs getilgt. Sie türmten sich stattdessen immer weiter auf. Eine explizite, auf das einzelne Haushaltsjahr bezogene Pflicht zur Rückführung von Schulden bestand nicht.183 Dies wiegt besonders schwer vor dem Hintergrund, dass ausschließlich der allgemeine – kaum operationalisierbare – Finanzverfassungsgrundsatz des Art. 109 Abs. 2 GG a. F. den absoluten Schuldensockel184 und die akkumulierte Zinsbelastungen steuern sollte.185 Das Konzept der antizyklischen Fiskalpolitik wurde mit dieser Ausgestaltung nur zur Hälfte verwirklicht. 4. Exekutive Umgehungsstrategien a) Private Vorfinanzierung Eine potentielle Schwäche der Kreditbegrenzungsregel des Art. 115 Abs. 1 GG a. F. lag darin, dass der Staat über sogenannte Verwaltungsschulden, die nicht unter den Kreditbegriff des Abs. 1 S. 2 fielen, „verdeckte“ Kreditaufnahmen tätigen konnte. In der Haushaltspraxis wurde auf diese Weise zunehmend öffentliche Infrastruktur finanziert.186 Ein Modell hierfür ist die private Vorfinanzierung einer öffentlichen Aufgabe, beispielsweise über Raten-, Mietkauf oder Leasing.187 Auch wenn in wirtschaftlichem Sinne die Finanzierungsfunktion der Verwaltungsschulden als Kredit zu bewerten ist, trat dieser haushaltsrechtlich nicht als solcher in Erscheinung. Weder die Herstellungskosten für die Investitionsausgabe noch die staatliche GesamtRodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 481. hierzu Halstenberg, Staatsverschuldung ohne Tilgungsplanung, DVBl. 2001, S. 1405 (1407 f.), der in diesem Zusammenhang auch auf den kontinuierlich steigenden Anteil der Zinsen am öffentlichen Gesamthaushalt hinweist, sowie Kirchhof, Ferdinand, Der notwendige Ausstieg aus der Staatsverschuldung, DVBl. 2002, S. 1569 (1578). 184  Vgl. hierzu BVerfGE 79, 311 (355 f.) (Staatsverschuldung I). 185  Siehe Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaates, 1997, S. 187. 186  Aufgrund des fehlenden Nachweises der Wirtschaftlichkeit hielten die Rechnungshöfe des Bundes und der Länder diese Praxis für bedenklich. Vgl. hierzu Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 276 f. 187  Zum Begriff des Leasing vgl. Weidenkaff, Einf. v. § 535, in: Palandt (Hrsg.), BGB-Kommentar, 2003, Rn. 37. Siehe auch Jahndorf, Alternative Finanzierungsformen des Staates, NVwZ 2001, S. 620 (622 ff.). 182  Siehe 183  Vgl.



B. Bisherige grundgesetzliche Ausgestaltung57

verpflichtung wurden im Haushalt dargestellt.188 Teile des Schrifttums sehen damit den Grundsatz der Vollständigkeit verletzt.189 Hierfür wäre die Frage zu klären, ob es sich bei Modellen privater Vorfinanzierung um Krediteinnahmen im Sinne des Haushaltsrechts handelt.190 Ohne diese komplexe Rechtsfrage in ihren Einzelheiten detailliert zu erörtern, kann im Ergebnis festgehalten werden, dass die unabweisbare Begründung zukünftiger Ausgabenverpflichtungen durch private Vorfinanzierungen den Schutzzweck des Art. 115 GG a. F. betrifft.191 Mit Blick auf diesen Schutzweck erscheint es notwendig, einen funktionalen Kreditbegriff zu verwenden, so dass sich der staatsschuldenrechtliche Gesetzesvorbehalt und die Berechnung der zulässigen Neuverschuldung auch auf diese neuartigen Verschuldungsformen, die nicht unter den klassischen Kreditbegriff fallen, erstrecken.192 188  Ausführlich zur privaten Vorfinanzierung siehe Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 268 f. 189  Vgl. beispielsweise Püttner, Privatfinanzierung öffentlicher Vorhaben – Weg oder Irrweg, in: FS für Friauf, 1996, S. 729 (736). 190  Ausführlich hierzu Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 291 ff. Vgl. auch Droege, „Notruf nach Karlsruhe“ – Die Begrenzung der Staatsverschuldung und das Heraufziehen des Jurisdiktionsstaates im Haushaltsverfassungsrecht, VerwArchiv 2007, S. 101 (104 ff.), der im Gegensatz zu Jahndorf in den Modellen privater Vorfinanzierung keine Kredite i. S. d. Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG erkennt. 191  Analog zum Veranschlagungsgebot von Verpflichtungsermächtigungen nach § 16 BHO erscheint es rechtspolitisch geboten, auch die zukünftige Belastungswirkung von privaten Vorfinanzierungsmodellen im Haushalt abzubilden. So auch im Ergebnis Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 288 ff. Die Belastungswirkung korrespondiert mit einer kurzfristigen Haushaltsentlastung, die aus funktionaler Sicht mit einer Krediteinnahme vergleichbar ist. Siehe Siekmann, Art. 115, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 2007, Rn. 22. 192  Vgl. Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 437; Kirchhof, Gregor, Art. 109 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2010, Rn. 81; Kube, Art. 115 GG, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, 2009, Rn. 68 ff. (71). Droege, „Notruf nach Karlsruhe“ – Die Begrenzung der Staatsverschuldung und das Heraufziehen des Jurisdiktionsstaates im Haushaltsverfassungsrecht, VerwArchiv 2007, S. 101 (104 ff.), lehnt hingegen einen solch weit gefassten Kreditbegriff ab, da er unter „hohen Begründungslasten“ stehe und „bei kritischer Betrachtung den Rahmen zulässiger Verfassungsinterpretation“ verlasse (S. 105). Im Ergebnis so auch Heun, Art. 115 GG, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Supplementum 2010, Rn. 25.  Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat darauf verzichtet den Kreditbegriff im Rahmen der Föderalismusreform II näher zu bestimmen, um diese Rechtsfrage eindeutig zu beantworten. Vgl. hierzu auch Klepzig, Die „Schuldenbremse“ im Grundgesetz – Ein Erfolgsmodell?, 2015, S. 219 ff., die de lege ferenda eine einfachgesetz-

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

b) Restkreditermächtigungen Umgehungscharakter hatte auch die sogenannte „First in, First out“ (FIFO)-Methode. Hiernach griff die Bundesregierung zuerst auf die nach § 18 Abs. 3 BHO weiter geltenden Restkreditermächtigungen des vergangenen Haushaltsjahres zurück und vermied so die für das laufende Haushaltsjahr vom Parlament vorgesehene Kreditermächtigung. Die grundsätzliche zeitliche Kreditbegrenzung von einem Jahr193 wurde somit praktisch ausgehebelt.194 Der Bundesrechnungshof hatte darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, dass in den Haushaltsjahren 1996 und 2005 sogar teilweise auf Restkreditermächtigungen zurückgegriffen wurde, die aus lange zurückliegenden Haushaltsjahren stammen.195 Auch wenn Art. 110 Abs. 4 S. 2 GG ein Abweichen vom Prinzip der Jährlichkeit für Kreditermächtigungen des Haushaltsgesetzes vorsieht, durfte diese Methode jedoch nicht dazu verwendet werden, das Kredit-Investitions-Junktim des Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GG a. F. zu umgehen. Das Bundesverfassungsgericht stellte hierzu fest, dass die „Praxis der zeitlichen Verschiebung von Kreditermächtigungen nach der sogenannten First-in-First-out-Methode schwerlich mit dem Grundgedanken der Begrenzung der Verschuldung vereinbar“196 ist. Bei teleologischer Auslegung des § 18 Abs. 3 BHO muss die Inanspruchnahme der Restkreditermächtigung auf den Fall beschränkt sein, dass die regulären veranschlagten Kreditermächtigungen nicht ausreichen und nur so die Handlungsfähigkeit des Staates erhalten werden kann.197

liche Definition des Begriffs der „Einnahmen aus Krediten“ vorschlägt, welche insbesondere auch neue Finanzierungsinstrumente berücksichtigt (S. 343 ff.). Allerdings geht Klepzig hierbei nicht auf die sich damit stellende Frage nach der Wahrung der Normenhierachie ein. 193  Siehe § 18 Abs. 3 S. 1 BHO. 194  Siehe Engels/Hugo, Verschuldung des Bundes und rechtliche Schuldengrenzen, DÖV 2007, S. 445 (449) und Bemerkungen des BRH 2005, Nr. 1.4.2.1., BTDrs.  16/160, S. 53. 195  Siehe Engels/Hugo, Verschuldung des Bundes und rechtliche Schuldengrenzen, DÖV 2007, S. 445 (450). 196  Siehe BVerfGE 119, 96 (144) (Staatsverschuldung II). 197  So auch Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 181. Vgl. auch Birk/Wolffgang, Zur Verfassungsmäßigkeit der Inanspruchnahme der nach § 18 Abs. 3 Satz 1 LHO NW fortgeltenden Kreditermächtigungen, 1984, S. 14 f. und Bajohr, Verschuldungsgrenzen und die Wirkung nicht ausgeschöpfter Kreditermächtigungen, DÖV 1999, S. 397 (400). Ausführlich zur Ansammlung von „Kreditpolstern“ Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 72 ff. und Birk, Sparen auf Pump? – Darf der Staat Kredite zur Verwendung in späteren Haushaltsjahren aufnehmen?, in: FS für Peter Selmer, 2004, S. 589 (590 ff.).



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VI. Zusammenfassung Die mit der Reform von 1969 vollzogene Abkehr von einem klaren Objektbezug198 und die Öffnung der Kreditaufnahme für Zwecke der antizyklischen Globalsteuerung hatten einen grundsätzlichen Wandel im Umgang mit dem Instrument des Staatskredites zur Folge. Neben die ursprünglich reine Finanzierungsfunktion trat nun eine nachfrageorientierte fiskalpolitische Funktion als „Gestaltungsinstrument“.199 Dies ging einher mit einem Wandel der Wirtschaftspolitik, in der die Lenkungsfunktion der öffentlichen Haushaltswirtschaft – angesichts des steigenden Anteils der öffentlichen Haushalte und Parafisci am Bruttosozialprodukt200 – stärker betont wurde.201 Art. 115 GG a. F. übernahm – nicht zuletzt im Lichte der demokratietheo­ retisch und wirtschaftspolitisch bedenklichen Auswirkungen einer überhöhten Verschuldung202 – zuvörderst eine Begrenzungsfunktion. Die Verschuldungsgrenze wurde durch die veranschlagten Bruttoinvestitionen (Obergrenze) zusammen mit dem haushaltswirtschaftlichen Grundsatz der Beachtung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Regelgrenze) gebildet und durch die Ausnahmeregelung bei (drohender) Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ergänzt. Durchbrochen wurde diese Regel-AusnahmeSystematik durch die Option eines gesetzlichen Dispenses für Sondervermögen des Bundes. Die tatsächliche Entwicklung der öffentlichen Gesamtverschuldung203 lässt jedoch bereits prima facie deutlich werden, dass die Begrenzungsfunktion des Art. 115 GG a. F. i. V. m. Art. 109 Abs. 2 GG a. F. gescheitert ist.204 Allein die regelmäßige Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 115

198  Siehe

oben Abschnitte A.II.1. und B.II.1. hier vorgenommene Zuordnung der Funktionen des Art. 115 GG a. F. erfolgt in Anlehnung an Birk, Die finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben und Begrenzungen der Staatsverschuldung, DVBl. 1984, S. 745 (745 f.). 200  Der Anteil der öffentlichen Haushalte und Parafisci am gesamtstaatlichen Sozialprodukt betrug 2002 etwa 50 %, siehe Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 140. Zuletzt ist die Staatsquote auf rund 44 % (2015) gesunken. Siehe Bundesministerium der Finanzen, Statistiken und Dokumentationen, Monatsbericht Oktober 2016, S. 90. 201  Siehe Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 140. 202  Siehe oben Abschnitt A.II.2. 203  Siehe oben Einleitung, Abschnitt A. 204  Zur Analyse der polit-ökonomischen Ursachen für die hohe Verschuldungsneigung siehe Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, S. 103 ff. 199  Die

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG a. F.)205 und die damit faktisch unbegrenzte Überschreitungsmöglichkeit der Investitionssumme zeigen die geringe Begrenzungskraft des alten Regelungsmechanismus. Nicht zu Unrecht haben die Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio und Rudolf Mellinghoff in ihrer abweichenden Meinung zum jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Staatsverschuldung diese Praxis als eine Art „wiederkehrender Dauer­ rechts­verletzung“206 beschrieben. Darüber hinaus trugen auch der unbestimmte Investitionsbegriff, die fehlende Pflicht zur Rückführung von Schulden sowie exekutive Umgehungsstrategien dazu bei, dass die Begrenzungswirkung des alten Rechts geschwächt wurde.

C. Exkurs: Die Schweizer Schuldenbremse Noch bevor in Deutschland der Reformprozess zur Novellierung des deutschen Staatsschuldenrechts einsetzte, führte die Schweiz 2003 eine innovative Regel zur staatlichen Kreditaufnahme ein.207 Das Schweizer Modell verbietet für den mittel- bis langfristigen Zeithorizont eines Konjunkturzyklus jegliche strukturelle Verschuldung. Um dennoch konjunkturelle Schwankungen auszugleichen, orientiert sich die jährliche Kreditgrenze am Wachstumstrend des BIP. Auf diese Weise sollen ökonomische Nachhaltigkeitsanliegen mit einer antizyklischen Fiskalpolitik verknüpft werden.208 Die Einführung der Schuldenbremse stieß auf eine breite Unterstützung der eidgenössischen Bevölkerung.209 Auch wenn das deutsche Staatsschuldenrecht das Schweizer Modell nicht direkt zum Vorbild hatte, bot es einen äußeren Anreiz für die deutschen 205  Allein im Zeitraum von 1983 bis 2007 wurde die Regelkreditgrenze elfmal – zum Teil deutlich – überschritten. Siehe Engels/Hugo, Verschuldung des Bundes und rechtliche Schuldengrenzen, DÖV 2007, S. 445 (446). 206  BVerfGE 119, 96 (172) (Staatsverschuldung II). 207  Zur Funktionsweise der Schweizer Schuldenbremse siehe unten Abschnitt C.I. sowie Siegenthaler/Zurbrügg, Die Schweizer Schuldenbremse, in: Kastrop/MeisterScheufelen/Sudhof (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S.  355 ff. und Glaser, Begrenzung der Staatsverschuldung durch die Verfassung. Ein Vergleich deutscher und schweizerischer Regelungen, in: DÖV 2007, S. 98. 208  Siehe Frey, Finanzpolitik des Bundes seit 1960, Bericht im Auftrag der Kommission für Konjunkturfragen, Schweiz, 2007, S. 28. 209  Der Regelungsentwurf zur Schweizer Schuldenbremse wurde in der Volksabstimmung vom 2. Dezember 2001 mit einer Mehrheit von 85 % Ja-Stimmen angenommen. Die Schuldenbremse wurde 2010 um eine Regelung zur Berücksichtigung außerordentlicher Einnahmen und Ausgaben ergänzt, siehe die neu eingefügten Art. 16 Abs. 1, Art. 17a, 17b, 17c, 17d und Art. 18 Abs. 1 Finanzhaushaltsgesetz (FHG).



C. Exkurs: Die Schweizer Schuldenbremse61

Reformüberlegungen.210 Wesentliche Elemente der Schweizer Schuldenbremse wurden von Reformvorschlägen im Rahmen der Föderalismusreform II aufgegriffen.211 Daher verwundert es nicht, dass die neue Schuldenregel des Grundgesetzes in ihren Grundzügen Ähnlichkeiten mit der Schweizer Schuldenbremse aufweist.212 Vor diesem Hintergrund bietet die zusammenfassende Bewertung der Schweizer Schuldenbremse erste Erkenntnisse zu dem Modell einer „automatisierten“ Kreditgrenze.213

I. Funktionsweise der Schweizer Schuldenbremse Art. 126 der Bundesverfassung der Schweiz bestimmt, dass der Bund Einnahmen und Ausgaben auf Dauer im Gleichgewicht halten muss. Um dies zu erreichen, müssen in erster Linie Maßnahmen auf der Ausgabenseite des Bundeshaushalts ergriffen werden. Der Maximalbetrag der geplanten Haushaltsausgaben darf, unter Berücksichtigung der konjunkturellen Lage, die geplanten Einnahmen nicht übersteigen: „Der Höchstbetrag für die im Voranschlag zu bewilligenden Gesamtausgaben […] entspricht dem Produkt aus den geschätzten Einnahmen und dem Konjunkturfaktor.“214 Der Konjunkturfaktor ermöglicht die Berücksichtigung besonderer Be- oder Entlastungen, die sich auf Grund der aktuellen wirtschaftlichen Situation ergeben, beispielsweise rezessionsbedingt höhere Sozialausgaben und niedrigere Steuereinnahmen. Er wird in Art. 13 Abs. 3 Finanzhaushaltsgesetz (FHG) wie folgt definiert: „Der Konjunkturfaktor entspricht dem Quotienten aus dem geschätzten realen Bruttoinlandsprodukt215 gemäss langfristig geglättetem Trend [Trend-BIP] und dem voraussichtlichen realen Bruttoinlandprodukt im Voranschlagsjahr.“ Auf diese Weise werden die Einnahmen um konjunkturelle Einflüsse bereinigt. Bei einer Normalauslastung der Wirtschaft beträgt der Faktor „eins“. Im Falle einer rezessiven Phase und somit einer Unterauslastung des wirtschaftlichen Produktionspotential ist der Faktor größer als eins und ein konjunkturelles Defizit wird zugelassen. Die Ausgaben dürfen die Einnahmen übersteigen. In einer Aufschwungphase 210  Siehe Dönnebrink/Erhardt/Höppner/Sudhof, Entstehungsgeschichte und Entwicklung des BMF-Konzeptes, in: Kastrop/Meister-Scheufelen/Sudhof (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 22 (44). 211  Vgl. Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfassung, 2010, S. 279  ff. sowie unten 3. Teil Abschnitt A.I. und II. 212  Eine Übersicht zur Ausgestaltung der Schuldenregel in Deutschland und der Schweiz geben Hausner/Simon, Die neue Schuldenregel in Deutschland und die Schuldenbremse der Schweiz, Wirtschaftsdienst 2009, S. 265 ff. 213  Siehe unten Abschnitt C.II. 214  Art. 13 Abs. 1 Finanzhaushaltsgesetz (FHG). 215  Das reale BIP wird durch eine Preisbereinigung des nominalen BIP ermittelt.

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

liegt der Faktor hingegen unter eins, das heißt die Schuldenbremse fordert einen Überschuss.216 Das reale Trend-BIP zur Ermittlung des Konjunkturfaktors ist jedoch nicht empirisch feststellbar, sondern muss mittels statistischer Methoden geschätzt werden. Das Verfahren hierfür ist nicht gesetzlich festgelegt. Die Eidgenössische Finanzverwaltung (EFV) hat sich hier für die modifizierte Version des von Robert Hodrick und Edward C. Prescott entwickelten Glättungsverfahrens217 entschieden (modifizierter HP-Filter).218 Art. 16 FHG ergänzt die Regel um ein Ausgleichskonto. Dieses soll sicherstellen, dass die Schuldenregel auch im Haushaltsvollzug eingehalten wird. Auf Basis der tatsächlichen Einnahmen und der revidierten Wirtschaftsprognosen wird die Abweichung der getätigten Ausgaben von der berichtigten zulässigen Höchstgrenze ex post verbucht. Bei einer Überschreitung dieser an den tatsächlichen Verhältnissen orientierten Verschuldungsgrenze wird das Konto belastet, bei einer Unterschreitung wird die Differenz gutgeschrieben. Das Ausgleichskonto wird als eigene Statistik geführt, außerhalb der eigentlichen Staatsrechnung. Buchungen auf dem Ausgleichskonto erfolgen beispielsweise auf Grund von Schätzfehlern bei der Berechnung der Ausgaben und Einnahmen, durch ungeplante Abweichungen bei den Ausgaben respektive Einnahmen oder durch geplante strukturelle Überschüsse.219 An das Ausgleichskonto knüpft ein Sanktionsmechanismus an, der den Umgang mit Fehlbeträgen regelt. Ein negativer Saldo muss gemäß Art. 17 FHG im Verlauf mehrerer Jahre durch Kürzung der festgelegten Ausgabenhöchstbeträge ausgeglichen werden. Übersteigt dieser 6 % der Gesamtausgaben, muss er innerhalb von drei Jahren beseitigt werden. Durch diese Sanktionsregel wird eine zu hohe Abweichung vom tatsächlichen Ausgleich der Einnahmen und Ausgaben verhindert. 216  Vgl. Beljean, Schuldenbremse – konjunkturverträgliche Konsolidierung des Bundeshaushalts, in: Die Volkswirtschaft – Das Magazin für Wirtschaftspolitik, November 2001, S. 34 (37). 217  Siehe Hodrick/Prescott, Postwar U.S. Business Cycles: An Empirical Investigation, in: Journal of Money, Credit, and Banking, Nr. 29 (1), 1997, S. 1. 218  Der modifizierte HP-Filter löst den klassischen HP-Filter ab, der kritisiert wurde, weil nach ihm die zulässigen konjunkturellen Defizite zu klein wären. Hierzu und zu weiteren Nachteilen des HP-Filters vgl. Internationaler Währungsfond (IMF), in: Switzerland: Selected Issues, Country Report  01/75, 2001, S. 26 f.; Himmel/Geier, Erste Erfahrungen mit der Umsetzung der Schuldenbremse, in: Die Volkswirtschaft, Nr. 2 2004, S. 7 f.; Colombier, Eine Neubewertung der Schuldenbremse, in: Working Paper der Eidgenössischen Finanzverwaltung, No. 2, 2004, S. 46. Der modifizierte HP-Filter schwächt zudem die sogenannte „Endpunktproblematik“ des Glättungsverfahrens. Siehe hierzu ausführlicher 4. Teil Abschnitt A.II.2.b) aa). 219  Siehe Schweizer Bundesrat (Hrsg.), Botschaft des Bundesrates vom 19.09.2008 über die Ergänzung der Schuldenregel (FHG-Revision), S. 8498 f.



C. Exkurs: Die Schweizer Schuldenbremse63

Für den Fall von Ausnahmesituationen, die der Bund nicht beeinflussen kann (beispielsweise Naturkatastrophen oder schwere Rezessionen) und die einen außerordentlichen Zahlungsbedarf von mindestens 0,5 % des ordentlichen Höchstbetrags ausmachen, erlaubt der Mechanismus ein Überschreiten der Kreditgrenze. Hierfür bedarf es jedoch der absoluten Mehrheit in National- und Ständerat.220 Die Ausnahmeregel ist nach Auffassung des Bundesrates notwendig, da nicht „alle Eventualitäten“ innerhalb der ordentlichen Ausgabenregel aufgefangen werden können. Sie erfüllt somit die Funktion eines „Sicherheitsventils.“221 Kommt der Bund zu außerordentlichen Einnahmen, beispielsweise durch (Teil-)Privatisierungen oder Konzessionsvergaben, werden diese bei der Ermittlung der ordentlichen Höchstgrenze grundsätzlich nicht berücksichtigt (Art. 13 Abs. 2 FHG). Sie sollen unmittelbar in den Schuldenabbau fließen und dürfen nicht zur Deckung ordentlicher Ausgaben verwendet werden.222 Umgekehrt muss ein außerordentlicher Finanzbedarf nicht durch Kürzung bei den ordentlichen Ausgaben gegenfinanziert sein. Sowohl die außerordentlichen Einnahmen als auch die außerordentlichen Ausgaben werden weder bei der Berechnung der zulässigen Höchstgrenze der Verschuldung noch auf dem Ausgleichskonto berücksichtigt. Um einen Schuldenanstieg über diesen Weg der außerordentlichen Ausgaben zu verhindern, wurde die Schuldenbremse novelliert und seit dem 1. Januar 2010 um ein Amortisationskonto erweitert (Art. 17a FHG).223 Auf diesem Konto sollen außerordentliche Einnahmen und Ausgaben erfasst werden. Weist das Konto einen Fehlbetrag auf, muss es innerhalb der nächsten sechs Haushaltsjahre ausgeglichen werden.224 Für das Konto gilt jedoch das Prinzip der Nachrangigkeit gegenüber dem Ausgleichskonto, welches die Abweichungen im ordentlichen Haushalt verbucht. Eine Pflicht zum Ausgleich des Amortisationskontos besteht demnach erst, wenn das Ausgleichskonto keinen negativen Saldo aufweist. Ist diese Bedingung gegeben, müssen die Defizite des außerordentlichen Haushalts durch strukturelle Überschüsse des ordent­ lichen Haushalts kompensiert werden. Die Höchstgrenze der zulässigen Ver220  Vgl. zum politischen System der Schweiz im Allgemeinen und den Mehrheitsanforderungen im Besonderen Vatter, Das politische System der Schweiz, 2014, S.  259 ff. und 311 ff. 221  Siehe Schweizer Bundesrat (Hrsg.), Botschaft des Bundesrates vom 19.09.2008 über die Ergänzung der Schuldenregel (FHG-Revision), S. 8492 f. 222  So die rechtlich unverbindliche Botschaft des Bundesrates vom 19.09.2008 über die Ergänzung der Schuldenregel (FHG-Revision), S. 8506 f. 223  „Seit Einführung der Schuldenbremse übersteigen die insgesamt getätigten ausserordentlichen Ausgaben die ausserordentlichen Einnahmen um rund 0,8 Milliarden (oder 7 %).“, siehe Schweizer Bundesrat (Hrsg.), Botschaft des Bundesrates vom 19.09.2008 über die Ergänzung der Schuldenregel (FHG-Revision), S. 8499. 224  Art und Umfang der Aufteilung des Amortisierungsbetrags auf die einzelnen Haushaltsjahre werden der Bundesversammlung überlassen (Art. 17b Abs. 5 FHG).

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1. Teil: Finanzierung des Staates durch Verschuldung

schuldung muss daher nach dem Verfahren der oben beschriebenen Grundregel angepasst werden. Die reformierte Schuldenbremse geht jedoch noch weiter: Sind zukünftige außerordentliche Ausgaben absehbar, sollen nach Art. 17c i. V. m. Art. 18 FHG frühzeitig präventive Sparmaßnahmen ergriffen werden, um einem zu großen Defizit zuvorzukommen.225

II. Beurteilung der Schweizer Schuldenbremse Die eigentliche Wirkungskraft der Schuldenbremse geht von der Pflicht zur Schuldentilgung in Phasen wirtschaftlichen Wachstums aus. Durch den Konjunkturfaktor müssen in jenen Haushaltsjahren, deren reales BIP das reale Trend-BIP übersteigt, die Einnahmen über den Ausgaben liegen. Dieser Automatismus schiebt der Versuchung von politischen Akteuren, kostenintensive (sozial-)politische Wohltaten zu versprechen, einen Riegel vor. Auf diese Weise wird eine Kompensation für Mehrausgaben in rezessiven Phasen erreicht, die mit einem bloßen Gebot des Maßhaltens und der Vorsorge in konjunkturellen Hochzeiten unwahrscheinlich ist. Das alte Staatsschuldenrecht des Grundgesetzes, mit der Berücksichtigung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nach Art. 109 Abs. 2 GG a. F., lieferte hierfür ein anschauliches Beispiel. Es ist gerade die institutionelle Selbstbindung, sozusagen das Anlegen eigener Fesseln, die eine Schuldenbegrenzung erreichen soll. Hierbei besteht jedoch die Gefahr, dass wesentliche Entscheidungen über den Haushalt und seinen Umfang dem demokratischen Legitimationsprozess weitgehend entzogen und durch ökonometrische Berechnungsmodelle ersetzt werden. Diese Modelle werfen wiederum neue Fragen auf.226 Zuvörderst stellt sich die Frage nach der Güte der Konjunkturbereinigungsmodelle. Wie die Anpassung des HP-Filter-Verfahrens227 zeigt, hängt der Umfang der zulässigen konjunkturellen Verschuldung228 von der gewählten ökonometrischen Methode beziehungsweise der Anpassung einzelner Parameter ab. Die potentielle Intransparenz, die hieraus resultiert, könnte durch statistische Berechnungsvorgaben der Exekutive genutzt werden, um eine Erweiterung des ausgabenpolitischen Handlungsspielraums zu erreichen. Bei einer automatisierten ökonometrischen Berechnung der Ausgabenhöchstgrenze – mit den soeben beschriebenen Problemen – stellt sich 225  Vgl. hierzu auch Schweizer Bundesrat (Hrsg.), Botschaft des Bundesrates vom 19.09.2008 über die Ergänzung der Schuldenregel (FHG-Revision), S. 8502. 226  Vgl. hierzu Grzeszick, Läßt sich eine Verfassung kalkulieren?, JZ 2003, S. 647 (652 ff.), der anhand des deutschen Maßstäbegesetzes die Grenzen der ökonomischen Rationalisierung des Verfassungsrechts aufzeigt. 227  Siehe soeben Abschnitt C.I. 228  Das gilt spiegelbildlich natürlich auch für den Umfang der vorgeschriebenen Ausgabensenkung in Zeiten des Aufschwungs.



C. Exkurs: Die Schweizer Schuldenbremse65

schließlich die Frage nach der demokratischen Legitimation der Berechnungsmodi. Darüber hinaus könnte die Gefahr bestehen, dass die Deckelung der zulässigen Ausgaben zu einer Kürzung von Investitionsvorhaben führt, während konsumtive Ausgaben stabil gehalten werden. Dies hätte eine nachteilige Wirkung auf das Ziel einer nachhaltigen Finanzpolitik.229 Vorgabe und Minimalziel der Schweizer Schuldenbremse ist es, die nominale Staatsschuld zu stabilisieren, nicht zwingend abzubauen. Daraus folgt allerdings eine Abnahme des relativen Schuldenstands und somit der Schuldenstandsquote. Die Schweizer Schuldenbremse geht im Ergebnis weiter als das Maastricht-Kriterium des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes (Schuldenstandsquote i. H. v. 60 %).230 Im Ergebnis erscheint die Schweizer Schuldenbremse als ein gelungener Kompromiss zwischen Flexibilität und konkretisierter Regelbindung. Sie überführt die diskretionäre Finanzpolitik231 in einen teil-automatisierten Begrenzungsmechanismus, der mittels Konjunkturkomponente ausreichend Spielraum für die Berücksichtigung konjunktureller Einflüsse auf das Budget zulässt.232 Sie ist in ihrer Grundstruktur übersichtlich und verständlich. Erste empirische Untersuchungen zur Begrenzungswirkung der Schuldenbegrenzung zeigen einen beachtlichen Erfolg.233 Die Schweizer Schuldenbremse könnte sich daher als Export-Schlager erweisen.234 229  Siehe Hausner/Simon, Die neue Schuldenregel in Deutschland und die Schuldenbremse der Schweiz, Wirtschaftsdienst 2009, S. 271. 230  Die Schuldenstandsquote der Schweiz betrug bei Einführung der Schuldenbremse rund 50 % des BIP. Seitdem ist sie kontinuierlich gesunken, bis 2014 auf rund 35  % des BIP. Siehe Eidgenössische Finanzverwaltung (Hrsg.), Schulden des Sektors Staat, http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/18/03/ blank/key/schulden.html (abgerufen am 8.4.2017). 231  Eine diskretionäre Finanzpolitik beschreibt eine am Einzelfall orientierte Politik, die durch eine explizite Entscheidung von Regierung und Parlament getroffen wird, siehe Gabler Wirtschaftslexikon, „Diskretionäre Finanzpolitik“, 2014, S. 768. 232  Vgl. hierzu Hausner/Simon, Die neue Schuldenregel in Deutschland und die Schuldenbremse der Schweiz, Wirtschaftsdienst 2009, S. 269. 233  So schreibt Häflinger in der NZZ am Sonntag vom 10.10.2010: „Tatsächlich ist die Schweiz neben Schweden das einzige Land Europas, das seine Verschuldung trotz der Krise reduzieren konnte – seit 2005 von 53 auf 40 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP).“, Häflinger, Schuldenbremse wird zum Exportschlager, NZZ am Sonntag, online unter http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/schweiz/schulden bremse_wird_zum_exportschlager_1.7928192.html (abgerufen am 8.4.2017). 234  Siehe Häflinger, Schuldenbremse wird zum Exportschlager, NZZ am Sonntag, 10.10.2010, online unter http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/schweiz/schuldenbrem se_wird_zum_exportschlager_1.7928192.html (abgerufen am 8.4.2017). Zu der Frage, ob die Schweizer Schuldenbremse als Beispiel für Deutschland dient, vgl. Feld/ Baskaran, Das Schweizer Modell des fiskalischen Föderalismus, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.), Der Föderalstaat nach dem Berlin-Urteil, 2007, S. 105 (125 ff.).

Zweiter Teil

Europäische Vorgaben A. Das Regelungsregime der Europäischen Union zur Begrenzung der Staatsverschuldung I. Rechtsrahmen und Regelungssystematik im Überblick Das nationale Staatsschuldenrecht wird seit dem Vertrag von Maastricht – mit der Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion – und insbesondere seit dem 1997 geschlossenen Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt durch Vorgaben des Europäischen Unionsrechts maßgeblich ergänzt. Diese setzen sich zusammen aus Primärrecht (Art. 126 AEUV [ex-104 EGV], Art. 121 AEUV [ex-99 EGV])1 in Verbindung mit dem Protokoll Nr. 12 (vormals Nr. 20),2 aus konkretisierendem Sekundärrecht3 (insbesondere VO  1466 / 974 und VO  1467 / 975), das zusammen mit einer Entschließung 1  Für Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, regelt Art. 136 AEUV zudem die Koordinierung und Überwachung der Haushaltsdisziplin sowie die Ausarbeitung gemeinsamer Grundzüge der Wirtschaftspolitik. 2  Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union – Protokoll (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, Abl. Nr. C  115 v. 9.5.2008, S. 279; ergänzt durch VO  479/2009 über die Anwendung des dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beigefügten Protokolls über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, Abl. Nr. L 145 v. 10.6.2009, S. 1. 3  VO  1173/2011 über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet, Abl. Nr. L 306, v. 23.11.2011, S. 1; Richtlinie 2011/85/EU v. 8.11.2011 über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten, Abl. Nr. L 306, v. 23.11.2011, S. 41. Der Stabilitätsund Wachstumspakt im engeren Sinne wird seit 2011 ergänzt durch Verordnungen zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte: VO  1174/2011, Abl. Nr. L 306, v. 23.11.2011, S. 8 und VO  1176/2011, Abl. 306, v. 23.11.2011, S. 25. 4  Die Verordnung ist die Grundlage der präventiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes: Verordnung über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, Abl. Nr. L  209 v. 2.8.1997, S. 1; geändert durch die VO 1055/2005, Abl. Nr. L 174, v. 7.7.2005, S. 1; zuletzt geändert durch VO 1175/2011, Abl. Nr. L 306, v. 23.11.2011, S. 12.



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung67

des Europäischen Rates6 den Stabilitäts- und Wachstumspakt bildet, sowie weiteren Vorschriften des sogenannten „soft law“.7 Die ursprüngliche Fassung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes von 1997 wurde zweimal novelliert, erstmals 20058 sowie 2011 durch das sogenannte Six-Pack,9 als Reaktion auf die jüngste europäische Staatsschuldenkrise. Für Mitgliedstaaten im Euro-Währungsgebiet verstärken zudem die Verordnungen des sogenannten Two-Pack vom 21. Mai 2013 die haushaltspolitische Überwachung und Koordinierung sowie die Korrektur übermäßiger Defizite.10 Dieser unionsrechtliche Rahmen wird durch weitere Regelungen ergänzt. Der im völkerrechtlichen Vertrag über die Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (VSKS) enthaltene Fiskalpakt (Titel III, VSKS) verpflichtet die Vertragsparteien,11 nationale 5  Die Verordnung ist die Grundlage der korrektiven Komponente des Stabilitätsund Wachstumspaktes: Verordnung über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, Abl. Nr. L 209 v. 2.8.1997, S. 6; geändert durch die VO  1056/2005, Abl. Nr. L 174, v. 7.7.2005, S. 5; zuletzt geändert durch VO  1177/2011, Abl. Nr. L 306, v. 23.11.2011, S. 33. 6  Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 17. Juni 1997, Abl. Nr. C 236 v. 2.8.1997, S. 1. 7  Hierzu zählen u. a. der Bericht des Rates (ECOFIN) über die Verbesserung der Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes vom 20.3.2005, Dokument 7423/5/05 sowie der Code of Conduct „Specifications on the implementation of the Stability and Growth Pact and guidelines on the format and content of stability and convergence programmes“, beschlossen vom ECOFIN Rat am 3.9.2012 (erstmals vom ECOFIN beschlossen am 7.9.2010, siehe http://ec.europa.eu/economy_finance/ economic_governance/sgp/pdf/coc/2010-09-07_code_of_conduct_(consolidated)_ en.pdf [abgerufen am 8.4.2017]). Einen Überblick bietet die Internetseite der Europäischen Kommisison: http://ec.europa.eu/economy_finance/economic_governance/ sgp/legal_texts/index_en.htm (abgerufen am 8.4.2017). 8  Siehe oben Fußnoten 4 und 5. 9  Siehe oben Fußnoten 3 bis 5. 10  Die Two-Pack-Verordnungen beruhen auf Art. 136 i. V. m. Art. 121 Abs. 6 AEUV: VO  472/2013 über den Ausbau der wirtschafts- und haushaltspolitischen Überwachung von Mitgliedstaaten im Euro-Währungsgebiet, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind, Abl. Nr. L 140 v. 27.5.2013, S. 1 und VO  473/2013 über gemeinsame Bestimmungen für die Überwachung und Bewertung der Übersichten über die Haushaltsplanung und für die Gewährleistung der Korrektur übermäßiger Defizite der Mitgliedstaaten im Euro-Währungsgebiet, Abl. Nr. L 140 v. 27.5.2013, S. 11. Siehe auch die begleitende Regelung des Code of Conduct „Specifications on the implementation of the Two Pack“ beschlossen vom ECOFIN-Rat am 9.7.2013 sowie die Mitteilung der Kommission, „Harmonisierter Rahmen für die Übersichten über die Haushaltsplanung und die Berichte über die Emission von Schuldtiteln im Euro-Währungsgebiet“, COM (2013) 490 final vom 27.06.2013. 11  Der Vertrag wurde von 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union am 2. März 2012 unterzeichnet. Großbritannien und die Tschechische Republik sind keine Vertragsparteien. Kroatien hat den Vertrag bislang nicht ratifiziert.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

Schuldenbremsen einzuführen, die Wirksamkeit des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu erhöhen sowie die wirtschaftspolitische Koordinierung und Steuerung zu stärken.12 Die Vorgaben des Paktes sollen zwar innerhalb von fünf Jahren nach Inkrafttreten in den Rechtsrahmen der Europäischen Union überführt werden, sind aber bis dahin als eigenständiger völkerrechtlicher Vertrag zu bewerten und zu analysieren.13 Des Weiteren haben sich die Mitgliedstaaten des Euroraumes sowie Bulgarien, Dänemark, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien im Euro-Plus-Pakt vom 25. März 2011 darauf geeinigt, die wirtschaftliche Säule der Währungsunion zu stärken und einen höheren Grad an Konvergenz zu erreichen.14 Der völkerrechtliche EuroPlus-Pakt enthält im Kern politische Absichtserklärungen der Staats- und Regierungschefs, die im Lichte des zeitgleich beschlossenen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu sehen sind. Das Verschuldungsrecht der Europäischen Union zeichnet sich durch eine ausgesprochen unübersichtliche Struktur aus, die Analysen der materiellen Maßstäbe und des Verfahrens erschwert. Ausgangspunkt des europäi­ schen Primärrechts ist die Pflicht der Mitgliedstaaten, übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden (Art. 126 Abs. 1 AEUV).15 Dieser zentrale Maßstab wird näher bestimmt durch Referenzwerte zum Schuldenstand und zum jährlichen Finanzierungsdefizit (Art. 126 Abs. 2 S. 2 AEUV) sowie durch Ausnahmeregelungen zu beiden Kriterien.16 Bereits eingebettet in verfahrensrechtliche Regelungen zum Überwachungs- und Defizitverfahren, etabliert Art. 126 Abs. 3 S. 2 AEUV weitere Maßstäbe: zum einen das Verhältnis von Investitionsausgaben und jährlichem Finanzierungsdefizit,17 zum anderen „alle sonstigen einschlägigen Faktoren.“18 Aus den primärrechtlichen Vorgaben zum Verfahren der multilateralen Überwachung (Art. 121 Abs. 3 und 4 AEUV) ergeben sich keine eigenständigen verschuldungsrechtlichen Maßstäbe. Europäisches Parlament und Rat können die Einzelheiten des Verfahrens durch eine Verordnung regeln (Art. 121 Abs. 6 AEUV).19 12  Siehe Art. 1 Abs. 1 VSKS. Gestützt auf Art. 3 Abs. 2 VSKS hat die Kommission zudem „gemeinsame Grundsätze für nationale fiskalpolitische Korrekturmechanismen“ vorgelegt: COM (2012) 342 final vom 20.06.2012. 13  Siehe unten Abschnitt B.I. 14  Siehe Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 24./25.  März 2011, EUCO 10/1/11, Anlage I, S. 13. Siehe unten Abschnitt B.II. 15  Siehe unten Abschnitt A.II.1. 16  Die primärrechtlich so vorgezeichneten Maßstäbe werden durch Sekundärrecht konkretisiert, siehe oben Fußnoten 4 und 5. 17  Siehe unten Abschnitt A.II.2. 18  Siehe unten Abschnitt A.II.3. 19  Siehe unten Abschnitt A.IV.1.



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung69

Die Maßstäbe des Lissabonner Vertrages (AEUV) werden um sekundärrechtliche (Ziel-)Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ergänzt. Im Mittelpunkt steht hier die Anforderung eines mittelfristig nahezu ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushaltes (Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“).20 Die Mitgliedstaaten dürfen jedoch in einem vorgegebenen Rahmen davon abweichen. Sie setzen sich differenzierte, länderspezifische mittelfristige Haushaltsziele, die bestimmten Anforderungen genügen müssen (Art. 2a VO  1466 / 97).21 Die Mitgliedstaaten müssen zudem alljährlich Stabilitäts- beziehungsweise Konsolidierungsprogramme mit konkreten wirtschaftspolitischen Angaben vorlegen (Art. 3 und 7 VO  1466 / 97). Diese bilden eine wesentliche Grundlage für den Maßstab der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen.22 Die Six-PackReformen von 2011 haben die grundsätzlichen Maßstäbe des Stabilitäts- und Wachstumspaktes i. d. F. von 2005 nicht geändert, sondern lediglich in wenigen Punkten akzentuiert.23 Weitere Maßstäbe, die allerdings nur am Rande staatsschuldenrechtlich relevant sind, ergeben sich aus den ebenfalls 2011 eingeführten Verordnungen zur makroökonomischen Überwachung.24 An diese vielschichtige Maßstabssystematik knüpfen überaus komplexe Verfahren zur prozeduralen Absicherung an. Den Kern bilden das Überwachungsverfahren als präventive Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes25 und das mehrstufige Defizit- und Sanktionsverfahren von Kommission und Rat als korrektive Komponente.26 Im Gegensatz zur materiel20  Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstums­ pakt vom 17. Juni 1997, Abl. C 236 vom 02.08.1997, S. 1; Art. 2a sowie Erwägungsgrund (2), (4) und (15) VO 1466/97; Erwägungsgrund (3) und (7) VO 1467/97. Siehe hierzu ausführlich Abschnitt A.III.1. 21  Siehe unten Abschnitt A.III.2. 22  Art. 2a, Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 VO  1466/97, siehe hierzu unten Abschnitt A.III.3. Aus den Konvergenzkriterien zur Einführung des Euro (Art. 140 Abs. 1 S. 3 Spiegelstr. 2 AEUV [ex-121 EGV]) folgt ebenfalls die Forderung einer dauerhaft tragbaren Finanzlage der öffentlichen Hand. 23  Dies gilt beispielsweise für die „sonstigen einschlägigen Faktoren“ des Art. 126 Abs. 3 AEUV oder für das Schuldenstandskriterium. 24  Siehe VO  1174/2011, Abl. Nr. L 306, v. 23.11.2011, S. 8 und VO  1176/2011, Abl. Nr. L 306, v. 23.11.2011, S. 25. Um makroökonomische Ungleichgewichte in der Europäischen Union erkennen zu können, entwickelt die Kommission ein Scoreboard, das sich aus „einschlägigen, praktischen, einfachen, messbaren und verfügbaren makroökonomischen und mikrofinanziellen Indikatoren“ (Art.  4 Abs.  2 VO 1176/2011) zusammensetzt. Hierzu zählen auch Indikatoren der öffentlichen und privaten Verschuldung. Sie sind jedoch nicht eindeutig festgelegt, stehen neben zahlreichen weiteren Indikatoren und sind daher staatsschuldenrechtlich eher unbedeutend. 25  Siehe unten Abschnitt A.IV.1. 26  Siehe unten Abschnitt A.IV.2.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

len Maßstabssystematik sind die prozeduralen Elemente durch die Reformen von 2011 stärker überarbeitet und erweitert worden. Für die Eurostaaten ist nunmehr auch das präventive Verfahren sanktionsbewehrt und die korrektiven Sanktionen können früher greifen. Zudem stärkt der reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt die Rolle der Kommission.27 Zur engeren Abstimmung der Organe der Europäischen Union, insbesondere zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission, wird ein institutionalisierter wirtschaftlicher Dialog eingerichtet.28 Dieser räumt dem Europäischen Parlament das Recht ein, gemeinsam mit anderen Organen die aktuellen Verfahrensschritte des Stabilitäts- und Wachstumspaktes sowie die Grundzüge der Wirtschaftspolitik zu erörtern. Auf diese Weise soll ein höheres Maß an Transparenz und Rechenschaftspflicht gewährleistet werden. Um die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten besser zu koordinieren, regelt der reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt das sogenannte Europäische Semester (Art. 2-a VO  1466 / 97).29 Es bindet die zahlreichen Berichte, Stellungnahmen und Empfehlungen der Mitgliedstaaten und europäischen Organe in einen verbindlichen Jahresplan („Zyklus der Politiküberwachung und -koordinierung“)30 ein, um einen klaren und umfassenden Überblick über die wirtschaftspolitische Situation in der EU zu gewinnen.31 Das Europäische Semester regelt zudem die Übermittlung und Überwachung der Stabilitäts- und Konvergenzprogramme sowie die von den Mitgliedstaaten zu berücksichtigenden beschäftigungs-, wirtschafts- und haushaltspolitischen Leitlinien. Werden diese vom Rat entwickelten Leitlinien ignoriert, droht dem betreffenden Mitgliedstaat eine Verwarnung durch die Kommis27  Seit der Reform 2011 darf die Kommission zur Kontrolle der Mitgliedstaaten Überwachungsbesuche vor Ort durchführen (Art. 10a VO  1467/97). Zudem gelten einige Sanktionsbeschlüsse als vom Rat angenommen, wenn dieser nicht innerhalb einer bestimmten Frist widerspricht. Siehe hierzu unten Abschnitt A.IV.2.b). und Abschnitt A.V.2. 28  Siehe Art. 2-ab VO  1466/97, Art. 2a VO  1467/97, Art. 3 VO  1173/2011  und Art. 6 VO  1174/2011. Der wirtschaftliche Dialog ist Teil  der wirtschaftlichen Koordinierung gemäß Art. 121 AEUV. 29  Das Europäische Semester wird nunmehr rechtsverbindlich geregelt. Es ist bereits ein Element der politischen „Europa 2020-Strategie“ und wurde vom Rat am 7. September 2010 im code of conduct „Specifications on the implementation of the Stability and Growth Pact and guidelines on the format and content of stability and convergence programmes“ umgesetzt. Siehe Rat der EU, 13161/10, S. 6, http://www. consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ecofin/116506.pdf (abgerufen am 8.4.2017). 30  Erwägungsgrund (14) VO 1175/2011. 31  Siehe hierzu auch MEMO/13/318 der Europäischen Kommission vom 10.04.2013, S.  6 f.



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung71

sion gemäß Art. 121 Abs. 4 AEUV. Zudem müssen die haushaltspolitischen Rahmen32 der Mitgliedstaaten den in der Richtlinie 2011 / 85 / EU formulierten Anforderungen genügen, insbesondere im Hinblick auf das öffentliche Rechnungswesen, die Erstellung makroökonomischer Prognosen, die mittelfristige Finanzplanung, Transparenz und länderspezifische numerische Haushaltsregeln.

II. Primärrechtliche Maßstäbe des Unionsrechts zur Begrenzung der Staatsverschuldung 1. Pflicht zur Vermeidung eines übermäßigen öffentlichen Defizits a) Begriffsklärung Der Begriff des übermäßigen öffentlichen Defizits in Abs. 1 nimmt eine zentrale Stellung in Art. 126 AEUV ein. Vermeiden die Mitgliedstaaten ein übermäßiges öffentliches Defizit, so erfüllen sie ihre Pflicht zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin (Art. 126 Abs. 2 S. 2 AEUV). Beide Formulierungen sind hinsichtlich ihrer normativen Aussage deckungsgleich und können daher in diesem Zusammenhang synonym verwendet werden.33 Während das Adjektiv „öffentlich“ unzweifelhaft34 den gesamten Staatssektor einschließlich der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften und Sozialversicherungseinrichtungen35 definiert, gilt es zu prüfen, ob der Begriff „Defizit“ in Art. 126 AEUV einheitlich verwendet wird oder ob man zwischen den Begriffen „Defizit“ und „übermäßiges Defizit“ unterscheiden muss. Die Definition in Art. 2 des Protokolls (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit36 lässt vermuten, dass unter einem Defizit in 32  Der „haushaltspolitische Rahmen“ ist die Gesamtheit der Regelungen, Verfahren und Institutionen, die die Grundlage für die Durchführung der Haushaltspolitik des Staates bilden. Siehe Art. 2 UAbs. 2 RiLi  2011/85/EU. 33  Siehe Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2002, S. 83; Herdegen, Europarecht, 2014, S. 406. 34  Siehe Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2002, S. 81 f. 35  Zum öffentlichen Defizit im Sinne des Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen gehören auch Kreditaufnahmen von staatlich kontrollierten Organisationen ohne Erwerbszweck. Kommerzielle Transaktionen sind hiervon ausgenommen. Siehe Europäische Kommission (Hrsg.), Europäisches System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung (ESVG 2010), 2014, S. 480  ff. (Rn. 20.09 und 20.12) sowie Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 2008, S. 332. 36  Art. 2 des Protokolls (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (Abl. Nr. C 115 v. 9.5.2008, S. 279) definiert den Begriff des „Defizits“ in den

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2. Teil: Europäische Vorgaben

Art. 126 AEUV stets allein das jährliche Finanzierungsdefizit des Staates37 zu verstehen ist. Aus der Systematik des Art. 126 AEUV ergibt sich jedoch, dass dies nur für das (einfache) Defizit, ohne den Zusatz „übermäßig“, gilt (Art. 126 Abs. 2 lit. a und Abs. 3 S. 2 AEUV). Sobald der AEUV den Begriff „übermäßiges Defizit“ verwendet, bezieht er sich auf eine umfassende Haushaltsdisziplin und Stabilitätspolitik, nicht nur auf das jährliche Finanzierungsdefizit. Denn Kommission und Rat berücksichtigen mehrere Faktoren, um ein übermäßiges Defizit festzustellen. Sie entscheiden anhand des jährlichen Finanzierungsdefizits, des Schuldenstandes und – gemäß Art. 126 Abs. 6 AEUV – „nach Prüfung der Gesamtlage, ob ein übermäßiges Defizit besteht“. Die Analyse eines übermäßigen Defizits geht also weit über das bloße jährliche Finanzierungsdefizit hinaus. Hierfür spricht auch Art. 140 Abs. 1 Spiegelstr. 2 AEUV (Konvergenzkriterien), der mit Verweis auf das übermäßige Defizit in Artikel 126 Abs. 6 AEUV „eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand“ fordert. Insbesondere die langfristige Tragfähigkeit lässt sich nicht anhand des jährlichen Finanzierungsdefizits bewerten. Ein Defizit ist übermäßig, wenn mehrere Indikatoren (u. a. Schuldenstand und Gesamtlage) darauf hindeuten. Dem einfachen Defizit (d. h. dem jährlichen Finanzierungsdefizit) wird hier keine Sonderstellung eingeräumt, da der Charakter des Art. 126 AEUV auf eine umfassende Haushaltsdisziplin abzielt, die insbesondere auch den Schuldenstand umfasst. Denn im Falle eines extrem hohen Schuldenstandes (beispielsweise 100 % des BIP), der nicht durch Ausnahmetatbestände zu rechtfertigen ist, liegt auch bei einem ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushaltssaldo ein „übermäßiges Defizit“ vor.38 Im Ergebnis muss man zwischen dem einfachen Defizit und dem übermäßigen Defizit unterscheiden. Das übermäßige (öffentliche) Defizit in Art. 126 Abs. 1 AEUV und daraus folgend in den Abs. 3 S. 3, Abs. 5 bis 7 und Abs. 12 beschreibt eine grundlegende Haushaltsdisziplin, deren EinhalArt. 126 Abs. 2 lit. a und Abs. 3 S. 2 AEUV als Finanzierungsdefizit im Sinne des Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen. Siehe Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 2008, S. 331. 37  Das jährliche Finanzierungsdefizit entspricht dem Finanzierungssaldo mit negativem Vorzeichen, d. h. die Ausgaben übersteigen die Einnahmen des Staates. 38  Wie hier Herdegen, Europarecht, 2014, S. 407  f.; Häde, Art. 104 EGV, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EGV-Kommentar, 2007, Rn. 15 ff.; Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 226 und Hartmann, Europäische Union und Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994, S. 64 ff. A. A. Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2002, S. 79 ff. und Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 2008, S. 330 f.



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung73

tung mittels unterschiedlicher Kriterien (Finanzierungsdefizit, Schuldenstand, Gesamtlage) geprüft wird. Das einfache Defizit in Art. 126 Abs. 2 und Abs. 3 S. 2 AEUV39 bezeichnet demgegenüber ausschließlich das jährliche Finanzierungsdefizit.40 b) Die konkreten Referenzkriterien Die zwei wesentlichen Referenzkriterien zur Bestimmung eines übermäßigen Defizits sind gemäß Art. 126 Abs. 2 S. 2 AEUV das jährliche öffentliche Finanzierungsdefizit (lit. a) und der öffentliche Schuldenstand (lit. b), jeweils im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt. Beide Schwellenwerte werden in Art. 1 des Protokolls Nr. 12 über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit festgelegt41 und nach dem Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG 2010) berechnet.42 Der Schwellenwert für das jährliche Defizit des öffentlichen Gesamthaushaltes beträgt hiernach 3 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Für den gesamtstaatlichen Schuldenstand gilt der Referenzwert von 60 % des Bruttoinlandsprodukts. c) Ausnahmen beim Kriterium des jährlichen Finanzierungsdefizits Eine Überschreitung der Referenzwerte bedeutet jedoch nicht zwangsläufig einen Verstoß gegen die Haushaltsdisziplin, da für beide Referenzkriterien Ausnahmen gelten. Für das jährliche Finanzierungsdefizit sieht Art. 126 Abs. 2 S. 2 lit. a AEUV sogar zwei alternative Ausnahmetatbestände vor. Ein jährliches Finanzierungsdefizit über dem Schwellenwert von 3 % des BIP ist zulässig, wenn das Defizit entweder erheblich und laufend zurückgegangen ist und einen Wert in der Nähe des Referenzwertes erreicht hat (1. Alternative) oder es nur ausnahmsweise und vorübergehend überschritten 39  Hier wird das Finanzierungsdefizit in Bezug zu den Investitionsausgaben gesetzt. Siehe unten Abschnitt A.II.2. 40  Im Folgenden wird der Begriff des übermäßigen Defizits im hier beschriebenen Sinne verwendet; das jährliche Finanzierungsdefizit wird jeweils als solches bezeichnet. 41  Abl. Nr. C  191/84 vom 29.7.1992, konsolidiert in Abl. Nr. C  83/279 vom 30.3.2010. 42  VO 549/2013 vom 21.  Mai 2013 zum Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen auf nationaler und regionaler Ebene in der Europäischen Union, Abl. Nr. L 174 vom 26.6.2013, S. 1 ff. Siehe hierzu Statistisches Bundesamt, Generalrevision 2014: Methodische Weiterentwicklung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, 2014 und Braakmann, Revidierte Konzepte für Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Wirtschaft und Statistik 8/2013, S. 521. Das ESVG 2010 löst seinen Vorgänger ESVG 1995 ab.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

worden ist und sich darüber hinaus in der Nähe der 3 %-Grenze befindet (2. Alternative). Für die zwei Alternativen gilt, dass jeweils beide Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen. Der erste Ausnahmetatbestand berücksichtigt insbesondere, dass sich ein sehr hohes Finanzierungsdefizit in der Regel nicht unmittelbar beseitigen lässt. Der Beurteilungsspielraum der Kommission und des Rates, ob der laufende Rückgang des Defizits ausreichend ist, wird insoweit eingeschränkt, dass die Nähe zum Referenzwert absolut, also für alle Mitgliedstaaten gleich und unabhängig von der jeweiligen Ausgangslage, gegeben sein muss.43 Insbesondere für Mitgliedstaaten, die die Konvergenzkriterien des Art. 140 Abs. 1 AEUV (ex-Art. 121 EGV) zur Einführung des Euro erfüllt haben,44 sollte die zweite Alternative regelmäßig von größerer Relevanz sein.45 Art. 2 Abs. 1 VO 1467 / 97 bestimmt näher, wann der Referenzwert von 3 % jährlichem Finanzierungsdefizit „ausnahmsweise“ und „vorübergehend“ im Sinne von Art. 126 Abs. 2 lit. a Spiegelstr. 2 AEUV, überschritten ist, wobei Unterabsatz 1 das Tatbestandsmerkmal „ausnahmsweise“ und Unterabsatz 2 das Merkmal „vorübergehend“ definiert.46 Der Referenzwert ist „ausnahmsweise“ überschritten, wenn dies entweder auf ein außergewöhnliches Ereignis, das sich der Kontrolle des betreffenden Mitgliedstaates entzieht und die Lage der öffentlichen Finanzen erheblich beeinträchtigt,47 oder auf 43  Vgl. Häde, Art. 104 EGV, in: EGV-Kommentar, Calliess/Ruffert (Hrsg.), 2007, Rn.  36 f. 44  In Bezug auf die Schuldenstandsquote (siehe unten Abschnitt A.II.1.e)) wurden die Konvergenzkriterien allerdings nicht strikt angewendet: Dem Rat genügte, dass Belgien seine Schuldenstandsquote von 135,2 % im Jahr 1993 auf 122,2 % im Jahr 1997 reduziert hatte; gleiches gilt für Italien, das im Zeitraum von 1994 bis 1997 die Quote von 124,9 % auf 121,6 % gesenkt hatte. Vgl. Kempen, Art. 126 AEUV, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 2012, Rn. 21. Bei der Einführung des Euros haben lediglich Finnland und Luxemburg die Konvergenzkriterien im Referenzjahr 1997 erfüllt. Vgl. Deutsche Bundesbank, Stellungnahme des Zentralbankrates zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, Monatsbericht April 1998, S. 17 ff. 45  Die erste Ausnahmeoption bezieht sich auf den ersten Blick „vor allem auf Mitgliedstaaten, die die gemeinsame Währung noch nicht eingeführt haben“, so Häde, Art. 104 EGV, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EGV-Kommentar, 2007, Rn. 36. Die Erfahrung der andauernden Finanz- und Staatsschuldenkrise in der Europäischen Union seit 2008 zeigt jedoch, dass durchaus auch Mitgliedstaaten, die den Euro eingeführt haben, hiervon betroffen sein können. Vgl. hierzu die Entwicklung der Finanzierungsdefizite in den Mitgliedstaaten der EU: https://www.destatis.de/DE/ ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/VGR/EUStabilitaetspakt/Tabellen/Defizitquo teEU.html (abgerufen am 8.4.2017). 46  Siehe Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2002, S. 89. 47  Diese Formulierung findet sich auch in der der deutschen Schuldenbremse wieder. Siehe unten 3. Teil Abschnitt B.V.



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung75

einen schwerwiegenden Wirtschaftsabschwung zurückzuführen ist. Die Auslegung anhand des Wortlauts („oder“) ergibt, dass es zwei mögliche Alternativen für die Ausnahme gibt:48 entweder einen „schwerwiegenden Wirtschaftsabschwung“ oder ein „außergewöhnliches Ereignis“. Die Voraussetzungen, nach denen die Kommission und der Rat einen schwerwiegenden Wirtschaftsabschwung im Sinne des Art. 2 Abs. 1 UAbs. 1 VO 1467 / 97 annehmen können, werden in Abs. 2 näher geregelt. Diese sind erfüllt, wenn der Referenzwert auf Grund einer negativen jährlichen Wachstumsrate des BIP-Volumens oder eines Produktionsrückstandes über einen längeren Zeitraum mit einem, am Potenzial gemessen, äußerst geringen jährlichen Wachstum des BIP-Volumens überschritten wird.49 Eine negative Wachstumsrate des BIP bedeutet eine tatsächliche Rezession, in der die volkswirtschaftliche Gesamtleistung schrumpft. Ein Produktionsrückstand drückt sich darin aus, dass das mögliche Wachstum (Produktionspotential) nicht ausgeschöpft wird.50 Die Hürde für eine Ausnahmeregelung ist eher niedrig: Selbst eine geringe positive Wachstumsrate, die über einen längeren Zeitraum unter dem Wachstumstrend verläuft, kann als schwerwiegender Wirtschaftsabschwung bewertet werden.51 Die zweite Alternative der Ausnahmeregelung (außergewöhnliches Ereignis) wird in der Verordnung nicht näher definiert. Damit ist insbesondere unklar, wann sich ein Ereignis der Kontrolle des Staates entzieht. Der Begriff der staatlichen Kontrolle ist jedenfalls weit auszulegen, denn unmittelbare und umfassende staatliche Kontrolle ist nur in seltenen Fällen gegeben. Dies gilt erst recht in einem freien und marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem. Dennoch übt der Staat mit seinem exekutiven und legislativen Handeln erhebliche mittelbare Kontrolle aus. Diese ist für die Bewertung 48  A. A. Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2002, S. 90 ff., der argumentiert, dass der „schwerwiegende Wirtschaftsabschwung“ ein Unterfall des „außergewöhnlichen Ereignisses“ ist. Diese abweichende Interpretation vermag hier jedoch nicht zu überzeugen. Zwar könnte ein schwerwiegender Wirtschaftsabschwung, der in der ursprünglichen Fassung der VO  1467/97 einem Rückgang des realen BIP von mindestens 2 % entsprechen musste (siehe unten Abschnitt A.II.1.d).), auch als außergewöhnliches Ereignis angesehen werden. Daraus ist jedoch nicht abzuleiten, dass ein schwerwiegender Wirtschaftsabschwung ein Unterfall oder gar das „Regelbeispiel“ eines außergewöhnlichen Ereignisses ist, wie von Konow (S. 93) behauptet. 49  Auch den Maßstab des Produktionspotentials greift die deutsche Schuldenbremse auf. Vgl. unten 3. Teil Abschnitt B.III. und 4. Teil Abschnitt A.II. 50  Siehe unten 4. Teil Abschnitt A.II.2.b). 51  Vgl. hierzu Schmidt, Die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes: Missglücktes Konstrukt und/oder Politikversagen?,  2008,  http://www.wipo.uni-freiburg. de/dateien/tagungen/reformen/swpandre_schmidt_freiburg_2008.pdf (abgerufen am 8.4.2017), S. 11.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

des Ereignisses ausschlaggebend. Der Staat darf nicht in der Lage sein, durch sein Handeln das Ereignis und seine Auswirkungen zu beeinflussen oder gar abzuwehren.52 Eine strikte Auslegung lässt sich auch rechtsvergleichend begründen: Konow betont die große Ähnlichkeit des „außergewöhnlichen Ereignisses“ mit dem völkergewohnheitsrechtlichen Rechtfertigungstatbestand des „cas de force majeure“,53 dem in Art. 23 der „Articles on State Responsibility for Internationally Wrongful Acts“54 durch die International Law Commission Ausdruck verliehen wurde. Demnach ist staatliches Handeln, das gegen internationale Verpflichtungen verstößt, nur dann zulässig, wenn es auf Grund unabwendbarer Kräfte oder unvorhersehbarer Ereignisse dem Staat unmöglich ist, völkerrechtskonform zu handeln. Hierbei muss das Ereignis außerhalb der Kontrolle des Staates liegen und er darf es weder durch sein Handeln herbeigeführt noch bewusst das Risiko in Kauf genommen haben, dass diese Situation eintritt. Sowohl dem Ausnahmetatbestand zur Einhaltung der Referenzwerte als auch dem völkergewohnheitsrechtlichen Rechtfertigungstatbestand des „cas de force majeure“ ist gemein, dass sie eine 52  Ein exogener Schock, wie beispielsweise die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009, fällt sicherlich unter den Begriff des außergewöhnlichen Ereignisses, eine schlichte Abschwächung der Volkswirtschaft hingegen nicht. Eine Wirtschaftskrise kann nur dann als außergewöhnliches Ereignis gelten, wenn sie im historischen Vergleich extreme Ausmaße annimmt und die Finanzlage des Staates erheblich beeinträchtigt. Vgl. auch die Positionen von Bundestag und Bundesregierung in dem Verfahren des Bundesverfassungsgerichts zu den 2010 beschlossenen Maßnahmen zur Stabilisierung des Euro (EFSM, EFSF), siehe BVerfGE 129, 124 (151 f. und 158) (EFS). Beide betonen dort, dass die damalige Finanzkrise ein außergwöhnliches Ereignis im Sinne des Art. 122 Abs. 2 AEUV sei. 53  „Article 23 – Force majeure: 1. The wrongfulness of an act of a State not in conformity with an international obligation of that State is precluded if the act is due to force majeure, that is the occurrence of an irresistible force or of an unforeseen event, beyond the control of the State, making it materially impossible in the circumstances to perform the obligation. 2.  Paragraph 1 does not apply if: (a)  the situation of force majeure is due, either alone or in combination with other factors, to the conduct of the State invoking it; or (b)  the State has assumed the risk of that situation occurring.“ Siehe Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2002, S. 94, der jedoch noch auf den Entwurf der International Law Commission verweist. 54  United Nations International Law Commission, Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, Report on the Work of its Fifty-third Session to the General Assembly (UN Document Number A/56/10, 2001).



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung77

unbegründete Regelabweichung verhindern sollen. Eine enge Auslegung erscheint daher geboten: Ein Ereignis entzieht sich der Kontrolle des Staates, wenn dieser es weder vorsätzlich herbeigeführt noch billigend in Kauf genommen hat.55 Die semantische Anknüpfung an den Wortlaut von Art. 122 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 100 Abs. 2 EGV) bestärkt als zusätzlicher Hinweis diese Auslegung.56 Denn nach Art. 122 Abs. 2 AEUV bietet ein außergewöhnliches Ereignis, welches sich der Kontrolle des Staates entzieht, die einzige Rechtfertigung für den finanziellen Beistand der Gemeinschaft und ist auf Grund der systematischen Verbindung mit der no-bail-out Klausel des Art. 125 Abs. 1 AEUV (ex- 103 Abs. 1 EGV) eng auszulegen.57 Das außergewöhnliche, der staatlichen Kontrolle entzogene Ereignis muss außerdem die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen. Denn nicht jegliches (außergewöhnliche) Ereignis rechtfertigt ein höheres Defizit. Sind die finanziellen Auswirkungen des Ereignisses nur von geringem Ausmaß, so ist es dem betroffenen Mitgliedstaat zumutbar, das Finanzierungsdefizit unter 3 % des BIP zu halten. Die Finanzlage muss in solchem Ausmaß beeinträchtigt sein, dass der Staat drastische Steuerausfälle zu verzeichnen hat oder massive Ausgaben tätigen muss und diese nicht durch eine verhältnismäßige Ausgabenkürzung kompensieren kann.58 Während die beiden Alternativen (schwerwiegender Wirtschaftsabschwung und außergewöhnliches Ereignis) das Tatbestandsmerkmal „ausnahmsweise“ umschreiben, ist eine Überschreitung nur dann als „vorübergehend“ einzustufen, wenn die Haushaltsvorausschätzungen der Kommissi55  Siehe Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2002, S. 94. Vgl. hierzu auch Ongena, Art. 104  ΕGV, in: v.  d.  Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 2003, Rn. 17, die betont, dass das Ereignis nicht durch staatliche Entscheidung verursacht worden sein darf. von Lewinski, Öffentlichrechtliche Insolvenz und Staatsbankrott, 2011, S. 284, betont, dass es sich bei der Notlage um eine exogene handeln muss. Der Staat darf die Krise nicht selbst durch zu geringe Einnahmen oder zu hohe Ausgaben selbst verursacht haben. 56  Historische Überlegungen sprechen ebenfalls für eine strenge Auslegung. Das Europäische Parlament wollte in seinen Änderungsvorschlägen zum ursprünglichen Stabilitäts- und Wachstumspakt das Beispiel der Bedrohung der territorialen Integrität als Beispiel für ein außergewöhnliches Ereignis einfügen. Auch wenn der Vorschlag nicht umgesetzt wurde, spricht er für eine strenge Auslegung, da das Europäische Parlament den Pakt nicht allzu strikt ausgestalten wollte. Siehe Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2002, S. 93 f. 57  Siehe Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2002, S. 95 sowie Hattenberger, Art. 122 AEUV, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2012, Rn. 5. 58  Vgl. Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2002, S. 91 f. Ausgabenkürzungen sind wohl verhältnismäßig, wenn sie nicht zu weiteren (schwerwiegenden) Belastungen der Konjunktur führen.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

on darauf hindeuten, dass das Defizit unter den Referenzwert sinken wird, wenn das außergewöhnliche Ereignis nicht mehr vorliegt oder der schwerwiegende Wirtschaftsabschwung beendet ist (Art.  2 Abs.  1 UAbs.  2 VO  1467 / 97). Der Wirtschaftsabschwung oder das Ereignis müssen also ursächlich sein für das erhöhte Defizit. Auf absehbare Zeit darf der Schwellenwert weder überschritten werden noch für längere Zeit um den Referenzwert pendeln.59 Für eine Ausnahme beim Kriterium des Finanzierungdefizits gilt zudem grundsätzlich, dass sich das Defizit in der Nähe des Referenzwertes (3 % des BIP) befinden muss und nicht deutlich von ihm entfernt liegt.60 d) Einschub: Die Ausnahmetatbestände des ursprünglichen Stabilitäts- und Wachstumspaktes von 1997 Bevor der Stabilitäts- und Wachstumspakt 2005 erstmals modifiziert wurde,61 band er die Ausnahmeregelung zum jährlichen Finanzierungsdefizit noch an einen einfacher zu handhabenden Maßstab. Hiernach war der Referenzwert regelmäßig „nur dann ausnahmsweise überschritten, wenn das reale BIP innerhalb eines Jahres um mindestens 2 % zurückgegangen ist.“62 Für diese Ausnahmeregelung galt also ein eindeutig bestimmter Wert. Bei einem geringeren Wirtschaftsabschwung, d. h. einem Rückgang des BIP von weniger als 2 %, ermöglichte der ursprüngliche Stabilitäts- und Wachstums­ pakt es, „weitere relevante Umstände“ zu berücksichtigen.63 Diese waren vom betreffenden Mitgliedstaat aufzuzeigen. Die Mitgliedstaaten haben sich jedoch (politisch) verpflichtet, diese ergänzende Ausnahmeregelung nur im Falle einer schweren Rezession mit einem Rückgang des realen BIP um mindestens 0.75 % als zulässig zu erachten.64 Diese – in der Entschließung 59  So Häde, Art. 104 EGV, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EGV-Kommentar, 2007, Rn. 40. 60  Siehe Häde, Art. 104 EGV, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EGV-Kommentar, 2007, Rn. 41. 61  VO  1056/2005, Abl. Nr. L 174, v. 7.7.2005, S. 5 und VO  1055/2005 Abl. Nr. L 174, v. 7.7.2005, S. 1. Die Reform von 2005 wird regelmäßig als Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes kritisiert, siehe Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 288 (Fn. 876) m. w. N. 62  Art. 2 Abs. 2 VO 1467/97, Abl. Nr. L  209, v. 2.8.1997, S. 6. 63  Hierzu zählten insbesondere ein jäher Abschwung oder ein, gegenüber den vorangegangenen Trends, insgesamt sehr starker Rückgang der Produktion, siehe Art. 2 Abs. 3 VO 1467/97 i. d. F. vom 2.8.1997. 64  Siehe Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt, Abl. Nr. C 236 v. 2.8.1997, Nr. 7 (Mitgliedstaaten), S. 1. Vgl. Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 2008, S. 337.



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung79

des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt – getroffene politische Selbstverpflichtung wurde bislang nicht an die geänderte Rechtslage angepasst.65 Auch wenn die alte Regelung bereits komplex war, gab es immerhin einen fassbaren Maßstab mit drei Intervallschritten für den Rückgang des realen BIP: größer als 2 %, zwischen 2 % und 0,75 % sowie unterhalb von 0,75 %. Mit der Neuregelung wurden demgegenüber die bestehenden Entscheidungs- und Ermessensspielräume deutlich erweitert. Insbesondere kommt im weiteren Verfahren den „sonstigen einschlägigen Faktoren“ nach Art. 126 Abs. 3 AEUV nun eine gestiegene Bedeutung zu.66 e) Ausnahmen beim Kriterium des Schuldenstandes Für das Schuldenstandskriterium (60 % des BIP) gilt eine Ausnahmeregelung, wenn der öffentliche Schuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nähert (Art. 126 Abs. 2 lit. b AEUV). Der Stabilitäts- und Wachstumspakt konkretisiert die Ausnahmeregelung seit seiner Novellierung 2011. Der neu eingefügte Absatz  1a in Art. 2 VO  1467 / 97 benennt erstmals einen numerischen Maßstab, den sogenannten Schuldenquotenanpassungsrichtwert. Hiernach „kann davon ausgegangen werden, [dass die Ausnahmebedingung erfüllt ist,] wenn sich als Richtwert der Abstand zum Referenzwert in den letzten drei Jahren jährlich durchschnittlich um ein Zwanzigstel verringert hat.“ Maßgeblich hierfür sind entweder die letzten drei Jahre, für die die Angaben verfügbar sind, oder das letzte Jahr, für das Daten vorhanden sind, in Verbindung mit den Haushaltsvorausschätzungen der Kommission für die darauffolgenden zwei Jahre. Zusammengefasst bedeutet dies, dass die Differenz zum Schwellenwert von 60 % innerhalb eines dreijährigen Zeitraumes 65  Es ist fraglich, ob sich die Mitgliedstaaten mit der Änderung der VO  1467/97 im Jahre 2005 weiter an diese politische Selbstverpflichtung gebunden fühlen. Unter der alten Rechtslage sollte die Entschließung des Rates ein Überschreiten der Referenzwerte bei einem Rückgang des Wirtschaftswachstums von 2 % bis 0,75 % politisch rechtfertigen. Seit der Neufassung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes 2005 erlaubt Art. 2 Abs. 2 VO  1467/97 jedoch bereits bei jeglicher negativer Wachstumsrate eine Überschreitung des Referenzwertes. Würden die Mitgliedstaaten die Entschließung des Rates und die damit verbundene politische Selbstbindung unverändert beachten, würden die Hürden für die Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung erhöht (Rückgang des realen BIP um mindestens 0,75 %), siehe Abl. Nr. C 236 v. 2.8.1997, Nr. 7 (Mitgliedstaaten), S. 1. 66  Siehe unten Abschnitt A.II.3. Zudem erlaubt der reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt eine Abweichung vom Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“. Siehe unten Abschnitt A.III.2.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

um jährlich durchschnittlich ca. 5 % sinken muss.67 Bei der Anwendung des Schuldenquotenanpassungsrichtwerts soll zudem der Einfluss der Konjunktur auf das Tempo des Schuldenabbaus berücksichtigt werden.68 In Zeiten schwacher Konjunktur darf das Abbautempo demnach geringer ausfallen, die Schuldenquote jedoch nicht erhöht werden. Im Zuge des Defizitverfahrens nach Art. 126 Abs. 3 bis 6 AEUV69 wird die Ausnahmeregelung allerdings zusätzlich erweitert. Kommission und Rat berücksichtigen gemäß Art. 2 Abs. 3 VO  1467 / 97 alle einschlägigen und sonstigen Faktoren,70 welche den jeweiligen Mitgliedstaat in erheblichem Maße betreffen. Hierbei sind gemäß Erwägungsgrund 14 der VO  1467 / 97 insbesondere „die Auswirkungen des Konjunkturzyklus und die Zusammensetzung der Bestandsanpassungen auf die Schuldenentwicklung ausreichend, um zu vermeiden, dass das Vorliegen eines übermäßigen Defizits auf der Grundlage des Schuldenstandskriteriums festgestellt wird.“ Für Mitgliedstaaten, gegen die zum Zeitpunkt der Neuregelung (8. November 2011) ein Verfahren wegen eines übermäßigen Defizits läuft, gilt eine zusätzliche Übergangfrist von drei Jahren ab der Korrektur des Defizits.71 Stellt der Rat anhand des jeweiligen Stabilitäts- und Konvergenzprogrammes genügend Fortschritte bei der Einhaltung des Schuldenstandskriteriums fest, gilt es als erfüllt. Grundsätzlich muss der Schuldenstand hierbei deutlich und anhaltend reduziert werden und sich in einem überschaubaren Zeithorizont dem Referenzwert nähern. Für Mitgliedstaaten mit einer relativ hohen Schuldenstandsquote bedeutet dies regelmäßig, dass das jährliche Finanzierungsdefizit deutlich unter 3 % des BIP liegen muss.72 67  Der Sachverständigenrat weist darauf hin, dass sich die Verbesserung um ein Zwanzigstel nicht auf die Differenz zwischen einem einmalig berechneten Ausgangswert und dem Zielwert bezieht, sondern auf die Differenz zwischen dem aktuellen Wert in jedem einzelnen Jahr und dem Zielwert, so dass der Schuldenabbau im Zeitablauf immer geringer wird. Sie strebt damit nach 20 Jahren nicht genau gegen den Wert von 60 %. Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2012/13, Rn. 206. 68  Art. 2 Abs. 1a UAbs. 3 VO  1467/97. 69  Siehe unten Abschnitt A.IV. 70  Siehe unten Abschnitt A.II.3. Bei den Verfahren nach Art. 126 Abs. 4 bis 6 AEUV werden diese jedoch nur berücksichtigt, wenn das Finanzierungsdefizit nur vorübergehend überschritten ist und in der Nähe des Referenzwertes bleibt (Art. 2 Abs. 4 UAbs. 1 VO  1467/97). 71  Dies betrifft die große Mehrheit der Mitgliedstaaten, auch die Bundesrepublik Deutschland. 72  Siehe Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 2008, S. 338; Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2002, S. 96 ff. Ein Blick auf die Schuldenstandsquoten in den Mitgliedstaaten der EU in den vergangenen Jahren zeigt, dass das Schuldenstandskriterium regelmäßig nicht eingehalten wurde. Siehe oben Einleitung Abschnitt A.



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung81

2. Verhältnis von Investitionsausgaben zum Finanzierungsdefizit Neben den zentralen Kriterien der Schuldenstandsquote und des Finanzierungsdefizits nennt Art. 126 Abs. 3 S. 2 AUEV Investitionsausgaben und sonstige einschlägige Faktoren als weitere Kriterien zur Beurteilung der Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten. Prozedural werden diese im Kommissionsbericht berücksichtigt (Art. 126 Abs. 3 S. 1 AEUV).73 Die Kommission untersucht in ihrem Bericht, „ob das öffentliche Defizit die öffentlichen Ausgaben für Investitionen übertrifft“.74 Damit etabliert der AEUV das Verhältnis von öffentlichem Defizit zu den öffentlichen Investitionsausgaben explizit als Berücksichtigungsmaßstab. Im Einklang mit der „goldenen Regel“, nach der zukunftsbelastenden Krediten zukunftsbegünstigende Investitionen in gleicher Höhe gegenüberstehen sollen, um eine angemessene intertemporale Lastenverteilung zu erreichen, bewertet das europäische Recht kreditfinanzierte Investitionen positiver als kreditfinanzierte Konsumausgaben.75 Der Investitionsbegriff des europäischen Unionsrechts ist jedoch mit der Beschränkung auf Bruttoanlageinvestitionen und dem Herausrechnen von Veräußerungserlösen und weiteren Positionen deutlich enger gefasst als der Investitionsbegriff des Grundgesetzes a. F.76 3. Sonstige einschlägige Faktoren Art. 126 Abs. 3 AEUV enthält einen weiteren, offen gehaltenen Maßstab, der „alle sonstigen einschlägigen Faktoren einschließlich der mittelfristigen Wirtschafts- und Haushaltslage“77 berücksichtigen soll. Die Kommission und der Rat nehmen eine differenzierte Einzelfallprüfung vor, welche die mittelfristige Wirtschaftsentwicklung sowie die mittelfristige Entwicklung des jeweiligen öffentlichen Haushaltes und der Schuldenstandsquote berück73  Siehe

unten Abschnitt A.IV.2.a). Abs. 3 S. 2 Hs. 1 AEUV. 75  Siehe Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 229 f. 76  Siehe Art. 2 Spiegelstr. 2 des Protokolls Nr. 12 des AEUV. Vgl. oben 1. Teil Abschnitt B.II.3. Zu den methodischen Änderungen bezüglich des Investitionsbegriffs durch das neue ESVG 2010 siehe Statistisches Bundesamt, Generalrevision 2014: Methodische Weiterentwicklung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, 2014 und Braakmann, Revidierte Konzepte für Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Wirtschaft und Statistik 8/2013, S. 521. 77  Die „Berücksichtigung einschlägiger Faktoren“ ist insbesondere bei der Prüfung der Gesamtlage, wie sie durch den Rat bei der Feststellung des übermäßigen Defizits nach Art. 126 Abs. 6 AEUV vorgenommen wird, zu beachten. Siehe unten Abschnitt A.IV.2.b). 74  Art. 126

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2. Teil: Europäische Vorgaben

sichtigt. Mit der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes 200578 wurden diese Faktoren in Art. 2 Abs. 3 VO  1467 / 97 erstmals ausführlich näher beschrieben. Die Neufassung durch die Verordnung  1177 / 11 vom 8.  November 2011 verändert und erweitert den Katalog an Tatbestandsmerkmalen, welche bei den sonstigen Faktoren zu berücksichtigen sind. Eine Reihe von Merkmalen sind nun überwiegend spezifischer gefasst und beziehen sich zum Teil auf technisch anspruchsvolle finanzwissenschaftliche Indikatoren. Die mittelfristige Wirtschaftsentwicklung wird insbesondere durch das Potentialwachstum bestimmt, einschließlich der verschiedenen Beiträge von Arbeit, Kapitalbildung und der Totalen Faktorproduktivität, der Konjunkturentwicklungen und des Finanzierungssaldos des privaten Sektors.79 Der Stabilitäts- und Wachstumspakt verweist damit auf das Verfahren der Kommission zur Schätzung des Produktionspotentials, welches nicht rechtsförmlich geregelt ist.80 Die Kommission verwendet die genannten Komponenten, um das Produktionspotential zu schätzen und die konjunkturelle Situation sowie die strukturelle Lage der nationalen Haushalte bestimmen zu können. Durch Art. 2 Abs. 3 VO  1467 / 97 werden sie nun aufgewertet und bilden einen – wenn auch nur subsidiären – Maßstab im Stabilitäts- und Wachstumspakt. Die mittelfristige Entwicklung der öffentlichen Haushalte wird durch einen langen Katalog an Tatbestandsmerkmalen konkretisiert. Hierzu zählen unter anderem: der Fortschritt im Hinblick auf das mittelfristige Haushaltsziel, die Höhe des Primärsaldos, die Entwicklung der Primärausgaben in der laufenden Rechnung sowie in der Kapitalrechnung,81 politische Maßnah78  Siehe

VO  1056/05 vom 27.6.2005. Art. 2 Abs. 3 lit. a VO  1467/97. Die genannten Faktoren haben einen entscheidenden Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung. Sie werden überwiegend durch komplexe ökonometrische Verfahren geschätzt. Zum Begriff der Totalen Faktorproduktivität (TFP) siehe unten 4. Teil Abschnitt B.I.1.a), Fn. 259. 80  Das Verfahren wird in einem „code of conduct“ konkretisiert: „Specifications on the implementation of the Stability and Growth Pact and Guidelines on the format and content of Stability and Convergence Programmes“, Beschluss des EcofinRates vom 3. September 2012, http://ec.europa.eu/economy_finance/economic_gov ernance/sgp/pdf/coc/code_of_conduct_en.pdf (abgerufen am 8.4.2017). Vgl. ­hierzu die Regelung der deutschen Schuldenbremse unten 4. Teil Abschnitt A.II.2.b) und c). 81  Der Primärsaldo ergibt sich aus der Differenz von Primärausgaben und -einnahmen. Primärausgaben sind die Staatsausgaben abzüglich der Aufwendungen für Zinszahlungen. Zur Ermittlung der Primäreinnahmen werden die Staatseinnahmen um Veräußerungserlöse des Staates bereinigt, um auf diese Weise Einmaleffekte auszublenden. Ein Primärdefizit weist darauf hin, dass der Staat nicht in der Lage ist, seine Kernaufgaben zu finanzieren. Siehe Dietz, Indikatoren zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit öffentlicher Haushalte, in: Wirtschaft und Statistik 10/2008, 79  Siehe



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung83

men zur Vorbeugung und Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte, Maßnahmen im Rahmen der gemeinsamen Wachstumsstrategie der Union82 und schließlich die Qualität der öffentlichen Finanzen (insbesondere die Wirksamkeit des nationalen haushaltspolitischen Rahmens).83 Art. 2 Abs. 3 lit. b VO 1467 / 97 stellt damit einen Querverweis zu anderen Elementen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes her, die demnach auch im Defizitverfahren nach Art. 126 Abs. 3 bis 6 AEUV beachtet werden müssen. Hierzu zählen die mittelfristigen Haushaltsziele als zentraler Ausgangspunkt für die Stabilitäts- und Konvergenzprogramme der präventiven Komponente84 sowie Primärsaldo und -ausgaben als Indikator für die Tragfähigkeit der Haushalte.85 Gleiches gilt für Maßnahmen, die sich mittelbar aus dem neu eingeführten Instrument der makroökonomischen Überwachung86 oder aus der Richtlinie 2011 / 85 / EU über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten ergeben. Die mittelfristige Entwicklung der Schuldenstandsquote wird erstmals seit 2011 als einschlägiger Faktor berücksichtigt. Damit sollen neben Struktur und Zusammensetzung auch die Dynamik und Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung87 widergespiegelt werden. Hierzu werden insbesondere Risikofaktoren wie Fälligkeitsstruktur, Währungszusammensetzung der Schulden und Bestandsanpassungen berücksichtigt. Gleiches gilt für kumulierte Rücklagen und andere Vermögenswerte des Staates, Garantien (insbesondere gegenüber dem Finanzsektor) sowie implizite Verbindlichkeiten, die sich im Zusammenhang mit der Bevölkerungsalterung ergeben. Soweit die private Verschuldung implizite Eventualverbindlichkeiten für den Gesamtstaat auslösen kann, wird auch sie berücksichtigt.88 Diese Regelung soll sicherstellen, dass auch versteckte Verschuldungsrisiken beachtet werden, S. 864. In der laufenden Rechnung werden regelmäßige, nicht-vermögenswirksame Ausgaben und Einnahmen des Verwaltungshandelns, in der Kapitalrechnung hingegen die vermögensverändernden Ausgaben und Einnahmen verbucht. 82  Die gemeinsame Wachstumsstrategie der Union „Europa 2020“ wurde am 3. März 2010 beschlossen, siehe Europäische Kommission, KOM (2010) 2020. Sie ist das Nachfolgeprogramm der „Lissabon-Strategie“, mit der Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und wachstumsfreudigsten Wirtschaftsraum der Welt entwickelt werden sollte. Vgl. Schlussfolgerung I. des Vorsitzenden des Europäischen Rates vom 23./24.3.2000. 83  Siehe Art. 2 Abs. 3 lit. b VO  1467/97. 84  Siehe Art. 2a VO  1466/97 sowie unten Abschnitt A.III.1. und 2. 85  Siehe unten Abschnitt A.III.3. 86  Siehe Verordnungen zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte: VO 1174/2011, Abl. Nr. L 306, v. 23.11.2011, S. 8 und VO 1176/2011, Abl. Nr. L 306, v. 23.11.2011, S. 25. 87  Siehe unten Abschnitt A.III.3. 88  Siehe Art. 2 Abs. 3 lit. c VO  1467/97.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

insbesondere potentielle Risiken, die sich im Zusammenhang mit der Stabilisierung des Finanzmarktes ergeben.89 Zusätzlich zu den oben genannten Faktoren muss die Kommission „allen sonstigen Faktoren“, die aus Sicht des betroffenen Mitgliedstaates von Bedeutung sind, ausführliche Beachtung schenken. Hierunter fallen insbesondere „finanzielle Beiträge zur Förderung der internationalen Solidarität und zur Erreichung der politischen Ziele der Union [sowie] die Schulden aufgrund der bilateralen und multilateralen Unterstützung zwischen den Mitgliedstaaten.“ (Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 VO  1467 / 97). Neben diesen zahlreichen offen gehaltenen Maßstäben heben Art. 2 Abs. 5 und 7 VO  1467 / 97 noch einen weiteren Maßstab hervor: Stärkt der betroffene Mitgliedstaat mit einer Rentenreform die Kapitaldeckung des Altersvorsorgesystems, muss diesen Kosten Rechnung getragen werden. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt konkretisiert die sonstigen Faktoren grundsätzlich mit einem weit gefassten Katalog an Tatbestandsmerkmalen, die zum Teil einen großen Subsumtionsraum eröffnen, wie beispielsweise die gemeinsame Wachstumsstrategie der Union, mit der die Mitgliedstaaten ein „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ anstreben.90 Unter dieser langfristig angelegten politischen Zielsetzung können zahlreiche kostenintensive politische Maßnahmen und Ausgaben subsumiert werden. Gleiches gilt für finanzielle Beiträge, um politische Ziele der europäischen Politik zu erreichen. Dieser weit gefasste Katalog zu berücksichtigender Faktoren ermöglicht im Ergebnis, mangels klarer Abgrenzung, eine nahezu beliebige Rechtfertigung eines überhöhten Defizits.91 Es bleibt zumindest der Einschätzung von Kommission und Rat vorbehalten, ob ein übermäßiges Defizit vorliegt, respektive ein Defizitverfahren eingeleitet wird.

89  Spanien hat beispielsweise im Zuge der Finanzmarktkrise seinen Bankensektor mit Hilfe des Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) im Jahre 2012 mit rund 40 Milliarden Euro gestützt. Siehe FAZ, Spaniens Banken weisen faule Kredite nur zum Teil aus, 17.7.2013, http://www.faz.net/-gvt-7bbo5 (abgerufen am 8.4.2017). 90  Siehe Europa 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und inte­ gratives Wachstum, Mitteilung der KOM (2010) 2020 vom 3.3.2010. Vgl. oben Fn. 82. 91  Siehe Schmidt, Die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes: Missglücktes Konstrukt und/oder Politikversagen?,  2008,  http://www.wipo.uni-freiburg.de/ dateien/tagungen/reformen/swpandre_schmidt_freiburg_2008.pdf (abgerufen am 8.4. 2017), S.  12 f.



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung85

III. Sekundärrechtliche Maßstäbe zur Begrenzung der Verschuldung 1. Der Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“ In der Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 17. Juni 199792 bildet der Grundsatz des „Close-toBalance or in Surplus“ den ersten Leitsatz des Stabilitäts- und Wachstums­ paktes. Als allgemein formulierte Zielvorgabe verpflichtet er die Mitgliedstaaten, mittelfristig einen nahezu ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushalt zu erreichen.93 Die Mitgliedstaaten setzen sich in diesem Rahmen mittelfristige Haushaltsziele, die in Stabilitäts- und Konvergenzprogrammen94 festgehalten werden. Der Grundsatz des „Close-to-Bal­ ance or in Surplus“ soll eine gesunde öffentliche Finanzlage ermöglichen, um damit die Preisstabilität zu fördern und die Bedingungen für ein anhaltendes Wachstum von Produktion und Beschäftigung zu verbessern.95 Als mittelfristiges Ziel ergänzt er die jährliche Pflicht, die Defizitschwelle von maximal 3 % des BIP nicht zu überschreiten. Der erweiterte Zeithorizont soll den Mitgliedstaaten erlauben, in diesem Rahmen auf „normale Konjunkturschwankungen“96 zu reagieren.97 Dass unter der „mittleren Frist“ der Zeitraum eines Konjunkturzyklus zu verstehen ist, stellt der Stabilitäts- und Wachstumspakt in Art. 5 Abs. 1 VO  1466 / 97 klar. Der Pakt beruht demnach auf einem wirtschaftspolitischen Modell der antizyklischen Konjunktursteuerung, die sich über den gesamten Konjunkturverlauf hinweg im Ergebnis selbst ausgleichen soll.98 Der Finanzierungssaldo der öffentlichen Hand soll also mittelfristig um die Nullverschuldung schwanken. Dieser Zeithorizont führt allerdings dazu, dass die unmittelbare Direktions92  Abl. C 236 vom 02.08.1997. Die Entschließung bildet mit den VO  1466/97 und 1467/97 den ursprünglichen Kern des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. 93  Der Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“ wird im Stabilitäts- und Wachstumspakt mehrfach hervorgehoben, siehe Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 17. Juni 1997, Abl. C 236 vom 02.08.1997, S. 1; Erwägungsgrund (2), (4), (15) und Artikel 2a VO 1466/97; Erwägungsgrund (3) und (7) VO 1467/97. 94  Siehe hierzu unten Abschnitt A.III.2. 95  Siehe VO  1466/97, Erwägungsgrund (1). 96  VO  1466/97, Erwägungsgrund (4). 97  Nach Auffassung des Rates wird der „Close-to-Balance“-Grundsatz „es allen Mitgliedstaaten ermöglichen, die normalen Konjunkturschwankungen zu bewältigen und dabei das öffentliche Defizit im Rahmen des Referenzwerts von 3 % des BIP zu halten.“ Siehe Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt Amsterdam vom 17. Juni 1997, Abl. C 236 vom 02.08.1997, S. 1 f. 98  Siehe Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 VO  1466/97.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

kraft des „Close-to-Balance or in Surplus“ geschwächt wird, da sich damit keine unmittelbaren Vorgaben für das einzelne Haushaltsjahr ableiten lassen. 2. Die mittelfristigen Haushaltsziele der Mitgliedstaaten Der Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“ bildet zwar die Zielund Orientierungsgröße für das mittelfristige Haushaltsziel der Mitgliedstaaten, doch seit der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes 2005 dürfen die Mitgliedstaaten von der Anforderung mittelfristig nahezu ausgeglichener Haushalte abweichen. Der damals neu eingefügte Art. 2a VO 1466 / 97 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten sich differenzierte länderspezifische Ziele für die Haushaltslage setzen.99 Sie müssen hierbei eine Sicherheitsmarge im Hinblick auf die öffentliche Defizitquote in Höhe von 3 % des BIP beachten, wobei notwendigen öffentlichen Investitionen Rechnung zu tragen ist. Für die Staaten des Euroraums gilt hierbei, dass ihre konjunkturbereinigten mittelfristigen Haushaltsziele ohne Anrechnung einmaliger und befristeter Maßnahmen zwischen einem Defizit von 1 % des BIP und einer Nullverschuldung oder einem Haushaltsüberschuss liegen müssen.100 Der Stabilitäts- und Wachstumspakt entwickelt hier also den Maßstab eines strukturellen Haushaltssaldos, der mittelfristig ein maximales Defizit von 1 % des BIP ausweisen darf. Mit der sogenannten Six-Pack Reform von 2011 werden die mittelfristigen Haushaltsziele Bestandteil der nationalen Haushaltsrahmen (Art. 2 a UAbs. 4 VO  1466 / 97). Die Mitgliedstaaten müssen einen mehrjährigen Finanzplanungshorizont einführen, um mittels spezifischer numerischer Haushaltsregeln die mittelfristigen Haushaltsziele verfolgen zu können (Art. 5 lit. b RiLi  2011 / 85 / EU). Außerdem veröffentlichen sie ihre mittelfristigen gesamtstaatlichen Haushaltsziele sowie den Anpassungspfad in Richtung auf dieses Ziel in ihren Stabilitäts- und Konvergenzprogrammen, die sie alljährlich bis zum 30. April vorlegen müssen. Die Vorgaben für die Stabilitätsprogramme der Mitglieder des Euro-Währungsraumes sind nahezu identisch mit den Vorgaben für die Konvergenzprogramme der nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten.101 99  Die mittelfristigen Haushaltsziele basieren auf dem Verfahren der multilateralen Überwachung des Art. 121 AEUV. 100  Siehe Art. 2a UAbs. 2 VO  1466/97. Gleiches gilt für Staaten, die am Wechselkursmechanismus 2 (WKM2) teilnehmen, siehe hierzu die Entschließung des Europäischen Rates über die Einführung eines Wechselkursmechanismus in der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, C 236 vom 2.8.1997, S. 5. Siehe hierzu auch unten Abschnitt B.I.2.a). 101  Siehe Art. 3 bis 6 und Art. 7 bis 10 VO  1466/97.



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung87

Letztere müssen zusätzlich noch Angaben zu ihren mittelfristigen geldpolitischen Zielen und zur Beziehung dieser Ziele zur Preis- und Wechselkursstabilität sowie zur Erreichung dauerhafter Konvergenz machen.102 Die Stabilitäts- und Konvergenzprogramme enthalten neben den mittelfristigen Haushaltszielen und Anpassungspfaden weitere detaillierte Angaben, insbesondere zum geplanten Wachstumspfad von Staatsausgaben und -einnahmen sowie zu impliziten Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit der demographischen Entwicklung, öffentlichen Investitionen, Beschäftigung und Inflation.103 Seit der Reform 2011 müssen sie „auf dem wahrscheinlichsten makrobudgetären Szenario oder auf einem vorsichtigeren Szenario basieren“.104 Kommission und Rat prüfen und bewerten das vom betreffenden Mitgliedstaat gesetzte mittelfristige Haushaltsziel, den Anpassungspfad in Richtung dieses Ziels und den begleitenden Pfad für die Schuldenstandsquote sowie die tatsächliche haushaltswirtschaftliche Entwicklung. Grundlage hierfür ist eine komplexe und differenzierte Maßstabssystematik der mittelfristigen Haushaltsziele. Der Anpassungspfad sieht vor, dass die Mitgliedstaaten eine angemessene jährliche Verbesserung des konjunkturbereinigten Haushaltssaldos ohne Anrechnung einmaliger und sonstiger befristeter Maßnahmen verfolgen.105 Der Stabilitäts- und Wachstumspakt legt für die jährliche strukturelle (d. h. konjunkturbereinigte) Verbesserung des Finanzierungsdefizits einen Richtwert von 0,5 % des BIP zugrunde.106 Mitgliedstaaten mit einer Schuldenstandsquote über dem Referenzwert von 60 % des BIP oder ausgeprägten Risiken hinsichtlich der Tragfähigkeit ihrer Gesamtschulden müssen jedoch ihren strukturellen Haushaltssaldo jährlich um mehr als 0,5 % des BIP verbessern. Auf diese Weise kann das Schuldenstandskriterium die Vorgaben zum jährlichen Finanzierungsdefizit beeinflussen. Der Richtwert gilt jedoch nicht strikt, denn Kommission und Rat berücksichtigen, ob Zeiten guter oder schlechter wirtschaftlicher Entwicklung vorliegen und insbesondere, ob unerwartete Mehr- oder Mindereinnahmen anfallen. Sie sollen zudem größeren Strukturreformen Rechnung tragen, wenn sie sich langfristig positiv 102  Art. 7

Abs. 2 lit. a VO 1466/97. Art. 3 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 2 VO  1466/97. 104  Siehe Art. 3 Abs. 2a und Art. 7 Abs. 2a VO  1466/97. 105  Siehe hierzu und im Folgenden: Art. 5 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 VO  1466/97. 106  Der Wert von 0,5 % des BIP ist nicht mit der deutschen Schuldenbremse und ihrem ursprünglich geplanten zulässigen strukturellen gesamtstaatlichen Defizit i. H. v. 0,5 % des BIP (jetzt 0,35 % für den Bund) zu verwechseln. Bei der Schuldenbremse handelt es sich um das maximal zulässige jährliche Finanzierungsdefizit, während das Unionsrecht eine jährliche Verbesserung des Haushaltssaldos in Richtung des „Close-to-Balance“-Grundsatzes verlangt. Vgl. hierzu unten 3. Teil Abschnitt B.II.1.a), Fn. 106. 103  Siehe

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2. Teil: Europäische Vorgaben

und nachprüfbar auf den Haushalt auswirken.107 In diesen Fällen dürfen die Mitgliedstaaten sogar noch von den individuellen, länderspezifischen Zielen abweichen, solange sie eine Sicherheitsmarge zum maximalen Finanzierungsdefizit von 3 % des BIP wahren. Seit 2011 werden auch die konkreten Fortschritte auf dem Pfad in Richtung des mittelfristigen Haushaltsziels evaluiert. Im Unterschied zu den Zielvorgaben des Anpassungspfades stehen hier die Staatsausgaben und -einnahmen im Fokus. Kommission und Rat nehmen eine Gesamtbewertung vor, bei der sie die Ausgabenentwicklung in den Mitgliedstaaten untersuchen, wobei der strukturelle Haushaltssaldo als Referenz dient. Sie prüfen die Entwicklung der Primärausgaben (Ausgaben ohne Zinszahlungen),108 bereinigt um zyklisch bedingte Veränderungen der Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung, Ausgaben die durch Einnahmen aus EU-Fonds gedeckt werden und diskretionäre109 einnahmenseitige Maßnahmen.110 Zudem setzen sie das Ausgabenwachstum der Mitgliedstaaten in Bezug zum potentiellen Wachstum des BIP.111 Auf dieser Grundlage entwickelt der reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt eine neue Einnahmen-Ausgaben-Regel, die sich danach richtet, ob das mittelfristige Haushaltsziel erreicht wurde oder nicht: Mitgliedstaaten, die das mittelfristige Haushaltsziel erreicht haben, sollen ihr jährliches Ausgabenwachstum nicht über eine mittelfristige Referenzrate des potentiellen BIP-Wachstums steigern, es sei denn, sie gleichen es durch diskretionäre einnahmeseitige Maßnahmen aus. Bei Mitgliedstaaten, die ihr mittelfristiges Haushaltsziel nicht erreicht haben, soll das jährliche Ausgabenwachstum unter der mittelfristigen Referenzrate des potentiellen BIP-Wachstums liegen. Der Abstand zwischen Ausgabenwachstum 107  Namentlich werden Rentenreformen genannt, soweit diese mit der Einführung einer kapitalgedeckten Säule die öffentliche Hand zusätzlich belasten. Siehe Art. 5 UAbs. 7 f. und Art. 9 UAbs. 7 f. VO  1466/97. 108  Siehe oben Fn. 81. 109  Das Attribut „diskretionär“ beschreibt in den Wirtschaftswissenschaften bewusst gefasste Entscheidungen, Handlungen oder Maßnahmen, die im Ermessen des Handelnden liegen. Es wird an zahlreichen Stellen des Stabilitäts- und Wachstums­ paktes verwendet, u. a. Art. 3 Abs. 2 lit. a, Art. 5 Abs. 1 UAbs. 3, Art. 6 Abs. 3 VO  1466/97 und Art. 5 Abs. 1a VO  1467/97. Zur Definition einer diskretionären Finanzpolitik siehe oben 1. Teil Abschnitt C.II., Fn. 231. 110  Auf diese Weise soll verhindert werden, dass bewusst geplante, zeitlich begrenzte Einnahmen (z. B. Lizenzversteigerungen oder temporäre Steuererhöhungen) den tatsächlichen Fortschritt verzerren. Vgl. auch Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2012/13, Rn. 212. 111  Die Kommission bestimmt das potentielle BIP-Wachstum durch vorwärts gerichtete Projektionen und rückwärts gerichtete Schätzungen. Sie veröffentlicht die Berechnungsmethode für die regelmäßig zu aktualisierenden Projektionen und die daraus abgeleitete mittelfristige Referenzrate des potentiellen BIP-Wachstums. Siehe Art. 5 Abs. 6 und Art. 9 Abs. 6 VO  1466/97.



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und potentiellem BIP-Wachstum soll eine angemessene Korrektur in Richtung des mittelfristigen Haushaltsziels sicherstellen. Für diese Mitgliedstaaten gilt zudem eine zusätzliche Einnahmenregel: Jeder geplanten Senkung der Einnahmen müssen Ausgabenkürzungen oder Einnahmesteigerungen an anderer Stelle gegenüberstehen. Ziel der Einnahmen-Ausgaben-Regel ist es, das Ausgabenwachstum zu begrenzen, um gesunde und nachhaltige öffentliche Finanzen zu ermöglichen.112 Die komplexen Maßstäbe der mittelfristigen Haushaltsziele sind Teil des auf Art. 121 AEUV beruhenden Verfahrens der multilateralen Überwachung und werden prozedural durch die präventive Komponente des Stabilitätsund Wachstumspaktes abgesichert.113 Sie enthält den prozedural eingefassten Maßstab der tatsächlichen oder erwarteten „erheblichen Abweichung“ der Haushaltslage vom mittelfristigen Haushaltsziel oder dem Anpassungspfad (Art. 6 Abs. 3 und 10 Abs. 3 VO  1466 / 97). Hierfür gelten folgende Kriterien: Übersteigt der strukturelle Haushaltssaldo eines Mitgliedstaates den zulässigen Saldo in einem Jahr um mehr als 0,5 % des BIP (oder in zwei aufeinanderfolgenden Jahren jeweils durchschnittlich um mehr als 0,25 % des BIP) gilt die Abweichung als erheblich. Gleiches gilt für den Fall, dass ein Mitgliedstaat gegen die Einnahmen-Ausgaben-Regel des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verstößt und den Haushaltssaldo in einem Jahr (oder kumulativ in zwei Jahren) um mehr als 0,5 % des BIP belastet.114 Mit diesen beiden Kriterien werden der neu entwickelte Maßstab der „erheblichen Abweichung“ konkretisiert und die mittelfristigen Haushaltsziele erstmals greifbar. 3. Die Tragfähigkeit der Finanzlage Neben den mittelfristigen Haushaltszielen berücksichtigt der Stabilitätsund Wachstumspakt auch die langfristige Perspektive der Tragfähigkeit der 112  Vgl. hierzu Europäische Kommission (2012), Report on public finances in EMU  – 2012, European Economy 4/2012, Brüssel, http://ec.europa.eu/economy_ finance/publications/european_economy/2012/pdf/ee-2012-4.pdf, S.  70 (abgerufen am 8.4.2017). Siehe hierzu auch unten Abschnitt A.VI. 113  Siehe unten Abschnitt A.IV.1. 114  Die Abweichung der Ausgabenentwicklung gilt als nicht erheblich, wenn der betreffende Mitgliedstaat sein mittelfristiges Haushaltsziel deutlich übertroffen hat und die Haushaltspläne der Stabilitäts- und Konvergenzprogramme nicht gefährdet werden. Gleiches gilt im Falle eines außergewöhnlichen Ereignisses, das sich der Kontrolle des betreffenden Mitgliedstaates entzieht und die Finanzlage erheblich beeinträchtigt, vorausgesetzt die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen wird nicht beeinflusst. Siehe Art. 6 Abs. 3 UAbs. 3 und Art. 10 Abs. 3 UAbs. 3 VO  1466/97. Vgl. auch Holler/Reiss, Was bringt die neuerliche Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes?, Geldpolitik & Wirtschaft Q4/11, S. 91.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

öffentlichen Finanzen.115 Dieser Maßstab berücksichtigt, über den Schuldenstand hinaus, weitere Faktoren, die die zukünftige Stabilität der Haushalte betreffen.116 Auf diese Weise sollen Belastungen und Risiken berücksichtigt werden, die nicht unmittelbar in den Referenzkriterien (Finanzierungsdefizit, Schuldenstandsquote) abgebildet werden. Hierzu gehören insbesondere Auswirkungen des demographischen Wandels auf die künftige Haushaltsentwicklung, beispielsweise durch zunehmende Altersversorgungsund Gesundheitsleistungen. Die Bewertung der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen ist Teil der regelmäßigen haushaltspolitischen Überwachung der EU und fließt in die „Prüfung der Gesamtlage“ durch Kommission und Rat mit ein.117 Die Europäische Kommission leitet die Tragfähigkeit aus der intertemporalen Budgetrestriktion ab: Die Gesamtverpflichtungen des Staates, das heißt die Höhe des Schuldenstands zuzüglich der künftigen Ausgaben,118 einschließlich der Haushaltsauswirkungen der demographischen Alterung, sollten durch den Wert der künftigen staatlichen Einnahmen gedeckt sein. Vereinfacht ausgedrückt müssen alle zukünftigen Ausgaben (einschließlich Schuldendienst) durch zukünftige Einnahmen gedeckt sein. Um die Dimension der budgetären Ungleichgewichte für die Haushaltsplanung einschätzen zu können, zieht die Kommission die sogenannte Tragfähigkeitslücke als Indikator heran.119 Sie zeigt den Umfang der Haushaltsanpassungen auf, die notwendig sind, um die intertemporalen Budgetrestriktionen zu erfüllen. Aufgrund der langen Projektionszeiträume, die sich regelmäßig auf das Jahr 115  Siehe Art. 2a, 5 und 9 VO  1466/97 i. V. m. Art. 140 Abs. 1 S. 3, Spiegelstr.  2 AEUV (ex-Art. 121 EGV). 116  Die Tragfähigkeit wird im Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht legaldefiniert. Sie ergibt sich vielmehr aus dem normativen Gesamtzusammenhang des Stabilitätsund Wachstumspaktes. Siehe u. a. Art. 2a, 3, 5, 6 VO 1466/97; Art. 2, 3, 5 VO 1467/ 97; Erwägungsgrund (12) VO 1177/11 sowie Bericht des Rates (ECOFIN) über die Verbesserung der Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts vom 20.3.2005, Dokument 7423/5/05. 117  Siehe hierzu und im Folgenden Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 12.10.2006, KOM (2006) 574, S. 2 ff. Für die Kommission „steht die Vereinbarkeit der kurz- bis mittelfristigen Haushaltsziele mit der langfristigen Tragfähigkeit im Vordergrund der Analysen“, KOM (2006) 574, S. 3. 118  Die künftigen Ausgaben werden hierzu auf den Gegenwartswert abgezinst. Abzinsung ist ein Verfahren zur Bestimmung des Gegenwartswertes eines bestimmten Endkapitals. Siehe Wirtschaftslexikon, „Abzinsung“, Woll (Hrsg.), 1993, S. 6. 119  Siehe hierzu Europäische Kommission, KOM (2006) 574, S. 4 ff. Die Tragfähigkeitslücke kann sowohl als periodische Stromgröße (jährliche Verbesserung des Primärsaldos) oder als einmalige Bestandsgröße (Abbau des impliziten Schuldenstandes) dargestellt werden. Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Herausforderungen des demographischen Wandels – Expertise, 2011, Rn. 275.



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung91

2060 beziehen, reagiert die Tragfähigkeitslücke sehr sensibel auf veränderte Annahmen.120 Die Höhe der Tragfähigkeitslücke variiert stark zwischen den Mitgliedstaaten. Aber die fiskalischen Belastungen des demographischen Wandels in Verbindung mit einer generellen Abnahme des Trendwachstums über Jahre hinweg erfordern langfristig Budgetüberschüsse aller Mitgliedstaaten, um eine zukunftsfähige, stabile Haushaltspolitik gewährleisten zu können.121 Die Tragfähigkeit wird prozedural nicht nur bei der „Prüfung der Gesamtlage“ durch Kommission und Rat berücksichtigt, sondern bildet auch regelmäßig einen Vorbehalt für Ausnahmereglungen der präventiven und korrektiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.122 Eine bedrohte Tragfähigkeit erhöht zudem die Anforderungen an den Anpassungspfad in Richtung auf das mittelfristige Haushaltsziel.123

IV. Überwachungs- und Defizitverfahren Auf dem so umrissenen, vielschichtigen materiellen Maßstabsystem basiert das komplexe, mehrstufige Überwachungs- und Defizitverfahren der Europäischen Union. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei das haushaltspolitische Überwachungsverfahren der präventiven Komponente. Es ist insofern von grundsätzlicher Bedeutung für die Begrenzung der Staatsverschuldung, da es die mittel- bis langfristigen fiskalischen Regeln absichert.124 120  Sie hängt stark von der Entwicklung des Arbeitsmarktes, der Erwerbsbeteiligung Älterer und der Migration ab. Zudem kann sich die Tragfähigkeitslücke erhöhen, wenn notwendige Konsolidierungsschritte ausbleiben und damit beispielsweise die Zinsbelastung steigt. Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Herausforderungen des demographischen Wandels – Expertise, 2011, Rn. 289 und 314 ff. 121  Siehe Koch, Art. 123–126 AEUV, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), AEUV-Kommentar, 2010, S. 1603, Rn. 18. Vgl. auch Europäische Kommission (Hrsg.), Fiscal Sustainability Report 2012, European Economy 8/2012, http://ec.europa.eu/economy_ finance/publications/european_economy/2012/pdf/ee-2012-8_en.pdf (abgerufen am 8.4.2017), S.  10 ff. 122  Siehe u. a. Art. 5 Abs. 1 UAbs. 7 und 10, Art. 6 Abs. 3 UAbs. 4, Art. 9 Abs. 1 UAbs. 7 und 10, Art. 10 Abs. 3 UAbs. 4 VO  1466/97 sowie Art. 2 Abs. 5 und 7, Art. 3 Abs. 5, Art. 5 Abs. 2 VO  1467/97. Siehe hierzu unten Abschnitt A.V.1. Vgl. auch unten Abschnitte B.I.1. und B.I.2.a). 123  Siehe Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 VO  1466/97. Der Maßstab kann jedoch auch anders wirken: Wenn sich Strukturreformen nachprüfbar positiv auf die langfristige Tragfähigkeit auswirken, berücksichtigen Kommission und Rat die Kosten der Reformen bei der Bestimmung des Anpassungspfades oder dem Defizitverfahren nach Art. 126 AEUV. 124  Vgl. Kullas, Kann der reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt den Euro retten?, 2011, S. 3. Siehe hierzu oben Abschnitt A.III.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

2011 wurde das präventive Überwachungsverfahren gestärkt, indem es für die Eurostaaten nunmehr sanktionsbewehrt ist.125 Das Defizitverfahren der korrektiven Komponente soll hingegen übermäßige Defizite verhältnismäßig kurzfristig sanktionieren und korrigieren. Es knüpft unmittelbar an die Pflicht des Art. 126 AEUV zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin an und konkretisiert sie.126 Die Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 und 259 AEUV werden jedoch von Art. 126 Abs. 10 AEUV ausgeschlossen.127 Das neu eingeführte Verfahren zur makroökonomischen Überwachung soll übermäßige wirtschaftliche Ungleichgewichte in und zwischen den Mitgliedstaaten erkennen. Sowohl der Warnmechanismus als auch das nachgelagerte Verfahren zur Korrektur eines übermäßigen makroökonomischen Ungleichgewichtes haben jedoch keine unmittelbaren schuldenrechtlichen Implikationen.128 1. Das präventive Überwachungsverfahren Der präventive Arm des Stabilitäts- und Wachstumspaktes stützt sich auf die Vorgaben zur multilateralen Überwachung des Art. 121 AEUV (exArt. 99 EGV). Die Verordnung 1466 / 97 konkretisiert die allgemeine Koordinierung der Wirtschaftspolitiken nach Art. 121 Abs. 3 und 4 AEUV und flankiert so die Vorgaben zur Vermeidung übermäßiger Defizite gemäß Art. 126 AEUV.129 Als Frühwarnmechanismus soll sie übermäßige Defizite rechtzeitig verhindern.130 Ausgangspunkt des Verfahrens sind die Stabilitäts- und Konvergenzprogramme der Mitgliedstaaten. Mit ihnen setzen sie sich ein mittelfristiges 125  Siehe

sogleich Abschnitt A.IV.1. unten Abschnitt A.IV.2. 127  Siehe unten Abschnitt A.IV.3. 128  Zum Verfahren der makroökonomischen Überwachung siehe Calliess/Schoenfleisch, Auf dem Weg in die europäische „Fiskalunion“? Europa- und verfassungsrechtliche Fragen einer Reform der Wirtschafts- und Währungsunion im Kontext des Fiskalvertrages, JZ 2012, S. 477 (478). Kritisch zum Prüfverfahren gegen Deutschland, wegen eines zu hohen Leistungsbilanzüberschusses im Herbst 2013, ist Herdegen, Europarecht, 2014, S. 399 f. 129  Siehe Häde, Art. 104 EGV, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 2007, Rn. 117. 130  Aus den allgemeinen Grundzügen der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Union (Art. 121 Abs. 2 AEUV) kann keine Pflicht zur (antizyklischen) Verschuldung der Mitgliedstaaten abgeleitet werden, auch nicht in Verbindung mit dem neuen Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, VO  1174/2011, Abl. Nr. L 306, v. 23.11.2011, S. 8. 126  Siehe



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung93

Haushaltsziel für ihr strukturelles Defizit.131 Der Rat überprüft auf der Grundlage von Bewertungen der Kommission und des Wirtschafts- und Finanzausschusses132 die Zielsetzung und Inhalte des Programms innerhalb von drei Monaten nach Vorlage des Programms. Erscheinen diese nicht ausreichend anspruchsvoll, kann der Rat (auf Empfehlung der Kommission) den betreffenden Mitgliedstaat mit qualifizierter Mehrheit auffordern, sein Programm anzupassen.133 Seit 2011 überprüft der Rat zudem die Entwicklung der öffentlichen Ausgaben in Relation zur Wachstumsrate des poten­ tiellen BIP.134 Kernelement der präventiven Komponente ist die Überwachung der Stabilitäts- und Konvergenzprogramme sowie die tatsächliche Entwicklung der Haushaltslage. Kommission und Rat kontrollieren in einem komplizierten Wechselspiel aus Empfehlungen und Feststellungen in drei Stufen, ob die Mitgliedstaaten vom mittelfristigen Haushaltsziel abweichen. In der ersten Stufe untersuchen Rat und Kommission die Haushaltssituation der Mitgliedstaaten (Art. 6 Abs. 1 VO  1466 / 97).135 Stellt der Rat im Rahmen seiner Gesamtbewertung gemäß Art. 121 Abs. 3 AEUV i.  V. m. Art. 6 Abs. 3 VO 1466 / 97 fest,136 dass ein Mitgliedstaat vom mittelfristigen Haushaltsziel oder dem angemessenen Anpassungspfad in diese Richtung erheblich abweicht, richtet die Kommission eine Verwarnung an den betreffenden Mitgliedstaat.137 131  Siehe

oben Abschnitt A.III.2. Abs. 2 AEUV (ex-Art. 114 EGV). 133  Siehe Art. 5 Abs. 2 bzw. Art. 9 Abs. 2 VO  1466/97. Vgl. auch Kullas, Kann der reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt den Euro retten?, 2011, S. 7. Das Verfahren der qualifizierten Mehrheit richtet sich nach Art. 238 Abs. 2 AEUV. Sanktionsinstrumente stehen dem Rat nicht zur Verfügung. Siehe unten Abschnitt A.V.2. 134  Siehe oben Abschnitt A.III.2. 135  Das Verfahren für die Konvergenzprogramme (d. h. für Mitgliedstaaten, die nicht Teil der dritten Stufe der Währungsunion sind) verläuft weitestgehend analog und wird daher hier nicht gesondert untersucht. Vgl. Art. 9 und 10 VO  1466/97. 136  Im Gegensatz zur alten Rechtslage („Stellt der Rat ein erhebliches Abweichen […] fest“, Art. 6 Abs. 2 VO 1466/97 a. F.) fehlt im neuen Stabilitäts- und Wachstums­ pakt eine eindeutige Regelung, ob Kommission oder Rat die erhebliche Abweichung feststellen. Art. 6 Abs. 3 VO 1466/97 verweist jedoch darauf, dass eine Abweichung auf der Grundlage einer Gesamtbewertung evaluiert wird und diese Gesamtbewertung nimmt gemäß Art. 121 Abs. 3 S. 1 AEUV i. V. m. Art. 11 VO  1466/97 der Rat vor. Der betroffene Mitgliedstaat ist zu diesem Zeitpunkt des Verfahrens noch stimmberechtigt. 137  Art. 6 Abs. 2 UAbs. 1 VO  1466/97 verlangt in diesem Fall eine Verwarnung durch die Kommission und konkretisiert so die „Kann-Bestimmung“ des Art. 121 Abs. 4 UAbs. 1 S. 1 AEUV. A. A. Hattenberger, Art. 121 AEUV, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2012, Rn. 32. Die Verwarnung entspricht der „frühzeitigen Warnung“ („blauer Brief“) des alten Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Dass nun132  Art. 134

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2. Teil: Europäische Vorgaben

Im nächsten Schritt prüft der Rat innerhalb eines Monats die Lage und kann – auf Empfehlung der Kommission – dem betreffenden Mitgliedstaat „die erforderlichen politischen Maßnahmen“ zur Behebung der Abweichung empfehlen (Art. 121 Abs. 4 UAbs. 1 S. 2 AEUV i. V. m. Art. 6 Abs. 2 UAbs. 2 VO  1466 / 97). Der Rat beschließt seine Empfehlung mit qualifizierter Mehrheit,138 wobei die Stimme des betreffenden Mitgliedstaates nicht berücksichtigt wird.139 Der Mitgliedstaat muss die Abweichung innerhalb von fünf Monaten beheben. Ist die Lage besonders ernst und erfordert dringende Maßnahmen, kann die Frist auch auf drei Monate verkürzt werden. Der Rat veröffentlicht seine Empfehlung, wenn die Kommission dies vorschlägt.140 Diese Veröffentlichung verstärkt den ehemals bekannten „blauen Brief“ aus Brüssel. Der betroffene Mitgliedstaat ist verpflichtet, innerhalb der Frist über die ergriffenen Maßnahmen zu berichten.141 Eine Empfehlung durch den Rat eröffnet der Europäischen Kommission zudem die Möglichkeit, eine Vor-OrtMission durchzuführen. Sie dient dem Zweck der verstärkten Überwachung (Art. 11 VO 1466 / 97).142 Ergreift der Mitgliedstaat in der dritten Stufe innerhalb der vorgegebenen Frist keine angemessenen Korrekturmaßnahmen, empfiehlt die Kommission dem Rat unverzüglich, dies mit qualifizierter Mehrheit festzustellen (Art. 6 Abs. 2 UAbs. 4 VO  1466 / 97). Die Kommission kann ihren Beschluss mit einem Vorschlag für eine überarbeitete Empfehlung verbinden. Kommt der Rat dieser Beschlussaufforderung nicht innerhalb eines Monats nach, legt die Kommission ihm diese erneut vor. Wenn der Beschlussvorschlag nicht innerhalb von zehn Tagen mit einfacher Mehrheit vom Rat abgelehnt wird, gilt er als angenommen.143 Ist ein Mitgliedstaat des Eurowährungsraumes mehr die Kommission die Verwarnung ausspricht ist eine Folgeänderung des Lissaboner Vertrages (Art. 121 Abs. 4 AEUV). Zum Maßstab der „erheblichen Abweichung“ siehe oben Abschnitt A.III.2. 138  Zum Beschlussverfahren der qualifizierten Mehrheit siehe Art. 238 Abs. 3 lit. a. AEUV. 139  Vgl. Art. 121 Abs. 4 UAbs. 2 AEUV. Der AEUV geht damit über Art. 6 Abs. 2 UAbs. 6 VO 1466/97 hinaus, der dem Mitgliedstaat erst für die folgenden Beschlüsse zur Nichteinhaltung der Empfehlungen das Stimmrecht verweigert. Ist ein Mitglied des Euro-Währungsraumes betroffen, sind nur seine Mitglieder stimmberechtigt. Siehe Art. 139 Abs. 4 UAbs. 1 lit. a AEUV. 140  Siehe Art. 6 Abs. 2 UAbs. 2 S. 4 VO  1466/97. Das Sekundärrecht verlangt (auf Vorschlag der Kommission) die Veröffentlichung und konkretisiert so die die „Kann-Bestimmung“ des Art. 121 Abs. 4 UAbs. 1 S. 3 AEUV. 141  Siehe Art. 6 Abs. 2 UAbs. 3 VO  1466/97. 142  Bei Eurostaaten oder Mitgliedern des Wechselkursmechanismus 2 kann die Kommission zudem einen Vertreter der Europäischen Zentralbank (EZB) hinzuziehen (Art. 11 Abs. 3 VO  1466/97). 143  Siehe Art. 6 Abs. 2 UAbs. 5 VO  1466/97. Zum Verfahren der sogenannten „umgekehrten qualifizierten Mehrheit“, nach dem ein Beschluss als angenommen



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von den Maßnahmen betroffen, stimmen nur die Mitglieder der Währungsunion über die Beschlüsse ab.144 Im Falle der Feststellung fehlender Maßnahmen empfiehlt die Kommission dem Rat innerhalb von zwanzig Tagen nach Annahme des Beschlusses des Rates, eine Sanktion gegenüber dem Eurostaat zu verhängen (Art. 4 VO  1173 / 11). Lehnt der Rat diese Sanktionsempfehlung nicht innerhalb von zehn Tagen mit qualifizierter Mehrheit ab, muss der betroffene Mitgliedstaat eine verzinsliche Einlage in Höhe von 0,2 % des Vorjahres-BIP bei der Kommission hinterlegen.145 Ziel der Stabilitäts- und Konvergenzprogramme und ihrer multilateralen Überwachung ist es, übermäßige Defizite rechtzeitig zu verhindern und mittelfristig das Ziel eines nahezu ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushalts zu erreichen. 2. Das korrektive Defizitverfahren a) Eröffnung des Defizitverfahrens durch den Bericht der Kommission Wenn ein Mitgliedstaat beide oder auch nur eines der Kriterien des Art. 126 Abs. 2 AEUV (Schuldenstand, Finanzierungsdefizit) nicht erfüllt und keine Ausnahmeregelung greift146 oder die Kommission die Gefahr eines übermäßigen Defizits sieht, beginnt das Verfahren mit einem Kommissionsbericht. Gemäß Art. 126 Abs. 3 S. 2 AEUV soll dieser zum einen das Verhältnis von öffentlichen Investitionsausgaben zum öffentlichen Finanzierungsdefizit und zum anderen „alle sonstigen einschlägigen Faktoren, einschließlich der mittelfristigen Wirtschafts- und Haushaltslage des Mitgliedstaats“, berücksichtigen.147 Nach Stellungnahme des Wirtschafts- und Finanzausschusses148 (Art. 134 Abs. 2 AEUV [ex-Art. 114 Abs. 2 EGV]) legt die Kommission dem betrofgilt, wenn der Rat nicht mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit ablehnt, siehe unten Abschnitt A.V.2. 144  Siehe Art. 6 Abs. 2 UAbs. 6 VO  1466/97. Die Stimme des betreffenden Mitgliedstaates wird nicht berücksichtigt. 145  Sowohl Rat als auch Kommission können in diesem sanktionierenden Verfahren Änderungen beschließen. Besteht die auslösende Situation nicht weiter fort, kann der Rat die Rückerstattung der Einlage beschließen. Siehe Art. 3 Abs. 4 bis 6 VO  1173/11. 146  Siehe Art. 126 Abs. 2 und 3 AEUV. 147  Siehe oben Abschnitte A.II.2. und 3. 148  Siehe Art. 126 Abs. 4 AEUV. Der Ausschuss gibt seine Stellungnahme innerhalb von 14 Tagen nach dem Kommissionsbericht ab (Art. 3 Abs. 1 VO  1467/97). Siehe hierzu Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 2008, S. 341 f. Ausführlich

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2. Teil: Europäische Vorgaben

fenen Mitgliedstaat unmittelbar eine Stellungnahme vor, die als direkte Warnung zu verstehen ist.149 Das Berichtsverfahren wird mit der Unterrichtung des Rates abgeschlossen. b) Feststellung des übermäßigen öffentlichen Defizits durch den Rat Als nächster Verfahrensschritt folgt gegebenenfalls die Feststellung eines übermäßigen Defizits (Art. 126 Abs. 6 AEUV). Der Rat entscheidet hierüber auf Vorschlag der Kommission „nach Prüfung der Gesamtlage“. Dass er auf Vorschlag der Kommission entscheidet, ist eine Neuerung des Lissabonner Vertrags. Der Rat fasst seit dem 1. November 2014 seinen Beschluss mit der erleichterten qualifizierten Mehrheit des Art. 238 Abs. 3 lit. a AEUV150 und kann die Entscheidung der Kommission nur einstimmig abändern (Art. 293 Abs. 1 AEUV [ex-Art. 250 Abs. 1 EGV]).151 Die Feststellung des übermäßigen Defizits durch den Rat ist konstitutive Grundlage für das weizu den konkreten Fristen der einzelnen Verfahrensschritte vgl. Gaitanides, Art. 126 AEUV, in: Siekmann (Hrsg.), EWU-Kommentar, 2014, Rn. 88 ff. 149  Die direkte Warnung an den betroffenen Mitgliedstaat durch die Kommission stellt eine Neuerung des Vertrags von Lissabon dar. Zuvor wurde die Stellungnahme lediglich dem Rat übermittelt. 150  Die Beschlussfassung erfolgt nach dem Verfahren der doppelten Mehrheit, wobei die Stimme des betroffenen Mitgliedstaats bereits hier – wie auch bei Beschlussfassungen nach den Absätzen 7 bis 9 sowie 11 und 12 – nicht berücksichtigt wird (Art. 126 Abs. 13 S. 2 AEUV). Der Rat berücksichtigt ergänzend die Bemerkungen des betreffenden Mitgliedstaates (Art. 126 Abs. 5 AEUV). Nach der alten Rechtslage wurde der Rat auf Empfehlung der Kommission tätig und beschloss daher mit erhöhter Anforderung an die doppelte Mehrheit, siehe Art. 205 Abs. 2 UAbs. 3 EGV i. d. F. ABl. 2006 Nr. C 321 E/1. Im AEUV hätte dies dazu geführt, dass 72 % (statt 55 %) der Mitglieder des Rates zustimmen müssten (Art. 238 Abs. 3 lit. b AEUV). Vgl. für die Übergangsbestimmungen zur qualifizierten Mehrheit, die bis zum 31. Oktober 2014 sowie zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. März 2017 galten Art. 3 des Protokoll Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen, C  83/322 v. 30.03.2010 i. V. m. Art. 16 Abs. 5 EUV. Vgl. hierzu auch Gaitanides, Art.  126 AEUV, in: Siekmann (Hrsg.), EWU-Kommentar, 2014, Rn.  146 ff. 151  Die nun gestärkte Verfahrensstellung der Kommission erscheint auf den ersten Blick als Bekräftigung der politischen Unabhängigkeit des Defizitverfahrens, da eine Änderung des Kommissionsvorschlags durch den Rat nur einstimmig erfolgen kann. Die Gefahr, dass mögliche Defizitsünder andere Mitgliedstaaten mit politischen Zugeständnissen auf ihre Seite ziehen und so den Ratsbeschluss abmildern oder gar die Feststellung des Defizits verhindern, sollte auf diese Weise minimiert werden. In der Praxis kann die Verfahrensänderung jedoch eine gegenteilige Wirkung entfalten, denn mit einer Sperrminorität von Ratsmitgliedern, die zusammen mehr als 35 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten (zuzüglich eines Mitglieds) vertreten, kann der Beschluss verhindert werden.



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tere Verfahren. Für die Eurostaaten löst sie seit 2011 zudem weitere Rechtsfolgen aus: Musste ein Mitgliedstaat bereits im Rahmen der präventiven Komponente eine verzinsliche Einlage bei der Kommission hinterlegen (Art. 4 VO  1173 / 11), wird diese in eine unverzinsliche Einlage umgewandelt (Art. 5 Abs. 5 VO  1173 / 11). Stellt die Kommission besonders schwere Verstöße gegen die Verpflichtungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes fest, kann der Mitgliedstaat auch ohne die präventive Sanktionsstufe zu einer unverzinslichen Einlage verpflichtet werden. Der Rat fasst den Beschluss hierzu auf Empfehlung der Kommission. Die Kommission empfiehlt die Sanktion innerhalb von zwanzig Tagen nach Feststellung des Defizits.152 c) Empfehlungen des Rates Stellt der Rat ein übermäßiges Defizit fest, richtet er auf Empfehlung der Kommission unverzüglich Empfehlungen an den betroffenen Mitgliedstaat mit dem Ziel, dieser Lage innerhalb einer bestimmten Frist abzuhelfen (Art. 126 Abs. 7 AEUV). Hierbei dürfen die Empfehlungen zwar wirtschafts- und haushaltspolitische Forderungen umfassen, jedoch keine detaillierten Vorgaben im Einzelnen enthalten.153 Der Rat ersucht gemäß Art. 3 Abs. 4 S. 3 VO  1467 / 97 den Mitgliedstaat, eine jährliche Mindestverbesserung des konjunkturbereinigten Saldos zu erzielen, für die ein Satz von mindestens 0,5  % des BIP als Richtwert dient.154 Der Stabilitäts- und Wachstumspakt fordert, innerhalb einer Frist von sechs Monaten (in besonders ernsten Fällen innerhalb von drei Monaten), entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, die grundsätzlich im Jahr nach der Feststellung zu einer Korrektur des Defizits führen sollen.155 Innerhalb dieser Frist muss der Mit152  Siehe Art. 5 VO  1173/11. Der Beschluss zur Verhängung der Geldbuße gilt als vom Rat angenommen, wenn er die Empfehlung der Kommission nicht innerhalb von zehn Tagen mit qualifizierter Mehrheit ablehnt (Art. 5 Abs. 2 VO  1173/11). 153  Siehe Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 123, Rn. 107 m. w. N.; Kempen, Art. 126 AEUV, in: Streinz (Hrsg.), EUV/ AEUV-Kommentar, 2012, Rn. 31; Hattenberger, 104 EGV, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2009, Rn. 36. A. A. Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 2008, S. 348. Im Fall der griechischen Haushaltskrise 2010 ging der Rat jedoch soweit, äußerst detaillierte wirtschafts- und finanzpolitische Vorgaben zu beschließen, die beispielsweise die Kürzung des Oster-, Urlaubs- und Weihnachtsgeldes für Beamte vorsehen und zahlreiche weitere Maßnahmen umfassen, vgl. Beschluss des Rates vom 10.  Mai 2010, 2010/320/EU, Abl. Nr. L  145, v. 11.6.2010, S. 6, Art. 2 Abs.  1 lit. f. 154  Die Berechnung der Mindestverbesserung erfolgt ohne Anrechnung einmaliger und befristeter Maßnahmen. 155  Siehe Art. 3 Abs. 4 VO  1467/97. Nach Abs. 5 VO  1467/97 kann der Rat jedoch die Frist bei Vorliegen unerwarteter nachteiliger wirtschaftlicher Ereignisse in der Regel um ein weiteres Jahr verlängern.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

gliedstaat darüber berichten, welche Maßnahmen er ergriffen hat. Der Bericht muss insbesondere Ziele und diskretionäre Maßnahmen für die Staatsausgaben und -einnahmen sowie weitere geplante Aktivitäten des Mitgliedstaates umfassen (Art. 3 Abs. 4a VO  1467 / 97). d) Fehlende Maßnahmen und Inverzugsetzung Ergreift der Mitgliedstaat innerhalb der gesetzten Frist nicht die erforderlichen Maßnahmen und stellt der Rat dies auf Empfehlung der Kommission mit qualifizierter Mehrheit fest,156 kann er die Empfehlungen veröffentlichen, um so den politischen Druck zu erhöhen. Für Eurostaaten ist dieser Schritt zudem mit weiteren Rechtsfolgen verbunden. Auf Empfehlung der Kommission kann der Rat eine Geldbuße in Höhe von 0,2 % des VorjahresBIP verhängen. Das Verfahren hierzu verläuft analog zum Verfahren einer unverzinslichen Einlage bei besonders schwerwiegenden Verstößen gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt gemäß Art. 5 VO  1173 / 11.157 Missachtet der Mitgliedstaat auch in den darauf folgenden zwei Monaten die Vorgaben, kann der Rat ihn in Verzug setzen. Nach der Inverzugsetzung muss der betreffende Mitgliedstaat einen Bericht über die ergriffenen Maßnahmen erstellen. Dieser wird von den Mitgliedstaaten veröffentlicht (Art. 5 Abs. 1a VO 1467 / 97). Die Kommission kann zudem die Mitgliedstaaten verstärkt überwachen, insbesondere durch Überwachungsbesuche vor Ort. Sie soll die aktuelle Wirtschaftslage sowie mögliche Risiken oder Probleme des Mitgliedstaates untersuchen (Art. 10a VO 1467 / 97). Bei der Inverzugsetzung handelt es sich gewissermaßen um eine letzte Abmahnung mit Fristsetzung für zu ergreifende Maßnahmen, bevor der Rat weitere Sanktionen beschließt. e) Sanktionsmaßnahmen i. e. S. Kommt der betreffende Mitgliedstaat auch der Inverzugsetzung nicht nach, so kann der Rat Sanktionsmaßnahmen im engeren Sinne beschließen (Art. 126 Abs. 11 AEUV).158 Der Beschluss hierzu ergeht innerhalb von vier 156  Art. 126 Abs. 8 i.  V. m. Abs. 13 AEUV. Der Rat erstattet nach seinem Beschluss dem Europäischen Rat hierüber Bericht (Art. 4 Abs. 2 UAbs. 2 VO 1467/97). Art. 126 Abs. 13 AEUV regelt die Modalitäten der Beschlussfassung des Rates für Art. 126 Abs. 8 bis 11 AEUV. Ausführlich zu den Mehrheitserfordernissen siehe Hattenberger, 104 EGV, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2009, Rn. 55 f. 157  Siehe Art. 6 VO  1173/11. Vgl. oben Abschnit A.IV.2.b). 158  Art. 6 Abs. 2 VO  1467/97 konkretisiert den AEUV: Demnach verhängt der Rat Sanktionen, wenn der Mitgliedstaat die Vorgaben der Verzugsentscheidung nicht befolgt.



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung99

Monaten nach der Verzugsentscheidung.159 Diese reichen von besonderen Informationspflichten bei der Ausgabe von Schuldverschreibungen, die voraussichtlich zu Zinsaufschlägen auf den Kapitalmärkten führen dürften, über eine geänderte Darlehenspolitik der Europäischen Investitionsbank gegenüber dem Mitgliedstaat bis zur Einforderung unverzinslicher Einlagen oder sogar Geldbußen „in angemessener Höhe“. Statt der bisherigen unverzinslichen Einlage soll seit 2011 „in der Regel“ eine Geldbuße als Sanktion verhängt werden. Diese setzt sich aus einer festen Komponente in Höhe von 0,2 % des BIP und einer variablen Komponente zusammen, die sich nach der Differenz von tatsächlichem zu gefordertem Finanzierungsdefizit oder Schuldenstand richtet.160 Der Rat prüft jährlich, ob der Mitgliedstaat weiterhin gegen die Vorgaben verstößt, und kann die Sanktionen durch eine erneute Geldbuße verschärfen.161 Seit der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes durch das sogenannte Six-Pack werden die Eurostaaten deutlich früher sanktioniert. Bereits bei Feststellung eines übermäßigen Defizits droht eine unverzinsliche Einlage. Missachtet der Mitgliedstaat die darauf folgende Empfehlung, kann der Rat eine Geldbuße verhängen. Diese und die weiteren Sanktionsmaßnahmen nach Abs. 11 des Art. 126 AEUV stellen konkrete Druckmittel dar, die in erster Linie eine abschreckende Wirkung haben sollen.162 Für Mitglieder, die nicht Teil des Euro-Währungsraumes sind, drohen sie jedoch erst nach der Verzugsentscheidung. Zudem können Eurostaaten, die Daten über Defizite und Schulden absichtlich oder aufgrund schwerwiegender Nachlässigkeit falsch darstellen, mit einer Geldbuße in Höhe von maximal 0,2 % des BIP sanktioniert werden. Die Kommission kann hierzu alle notwendigen Untersuchungen durchführen, die Konten aller staatlichen Stellen einsehen sowie Überprüfungen vor Ort durchführen.163

159  Die Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 17. Juni 1997, Abl. C 236 vom 02.08.1997 (vgl. Ziffer 2–5 der an den Rat gerichteten Leitlinien) ergänzt die genannten Bestimmungen: Der Rat soll die genannten Fristen als Höchstgrenzen ansehen, immer dann Sanktionen verhängen, wenn ein Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen zum Defizitabbau nicht ergreift, sodann regelmäßig eine unverzinsliche Geldeinlage verlangen und diese nach zwei Jahren in eine Geldbuße umwandeln. Vgl. Hattenberger, 104 EGV, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2009, Rn. 49. 160  Siehe Art. 12 Abs. 1 VO  1467/97. 161  Siehe Art. 12 Abs. 2 VO  1467/97. Eine einzelne Geldbuße nach den Abs. 1 und 2 darf in der Summe nicht mehr als 0,5 % des BIP ausmachen (Art. 12 Abs. 3 VO  1467/97). 162  Siehe Häde, Art. 104 EGV, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 2007, Rn. 73. 163  Siehe Art. 8 VO  1173/2011.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

3. Ausschluss des Vertragsverletzungsverfahrens Für die Absätze 1 bis 9 des Art. 126 AEUV schließt Abs. 10 die Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 und 259 AEUV aus, so dass weder die Kommission noch andere Mitgliedstaaten mögliche Handlungspflichten des betreffenden Mitgliedstaates einklagen können.164 Der Kommission und den Mitgliedstaaten ist damit ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung der Haushaltsdisziplin genommen. Der Kommission verbleibt das Initiativrecht zur Abgabe von Berichten, Stellungnahmen und Vorschlägen im Defizitverfahren. Der Ausschluss der Vertragsverletzungsverfahren verdeutlicht die politische Dimension des Verfahrens und die zentrale Stellung des Rates bei der Defizitkontrolle und dem Sanktionsverfahren. Unberührt hiervon bleibt jedoch die Möglichkeit, ein Verfahren gegen einen Mitgliedstaat einzuleiten, der die gegen ihn verhängten Sanktionen nach Art. 126 Abs. 11 AEUV ignoriert. Andere Verfahrensarten, wie beispielsweise eine Untätigkeitsklage (Art. 265 UAbs. 1 AEUV) oder eine Nichtigkeitsklage (Art. 263 UAbs. 2 AEUV) vor dem Europäischen Gerichtshof, sind durch die Bestimmungen des Art. 126 Abs. 10 AEUV nicht betroffen.165

V. Systematik und Direktionskraft des Stabilitäts- und Wachstumspaktes Die geschilderten unionsrechtlichen Maßstäbe zulässiger Staatsverschuldung, einschließlich der zugehörigen Verfahren, sind vielschichtig und kompliziert. Kernaussagen und Wirkungsweise des Stabilitäts- und Wachstumspaktes lassen sich demgemäß nur auf der Grundlage einer zusammenfassenden Darstellung angemessen würdigen, die ihre unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen, die Flexibilität der verschiedenen Maßstäbe und ihr Verhältnis zueinander näher beleuchtet. Erst hierauf aufbauend lassen sich Rückschlüsse auf die Funktionsfähigkeit des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ziehen und die normative Direktionskraft des europäischen Verschuldungsrechts rechtspolitisch bewerten.166

164  Siehe

hierzu unten Abschnitt A.V.2. Kempen, Art. 126 AEUV, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 2012, Rn. 47 ff. und Hattenberger, 104 EGV, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2009, Rn.  57 f. 166  Siehe unten Abschnitt A.V.2. 165  Siehe



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung101

1. Die zeitlichen Dimensionen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes Die europäischen Vorgaben zur Staatsverschuldung sind insbesondere deshalb so komplex, weil sie unterschiedliche zeitliche Perspektiven betreffen. Neben kurzfristigen Vorgaben für das einzelne Haushaltsjahr müssen die Mitgliedstaaten mittelfristige Budgetziele berücksichtigen. Und mit der Pflicht, tragfähige öffentliche Finanzen zu gewährleisten, ist auch die langfristige Perspektive Teil der europäischen Regelung. Nur wenige Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes gelten unmittelbar für das laufende oder zu beschließende Haushaltsjahr. Hierzu zählt zum einen der weithin bekannte Schwellenwert von 3 % des BIP, den alle Mitgliedstaaten als ordentliche Obergrenze für das jährliche Finanzierungsdefizit beachten müssen. Zum anderen müssen Mitgliedstaaten mit überhöhter Kreditaufnahme ihren strukturellen Finanzierungssaldo (d. h. konjunkturbereinigt und ohne Anrechnung einmaliger und befristeter Maßnahmen) jährlich mindestens um den Richtwert von 0,5 % des BIP verbessern.167 Als jährlich einzuhaltende Vorgabe gilt zudem der Referenzwert des Schuldenstandes in Höhe von 60 % des BIP. Die Grenzen gelten jedoch nicht strikt, sondern werden durch auslegungsbedürftige Ausnahmeregelungen ergänzt, die eine erhöhte Verschuldung ermöglichen. Die Mehrzahl der Maßstäbe des Stabilitäts- und Wachstumspaktes basiert auf einer mehrjährigen Perspektive, die nicht einheitlich bestimmt ist. Im Zentrum stehen zweifellos die strukturellen mittelfristigen Haushaltsziele der Mitgliedstaaten. Sie sind Referenzpunkt für weitere Maßstäbe. Die Mitgliedstaaten setzen sich jeweils differenzierte Ziele, die von dem Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“ abweichen dürfen, aber wenigstens einen Sicherheitsabstand zum maximal zulässigen Finanzierungsdefizit von 3 % des BIP aufweisen müssen.168 Für die Mitglieder des Euro-Währungsraumes muss die strukturelle Zielmarke zwischen –1 % des BIP und einem ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushalt liegen.169 Diese mittelfristigen Haushaltsziele sind das zentrale Element der Stabilitäts- und Konvergenzprogramme, welche die Mitgliedstaaten jährlich ak167  Sie sind hierzu entweder durch den Anpassungspfad in Richtung ihres mittelfristigen Haushaltsziels (Art. 5 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1 VO  1466/97) oder im Rahmen der Defizitkorrektur gemäß Art. 126 Abs. 6 bis 9 AEUV i. V. m. Art. 3 Abs 4, Art. 5 Abs. 1 VO  1467/97 verpflichtet. 168  Siehe oben Abschnitt A.III.2. 169  Hierbei berücksichtigen die Mitglieder jedoch den haushaltspolitischen Spielraum, insbesondere die Notwendigkeit von öffentlichen Investitionen (Art.  2a UAbs. 1 und 2 VO  1467/97). Die nationalen Haushaltsziele werden alle drei Jahre überprüft.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

tualisieren und veröffentlichen. Diese Programme, in denen die Mitgliedstaaten umfangreiche Angaben zu ihrer fiskalischen und gesamtwirtschaftlichen Situation machen, bilden in der Praxis die Grundlage für die multilaterale Überwachung gemäß 121 Abs. 3 und 4 AEUV.170 Die Mitgliedstaaten müssen darin aufzeigen, wie sie das mittelfristige Haushaltsziel im Laufe des Konjunkturzyklus erreichen wollen (Anpassungspfad) und dabei ihre Hauptannahmen über die voraussichtliche Entwicklung der öffentlichen Haushalte sowie über wichtige ökonomische Variablen offen legen.171 Kommission und Rat prüfen das angegebene Haushaltsziel nach den Angaben des Stabilitäts- bzw. Konvergenzprogrammes und bewerten, ob die ökonomischen Annahmen plausibel und der Anpassungspfad dorthin angemessen sind.172 Kommission und Rat überwachen nicht nur das geplante Ziel, sondern auch die tatsächliche und erwartete Entwicklung der Staatsverschuldung. Sie nehmen eine Gesamtbewertung vor und überprüfen insbesondere, ob die Mitgliedstaaten von den mittelfristigen Haushaltszielen „erheblich abweichen“. Dies ist Voraussetzung für weitere Druck- und Sanktionsmittel gegenüber dem Mitgliedstaat im Rahmen der multilateralen Überwachung. Art. 6 Abs. 3 VO  1466 / 97 konkretisiert mittels zweier Kriterien das Tatbestandsmerkmal der erheblichen Abweichung, sowohl inhaltlich als auch zeitlich: Zum einen wird überprüft, ob die Abweichung des strukturellen Haushaltssaldos in einem Jahr mindestens 0,5 % des BIP oder in zwei aufeinanderfolgenden Jahren durchschnittlich mindestens 0,25 % des BIP jährlich beträgt. Zum anderen wird auch die Ausgabenentwicklung analysiert. Belastet die Ausgabenentwicklung den Haushaltssaldo in einem Jahr (oder kumulativ in zwei aufeinanderfolgenden Jahren) um mindestens 0,5 % des BIP, deutet sie auf eine erhebliche Abweichung hin.173 Zwar gelten – wie beim Schwellenwert von 3 % zulässigem Finanzierungsdefizit – Ausnahmen für außergewöhnliche Ereignisse oder schwere Konjunkturabschwünge im 170  Vgl. den umfangreichen Katalog notwendiger Angaben in Art.  3 Abs. 2 VO  1466/97. 171  Sie müssen zudem aufzeigen, wie sich die Haushalts- und Verschuldungslage ändert, wenn die wichtigsten ökonomischen Annahmen nicht zutreffen. Die Prognose der Entwicklung der öffentlichen Haushalte muss zudem auf dem wahrscheinlichsten oder einem vorsichtigeren makrobudgetären Szenario beruhen. Erhebliche Abweichungen zu Prognosen der Kommission und anderer unabhängiger Institutionen müssen begründet werden (Art. 3 Abs. 2a VO  1466/96). 172  Der Rat kann das Haushaltsziel bei Bedarf nicht anpassen, sondern den Mitgliedstaat lediglich auffordern, den Anpassungspfad und das Haushaltsziel anspruchsvoller zu formulieren. Siehe oben Abschnitt A.III.2. und unten Abschnitt A.V.2. 173  Dies gilt nicht, wenn der betreffende Mitgliedstaat sein mittelfristiges Haushaltsziel übertroffen hat, siehe Art. 6 Abs. 3 VO  1466/97.



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung103

Euro-Währungsgebiet, aber grundsätzlich wählt der Stabilitäts- und Wachstumspakt einen zeitlichen Analyserahmen von bis zu zwei Jahren, um ein Abweichen von den mittelfristigen Haushaltszielen tatbestandlich greifbar zu machen. Bei der Frage, ob ein überhöhter Schuldenstand über dem Referenzwert von 60 % hinreichend rückläufig ist, legt der reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt hingegen einen Zeitraum von drei Jahren fest. Verringert sich der Abstand des öffentlichen Schuldenstandes zum Referenzwert (60 % des BIP) in drei Jahren jährlich um durchschnittlich 5 %, ist davon auszugehen, dass er im Sinne des Art. 126 Abs. 2 lit. b AEUV hinreichend rückläufig ist.174 Mit Hilfe des 2011 geschaffenen „Schuldenquotenanpassungsrichtwertes“ soll die bis dato unbestimmte Rückläufigkeit des Schuldenstandes operationalisierbar werden. Der numerische Wert, welcher sich auf einen Zeitraum von drei Jahren bezieht, soll Rechtsfolgen leichter auslösen können. Jedoch gelten auch hier die Ausnahmetatbestände für außergewöhnliche Ereignisse oder schwere Konjunkturabschwünge im Euroraum.175 Sowohl die Kriterien für ein erhebliches Abweichen als auch der Schuldenquotenanpassungsrichtwert sind eingebettet in eine Gesamtbewertung durch Kommission und Rat.176 Welchen zeitlichen Analyserahmen sie hierfür wählen, lässt der Stabilitäts- und Wachstumspakt grundsätzlich offen. Eine konkrete, allgemeinverbindliche Maximalverschuldung für ein einzelnes Haushaltsjahr lässt sich damit nicht unmittelbar ableiten. Allerdings ist der Ermessenspielraum von Kommission und Rat eingeschränkt, da die Mitgliedstaaten ihr mittelfristiges Haushaltsziel im Laufe des Konjunkturzyklus erreichen sollen. Problematisch ist hierbei, dass sich die Länge eines Zyklus nicht vorhersagen lässt.177 174  Der Durchschnitt kann auch aus dem letzten Jahr, für das Daten vorliegen, und den Haushaltsvorausschätzungen der Kommission für die beiden darauf folgenden Jahre gebildet werden (Art. 2 Abs. 1a VO  1467/97). 175  Da zudem die Konjunkturverläufe berücksichtigt werden sollen, gilt der Wert nicht strikt. 176  Siehe Art. 2 Abs. 4 VO 1467/97 und Art. 6 Abs. 3, Art. 10 Abs. 3 VO 1466/97. 177  Die Wirtschaftswissenschaften nehmen hilfsweise an, dass der Zeitraum eines Konjunkturzyklus zwischen sechs und elf Jahren liegt. Dieser sogenannte JuglarZyklus beschreibt den Investitionszyklus und wurde 1860 von dem französischen Arzt und Konjunkturforscher Joseph Clément Juglar (1819–1905) festgestellt. Er gilt als Konjunkturzyklus im eigentlichen Sinne. Diskutiert werden daneben auch noch der kurzfristige Kitchin-Zyklus (1923 von Joseph Kitchin [1861–1932] festgestellt), der sich mit einer Länge von 3 bis 4 Jahren an Lagerdispositionen orientiert, sowie der langfristige Kondratieff-Zyklus (1926 von Nikolai Dmitrijewitsch Kondratieff [1892–1938] entwickelt), bei dem mit einer Länge von 40 bis 60 Jahren Strukturen und Schlüsselinnovationen im Fokus stehen. Siehe Gabler Wirtschaftslexikon, „Konjunkturzyklus“, 2014, S. 1833. Diese Einteilung wird jedoch auch kri-

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2. Teil: Europäische Vorgaben

Sollen die mittelfristigen Haushaltsziele nicht ohne normative Direktionskraft bleiben, müssen sie aus teleologischer Sicht dynamisch wirken. Das bedeutet, aus der Entwicklung der vergangenen Haushaltsjahre können sich Rechtsfolgen für den aktuellen oder zu beschließenden Haushalt ergeben.178 Eine mögliche negative Entwicklung des strukturellen Haushaltssaldos und weiterer finanzwissenschaftlicher Indikatoren (z. B. Zins-Steuer-Quote oder Kreditfinanzierungsquote)179 in den vergangenen Jahren kann dazu führen, dass die mittelfristigen Haushaltsziele eine konkrete Verbesserung des Haushaltssaldos fordern und zwar zwingend im konkreten (zu beschließenden) Haushaltsjahr. Die 2011 eingeführten Analysezeiträume des Schuldenquotenanpassungsrichtwertes (drei Jahre) und der erheblichen Abweichung (ein bis zwei Jahre) konkretisieren bereits diese Vorgehensweise. Die mittelfristigen Ziele dürfen sich – auch in der Gesamtbewertung durch die Kommission – nicht darauf beschränken, Haushaltsvorgaben lediglich für zukünftige Jahre zu formulieren und diese, möglicherweise noch jährlich, zu aktualisieren. Denn auf diese Weise würden sie faktisch bedeutungslos, ihre Wirkung stets auf eine unbestimmte Zukunft verschoben. Mit der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen geht der Stabilitäts- und Wachstumspakt noch über den mittelfristigen Zeithorizont hinaus, ohne diesen Maßstab eindeutig zu konkretisieren. Eine Haushaltssituation gilt als tragfähig, wenn der Staat die intertemporale Budgetrestriktion beachtet, also die zukünftigen fiskalischen Zahlungsverpflichtungen erfüllen kann. Das heißt, er muss die (notwendigen) Staatsausgaben, den Schuldendienst und auch die demographisch bedingten Ausgabensteigerungen schultern können. Im Stabilitäts- und Wachstumspakt erfüllt der Maßstab die Funktion einer Schranke für die unterschiedlichen Ausnahmeregelungen180 tisch gesehen. Walther Eucken betont die Einmaligkeit der individuellen Konjunkturlagen, die sich nicht in ein Korsett theoretischer Annahmen zwingen lassen. Siehe Goldschmidt, Gibt es eine ordoliberale Entwicklungsidee? Walter Euckens Analyse des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels, in: Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik 12/3, 2012. 178  Andernfalls droht den mittelfristigen Haushaltszielen eine ähnlich geringe Bedeutung wie der mittelfristigen Finanzplanung in der bundesdeutschen Haushaltspolitik. Statt den jährlich aufzustellenden Haushaltsplan zu binden und zu beeinflussen, wird die mittelfristige Finanzplanung regelmäßig angepasst. Vgl. hierzu beispielsweise die kurze Analyse für die Haushaltsjahre 1982 bis 1986 von Donner, Verfassungsgrenzen der Staatsverschuldung, in: ZParl 1987, S. 436 (436 f.). 179  Die Zins-Steuer-Quote beschreibt den Anteil der Zinsausgaben an den Steuereinnahmen, die Kreditfinanzierungsquote den Anteil der Nettokreditaufnahme an den öffentlichen Ausgaben. 180  Siehe beispielsweise Art. 6 Abs. 3 VO  1466/97: „Ebenfalls unberücksichtigt bleiben kann eine solche Abweichung bei einem außergewöhnlichen Ereignis, […] vorausgesetzt, dies gefährdet nicht die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen.“



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung105

oder er verschärft den Anpassungspfad in Richtung auf das mittelfristige Haushaltsziel.181 2. Funktionsfähigkeit des Stabilitäts- und Wachstumspaktes Neben den unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen wirkt sich die komplexe Struktur des Stabilitäts- und Wachstumspaktes auch auf seine Funktionsfähigkeit aus. Nur wenige Maßstäbe sind unmittelbar objektivierbar und viele sind flexibel ausgestaltet. Zudem folgen die Maßstäbe der präventiven und korrektiven Komponente keiner stringenten, logischen Struktur, sondern überlappen sich teilweise.182 Sie lassen sich auch nicht von ihrer verfahrensrechtlichen Einbettung trennen. Zu den eindeutig greifbaren Maßstäben zählen die beiden prominenten Maastricht-Kriterien der korrektiven Komponente, die Referenzwerte für das Finanzierungsdefizit (3 % des BIP) und für den Schuldenstand (60 % des BIP). Durch ihre Klarheit treten sie – nicht zuletzt im öffentlichen Diskurs – besonders hervor und bilden einen festen, situationsunabhängigen Orientierungspunkt im ansonsten überwiegend flexiblen Maßstabssystem.183 Sobald ein Mitgliedstaat mindestens einen der Referenzwerte überschreitet, muss die Kommission seine Haushaltsdisziplin prüfen.184 Diese Transparenz wird jedoch durch weit gefasste und unbestimmte Ausnahmeregelungen getrübt.185 Dennoch übernehmen die Referenzwerte eine gewisse Schleusenfunktion, da sie einen Defizitbericht der Kommission (Art. 126 Abs. 3 AEUV) und damit weitere Schritte im Defizitverfahren auslösen 181  Siehe

oben Abschnitt A.III.3. Six-Pack zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes betont eine wirtschaftspolitische Steuerung, die „sich auf mehrere miteinander verknüpfte und ineinandergreifende Politiken für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung“ stützt. Siehe Erwägungsgrund  (6) VO  1477/2011. 183  Dies gilt sowohl für alle beteiligten Institutionen als auch die Öffentlichkeit insgesamt. Siehe Häde, Art. 104 EGV, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 2007, Rn. 45 ff. 184  In der Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 17. Juni 1997, Abl. C 236 vom 02.08.1997 verpflichten die Mitgliedstaaten die Kommission, einen Bericht zu erstellen, wenn das geplante oder tatsächliche jährliche Finanzierungsdefizit den Referenzwert von 3 % des BIP überschreitet. 185  Bei einer Überschreitung des Finanzierungsdefizits kann dies entweder ein „außergewöhnliches Ereignis“ oder ein „schwerwiegender Wirtschaftsabschwung“ sein. Bei erhöhter Schuldenstandsquote muss diese hinreichend rückläufig sein und sich dem Referenzwert rasch nähern. Die Ausnahmeregelungen werden durch VO  1467/97 näher bestimmt, wobei die Regelungstiefe weiterhin einen großen Ermessensspielraum belässt. Siehe oben Abschnitte A.II.1.c) und e). 182  Das

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2. Teil: Europäische Vorgaben

können.186 In ihrem Bericht berücksichtigt die Kommission die mittelfristige Wirtschafts- und Haushaltsentwicklung im betroffenen Mitgliedstaat sowie insbesondere den Fortschritt im Hinblick auf das mittelfristige Haushaltsziel. Auf diese Weise fließen die Maßstäbe der präventiven Komponente auch in das Defizitverfahren des Art. 126 AEUV ein. Im weiteren Verfahren verlieren die Maastricht-Kriterien jedoch substantiell an Bedeutung. Insbesondere sind sie nicht ausschlaggebend für die Feststellung eines übermäßigen Defizits oder gar die Verhängung von Sanktionen.187 Stattdessen rücken die öffentlichen Investitionsausgaben188 und vor allem die sonstigen einschlägigen Faktoren in den Vordergrund. Vor allem letztere lassen die Maßstabsystematik unscharf werden. Während die Investitionsausgaben durch das Europäische System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG 2010) näher bestimmt werden,189 eröffnen die sonstigen einschlägigen Faktoren einen großen Ermessenspielraum, der durch den auslegungsbedürftigen Katalog an möglichen Faktoren (Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2  und Abs. 4 VO  1467 / 97) kaum eingeschränkt wird.190 Die zweifelsfreie Prüfung der Haushaltsdisziplin an Hand klarer Schwellenwerte wird also zu Gunsten der Flexibilität und der Berücksichtigung einzelfallspezifischer Aspekte erschwert. Die unbestimmten Rechtsbegriffe im Falle einer Überschreitung des Finanzierungsdefizits und die sonstigen einschlägigen Faktoren sind von großer Bedeutung.191 Die Kommission und später auch der Rat müssen eine Einzelfallprüfung vornehmen, die ihnen 186  Sieht die Kommission die Gefahr eines übermäßigen öffentlichen Defizits, kann sie auch ungeachtet der Referenzkriterien einen Bericht gemäß Art. 126 Abs. 3 AEUV erstellen. Ein Überschreiten der Referenzwerte führt jedoch umgekehrt nicht automatisch zur Feststellung eines übermäßigen Defizits, siehe Erwägungsgrund (14) VO  1177/2011. 187  Letztlich entscheidend sind die Beurteilungen und Entscheidungen von Kommission und Rat, ob ein übermäßiges Defizit besteht und ob es zur Verhängung von Sanktionen kommt (Art. 126 Abs. 5 und 6 AEUV). Dies übersieht letztlich auch Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, S. 87, wenn er von einer disziplinierenden Wirkung der Referenzwerte ausgeht. 188  Das Kriterium der Investitionsausgaben basiert auf demselben inhaltlichen Kern der „goldenen Regel“ des Grundgesetzes a. F., ist jedoch deutlich enger gefasst. Vgl. oben Abschnitt A.II.2. 189  Siehe Art. 2 Spiegelstr. 2 des Protokolls Nr. 12 des AEUV sowie Statistisches Bundesamt, Generalrevision 2014: Methodische Weiterentwicklung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, 2014 und Braakmann, Revidierte Konzepte für Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Wirtschaft und Statistik 8/2013, S. 521. 190  Alle Faktoren, die aus Sicht des betroffenen Mitgliedstaates von Bedeutung sind, müssen von der Kommission berücksichtigt werden, siehe Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 VO  1467/97. 191  Siehe hierzu ausführlich oben Abschnitt A.II.3.



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung107

bedeutende wirtschafts- und finanzpolitische (Ein-)Schätzungen abverlangt. Auch die länderspezifischen mittelfristigen Haushaltsziele der präventiven Komponente,192 welche auf den Schätzungen des Produktionspotentials beruhen, sind Teil der Defizitprüfung. Eine klare und objektive Abgrenzung von zulässigen und unzulässigen übermäßigen Haushalten ist damit nahezu unmöglich. Ist ein Defizitverfahren (Art. 126 Abs. 7 ff. AEUV) gegenüber dem Mitgliedstaat eingeleitet worden, muss er seinen strukturellen Haushaltssaldo um einen Richtwert von 0,5 % des BIP verbessern. Dieser konjunkturbereinigte Saldo (ohne Anrechnung einmaliger oder befristeter Maßnahmen) ist zugleich Maßstab der präventiven Komponente, die für den Anpassungspfad in Richtung der mittelfristigen (strukturellen) Haushaltsziele ebenfalls ein Richtwert von 0,5 % des BIP zugrunde legt.193 Neben den Maastricht-Kriterien und ihren erweiternden Maßstäben sind die mittelfristigen Haushaltsziele von zentraler Bedeutung für die Funktionsfähigkeit des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Statt der allgemeinverbindlichen Anforderung des „Close-to-Balance“-Grundsatzes zu folgen, dürfen die Mitgliedstaaten – seit der Reform 2005 – hiervon abweichen.194 Der – dem Stabilitäts- und Wachstumspakt vorangestellte – Grundsatz des „Close-to-Balance“ wird damit de facto auf eine allgemeine Zielvorstellung ohne unmittelbare Wirkung reduziert. Dass die mittelfristigen Haushaltsziele hierbei nicht allgemeingültig, sondern von den Mitgliedstaaten selbst festgelegt werden, schwächt die Direktionskraft der präventiven Komponente. Kommission und Rat können lediglich prüfen, ob das angegebene Haushaltsziel nach den Angaben des Stabilitäts- bzw. Konvergenzprogrammes und den ökonomischen Annahmen plausibel sowie der Anpassungspfad dorthin angemessen ist. Falls nicht, kann der Rat den Mitgliedstaat nur auffordern, den Anpassungspfad beziehungsweise das Haushaltsziel anspruchsvoller zu formulieren, weitere Druckmittel und Sanktionen stehen ihm nicht zur Verfügung. Da für den Beschluss jedoch eine qualifizierte Mehrheit nötig ist, besteht die Gefahr, dass er wenig ambitionierte Ziele akzeptiert.195 192  Siehe

Art. 2 Abs. 3 lit. b VO  1467/97. Richtwerte in beiden Komponenten sind nicht zu addieren. Ein Mitgliedstaat, der sich (vorübergehend) in einem Defizitverfahren befindet, erhält von Kommission und Rat Empfehlungen, die auch die mittelfristigen Ziele berücksichtigen. 194  Für die Staaten des Euro-Währungsraumes wird ein Korridor zwischen –1 % des BIP und einem ausgeglichenen oder positiven Haushaltssaldo festgelegt. Das Sekundärrecht konkretisiert auf diese Weise den „Close-to-Balance“-Grundsatz für die Eurostaaten. 195  Siehe Kullas, Kann der reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt den Euro retten?, 2011, S. 12. 193  Die

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2. Teil: Europäische Vorgaben

Eine eher untergeordnete Rolle für die Funktionsfähigkeit spielt der Maßstab der langfristigen Tragfähigkeit. Denn die Analyse der Tragfähigkeit unterliegt zahlreichen Variablen, modelltheoretischen Annahmen und Projektionen. Da der Stabilitäts- und Wachstumspakt außerdem keine Berechnungsmethode eindeutig festlegt, ist die tatsächliche Wirkung des Maßstabs äußerst gering.196 Positiv auf die Funktionsfähigkeit der mittelfristigen Haushaltsziele könnte sich auswirken, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt, seit der SixPack-Reform 2011, Kriterien für eine erhebliche Abweichung von den Zielen benennt. Zudem schließt die präventive Komponente einmalige oder zeitlich befristete Einzelmaßnahmen bei der Bewertung von Konsolidierungsfortschritten aus. Mit diesem Ansatz legt sie ein größeres Gewicht auf eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung, um so möglicherweise kurzfristig bestehende Negativanreize struktureller Reformen zu begrenzen und potentielle Verzerrungen, beispielsweise durch singuläre Veräußerungserlöse, zu verhindern.197 Durch die neue Einnahmen-Ausgaben-Regel werden die Mitgliedstaaten sogar zusätzlich gebunden. Staaten, die ihre Einnahmen bewusst senken (z. B. durch Steuerentlastungen) oder ihre Ausgaben erhöhen (z. B. durch Sozialprogramme), müssen dies ausgleichen. Die Höhe des staatlichen Ausgabenvolumens (d. h. die Staatsquote) wird nicht festgelegt, dem Ausgabenvolumen muss nur ein entsprechendes Einnahmevolumen gegenüberstehen.198 Der Stabilitäts- und Wachstumspakt setzt das Ausgabenwachstum in unmittelbaren Bezug zur mittelfristigen potentiellen Wachstumsrate des BIP. Eine Steigerung des Potentialwachstums erlaubt damit höhere Ausgaben und vice versa. Dies verdeutlicht erneut die große funk­ 196  Der Maßstab definiert zudem keine Obergrenze für eine noch tragfähige Verschuldung. Siehe hierzu auch Europäische Kommission (Hrsg.), Fiscal Sustainabil­ity Report 2012, European Economy 8/2012, http://ec.europa.eu/economy_finance/ publications/european_economy/2012/pdf/ee-2012-8_en.pdf (abgerufen am 8.4.2017). 197  Siehe Koch, Art. 123–126 AEUV, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Kommentar, 2010, S. 1603, Rn. 18. In der Praxis wurde die Bereinigung um Einzelmaßnahmen bereits schon vor der Reform 2005 vorgenommen, war jedoch im ursprünglichen Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht vorgesehen. Siehe auch Part, Entwicklung der Definition für das mittelfristige Budgetziel in den Stabilitäts- und Konvergenzprogrammen, Bundesministerium für Finanzen Österreich (Hrsg.), Working Paper 8/2000, 2000, S. 21. 198  Siehe Europäische Kommission, Report on public finances in EMU-2012, European Economy 4/2012, http://ec.europa.eu/economy_finance/publications/ european_economy/2012/pdf/ee-2012-4.pdf (abgerufen am 8.4.2017), S. 70: „The expenditure benchmark does not constrain governments in terms of their level of government expenditure – it simply requires that all changes to expenditure are financed through additional revenues. The actual size of the spending to GDP ratio is not constrained.“



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung109

tionale Bedeutung des Potentialwachstums und seinen Einfluss bei der Entwicklung der Haushaltspolitiken.199 Verstoßen die Mitgliedstaaten des Euroraumes gegen die Vorgaben zum Ausgabenwachstum (bzw. zur Gegenfinanzierung von geringeren Einnahmen) oder weichen sie erheblich von den mittelfristigen Zielen ab, drohen ihnen Sanktionen in Form von verzinslichen Einlagen (Art.  4 VO  1173 / 2011).200 Dieser durch die Six-Pack-Reformen eingeführte Sanktionsmechanismus ist grundsätzlich geeignet, die Wirkungskraft der präventiven Komponente zu stärken. Er stellt zudem eine direkte Verbindung zu den Sanktionsverfahren der korrektiven Komponente her.201 Seit der Reform 2011 werden Sanktionen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nach dem neuartigen Beschlussverfahren der sogenannten umgekehrten Mehrheit beschlossen, eine wesentliche Neuerung der Six-PackReformen.202 Hiermit soll eine Blockade durch den Rat erschwert und ein „Quasi-Automatismus“ hergestellt werden.203 Zwar kann der Sanktionsweg leichter als zuvor beschritten werden, doch bevor die Kommission eine 199  Ausführlich zum Konzept des Produktionspotentials und seiner Schätzung siehe unten 4. Teil Abschnitt A.II.1. und A.II.2.b). Neben der Potentialschätzung sind auch die Wirtschaftsprognosen der Kommission von Bedeutung, die sowohl für die präventive als auch die korrektive Komponente herangezogen werden. 200  Dies setzt voraus, dass Kommission und Rat eine strikte Gesamtbewertung vornehmen, die berücksichtigt, dass die mittelfristigen Haushaltsziele innerhalb eines Konjunkturzyklus erreicht werden sollen. Siehe oben Abschnitt A.V.1. Der Durchsetzungsmechanismus für die Eurostaaten basiert auf Art. 136 AEUV sowie Art. 121 Abs. 4 AEUV i. V. m. Art. 139 Abs. 4 AEUV. Siehe Erwägungsgrund (24 f.) VO  1175/2011. 201  Wurde im Rahmen der präventiven Komponente eine verzinsliche Einlage verhängt, kann die Kommission bereits bei der Feststellung eines übermäßigen Defizits (Art. 126 Abs. 6 AEUV) eine unverzinsliche Einlage verlangen. Siehe Art. 5 Abs. 1 VO 1173/2011. Vgl. auch Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2012/13, Rn. 213. 202  Nach dem Verfahren der umgekehrten Mehrheit gilt ein Sanktionsbeschluss gegenüber einem Staat des Euro-Währungsraumes als vom Rat angenommen, sofern er ihn nicht innerhalb von zehn Tagen nach der Annahme der Empfehlung der Kommission mit qualifizierter Mehrheit ablehnt, siehe Abs. 2 der Art. 4, 5 und 6 VO 1173/2011. Siehe hierzu auch Calliess/Schoenfleisch, Auf dem Weg in die euro­ päische „Fiskalunion“? Europa- und verfassungsrechtliche Fragen einer Reform der Wirtschafts- und Währungsunion im Kontext des Fiskalvertrages, JZ 2012, S. 477 (479). 203  Die Bundesregierung – namentlich Finanzminister Theo Waigel – legte bereits 1995 Vorschläge für einen Stabilitätspakt vor, der die primärrechtlichen Regelungen ergänzen und modifizieren sollte, um so u. a. ein automatisches Einsetzen der Sanktionen zu erreichen. Diese Verschärfung war jedoch politisch und rechtlich auf der Grundlage von Art. 104c Abs. 14 EGV (Vertrag von Maastricht, nunmehr Art. 126 Abs. 14 AEUV) nicht realisierbar. Der nun eingeführte „Quasi-Automatismus“ greift

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2. Teil: Europäische Vorgaben

Beschlussempfehlung aussprechen kann, muss zuvor der Rat die Einleitung des präventiven oder korrektiven (Sanktions-)Verfahrens beschließen.204 Er kann so verhindern, dass es überhaupt zu einem „Quasi-Automatismus“ kommt und Sanktionen ausgesprochen werden. Davon unabhängig stellt sich die Frage, ob für ohnehin verschuldete Staaten Einlagen und Geldbußen die geeigneten Mittel sind, um sich aus ihrer defizitären Lage befreien zu können.205 In der bisherigen Geschichte des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ist es noch nicht zu einer Verhängung von Sanktionen gekommen. Anfang 2003 stellte der Rat für Deutschland und Frankreich jeweils ein übermäßiges Defizit fest und sprach Empfehlungen nach Art. 126 Abs. 7 AEUV aus. Auf Grund fehlender Mehrheiten im Rat entschloss sich dieser jedoch nicht, die Empfehlungen zu veröffentlichen oder diese Staaten in Verzug zu setzen, sondern setzte das Verfahren gegen beide aus. Nach einer Klage der Kommission verurteilte der Europäische Gerichtshof dies als rechtswidrig.206 Das Verfahren wurde sodann wieder aufgenommen und Deutschland im März 2006 nach Abs. 9 in Verzug gesetzt. Da die Schuldenquote indes alsbald unter die 3 %-Marke sank, wurde das Verfahren eingestellt.207

den Grundgedanken von Theo Waigel in Ansätzen auf. Siehe Häde, Art. 104 EGV, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 2007, Rn. 112 f. 204  Bei der präventiven Komponente erfolgt dies mit der Feststellung einer erheblichen Abweichung und der Empfehlung zu ihrer Behebung (Art. 6 VO  1466/97). Bei der korrektiven Komponente muss der Rat zunächst ein übermäßiges Defizit (Art. 5 Abs. 1 VO  1173/11) oder fehlende Korrekturmaßnahmen (Art. 6 Abs. 1 VO  1173/11) beschließen. 205  Siehe Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 2008, S. 356, Fn. 163. 206  EuGH, Rs. C-27/04, Urteil v. 13.7.2004, Kommission/Rat der Europäischen Union, Slg. 2004 I, S. 6679 ff. Die Defizitverfahren gegen Deutschland und Frankreich und das damit verbundene Urteil des EuGH gaben Anlass zu einem Bericht zur Verbesserung der Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, der vom Rat am 20.3.2005 angenommen und vom Europäischen Rat am 22./23.3.2005 gebilligt wurde (ECOFIN-Bericht über die Verbesserung der Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes vom 20.5.2005, Dokument 7423/5/05). Dieser Bericht ist die Grundlage für das Aufweichen des Paktes mit der Reform von 2005 und mittlerweile Teil des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, siehe Erwägungsgrund (2) VO  1177/2011. Siehe Hattenberger, Art. 121 AEUV, in: Schwarze (Hrsg.), EUKommentar, 2012, Rn. 20. 207  Siehe Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 123, Rn. 111. Zur Übersicht über weitere Defizitverfahren vgl. http://ec. europa.eu/economy_finance/economic_governance/sgp/corrective_arm/index_en.htm (abgerufen am 8.4.2017). Auch die Verfahren zur Defizitkorrektur in Griechenland haben die Stufe des Art. 126 Abs. 9 AEUV bislang nicht überschritten.



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung111

VI. Rechtspolitische Bewertung Die komplexe Struktur des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ist nicht nur unübersichtlich und schwer verständlich, sondern geht insbesondere zu Lasten der Maßstabsklarheit. Die Reformen von 2005 und 2011 lassen den objektiven Maastricht-Kriterien von 3 % und 60 % des BIP nur noch eine untergeordnete Schleusenfunktion zukommen. Ursächlich ist ihr Versuch, möglichst viele Situationen und Faktoren abzubilden. Zwei Merkmale des korrektiven Arms zeigen dies anschaulich: die Berücksichtigung von Rentenreformen und von „politischen Maßnahmen“. Kommission und Rat berücksichtigen beispielsweise „angemessen die Umsetzung von Rentenreformen, bei denen ein Mehrsäulen-System eingeführt wird, zu dem eine gesetzliche, vollständig kapitalgedeckte Säule gehört und die Nettokosten der von der öffentlichen Hand finanzierten Säule.“208 Der Kommissionsbericht nach Art. 126 Abs. 3 AEUV spiegelt unter anderem „die Umsetzung von politischen Maßnahmen im Rahmen der Vorbeugung und Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte [und] die Umsetzung politischer Maßnahmen im Rahmen der gemeinsamen Wachstumsstrategie der Union und der Qualität der öffentlichen Finanzen insgesamt“209 wider. Es sind diese flexiblen Maßstäbe, mit denen der Stabilitäts- und Wachstums­ pakt zwangsläufig den Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum für Kommission und Rat vergrößert und damit eindeutige Vorgaben verhindert. Der Versuch, mit dem reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt eine möglichst große Breite ökonomischer Sachverhalte tatbestandlich zu berücksichtigen, beispielsweise Effekte von Strukturreformen, politischen Maßnahmen, (vermeintlichen) Sonderbelastungen und zahlreichen sonstigen Faktoren, überfordert das Recht. Denn die komplexen volks- und finanzwissenschaftlichen Zusammenhänge lassen sich bei der Beurteilung der Wirtschafts- und Haushaltslage der Mitgliedstaaten nicht vollständig in einem Normensystem abbilden. Es hält damit auch dem Anspruch an eine wirksame Schuldenbegrenzungsnorm nicht stand, da es zahlreiche Ansatzpunkte für die Mitgliedstaaten bietet, um eine zusätzliche und möglicherweise überhöhte Staatsverschuldung zu rechtfertigen.210 Die Regelbindung an die objektiven Maastricht-Kriterien wird durch den offen gehaltenen Ausnahme208  Art. 2

Abs. 5 VO  1467/97. Abs. 3 lit. b VO  1467/97. 210  Der Raum für politische Entscheidungen, die ihren eigenen politisch-prozeduralen Zwängen unterliegen, ist relativ groß. Die Erfahrungen zu politischen Rücksichtnahmen und Stimmrechtsallianzen bei Abstimmungen des Rates – beispielsweise in den Defizitverfahren gegen Deutschland und Frankreich – untermauern die Erkenntnis der möglichen politischen Einflussnahme. Siehe Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 123, Rn. 113. 209  Art. 2

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2. Teil: Europäische Vorgaben

katalog so weit geschwächt, dass der „Regel-Ausnahme-Charakter“ der Pflicht zur Vermeidung übermäßiger Defizite (Art. 126 Abs. 2 AEUV) nur noch formale Geltungskraft besitzt. Ungeachtet mancher Einwände gegen zu starre Defizitkriterien211 fordert bereits das Telos der Schuldenbegrenzung (in Form der Selbstbindung der Mitgliedstaaten zu Gunsten einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion) ein klares normatives Begrenzungskonzept, mit transparenten − mehr noch: indisponiblen − Maßstäben, die dem politischen Entscheidungsprozess weitgehend entzogen sind.212 Die Maßstabsklarheit des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wird auch durch die Konjunkturbereinigung vor besondere Herausforderungen gestellt. Sie soll der Gefahr begegnen, dass gute konjunkturelle Situationen eine tatsächlich problematische Verschuldung überdecken, während umgekehrt ein wirtschaftlicher Abschwung das Defizit überzeichnen kann.213 Starre Referenzkriterien können die konjunkturelle Entwicklung naturgemäß nicht situationsgerecht abbilden.214 Das Herausfiltern des konjunkturellen Trends ist jedoch nicht trivial.215 Um den Konjunkturverlauf zu bereinigen und 211  So warf beispielsweise Romano Prodi, der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, den Defizitkriterien vor, sie seien willkürlich oder sogar „dumm und starr“, siehe FAZ, Prodi nennt Stabilitätspakt „dumm“ und „starr“, vom 17.10.2002, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/haushaltspolitik-prodi-nennt-stabili taetspakt-dumm-und-starr-183467.html (abgerufen am 8.4.2017). Er übersieht jedoch, dass beide Werte Obergrenzen darstellen, zu denen die Mitgliedstaaten einen ausreichenden Sicherheitsabstand einhalten müssen. Die Erfahrungen mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt zeigen zudem, dass seine Probleme weniger in seiner vermeintlichen „Rigidität“ als vielmehr in der Schwäche des Anreiz- und Sanktionsmechanismus und seiner geringen präventiven Wirksamkeit liegen. Siehe Zeitler, Was bleibt vom Stabilitäts- und Wachstumspakt?, Deutsche Bundesbank (Hrsg.), 2005, S. 22. 212  Zu den Gründen und Zielen einer regelgebundenen Finanzpolitik siehe Zeitler, Was bleibt vom Stabilitäts- und Wachstumspakt?, Deutsche Bundesbank (Hrsg.), 2005, S.  10 ff. 213  Siehe Deutsche Bundesbank, Zur Problematik der Berechnung „struktureller“ Budgetdefizite“, Monatsbericht April 1997, S. 31 (32). 214  Siehe Eichengreen, Fiscal Policy and EMU, in: Eichengreen/Frieden (Hrsg.), The Political Economy of European Monetary Unification, 1994, S. 167 (174 f.). Die Maastricht-Kriterien sind jedoch so weit gefasst, dass sie einen ausreichenden Sicherheitsabstand ermöglichen. 215  Obwohl nicht explizit vorgesehen, nutzte die Kommission bereits vor der ersten Reform 2005 die Flexibilität des Art. 104 Abs. 3 EGV (jetzt: Art. 126 Abs. 3 AEUV), um im Rahmen der Berücksichtigung der „mittelfristigen Wirtschafts- und Haushaltslage“ eine Bereinigung um konjunkturelle Einflüsse vorzunehmen. Siehe Part, Entwicklung der Definition für das mittelfristige Budgetziel in den Stabilitätsund Konvergenzprogrammen, Working Paper 8/2000, Bundesministerium für Finan-



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung113

damit den strukturellen Haushaltssaldo zu identifizieren, schätzt die Europäische Kommission das Produktionspotential. Diese Schätzung ist von herausragender Bedeutung, da der strukturelle Haushaltssaldo für Zielstellung und Anpassungspfad der mittelfristigen Haushaltsziele herangezogen wird.216 Das Verfahren und die Schätzmethode selbst sind jedoch nicht eindeutig fixiert, sondern lediglich unverbindlich in einem „code of conduct“ festgehalten. Die Konjunkturbereinigung ist damit nicht interpretationsfest ausgestaltet. Sie trübt die Maßstabsklarheit und schwächt die Direktionskraft des gesamten Stabilitäts- und Wachstumspaktes.217 Gestärkt hingegen wird die präventive Komponente durch die neuen Vorgaben zum Ausgabenwachstum in den nationalen Haushalten. Erstmals macht der Stabilitäts- und Wachstumspakt auf Ebene der Einnahmen und Ausgaben Vorgaben, wie die mittelfristigen Haushaltsziele erreicht werden sollen.218 Dies kann dazu führen, dass die Mitgliedstaaten ihre Einnahmen erhöhen oder ihre Ausgaben senken müssen. Der Stabilitäts- und Wachstums­ pakt füllt auf diese Weise den Begriff der gesunden öffentlichen Finanzen Österreich (Hrsg.), 2000, S. 9, der die Bereinigung um „konjunkturzyklische Einflussfaktoren“ bereits auf Grund der Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 17. Juni 1997 (Abl. C 236 v. 02.08.1997) „von vornherein außer Streit gestellt“ sieht. 216  Der strukturelle Haushaltssaldo ist darüber hinaus Referenzpunkt für die Beurteilung einer „erheblichen Abweichung“ sowie der Ausgabenentwicklung. Dazu sogleich. Siehe auch oben Abschnitt A.III.2. und Abschnitt A.V.1. 217  So auch Jahndorf, der 2003 – also vor der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes 2005 – die Bedeutung der konjunkturellen Unabhängigkeit der eindeutig fixierten Defizitkriterien bekräftigt: „Wichtig scheint aber auch zu sein, daß der normative Geltungsanspruch des Referenzwertesystems nicht durch ökonomische Wertungen darüber aufgeweicht wird, welche Verschuldung als konjunkturell und welche strukturell anzusehen ist. Wie die Erfahrungen im Zusammenhang mit Art. 109 Abs. 2 GG gezeigt haben, verdichtet sich eine zunächst konjunkturelle Verschuldung regelmäßig zu einer strukturellen Verschuldung.“ Darüber hinaus sieht er bei der Konjunkturbereinigung die Gefahr mangelnder Maßstabsklarheit: „Die Alternative, das Referenzwertsystem noch weiter zu verfeinern, um beispielsweise konjunkturelle Einflüsse auf die Referenzwerte „herauszufiltern“ und um die Haushaltswirtschaft in noch aussagekräftigeren Zahlen darstellen zu können, würde wohl auch die Maßstabsklarheit in Frage stellen.“, Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 237 f. Zu den Problemstellungen in der deutschen Schuldenbremse siehe unten 4. Teil Abschnitt A.II.2. 218  Das jährliche Wachstum der Staatsausgaben darf nicht über dem Wachstum der mittelfristigen Referenzrate des BIP-Wachstums liegen. Zudem müssen Mitgliedstaaten, die ihr Ziel noch nicht erreicht haben, jede geplante Senkung der Einnahmen gegenfinanzieren. Darüber hinaus müssen sie den Abstand zwischen beiden Wachstumsraten so wählen, dass eine Korrektur in Richtung des Ziels sichergestellt ist (Art. 4 Abs. 1 UAbs. 3 lit. b VO  1466/97). Siehe oben Abschnitt A.III.2.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

zen219 mit Leben – ein echtes Novum. Allerdings sind die Vorgaben Teil der Überprüfung des Anpassungspfades in Richtung auf das mittelfristige Haushaltsziel, bei der erneut das Potentialwachstum und das strukturelle Defizit als Referenzpunkte dienen. Für sich genommen löst also eine Verletzung der Ausgabenregel noch kein Verfahren der präventiven Komponente aus.220 Für das Kriterium des zulässigen Schuldenstandes und seine Ausnahmeregelung (Art. 126 Abs. 2 lit. b AEUV) fällt der Befund ähnlich aus. Der neu geschaffene Schuldenquotenanpassungsrichtwert stärkt zwar das Kriterium, da er die Ausnahmeregelung erstmals numerisch greifbar macht.221 Allerdings werden zum einen die Haushaltsvorausschätzungen der Kommission, mit den damit verbundenen Schwierigkeiten, hierfür herangezogen und zum anderen die Konjunkturverläufe berücksichtigt.222 Zudem stellt der europäische Gesetzgeber in den Erwägungsgründen explizit klar, dass ein Überschreiten des Richtwerts nicht automatisch ein Defizitverfahren auslöst.223 Der langfristig angelegte Anpassungspfad zum Schuldenabbau zeigt exemplarisch, dass die Entwicklung der Staatsverschuldung in der Regel längere Zeiträume betrifft.224 Mit seiner mittel- und langfristigen Perspektive 219  Siehe

Art. 119 Abs. 3 AEUV sowie Erwägungsgründe (1) und (8) VO 1466/97. Verletzung gilt zudem als unerheblich, wenn der betroffene Mitgliedstaat sein Haushaltsziel übererfüllt (Art. 6 Abs. 3 UAbs. 3 VO  1466/97). Diese Ausnahmeregelung kann eine präventive Wirkung verhindern, wie die Beispiele Irland und Spanien zeigen. Diese hatten im Vorfeld der Krise ihre mittelfristigen Haushaltsziele übererfüllt. Obwohl sie die Ausgabenregel mehrfach verletzt hätten, wäre kein Verfahren der präventiven Komponente ausgelöst worden. Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2012/13, Rn. 220 und Holler/Reiss, Was bringt die neuerliche Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes?, Geldpolitik & Wirtschaft, Q 4/11, 2011, S. 91 (99). 221  Siehe Art. 2 Abs. 1a UAbs. 2 VO  1467/97. Dem Schuldenstandskriterium soll so größere Geltung zukommen. Bereits zuvor waren beide Referenzwerte im Primärrecht gleichrangig, wurden in der Praxis jedoch nicht so behandelt. Siehe Calliess/ Schönfleisch, Auf dem Weg in die europäische „Fiskalunion“? Europa- und verfassungsrechtliche Fragen einer Reform der Wirtschafts- und Währungsunion im Kontext des Fiskalvertrages, JZ 2012, S. 477 (479) sowie Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2012/13, Rn. 206. Siehe auch oben Abschnitt A.II.1.e). 222  Anders als bei der Konjunkturbereinigung werden hier die Auswirkungen des Konjunkturzyklus berücksichtigt und der Schuldenabbau entsprechend strenger oder großzügiger eingefordert. 223  Auch Bestandsanpassungen der Schulden und ihre Zusammensetzung können ausreichen, um das Vorliegen eines übermäßigen Defizits auf der Grundlage des Schuldenstandskriteriums zu verneinen. Vgl. Erwägungsgrund (14) VO  1177/2011. 224  Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise schnellten die Schuldenquoten einiger Länder jedoch in kürzester Zeit rasant nach oben. So stieg zwischen 2008 und 220  Eine



A. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung115

berücksichtigt der Stabilitäts- und Wachstumspakt, dass hohe Schuldenstände und Defizitquoten nur selten innerhalb eines Haushaltsjahres abgebaut werden können. Das Gros der Maßstäbe folgt diesem Befund und ist mehrjährig ausgerichtet. Dies geht jedoch zu Lasten der Maßstabsklarheit, der Transparenz und der Wirkungskraft. Eindeutigere Vorgaben und eine Obergrenze für das jährliche Finanzierungsdefizit könnten sich – auch langfristig – positiv auf die Staatsverschuldung der Mitgliedstaaten auswirken. Die mittelfristigen Haushaltsziele sind zudem unzureichend prozedural geschützt. Die Mitgliedstaaten können sich ihre Ziele selbst setzen. Kommission oder Rat bleibt lediglich eine Plausibilitätsprüfung, ohne dass sie sanktionsbewehrte, neue Ziele verlangen können. In der prozeduralen Absicherung des präventiven und korrektiven Arms bleibt der Rat die ausschlaggebende Institution. Die Kommission wurde zwar gestärkt und Sanktionen wurden mit dem Verfahren der umgekehrten Mehrheit teilweise erleichtert und beschleunigt, aber der Rat muss dieses Verfahren jeweils erst einleiten. Er bleibt Herr des Verfahrens im Stabilitätsund Wachstumspakt. Berücksichtigt man, dass einem Verstoß gegen die Rechtspflicht zur Vermeidung übermäßiger Defizite nur mit den Verfahren und Maßnahmen des Art. 126 AEUV begegnet werden kann, wird die starke politische Stellung des Rates überdeutlich. Der Ausschluss der Vertragsverletzungsverfahren für die Abs. 1 bis 9 des Art. 126 AEUV verstärkt den Befund, dass der europäische Mechanismus der Schuldenbegrenzung verfahrensrechtlich nicht hinreichend geschützt ist. Die zusammenfassende Bewertung der Direktionskraft fällt ernüchternd aus: Anstelle von klaren Kriterien und Grenzen dominieren (Ein-)Schätzungen und Prognosen225 sowie auslegungsbedürftige „einschlägige Faktoren“ die Maßstäbe des Unionsrechtes. Das europarechtliche Regelungsregime zeigt sich damit als zusammengesetztes Bild verschiedener Maßstäbe mit jeweils unterschiedlichen Dimensionen, wobei die Schnittstellen nicht klar abgegrenzt sind. Es bietet keine eindeutigen europäischen Vorgaben, die für alle Mitgliedstaaten einheitliche Verschuldungsgrenzen setzen. Die zulässige Verschuldung im jeweiligen Haushaltsjahr und der mittelfristige Anpassungspfad hängen im Wesentlichen von Schätzungen, Prognosen und Annahmen der Kommission ab.

2012 die Schuldenquote in Spanien von unter 40 % auf über 80 %, in Portugal von ca. 70 % auf über 120 % und in Irland gar von rund 30 % auf fast 120 % des BIP. Siehe Deutsche Bundesbank, Die Entwicklung staatlicher Zinsausgaben in Deutschland, Monatsbericht September 2013, S. 47 (62). Sondereffekte wie beispielsweise hohe Lizenzeinnahmen können die Schuldenquote auch kurzfristig senken. 225  Vgl. beispielsweise oben Abschnitt A.II.3.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

B. Begleitendes europäisches Völkerrecht I. Der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalpakt) Der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (VSKS) wurde am 2. März 2012 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, mit Ausnahme des Vereinigten Königreiches und der Tschechischen Republik, geschlossen.226 Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre Ratifikationsurkunde am 27. September 2012 beim Generalsekretariat des Rates der Europäischen Union hinterlegt. Der Vertrag ist am 1. Januar 2013 in Kraft getreten.227 Die Vertragsparteien schließen den Vertrag „als Mitgliedstaaten der Europäischen Union“.228 Der VSKS wird in Übereinstimmung mit dem Recht der Europäischen Union angewendet und ausgelegt, insbesondere mit Art. 4 Abs. 3 EUV.229 Art. 2 Abs. 2 VSKS legt als Kollisionsnorm fest, dass der Vertrag nur insoweit gilt, wie er mit EU-Recht vereinbar ist. Die Vertragsparteien streben zudem an, den Inhalt des Vertrags bis 2018 in den Rechtsrahmen der Europäischen Union zu überführen (Art. 16 VSKS). Die Vertragsstaaten verfolgen mit dem VSKS im Wesentlichen drei Ziele:230 Der Vertrag soll dabei helfen, die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten besser zu koordinieren und die Steuerung des Euro-Währungsgebietes zu erleichtern. Das dritte Ziel, die Förderung der Haushaltsdisziplin durch einen gemeinsamen Fiskalpakt, nimmt im Vertrag besonderen Raum ein. 226  Der deutsche Gesetzgeber hat dem Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion durch das Gesetz zu dem Vertrag am 13.9.2012 zugestimmt, BGBl. II 2012, S. 1006 f. Die Vertragsparteien beschlossen zugleich – im Anhang zum Protokoll über die Unterzeichnung – eine Regelung betreffend Art. 8 des Vertrages (Verfahren vor dem EuGH). Siehe BGBl. II 2012, S. 1008 ff. Kroatien, seit 1. Juli 2013 das 28. Mitglied der EU, hat den Vertrag bislang nicht ratifiziert. 227  Siehe Art. 14 Abs. 2 VSKS sowie BGBl. II 2013, S. 162. 228  Art. 1 Abs. 1 VSKS. Er steht allen Mitgliedstaaten der EU zum Beitritt offen (Art. 15 VSKS). 229  Siehe Art. 2 Abs. 1 VSKS. Art. 4 Abs. 3 EUV regelt den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wonach alle Mitgliedstaaten und die Union sich gegenseitig achten und bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, unterstützen. Sie unterlassen alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten. 230  Siehe Art. 1 Abs. 1 VSKS. Neben diesen drei Zielen verfolgt er auch die Ziele der Europa-2020-Strategie sowie daraus abgeleitete Ziele, wie zum Beispiel langfristig tragfähige öffentliche Finanzen (Art. 9 S. 2 VSKS).



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Um das erste Ziel – eine stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik – zu erreichen, sollen alle geplanten, größeren wirtschaftspolitischen Reformen vorab miteinander erörtert und gegebenenfalls abgestimmt werden. Auf diese Weise sollen auch „Benchmarks für vorbildliche Vorgehensweisen“ festgelegt werden (Art. 11 VSKS). Darüber hinaus sollen die Vertragsparteien auf eine gemeinsame Wirtschaftspolitik hinarbeiten, die das reibungslose Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion fördert (Art. 9 VSKS). Ebenso allgemein gehalten bekräftigen sie in Art. 10 VSKS ihre Bereitschaft, von den Maßnahmen des Art. 136 AEUV (Haushaltsdisziplin und Grundzüge der Wirtschaftspolitik im Euro-Währungsraum) sowie den durch die Europäischen Verträge gebotenen Möglichkeiten der Verstärkten Zusammenarbeit (Art. 20 EUV, 326 bis 334 AEUV) aktiv Gebrauch zu machen. Das zweite Ziel – die verbesserte Steuerung des Euro-Währungsraumes – soll durch den neu eingerichteten, informellen Euro-Gipfel erreicht werden (Art. 12 VSKS). Die Staats- und Regierungschefs der Eurostaaten sowie die Präsidenten der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank kommen bei Bedarf – mindestens jedoch zweimal jährlich – zu Tagungen zusammen, um spezifische Fragen, strategische Orientierungen und größere Konvergenz für den einheitlichen Währungsraum zu erörtern. Der Präsident des Euro-Gipfels (auch Euro-Gruppen-Chef genannt) wird mit einfacher Mehrheit von den Eurostaaten gewählt, analog zur Amtszeit des Präsidenten des Europäischen Rates.231 Die übrigen Vertragsstaaten nehmen an den Beratungen des Euro-Gipfels teil, wenn Fragen der Wettbewerbsfähigkeit, der allgemeinen Architektur des Euroraumes oder der Durchführung des VSKS erörtert werden (Art. 12 Abs. 3 VSKS). Ein im Vertrag enthaltener, fiskalpolitischer Pakt soll die Haushaltsdisziplin der Vertragsparteien stärken. Aufgrund seiner besonderen Stellung wird der gesamte Vertrag bisweilen auch als Fiskalpakt bezeichnet. 1. Der Fiskalpakt im Überblick Den inhaltlichen Kern des Vertrages über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (VSKS) bildet der Fiskalpolitische Pakt (Titel III, Art. 3 bis 8 VSKS). Die Vertragsparteien haben sich auf weitere Vorgaben zur Staatsverschuldung geeinigt (Art. 3 Abs. 1 VSKS), die zusätzlich zu den unionrechtlichen Bestimmungen gelten. Diese Regeln werden von den Staaten in „verbindlicher und dauerhafter Art“ in 231  Er bereitet die Tagungen des Euro-Gipfels vor, gewährleistet deren Kontinuität und unterrichtet das Europäische Parlament sowie alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Art. 12 Abs. 4 bis 6 VSKS).

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2. Teil: Europäische Vorgaben

nationales Recht überführt, entweder mit Verfassungsrang oder auf eine Weise, welche die „vollständige Einhaltung und Befolgung im gesamten nationalen Haushaltsverfahren“ garantiert (Art. 3 Abs. 2 VSKS).232 Der Fiskalpakt lehnt sich in Teilen an die deutsche Schuldenbremse im Grundgesetz an und verknüpft sie mit Vorgaben des reformierten Stabilitätsund Wachstumspakets. Als Ausgangspunkt verpflichten sich die Vertragsparteien zu einem ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushalt (Art. 3 Abs. 1 lit. a VSKS). Der hier erneut formulierte Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“233 gilt aber auch als eingehalten, wenn der jährliche strukturelle Saldo des Gesamtstaates dem mittelfristigen Ziel des Stabilitäts- und Wachstumspaktes entspricht.234 Das länderspezifisch formulierte, mittelfristige Ziel darf hierbei maximal ein strukturelles Defizit von 0,5 % des BIP aufweisen (Art. 3 Abs. 1 lit. b S. 1 VSKS).235 Das mittelfristige Haushaltsziel, und damit auch die Defizitgrenze von 0,5 % des BIP, gelten jedoch auch hier nicht strikt. Die Vertragsstaaten dürfen bei außergewöhnlichen Umständen vorübergehend von dem mittelfristigen Haushaltsziel oder ihrem Anpassungspfad dorthin abweichen (Art. 3 Abs. 1 lit. c VSKS). Art. 3 Abs. 3 lit. b VSKS definiert die außergewöhnlichen Umstände als ein „außergewöhnliches Ereignis, das sich der Kontrolle der betreffenden Vertragspartei entzieht und erhebliche Auswirkungen auf die Lage der öffentlichen Finanzen hat, oder ein schwerer Konjunkturabschwung im Sinne des geänderten Stabilitäts- und Wachstumspaktes, vorausgesetzt, die vorübergehende Abweichung der betreffenden Vertragspartei 232  Siehe Art. 3 Abs. 2 S. 1 VSKS. Die Umsetzung in nationales Recht musste bis ein Jahr nach Inkrafttreten des Vertrages erfolgen, also bis zum 1. Januar 2014. In Deutschland ist das Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags vom 15. Juli 2013 am 19. Juli 2013 in Kraft getreten, siehe BGBl. I 2013, S. 2398 ff. 233  Art. 3 Abs. 1 lit. a VSKS verzichtet zwar in seinem Wortlaut auf den Zusatz „nahezu ausgeglichen“, aber aus dem Zusammenhang mit lit. b wird deutlich, dass der Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“ des Stabilitäts- und Wachstums­ paktes gemeint ist. 234  Art. 3 Abs. 3 lit. b VSKS definiert den jährlichen strukturellen Saldo des Gesamtstaates als konjunkturbereinigten jährlichen Saldo ohne Anrechnung einmaliger und befristeter Maßnahmen und befindet sich damit im Einklang mit den Bestimmungen des präventiven Arms des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (VO  1466/97). 235  Siehe unten Abschnitt B.I.2.a). Unter den Bedingungen, dass die Schuldenstandsquote deutlich unter 60 % liegt und die Risiken für die langfristige Tragfähigkeit gering sind, darf das strukturelle Defizit auch 1,0 % des BIP aufweisen (Art. 3 lit. d VSKS). Die weiteren Bestimmungen des Art. 3 Abs. 1 lit. b VSKS sind deckungsgleich mit der präventiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes: Annäherung an das mittelfristige Haushaltsziel, Kontrolle durch die Kommission und Evaluation auf der Grundlage einer Gesamtbewertung mit dem strukturellen Defizit als Referenz, ohne Anrechnung diskretionärer einnnahmenseitiger Maßnahmen.



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gefährdet nicht die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen.“ Die Definition der außergewöhnlichen Umstände ist, auch im Wortlaut, nahezu identisch mit der Definition im Stabilitäts- und Wachstumspakt.236 Erhebliche Abweichungen vom mittelfristigen Haushaltsziel oder dem dorthin führenden Anpassungspfad sollen automatisch einen Korrekturmechanismus auslösen. Dieser Mechanismus wird von den Vertragsparteien auf nationaler Ebene eingerichtet. Er muss sicherstellen, dass die Abweichung innerhalb eines festgelegten Zeitraumes korrigiert wird (Art. 3 Abs. 1 lit. e VSKS). Die Vertragsstaaten stützen sich beim Einrichten ihres nationalen Korrekturmechanismus auf von der Kommission vorgeschlagene Grundsätze, die insbesondere die Art, den Umfang und den zeitlichen Rahmen der Korrekturmaßnahmen betreffen.237 Die Grundsätze bestimmen zudem die Rolle und Unabhängigkeit der Institutionen, die auf nationaler Ebene die Einhaltung der Vorgaben des Fiskalpaktes überwachen (Art. 3 Abs. 2 S. 2 VSKS). Ob die vereinbarten staatsschuldenrechtlichen Regelungen des Art. 3 Abs. 1 VSKS auch tatsächlich in nationales Recht überführt werden, unterliegt der Kontrolle des Gerichtshofes der Europäischen Union. Gemäß Art. 8 Abs. 1 S. 2 VSKS sollen eine oder mehrere Vertragsparteien den Gerichtshof anrufen, wenn die Europäische Kommission in ihrem Bericht über die nationalen Bestimmungen zu dem Schluss kommt, dass eine Vertragspartei der Pflicht des Art. 3 Abs. 2 VSKS nicht nachgekommen ist.238 236  Siehe Art. 5 Abs. 1 UAbs. 10 VO 1466/97. Die Ergebnisse der Auslegung und Analyse der Bestimmung im Stabilitäts- und Wachstumspakt können also auch hier herangezogen werden. Siehe hierzu oben Abschnitt A.II.1.c). 237  Siehe Mitteilung der Kommission, „Gemeinsame Grundsätze für nationale fiskalpolitische Korrekturmechanismen“, COM (2012) 342 final, vom 20.06.2012. Die Korrekturmaßnahmen sind auch unter „außergewöhnlichen Umständen“ zu treffen (Art. 3 Abs. 2 S. 2 VSKS). 238  Die Klage soll grundsätzlich durch den Dreiervorsitz im Rat der Europäischen Union eingereicht werden. Dies und die weiteren prozessualen Einzelheiten (u. a. Fristen, Klageberechtigte, Kostenübernahmen) werden im Anhang „Von den Vertragsparteien bei der Unterzeichnung getroffene Regelung betreffend Artikel 8 des Vertrages“ des VSKS geregelt. Ist eine Vertragspartei der Auffassung, dass ein Vertragsstaat Art. 3 Abs. 2 VSKS nicht erfüllt, kann sie den Gerichtshof auch unabhängig vom Bericht der Kommission mit der Angelegenheit befassen (Art. 8 Abs. 1 S. 3 VSKS). Siehe Calliess/Schoenfleisch, Auf dem Weg in die europäische „Fiskalunion“? Europa- und verfassungsrechtliche Fragen einer Reform der Wirtschafts- und Währungsunion im Kontext des Fiskalvertrages, JZ 2012, S. 477 (483 f.). Aufgrund der Schiedsklausel des Art. 273 AEUV kann der Europäische Gerichtshof für zuständig erklärt werden. Seine Mitwirkung bei der Kontrolle der völkerrechtlichen Vorgaben des Fiskalpaktes stößt daher auf keine unionsrechtlichen Bedenken, siehe von Lewinski, Nationale und internationale Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR X, 2012, § 217, Rn. 34.

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2. Teil: Europäische Vorgaben

Das Urteil ist für die Verfahrensbeteiligten bindend, und sie müssen innerhalb der vom Gerichtshof gesetzten Frist den erforderlichen Maßnahmen zur nationalstaatlichen Umsetzung nachkommen (Art. 8 Abs. 1 S. 3 VSKS). Ist eine Vertragspartei der Auffassung, dass die betroffene Vertragspartei das Urteil nicht umsetzt, kann sie den Gerichtshof anrufen und, auf Basis des Art. 260 AEUV, die Verhängung finanzieller Sanktionen verlangen. Die Sanktion (Pauschalbetrag oder Zwangsgeld) darf nicht über 0,1 % des BIP hinausgehen (Art. 8 Abs. 2 VSKS).239 Die prozessuale Absicherung orientiert sich am zweistufigen Vertragsverletzungsverfahren der Art. 259 und 260 AEUV.240 Neben der Umsetzung des Art. 3 Abs. 1 VSKS in nationales Recht verpflichten sich die Vertragsparteien, bei einer Schuldenstandsquote über dem Referenzwert von 60 %, den gesamtstaatlichen Schuldenstand jährlich zu reduzieren und zwar um einen Richtwert von einem Zwanzigstel des über den 60 % liegenden Anteils. Art. 4 VSKS wiederholt damit explizit die Regelung des Art. 2 Abs. 1a VO  1467 / 97 (Schuldenquotenanpassungsrichtwert), welche die Ausnahmeregelung des Art. 126 Abs. 2 lit. b AEUV (hinreichender Rückgang des Schuldenstandes) konkretisiert.241 Auch in Art. 5 VSKS verweist der Fiskalpakt auf das Unionsrecht, ohne grundlegend neue Vorgaben zu machen. Vertragsparteien, die einem Defizitverfahren des Art. 126 AEUV unterliegen, müssen in einem Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramm detailliert beschreiben, wie und mit welchen Strukturreformen sie das übermäßige Defizit wirksam und dauerhaft korrigieren werden. Inhalt und Form des Programms sowie das Überwachungsverfahren werden durch Unionsrecht festgelegt.242 Die Mitgliedstaaten des Eurowährungsraumes vereinbaren darüber hinaus für das Defizitverfahren des Art. 126 AEUV ein bestimmtes Abstimmungsverhalten (Art. 7 VSKS): Vertritt die Kommission die Auffassung, dass ein Eurostaat gegen das Defizitkriterium verstößt, verpflichten sie sich, die Empfehlungen und Vorschläge der Kommission zu unterstützen.243 Die Verpflichtung ent239  Eurostaaten entrichten die Zahlungen an den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), die übrigen Vertragsparteien an den Gesamthaushaltsplan der EU (Art. 8 Abs. 2 S. 3 VSKS). Art. 8 VSKS ist gemäß Abs. 3 als Schiedsvertrag im Sinne des Art. 273 AEUV zu verstehen. 240  Siehe BVerfGE 132, 195 (285) (Europäischer Stabilitätsmechanismus). 241  Vgl. oben Abschnitt A.II.1.e). 242  Der Fiskalpakt verweist nicht auf eine konkrete Verordnung. Aus der Systematik ergibt sich aber, dass er auf Art. 3 Abs. 4a VO  1467/97 sowie Art. 9 VO  473/2013 Bezug nimmt. 243  Diese Verpflichtung gilt „unter uneingeschränkter Einhaltung der Verfahrensvorschriften der Verträge“ und ausdrücklich nur für das Kriterium des Finanzierungsdefizits nach Art. 126 Abs. 2 lit. a AEUV.



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fällt, wenn eine qualifizierte Mehrheit der Eurostaaten sich dagegen ausspricht.244 Darüber hinaus stimmen sich die Vertragsparteien bei der Emission von Staatsanleihen ab, um diese besser planen und koordinieren zu können. Hierzu erstatten sie dem Europäischen Rat und der Kommission vorab Bericht (Art. 6 VSKS). 2. Vorgaben des Fiskalpaktes für die nationalen Schuldenbremsen a) Die mittelfristigen Haushaltsziele als Schuldengrenze Der Fiskalpakt fordert von den Vertragsstaaten, gesamtstaatliche Schuldenbremsen in ihrem einzelstaatlichen Recht einzuführen. Die Vorgaben in Art. 3 VSKS stützen sich auf den Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“ und die länderspezifischen mittelfristigen Haushaltsziele, wie sie in Art. 2a VO  1466 / 97 des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ausgestaltet sind.245 Art. 3 Abs. 1 lit. b VSKS sieht vor, dass die nationalen Schuldenbremsen das Instrument der länderspezifisch formulierten, mittelfristigen Haushaltsziele übernehmen. Die Ziele sollen dabei eine Untergrenze des jährlichen strukturellen Defizits von maximal 0,5 % des BIP aufweisen.246 Der Fiskalpakt gibt die Untergrenze für das strukturelle Defizit nur als mittelfristiges Haushaltsziel vor,247 welches innerhalb eines Konjunkturzyklus erreicht werden soll. Die Verschuldungsgrenze gilt nicht strikt und nicht unmittelbar für das Finanzierungsdefizit in jedem einzelnen Haushaltsjahr. Dies ergibt sich zum einen aus der Systematik des Art. 3 VSKS, der – in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht – eine rasche Annährung (lit. b S. 2) und einen Anpassungspfad (lit. c) in Richtung des mittelfristigen Haushaltsziels vorsieht. Wenn die Untergrenze unmittelbar und kurzfristig für jedes einzelne Haushaltsjahr gelten würde, ergibt ein Anpassungspfad, 244  Die qualifizierte Mehrheit der Eurostaaten wird ohne den betroffenen Mitgliedstaat ermittelt und richtet sich nach Art. 238 Abs. 3 AEUV. 245  Siehe oben Abschnitt A.III.2. Art. 3 Abs. 1 lit. b VSKS nimmt zweimal explizit Bezug auf das mittelfristige Haushaltsziel im Sinne des geänderten Stabilitätsund Wachstumspaktes. 246  Vgl. aber Ausnahme in Art. 3 Abs. 1 lit. d VSKS, dazu sogleich. Die konkreten mittelfristigen Haushaltsziele der einzelnen Mitgliedstaaten sind nicht Bestandteil des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Sie werden von den Mitgliedstaaten in den Stabilitäts- und Konvergenzprogrammen festgelegt. 247  So auch Calliess/Schoenfleisch, Auf dem Weg in die europäische „Fiskalunion“? Europa- und verfassungsrechtliche Fragen einer Reform der Wirtschafts- und Währungsunion im Kontext des Fiskalvertrages, JZ 2012, S. 477 (482).

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2. Teil: Europäische Vorgaben

der keine bloße Übergangsfrist darstellt,248 keinen Sinn. Daher löst eine Vertragspartei, die sich im Rahmen des Anpassungspfades bewegt, auch keinen automatischen (nationalen) Korrekturmechanismus aus (lit. e). Dass die Untergrenze von 0,5 % des BIP als mittelfristiges Ziel gilt, ergibt sich zum anderen auch aus dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 lit. b S. 4 VSKS, der explizit von Fortschritten in Richtung auf das mittelfristige Haushaltsziel spricht. Diese Fortschritte und die Einhaltung des mittelfristigen Haushaltsziels sollen mit Bezug auf den geänderten Stabilitäts- und Wachstums­ pakt geprüft werden.249 Dass der Fiskalpakt die 0,5 %-Grenze als mittelfristiges Haushaltsziel und nicht als kurzfristige, jährliche Vorgabe fordert, ist eine wichtige Erkenntnis für seine grundsätzliche Wirkung. Kommt es bei einer Vertragspartei zu einem schweren Einbruch der Wirtschaftskraft und in Folge dessen zu einem (sehr) hohen Finanzierungsdefizit,250 kann sie sich mit Hilfe des Anpassungspfades auf ihr – gegebenenfalls neu gesetztes – mittelfristiges Haushaltziel zubewegen. Das Haushaltsziel soll innerhalb eines Konjunkturzyklus erreicht werden. Für den Anpassungspfad gilt grundsätzlich der Richtwert einer jährlichen Verbesserung des Finanzierungsdefizits um 0,5 % des BIP,251 wobei die Kommission den zeitlichen Rahmen für die Annäherung, unter Berücksichtigung der länderspezifischen Risiken für die langfristige Tragfähigkeit, vorschlägt (Art. 3 Abs. 1 lit. b S. 3 VSKS). Die Fortschritte in Richtung auf das mittelfristige Ziel und dessen Einhaltung werden in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht (Art. 5 VO 1466 / 97) auf der Grundlage einer Gesamtbewertung evaluiert, die auch eine Analyse der Ausgaben einschließt.252 248  Übergangsfristen wie im deutschen Grundgesetz (Art. 143d Abs. 1 GG) kennen weder der Stabilitäts- und Wachstumspakt noch der Fiskalpakt. Das Bundesverfassungsgericht ist offenbar anderer Auffassung, wenn es gerade eben diese Übergangsfristen des Grundgesetzes mit dem Anpassungspfad vergleicht, siehe BVerfGE 132, 195 (280 f.) (Europäischer Stabilitätsmechanismus). Es übersieht jedoch, dass das Institut des Anpassungspfades fortwährend gilt und seine Wirkung nicht nach einem bestimmten Zeitraum oder nach Erfüllung der mittelfristigen Haushaltsziele verliert. 249  Der Fiskalpakt unterscheidet sich damit von der Schuldenbremse im Grundgesetz, die eine strukturelle Grenze für jedes einzelne Haushaltsjahr in Höhe von 0,35 % des BIP setzt. Siehe hierzu unten 3. Teil Abschnitt B.II.1.a). 250  Der automatisch wirkende nationale Korrekturmechanismus bleibt hiervon unberührt und wird ausgelöst (Art. 3 Abs. 1 lit.e VSKS). Dies gilt auch bei außergewöhnlichen Umständen (Art. 3 Abs. 2 S. 2 VSKS). 251  Bei einem Schuldenstand über 60 % des BIP soll der Richtwert über 0,5 % liegen. Vgl. Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 VO  1466/97. Siehe oben Abschnitt A.III.2. 252  Auf diese Weise wird auch die Einnahmen-Ausgaben-Regel des novellierten Stabilitäts- und Wachstumspaktes im Fiskalpakt berücksichtigt. Siehe hierzu oben Abschnitt A.III.2.



B. Begleitendes europäisches Völkerrecht123

Mit Blick auf die Verschuldungsgrenzen und ihre Ausnahmeregelung geht der Fiskalpakt kaum über das unionsrechtlich Normierte hinaus. Er ist vor allem strenger in Bezug auf die Bandbreite, in der die Staaten ihre mittelfristigen Haushaltsziele setzen sollen.253 Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (Art. 2a UAbs. 2 VO  1466 / 97) erlaubt den Eurostaaten ein Defizit von 1 % des BIP, während der Fiskalpakt maximal 0,5 % zulässt. Nur für Vertragsparteien mit einem Schuldenstand unterhalb des Schwellenwertes von 60 % des BIP und geringen Risiken für die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen ist ein strukturelles Defizit in Höhe von maximal 1 % des BIP (Art. 3 Abs. 1 lit. d VSKS) zulässig. b) Korrekturmechanismus Für den auf nationaler Ebene einzurichtenden Korrekturmechanismus setzt der Fiskalpakt nur den groben Rahmen.254 Die Funktionsweise und Ausgestaltung des Mechanismus obliegt den Vertragsparteien, die sich bei dessen Einrichtung („dabei“)255 auf von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Grundsätze stützen. Die Grundsätze selbst sind nicht Bestandteil des völkerrechtlichen Vertrages und können die Vertragsstaaten nicht mit konkreten materiellen Vorgaben binden. Art. 3 Abs. 2 S. 3 VSKS stellt klar, dass die Vorrechte der nationalen Parlamente uneingeschränkt gewahrt werden. Das Bundesverfassungsgericht betont daher, dass Art. 3 Abs. 2 S. 2 VSKS (Kompetenz der Kommission zum Erlass der Grundsätze) nur so verstanden werden kann, dass er sich auf die institutionellen Bestimmungen des Korrekturmechanismus beschränkt.256 Sowohl der Wortlaut des Fiskalpaktes als auch die Grundsätze der Kommission257 unterstreichen, dass sich die nationalen Korrekturmechanismen an den bestehenden Elementen des präventiven Arms des Stabilitäts- und Wachs253  Siehe

auch Erwägungsgrund 9 VSKS. soll ausgelöst werden, wenn eine Vertragspartei erheblich vom mittelfristigen Haushaltsziel oder dem Anpassungspfad dorthin abweicht. Die betreffende Vertragspartei muss sodann Maßnahmen ergreifen, um die Abweichungen innerhalb eines festgelegten Zeitraumes zu korrigieren (Art. 3 Abs. 1 lit. e VSKS). 255  Siehe BVerfGE 132, 195 (280) (Europäischer Stabilitätsmechanismus). 256  Siehe BVerfGE 132, 195 (284) (Europäischer Stabilitätsmechanismus). Die Bundesregierung macht als Antragsgegner in selbigem Verfahren sogar geltend, dass die nach Art. 3 Abs. 2 VSKS von der Europäischen Kommission abzugebenden Vorschläge zu gemeinsamen Grundsätzen für nationale Korrekturmechanismen lediglich normkonkretisierende Auslegungshilfen seien, vgl. BVerfGE 132, 195 (226) (Europäischer Stabilitätsmechanismus). 257  Die Kommission stellt insgesamt sieben Grundsätze für nationale fiskalpolitische Korrekturmechanismen auf, vgl. COM(2012) 342 final, Anhang. 254  Er

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2. Teil: Europäische Vorgaben

tumspaktes orientieren und mit diesen vereinbar sein sollen.258 Dies gilt insbesondere für den Auslöser des Mechanismus (erhebliche Abweichung vom mittelfristigen Haushaltsziel oder Anpassungspfad)259 und mögliche Ausnahmeoptionen260 (außergewöhnliche Umstände). Als „natürliches Auslösemoment“ bietet sich – neben länderspezifischen Kriterien – eine von der EUKommission festgestellte erhebliche Abweichung an (Grundsatz drei).261 Für die Art der Korrekturmaßnahmen bieten die Grundsätze der Kommission „eine konkrete praktische Hilfestellung, ohne ein übermäßig starres Verfahren aufzuerlegen“ (Grundsatz vier). Hiernach sollen Umfang und zeitlicher Rahmen für die Korrekturmaßnahmen im Voraus festgelegt werden, um im konkreten Anwendungsfall den Ermessenspielraum bei den zu beschließenden Korrekturmaßnahmen einzuschränken. Der Umfang der Korrekturmaßnahmen sollte sich an der Höhe der Abweichung orientieren. Dies betont auch der Fiskalpakt in seinen Erwägungsgründen: „[…] der von den Vertragsparteien einzuführende Korrekturmechanismus sollte darauf abzielen, Abweichungen vom mittelfristigen Ziel oder vom Anpassungspfad samt ihrer kumulierten Auswirkungen auf die Dynamik der Staatsverschuldung zu korrigieren“.262 Die Grundsätze adressieren zudem das „Phänomen des beweglichen Ziels“. Bei mittelfristigen Zielen und insbesondere bei Zielverfehlungen besteht die Gefahr, dass die aufgestellten Ziele oder der Zeithorizont zu ihrer Erfüllung regelmäßig angepasst werden.263 Um dieser Gefahr zu begegnen, schlagen die Grundsätze vor, „dem Haushaltsrahmen kritische Stabilitätselemente hinzuzufügen“, ohne näher zu konkretisieren, was darunter (beispielhaft) zu verstehen ist (Grundsatz vier). Unabhängige und funktional autonome Stellen sollen überwachen, ob die Korrekturmechanismen von den zuständigen Haushaltsbehörden eingehalten werden, insbesondere in Form von öffentlichen Stellungnahmen und Bewertungen.264 258  Siehe Art. 3 Abs. 1 lit. e VSKS und Grundsatz 2, COM (2012) 342 final, Anhang.  259  Vgl. hierzu oben Abschnitt A.III.2. 260  Siehe Grundsatz 6 COM (2012) 342 final, Anhang.  261  Siehe Art. 6 Abs. 3 VO 1466/97. Zur näheren Bestimmung einer erheblichen Abweichung siehe oben Abschnitt A.III.2. Bei der Festlegung der Methodik soll den Vertragsparteien jedoch „ein gewisses Maß an Flexibilität“ zukommen, siehe COM (2012) 342 final, S. 2 f. 262  Erwägungsgrund 14 VSKS. 263  Die Erfahrungen mit der mittelfristigen Finanzplanung in Deutschland erhärten diese Analyse. Die Haushaltsentwicklung und das Wirtschaftswachstum werden regelmäßig zu positiv geschätzt. Siehe hierzu Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche Inhalte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 26. Vgl. auch Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie: Eine Einführung in die Finanzwissenschaft, 2011, S. 476. 264  Siehe Grundsatz sieben COM (2012) 342 final, Anhang. 



B. Begleitendes europäisches Völkerrecht125

Diese Stellen sollen durch nationale Rechtsvorschriften geschützt werden, die ihnen einen gesetzlich verankerten Status, die Freiheit von Einflussnahme, angemessene und kompetente Ressourcenausstattung sowie den Zugang zu Informationen garantieren.265 Im Ergebnis verpflichten sich die Vertragsparteien zu der Einführung von Korrekturmechanismen, die der Pflicht zur Einhaltung der mittelfristigen Ziele des Fiskalpaktes (und damit gleichzeitig des Stabilitäts- und Wachstumspaktes) Nachdruck verleihen sollen. Weichen sie erheblich von ihren Zielen ab, sollen sie automatisch zur Korrektur gezwungen werden. Die von der Kommission vorgeschlagenen Grundsätze dienen als Stütze bei der Einrichtung des Korrekturmechanismus, berühren aber nicht die Kompetenz der Vertragsparteien, diesen eigenständig einzurichten.266 3. Bewertung des Fiskalpaktes Die Vertragsstaaten haben mit dem Fiskalpakt keine neuen materiellen Maßstäbe eingeführt. Er stützt sich vielmehr auf den reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt und bekräftigt diesen. Art. 4 VSKS fordert, dass die Vertragsparteien ihren Schuldenstand oberhalb des Referenzwertes von 60 % des BIP jährlich um 5 % reduzieren. Bislang konkretisiert dieser Schuldenquotenanpassungsrichtwert lediglich den Ausnahmetatbestand des Art. 126 Abs. 2 lit. b AEUV. Nunmehr wird der Schuldenabbau aktiv eingefordert. Die Pflicht zur Vorlage von Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogrammen, einschließlich einer detaillierten Beschreibung von Strukturreformen, im Rahmen eines Defizitverfahrens ist ebenfalls nicht neu. Art. 3 Abs. 4a VO  1467 / 97 sieht bereits einen Bericht des betroffenen Mitgliedstaates vor, und die sogenannte Two-Pack-Verordnung VO 473 / 2013 regelt in Art. 9 die Wirtschaftspartnerschaftsprogramme. Auf diese Bestimmung nimmt Art. 5 VSKS Bezug, wenn er für Inhalt, Form und Überwachung der Programme explizit auf das Recht der Europäischen Union verweist. 265  Zur Analyse, ob die Bundesrepublik Deutschland diesen Grundsatz umsetzt, siehe unten 4. Teil Abschnitt A.V.3. 266  So auch der Verfassungsrat der Französischen Republik, indem er betont, dass die Vorschläge weder bestimmen, wann der Mechanismus ausgelöst wird, noch welche Maßnahmen zu ergreifen sind, siehe Conseil Constitutionnel, Decision no. 2012653 DC vom 9.8.2012, Nr. 25. Daher würde wohl auch nur ein grober Verstoß gegen die Grundsätze der Kommission den Verpflichtungen gemäß Art. 3 Abs. 2 VSKS nicht genügen und könnte zum Gegenstand der prozessualen Absicherung gemäß Art. 8 VSKS werden. Vgl. BVerfGE 132, 195 (284 f.) (Europäischer Stabilitätsmechanismus).

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2. Teil: Europäische Vorgaben

Auch das Kernelement des Fiskalpaktes, die Einführung von Schuldenbremsen, baut auf bestehendem Recht auf.267 Neben dem Euro-Plus-Pakt268 sieht insbesondere die Six-Pack-Reform von 2011 bereits Fiskalregeln auf nationaler Ebene vor.269 Die Richtlinie 2011 / 85 / EU über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten270 fordert von den Mitgliedstaaten, numerische Haushaltsregeln einzuführen, die eine Einhaltung der fiskalischen Verpflichtungen aus dem AEUV gewährleisten (Art. 5). Sie dienen insbesondere „der Einhaltung der im Einklang mit dem AEUV festgelegten Referenzwerte für das Defizit und den Schuldenstand“ sowie „der Einführung eines mehrjährigen Finanzplanungshorizonts, der die mittelfristigen Haushaltsziele des Mitgliedstaats verfolgt.“271 Auch die Überwachung der nationalen numerischen Haushaltsregeln durch unabhängige Einrichtungen ist dort schon vorgesehen (Art.  6 Abs.  1 lit.  b RiLi 2011 / 85 / EU).272 Der Korrekturmechanismus des Fiskalpaktes ist hingegen nicht durch die Richtlinie oder den Euro-Plus-Pakt vorgezeichnet. Die empirische Analyse zeigt, dass die Vertragsstaaten die Schuldenbremse des Fiskalpaktes in großen Teilen umgesetzt haben, jedoch häufig nur durch einfachgesetzliche Regelungen.273 Die tatsächliche Wirksamkeit des 267  Maßstab der Schuldenbremse des Fiskalpaktes ist das von den Mitgliedstaaten im Rahmen des präventiven Arms des Stabilitäts- und Wachstumspaktes festgelegte mittelfristige Haushaltsziel, welches sich zwischen einem ausgeglichenen Haushalt und einem Finanzierungsdefizit von 0,5 % des BIP bewegen darf. Bei einem Schuldenstand unterhalb von 60 % ist auch ein Defizit von 1 % des BIP erlaubt (Art. 3 Abs. 1 lit. d VSKS). 268  Dazu sogleich Abschnitt B.II. 269  Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2012/13, Rn. 214. Zudem verlangt der Stabilitäts- und Wachstumspakt seit jeher, dass die Mitgliedstaaten innerstaatliche Verfahren im Haushaltsbereich gewährleisten, um die Vorgaben des Art. 126 AEUV zu erfüllen. Siehe Art. 3 S. 2 Protokoll (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit. 270  Abl. Nr. L 306, v. 23.11.2011, S. 41. 271  Siehe Art. 5 RiLi  2011/85/EU. 272  Die Vorgaben der Richtlinie 2011/85/EU zu den numerischen Haushaltsregeln (Art. 5 bis 7) gelten nicht für das Vereinigte Königreich (Art. 8). Die damit im Einklang stehende Ablehnung des VSKS durch das Vereinigte Königreich verhinderte eine Regelung im Rahmen des Primärrechtes. 273  Siehe Burret/Schellenbach, Umsetzung des Fiskalpaktes im Euro-Raum, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Arbeitspapier 08/2013, S. 30. Die Umsetzung wurde höchstwahrscheinlich dadurch beschleunigt, dass die Gewährung von Finanzhilfen des ESM an die Einrichtung der neuen Haushaltsregeln gebunden ist. Siehe Erwägungsgrund (5) des ESM-Vertrages: „Der vorliegende Vertrag [ESM] und der VSKS ergänzen sich gegenseitig bei der Verstärkung der haushaltspolitischen Verantwortlichkeit und der Solidarität innerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion. Es ist anerkannt und vereinbart, dass die Ge-



B. Begleitendes europäisches Völkerrecht127

Fiskalpaktes und damit auch dessen Erfolg hängen jedoch wesentlich davon ab, ob sich die Vertragsparteien auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten an ihre eigenen Regeln halten werden und insbesondere ihren Korrekturmechanismus beachten. Falls Vertragsstaaten die Vorgaben missachten, drohen ihnen keine Sanktionen durch den VSKS.274 Auch in Deutschland blieben in der Vergangenheit mutmaßlich verfassungswidrige Haushalte ohne Folgen für die verantwortliche Regierung.275

II. Der Euro-Plus-Pakt Bereits vor dem VSKS schlossen die Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebietes, im Rahmen der Tagung des Europäischen Rates vom 24. / 25.  März 2011, den Euro-Plus-Pakt, dem außerdem die Länder Bulgarien, Dänemark, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien beigetreten sind.276 Mit diesem Pakt wollen die teilnehmenden Mitgliedstaaten die Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigungsentwicklung fördern, die Stabilität ihrer Finanzen stärken und einen Beitrag zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen leisten. Sie verpflichten sich, Maßnahmen zu ergreifen, die für die Verwirklichung dieser Ziele erforderlich sind, und setzen die entsprechenden Maßnahmen, jeweils in eigener Verantwortung, auf nationaler Ebene um. Der Pakt benennt lediglich beispielhaft einen Katalog an möglichen Maßnahmen und betont, dass einzelnen Reformvorschlägen „besondere Aufmerksamkeit zuteil“ werden soll.277 währung von Finanzhilfe im Rahmen neuer Programme durch den ESM ab dem 1. März 2013 von der Ratifizierung des VSKS durch das betreffende ESM-Mitglied abhängt, und nach Ablauf der in Artikel 3 Absatz 2 VSKS genannten Frist von der Erfüllung der in diesem Artikel genannten Pflichten.“ 274  Der EuGH kann nur kontrollieren, ob die Vertragsstaaten die nationalen Schuldenbremsen einrichten (Art. 8 VSKS), nicht ob sie die Haushaltsregeln auch einhalten. Vgl. hierzu Calliess/Schoenfleisch, Auf dem Weg in die europäische „Fiskalunion“? Europa- und verfassungsrechtliche Fragen einer Reform der Wirtschaftsund Währungsunion im Kontext des Fiskalvertrages, JZ 2012, S. 477 (483 f.). 275  In den beiden einzigen staatsschuldenrechtlichen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wurden allerdings beide Bundeshaushalte (1981 und 2004) jeweils für verfassungsgemäß erklärt. Vgl. BVerfGE 79, 311 (Staatsverschuldung II) und BVerfGE 119, 96 (Staatsverschuldung II). 276  Siehe Der Euro-Plus-Pakt – Stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz, Anlage I der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 24./25.3.2011, EUCO 10/1/11. Der Euro-Plus-Pakt geht auf die Initiative der deutschen Bundeskanzlerin und des französischen Staatspräsidenten zurück. Siehe BVerfGE 131, 152 (168) (Unterrichtungspflicht). 277  Hier nennt der Pakt beispielsweise die „Überprüfung der Lohnbildungsverfahren und erforderlichenfalls des Grads der Zentralisierung im Verhandlungsprozess und der Indexierungsmechanismen, unter Wahrung der Autonomie der Sozialpartner

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2. Teil: Europäische Vorgaben

Mit Blick auf das Staatsschuldenrecht verpflichten sich die unterzeichnenden Mitgliedstaaten, nationale Haushaltsvorschriften zu erlassen, die „ausreichend verbindlich und dauerhaft“ sind. Sie sollen die Haushaltsvorschriften des Stabilitäts- und Wachstumspaktes in nationales Recht umsetzen und somit die Haushaltsdisziplin auf nationaler und subnationaler Ebene gewährleisten. Welches Rechtsinstrument die Staaten wählen (z. B. Einbettung in die Verfassung oder ein Rahmengesetz), lässt der Pakt ebenso offen wie die Ausgestaltung der Vorschrift: „[…] denkbar wären eine ‚Schuldenbremse‘, eine mit dem Primärsaldo verknüpfte Regel oder eine Ausgabenregel.“278 Das hier beispielhaft dargestellte, hohe Maß an Unverbindlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Euro-Plus-Pakt. Ob die Verpflichtungen erfüllt und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden, überwachen die Staats- und Regierungschefs lediglich auf politischer Ebene.279 Der Pakt weist damit den Charakter einer politischen Absichtserklärung auf, ohne Rechtsverbindlichkeit auszustrahlen. Er ist zudem im Lichte des zeitgleich beschlossenen Europäischen Stabilitätsmechanismus (Art. 136 Abs. 3 AEUV) zu sehen und zu bewerten. Die Einführung der dauerhaften gemeinschaftlichen Finanzhilfe des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)280 sollte wohl durch einen Pakt begleitet werden, der die Wettbewerbsfähigkeit und die langfristige Stabilität der öffentlichen Haushalte in den Mitgliedstaaten betont.281 in den Tarifverhandlungen.“ Siehe hierzu und zu weiteren Vorschlägen den EuroPlus-Pakt, Anlage I der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 24./25.3.2011, EUCO 10/1/11, S. 16 f. 278  Siehe Euro-Plus-Pakt, Anlage I der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 24./25.3.2011, EUCO 10/1/11, S. 19. 279  Siehe Euro-Plus-Pakt, Anlage I der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 24./25.3.2011, EUCO 10/1/11, S. 14. 280  Siehe Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des AEUV hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, 2011/199/EU sowie Anlage II der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 24./25.3.2011, EUCO 10/1/11. Der Antrag im diesbezüglichen Organstreitverfahren, dass der ESM verfassungsrechtlich geschützte Rechte des Bundestages verletze, wurde vom Bundesverfassungsgericht verworfen (Organstreitverfahren zu dem Gesetz zu dem Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, v. 13.9.1012, BGBl. II 2012, S. 978), siehe BVerfG, 2 BvR 1390/12 vom 18.3.2014. 281  Vor dem Hintergrund der europäischen Staatsschuldenkrise, die im Winter 2010/11 insbesondere für Irland, Spanien und Portugal akut war, sollte die Kombination aus Europäischem Stabilitätsmechanismus (ESM) und Euro-Plus-Pakt ein politisches Signal an die Finanzmärkte senden.



B. Begleitendes europäisches Völkerrecht129

In der Gesamtschau erscheint der unverbindliche Euro-Plus-Pakt als Vorläufer zum VSKS.282 Wie der VSKS zielt er darauf ab, die wirtschaftliche Säule der Wirtschafts- und Währungsunion, die wirtschaftspolitische Koordinierung, die Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltiges Wachstum zu fördern und zu stärken.283 Auch die Einführung von nationalen Haushaltsregeln (wie z. B. Schuldenbremsen) ist schon im Euro-Plus-Pakt enthalten, wenn auch noch unbestimmt. Beide Dokumente stimmen zudem darin überein, dass ihre Vorgaben im Einklang mit der bestehenden wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU stehen und die Integrität des Binnenmarktes uneingeschränkt gewahrt wird.284 Der VSKS weist jedoch als expliziter völkerrechtlicher Vertrag, der von den unterzeichnenden Staaten ratifiziert worden ist, eine höhere Verbindlichkeit auf als der weiterhin geltende Euro-PlusPakt.285

282  Auch die im November 2011 verabschiedeten Six-Pack-Reformen greifen einige Aspekte des Paktes auf und setzen sie teilweise um. Siehe BVerfGE 131, 152 (176) (Unterrichtungspflicht). 283  Vgl. den Wortlaut des Euro-Plus-Paktes, Anlage I der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 24./25.3.2011, EUCO 10/1/11, S. 13 und Art. 1 Abs. 1 VSKS. 284  Siehe Euro-Plus-Pakt, Anlage I der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 24./25.3.2011, EUCO 10/1/11, Leitvorgaben a und c, S. 14 f. und Art. 2 und 10 VSKS. 285  Das Bundesverfassungsgericht erkennt im Euro-Plus-Pakt „eine nur begrenzte rechtliche Verbindlichkeit“, siehe BVerfGE 131, 152 (224) (Unterrichtungspflicht). Die Bundesregierung macht in selbigem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geltend, dass es sich bei den Zielen des Euro-Plus-Paktes durchweg um freiwillige Selbstverpflichtungen auf intergouvernementaler Grundlage handele, siehe BVerfGE 131, 152 (187) (Unterrichtungspflicht).

Dritter Teil

Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung A. Die Neuregelung des Staatsschuldenrechts im Überblick I. Entstehungsgeschichtlicher Hintergrund 1. Kontext der Föderalismusreform Das neue Staatsschuldenrecht ist das zentrale Ergebnis der jüngsten Föderalismusreform (sog. Föderalismusreform II). Die Schuldenbremse entstand also im Kontext einer Reformdebatte, die ursprünglich angestoßen wurde, um die föderalen Strukturen der Bundesrepublik neu zu ordnen, insbesondere die Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Das föderale Gefüge der Bundesrepublik war seit Inkrafttreten des Grundgesetzes – und schon zuvor im Parlamentarischen Rat1 – regelmäßig Gegenstand von Reformdiskussionen. Auch mit den großen Verfassungsreformen von 1969, die auch eine Zäsur in der Finanzverfassung darstellten, ebbten diese nicht ab, im Gegenteil. Die Einführung der Gemeinschaftsaufgaben in Art. 91a und 91b GG a. F., die Zunahme von Tatbeständen der Mischfinanzierung von Bund und Ländern sowie die massive Steigerung zustimmungspflichtiger Gesetze wurden zunehmend kritisch bewertet und als Hemmschuh für die Reformfähigkeit des Landes erkannt. Hieran änderte sich auch nach der Verfassungsreform von 1994 wenig.2 Erst die sogenannte Föderalismus1  Vgl. beispielsweise Carlo Schmidt, Rede im Parlamentarischen Rat am 8. September 1948, Stenographischer Bericht S. 70 ff. 2  Vgl. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3, 20a, 28, 29, 72, 74, 75, 76, 77, 80, 87, 93, 118a und 125a) vom 27.10.1994, BGBl. I 1994, S. 3146. Lediglich die nunmehr strengere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur „Erforderlichkeitsklausel“ des Art. 72 Abs. 2 GG („Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“) verhindert, dass die legislativen Kompetenzen der Länder weiter schrumpfen. Seit seinem Altenpflegeurteil des Jahres 2002 verneint das Gericht einen Beurteilungsspielraum des Bundesgesetzgebers und betont die prozessuale Absicherung durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG. Vgl. BVerfGE 106, 62 (142) (Altenpflegegesetz) sowie BVerfGE 111, 226 (246 ff.) (Juniorprofessur) und



A. Die Neuregelung des Staatsschuldenrechts im Überblick131

reform I von 2006,3 zur Zeit der zweiten großen Koalition von CDU / CSU und SPD (2005 bis 2009), nahm größere Veränderungen in der föderalen Ausgestaltung vor,4 wobei jedoch die Finanzbeziehungen – entgegen dem Einsetzungsbeschluss der Föderalismuskommission I5 – weitestgehend6 ausgeklammert wurden.7 Noch vor dem Beschluss zur Änderung des Grundgesetzes kündigte die damalige Regierungskoalition von CDU / CSU und SPD einen weiteren ReBVerfGE 112, 226 (243 ff.) (Studiengebühren). Siehe Seiler, Art. 72 GG, in: Epping/ Hillgruber (Hrsg.), GG-Kommentar, 2009, Rn. 10 ff.; Stettner, Art. 72 GG, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 2006, Rn. 17 f. Die föderalen Finanzbeziehungen blieben jedoch unverändert. 3  Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74, 74a, 75, 84, 85, 87c, 91a, 91b, 93, 98, 104a, 104b, 105, 107, 109, 125a, 125b, 125c, 143c) vom 28. August 2006, BGBl. I 2006, S. 2034; Föderalismusreform-Begleitgesetz vom 5. September 2006, BGBl. I 2006, S. 2098. 4  Hervorzuheben ist insbesondere die Aufhebung der Rahmengesetzgebung des Bundes (Art. 75 GG a. F.), das Verbot der direkten bundesgesetzlichen Aufgabenzuweisung an die Kommunen (Art. 84 Abs. 1 S. 7, Art. 85 Abs. 1 S. 2 GG), die Bestimmung des Steuersatzes der Grunderwerbssteuer durch die Länder (Art. 105 Abs. 2a S. 2 GG) sowie die Zustimmungspflicht des Bundesrates für Bundesgesetze, die Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbare Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen (Art. 104a Abs. 4 GG). 5  Im Beschluss zur „Einsetzung einer gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ vom 16.10.2003 heißt es: „Die Kommission soll insbesondere […] die Finanzbeziehungen (insbesondere Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierungen) zwischen Bund und Ländern überprüfen.“, BT-Drs.  15/1685 vom 14.10.2003, S. 1. 6  Bedeutende Ausnahmen sind die Grundgesetzänderungen zum sogenannten nationalen Stabilitätspakt, der die Sanktionslasten bei Verstößen gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt zwischen Bund und Ländergesamtheit aufteilt (Art. 109 Abs. 5 GG), die Befugnis der Länder zur Bestimmung des Steuersatzes bei der Grunderwerbssteuer (Art. 105 Abs. 2a S. 2 GG) und das sogenannte Kooperationsverbot von Bund und Ländern (Art. 104b Abs. 1 GG a. F.). Siehe FAZ, Föderalismusreform – Entflochten wird nur ein Faden, vom 30.06.2006, http://www.faz.net/ aktuell/politik/foederalismusreform-entflochten-wird-nur-ein-faden-1331334.html (abgerufen am 8.4.2017). 7  Die Kommission konnte sich nicht auf eine gemeinsame Vorlage zu Änderung des Grundgesetzes einigen. Die Vorsitzenden Dr. Edmund Stoiber und Franz Müntefering fassten die vorläufigen Ergebnisse in einem Vorsitzendenpapier zusammen. Vgl. Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung (Hrsg.), Arbeitsunterlage der Kommission 0104 (neu) vom 13.12.2004. Dieses Papier war die Grundlage für die im Koalitionsvertrag festgehaltene politische Verständigung von CDU/CSU und SPD zu einer Föderalismusreform. Bereits hier wurde die Notwendigkeit zu einem weiteren Reformschritt erkannt. Vgl. CDU/CSU und SPD (Hrsg.), Koalitionsvertrag vom 11.11.2005, S. 93 sowie Anhang 2.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

formschritt an, der „die Bund-Länder-Finanzbeziehungen den veränderten Rahmenbedingungen inner- und außerhalb Deutschlands, insbesondere für Wachstums- und Beschäftigungspolitik“, anpasst und das Grundgesetz so ändert, dass „die Eigenverantwortung der Gebietskörperschaften und ihre aufgabenadäquate Finanzausstattung gestärkt werden kann.“8 Diesen Wortlaut machten sich Bundestag und Bundesrat in ihrem Beschluss zur „Einsetzung einer gemeinsamen Kommission zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen“ zu eigen.9 Die sogenannte Föderalismuskommission II sollte eine grundlegende Reform der föderalen Finanzstruktur der Bundesrepublik Deutschland erarbeiten.10 Im Zuge der Beratungen verengten sich die Diskussionen jedoch zunehmend auf neue Regeln zur Begrenzung der Staatsverschuldung11 und – vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Haushaltsnotlage des Landes Berlin12 – zur Prävention und Lösung von Haushaltskrisen.13 Die Kommissionsmitglieder klammerten in den Beratungen eine Reform des Bund-Länder-Finanzausgleichs vollständig aus und erarbeiteten lediglich punktuelle Reformen des fiskalischen Föderalismus: Abgesehen von kleineren steuerrechtlichen Neuerungen14 enthält das Reformpaket neue Vorgaben für die Kreditaufnahme der Bundesländer,15 eine anlassbezogene Erweite-

8  Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD vom 11.11.2005, S. 93. Zur Notwendigkeit einer Reform der Finanzverfassung vgl. Kirchhof, Ferdinand, Den zweiten Schritt wagen! – Die Novellierung der Finanzverfassung als notwendige zweite Stufe der Föderalismusreform, ZG 2006, S. 288 sowie Korioth, Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen?, ZG 2007, S. 1 (16 f.). 9  Siehe BT-Drs.  16/3885 und BR-Drs.  913/06 vom 14.12.2006. Der Beschluss von Bundestag und Bundesrat zur „Einsetzung einer gemeinsamen Kommission zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen“ übernimmt den Wortlaut des Koalitionsvertrages von CDU/CSU und SPD vom 11.11.2005, S. 93. 10  Vgl. hierzu die offene Themensammlung im Anhang des Einsetzungsbeschlusses, BT-Drs.  16/3885, S. 3. 11  Vgl. hierzu Korioth, Das neue Staatsschuldenrecht – zur zweiten Stufe der Föderalismusreform, JZ 2009, S. 729. 12  BVerfGE 116, 327 (Berliner Haushalt). 13  Ausführlich zur Entwicklung des Reformprozesses, zum politischen Entstehungsprozess und zum veränderten Kontext aufgrund der Finanzkrise Ebert/Kastrop/ Meister-Scheufelen/Sudhof, Der politische Prozess, in: Kastrop et al. (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 62. 14  Unmittelbare finanzielle Auswirkungen haben die Änderungen bei der Versicherungs- und Feuerschutzsteuer, siehe Begleitgesetz zur zweiten Föderalismusreform vom 10. August 2009, Art. 10 und 12, BGBl. I 2009, S. 2710 ff. Vgl. hierzu auch die tabellarische Übersicht in BR-Drs.  263/09, S. 3. 15  Art. 109 Abs. 3 GG n.  F. Siehe hierzu unten Abschnitte A.II.2, B.II.2. und B.III.2.



A. Die Neuregelung des Staatsschuldenrechts im Überblick133

rung der Finanzhilfen des Bundes16 sowie übergangsweise Konsolidierungshilfen für einzelne Länder.17 Die weiteren verfassungsrechtlichen Änderungen der Föderalismusreform betreffen Leistungsvergleiche in der öffentlichen Verwaltung (sog. Benchmarking)18 sowie die Verwaltungszusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in der Informationstechnik.19 2. Die Blaupause der Schuldenbremse durch das Bundesfinanzministerium und der Reformvorschlag des Sachverständigenrates Von den rechtspolitischen Vorschlägen zur Reform des überkommenen Staatsschuldenrechts sind zwei für die (genetische) Analyse des geltenden Rechts hervorzuheben: zum einen das Modell des Bundesfinanzministeriums für eine neue Schuldenregel, welches nebst Anlagen als Kommissionsdrucksache 096 der Föderalismuskommission II veröffentlicht wurde,20 zum anderen die Expertise des Sachverständigenrates zur Begutachtung der ge16  Art. 104b Abs. 1 S. 2 GG n. F. Siehe hierzu die berechtigte Kritik von Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, S. 721, Fn. 2. 17  Siehe Art. 143d Abs. 2 und 3 GG i.  V. m. dem Konsolidierungshilfengesetz, BGBl. I 2009, S. 2705 f. Siehe hierzu unten Abschnitt A.II.5. 18  Art. 91d GG. Vgl. hierzu Kemmler, Schuldenbremse und Benchmarking im Bundesstaat, DÖV 2009, S. 549. 19  Art. 91c GG i. V. m. Gesetz über die Verbindung der informationstechnischen Netze des Bundes und der Länder, BGBl. I 2009, S. 2707 f. Weitere, einfachgesetzliche Regelungsgegenstände sind die Einrichtung eines nationalen Bundeskrebsregisters sowie Änderungen der Steuerverwaltung, siehe Begleitgesetz zur zweiten Föderalismusreform vom 10.August 2009, BGBl. I 2009, S. 2702 ff. Vgl. hierzu Sichel, Informationstechnik und Benchmarking – Neue Gemeinschaftsaufgaben im Grundgesetz, DVBl. 2009, S. 1014 (1015 ff.). 20  Kommissions-Drucksache (Kom-Drs.) 096 der Kommission zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen (Föderalismusreform II), http://webarchiv. bundestag.de/archive/2010/0427/bundestag/ausschuesse/gremien/foederalisreform/ kommissionsdrucksachen/kdrs096.pdf (abgerufen am 8.4.2017). Bereits im Februar 2007 forderte der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen eine Neuregelung des Staatsschuldenrechts, die sich an der Schweizer Schuldenbremse orientieren sollte. Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Brief an Minister Steinbrück „Schuldenbremse für Bund und Länder – Für eine Neufassung der Verschuldungsgrenzen“, veröffentlicht im Juli 2007, http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/ Oeffentliche_Finanzen/Schuldenbremse/2009-02-13-historische-entscheidungschuldenbremse-kommt-anlage.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (abgerufen am 8.4. 2017).

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

samtwirtschaftlichen Entwicklung vom März 2007.21 Letztere ist nicht nur auf Grund ihrer zeitlichen Nähe zur Grundgesetzänderung von Bedeutung, sondern auch weil der Sachverständigenrat wesentliche Elemente der neuen Schuldenbremse in ihren Grundzügen vorzeichnet.22 Das Bundesfinanzministerium hat in einem Konzeptentwurf vom 23. Januar 200823 die Zielsetzung und die einzelnen Elemente einer neuen Schuldenregel entworfen. Die darin entwickelte Konzeption ist Blaupause und Ausgangspunkt für den verfassungsändernden Gesetzgebungsprozess. Der Entwurf enthält bereits alle Bestandteile der Schuldenbremse und weicht lediglich in Details von der gesetzlichen Fassung ab.24 Für das Bundesfinanzministerium ist entscheidend, „dass die neue Schuldenregel den ausgeglichenen Haushalt – über den gesamten Konjunkturzyklus gesehen – als Regelfall begreift und im Übrigen gewährleistet, dass die Größenordnung eines gesamtstaatlichen Defizits im Einklang mit den Regeln des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes sowie mit einer dauerhaft tragfähigen Finanzlage für die nächste Generation steht.“25

21  Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007. Vgl. hierzu Kohns/Wiegard, Eine Schuldenschranke für Deutschland: Der Vorschlag des Sachverständigenrates, in: Jochimsen/Konrad (Hrsg.), Föderalismuskommission II: Neuordnung von Autonomie und Verantwortung, 2008, S. 15 (18 ff.). 22  Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie zur Begrenzung der Staatsverschuldung wurde Anfang 2008 veröffentlicht und könnte damit ebenfalls hier aufgeführt werden. Es ist jedoch sehr allgemein gehalten und weicht stark von der tatsächlich umgesetzten Schuldenbremse ab. Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Gutachten Nr. 01/08  – Zur Begrenzung der Staatsverschuldung nach Art. 115 GG und zur Aufgabe des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, 2008. Siehe hierzu Hancke, Defizitbegrenzung im Bundesstaat, 2008, S. 89 f. 23  Der Konzeptentwurf ist Teil der Kom-Drs. 096 vom 25.02.2008, die weitere Texte unterschiedlichen Datums enthält. Die Kommissionsdrucksachen der Föderalismuskommission II sind abrufbar unter: http://webarchiv.bundestag.de/archive/2010/ 0427/bundestag/ausschuesse/gremien/foederalisreform/kommissionsdrucksachen/ index.html (abgerufen am 8.4.2017). Ausführlich zur Genese und Konstruktion des BMF-Konzeptes siehe Dönnebrink/Erhardt/Höppner/Sudhof, Entstehungsgeschichte und Entwicklung des BMF-Konzeptes, in: Kastrop et al. (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 22. 24  So lässt er beispielsweise offen, welches Quorum im Bundestag für die Kreditaufnahme in Ausnahmesituationen notwendig ist. Von besonderem Interesse ist zudem, dass das Papier explizit einen Referenzpunkt für die konjunkturelle Normallage fordert. Im neuen Staatsschuldenrecht wird die Normallage jedoch nicht positiv definiert. Vgl. Kom-Drs. 096, S. 5. Siehe hierzu unten 4. Teil Abschnitt A.I.1. 25  Kom-Drs. 096, S. 7 f.



A. Die Neuregelung des Staatsschuldenrechts im Überblick135

Neben den wichtigsten Inhalten einer neuen Schuldenregel erläutert die Kommissionsdrucksache 096 in der Anlage 1, wie die Schuldenregel umgesetzt werden soll. Die Anlage 2 enthält ein juristisches Kurzgutachten der Bundesregierung, in dem sie die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer für Bund und Länder einheitlichen Schuldenbegrenzungsreglung bestätigt. Ebenfalls in Anlage 2 benennt das Bundesfinanzministerium wesentliche Elemente eines Verfahrens zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen. Es nimmt hierbei explizit Bezug auf die Forderung des Bundesverfassungsgerichts, Lösungskonzepte zur Vorbeugung von Haushaltskrisen zu entwickeln.26 Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erarbeitete 2007 im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie in einem Sondergutachten ein Lösungskonzept zur Begrenzung der öffentlichen Verschuldung.27 Der Reformvorschlag beruht auf drei Modulen, die aufeinander abgestimmt, aber auch weitestgehend unabhängig voneinander umsetzbar sind.28 Das erste Modul regelt die langfristige, objektbezogene Verschuldungsbegrenzung und orientiert sich an der alten Fassung des Art. 115 GG und der darin enthaltenen, „goldenen Regel der Finanzpolitik“.29 Diese wird jedoch vermögensorientiert interpretiert und durch einen strikten Nettoinvestitionsbegriff deutlich enger gefasst. Das zweite Modul beinhaltet eine „Schuldenschranke“, die konjunkturell bedingte Finanzierungsdefizite und -überschüsse zulässt und im Konjunkturverlauf zum Ausgleich bringt. Für Naturkatastrophen und besonders ausgeprägte Rezessionen sind zudem Ausnahmeregelungen vorgesehen. Dieses Modul ähnelt stark dem neuen Staatsschuldenrecht.30 Im dritten Modul wird ein Abschreckungs- und Sanktionsmechanismus entworfen, der die Einhaltung der Verschuldungsgrenzen sicherstellen soll. Das zentrale Element hierfür ist ein Ausgleichskonto, auf welchem vergangene Abweichungen von der zulässigen Verschuldung verbucht werden. Auch dieses Element findet sich ebenfalls im novellierten Staatsschuldenrecht.31 26  Siehe Kom-Drs. 096, Anlage 2, 2. Teil, S. 1 sowie BVerfGE 116, 327 (393 f.) (Berliner Haushalt). 27  Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007. 28  Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn. 115. 29  Siehe hierzu oben 1. Teil Abschnitt B.II. 30  Das Modul „Die Schuldenschranke − Grenzen für die kurzfristige Verschuldung“ wird daher im Laufe der Untersuchung zu Vergleichs- und Analysezwecken aufgegriffen. Vgl. insbesondere 4. Teil Abschnitt A.II.2.a). 31  Die Position des Sachverständigenrates ist insbesondere relevant bei der Analyse der Konjunkturbereinigungsverfahren. Vgl. 4. Teil Abschnitt A.II.2.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

II. Verfassungsänderungen und Begleitgesetzgebung im Überblick Mit der Grundgesetzänderung der Föderalismusreform II werden Abs. 2 und Abs. 3 des Art. 109 GG zu den zentralen Grund- und Ausgangsnormen des deutschen Staatsschuldenrechts. Ergaben sich nach der alten Rechtslage insbesondere die Regel- und die Obergrenze der Verschuldung aus der Verbindung von Art. 109 Abs. 2 GG a. F. mit Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG a. F., bilden nun Art. 109 Abs. 2 und 3 GG den zentralen schuldenrechtlichen Rahmen, der für den Bund durch Art. 115 GG näher konkretisiert wird.32 1. Einbettung in den europäischen Rahmen und die föderale Struktur der Bundesrepublik: Art. 109 Abs. 2 GG Die bisher in Art. 109 Abs. 5 S. 1 GG a. F. enthaltene gemeinsame Verpflichtung von Bund und Ländern auf die europäischen Vorgaben zur Haushaltsdisziplin nach Art. 126 AEUV (ex-Art. 104 EGV) rückt durch ihre Neufassung und Umsiedlung in Abs. 2 stärker in den Vordergrund des Staatsschuldenrechts. Die Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern ist nun nur noch „in diesem Rahmen“ an die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gebunden.33 Dabei sind die europäischen Vorgaben (Art. 126 AEUV i. V. m. dem Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt) dem deutschen Staatsschuldenrecht vorangestellt, was ihre Bedeutung bei systematischer Auslegung nochmals bestätigt. Auch der verfassungsändernde Gesetzgeber weist in seiner Gesetzesbegründung explizit darauf hin, dass der Schuldenbegrenzungsmechanismus des Abs. 334 an die Regelung in Abs. 2 anknüpft und die Grundsätze für die Haushaltswirtschaft sowie die Zulässigkeit einer Nettokreditaufnahme sich an den Vorgaben des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes orientieren.35 Des Weiteren legt Art. 109 Abs. 2 GG durch die geänderte Satzstellung36 ein größeres Gewicht auf die gemeinsame Verpflichtung von Bund und Län32  Art. 109 Abs. 3 S. 4 GG legt fest: „Die nähere Ausgestaltung regelt für den Haushalt des Bundes Artikel 115 …“ 33  Siehe unten Abschnitt A.III.2. 34  Siehe sogleich Abschnitt A.II.2. 35  Siehe BR-Drs.  262/09, S. 22. 36  Nach Art. 109 Abs. 5 S. 1 GG a. F. sind „Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft auf Grund des Artikels 104 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin […] von Bund und Ländern gemeinsam zu erfüllen.“ Im neugefassten Art. 109 Abs. 2 GG wurde die Satzstellung verändert: „Bund und Länder erfüllen gemeinsam die Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus



A. Die Neuregelung des Staatsschuldenrechts im Überblick137

dern. Die Verantwortung der Länder zur Einhaltung der gesamtstaatlichen Anforderungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wird hierdurch stärker als zuvor herausgestellt. Diese Änderung bildet den vorläufigen Schlusspunkt der Diskussion über die Rolle der Länder bei der gesamtstaatlichen Einhaltung der Defizitkriterien des Art. 126 AEUV (ex-Art. 104 EGV).37 2. Schuldenbremse im engeren Sinne: Art. 109 Abs. 3 GG Die Schuldenbremse im engeren Sinne, also der Regelungsmechanismus zur Begrenzung der Staatsverschuldung, wird in ihren wesentlichen Grundzügen in Art. 109 Abs. 3 GG festgelegt. Ausgangspunkt der Regelung ist der Grundsatz, dass Bund und Länder einen Haushaltsausgleich ohne Krediteinnahmen vornehmen sollen (Abs. 3 S. 1). Für den Bund wird dieser – an sich eindeutige – Grundsatz jedoch dahingehend relativiert, dass ihm entsprochen ist, wenn die Krediteinnahmen 0,35 % des nominalen Bruttoinlandsproduktes (BIP) nicht überschreiten (Abs. 3 S. 4). Für die Länder sind grundsätzlich keine Einnahmen aus Krediten zugelassen. Der Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleichs38 und die strukturelle Komponente von 0,35 % gelten für die sogenannte „Normallage“, also für eine wirtschaftliche Situation ohne konjunkturelle Auswirkungen eines Auf- oder Abschwungs. Um dennoch Phasen des wirtschaftlichen Auf- und Abschwungs berücksichtigen zu können, erlaubt die Schuldenbremse Bund und Ländern, Regelungen zu treffen, die die Auswirkungen konjunktureller Schwankungen symmetrisch berücksichtigen. Aufbauend auf die zulässigen 0,35 % des BIP der strukturellen Komponente des Bundes, wird der Verschuldungsrahmen entweder erweitert (im Falle negativer wirtschaftlicher Entwicklung) oder verkürzt (im Falle eines wirtschaftlichen Aufschwungs). Die Pflicht zur symmetrischen Berücksichtigung soll sicherstellen, dass sich Verschuldung und Tilgung am Ende eines Konjunkturzyklus ausgleichen.39 Die so vorgezeichnete konjunkturelle Komponente wird in Art. 109 Abs. 3 GG nicht näher konkretisiert. Für den Bund verweist Satz 4 auf Art. 115 GG, während nach Satz 5 die Länder die Konjunkturkomponente im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen in eigener Verantwortung ausgestalten können.40 Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft auf Grund des Artikels 104 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin […].“ 37  Vgl. hierzu Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994. 38  Siehe unten Abschnitt B.I. 39  Siehe unten Abschnitt B.III.1.b). 40  Die Länder sind nicht verpflichtet, eine Regelung zur konjunkturellen Kreditaufnahme zu treffen. Siehe Kube, Art. 109 GG, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kom-

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

Neben den Bestimmungen zur strukturellen und konjunkturellen Komponente erlaubt Art. 109 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 GG Ausnahmeregelungen für den Fall von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und ihn finanziell erheblich belasten. Die jeweils von Bund und Ländern festzulegenden Ausnahmebestimmungen müssen nach Satz 3 zwingend eine Tilgungsregelung vorsehen. 3. Konkretisierung der Schuldenbremse des Bundes: Art. 115 Abs. 2 GG  Art. 115 Abs. 2 GG wiederholt zunächst die wesentlichen Vorgaben des Art. 109 Abs. 3 S. 1 i. V. m. S. 4 GG zur strukturellen Verschuldungsgrenze von 0,35  % des nominalen Bruttoinlandsproduktes41 und nimmt die in Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG eröffnete Option einer konjunkturellen Verschuldungskomponente für den Bund in Anspruch. Letztere wird durch Vorgaben für eine einfachgesetzliche Ausgestaltung näher konkretisiert. Der Gesetzgeber muss regeln, wie die Obergrenze der Verschuldung auf Grundlage eines Konjunkturbereinigungsverfahrens berechnet werden soll. Zudem muss er sicherstellen, dass Einnahmen und Ausgaben um finanzielle Transaktionen bereinigt werden (Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG).42 Um eine übermäßige Verschuldung im Haushaltsvollzug zu verhindern, erfasst ein Kontrollkonto die Abweichungen der tatsächlichen Kreditaufnahme von der zulässigen Obergrenze, die aus struktureller und konjunktureller Komponente berechnet wird. Übersteigt die Belastung des Kontos 1,5 % des BIP, ist der Haushaltsgesetzgeber verpflichtet, diese konjunkturgerecht zurückzuführen.43 Sowohl die Kontrolle als auch der Ausgleich der Abweichungen sind ebenfalls einfachgesetzlich näher zu bestimmen.44 mentar, 2011, Rn. 181 f. und unten Abschnitt B.III.2. Bei der Umsetzung des Art. 109 Abs. 3 S. 1 GG (Haushaltsausgleich ohne Krediteinnahmen) besteht jedoch kein Legislativermessen. Die Länder müssen diese verfassungsrechtliche Vorgabe umsetzen. Siehe unten Abschnitt B.II.2.a). 41  Vgl. zur Kritik an der Regelungstechnik und Verfassungsästhetik etwa Korioth, Das neue Staatsschuldenrecht – zur zweiten Stufe der Föderalismusreform, JZ 2009, S. 729 (736 f.) oder Tappe, Die neue „Schuldenbremse“ im Grundgesetz, DÖV 2009, S. 881 (889). 42  Siehe unten 4. Teil Abschnitt A.I.2. sowie B.I.2. 43  Die Rückführungspflicht wird durch das das Gesetz zur Ausführung von Artikel 115 Grundgesetz (G 115) vom 10.August 2009, BGBl. I 2009, S. 2704 f. strenger gefasst. Siehe unten 4. Teil Abschnitt A.III.1. 44  Die nähere Bestimmung erfolgt durch das Gesetz zur Ausführung von Artikel 115 Grundgesetz (G 115) vom 10.August 2009, BGBl. I 2009, S. 2704 f. Siehe hierzu unten 4. Teil Abschnitt A.III.



A. Die Neuregelung des Staatsschuldenrechts im Überblick139

In Ergänzung zur Ausnahmeregelung im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen nach Art. 109 Abs. 3 S. 2 und 3 GG bedarf eine Überschreitung der Kreditobergrenze eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. Die so aufgenommene Verschuldung muss innerhalb eines „angemessenen Zeitraumes“ zurückgeführt werden (Art. 115 Abs. 2 S. 6 und 8 GG). 4. Präventionsregelung: Art. 109a GG Wie bereits der Stabilitäts- und Wachstumspakt auf europäischer Ebene führt die neue Schuldenbremse im Grundgesetz einen Präventionsmechanismus zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen ein. Hierzu wird nach Art. 109a GG ein Stabilitätsrat als gemeinsames Gremium von Bund und Ländern eingerichtet. Der Stabilitätsrat überwacht die Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern, stellt drohende Haushaltsnotlagen fest und beschließt gegebenenfalls Sanierungsprogramme. Um den öffentlichen Druck auf die beteiligten Institutionen zu erhöhen, werden die Beschlüsse und die zugrunde liegenden Beratungsunterlagen veröffentlicht. Ein Bundesgesetz regelt die nähere Ausgestaltung des Präventionsmechanismus.45 5. Übergangsregelungen und Konsolidierungshilfen: Art. 143d GG Die grundlegende Reform des Staatsschuldenrechts greift tief in die bislang bestehenden Haushaltsplanungen und deren Ansätze zu Einnahmen aus Krediten ein. Der verfassungsändernde Gesetzgeber sieht daher eine Übergangsphase vor, die in Art. 143d Abs. 1 GG geregelt wird. Die Neufassung der Art. 109 und Art. 115 GG musste danach erstmals auf das Haushaltsjahr 2011 angewendet werden. Art. 143d Abs. 1 S. 5 GG erlaubte dem Bund jedoch, bis Ende 2015 von der in Art. 115 Abs. 2 S. 2 GG festgelegten strukturellen Verschuldungsgrenze von 0,35 % des BIP abzuweichen.46 Seit dem Haushaltsjahr 2011 hat der Bund, das bestehende jährliche Finanzierungsdefizit so abgebaut, dass die Vorgabe der strukturellen Verschuldungskomponente bis zum Haushaltsjahr 2016 eingehalten wurde.47 45  Siehe

unten 4. Teil Abschnitt A.V. zu dem zu hoch angesetzten strukturellen Ausgangsdefizit im Jahr 2010 und dem daraus folgenden zu laxen Anpassungspfad: Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche Inhalte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 28 f. 47  Zur Umsetzung des Abbauplans des Bundes und der Entwicklung des Kon­ trollkonto-Saldos vgl. Bundesministerium der Finanzen, Schuldenbremse 2015: Struktureller Überschuss – das zweite Jahr in Folge, Monatsbericht September 2016, S. 22; Deutsche Bundesbank, Schuldenbremse: Sicherheitsabstand zu strikter Kre46  Ausführlich

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

Die Länder dürfen bis zum Jahresende 2019 – unter Berücksichtigung ihrer landesrechtlichen Regelungen – von den gesamten Vorgaben des Art. 109 Abs. 3 GG abweichen. Art. 143d Abs. 1 S. 4 GG verpflichtet sie jedoch dazu, ihre Landeshaushalte in einem Abbaupfad so aufzustellen, dass sie im Haushaltsjahr 2020 einen tatsächlichen materiellen Haushaltsausgleich erreichen. Auf detaillierte Vorgaben für die Abbaupfade der Länder verzichtet das Grundgesetz. Nach Art. 143d Abs. 2 GG erhalten die Länder Berlin, Bremen, Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein in der Summe 800 Millionen Euro an Konsolidierungshilfen, um einen vollständigen Abbau ihrer Finanzierungsdefizite bis zum Jahr 2020 zu erreichen. Die Auszahlung ist an einen kontinuierlichen Abbau der jährlichen Finanzierungsdefizite gebunden. Der Stabilitätsrat überwacht hierfür regelmäßig die Konsolidierungsfortschritte der Länder. Die Finanzierungslasten der Konsolidierungshilfen werden hälftig von Bund und Ländern aus ihren Umsatzsteueranteilen getragen (Art. 143d Abs. 3 GG).48 6. Einfachgesetzliche Begleitgesetzgebung49 Die Schuldenbremse wird im Begleitgesetz zur zweiten Föderalismusreform vom 10. August 2009, das als Artikelgesetz deren zentrale Elemente näher konkretisiert,50 einfachgesetzlich ausgestaltet. In Artikel 1 regelt das Gesetz zur Einrichtung eines Stabilitätsrates und zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen (Stabilitätsratsgesetz – StabiRatG) das System der regelmäßigen Haushaltsüberwachung. Insbesondere werden hier die Zusammensetzung und Aufgaben des Stabilitätsrates sowie der Tatbestand der drohenden Haushaltsnotlage und das Sanierungsverfahren konkretisiert. Das Gesetz zur Ausführung von Artikel 115 Grundgesetz (Artikel 115-Gesetz – G 115) in Artikel 2 ist von herausragender Bedeutung für die Schuldenbremse, da es das Verfahren zur Berechnung der jährlich zulässigen Kreditaufnahme bestimmt. ditobergrenze, Monatsbericht Februar 2012, S. 70 f. und Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche Inhalte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 15 (29 f.). 48  Das Nähere wird durch das Konsolidierungshilfengesetz vom 10. August 2009, BGBl. I 2009, S. 2705 f. bestimmt. Siehe auch unten 4. Teil Abschnitt A.V.1.c). Im Rahmen der geplanten Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ab dem Jahr 2020 sieht der Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes (BT-Drs. 18/11131) auch eine Ergänzung des Art. 143d GG vor. Hiernach kann den Ländern Bremen und Saarland auch noch nach dem 1.1.2020 Sanierungshilfen in Höhe von jährlich insgesamt 800 Millionen Euro gewährt werden. 49  Siehe unten 4. Teil Abschnitt A. 50  Vgl. Begleitgesetz zur zweiten Föderalismusreform vom 10. August 2009, BGBl. I 2009, S. 2702 ff.



A. Die Neuregelung des Staatsschuldenrechts im Überblick141

Es regelt außerdem die Kontrolle der Verschuldungsgrenze im Haushaltsvollzug (Kontrollkonto), die Bereinigung um finanzielle Transaktionen sowie den Ausnahmetatbestand im Falle von Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Notsituationen. Artikel 3 enthält das Gesetz zur Gewährung von Konsolidierungshilfen (Konsolidierungshilfengesetz – KonsHilfG). Es konkretisiert die Vergabe der Hilfszahlungen an die Länder Berlin, Bremen, Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein, deren Konsolidierungsverpflichtungen sowie die hälftige Finanzierung durch Bund und Länder. Mit dem Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags vom 15. Juli 2013 wird auch die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Schuldenbremse novelliert, insbesondere das Stabilitätsratsgesetz.51 7. Rechtsverordnung zur Regelung der Einzelheiten der Konjunkturkomponente52 Das Gesetz zur Ausführung von Artikel 115 Grundgesetz (G 115) bestimmt die Einzelheiten der Konjunkturkomponente nicht selbst, sondern ermächtigt in § 5 Abs. 4 S. 1 das Bundesministerium der Finanzen im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie zum Erlass einer Rechtsverordnung.53 Seit dem 10. Juni 2010 ist die Verordnung über das Verfahren zur Bestimmung der Konjunkturkomponente nach § 5 des Artikel 115-Gesetzes (Artikel 115-Verordnung – Art 115 V) in Kraft. Sie regelt die Ermittlung der konjunkturellen Komponente bei Haushaltsaufstellung, bei Nachtragshaushalten und bei Haushaltsabschluss.

III. Kontinuitäten und Brüche 1. Abkehr von den alten Deckungsregeln In der deutschen Verfassungsgeschichte prägte lange Zeit der objektive Deckungsgrundsatz die Regeln zur Aufnahme von Staatsschulden. Dieser erlaubte Kredite zur Finanzierung konkreter, rentabler Investitionsobjekte.54 Im Zuge der Verfassungsänderung 1969 wurde die Kreditaufnahme nicht nur am Leitbild des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ ausgerichtet, sondern vor allem auch an die pauschalisierende Größe der Investitionsaus51  Den Kern des Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags, BGBl. I 2013, S. 2398 ff. bildet die Novellierung des Stabilitätsratsgesetzes und des § 51 HGrG. Siehe hierzu unten 4. Teil Abschnitt A.VI. 52  Siehe unten 4. Teil Abschnitt B. 53  Zur Frage, ob die Ermächtigungsnorm mit Art. 80 Abs. 1 GG vereinbar ist siehe unten 4. Teil Abschnitt A.II.3. 54  Vgl. oben 1. Teil Abschnitt B.II.1.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

gaben des Bundes gebunden.55 Dieses Konzept folgte der sogenannten „goldenen Regel“, nach der eine Kreditfinanzierung von Investitionsausgaben durch den langfristigen Nutzen von Investitionen wirtschaftlich gerechtfertigt ist. Die intertemporale Lastenverteilung durch Kredit verfolgte das Ziel der Generationengerechtigkeit und wählte hierfür wiederum einen deckungsbezogenen Ansatz, mit den summierten Investitionsausgaben als globale Größe. Angesichts der angehäuften Staatsschuld und der damit verbundenen Belastung zukünftiger Generationen ist das Konzept der intergenerativen Lastenverschiebung jedoch nicht mehr umsetzbar.56 Dies stellte auch der verfassungsändernde Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zur Einführung der Schuldenbremse fest: „Die angesichts des Ausmaßes der expliziten und impliziten Staatsverschuldung notwendig gewordene Neujustierung der intergenerativen Lastenverteilung erfolgt durch das neue Prinzip des im Grundsatz ausgeglichenen Haushalts. Die bisherige Regelung, die eine Kreditfinanzierung von (Brutto-)Investitionen vorsah, wird abgelöst.“57 Das neue Staatsschuldenrecht bricht also mit der Tradition sowohl der objektiven als auch der investitionssummenorientierten Deckungsregel und verzichtet vollständig auf den Versuch, die Kreditaufnahme an ein qualitatives Kriterium58 zu binden und sie damit zu rechtfertigen. Der Investitionsmaßstab war einerseits nicht strikt genug,59 konnte aber andererseits nicht alle zukunftswirksamen und wertbeständigen Ausgaben berücksichtigen.60 55  Siehe

hierzu oben 1. Teil Abschnitte B.II.2. und 3. bislang angesammelte explizite Staatsschuld beläuft sich auf 24.806 EUR Pro-Kopf (Stand 31.12.2015), siehe Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, Reihe 5, 2015, Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts, 2016, S. 14. In Anbetracht der demographischen Entwicklung wird die Pro-Kopf-Verschuldung auf absehbare Zeit voraussichtlich erheblich zunehmen, siehe hierzu auch oben 1. Teil Abschnitt A.II.2. Vgl. auch die Analyse der übermäßigen Staatsverschuldung in Deutschland von Kirchhof, Deutschland im Schuldensog, 2012, S. 15 ff. 57  BR-Drs.  262/09, S. 11. 58  Siehe hierzu Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 185 ff. sowie ausführlich zur Funktionsschwäche des Investitionsbegriffes Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, 2003, S. 162 ff. 59  Wiederholt wurde eine striktere Definition des Investitionsbegriffes vorgeschlagen, die unter anderem Ersatzinvestitionen und Vermögensverschiebungen ausschließen sollte. Vgl. Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 123, Rn. 38 ff. 60  Kritisiert wurde beispielsweise die fehlende Flexibilität bei der Berücksichtigung von Investitionen in Humankapital. Siehe hierzu die Gesetzesbegründung BRDrs.  262/09, S. 11 f. Ob jedoch Ausgaben im Bildungsbereich als wertbeständige Investitionen anzusehen sind, ist umstritten. Siehe hierzu Henke, Zur Berechnung des Humankapitalbestands in Deutschland, in: IW-Trends, 1/2005 sowie Sachver56  Die



A. Die Neuregelung des Staatsschuldenrechts im Überblick143

Nicht zuletzt auf Grund dieser Abgrenzungsproblematik löst sich das neue Recht von dem Versuch, Investitionen „ökonomisch richtig“ zu erfassen.61 An die Stelle der Obergrenze getätigter Investitionen tritt eine qualifizierende Erweiterung des materiellen Haushaltsausgleichs.62 Diese erlaubt dem Bund einen grundsätzlichen Verschuldungsrahmen in Höhe von 0,35 % des BIP. Der verfassungsändernde Gesetzgeber möchte damit „mehr inhaltliche Flexibilität bei der Ausgestaltung einer an der dauerhaften Stärkung von Wachstum und nachhaltiger Entwicklung orientierten Politik“63 ermöglichen. In Teilen der Literatur wird die Regelung so interpretiert, als typisiere sie – zumindest teilweise – „ein vermutetes Mindestniveau beständig getätigter Zukunftsinvestitionen.“64 Den Ländern bleibt mit ihrem strikten materiellen Haushaltsausgleich diese Pauschale dagegen verwehrt.65 Trotz der Abkehr des Grundgesetzes von der Investitionssummenbegrenzung der Kreditaufnahme verbleibt – wenn auch nur indirekt – ein Bezug zu dem Kriterium der Investitionsausgaben. Sozusagen durch „die europäische Hintertür“ des Art. 126 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 AEUV i. V. m. Art. 109 Abs. 2 GG bilden die Ausgaben für Investitionen einen Maßstab im Rahmen des Defizitverfahrens.66 Allerdings spielt das Investitionskriterium innerhalb des konturenunscharfen Unionsrechts keine so eindeutige Rolle, dass es hier nennenswerte Wirkungen entfalten könnte. 2. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht Die Finanzverfassung des Grundgesetzes und mit ihr die Haushaltswirtschaft67 von Bund und Ländern waren seit den Finanzreformen 1967 und ständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn. 129 ff. m. w. N. 61  Vgl. zur Abgrenzungsproblematik: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Gutachten Nr. 01/08  – Zur Begrenzung der Staatsverschuldung nach Art. 115 GG und zur Aufgabe des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, 2008, S. 20. 62  Siehe unten Abschnitt B.II.1. 63  BR-Drs.  262/09, S. 24. 64  Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, S. 721 (723). 65  Siehe unten Abschnitt B.II.2. 66  Siehe oben 2. Teil Abschnitt A.II.2. 67  Unter dem Begriff der Haushaltswirtschaft sind „alle unmittelbar auf Einnahmen und Ausgaben bezogenen Vorgänge zu verstehen, soweit sie nach bundesstaatlichem Verfassungsrecht einer eigenständigen haushaltspolitischen Entscheidung unterliegen“, siehe Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 238. Der Begriff ist nicht auf Entscheidungen im Zusammenhang mit der Pla-

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

1969 auf das Konzept des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausgerichtet.68 Die jüngste Neufassung des Art. 109 GG lässt sowohl einen Bedeutungsverlust als auch eine Kontinuitätslinie dieses Konzepts erkennen. Der Bedeutungsverlust offenbart sich vor allem darin, dass Bund und Länder dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht nur noch in dem europäischen Rahmen des Art. 126 AEUV Rechnung zu tragen haben.69 Die Maßstabsfunktion des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts wird durch die europäischen Vorgaben inhaltlich überlagert und büßt damit seine vormals bedeutende Ausstrahlungswirkung auf grundsätzlich alle unmittelbar einnahmen- und ausgabenrelevanten Entscheidungen ein.70 Der frühere allgemeine Verfassungsauftrag, die wirtschaftspolitische Steuerungsfunktion der Haushaltswirtschaft aktiv zu nutzen, rückt hinter das Gebot mittelfristig ausgeglichener Haushalte.71 Er wird in seiner bisherigen Form damit nahezu bedeutungslos.72 Folgerichtig wurden auch die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes nach Art. 109 Abs. 4 GG a. F. zur Abwehr einer Störung des Gleichgewichtes, also die Vorgaben zur zeitlich begrenzten Kreditaufnahme von Zweckverbänden und Gebietskörperschaften sowie zur Bildung von Konjunkturausgleichsrücklagen, ersatzlos gestrichen.73 Erhalten bleiben die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes, gesamtstaatlich geltende Haushaltsgrundsätze zur mehrnung, Aufstellung und Umsetzung des Haushaltsplans beschränkt. Der Zusatz „unmittelbar“ dient der Abgrenzung zu politischen Entscheidungen, die einen mittelbaren Einfluss auf Ausgaben und Einnahmen haben. Ausführlich zur Begriffsbestimmung und seiner Begründung siehe Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG 2004, Rn.  79 ff. m. w. N. 68  Siehe oben 1. Teil Abschnitt B.I. 69  Siehe oben Abschnitt A.II.1. 70  Siehe Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn.  88 ff., 147 f., 263. 71  Zudem drängen die konkreten Vorgaben des Art. 109 Abs. 3 GG den allgemeineren Maßstab des Abs. 2 in den Hintergrund. Diese können jedoch auch als Konturenschärfung des Konzeptes des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes interpretiert werden, mehr dazu sogleich im folgenden Abschnitt. 72  Bei Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und der Gemeinden gemäß Art. 104b GG bleibt die „Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ als mögliches Förderziel bestehen. Siehe hierzu Kube, Art. 104b GG, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: September 2015, Rn. 12. Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 316 betont, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht für die Begrenzung der Staatsverschuldung zwar an Bedeutung verloren hat, aber nicht gegenstandslos geworden ist. 73  Bis auf ganz wenige Ausnahmen (Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre) hatten diese Gesetzgebungskompetenzen nahezu keine praktische Bedeutung. Sie waren insbesondere für den Fall einer Überhitzung der Konjunktur vorgesehen. Siehe Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 481 sowie Rn. 415 ff. Siehe oben 1.  Teil Abschnitt B.V.2./3.



A. Die Neuregelung des Staatsschuldenrechts im Überblick145

jährigen Finanzplanung und zur konjunkturgerechten Haushaltswirtschaft (Art. 109 Abs. 4 GG n. F.) aufzustellen. Auch das hierauf basierende Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (StWG)74 besteht weiterhin fort, obwohl es in vielerlei Hinsicht überflüssig geworden ist. Denn wesentliche Elemente des Gesetzes, die auf technokratischen Vorstellungen einer konjunktursteuernden Wirtschaftspolitik beruhen (u. a. § 3 [Konzertierte Aktion], § 5 bis 7 [Konjunkturausgleichsrücklage]), werden seit über dreißig Jahren nicht mehr angewendet.75 Aus rechtspolitischer Sicht erscheint es folgerichtig, das Gesetz abzuschaffen und seine bestandswürdigen Elemente in das Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG) zu überführen. Trotz dieses Bedeutungsverlustes weist die Verfassungsreform auch eine Kontinuitätslinie zur überkommenen Regelung auf. Denn die Neufassung der Art. 109 und 115 GG kann als Konturenschärfung des bis dahin steuerungsschwachen Konzeptes des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gedeutet werden. Bereits der verfassungsändernde Gesetzgeber von 1969 verfolgte das Ziel, dass sich konjunkturbedingte Krediteinnahmen und Tilgungen im Laufe eines Konjunkturzyklus in etwa die Waage halten. Die alte Rechtslage war allerdings offen für unterschiedliche Interpretationen, erlaubte dem Haushaltsgesetzgeber, weite Verschuldungsspielräume auszuschöpfen, und bot damit eine nur geringe Direktionskraft. Vermeintlich politisch opportune Verschuldungspolitik konnte so gerechtfertigt werden.76 Demgegenüber verpflichtet die Neuregelung den Gesetzgeber dazu, die konjunkturelle Entwicklung symmetrisch zu berücksichtigen. Er muss nunmehr die zusätzlichen Krediteinnahmen in Phasen des Abschwungs ausgleichen, indem er in Zeiten (starken) wirtschaftlichen Wachstums Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet. Mit dem konkreten Mechanismus zur Begrenzung der Staatsverschuldung wird der Haushaltsgesetzgeber enger gebunden und seine Entscheidungs- und Interpretationsspielräume werden verkürzt. Die Schuldenbremse (Art. 109 Abs. 3 GG) schärft insoweit die Konturen des Konzepts des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. 74  Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967, BGBl. I 1967, S. 582. 75  Siehe hierzu Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Gutachten Nr. 01/08  – Zur Begrenzung der Staatsverschuldung nach Art. 115 GG und zur Aufgabe des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, 2008, S. 23. Vgl. hierzu auch Weinzen, Fette und magere Jahre: Von Schranken, Bremsen und Rücklagen, DÖV 2008, S. 535 (540 ff.), der die Konjunkturausgleichsrücklage treffend als „eine Eintagsfliege“ der späten sechziger und frühen siebziger Jahre bezeichnet (S. 540). 76  Die Vorstellung eines langfristig ausgeglichenen Haushalts, die dem wirtschaftspolitischen Modell des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts eigentlich zu Grunde liegt, lief ins Leere. Siehe oben 1. Teil Abschnitt B.V.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

3. Haushaltsausgleich ohne Krediteinnahmen In der überkommenen Fassung des Grundgesetzes war umstritten, ob Art. 110 Abs. 1 S. 2 GG neben der Pflicht zu einem formellen Haushaltsausgleich auch ein materieller Bedeutungsgehalt zu entnehmen ist.77 Mit der Neufassung des Art. 109 Abs. 3 S. 1 GG erübrigt sich diese Streitfrage. Erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte verpflichtet die Finanzverfassung explizit Bund und Länder, ihre Haushalte grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Das neue Staatsschuldenrecht leitet damit einen Paradigmenwechsel ein und betont die Regelfinanzierung des Staates durch Steuereinnahmen.78 Diese Grundsatzentscheidung unterstreicht zudem die Abkehr vom Modell der intertemporalen Lastenverteilung durch Kredit. Die Finanzierung von zukunftsbegünstigenden Investitionen kann nun prinzipiell nur zu Lasten der Gegenwart erfolgen.79 Die deutlich negativen Auswirkungen des bis dato erreichten Schuldenstandes lassen dies durchaus gerechtfertigt erscheinen.80 Mit dem Wegfall der intertemporalen Finanzierungsfunktion nimmt die verbleibende Kreditaufnahme der öffentlichen Hand, abgesehen von der zulässigen strukturellen Verschuldung des Bundes in Höhe von 0,35 % des Bruttoinlandsproduktes,81 eine ausschließlich konjunkturell bedingte Funktion ein. Über den längeren Zeitraum eines Konjunkturzyklus, der in der Regel den einer Legislaturperiode übersteigt,82 müssen im Saldo Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen werden. Daraus ergibt sich wiederum die fiskalische Schlussfolgerung, einem negativen Ungleichgewicht entweder mit einer Erhöhung der (Steuer-)Einnahmen oder einer Senkung der Staatsausgaben zu begegnen.83 Eine unmittelbare Rechts77  Siehe

oben 1. Teil Abschnitt A.I., Fn. 17. oben 1. Teil Abschnitt A.I. 79  Für den Bund besteht die Möglichkeit der strukturellen Verschuldung im Rahmen der Strukturkomponente von 0,35 % des BIP. Siehe hierzu unten Abschnitt B. II.1. 80  Siehe hierzu oben 1. Teil Abschnitt A.II.2. sowie BVerGE 119, 96 (142) (Staatsverschuldung II): „Die dynamisch angewachsene Verschuldung in Bund und Ländern (vgl. dazu auch BVerfGE 116, 327 ff.) hat gegenwärtig bereits einen verbreitet als bedrohlich bewerteten Stand erreicht […]. Eine übermäßige Staatsverschuldung und die damit verbundene wachsende Zinslast hemmen das langfristige Wachstum der Wirtschaft, verengen die aktuellen Handlungsspielräume des Staates und verlagern Finanzierungslasten in die Zukunft auf künftige Generationen.“ Zu den Folgen der übermäßigen Staatsverschuldung in Deutschland vgl. Kirchhof, Deutschland im Schuldensog, 2012, S. 35 ff. 81  Siehe unten Abschnitt B.II.1. 82  Zur Länge der Konjunkturzyklen vgl. oben 2. Teil Abschnitt A.V.1., Fn. 177. 83  Der Fall eines Ungleichgewichtes, welches aus einem andauernden Einnahmeüberschuss resultiert, lässt in Anbetracht des immensen Schuldenberges keine Schlussfolgerungen mit umgekehrtem Vorzeichen zu. 78  Siehe



B. Die neue Schuldenregel147

pflicht zu konkreten Ausgabenkürzungen oder zur Änderung von Steuersatz oder Bemessungsgrundlage lässt sich daraus allerdings nur schwerlich ableiten. 4. Mehrjährige Betrachtung Indem die neue Schuldenbremse des Grundgesetzes den europäischen Grundsatz des mittelfristigen Ziels eines ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushalts aufgreift,84 verändert sich auch die zeitliche Perspektive des Staatsschuldenrechts. Es knüpft an die europäische R ­ egelung an und gestaltet die mehrjährige Betrachtung eigenständig aus. Dies zeigt sich insbesondere im Kontrollkonto, da es neben der Überwachung des Haushaltsvollzugs auch als Gedächtnis für (übermäßige) Kreditaufnahmen in der Vergangenheit dient. Überschreiten die überhöhten Krediteinnahmen einen bestimmten Schwellenwert, wirken sie sich unmittelbar auf die jährliche Schuldengrenze aus. Mit dem Kontrollkonto überwindet das Staatsschuldenrecht seine „Vergesslichkeit“ und den ausschließlichen Bezug auf die einzelne Haushaltsperiode. Und auch das Symmetriegebot des Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG ist Ausdruck der neuen mehrjährigen Perspektive. Es zwingt den Haushaltsgesetzgeber im Laufe eines Konjunkturzyklus von mehreren Jahren, Auf- und Abschwünge gleichermaßen zu berücksichtigen.85 Zwar verfolgte bereits die Finanzverfassung i. d. F. von 1969 bis 2009 mit dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht das Ziel einer mehrjährigen Perspektive bei der Aufnahme und Tilgung von Krediten. Dieses Ziel wurde jedoch nicht erreicht.86

B. Die neue Schuldenregel I. Materieller Haushaltsausgleich als zentraler Grundsatz des neuen Staatsschuldenrechts Der Grundsatz des materiell ausgeglichenen Haushalts ohne Nettokreditaufnahme87 bildet die übergeordnete Ziel- und Orientierungsgröße des Staatsschuldenrechts (Art. 109 Abs. 3 S. 1 GG). Er ist dem nachfolgenden 84  Siehe

Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 9. zum Symmetriegebot siehe unten Abschnitt B.III.1.b). 86  Beleg für die mehrjährige Perspektive des alten Finanzverfassungsrechts ist die nahezu ungenutzte Konjunkturausgleichsrücklage. Vgl. oben 1. Teil Abschnitt B.I. 87  Siehe Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 22 und 26 sowie oben Abschnitt A.III.3. 85  Ausführlich

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

Begrenzungsmechanismus vorangestellt und geht über die Bedeutung eines bloßen Programmsatzes hinaus.88 In Verbindung mit Art. 109 Abs. 2 GG und den Regeln des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes strahlt er auf die neue Schuldenbremse als Ganzes aus. Er leitet insbesondere die konkrete Ausführung der Schuldenregel an. Sowohl der Haushaltsgesetzgeber als auch die Exekutive müssen den ausgeglichenen Haushalt – über den gesamten Konjunkturzyklus gesehen – als Regelfall begreifen. Nur so kann die Bundesrepublik Deutschland dem europäischen Grundsatz des „Closeto-Balance or in Surplus“ Rechnung tragen und eine dauerhaft tragfähige Finanzlage für die kommenden Generationen gewährleisten.89 Zudem erfüllt der verfassungsrechtliche Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleichs eine Funktion als subsidiärer Auslegungsmaßstab bei der Interpretation der Ausführungsgesetze und ‑verordnungen. Dies gilt beispielsweise bei den Symmetrieanforderungen der konjunkturellen Komponente.90 Folglich setzt das neue Staatsschuldenrecht mit dem Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleichs einen verfassungsrechtlichen Rahmen, der den Gesetzgeber bei der Ausführungsgesetzgebung bindet. Dieser Rahmen gewährleistet damit zugleich Kontinuität. Jegliche Änderungen des einfachen Rechts müssen so ausgestaltet sein, dass sich die Nettokreditaufnahmen und Nettotilgungen in der langfristigen Perspektive ausgleichen können. Dies bedeutet, dass eine Rückführung konjunkturell bedingter Schuldenaufnahmen unter realistischen Annahmen möglich sein muss. Hierbei sind auch die Krediteinnahmen zurückliegender Haushaltsjahre zu beachten. Die begrenzende Funktion des grundgesetzlichen Staatsschuldenrechts darf nicht einfachgesetzlich umgangen werden.91

88  Zu seinen Rechtsfolgen i.  V. m. dem Stabilitäts- und Wachstumspakt siehe unten Abschnitt B.II.1.b). Für Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfassung, 2010, S. 360 wird der Grundsatz des materiell ausgeglichenen Haushalts zum „Leitbild der staatlichen Haushaltswirtschaft“. 89  Siehe hierzu die Gesetzesbegründung, BR 262/09, S. 9 f. sowie Kom-Drs. 096. 90  Siehe unten Abschnitt B.III.1.b). 91  Koemm betont zudem, dass der Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleichs einen Rückgriff auf ungeschriebene Ausnahmetatbestände bei der Kreditaufnahme ausschließt. Der Verfassungsgerichtshof Berlin hatte in seinem Urteil vom 31.10.2003 (VerfGH Berlin 125/02, NVwZ 2004, S. 210, insbesondere unter D.III.) über den Wortlaut der Verfassung Berlins hinaus den Verschuldungstitel der „extremen Haushaltsnotlage“ eingeführt. Siehe hierzu Koemm, Eine Bremse für die Staatsverschuldung?, 2011, S. 281 und 382 ff. m. w. N.; Musil/Kroymann, Die extreme Haushaltsnotlage, DVBl. 2004, S. 1204; Rossi, Verschuldung in extremer Haushaltsnotlage, DVBl. 2005, S. 269 (270 ff.) sowie Kerber, Verfassungshüter oder Verfassungsgesetzgeber?, DÖV 2004, S. 691. Vgl. auch Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfassung, S.  116 f.



B. Die neue Schuldenregel149

II. Strukturell zulässige Staatsverschuldung 1. Die strukturelle Verschuldungskomponente des Bundes a) Verfassungsrechtliche Vorgabe: Wirtschaftsleistung als statischer Maßstab der Verschuldungsgrenze Die strukturelle Komponente des neuen Begrenzungsmechanismus knüpft an den Grundsatz einer Null-Verschuldung von Bund und Ländern an. Gemäß Art. 109 Abs. 3 S. 1 GG muss der Haushalt ohne Einnahmen aus Krediten ausgeglichen werden.92 Art. 115 Abs. 2 S. 1 GG wiederholt zunächst den Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleichs für den Bund, wird jedoch durch Satz 2 dahingehend näher bestimmt, dass ihm bereits bei einer Neuverschuldung in Höhe von bis zu 0,35 % im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) entsprochen ist. Erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte wird durch die Neuregelung des Staatsschuldenrechts das nominale Bruttoinlandsprodukt in das Grundgesetz aufgenommen. Es gilt als die zentrale wirtschaftswissenschaftliche, statistisch erfasste Messgröße zur Bestimmung der Wirtschaftsleistung eines Landes innerhalb eines bestimmten Zeitraums.93 Das BIP wird in der Volkswirtschaftslehre definiert als „der Marktwert aller für den Endverbrauch bestimmten Waren und Dienstleistungen, die in einem Land in einem bestimmten Zeitabschnitt hergestellt werden.“94 Im Gegensatz zum realen, preisbereinigten BIP95 verwendet das nominale BIP die aktuellen (laufenden) Preise, um die Wirtschaftsleistung zu messen. Trotz aller wirtschaftsstatistischen Ungenauigkeiten und Abgrenzungsschwierigkeiten ist das BIP 92  Kassenverstärkungskredite fallen nicht hierunter, solange sie nur der vorübergehenden Überbrückung und somit der Aufrechterhaltung einer ordnungsmäßigen Kassenwirtschaft dienen und spätestens sechs Monate nach Ablauf des Haushaltsjahres, für das sie aufgenommen worden sind, vollständig getilgt werden. Siehe § 1 Gesetz zur Ausführung von Artikel 115 Grundgesetz (G 115) vom 10. August 2009, BGBl. I 2009, S. 2704 f. 93  Das BIP wird entweder über die Entstehungs- (Produktionsansatz) oder Verwendungsseite (Ausgabenansatz) berechnet, siehe Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen – Inlandsprodukt und Nationaleinkommen, 2002, S. 30. 94  Mankiew, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 2001, S. 522. 95  Das reale BIP ist ein preisbereinigter Indikator, der die Produktion von Waren und Dienstleistungen auf der Grundlage einer jährlich wechselnden Preisbasis (Vorjahrespreisbasis) bewertet. Die Preisbereinigung des realen BIP erfolgt durch das ökonometrische Verfahren der Verkettung. Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.4, S. 22 sowie Mankiew, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 2001, S. 531.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

ein geeigneter Maßstab für den ökonomischen Wohlstand und die Leistungsfähigkeit eines Landes.96 Mit der festgelegten Relation von 0,35 % des nominalen BIP bildet die Wirtschaftsleistung den zentralen statischen Maßstab der strukturellen Verschuldungskomponente. Dem Konzept der strukturellen Komponente liegt die Idee zu Grunde, dass der Staat eine begrenzte Möglichkeit zur konjunkturunabhängigen Verschuldung behalten sollte. Diese Unabhängigkeit lässt sich jedoch nicht vollständig erreichen, da die strukturelle Komponente mit ihrer prozentualen Bezugnahme auf das BIP von der absoluten Wirtschaftsleistung (des Vorjahres) abhängt.97 Sinkt das BIP in einer Wirtschaftskrise, so reduziert sich auch der strukturelle Verschuldungsrahmen. Die Bezugnahme der strukturellen Verschuldungskomponente auf das BIP erscheint dennoch angemessen, denn Staatsverschuldung wird als Schuldenstandsquote98 regelmäßig in Relation zur Wirtschaftskraft eines Landes gemessen, da Belastungen für die Volkswirtschaft und die Fähigkeit zur Tilgung wesentlich von ihr abhängen. Das für das Grundgesetz und die Schuldenbremse maßgebliche BIP wird vom Statistischen Bundesamt ermittelt (§ 4 G 115). Zur Bestimmung der zulässigen strukturellen Kreditaufnahme wird das nominale BIP des Jahres herangezogen, welches der Aufstellung des Haushalts vorangeht. Das Statistische Bundesamt ist nach § 1 S. 2 des Gesetzes über die Statistik für Bundeszwecke (BStatG)99 den Grundsätzen der Neutralität, Objektivität und wissenschaftlichen Unabhängigkeit verpflichtet. Die Gefahr einer möglichen politischen Einflussnahme auf die Berechnungsmethode, mit dem Ziel einer Ausweitung des absoluten Kreditrahmens, ist daher äußerst gering.100 Die Schuldenbremse ignoriert jedoch, dass das Statistische Bundesamt seine Daten zum Bruttoinlandsprodukt fortlaufend korrigiert und erst nach vier Jahren endgültig berechnet. In seinem Qualitätsbericht für den Untersuchungszeitraum 1999 bis 2011 ermittelt das Statistische Bundesamt einen 96  Ausführlich zum Konzept des BIP und der Frage, ob das BIP ein zuverlässiges Maß für den Wohlstand und die gesamtwirtschaftliche Aktivität ist, Blanchard/ Illing, Makroökonomie, 2004, S. 41–52 sowie Schmidt/aus dem Moore, Lebensqualität – Wie lässt sich Wohlstand messen?, in: Die Wohlstandsfrage, Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (Hrsg.), 2012, S. 57. 97  Siehe § 4 G 115. 98  Siehe oben Einleitung Abschnitt A. 99  Bundesstatistikgesetz vom 22. Januar 1987, BGBl. I 1987, S. 462, zuletzt geändert durch das zweite Gesetz zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft (Art. 3 G) vom 7. September 2007, BGBl. I 2007, S. 2246 (2249). 100  Siehe Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, S. 721 (723, Fn. 22).



B. Die neue Schuldenregel151

durchschnittlichen Revisionsbedarf für das reale Bruttoinlandsprodukt von etwa einem halben Prozentpunkt.101 Bei konjunkturellen Wendepunkten fällt dieser deutlich höher aus, da viele Ausgangsstatistiken die Veränderungen am aktuellen Rand102 nicht erfassen können.103 Warum die strukturelle Verschuldung genau 0,35 % des BIP betragen darf, lässt sich nur durch die Entstehungsgeschichte des neuen Staatsschuldenrechts erklären. Das Bundesministerium der Finanzen schlug in seinem ursprünglichen Entwurf für eine Schuldenbremse vor, dass die deutschen Regeln zur Staatsverschuldung an den Vorgaben des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes anknüpfen sollten: „Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung sieht der Stabilitäts- und Wachstumspakt für Deutschland insgesamt eine maximale jährliche strukturelle (also um konjunkturelle oder sonstige vorübergehende Effekte bereinigte) Neuverschuldung von maximal 0,5 % des BIP vor. […] Dieser strukturelle Verschuldungsspielraum ist zwischen Bund und Ländern aufzuteilen.“104 Analog zu Art. 109 Abs. 5 GG (Aufteilung von EU-Sanktionslasten) sollten demnach dem Bund 0,35 % und den Ländern 0,15 % zustehen. Der für die Länder vorgesehene strukturelle Verschuldungsrahmen fiel jedoch im Laufe der Beratung der Föderalismuskommission II weg.105 Das Bundesfinanzministerium bezieht sich hier allerdings auf einen Maßstab, der so nicht im Stabilitäts- und Wachstumspakt enthalten ist.106 Die 101  Siehe Statistisches Bundesamt, Qualitätsbericht Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, 2012, S. 8 f. Der Revisionsbedarf bezieht sich auf die Differenz zwischen erster, quartalsweiser Veröffentlichung und dem „endgültigen“ Ergebnis nach vierter Jahresüberarbeitung. Der finale Korrekturbedarf für das nominale BIP des Vorjahres (d. h. das maßgebliche BIP der strukturellen Komponente) dürfte geringer ausfallen. 102  Der aktuelle Rand beschreibt bei statistischen Langzeitbetrachtungen die jeweils aktuell vorliegenden (jüngsten) Datenpunkte. 103  Siehe Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen – Revisionsbedarf des BIP, 2007, S. 3. 104  Kom-Drs. 096, S. 4. 105  Siehe hierzu die Aussage des Sachverständigen Wieland: „Wenn das [strukturelle Verschuldungsverbot der Länder] der Wunsch der Ministerpräsidenten war, muss das der Wissenschaftler akzeptieren. Ich kann nur feststellen, dass es jedenfalls auf den ersten Blick keine Stärkung der Autonomie der Länder ist, wenn man ihnen auch in diesem Punkt strikte Vorgaben macht.“, Protokoll der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses am 04.05.2009, S. 15. 106  Der Gesetzgeber stellt selbst fest, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt „keine quantitativ eindeutige Vorgabe für die Begrenzung der Nettokreditaufnahme“ gibt, siehe Gesetzesbegründung, BR-Drs. 262/09, S. 10. Er greift stattdessen das seit 2005 festgelegte, individuelle mittelfristige Haushaltsziel Deutschlands i. H. v. 0,5 % des BIP auf und nicht die Verbesserungsrate von 0,5 % gemäß der VO 1466/97. Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Entwicklung der öffentlichen Finanzen, http://

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

Mitgliedstaaten setzen sich jeweils selbst ein differenziertes mittelfristiges Haushaltsziel. Dieses strukturelle Haushaltsziel kann vom Grundsatz des ausgeglichenen Haushalts um bis zu 1 % des BIP negativ abweichen (Art. 2a Abs. 1 VO  1466 / 97). Der Rat prüft, ob sich die Mitgliedstaaten diesem Haushaltsziel angemessen nähern. Nach Art. 5 Abs. 1 VO  1466 / 97 legt er hierbei eine jährliche strukturelle Verbesserungsrate von 0,5 % des BIP als Richtwert zugrunde. Die 0,5 % des Stabilitäts- und Wachstumspaktes beziehen sich also auf den Anpassungspfad in Richtung des mitgliedstaatsspezifischen, mittelfristigen Haushaltsziels, also auf eine jährliche Mindestrückführung des Defizits.107 Im Unterschied zur Regelung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes bildet die strukturelle Komponente des neuen Staatsschuldenrechts – in Verbindung mit dem Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleichs – ein konkretes jährliches Haushaltsziel. Sie stellt eine Ziel-Konstante und keine Verbesserungsrate dar. b) Strukturelle Verschuldungskomponente und materieller Haushaltsausgleich Zwischen Art. 115 Abs. 2 S. 1 (materieller Haushaltsausgleich, Null-Verschuldung) und S. 2 GG (zulässige Verschuldung i. H. v. 0,35 % des nominalen Bruttoinlandsprodukts) besteht ein offensichtlicher semantischer Widerspruch, den der verfassungsändernde Gesetzgeber bewusst in den Verfassungstext aufgenommen hat.108 Für den Haushaltsgesetzgeber bedeutet dies zunächst, dass er den Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleichs auch noch bei einer Nettokreditaufnahme von 0,35 % des BIP erfüllt. Art. 115 Abs. 2 S. 2 GG erlaubt dem Bund, den strukturellen Verschuldungsrahmen vollständig auszunutzen. Dennoch ist der vorangestellte Grundsatz der NullVerschuldung nicht bedeutungslos. Das Grundgesetz bringt damit die Erwartung zum Ausdruck, dass die Haushalte langfristig möglichst ausgeglichen sein sollen.109 Die 0,35 % des BIP sind also als Obergrenze zu verstewww.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Oeffentliche_ Finanzen/Entwicklung_Oeffentliche_Finanzen/entwicklung-oeffentliche-finanzen. html#doc290156bodyText2 (abgerufen am 8.4.2017). Siehe hierzu auch oben 2. Teil Abschnitt A.III.2., Fn. 106. 107  Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn. 108. 108  Thye, Die neue „Schuldenbremse“ im Grundgesetz, 2010, S. 33 stellt zurecht die Gleichung „0,35 = 0“ auf und setzt ein Frage- und ein Ausrufungszeichen dahinter, um so die darin enthaltene Widersprüchlichkeit aufzuzeigen. 109  Koemm, Eine Bremse für die Staatsverschuldung?, 2011, S. 204, 206 und 280 geht deutlich weiter und interpretiert den Grundsatz des materiellen Haushaltsaus-



B. Die neue Schuldenregel153

hen. Dies betont auch der verfassungsändernde Gesetzgeber, indem er „keineswegs ein[en] Automatismus [beabsichtigt, den strukturellen Verschuldungsrahmen] stets in der laufenden Haushaltsplanung auszunutzen.“110 Das Europarecht verstärkt diesen Befund, denn der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist von dem Prinzip „annähernd ausgeglichener oder einen Überschuss aufweisender Haushalte“ geprägt.111 Die 0,35 % des BIP sollen daher als Obergrenze nicht regelmäßig in vollem Umfang in Anspruch genommen werden, nicht zuletzt um einen Puffer für wirtschaftlich angespannte Zeiten aufzubauen.112 Zusammenfassend gilt, dass in der mittleren bis langen Frist ein Haushaltsausgleich erreicht werden soll, nicht jedoch zwingend in jedem Haushaltsjahr. Denn für das einzelne, periodenbezogene Haushaltsgesetz erlaubt Art. 115 Abs. 2 S. 2 GG eine strukturelle Verschuldung bis zur Obergrenze von 0,35 % des BIP. c) Intention der strukturellen Verschuldungskomponente Intention der strukturellen Komponente ist es, den Handlungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers zu erweitern, „insbesondere für solche Maßnahmen […], die über eine dauerhafte Stärkung von Wachstum und nachhaltiger Entwicklung auch und insbesondere künftigen Generationen zugute kommen.“113 Laut Gesetzesbegründung soll sie damit der im reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt berücksichtigten Lissabon-Strategie und der dazugehörigen Konzeption der „Qualität der öffentlichen Finanzen“ Rechnung tragen.114 Hiernach ist nicht allein das Volumen der Staatsschulden gleichs als Regel, von der nur in Ausnahmefällen abgewichen werden darf. Hierzu zählen nach ihrer Meinung nicht nur die konjunkturell bedingte Verschuldung oder die Kreditaufnahme in Notlagen sondern eben auch die „BIP-Ausnahme des Bundes“, also die Strukturkomponente i. H. v. 0,35 % des BIP. Diese Interpretation mag rechtspolitisch wünschenswert sein, ist aber verfassungsrechtlich nicht haltbar. Sie widerspricht sowohl dem Wortlaut als auch der entstehungsgeschichtlichen Auslegung. 110  Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 11. In Anbetracht der Sparanstrengungen, die mit der Einführung der Schuldenbremse einhergehen, erscheint es jedoch zumindest nicht unwahrscheinlich, dass die 0,35 % häufig ausgeschöpft werden. 111  Siehe oben Abschnitt B.I. und oben 2. Teil Abschnitt A.III.1. 112  Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Kompendium zur Verschuldungsregel des Bundes, http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/The men/Oeffentliche_Finanzen/Schuldenbremse/kompendium-zur-schuldenbremse-desbundes.pdf?__blob=publicationFile&v=7 (abgerufen am 8.4.2017), S. 5. 113  Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 11. 114  Vgl. Gesetzesbegründung, BR-Drs. 262/09, S. 11. Die Lissabon-Strategie wurde 2010 durch ihre Nachfolge-Strategie „Europa 2020“ abgelöst. Siehe oben 2. Teil Abschnitt A.II.3., Fn. 82.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

entscheidend. In Anbetracht der demographischen Entwicklung soll die Staatsverschuldung vielmehr im Kontext der Zukunftsfähigkeit der öffentlichen Finanzen und der Sozialversicherungssysteme bewertet werden.115 Darüber hinaus soll die strukturelle Komponente den weiteren Zielen des präventiven Arms des Stabilitäts- und Wachstumspaktes dienen: zum einen der Gewährleistung einer Sicherheitsmarge beim Defizitkriterium von 3 % des BIP und zum anderen der Begrenzung der Verschuldung auf ein langfristig tragfähiges Maß.116 Ziel der Regelung ist es, den gesamtstaatlichen relativen Schuldenstand zu reduzieren. Halten Bund und Länder die Schuldenregel ein und unterstellt man ein langfristiges nominales Wirtschaftswachstum, das im Durchschnitt deutlich über 0,35 % liegt, würde die Schuldenstandsquote (Verschuldung in Relation zum BIP) sinken.117 Die ökonomische Begründung für eine strukturelle Verschuldung in begrenztem Umfang beruht auf dem Argument der „goldenen Regel“.118 Der Theorie nach erhöhen Investitionen den Kapitalbestand der öffentlichen Hand und ermöglichen Wachstumschancen und Produktivitätsgewinne, welche die zu leistenden Tilgungs- und Zinszahlungen aufwiegen. Auch wenn die tatsächlichen Produktivitätseffekte öffentlicher Investitionen quantitativ nur schwer zu erfassen sind und von mehreren Faktoren abhängen,119 ist dennoch davon auszugehen, dass sie das gesamtwirtschaftliche Produktionspotential erhöhen.120 Mit Blick auf das Ziel einer wachstumsfreundlichen und nachhaltigen Investitionspolitik, könnte die strukturelle Komponente so interpretiert wer115  Zur Konzeption der „Qualität der öffentlichen Finanzen“ siehe Thöne/Do­ broschke, Qualität der öffentlichen Finanzen, in: FiFo-Berichte Nr. 12 (Universität zu Köln), 2010. 116  Siehe Gesetzesbegründung, BR-Drs. 262/09, S. 9 f. und S. 26. Vgl. oben 2. Teil Abschnitt A.III.3. 117  Siehe Bundesministerium der Finanzen, Kompendium zur Verschuldungsregel des Bundes, http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/ Themen/Oeffentliche_Finanzen/Schuldenbremse/kompendium-zur-schuldenbremsedes-bundes.pdf?__blob=publicationFile&v=7 (abgerufen am 8.4.2017), S. 8. 118  Siehe oben 1. Teil Abschnitte B.II.3 und A.II.1. 119  Wesentlicher Indikator für den gesamtwirtschaftlichen Ertrag öffentlicher Investitionen ist insbesondere die Produktionselastizität des öffentlichen Kapitalstocks. Sie gibt an, in welchem Maße eine Steigerung öffentlicher Investition auf das Bruttoinlandsprodukt wirkt. Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, S. 50 ff. 120  Ökonometrische Schätzungen gehen von positiven Produktivitätseffekten für Deutschland von rund 10,3 % (rate of long-term return) aus, siehe Pereira/de Fátima Pinho, Public Investment, Economic Performance and Budgetary Consolidation: VAR Evidence for the 12 Euro Countries, College of William and Mary Working Paper Nr. 40, 2006, S. 16, Table 8.



B. Die neue Schuldenregel155

den, als typisiere sie „ein vermutetes Mindestniveau beständig getätigter Zukunftsinvestitionen“.121 Hierbei ist jedoch Vorsicht geboten, denn obwohl der strukturelle Verschuldungsrahmen mit 0,35 % des BIP, im Verhältnis zum langfristigen Mittel der Nettoinvestitionen des Bundes,122 eng begrenzt ist und eine Typisierung von Investitionsausgaben nachvollziehbar erscheint, besteht dennoch die Gefahr, dass eine strukturelle Verschuldung per se als selbstverständlich angesehen wird und in Teilen auch für konsumtive Zwecke eingesetzt wird.123 Mit der neuen strukturellen Verschuldungskomponente entfällt jedenfalls der bislang grundlegende, wenn auch nur schwach wirkende Maßstab der Bindung an die summierten Investitionsausgaben.124 Auch die Anlehnung der Gesetzesbegründung an die Lissabon-Strategie und das Konzept der „Qualität der öffentlichen Finanzen“ beschränkt die strukturelle Kreditaufnahme nicht auf ein tatsächliches Investitionsniveau. 2. Die strukturelle Verschuldungskomponente der Länder Im Gegensatz zum Bund schreibt Art. 109 Abs. 3 S. 5 Hs. 2 GG den Ländern einen strikten materiellen Haushaltsausgleich vor, der keinen strukturellen Verschuldungsspielraum zulässt. In der wirtschaftlichen Normallage dürfen die Länder somit keine Kredite aufnehmen.125 Für den verfassungsändernden Gesetzgeber sind die für Bund und Länder differenzierten Regelungen gleichermaßen aus der Philosophie des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ableitbar und wurden „in den Beratungen der Föderalismuskommission II von allen Seiten anerkannt und als sachgerecht dargestellt.“126 Die Länder sind dazu verpflichtet, das strukturelle Neuverschuldungsverbot 121  Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, S. 721 (723). Kritisch hierzu Heun, Art. 109 GG, in: Dreier (Hrsg.), GGKommentar, Supplementum 2010, Rn. 50. 122  Siehe Thye, Die neue „Schuldenbremse“ im Grundgesetz, 2010, S. 36 und Pünder, Art. 115, GG-Kommentar, Friauf/Höfling (Hrsg.), 2010, Rn. 76 m. w. N. 123  Ähnlich kritisch wie hier: Korioth, Das neue Staatsschuldenrecht – zur zweiten Stufe der Föderalismusreform, JZ 2009, S. 729 (731) und Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, S. 182 und S. 190 f. 124  Der strukturelle Rahmen in Höhe von 0,35  % des BIP belässt zwar einen kleinen Rest des Grundgedankens der „goldenen Regel“, ist aber nicht an sie gebunden. Kritisch zum Wegfall der „goldenen Regel“ auch Tappe, Die neue „Schuldenbremse“ im Grundgesetz, DÖV 2009, S. 881 (889 f.). 125  Die Länder können jedoch im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen (Art. 109 Abs. 3 S. 5 Hs. 1 GG) eine Regelung einführen, die konjunkturbedingte Verschuldung zulässt, siehe unten Abschnitt B.III.2. Sie können zudem, ebenso wie der Bund, eine Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen einführen (Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG). 126  Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 10.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

landesrechtlich umzusetzen.127 Es berührt nicht den durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Kern des Bundesstaatsprinzips.128 a) Regelungspflicht der Länder Die Länder regeln die nähere Ausgestaltung der Schuldenbremse mit der Maßgabe, dass grundsätzlich keine Krediteinnahmen zugelassen werden (Art. 109 Abs. 3 S. 5 i. V. m. S. 1 GG). Der Wortlaut des Art. 109 Abs. 3 S. 5 Hs. 1 GG („Die nähere Ausgestaltung für die Haushalte der Länder regeln diese …“)129 weist auf ein rechtliches „Müssen“ hin. Den Ländern steht es nicht frei, keine Regelung zum materiellen Haushaltsausgleich zu treffen.130 Sie müssen eine Kreditregelung (Schuldenbremse) erlassen, welche eine Strukturkomponente von null vorsieht, also kein strukturelles Defizit zulässt. Die Option des Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG („Bund und Länder können  …“)131 bezieht sich ausschließlich auf die im selben Satz genannten Regelungen zur Konjunkturkomponente und Kreditaufnahme in Notsituationen. Art. 109 Abs. 3 S. 5 Hs. 1 GG legt fest, dass die Länder „die nähere Ausgestaltung […] im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen“ regeln. In diesem Rahmen steht es ihnen frei zu entscheiden, ob sie die Regelung in ihrer Landesverfassung verankern oder durch einfaches Landesgesetz (z. B. in der Landeshaushaltsordnung) ausgestalten.132 Eine normative Vorgabe, die sich an die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG anlehnt und von den Ländern eine Verfassungsänderung verlangt, lässt 127  Siehe

hierzu unten Abschnitt B.II.2.a). hierzu unten Abschnitt B.II.2.b). 129  Hervorhebung nur hier. 130  Im Ergebnis so auch Bravidor, Die Umsetzung der Verschuldungsregelung in den Ländern, in: Hetschko et al. (Hrsg.), Staatsverschuldung in Deutschland nach der Föderalismusreform II – eine Zwischenbilanz, 2012, S. 12; Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, S. 721 (722: „Die Länder sind […] verpflichtet, entsprechende Regelungen einzuführen.“) und Kemmler, Schuldenbremse und Benchmarking im Bundesstaat, DÖV 2009, S. 549 (556), die allerdings von einer Pflicht zur Umsetzung in den Landesverfassungen ausgeht, dazu sogleich. 131  Hervorhebung nur hier. 132  Siehe Christ, Neue Schuldenregel für den Gesamtstaat: Instrument zur mittelfristigen Konsolidierung der Staatsfinanzen, NVwZ 2009, S. 1333 (1335), der explizit von einem „weiten Gestaltungsspielraum“ ausgeht. Ebenso Bravidor, Die Umsetzung der Verschuldungsregelung in den Ländern, in: Hetschko et al. (Hrsg.), Staatsverschuldung in Deutschland nach der Föderalismusreform II – eine Zwischenbilanz, 2012, S. 20. Die Vorgaben des Art. 109 Abs. 3 GG stellen hierbei sicher, dass die landesrechtlichen Ausgestaltungen hinreichend homogen ausfallen. 128  Siehe



B. Die neue Schuldenregel157

sich Art. 109 Abs. 3 S. 5 GG nicht entnehmen.133 Sie wäre auch eine begründungsbedürftige Abweichung von der Systematik des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG. Dieser verpflichtet zwar die Landesverfassungen auf die Grundsätze des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes, räumt den Ländern aber zugleich eine weitreichende Verfassungsautonomie ein.134 Art. 109 Abs. 3 S. 5 GG legt nicht fest, auf welcher Normebene die Länder die landesrechtlichen Kreditregeln treffen müssen.135 Davon losgelöst erscheint aus rechtspolitischer Sicht eine landesverfassungsrechtliche Regelung wünschenswert, da sie nur unter erhöhten Mehrheitsanforderungen geändert werden kann und auf diese Weise die langfristige Bindungswirkung stärkt.136 Darüber hinaus sind nur die landesverfassungsrechtlichen Regelungen im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle der Überprüfung durch die Landesverfassungsgerichte zugänglich.137 133  So aber Kemmler, Schuldenbremse und Benchmarking im Bundesstaat, DÖV 2009, S. 549 (556), die in 109 Abs. 3 S. 5 GG eine Pflicht zur Umsetzung in den Landesverfassungen erkennt. 134  Siehe hierzu Hellermann, Art. 28 GG, in: BeckOK GG, Epping/Hillgruber (Hrsg.), Stand: September 2015, Rn. 1 ff. Weitere, über Art. 28 GG hinausgehende Eingriffe in die Verfassungsautonomie der Länder sind möglich, bedürfen aber einer klaren verfassungsrechtlichen Grundlage. Vgl. Korioth, Neue und einheitliche Begrenzungsregeln für Bund und Länder?, KritV 2008, S. 187 (196) („Selbstständigkeit der Verfassungsräume“). 135  Auch die Gesetzesbegründung betont die eigene Verantwortung der Länder und spricht lediglich von einer „Ausgestaltung der landesrechtlichen Kreditbegrenzungsregeln“, siehe Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 24. Tappe, Haushaltsrechtliche Umsetzung der Artikel 109 und Artikel 115 GG n. F. in Bund und Ländern, in: Kastrop et al. (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 432 (452 f.) betont ebenfalls, dass das Grundgesetz keine Verfassungsänderung auf der Ebene der Länder explizit vorschreibt. Er leitet allerdings einen Auftrag zur Verfassungsänderung in den Ländern aus den Abweichungsrechten der Übergangsregelung des Art. 143d Abs. 1 S. 3 GG ab: Von den geltenden landesrechtlichen Regelungen darf nur bis 2019 abgewichen werden. Wenn diese Regelungen bislang auf Ebene der Landesverfassung getroffen wurden, müssten sie ab 2020 auf „gleicher Normebene“ angepasst werden. Diese Argumentation übersieht hierbei allerdings, dass die Länder die bisherigen landesverfassungsrechtlichen Regelungen streichen und die Schuldenbremse auf der Ebene des einfachen Landesrechts einführen könnten. 136  So auch Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 386. 137  Siehe Tappe, Haushaltsrechtliche Umsetzung der Artikel 109 und Artikel 115 GG n. F. in Bund und Ländern, in: Kastrop et al. (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 432 (452, Fn. 70). Da die Vorgaben der Schuldenbremse jedoch unmittelbar für die Länder gelten, kann die landesrechtliche Regelung am Maßstab des Art. 109 Abs. 3 GG durch das Bundesverfassungsgericht überprüft werden. Vgl. auch Korioth, Neue und einheitliche Begrenzungsregeln für Bund und Länder?, KritV 2008, S. 187 (196 f.).

158

3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

Obwohl Art. 109 Abs. 3 S. 5 Hs. 1 GG von den Ländern die nähere Ausgestaltung der Kreditbegrenzungsregeln verlangt und damit auf den „Kompetenzraum der Länder“138 verweist, gilt das Verbot der Krediteinnahmen für sie unmittelbar. Denn der zweite Halbsatz des Art. 109 Abs. 3 S. 5 GG (Satz 1 ist „nur dann entsprochen […], wenn keine Einnahmen aus Krediten zugelassen werden“) konkretisiert den für Bund und Länder unmittelbar gültigen, grundsätzlichen materiellen Haushaltsausgleich (Art. 109 Abs. 3 S. 1 GG). Diese systematische Verknüpfung spricht für den Durchgriffsgehalt des strukturellen Neuverschuldungsverbots.139 Im Kollisionsfall, also bei widersprechendem Landesrecht, derogiert daher Art. 31 GG grundsätzlich140 die landesrechtlichen Kreditregelungen.141

138  Korioth, Das neue Staatsschuldenrecht – zur zweiten Stufe der Föderalismusreform, JZ 2009, S. 729 (731). 139  Im Ergebnis so auch Bravidor, Die Umsetzung der Verschuldungsregelung in den Ländern, in: Hetschko et al. (Hrsg.), Staatsverschuldung in Deutschland nach der Föderalismusreform II – eine Zwischenbilanz, 2012, S. 21; Christ, Neue Schuldenregel für den Gesamtstaat: Instrument zur mittelfristigen Konsolidierung der Staatsfinanzen, NVwZ 2009, S. 1333 (1333); Tappe, Haushaltsrechtliche Umsetzung der Artikel 109 und Artikel 115 GG n. F. in Bund und Ländern, in: Kastrop et al. (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 432 (451 f.) und Korioth, Das neue Staatsschuldenrecht – zur zweiten Stufe der Föderalismusreform, JZ 2009, S. 729 (731), allerdings ohne das Argument der Systematik. A. A. Kemmler, Schuldenbremse und Benchmarking im Bundesstaat, DÖV 2009, S. 549 (556), die in Art. 109 Abs. 3 S. 5 GG lediglich eine Normativvorgabe erkennt. Sie unterscheidet nicht zwischen beiden Halbsätzen, sondern bezieht den Regelungsauftrag zur Ausgestaltung (wohl eng am Wortlaut) auf den ganzen Satz, ohne dem zweiten Halbsatz einen Durchgriffsgehalt einzuräumen. 140  Sofern die Möglichkeit einer grundgesetzkonformen Auslegung gegeben ist, können die jeweiligen Landesregelungen weiterhin gelten. Hierzu müssen sie allerdings das strikte Neuverschuldungsverbot des Art. 109 Abs. 3 S. 5 Hs. 2 i. V. m. S. 1 GG beachten. Siehe hierzu Bravidor, Die Umsetzung der Verschuldungsregelung in den Ländern, in: Hetschko et al. (Hrsg.), Staatsverschuldung in Deutschland nach der Föderalismusreform II – eine Zwischenbilanz, 2012, S. 23 ff. Skeptisch daher auch Tappe, Haushaltsrechtliche Umsetzung der Artikel 109 und Artikel 115 GG n. F. in Bund und Ländern, in: Kastrop et al. (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 432 (453 f.). 141  So auch Bravidor, Die Umsetzung der Verschuldungsregelung in den Ländern, in: Hetschko et al. (Hrsg.), Staatsverschuldung in Deutschland nach der Föderalismusreform II – eine Zwischenbilanz, 2012, S. 20 ff., der diese Rechtsfrage ausführlich behandelt, und Tappe, Haushaltsrechtliche Umsetzung der Artikel 109 und Artikel 115 GG n. F. in Bund und Ländern, in: Kastrop et al. (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 432 (452). Für eine Derogation durch Art. 31 GG wohl auch Kube, Art. 109 GG, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, 2011, Rn. 181 f., der im Falle einer Untätigkeit der Länder von einem strikten Neuverschuldungsverbot ausgeht.



B. Die neue Schuldenregel159

b) Vereinbarkeit mit dem durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützen Kern des Bundesstaatsprinzips Das strukturelle Neuverschuldungsverbot für die Länder löste eine rechtswissenschaftliche Diskussion aus, ob die Verfassungsänderung mit dem ‒ durch die sogenannte Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG geschützten ‒ Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG)142 vereinbar ist.143 Zu diesem Fragenkreis hat der Landtag von Schleswig-Holstein einen Bund-LänderStreit angestrengt, der jedoch vom Bundesverfassungsgericht als unzulässig (falscher Antragsteller) zurückgewiesen wurde.144 Teile des Schrifttums sehen durch den neuen Art. 109 Abs. 3 GG die materielle Haushaltsautonomie der Länder unzulässig eingeschränkt und damit den verfassungsfesten Kern der Bundesstaatlichkeit verletzt.145 Sie stützen ihre Argumentation im Wesentlichen auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1972, in dem es die Eigenstaatlichkeit der Länder betont: Die Länder sind „gegen eine Verfassungsänderung gesichert, durch die sie die Qualität von Staaten oder ein Essentiale der Staatlichkeit einbüßen.“146 Ihnen muss ein Kern eigener Aufgaben als „ ‚Hausgut‘ unentziehbar verbleiben“.147 Hierzu gehört auch ein angemessener Anteil am Gesamtsteueraufkommen.148 Nach überwiegender Auffassung ist jedoch das strukturelle Neuverschuldungsverbot der Länder mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar.149 Zwar gehört 142  Die durch Art. 79 Abs. 3 GG ebenfalls geschützte „Gliederung des Bundes in Länder“ bietet in diesem kompetenzrechtlichen Zusammenhang keinen weitergehenden Schutz. 143  Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 258 ff. prüft zudem, ob durch das strukturelle Neuverschuldungsvebot die Verfassungsautonomie der Länder unzulässig begrenzt wird. Sie kommt zu dem eindeutigen Ergebnis, dass die Verfassungsautonomie hinreichend gewahrt wird. 144  Vgl. BVerfG, 2 BvG 1/10 vom 19.8.2011, Absatz-Nr. (1  -  63), http://www. bverfg.de/entscheidungen/gs20110819_2bvg000110.html (abgerufen am 8.4.2017). 145  Siehe Fassbender, Eigenstaatlichkeit und Verschuldungsfähigkeit der Länder, NVwZ 2009, S. 737 (738 ff.); Hancke, Defizitbegrenzung im Bundesstaat – Verfassungsmäßigkeit einer verbindlichen Verschuldungsregel für die Bundesländer, DVBl. 2009, S.  621 ff.; Hancke, Defizitbegrenzung im Bundesstaat, 2008, S. 164; vorsichtiger Selmer, Die Föderalismusreform II – Ein verfassungsrechtliches monstrum simile, NVwZ 2009, S. 1255 (1261). 146  BVerfGE 34, 9 (19) (Besoldungsvereinheitlichung). 147  BVerfGE 34, 9 (19 f.) (Besoldungsvereinheitlichung). 148  Vgl. BVerfGE 34, 9 (20) (Besoldungsvereinheitlichung). Für eine grundlegende Analyse der föderalen Finanzordnung in Deutschland vgl. Waldhoff, Finanzautonomie und Finanzverflechtung in gestuften Rechtsordnungen, VVDStRL 66, 2006, S. 216. 149  Vgl. Christ, Neue Schuldenregel für den Gesamtstaat: Instrument zur mittelfristigen Konsolidierung der Staatsfinanzen, NVwZ 2009, S. 1333 (1338 f.); Kemm-

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

eine angemessene, an den Sachaufgaben orientierte Finanzausstattung der Länder150 zum Schutzgut des Art. 79 Abs. 3 GG, diese bezieht sich jedoch auf den Anteil am gesamtstaatlich vereinnahmten Steueraufkommen. Das Steuerstaatsprinzip fordert die Regelfinanzierung über die Gemeinlast der Steuer und versteht die Krediteinnahme lediglich als außerordentliches Element der Staatsfinanzierung.151 Die Vorgabe einer angemessenen Finanzausstattung impliziert somit nicht, dass die Länder das Recht zur strukturellen Kreditaufnahme haben müssen.152 Zudem bezieht sich der Schutz auf das Ergebnis der finanziellen Ausstattung, nicht auf ihr Zustandekommen.153 Art. 79 Abs. 3 GG schützt das Prinzip der Bundesstaatlichkeit, nicht jedoch seine konkrete Ausgestaltung im Grundgesetz.154 Er folgt somit keinem starren Föderalismusverständnis, sondern ist zukunftsoffen für den Wandel der Balance zwischen Eigenständigkeit der Länder und bündischem Zusammenhalt. Die Staatsqualität der Länder darf allerdings keinesfalls ler, Schuldenbremse und Benchmarking im Bundesstaat, DÖV 2009, S. 549 554 ff.); Korioth, Das neue Staatsschuldenrecht – zur zweiten Stufe der Föderalismusreform, JZ 2009, S. 729 (731 f.); Lenz/Burgbacher, Die neue Schuldenbremse im Grundgesetz, NJW 2009, S. 2561 (2565 f.); Ohler, Maßstäbe der Staatsverschuldung nach der Föderalismusreform II, DVBl. 2009, S. 1265 (1273); Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, S. 721 (727 f.); Waldhoff/ Dieterich, Die Föderalismusreform II – Instrument zur Bewältigung der staatlichen Finanzkrise oder verfassungsrechtliches Placebo?, ZG 2009, S. 97 (113 ff.); Kirchhof, Gregor, Art. 109 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2010, Rn. 110 ff. sowie Kube, Art. 109 GG, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, 2011, Rn. 118 m. w. N. 150  BVerfGE 72, 330 (383) (Finanzausgleich I); BVerfGE 116, 327 (378) (Berliner Haushalt). 151  Siehe oben 1. Teil A.I. 152  So auch Hancke, Defizitbegrenzung im Bundesstaat – Verfassungsmäßigkeit einer verbindlichen Verschuldungsregel für die Bundesländer, DVBl. 2009, S. 621 (623). 153  Siehe auch BVerfGE 101, 158 (220) (Finanzausgleich III): „Bund und Länder sind in ihrer Haushaltswirtschaft, nicht in ihrer Finanzwirtschaft selbständig und voneinander unabhängig. Dementsprechend ist die Garantie der Haushaltsautonomie in Art. 109 Abs. 1 GG den Bestimmungen der Art. 105 bis 107 GG über die Steuerzuteilung und den Finanzausgleich nachgeordnet. Bund und Länder müssen die in diesen Vorschriften ausgesprochenen Einschränkungen ihrer Finanzhoheit hinnehmen (vgl. BVerfGE 1, 117 [131]).“ 154  Das Bundesverfassungsgericht sieht in Art. 79 Abs. 3 GG eine „eng auszulegende Ausnahmevorschrift“ (vgl. BVerfGE 109, 279 [310] [großer Lauschangriff]), welche seine Schutzgüter nicht in allen Einzelheiten ihrer derzeitigen Ausgestaltung und nicht gegen sachgerechte Modifikationen schützt. Siehe BVerfGE 30, 1 (24) (Telefonüberwachung); BVerfGE 84, 90 (120 f.) (Bodenreform); BVerfGE 94, 49 (103) (Asyl). Vgl. hierzu auch Thiele, Das Ende der Länder? – Zur Verfassungsmäßigkeit der „Schuldenbremse“ nach Art. 109 Abs. 3 S. 5 GG, NdsVBl. 2010, S. 89 (91 f.).



B. Die neue Schuldenregel161

„durch Grundgesetzänderungen nach und nach ausgehöhlt werden, so dass am Ende nur noch eine leere Hülse von Eigenstaatlichkeit übrig bliebe.“155 Diese Gefahr droht jedoch mit der Neufassung des Art. 109 Abs. 3 GG nicht. Das Grundgesetz legt den Ländern nur ein strukturelles Neuverschuldungsverbot auf, lässt eine Verschuldung im Rahmen der Konjunkturkomponente jedoch zu. Die Beschränkung der Schuldenaufnahme findet ihre Rechtfertigung in dem Grundsatz des bündischen Prinzips, welches in einer extremen Haushaltsnotlage sogar wechselseitige Einstandspflichten verlangt.156 Ein strukturelles Verschuldungsverbot ist ein sachgerechtes und angemessenes Instrument, um die Einstandspflicht präventiv zu verhindern. Durch eine stark zunehmende Staatsverschuldung eines Landes droht dessen Handlungsunfähigkeit. Dieses bündische Eintreten füreinander wird zudem durch das Europäische Vertragswerk überwölbt. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt legt der Bundesrepublik Deutschland als Gesamtstaat eine einheitliche Haushaltsrestriktion auf und verpflichtet Bund und Länder auf den Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“.157 Die Schuldenbremse in Art. 109 Abs. 3 GG trägt dazu bei, dass Deutschland die europarechtlichen Vorgaben als Bundesstaat erfüllen kann. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der änderungsfeste Kerngehalt der Bundesstaatlichkeit durch das strukturelle Neuverschuldungsverbot der Länder nicht angetastet wird.158

155  BVerfGE

34, 9 (19 f.) (Besoldungsvereinheitlichung). BVerfGE 116, 327 (386) (Berliner Haushalt). 157  Vgl. Art. 3 S. 2 Protokoll (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Abl. Nr. C 115 v. 9.5.2008, S. 279. Siehe hierzu Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, S. 721 (728), der das Gebot der Bundestreue betont. Er arbeitet zudem heraus, dass die Auffassung, das strukturelle Neuverschuldungsverbot würde gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen, folgerichtig auch die innerstaatliche Beachtlichkeit des Stabilitäts- und Wachstumspaktes anzweifeln müsste, siehe Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, S. 721 (728, Fn. 55). 158  Siehe Kube, Art. 109 GG, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, 2011, Rn. 118. Im Ergebnis so auch Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, S. 166 und Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 257 (Fn. 705) m. w. N. 156  Siehe

162

3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

III. Konjunkturell zulässige Staatsverschuldung 1. Verfassungsrechtliche Vorgabe: Wirtschaftliche Entwicklung als dynamischer Maßstab der Verschuldungsgrenze a) Grund und Maß Zusätzlich zu dem Grundsatz des ausgeglichenen Haushalts und der zulässigen strukturellen Verschuldung von 0,35 % des BIP sind nach Art. 115 Abs. 2 S. 3 GG für den Bund, bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung, die Auswirkungen auf den Haushalt im Aufund Abschwung symmetrisch zu berücksichtigen. Sowohl Grund als auch Maß der verfassungsrechtlich so vorgezeichneten konjunkturellen Komponente richten sich nach der wirtschaftlichen Situation159 des Gesamtstaates. Ob die konjunkturelle Komponente eingreift, hängt unmittelbar davon ab, ob die Konjunktur von der Normallage abweicht, sich also entweder negativ oder positiv von dieser unterscheidet. In der wirtschaftlichen Normallage greift ausschließlich die strukturelle Komponente, die eine Kreditaufnahme von maximal 0,35 % des BIP erlaubt. Wann diese jedoch vorliegt, lässt das Grundgesetz offen. Auch das konkretisierende Bundesgesetz definiert die Normallage nicht.160 Art. 115 Abs. 2 S. 3 GG legt fest, dass das Maß der konjunkturellen Komponente anhand der Auswirkungen der Konjunktur auf den Staatshaushalt bestimmt wird. Der Einfluss der wirtschaftlichen Schwankungen auf das Budget des Bundes ist demnach die entscheidende Größe zur Bestimmung der konjunkturellen Komponente. Im Unterschied zum „Ob“ wird das „Wie“ der Konjunkturkomponente nur mittelbar durch die gesamtwirtschaftliche Situation geprägt, nämlich über ihre Wirkung auf den Haushalt.161 Dies betrifft konjunkturreagible Einnahme- und Ausgabepositionen der öffentlichen Haus159  Im Gegensatz zur strukturellen Komponente, die auf das Bruttoinlandsprodukt der Vorperiode Bezug nimmt (§ 4 G 115), sind bei der Konjunkturkomponente die wirtschaftliche Entwicklung und damit das erwartete Bruttoinlandsprodukt ausschlaggebend. Maßgeblich ist das erwartete (und damit zu schätzende) BIP für dasjenige Haushaltsjahr, für das der Haushalt aufgestellt wird (§ 5 Abs. 2 S. 2 G 115). 160  Das Ausführungsgesetz definiert lediglich, wann ein Abweichen von der konjunkturellen Normallage vorliegt. Diese negative Definition deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber die wirtschaftliche Normallage als Ausnahme betrachtet. Hieraus lässt sich jedoch nicht auf einen rechtlichen Maßstab schließen. Siehe unten 4. Teil Abschnitt A.II.1. 161  Art. 115 Abs. 2 S. 3 GG ist damit konkreter als Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG, der nur allgemein von „Berücksichtigung der Auswirkungen“ spricht.



B. Die neue Schuldenregel163

halte. Die größte Wirkung entfalten insbesondere geringere (respektive höhere) Steuereinnahmen sowie steigende (bzw. sinkende), haushaltswirksame Sozialausgaben. Die Wirtschaftswissenschaften fassen diese Auswirkungen unter dem Begriff der „automatischen Stabilisatoren“ zusammen.162 Sie umschreiben damit den Effekt, dass der Staat mit seinen sozialen Sicherungssystemen und seiner Steuerfinanzierung eine dämpfende Wirkung auf die Konjunktur ausübt, sowohl im Falle eines Abschwunges als auch in Phasen wirtschaftlicher Prosperität. Sie wirken „automatisch“, da sie ihre antizyklische Wirkung ohne Beteiligung von Parlament und Regierung entfalten.163 Im Gegensatz zum weiten wirtschaftwissenschaftlichen Verständnis beschränkt sich das Grundgesetz jedoch auf die Auswirkungen der Konjunktur auf den Staatshaushalt. Dies bedeutet, dass Einnahmeverluste bzw. Mehreinnahmen der Parafisci, insbesondere der eigenständigen sozialen Sicherungssysteme (Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung),164 nicht berücksichtigt werden, solange sie sich nicht im Haushalt widerspiegeln.165 Das Verfassungsrecht unterscheidet nicht zwischen den verschiedenen konjunkturellen Auswirkungen auf den Bundeshaushalt. Vielmehr werden alle fiskalischen Auswirkungen berücksichtigt, die sich aus der wirtschaftlichen Entwicklung ergeben, sowohl auf der staatlichen Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite des Haushaltes.166 Der Wortlaut („Auswirkungen“) verdeutlicht, dass bei der Berechnung der Konjunkturkomponente aus162  Siehe die Definition der Deutschen Bundesbank: „Als automatische Stabilisatoren wirken Einnahme- und Ausgabepositionen der öffentlichen Haushalte, die die Konjunktur antizyklisch dämpfen bzw. stimulieren. Automatisch wirken sie in dem Sinne, als sie keinen Anstoß durch Entscheidungen von Parlament und Regierung benötigen. Ein Beispiel ist die Arbeitslosenversicherung. In einer Rezession steigen ihre Auszahlungen, da es mehr Arbeitslose gibt. In der Tendenz erhöht dies die gesamtwirtschaftliche Nachfrage; dies wirkt der Rezession entgegen und stabilisiert die Konjunktur.“, Glossar, Stichwort „automatische Stabilisatoren“, http://www. bundesbank.de/Navigation/DE/Service/Glossar/_functions/glossar.html?lv2=32020 &lv3=62534 (abgerufen am 8.4.2017). 163  Siehe Gabler Wirtschaftslexikon, „Built-in Stability“, 2014, S. 564. Eine aktive Konjunkturpolitik mit diskretionären antizyklischen Maßnahmen fällt daher nicht unter die automatischen Stabilisatoren. 164  Zu den Parafisci zählen auch Kirchen, Religionsgemeinschaften und berufsständische Vertretungen, siehe Gabler Wirtschaftslexikon, „Parafisci“, 2014, S. 2411. 165  Die fehlende Berücksichtigung der Auswirkungen der Konjunktur auf die Parafisci verhält sich spiegelbildlich zur fehlenden Einbeziehung etwaiger Defizite von Sozialversicherungen in Art. 109 Abs. 3 S. 1 GG, siehe Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 22. Vgl. auch unten 4.  Teil Abschnitt B.I.2., Fn. 291. 166  Zum Zusammenhang zwischen Staatsausgaben und konjunktureller Entwicklung siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, S. 148 f.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

schließlich passive Konjunktureffekte berücksichtigt werden, während etwaige Elemente einer aktiven Konjunkturpolitik (z. B. öffentliche Investitionsprogramme) nicht in die Berechnung der Komponente einfließen.167 Abhängig von der Wirtschaftslage verkürzt oder erweitert das Maß der Konjunkturkomponente den strukturellen Verschuldungsrahmen von 0,35 % des BIP. Die so ermittelte, maximal zulässige Nettokreditaufnahme muss jedoch nicht vollständig ausgeschöpft werden. Denn das novellierte Staatsschuldenrecht spricht eindeutig von „der Obergrenze der Nettokreditaufnahme“ (Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG) und verdeutlicht damit seine Begrenzungsfunktion. Der neue Wortlaut lässt damit keinen Zweifel daran, dass der Haushaltsgesetzgeber nicht zur (antizyklischen) Kreditaufnahme verpflichtet ist.168 Verlangt hingegen die Konjunkturkomponente eine echte Schuldentilgung, muss der Haushaltsgesetzgeber dem folgen. Es steht ihm jedoch frei, über das geforderte Maß hinaus zu tilgen. Gemäß Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG regelt ein Bundesgesetz den Grund, das Maß und die weitere Ausgestaltung der konjunkturellen Komponente. Es soll insbesondere das Berechnungsverfahren der Obergrenze der jährlichen Nettokreditaufnahme und das Konjunkturbereinigungsverfahren zur Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung konkretisieren.169 b) Symmetrieerfordernis Das Grundgesetz verlangt, dass Budgeteffekte eines wirtschaftlichen Aufund Abschwungs symmetrisch berücksichtigt werden. Dies soll sicherstellen, dass im langfristigen Mittel die Konjunkturkomponente gegen null tendiert, positive und negative Konjunktureffekte sich im Zeitverlauf also ausgleichen. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat sich damit bewusst an den 167  Andernfalls könnte der Haushaltsgesetzgeber mit aktiv veranlassten Ausgaben zur Konjunkturförderung die Konjunkturkomponente gezielt erweitern. Siehe auch Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 221 sowie Christ, Neue Schuldenregeln für den Gesamtstaat: Instrument zur mittelfristigen Konsolidierung der Staatsfinanzen, NVwZ 2009, S. 1333 (1335). 168  Vereinzelte Stimmen in der Literatur sahen im Art. 109 Abs. 2 GG a. F. ein Gebot zur antizyklischen Verschuldung, vgl. Fischer-Menshausen, Art. 115 GG, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, 1996, Rn. 14a oder Nahamowitz, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Staatsverschuldung, DuR 1990, S. 427 (435 ff.). Höfling/Rixen, Art. 115 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2003, Rn. 363 ff. hingegen verwerfen (richtigerweise) ein Gebot aktiver konjunktureller Schuldenpolitik aufgrund Art. 109 Abs. 2 GG a. F. 169  Es soll außerdem die Bereinigung der Einnahmen und Ausgaben um finanzielle Transaktionen (siehe unten 4. Teil Abschnitt A.I.2.) und die Einzelheiten des Kontrollkontos regeln (siehe unten 4. Teil Abschnitt A.III.1.).



B. Die neue Schuldenregel165

Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“ des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes angelehnt.170 Dieses Konzept basiert darauf, dass die Konjunkturentwicklung einem wiederkehrenden Muster, den sogenannten Konjunkturzyklen, folgt.171 Im Laufe eines klassischen Konjunkturzyklus durchläuft die wirtschaftliche Entwicklung regelmäßig Phasen des Aufschwungs, der Hochkonjunktur, des Abschwungs und des Tiefs. Am Ende eines solchen Konjunkturzyklus steht wieder die Phase der Erholung, also der Aufschwung. Im idealtypischen Fall verläuft ein Zyklus mit harmonischen Wellenbewegungen, die negativen und positiven Ausschläge schwanken symmetrisch um ein Trendwachstum. Die Verfassung greift diesen Symmetriegedanken auf. Der Begriff der „Symmetrie“ ist der Mathematik entlehnt, die darunter die Eigenschaft von Figuren oder Körpern versteht, die beiderseits einer gedachten Mittelachse ein jeweils spiegelgleiches Bild ergeben.172 Das Grundgesetz fordert explizit, Auf- und Abschwünge „symmetrisch“ zu berücksichtigen. Es geht damit über einen Maßstab bloßer Gleichbehandlung von Auf- und Abschwüngen hinaus. Die Verfassung bringt auf diese Weise die Erwartung zum Ausdruck, dass langfristig die positiven und negativen konjunkturellen Auswirkungen auf die Schuldengrenze in ihrem finanziellen Volumen deckungsgleich sind. Diese Erwartung bleibt jedoch für das einzelne, periodenbezogene Haushaltsgesetz ohne unmittelbare normative Bindungskraft. Denn für das Haushaltsgesetz und seine zulässige Nettokreditaufnahme ist nur die jeweils aktuelle wirtschaftliche Situation relevant.173 Lediglich das Kontrollkonto, als Gedächtnis für überhöhte Krediteinnahmen im Haushaltsvollzug, kann, in begrenztem Umfang, den Kreditrahmen zusätzlich verkürzen.174 Die Konjunkturkomponente ist überfordert, wenn sie selbst langfristig „denken“ und konjunkturell bedingte Überschüsse und Defizite weitestgehend ausgleichen soll.175 Nicht nur, dass hierfür ein eigenes „Konjunkturzykluskonto“ nötig wäre, welches die Volumina von Krediteinnahmen und Haushaltsüberschüssen im Zeitverlauf speichert,176 sondern man müsste auch stets eindeutig 170  Siehe

Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 22 und oben Abschnitt A.II.1. Gesetzesbegründung BR-Drs. 262/09, S. 9. Näheres zu den Konjunkturzyklen siehe 2. Teil Abschnitt A.V.1., Fn. 177. 172  Siehe Duden, Bd. 5, Das Fremdwörterbuch, Stichwort „Symmetrie“, 8. Aufl., 2005, S. 1011. 173  Das Symmetrieerfordernis wirkt hier nur indirekt, nämlich indem die aktuelle Konjunkturlage in Bezug zur Symmetrieachse gesetzt wird. 174  Siehe unten 4. Teil Abschnitt A.III.1. 175  Die Konjunkturverläufe schwanken nämlich sehr stark und weichen häufig vom Muster klassischer Konjunkturverläufe ab. Siehe dazu sogleich. 176  Um eine Symmetrie der „Flächen“ (d. h. Kreditvolumina) ober- und unterhalb der Symmetrieachse (d. h. Normallage) zu erreichen, müssten die absoluten Netto171  Siehe

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

zuordnen, in welchem Jahr noch nicht kompensierte Defizite ausgeglichen werden müssen. Zudem könnten die zusätzlichen Tilgungspflichten zu einer prozyklischen Fiskalpolitik führen, die ja gerade durch die Schuldenbremse vermieden werden soll. Das grundgesetzliche Symmetrieerfordernis bleibt jedoch keine bloße Erwartungshaltung. Ganz im Gegenteil, es ist von großer Bedeutung für die einfachgesetzliche Ausgestaltung und die Ausführung der Schuldenbremse. Für den Haushaltsgesetzgeber ergibt sich daraus die Pflicht, den Budgeteffekt eines wirtschaftlichen Auf- und Abschwungs in gleichem Maße zu berücksichtigen, negative und positive Effekte auf das Budget müssen zwingend gleich behandelt werden.177 Folglich darf auch der Maßstab der Symmetrie, nach dem die Auswirkungen auf den Haushalt berücksichtigt werden, nicht beliebig innerhalb eines Konjunkturzyklus verändert werden. Er muss langfristig so ausgestaltet sein, dass sich konjunkturbedingte Krediteinnahmen und Tilgungen die Waage halten können. Eine große Unsicherheit liegt jedoch in der wirtschaftlichen Entwicklung selbst. Geht man von klassischen Konjunkturverläufen aus, die positiv und negativ um ein Trendwachstum schwanken und nur relativ gleichförmige Amplituden, das heißt Abweichungen in der Höhe ihrer jeweiligen Ausschläge nach oben und unten, aufweisen, erscheint ein langfristiger Haushaltsausgleich eher unproblematisch. Weicht die Konjunkturentwicklung jedoch von diesem Muster ab, ist es für den Haushaltsgesetzgeber außerordentlich schwierig, die Symmetrieachse (beziehungsweise die Normallage) ex ante angemessen anzupassen.178 Ein Blick auf die Konjunkturverläufe in Deutschland seit 1949 zeigt, dass klassische Konjunkturzyklen eher die Ausnahme sind.179 Einmalige Sondereinflüsse und Konjunkturschocks, wie die deutsche Wiedervereinigung oder die Finanzmarktkrise des Jahres 2009, werden zwar durch die Ausnahmeregelung des Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG abgedeckt,180 nicht jedoch langfristig schwache Konjunkturverläufe. Fallen die Phasen unterhalb der Symmetrieachse, die eine höhere Verschuldung erlauben, regelmäßig länger und gegebenenfalls auch heftiger aus als die Zeiträume oberhalb der Achse, droht das Konzept der Schuldenbremse zu Krediteinnahmen und Netto-Tilgungen zum Ausgleich gebracht werden. Das Kon­ trollkonto berücksichtigt nur die Abweichungen relativ zur Konjunkturentwicklung und zur zulässigen Kreditaufnahme des einzelnen Haushaltsjahres. 177  Vgl. § 5 Abs. 2 G 115. 178  Gleiches gilt für die Wirtschaftswissenschaften, die das Trendwachstum am aktuellen Rand nur ungenau schätzen können. Siehe hierzu ausführlicher 4. Teil Abschnitt A.II.2.b). 179  Siehe Lexikon der Volkswirtschaft, „Konjunkturzyklus“, 2009, S.  409, Abb. 41. 180  Vgl. Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 23. Siehe unten Abschnitt B.V.



B. Die neue Schuldenregel167

scheitern. Statt eines langfristig ausgeglichenen Haushalts besteht die Gefahr einer beständigen Verschuldung. Eine solche Entwicklung würde dem Sinn und Zweck der Konjunkturkomponente wiedersprechen. Sie soll wirtschaftliche Entwicklungen abfedern und ein „Atmen des Haushalts“ ermöglichen, ohne ihn langfristig zu belasten. Ihre symmetrische Ausgestaltung für Auf- und Abschwünge soll dabei sicherstellen, dass sich das „Mehr“ und „Weniger“ an Schulden in etwa die Waage hält.181 Hieraus folgt die verfassungsrechtliche Pflicht, die Normallage fortwährend auf ihre symmetrische Eigenschaft zu überprüfen und, soweit möglich, rechtzeitig anzupassen. Die Symmetrieachse muss so ausgerichtet sein, dass auch in Konjunkturphasen mit geringen Amplituden Auf- und Abschwünge identifiziert werden können.182 Denn eine falsche Ausrichtung könnte dazu führen, dass beispielsweise Aufschwünge gar nicht oder zu selten berücksichtigt werden. Auf diese Weise würde die Konjunkturkomponente den Verschuldungsrahmen übermäßig erweitern. Ausschläge mit kleinsten Abweichungen von der Symmetrieachse (positiv oder negativ) können hingegen auch der Normallage zugerechnet werden, so dass die Konjunkturkomponente nicht greift. Aber auch hier gilt, dass die Bandbreite der Normallage für positive und negative Abweichungen gleich groß sein muss, um die Symmetrie zu wahren. Eine besondere Herausforderung stellen zudem die konjunkturellen Wendepunkte183 dar. Diese können in der Regel nicht ex ante erkannt und damit in der Konjunkturkomponente unmittelbar abgebildet werden. Die symmetrische Berücksichtigung erfolgt dann erst durch das Kontrollkonto, welches auf aktualisierte BIP-Daten zurückgreift. Ähnlich wie der Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleichs strahlt das Symmetriegebot (Art. 109 Abs. 3 S. 2, Art. 115 Abs. 2 S. 3 GG) auf das Staatsschuldenrecht insgesamt aus. Anders als die alte Rechtslage mit ihrem unbestimmten Rechtsbegriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bringt die Neuregelung klar zum Ausdruck, dass sich konjunkturbedingte Krediteinahmen und -ausgaben langfristig ausgleichen sollen. Konjunkturel181  Siehe Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 12. Diese Intention verfolgte auch der verfassungsändernde Gesetzgeber von 1969, als er das Konzept des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts einführte. Die Staatsverschuldung wurde jedoch auch bei positiver Wirtschaftslage nicht reduziert. Vgl. oben 1. Teil B.V.3. 182  Eine mögliche verfassungsgerichtliche Kontrolle beschränkt sich hier wohl nur auf eine offensichtliche Missachtung des Symmetriegebots, vergleichbar mit der Vertretbarkeitskontrolle zum Einschätzungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG a. F.), vgl. BVerfGE 79, 311 (344) (Staatsverschuldung) und oben 1. Teil Abschnitt B.III. 183  Konjunkturelle Wendepunkte sind die Zeiträume in denen ein starkes BIPWachstum von schwächeren Wachstumsraten oder gar Rückgängen abgelöst wird und vice versa.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

le Hochphasen senken die zulässige Nettokreditaufnahme oder fordern eine Tilgung. Gemeinsam mit dem europäischen Grundsatz des „Close-to-Bal­ ance or in Surplus“ formulieren Art. 109, 115 GG das Ziel langfristig ausgeglichener Haushalte und geben damit einen verbindlichen Maßstab für die Anwendung der Schuldenregel vor, der auch bei der Handhabung des einfachen Rechts zu beachten ist. Im Ergebnis verpflichtet das verfassungsrechtliche Symmetriegebot zunächst den Haushaltsgesetzgeber, konjunkturelle Ab- und Aufschwünge über den gesamten Konjunkturzyklus hinweg gleichmäßig zu berücksichtigen. Darüber hinaus muss der Gesetzgeber die Symmetrieachse fortlaufend überprüfen und bei Bedarf so anpassen, dass sich zusätzliche Kreditaufnahme und Tilgung langfristig ausgleichen können. Das Symmetriegebot strahlt zudem auf die einfache Rechtsordnung aus und entfaltet auch so seine Wirkung für die Interpretation der Schuldenbremse insgesamt. 2. Konjunkturell zulässige Verschuldung der Länder Die Länder müssen eine Regelung zur Schuldenbremse einführen und hierbei das strukturelle Neuverschuldungsverbot beachten.184 Sie dürfen allerdings, im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen, Regelungen für eine konjunkturbedingte Verschuldung erlassen (Art. 109 Abs. 3 S. 5 i. V. m. S. 2 GG).185 Hierbei müssen sie insbesondere die grundgesetzliche Vorgabe des Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG beachten, wonach die Auswirkungen von Auf- und Abschwüngen zwingend symmetrisch zu berücksichtigen sind. Die Anforderungen an die symmetrische Eigenschaft für die Schuldenregel des Bundes lassen sich deckungsgleich auf die Länder übertragen.186 Voraussetzung für eine konjunkturbedingte Kreditaufnahme der Bundesländer ist eine von der Normallage abweichende wirtschaftliche Entwicklung, denn in der Normallage ist eine Verschuldung für die Länder strikt ausgeschlossen (Art. 109 Abs. 3 S. 5 GG). Der materielle Haushaltsausgleich darf nicht durch eine beliebige oder zu hoch angesetzte Normallage umgan184  Siehe

hierzu oben Abschnitt B.II.2.a). Ländern steht es verfassungsrechtlich frei, ob sie eine Regelung zur konjunkturellen Kreditaufnahme (oder auch von Kreditaufnahmen in Notlagen) treffen. Entscheiden sie sich gegen eine Regelung, gilt für sie das strikte Neuverschuldungsverbot, siehe Kube, Art. 109 GG, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, 2011, Rn. 181 f. Die Länder müssen sich bei der Ausgestaltung ihrer Konjunkturkomponente nicht an den Vorgaben für den Bund (Art. 115 Abs. 2 GG) orientieren. 186  Siehe soeben Abschnitt B.III.1.b). Wie sie die Anforderungen erfüllen, können sie jedoch im Rahmen des Art. 109 Abs. 3 GG in eigener Verantwortung entscheiden. 185  Den



B. Die neue Schuldenregel169

gen werden.187 Hierbei ist es nicht notwendig, dass die Länder ihr eigenes länderspezifisches Produktionspotential schätzen.188 Sie können sich auch am Produktionspotential des Bundes orientieren und beispielweise über ein Quotierungsverfahren189 ihren „Anteil“ am Produktionspotential bestimmen.190 Die Länder haben hier im Rahmen des Art. 109 Abs. 3 GG grundsätzlich einen Gestaltungsspielraum.191 Allerdings muss fortlaufend geprüft werden, ob für das jeweilige Land das symmetrische Verhältnis gewahrt wird, damit sich konjunkturelle Kreditaufnahme und Tilgung mittel‑ bis 187  Kube, Art. 109 GG, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, 2011, Rn. 184, betont, dass die Landesregelungen bestimmen müssen, ob eine von der Normallage abweichende konjunkturelle Entwicklung vorliegt und in welcher Höhe die Konjunkturkomponente eine Kreditaufnahme zulässt oder eine Tilgung fordert. 188  Die Länder müssen auch nicht zwingend die konjunkturelle Elastizität (vgl. unten 3. Teil Abschnitt A.II.2.a)) ihres Haushalts bestimmen. Denn Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG verlangt nur allgemein eine „Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung“, während Art. 115 Abs. 2 S. 3 GG für den Bund konkret verlangt, „die Auswirkungen auf den Haushalt [Hervorhebung nur hier] im Auf- und Abschwung symmetrisch zu berücksichtigen“. 189  Beispielsweise über den Anteil des jeweiligen Landes am Steueraufkommen der Ländergesamtheit, den Bevölkerungsanteil oder den Anteil an der Bruttowertschöpfung der Ländergesamtheit. Vgl. hierzu Holtemöller et al., Modelle zur Konjunkturbereinigung und deren Auswirkungen, IWH Online 2/2014, S. 13. 190  Alternativ können die Bundesländer grundsätzlich auch die Entwicklung ihrer Steuereinnahmen heranziehen. Da die Ausgaben der Länder in der Regel struktureller Natur sind, kann so auf die konjunkurelle Lage des Landes geschlossen werden. Allerdings müssen strukturelle Änderungen im Steuerrecht berücksichtigt werden. Zudem ist die fehlende Konjunkturreagibilität auf der Ausgabenseite der Länder noch nicht wissenschaftlich nachgewiesen. Vgl. hierzu Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung, Ermittlung der Konjunkturkomponenten für die Länderhaushalte zur Umsetzung der in der Föderalismuskommission II vereinbarten Verschuldungsbegrenzung, 2010, S. 34 und Holtemöller et al., Modelle zur Konjunkturbereinigung und deren Auswirkungen, IWH Online 2/2014, S. 13. Bravidor, Die Umsetzung der Verschuldungsregelung in den Ländern, in: Hetschko et al. (Hrsg.), Staatsverschuldung in Deutschland nach der Föderalismusreform II – eine Zwischenbilanz, 2012, S. 24 sieht die „statische Festlegung auf einen Rückgang“ der Steuereinnahmen (im Zusammenhang mit der Thüringer Landeshaushaltsordnung) kritisch. 191  Siehe hierzu Christ, Schuldenregel für den Gesamtstaat, NVwZ 2009, S. 1333 (1335), der hier von einem „weiten Gestaltungspielraum“ spricht. Auch die Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 10 betont die selbstständige Ausgestaltung der Länder: „Die kreditbezogenen Vorgaben des [Art. 109 GG] Absatzes 3 geben den Ländern für diesen Teilausschnitt der Haushaltswirtschaft lediglich einen Rahmen vor, innerhalb dessen sie ihre Haushalte selbständig und unabhängig gestalten können.“ Zu den problematischen Aspekten der Ausgestaltung für die Länder vgl. Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung, Ermittlung der Konjunkturkomponenten für die Länderhaushalte zur Umsetzung der in der Föderalismuskommission II vereinbarten Verschuldungsbegrenzung, 2010, S. 32 ff.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

langfristig die Waage halten können. Die Bedingung einer realitätsnahen Normallage korrespondiert auf diese Weise mit dem Symmetriegebot. Neben dem verfassungsrechtlichen Symmetriegebot sind aus rechtspolitischer Sicht noch weitere Kriterien von Bedeutung, um eine stabilisierende Wirkung der Schuldenbremse auf Länderebene zu ermöglichen:192 Die Verfahren zur Bestimmung der zulässigen konjunkturellen Kreditaufnahme sollten nachvollziehbar und transparent ausgestaltet sein. Dies ermöglicht eine breite Akzeptanz und reduziert die Manipulationsanfälligkeit. Zudem sollten die Verfahren auf verfügbare, aktuelle und belastbare Daten zurückgreifen können, um die jeweilige wirtschaftliche Situation möglichst aktuell und realitätsnah abzubilden und damit eine prozyklische Wirkung zu verhindern. Mit Blick auf die europäischen Vorgaben für das gesamtstaatliche Defizit sollten die Kreditgrenzen unter den Ländern insoweit konsistent sein, dass sie die zulässige Verschuldung für die Ländergesamtheit nicht überschreiten. Ob die einzelnen Länder die Option einer Regelung zur konjunkturbedingten Verschuldung nutzen und inwieweit sie die verfassungsrechtlichen (und rechtspolitischen) Anforderungen erfüllen, kann, aufgrund der Übergangsfrist bis Ende 2019 (Art. 143d Abs. 1 S. 3 GG),193 noch nicht abschließend untersucht werden.194 Bislang zeigt sich noch kein einheitlicher Trend: Die Länder Bayern,195 Bremen,196 Hamburg,197 Hessen,198 Mecklenburg192  Siehe hierzu und im Folgenden Holtemöller et al., Modelle zur Konjunkturbereinigung und deren Auswirkungen, IWH Online 2/2014, S. 5 f. 193  Vgl. oben Abschnitt A.II.5. 194  Klepzig, Die „Schuldenbremse“ im Grundgesetz – Ein Erfolgsmodell?, 2015, S. 158 ff. gibt eine Übersicht zum Stand der Entwicklung auf Landesebene (April 2014) und teilt die Bundesländer in drei Gruppen ein: Länder, die den Wortlaut des Art. 109 Abs. 3 GG weitestgehend übernehmen, solche, die sich am Wortlaut des Grundgesetzes orientieren, aber punktuell konkretisieren oder ergänzen, und Länder, die ihre Schuldenbremse individuell ausgestalten. Für eine Bestandsaufnahme der landesrechtlichen Schuldenbegrenzungen mit Stand 2016 siehe auch Matz, Die strukturelle Haushaltssituation der Bundesländer – Transparenz durch ein Haushaltsmonitoring des Stabilitätsrates, RWI Materialien, Heft 109, 2016, S. 16 ff. 195  Art. 82 der ab 1.1.2020 geltenden Verfassung des Freistaats Bayern, siehe Gesetz zur Änderung der Verfassung des Freistaates Bayern (Schuldenbremse) vom 11.11.2013, GVBl. S. 641. 196  Art. 131a der Verfassung des Landes Bremen, siehe Gesetz zur Änderung der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 22.1.2015. 197  Art. 72 der ab 1.1.2020 geltenden Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, siehe Dreizehntes Gesetz zur Änderung der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 19.06.2012, HmbGVBl. S. 253. 198  Art. 141 der ab 1.1.2020 geltenden Verfassung des Landes Hessen, siehe Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes Hessen durch die Aufnahme einer Schuldenbremse in Verantwortung für kommende Generationen (Gesetz zur Schul-



B. Die neue Schuldenregel171

Vorpommern,199 Rheinland-Pfalz,200 Sachsen201 und Schleswig-Holstein202 haben ihre Verfassung geändert, teilweise erst mit Wirkung zum Ende der Übergangsfrist 2019. Sie lehnen sich teilweise sehr deutlich an den Wortlaut des Art. 109 Abs. 3 GG an und verweisen für die nähere Ausgestaltung in der Regel auf ein Landesgesetz. Bislang weicht nur Sachsen hiervon ab und definiert in Art. 95 Abs. 4 S. 1 der Sächsischen Verfassung sowohl die Normallage („durchschnittliche Steuereinnahmen der vorangegangenen vier denbremse) vom 15.12.2010. Gemäß Art. 123 Abs. 2 der Hessischen Landesverfassung bedarf eine Verfassungsänderung der Mehrheit einer Volksabstimmung. Die Verfassungsänderung wurde am 27.3.2011 mit einer Mehrheit von rund 70 % angenommen. 199  Art. 66 Abs. 2 der ab 1.1.2020 geltenden Verfassung des Landes MecklenburgVorpommern, siehe Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes MecklenburgVorpommern vom 30.6.2011, GVOBl. M-V S. 375. 200  Art. 117 Abs. 1 der Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz (i. V. m. Art. 2 des Änderungsgesetzes [Übergangsbestimmung] vom 23.12.2010), siehe Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz vom 23.12.2010. Allerdings ist höchst fraglich, ob die rheinland-pfälzische Schuldenbremse in dieser Form mit dem Grundgesetz (Art. 109 Abs. 3 S. 2 und 5 GG) vereinbar ist. Denn die Landesverfassung sieht neben der bekannten Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen noch eine weitere Ausnahme vor, und zwar bei einer strukturellen, auf Rechtsvorschriften beruhenden und dem Land nicht zurechenbaren Änderung der Einnahme- oder Ausgabesituation (Art. 117 Abs. 1 Nr. 2 lit. b). Für diesen Fall ist eine zusätzliche Kreditaufnahme für vier Jahre möglich, verbunden mit einem Tilgungsplan. Zu dieser Ausnahme zählt der verfassungsändernde Landesgesetzgeber beispielsweise auch Steuerrechtsänderungen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, oder Ausgaben für gesamtstaatliche Vorhaben, die nicht unmittelbar vom Land beeinflusst werden können, siehe Gesetzesbegründung, Landtag Rheinland-Pfalz, Drs. 15/4966, S. 7. Droege, Art. 117, in Brocker/Droege/Jutzi (Hrsg.), Kommentar zur Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2014, S. 966 (977) widerspricht dieser Auffassung und argumentiert zu Recht, dass „die Heteronomie des Landes in Bezug auf seine Einnahmen und Ausgaben […] keine Notsituation [begründet], sondern […] der in den Steuergesetzgebungs- und Sachgesetzgebungskompetenzen des GG angelegte Normalfall“ ist. Er betont, dass die in der Landesverfassung vorgesehene Regelung zu den sogenannten Strukturanpassungskrediten (vgl. § 5 Ausführungsgesetz zu Art. 117) nicht mit Art. 109 Abs. 3 S. 2 und 5 GG vereinbar ist und daher mit Ablauf des Übergangszeitraumes des Art. 143 d Abs. 1 GG derogiert wird, siehe Droege, Art. 117, S. 966 (978). Bravidor, Die Umsetzung der Verschuldungsregelung in den Ländern, in: Hetschko et al. (Hrsg.), Staatsverschuldung in Deutschland nach der Föderalismusreform II – eine Zwischenbilanz, 2012, S. 15 begründet die Unvereinbarkeit dieser Norm mit Art. 109 Abs. 3 S. 2 und 5 GG damit, dass sich die Notlage der Kontrolle des „Staates“ und nicht bloß eines „Landes“ entziehen muss. Vgl. auch Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche Inhalte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 15 (35). 201  Art. 95 der Verfassung des Freistaats Sachsen, siehe Gesetz zur Änderung der Verfassung des Freistaats Sachsen vom 11.7.2013 (SächsGVBl. S. 502). 202  Art. 61 (i. V. m. Art. 67) der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, siehe Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein vom 22.7.2010.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

Jahre“) als auch die notwendige Abweichung von ihr („um mindestens drei vom Hundert abweichende konjunkturelle Entwicklung“).203 Die Sächsische Landesverfassung legt für die konjunkturelle Kreditaufnahme sogar eine Obergrenze fest, die nur unter weiteren Voraussetzungen (erhöhte Mehrheitsanforderungen) überschritten werden darf.204 Die Sächsische Schuldenbremse verzichtet außerdem auf den zulässigen Übergangszeitraum und gilt bereits seit 2014. Die übrigen Länder, Baden-Württemberg,205 Berlin, Brandenburg, Niedersachsen,206 Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen-Anhalt207 und Thüringen,208 haben bislang nur (übergangsweise) ihre Landeshaushaltsordnungen angepasst oder noch keine Gesetzes- oder Verfassungsänderung vorgenommen. Wie die Länder die zulässige Grenze für ihre konjunkturbedingte Kreditaufnahme jedoch konkret berechnen, ergibt sich, wie auch beim Bund, nicht unmittelbar aus der Verfassung oder Landeshaushaltsordnung, sondern erst aus der Ausführungsgesetzgebung oder der jeweiligen Rechtsverordnung.209 Die hessische Schuldenbremse etabliert in ihrem Ausführungsgesetz ein interessantes, neues Element, um die langfristige Symmetrie der Schuldenregel – und damit auch ihre Wirksamkeit – zu gewährleisten. § 6 des Gesetzes zur Ausführung von Artikel 141 der Verfassung des Landes Hessen210 richtet ein Konjunkturausgleichskonto ein, auf dem die Wirkung der Konjunkturkomponente des vergangenen Haushaltsjahres erfasst wird. Stellt sich beispielsweise am Ende eines Konjunkturzyklus heraus, dass die Konjunk203  Indem Art. 95 Abs. 4 S. 1 der Sächsischen Verfassung Bezug auf die konjunkturelle Abweichung nimmt, werden die Auswirkungen struktureller Änderungen (z. B. Steuererhöhungen oder -senkungen) bei den Steuereinnahmen von der zusätzlichen Kreditaufnahme ausgeschlossen. 204  Siehe Art. 95 Abs. 4 und Abs. 6 der Sächsischen Verfassung. Die weitergehende Ausgestaltung erfolgt durch ein Gesetz (Art. 95 Abs. 8 der Sächsischen Verfassung). 205  Siehe § 18 LHO für Baden-Württemberg. 206  Siehe § 18a der Niedersächsischen Landeshaushaltsordnung. 207  Siehe § 18 LHO des Landes Sachsen-Anhalt. 208  Siehe § 18 der Thüringer Landeshaushaltsordnung. 209  Für einen ersten, unvollständigen Überblick über die gewählten Verfahren der Konjunkturbereinigung vgl. Holtemöller et al., Modelle zur Konjunkturbereinigung und deren Auswirkungen, IWH Online 2/2014, S. 27 f. sowie beispielsweise für Hamburg den Finanzbericht 2013/2014, Stand: Beschluss des Senates vom 13.6.2012, http://www.hamburg.de/contentblob/3540284/data/finanzbericht-2013-14.pdf (abgerufen am 8.4.2017), S. 7 ff. und Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche Inhalte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 15 (34 ff.). 210  Gesetz vom 26. Juni 2013, GVBl. Hessen Nr. 16 v. 8.7.2013, S. 447.



B. Die neue Schuldenregel173

turkomponente nicht symmetrisch wirkt, kann sie auf dieser Grundlage angepasst werden. Das Konto sieht diese Korrektur zwar nicht zwingend vor, bietet aber immerhin eine transparente Dokumentation möglicher Fehlentwicklungen. Eine solche Fehlentwicklung könnte etwa in einem überhöhten Verschuldungsspielraum bestehen.211 Wie stark die Schuldenbremse in den Ländern tatsächlich wirkt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Länder potentielle Umgehungsmöglichkeiten rechtlich ausschließen oder diese jedenfalls in der Praxis nicht nutzen.212 Mögliche Schlupflöcher könnten sich insbesondere ergeben durch eine – wie auch immer geartete – Verlagerung von Lasten, Aufgaben oder Verschuldung auf die kommunale Ebene.213 Auch bei der Bereinigung um finanzielle Transaktionen könnten Gestaltungsspielräume ausgenutzt214 sowie Aktivitäten oder Infrastrukturinvestitionen ausgelagert werden, beispielsweise im Rahmen von Öffentlich-Privaten-Partnerschaften (ÖPP).215

211  Siehe hierzu auch Deutsche Bundesbank, Zur Verlässlichkeit der Schätzungen internationaler Organisationen zur Produktionslücke, Monatsbericht April 2014, S. 13 (37). 212  Siehe hierzu und im Folgenden Fuest/Thöne, Durchsetzung der Schuldenbremse in den Bundesländern, Kurzstudie im Auftrag des Bayerischen Wirtschaftsministeriums, 2013, S. 55 ff. Groneck/Plachta, Close to balance oder Nettoinvestitionen? – Kreditgrenzen für die Bundesländer, Wirtschaftsdienst 2008, S. 115 (118 ff.) zeigen in einer Simulation, dass eine Schuldenbremse grundsätzlich positiv auf die Eindämmung der Staatsverschuldung in den Ländern wirken kann. 213  Insbesondere die kommunalen Kassenkredite bergen die Gefahr einer versteckten Verschuldung. Vgl. hierzu Herrmann, Kommunale Schattenhaushalte: Versteckte Schulden und Haftungsrisiken, 2012 sowie Gröpl/Heinemann/Kalb, Die Zweckentfremdung des kommunalen Kassenkredites – eine rechtlich-ökonomische Analyse, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 11(2), 2010, S. 178. Zwar begrenzt der unionsrechtliche Defizitrahmen für das mittelfristige Haushaltsziel die gesamtstaatliche Verschuldung und damit auch die der Kommunen, es fehlt aber an einer konkreten, eindeutig zurechenbaren Regelung hierzu. Siehe unten Abschnitt C.I. Zu den Auswirkungen der Schuldenbremse auf die kommunale Ebene vgl. Tappe, Haushaltsrechtliche Umsetzung der Artikel 109 und Artikel 115 GG n. F. in Bund und Ländern, in: Kastrop et al. (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 432 (456 ff.). 214  Möglich ist beispielsweise eine großzügige Darlehensvergabe an den öffentlichen Bereich (bspw. landeseigene Unternehmen) mit einem nur geringen Zinssatz und einer unbestimmten Laufzeit oder ein Anteilserwerb an defizitären öffentlichen Unternehmen, siehe Fuest/Thöne, Durchsetzung der Schuldenbremse in den Bundesländern, Kurzstudie im Auftrag des Bayerischen Wirtschaftsministeriums, 2013, S.  63 f. 215  Siehe hierzu 1. Teil Abschnitt B.V.4.a) und 4. Teil Abschnitt B.II.4.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

IV. Kontrollkonto der Schuldenbremse – Vorgaben des Verfassungsrechts Eine der wesentlichen Schwächen des alten Staatsschuldenrechts war die fehlende Regelung zum Haushaltsvollzug der Kreditaufnahme. Dem begegnet die Schuldenbremse für den Bund mit ihrem Kontrollkonto.216 Es soll strukturelle Fehler und Abweichungen dokumentieren, über die Zeit speichern und den „Anreiz zur Einhaltung der Verschuldungsregel im Haushaltsvollzug deutlich“217 erhöhen. Hierzu erfasst das Kontrollkonto die Abweichung der tatsächlichen Kreditaufnahme von der zulässigen Kreditobergrenze, die aus struktureller und konjunktureller Komponente berechnet wird (Art. 115 Abs. 2 S. 4 Hs. 1 GG). Überschreitet die Belastung des Kontrollkontos den Schwellenwert von 1,5 % des nominalen Bruttoinlandsproduktes, verlangt das Grundgesetz, sie konjunkturgerecht zurückzuführen (Art. 115 Abs. 2 S. 4 Hs. 2 GG). Der verfassungsändernde Gesetzgeber will damit „dem erneuten Aufwuchs struktureller Defizite“ vorbeugen.218 Näheres zum Kontrollkonto, insbesondere zum Ausgleich eines negativen Saldos, wird durch Bundesgesetz geregelt.219

V. Ausnahmeregelung 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben Wie bereits die Vorgängerregelung kommt auch das neue Staatsschuldenrecht nicht ohne Ausnahmeregelung für besondere Situationen aus. Im Gegensatz zur alten Rechtslage ist der Tatbestand jedoch deutlich enger gefasst. Nur im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, darf der Bund die Kreditobergrenze überschreiten (Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG).220 Der Bundestag muss die außerordentliche Kreditaufnahme mit der Mehrheit seiner Mitglieder (qualifizierte Mehrheit)221 beschließen und diesen Beschluss mit einem Tilgungsplan 216  Das Grundgesetz schreibt den Ländern kein Kontrollkonto vor. Sie können ein solches aber im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen eigenständig einrichten. 217  Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 12. 218  Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 12. 219  Siehe hierzu unten 4. Teil Abschnitt A.III. 220  Gleiches gilt für die Länder (Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG). Sie müssen allerdings ebenfalls eine Tilgungsregelung vorsehen (Art. 109 Abs. 3 S. 3 GG). 221  Siehe Art. 121 GG.



B. Die neue Schuldenregel175

verbinden.222 Die Rückführung der so aufgenommenen Kredite hat binnen eines angemessen Zeitraumes zu erfolgen (Art. 115 Abs. 2 S. 8 GG). 2. Ausnahmesituationen Insbesondere in außerordentlichen Krisensituationen muss der Staat handlungsfähig sein, um seine Aufgaben (u. a. Sicherung des Friedens sowie Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung)223 erfüllen zu können. Aus diesem Grund erlaubt der Verfassungsgeber in Art. 109 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 GG und Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG eine Kreditaufnahme außerhalb der Regelgrenzen. Die Ausnahmeregelung soll tatbestandlich jedoch eng begrenzt werden, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der alten Rechtslage, die eine Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses zuließ.224 Da die Verfassung nicht alle möglichen Anwendungsfälle enumerativ aufzählen, geschweige denn vorhersehen kann, knüpft sie die Kreditaufnahme an drei Bedingungen, die gleichzeitig vorliegen müssen:225 Erstens muss die Notsituation außergewöhnlich sein, zweitens muss sich ihr Eintritt der Kontrolle des Staates entziehen, und drittens muss sie den Haushalt erheblich beeinträchtigen. Das Grundgesetz orientiert sich hier eindeutig am Europarecht. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt erlaubt in Art. 2 Abs. 1 VO 1467 / 97 ein erhöhtes öffentliches Defizit, „wenn dies auf ein außergewöhnliches Ereignis, das sich der Kontrolle des betreffenden Mitgliedstaates entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt, oder auf einen schwerwiegenden Wirtschaftsabschwung zurückzuführen ist.“ Der unionsrechtliche Bezug fördert das nationale Begriffsverständnis jedoch nur bedingt, da die europäische Regelung bislang nicht näher konkretisiert wurde.226 Die Analyse des Stabilitäts- und Wachstumspaktes legt allerdings eine enge Auslegung nahe.227 Das Ausführungsgesetz (§ 6 G 115) bietet jedenfalls keine weitergehenden Erkenntnisse, da es lediglich die Formulierungen des Grundgesetzes 222  Der Beschluss des Bundestages kann sowohl ein Gesetzesbeschluss sein als auch ein Parlamentsbeschluss im Zusammenhang mit der Beschlussfassung über das Haushaltsgesetz, siehe BR-Drs.  262/09, S. 28. 223  Ausführlich zu den Aufgaben und Staatszielen des modernen Verfassungsstaates vgl. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 116 ff. 224  Siehe hierzu oben 1. Teil B.III. und vgl. die abweichende Meinung der Richter Di Fabio und Mellinghoff zum Urteil des Zweiten Senats vom 9. Juli 2007, BVerfGE 119, 96 (155 ff.) (Staatsverschuldung II). 225  Vgl. BR-Drs.  262/09, S. 23. 226  Weder die Kommission noch der Rat haben die Ausnahmeregelung konkretisiert, siehe Thye, Die neue „Schuldenbremse“ im Grundgesetz, 2010, S. 30. 227  Vgl. oben 2. Teil Abschnitt A.II.1.c).

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

wiederholt. Umso wichtiger ist die Gesetzesbegründung des verfassungsändernden Gesetzgebers. Denn die Auslegung der drei Kriterien entscheidet darüber, ob und wann der Bundestag eine außerordentliche Verschuldung beschließen darf. Der verfassungsändernde Gesetzgeber nennt Beispiele für Notsituationen (i. S. d. Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG), welche „mithin auf äußeren Einflüssen beruhen, die nicht oder im Wesentlichen nicht der staatlichen Kontrolle unterliegen“:228 Die Gesetzesbegründung konkretisiert damit das Kriterium der fehlenden staatlichen Kontrolle: Sobald der Staat die vorliegende Situation wesentlich beeinflussen kann, ist ihm eine zusätzliche Kreditaufnahme verwehrt.229 Wenn er hingegen die Situation lediglich zu einem kleinen Teil beeinflussen kann, ohne sie grundlegend abwenden zu können, ist das Kriterium der fehlenden staatlichen Konrolle erfüllt. Die gesetzgeberische Idee hinter diesem Tatbestandsmerkmal ist, dass der Staat nicht unmittelbar selbst für die Notlage verantwortlich sein darf und sie weder fahrlässig noch absichtlich herbeiführt.230 228  BR-Drs.  262/09,

S. 23. Die neue Schuldenregel und die weiteren Finanzthemen der zweiten Föderalismusreform, DVBl. 2009, S. 1274 (1282) betont, dass der Eintritt der Notsituation auf äußeren Einflüssen beruhen muss. Der Staat darf die Situation also nicht bewusst herbeigeführt oder „sehenden Auges“ hingenommen haben. Ein anschauliches Beispiel bietet der mögliche Fall einer Haushaltsnotlage aufgrund hoher Belastungen durch Staatsschulden (Schuldendienst). Eine solche Notlage entzieht sich in der Regel nicht der staatlichen Kontrolle. Dies ergibt sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Berliner Haushaltslage (Berlin-Urteil), auch wenn der dort verwendete Begriff der „extremen Haushaltsnotlage“ im Zusammenhang mit den Sanierungshilfen des Bundes an das Land Berlin zu sehen ist und auch in dieser Form wohl nicht auf den Bundeshaushalt übertragen werden kann: „Der denkbare Einwand, der Eintritt des Sanierungsfalls bedeute zugleich, dass es für das Nachholen in der Vergangenheit versäumter Maßnahmen ‚zu spät‘ sei, verfängt demgegenüber nicht. Die so genannte Verschuldensfalle schnappt nicht überraschend von heute auf morgen zu. Es geht vielmehr um langfristige Prozesse sowohl vor als auch nach dem Zeitpunkt des Eintritts einer Notlage, während deren Dauer das Land sich die Frage gefallen lassen muss, wieweit eigene zusätzliche Anstrengungen noch möglich und deshalb auch nötig sind, bevor Hilfsbedürftigkeit geltend gemacht werden kann. Führt die Betrachtung vergangenen Verhaltens des Notlagenlandes […] zu dem Ergebnis, dass erhebliche Handlungs-, insbesondere Veräußerungs- und Sparmöglichkeiten, in der Vergangenheit nicht ausgeschöpft wurden, so indiziert dies, dass solche Möglichkeiten noch vorhanden und mit Erfolg zu mobilisieren sind, ein bundesstaatlicher Notstand also noch nicht eingetreten ist.“, BVerfGE 116, 327 (390 f.) (Berliner Haushalt). 230  Siehe hierzu die Berichterstatterin der CDU/CSU-Fraktion zur Föderalismusreform II, Tillmann (MdB) in der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses: „Beabsichtigt war, Notsituationen auszuschließen, die der Staat durch eigenes Handeln verursacht hat. Nehmen wir an, jemand schafft durch eine Gesetzesänderung die Umsatzsteuer ab, und stellt dann fest, dass er sich in einer Notsituation befindet. 229  Schmidt,



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Als Beispiel für eine Notsituation im Sinne der Schuldenbremse gilt „eine plötzliche Beeinträchtigung der Wirtschaftsabläufe in einem extremen Ausmaß aufgrund eines exogenen Schocks, wie beispielsweise der jüngsten Finanzkrise, die aus Gründen des Gemeinwohls aktive Stützungsmaßnahmen des Staates zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung der Wirtschaft gebietet.“231 Der verfassungsändernde Gesetzgeber stellt damit klar, dass eine Wirtschaftskrise grundsätzlich als Notsituation gelten kann. Diese muss jedoch ein extremes Ausmaß annehmen und in vergleichender historischer Perspektive herausragen. Maßstabbildendes Beispiel ist das Krisenjahr 2009 mit seinem Rückgang der Wirtschaftskraft von 5,6 % des realen (preisbereinigten) BIP.232 Auch die Auswirkungen des Ölpreisschocks in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts würden unter die heutige Ausnahmeregelung fallen. Zyklische Konjunkturverläufe, also Auf- und Abschwünge, sind dagegen keine außergewöhnlichen Ereignisse. Sie werden im Rahmen der Konjunkturkomponente berücksichtigt.233 Besonders hervorzuheben ist das Adjektiv „plötzlich“. Eine vorhersehbare Abschwächung der Wirtschaftskraft, die beispielsweise auf unterlassene Strukturreformen zurückzuführen ist, stellt keine zulässige Ausnahme dar. Dies gilt erst recht für einen zyklischen Wirtschaftsabschwung. Die Ausnahmeregelung ist trotz dieser Eingrenzung nur schwer greifbar. Sie lässt sich nicht anhand von wirtschaftsstatistischen Schwellenwerten bestimmen.234 Das zeigt sich in der Gesetzesbegründung, die auch in positiven Ereignissen von historischer Tragweite, wie beispielsweise der Deutschen Einheit, einen Anwendungsfall für die Klausel sieht. […] Das war der Hintergrund, weshalb wir diesen Halbsatz vorgesehen haben.“, Protokoll der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses am 04. Mai 2009, S. 45. So auch der Sachverständige Meyer: „Zweitens muss diese Situation entstanden sein, ohne dass der Staat irgendwie verursachend tätig geworden ist. […] Die Situa­ tion muss sich der Kontrolle des Staates entziehen. Der Kontrolle entzieht sich die Situation aber nicht, wenn der Staat die Situation vorher sozusagen ins Werk gesetzt hat. […] Außerdem muss eine Äquivalenz zu einer Naturkatastrophe und deren Folgen bestehen.“, Protokoll der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses am 04. Mai 2009, S. 34. 231  BR-Drs.  262/09, S. 23. 232  Siehe Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Bruttoinlandsprodukt ab 1970, 2015, S. 6. 233  Siehe BR-Drs.  262/09, S. 23. 234  So jedoch noch die ursprüngliche Fassung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes mit weitgehend festgelegten Schwellenwerten für einen schwerwiegenden Wirtschaftsabschwung, vgl. Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitätsund Wachstumspakt (Amsterdam, 17. Juni 1997), Abl. Nr. C 236 v. 2.8.1997, Nr. 7 (Mitgliedstaaten), S. 1 i. V. m. VO  1467/97, Abl. Nr. L  209, v. 2.8.1997, S. 6. Siehe oben 2. Teil Abschnitt A.II.1.d).

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

Mit den in der Gesetzesbegründung gewählten Beispielen will der verfassungsändernde Gesetzgeber den Ausnahmecharakter betonen und verhindern, dass die Schuldenbremse umgangen wird. In diesem Licht ist auch das Kriterium der „Außergewöhnlichkeit“ zu sehen. Da eine gewöhnliche Notsituation sicherlich kaum denkbar ist, rückt dieser Zusatz in die Nähe der Tautologie.235 Er ist dennoch nicht bedeutungslos, da er den Ausnahmecharakter unterstreicht und die Normanwendung auf sehr seltene Ausnahmesituationen beschränkt.236 Die Bedingung der „erheblichen Beeinträchtigung der Finanzlage“ soll ausschließen, dass außerfiskalische Notsituationen237 für eine zusätzliche Kreditaufnahme herangezogen werden. Die Krisensituation muss in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Belastung des Bundeshaushalts stehen. Der Finanzbedarf muss entweder auf die Bewältigung der Situation oder auf etwaige vorbeugende Maßnahmen zurückzuführen sein.238 Das Erfordernis der erheblichen Beeinträchtigung strahlt damit auch auf den Umfang der zusätzlichen Kreditaufnahme und den Tilgungsplan aus.239 Im Gegensatz zur außergewöhnlichen Notsituation ist der Tatbestand der Naturkatastrophe eindeutiger. Er orientiert sich an der Rechtslage des Art. 35 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG (Amtshilfe bei Katastrophennotstand) und dem dortigen Begriffsverständnis der Naturkatastrophe. Demnach sind Naturkatastrophen „unmittelbar drohende Gefahrenzustände oder Schädigungen von erheblichem Ausmaß, die durch Naturereignisse ausgelöst werden (z. B. Erdbeben, Hochwasser, Unwetter, Dürre, Massenerkrankungen).“240 Sie entziehen sich ihrem Wesen nach staatlicher Kontrolle.241 Als schwerwie235  Siehe Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, S. 721 (726). A. A. Thye, Die neue „Schuldenbremse“ im Grundgesetz, 2010, S. 31. 236  Siehe Thye, Die neue „Schuldenbremse“ im Grundgesetz, 2010, S. 31. 237  Hierzu zählen insbesondere gesellschaftspolitische und strukturelle Situationen, die keine unvorhersehbaren und unabwendbaren Belastungen des Bundeshaushalts auslösen. Exemplarisch fallen hierunter der derzeit diskutierte Fachkräftemangel, die unzureichende Verkehrsinfrastruktur („Verkehrsinfarkt“), ein möglicher „Pflegenotstand“ aufgrund ungenügender Finanzierung und unzureichender personeller Ausstattung von Pflegeeinrichtungen oder die aktuelle Flüchtlingskrise. 238  Siehe BR-Drs.  262/09, S. 23. A. A. Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 239, die eine außerordentliche Kreditaufnahme für vorbeugende Zwecke ablehnt. 239  Hierzu sogleich Abschnitt B.V.3. und Thye, Die neue „Schuldenbremse“ im Grundgesetz, 2010, S. 32. 240  BR-Drs.  262/09, S. 23. 241  Auch eine Naturkatastrophe muss die Voraussetzungen der fehlenden staatlichen Kontrolle und der erheblichen finanziellen Belastung erfüllen, damit eine außerordentliche Kreditaufnahme zulässig ist. Denn der Relativsatz in Art. 109 Abs. 3



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gendes Ereignis erfüllen sie zudem in der Regel die Kriterien der Außergewöhnlichkeit und der erheblichen finanziellen Belastung. Vergleichbare Katastrophen, die nicht auf Naturgewalten, sondern auf technisches oder menschliches Versagen zurückzuführen sind, gelten ebenso als Notsituation i. S. d. Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG. Der Gesetzgeber lehnt sich hier an das zweite Tatbestandsmerkmal des Art. 35 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG („besonders schweren Unglücksfall“) an, welches das Bundesverfassungsgericht ausdifferenziert hat. Hierzu zählen „Schadensereignisse von großem Ausmaß und von Bedeutung für die Öffentlichkeit, die durch Unfälle, technisches oder menschliches Versagen ausgelöst oder von Dritten absichtlich herbeigeführt werden.“242 3. Der Tilgungsplan Beschließt der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder, den ordentlichen Kreditrahmen zu überschreiten, muss er dies mit einem Tilgungsplan für die zusätzlich aufgenommenen Kredite verbinden. Die so aufgenommenen Kredite müssen innerhalb eines angemessenen Zeitraums zurückgeführt werden (Art. 115 Abs. 2 S. 7, 8 GG). Die außerordentlichen Krediteinnahmen werden nicht auf dem Kontrollkonto berücksichtigt und unterliegen damit auch nicht dessen Rückführungsmechanismus. Dennoch verpflichtet der verfassungsändernde Gesetzgeber den Bundestag zur Tilgung der zusätzlichen Kreditschulden. Er will damit „ein weiteres Anwachsen der Staatsschulden verhindern.“243 Inwieweit dieses Ziel erreicht werden kann, hängt wesentlich davon ab, was im jeweiligen Fall als angemessener Zeitraum gilt. Die Einschätzungsprärogative hierfür liegt beim Bundestag. Aus dem Sinnzusammenhang der Schuldenbremse ergeben sich lediglich zwei Größen, die er berücksichtigen muss: zum einen das Volumen der Kreditaufnahme und zum anderen die konkrete konjunkturelle Situation.244 Da sie jedoch nur grobe Anhaltspunkte darstellen, bleibt dem Bundestag ein sehr weiter Entscheidungsspielraum. S. 2 Hs. 2 GG („[…], die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“) bezieht sich gleichermaßen auf Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen, siehe Klepzig, Die „Schuldenbremse“ im Grundgesetz – Ein Erfolgsmodell?, 2015, S. 111 f.; vgl. auch Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 239 m. w. N. sowie Heun, Art. 109 GG, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Supplementum 2010, Rn. 44. 242  BR-Drs.  262/09, S. 23. Siehe hierzu BVerfGE, 115, 118 (143 ff.) (Luftsicherheitsgesetz). 243  BR-Drs.  262/09, S. 28. 244  Vgl. hierzu auch BR-Drs.  262/09, S. 28.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

Die außerordentliche Tilgung muss zusätzlich zu regulären Tilgungsverpflichtungen erfolgen. Fordern die konjunkturelle Komponente oder das Kontrollkonto einen Haushaltsüberschuss, werden diese Konsolidierungsverpflichtungen durch den Tilgungsplan zusätzlich verstärkt. Auf diese Weise kann die jährliche Rückführungsgrenze des Kontrollkontos (maximal 0,35 % des BIP) überschritten werden. Aus dem Wort „Tilgungsplan“ folgt zudem, dass es sich um eine echte Tilgung handeln muss. Das heißt, der Haushaltsgesetzgeber darf nicht durch eine fortlaufende Kredit-Prolongation eine Netto-Tilgung umgehen. 4. Zielkonflikt der Regelung (Bewertung) Das Staatsschuldenrecht steht bei der Ausnahmeregelung für Notsituationen vor einem Dilemma. Zum einen soll es sicherstellen, dass der Staat in tatsächlichen Notsituationen handlungsfähig bleibt. Zum anderen soll es verhindern, dass der Haushaltsgesetzgeber mit Hilfe der Ausnahmeoption regelmäßig vor strukturellen Haushaltskonsolidierungen flieht. Es sind die drei Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG, mit denen beide Ziele erreicht werden sollen. Nur wenn sie eng ausgelegt werden, können sie ihren Zweck erfüllen und begrenzend wirken. Exemplarisch lässt sich dies am Fallbeispiel eines Auslandseinsatzes der Bundeswehr in einem internationalen Konfliktfall zeigen. Militärische Operationen, wie der Bundeswehreinsatz in Afghanistan (ISAF-Mandat), belasten den Bundeshaushalt, können eine Ausnahmesituation darstellen und schwerwiegende moralische und sicherheitspolitische Fragen aufwerfen. Dennoch sind es keine außergewöhnlichen Notsituationen, die eine zusätzliche Verschuldung rechtfertigen. Der Einsatz ist in diesem Kontext weder außergewöhnlich noch belastet er die Finanzlage in erheblichem Ausmaße. Er kann innerhalb des ordentlichen Verteidigungsetats erbracht werden und unterliegt vollständig der staatlichen Kontrolle. Doch wie ist die Rechtslage in einem tatsächlichen, schwerwiegenden Fall der Landesverteidigung oder Bündnisfall im Rahmen des transatlantischen Bündnisses (NATO)? Ohne Kenntnis der konkreten Fallsituation kann die Frage nicht abschließend beantwortet werden. Allerdings erscheint es nicht ausgeschlossen, dass der Handlungsdruck des Staates so überwältigend sein kann, dass eine außerordentliche Kreditaufnahme trotz vorhandener staatlicher Kontrolle zulässig ist. Ob zukünftig unklare Situationen die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllen oder nicht, wird von Fall zu Fall zu entscheiden sein. Dies veranlasst die Frage, ob und inwieweit dem Bundestag, in Anlehnung an die Rechtsprechung zur Verfassungsmäßigkeit der (Nachtrags-)Haushalte 1981 und



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2004,245 eine Einschätzungsprärogative zuzubilligen ist, die spiegelbildlich die verfassungsgerichtliche Überprüfung auf eine bloße Vertretbarkeitskon­ trolle reduziert. Letzteres widerspräche jedoch dem Sinn und Zweck der Begrenzungs- und Ausnahmevorschrift.246 Es droht die Gefahr, dass der Bundesgesetzgeber die Norm so auslegt, wie es ihm in der jeweiligen Situation politisch opportun erscheint.247 In Ergänzung zu den materiellen Hürden hat der verfassungsändernde Gesetzgeber auch die prozedurale Voraussetzung für die zusätzliche Schuldenaufnahme enger gefasst. Dass der Beschluss mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages getroffen werden muss, wertet die Abstimmung auf und erhöht den parlamentarischen Begründungsdruck. Vereinzelte rechtspolitische Forderungen nach einer 2 / 3-Mehrheit248 sind grundsätzlich nachvollziehbar, bergen aber die Gefahr der Handlungsunfähigkeit der Regierung, gerade in Situationen, in denen diese besonders wichtig ist. Zudem erscheint eine verfassungsändernde Bundestagsmehrheit unverhältnismäßig hoch für eine Kreditaufnahme in Notsituationen. Ein weiterer rechtspolitischer Vorschlag betrifft den Tilgungsplan. Da er ohne zeitliche Vorgaben keine begrenzende Wirkung entfaltet, wird vorgeschlagen, die Tilgungsfrist im Regelfall auf fünf Jahre zu beschränken.249 Das zusätzliche Kreditvolumen fände seine natürliche Grenze in der staatlichen Leistungs- und Tilgungsfähigkeit der folgenden fünf Jahre. Besonders finanzintensive Ausnahmesituationen, wie beispielsweise die Deutsche Einheit, könnten dann allerdings nicht mehr durch Kreditaufnahmen finanziert werden. An dieser Stelle könnte de lege ferenda eine erweiterte Ausnahmeregelung greifen: Bundestag oder Bundesrat könnten mit erhöhten Mehrheitsanforderungen (beispielsweise 3 / 5 der Mitglieder bzw. Stimmen) eine längere Tilgungsfrist beschließen. Ein erhöhtes Quorum erscheint hier angemessen, da es lang245  Vgl. BVerfGE 79, 311 (Staatsverschuldung I) und BVerfGE 119, 96 (Staatsverschuldung II). 246  Vgl. die abweichende Meinung der Richter Di Fabio und Mellinghoff zum Urteil des Zweiten Senats vom 9.  Juli 2007  – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (156) (Staatsverschuldung II). 247  Di Fabio und Mellinghoff formulieren es noch deutlicher: „Der Sinn und Zweck des Art. 115 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz GG [a. F.] erlaubt es somit nicht, dem Bundesgesetzgeber hinter einer nahezu völlig ausgedünnten Kontrollfassade im Ergebnis Pleinpouvoir zu geben.“, BVerfGE 119, 96 (161) (Staatsverschuldung II). 248  So beispielsweise der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn. 164. Vgl. auch den ursprünglichen Vorschlag des Bundesministeriums der Finanzen, KomDrs. 096, S. 7. 249  Siehe Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, S. 721 (726, Fn. 39).

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

fristige finanzielle Folgen auslöst, die (deutlich) über die Legislaturperiode hinausreichen. Dass die Schuldenbremse darauf verzichtet, die außerordentliche Kreditaufnahme und den Tilgungsplan näher zu konkretisieren, könnte sich als Schwachstelle erweisen. Dauert beispielsweise eine Ausnahmesituation über einen längeren Zeitraum an, könnte der Haushaltsgesetzgeber dies für weitere Kreditaufnahmen nutzen. Hierbei muss jedoch insbesondere die erhebliche Beeinträchtigung des Bundeshaushalts auf die originäre Situation zurückzuführen sein und nicht bereits durch eine vorhergehende Inanspruchnahme der Regelung „verbraucht“ sein. Wurde also schon eine erhebliche Kreditsumme aufgenommen, um der Belastung des Bundeshaushaltes umfänglich zu begegnen, dann scheidet eine erneute Kreditaufnahme aus. Ob die Tatbestandsvoraussetzungen weiterhin oder erneut erfüllt sind, kann durch das Verfassungsgericht geprüft werden.

VI. Der Stabilitätsrat als gesamtstaatlicher P ­ räventionsmechanismus – Vorgaben des Verfassungsrechts Der verfassungsändernde Gesetzgeber stellt den Regeln zur Kreditaufnahme des Staates erstmals einen Präventionsmechanismus zur Seite. Ziel der Regelung ist es, Haushaltsnotlagen zu vermeiden. Der neue Art. 109a GG verweist hierzu unmittelbar auf ein zustimmungspflichtiges Bundesgesetz250 und benennt seine Regelungsgegenstände sogleich enumerativ und abschließend: Es soll zuvörderst die fortlaufende Überwachung der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern durch einen Stabilitätsrat regeln (Art. 109a S. 1 Nr. 1 GG). Dieses neu zu schaffende, gemeinsame Gremium von Bund und Ländern steht im Zentrum der neuen Frühwarnsystematik.251 Die Maß250  Ausführlich zur einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Stabilitätsrates: siehe unten 4. Teil Abschnitt A.V. 251  Ausführlich zum Stabilitätsrat: Thye, Der Stabilitätsrat, 2014. Die Ministerpräsidenten und die Bundesregierung haben sich am 14. Oktober 2016 auf Eckpunkte zur Neuregelung der Finanzbeziehungen von Bund und Ländern ab 2020 geeinigt. Die Bundesregierung hat daraufhin einen Gesetzesentwurf zur Änderung des Grundgesetzes am 14.12.2016 beschlossen und in den parlamentarischen Beratungsprozess eingebracht. Der Gesetzentwurf sieht vor, auch Art. 109a GG zu ändern und folgenden Absatz einzufügen: „Dem Stabilitätsrat obliegt ab dem Jahr 2020 die Überwachung der Einhaltung der Vorgaben des Artikels 109 Absatz 3 durch Bund und Länder. Die Überwachung orientiert sich an den Vorgaben und Verfahren aus Rechtsakten auf Grund des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin.“, siehe BT-Drs. 18/11131. Der Gesetzentwurf will damit die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Stabilitätsrat jährlich prüfen kann, ob der Bund und die einzelnen Länder die Vorgaben



B. Die neue Schuldenregel183

stäbe für das Handeln des Stabilitätsrates sollen ebenfalls durch das Bundesgesetz bestimmt werden: zum einen die Voraussetzungen und das Verfahren zur Feststellung einer drohenden Haushaltsnotlage (Art. 109a S. 1 Nr. 2 GG) und zum anderen die Grundsätze zur Aufstellung und Durchführung von präventiv wirkenden Sanierungsprogrammen (Art. 109a S. 1 Nr. 3 GG). Sowohl die Beschlüsse als auch die zugrunde liegenden Beratungsunterlagen des Stabilitätsrates müssen grundsätzlich veröffentlicht werden.252 Mit der Einrichtung des neuen Präventionsmechanismus reagiert der verfassungsändernde Gesetzgeber auch auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.253 Das Gericht hat in zwei Entscheidungen „die Schwäche des geltenden Rechts […] zum Umgang mit potentiellen und aktuellen Sanierungsfällen im Bundesstaat“254 angemahnt: Es sei „zuvörderst nötig und besonders dringlich […], Bund und Länder gemeinsam treffende Verpflichtungen und Verfahrensreglungen festzulegen, die der Entstehung einer Haushaltsnotlage entgegenwirken und zum Abbau einer eingetretenen Haushaltsnotlage beizutragen geeignet sind.“255 Um präventiv wirken zu können, muss der Stabilitätsrat die Haushalte von Bund und Ländern auf der Grundlage vergleichbarer finanzwirtschaftlicher Kennzahlen kontinuierlich beobachten. Aus dem Sinn und Zweck der Norm folgt die verfassungsrechtliche Pflicht, dass die Bundes- und Landesregierungen Gefahren, Risiken und Fehlentwicklungen ihrer Haushaltssituationen dem Stabilitätsrat rechtzeitig anzeigen. Und im Falle einer Haushaltsnotlage müssen die Gebietskörperschaften ihre jeweiligen Konsolidierungsspielräume ausschöpfen und den Beschlüssen des Stabilitätsrates Folge leisten.256 Art. 109a GG kennt allerdings keine Rechtsfolgen, wenn Bund und Länder ihre Pflichten missachten. des Art. 109 Abs. 3 GG einhalten, siehe BT-Drs. 18/11131, S. 12. Der Stabilitätsrat soll sich hierbei an den europarechtlichen Kriterien und Verfahren orientieren. Die Gesetzesbegründung verweist hierbei auf den präventiven Arm des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, den Fiskalpakt sowie den Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“, siehe BT-Drs. 18/11131, S. 19. Die Aufgaben des Stabilitätsrates werden mit der Neuregelung nicht grundsätzlich verändert, sondern lediglich konkretisiert: Er soll nunmehr explizit die Einhaltung der Schuldenbremse (Art. 109 Abs. 3 GG) überwachen. Hierbei soll er sich an den europäischen Verfahren und Analysemethoden orientieren, siehe BT-Drs. 18/11186, S. 3. 252  Neben den Aufgaben aus Art. 109a GG übernimmt der Stabilitätsrat auch die Überwachung der Auflagen der Konsolidierungsländer (Art. 143d Abs. 2 GG). Siehe hierzu Matz, Die strukturelle Haushaltssituation der Bundesländer – Transparenz durch ein Haushaltsmonitoring des Stabilitätsrates, RWI Materialien, Heft 109, 2016, S. 28 ff. 253  Siehe Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 25. 254  BVerfGE 116, 327 (393) (Berliner Haushalt). 255  BVerfGE 86, 148 (266) (Finanzausgleich II). 256  Siehe Gesetzesbegründung BR-Drs. 262/09, S. 25 f. Dass die Länder zur weitgehenden Ausschöpfung ihrer Konsolidierungsmöglichkeiten verpflichtet sind, be-

184

3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

C. Die Schuldenregel des Grundgesetzes im europäischen Rechtsrahmen Mit Art. 109 Abs. 2 GG bettet das Grundgesetz die neue Schuldenregel explizit in den unionsrechtlichen Rahmen ein. Der Vergleich zeigt, dass das deutsche Staatsschuldenrecht den europäischen Rahmen achtet, aber die Maßstäbe zur Kreditaufnahme eigenständig ausgestaltet.257 Der europäische Fiskalpakt (Titel III des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion) verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland zudem auf weitere Vorgaben zur Staatsverschuldung. Die Schuldenbremse des Grundgesetzes erfüllt diese nicht vollständig und wird daher durch das Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags ergänzt.258

I. Unionsrechtlicher Rahmen (Art. 109 Abs. 2 GG) Art. 109 Abs. 2 GG ist der Schuldenbremse im engeren Sinne (Art. 109 Abs. 3 GG) vorangestellt und verpflichtet den Haushaltsgesetzgeber auf die europarechtlichen Vorgaben des Art. 126 AEUV sowie auf den darauf basierenden Stabilitäts- und Wachstumspakt. Diese bilden zusammen mit dem mittelfristigen Ziel „des strukturell nahezu ausgeglichenen Haushaltes oder eines Haushaltsüberschusses den Rahmen für die Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern.“259 Zwar muss die Bundesrepublik Deutschland diesen tont bereits das Bundesverfassungsgericht in seinem Berlin-Urteil: „Bevor bundesstaatliche Solidarität in Anspruch genommen wird, müssen neben der Nutzung aller Möglichkeiten der Ausgabenreduzierung bestehende Optionen zur Erzielung sonstiger erheblicher Einnahmen vollständig umgesetzt werden.“, BVerfGE 116, 327 (411) (Berliner Haushalt). 257  Siehe unten Abschnitt C.I. 258  Siehe unten Abschnitt C.II. 259  Siehe Gesetzesbegründung BR-Drs. 262/09, S. 21. Art. 109 Abs. 2 GG bezieht sich also nicht ausschließlich auf die Verpflichtungen des Art. 126 AEUV, sondern auch auf die damit im Zusammenhang stehenden Verpflichtungen der Art. 121 und 136 AEUV. So auch der verfassungsändernde Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung, siehe BR-Drs. 262/09, S. 21 f. Zudem sind die unionsrechtlichen Verpflichtungen derart verwoben, dass sie sich nicht voneinander trennen lassen. Vgl. hierzu oben die Analyse des Unionsrechts 2. Teil Abschnitt A.V.2. Das Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages vom 15. Juli 2013 (BGBl. I 2013) ergänzt daher den Verweis in § 51 Abs. 1 S. 2 HGrG auch folgerichtig um die Art. 121 und 136 AEUV. Vgl. auch Kirchhof, Gregor, Art. 109 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2010, Rn. 36 f., der in Art. 109 Abs. 2 GG einen umfassenden dynamischen Verweis auf das Europarecht sieht, soweit die Rechtsakte der Haushalts-



C. Die Schuldenregel des Grundgesetzes im europäischen Rechtsrahmen185

Rahmen achten, aber weder das Unionsrecht selbst noch Art. 109 Abs. 2 GG verlangen eine Identität der staatsschuldenrechtlichen Maßstäbe. Der deutsche Gesetzgeber kann das Staatsschuldenrecht eigenständig ausgestalten, solange die gefundenen Ergebnisse nicht dem europäischen Rahmen und seiner Zielsetzung widersprechen.260 Der europarechtliche Rahmen ist in seiner Maßstabsystematik jedoch unübersichtlich und äußerst vielschichtig. Die Maastricht-Kriterien (3 % Finanzierungsdefizit und 60  % Schuldenstand) bieten zwar einen ersten Anhaltspunkt im Defizitverfahren, aber sie sind nicht ausschlaggebend für die Frage, ob ein Mitgliedstaat gegen das Gebot der Haushaltsdisziplin verstößt. Stattdessen nehmen Kommission und Rat eine Einzelfallprüfung vor, die sich neben den öffentlichen Investitionsausgaben auf einen breiten und auslegungsbedürftigen Katalog sogenannter „sonstiger einschlägiger Faktoren“ stützt. Zahlreiche Maßstäbe sind zudem prozedural eingebettet und in Teilen abhängig von der jeweiligen Situation des Mitgliedstaates. Die folgenden Maßstäbe gelten daher nicht strikt, beschreiben aber die wesentliche Ausrichtung des unionsrechtlichen Begrenzungsmechanismus:261 Mittelfristig soll der Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“ erfüllt werden, wobei das strukturelle Defizit maximal 1 % des BIP betragen darf. Auf dem Weg zu einem ausgeglichenen Haushalt sollen die Mitgliedstaaten ihr strukturelles Finanzierungsdefizit jährlich um mindestens 0,5  % als Richtwert verbessern. Bei einem Schuldenstand über dem Referenzwert von 60 % des BIP soll dieser rasch gesenkt werden.262 Zudem müssen die Mitgliedstaaten eine Einnahmen-Ausgaben-Regel beachten, nach der ein höheres Ausgabevolumen einnahmenseitig abgedeckt sein muss.263 Mit diesem Regelwerk soll zugleich die langfristige Tragfähigkeit gewährleistet werden.

disziplin unmittelbar Maßstäbe setzen. A. A. Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 303, die in Art. 109 Abs. 2 GG ausschließlich einen Verweis auf europäisches Sekundärrecht erkennt. 260  So ähnlich auch Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 133 und Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfassung, 2010, S. 26 ff. 261  Ausführlich zu diesen und weiteren unionsrechtlichen Maßstäben siehe oben 2. Teil Abschnitte A.II. und III. 262  Die Europäische Kommission bewertet die Anstrengungen der Mitgliedstaaten zur Abschmelzung des Schuldenstandes auf der Grundlage eines Schuldenquotenanpassungsrichtwertes (Reduktion des Schuldenstandes um 5 % des BIP jährlich, Art. 2 Abs. 1a VO  1467/97). Sie berücksichtigt hierbei allerdings den Einfluss der Konjunktur (Art. 2 Abs. 1a UAbs. 3 VO  1467/97) und weitere Faktoren. 263  Je nach Situation des Mitgliedstaates soll das Einnahmevolumen das Ausgabevolumen sogar übersteigen beziehungsweise das jährliche Ausgabenwachstum unter der mittelfristigen Referenzrate des potentiellen BIP-Wachstums liegen. Siehe hierzu oben 2. Teil Abschnitt A.III.2.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

Das Europarecht zeichnet sich durch eine – möglicherweise bewusst – offengehaltene Funktionsweise aus. Das heißt, es bietet keine eindeutigen allgemeingültigen Grenzen für die Kreditaufnahme der Mitgliedstaaten. Das Grundgesetz hingegen formuliert in der Kombination von Struktur- und Konjunkturkomponente, und gegebenenfalls auch Kontrollkonto, eine konkrete Obergrenze für die Kreditaufnahme. Auch wenn die Maßstäbe verschiedenartig sind, befindet sich die deutsche Schuldenbremse im Einklang mit dem Europarecht und widerspricht ihm nicht.264 Bereits in ihrer grundgesetzlichen Konstruktion greift sie die europäische Systematik auf, denn die Verknüpfung von konjunkturunabhängiger, struktureller Verschuldung (Strukturkomponente) mit konjunkturbedingter Verschuldung ist ein Wesensmerkmal des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Mit der strukturellen Grenze von 0,35 % des BIP für den Bund und 0 % für die Länder liegt die Schuldenbremse weit unter der (mittelfristigen) Vorgabe des Stabilitäts- und Wachstumspaktes mit einem maximalen strukturellen Defizit in Höhe von 1 % des BIP (Art. 2a UAbs. 2 VO  1466 / 97).265 Die Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung, wie es die Konjunkturkomponente des Grundgesetzes vorsieht, findet sich im Stabilitäts- und Wachstumspakt mehrfach wieder.266 Dass das Grundgesetz keine Regelung zum Schuldenstand und dessen Absenkung trifft, führt ebenfalls nicht zu einem Widerspruch. Die deutsche Schuldenbremse verfolgt mit ihrem Mechanismus zur Begrenzung der Kreditaufnahme zugleich das Ziel, den Schuldenstand abzuschmelzen.267 Unabhängig davon gilt für die Bundesrepublik Deutschland natürlich das Schuldenstandskriterium des Art. 126 Abs. 2 lit. b AEUV, einschließlich seiner Ausnahmeregelung. Da die europarechtlichen Verpflichtungen immer den öffentlichen Gesamthaushalt, also auch Sozialversicherungen und Kommunen, betreffen, stellt sich auch hier die Frage, ob dies zu Konflikten führen kann. Dass die Schuldenbremse hierzu keine eigene Reglung trifft, wird zwar zu Recht kritisiert,268 stellt aber keinen Verstoß gegen das Europarecht dar. Art. 109 264  Die neuen Verschuldungsregeln des Grundgesetzes befinden sich „insbesondere in Übereinstimmung mit der Philosophie des präventiven Arms des reformierten europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes“, siehe Gesetzesbegründung, BRDrs.  262/09. 265  Die Unterschiede zwischen der deutschen Finanzstatistik und der Berechnung des Maastricht-relevanten Defizits gemäß ESVG 2010 können hier vernachlässigt werden. Siehe hierzu unten 4. Teil Abschnitt A.I.2. sowie Dietz, Finanzierungssaldo des Staates – einige methodische Anmerkungen, in: Wirtschaft und Statistik, 4/2006, S.  339 (341 f.). 266  Siehe u. a. Art. 2 Abs. 1a UAbs. 3, Art. 2 Abs. 3lit. a, Art. 3 Abs. 4 VO 1467/97. 267  Siehe Kom-Drs. 96, S. 7. 268  Siehe hierzu Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, S. 721 (723, Fn. 16). Verteidigend hingegen Baumann/



C. Die Schuldenregel des Grundgesetzes im europäischen Rechtsrahmen187

Abs. 2 GG betont die gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern gegenüber den europäischen Verpflichtungen und deckt auch diese Defizite ab: „Der Bund trägt in diesem Zusammenhang die Verantwortung für etwaige Defizite der Sozialversicherungen, während die Länder insoweit für etwaige Haushaltsdefizite der Gemeinden und Gemeindeverbände einstehen.“269 Würde die Bundesrepublik Deutschland aufgrund zu hoher Defizite der Sozialversicherungen gegen die unionsrechtlichen Vorgaben verstoßen, wäre dem Bund ein Verstoß gegen Art. 109 Abs. 2 GG vorzuwerfen.270 Insoweit verwehrt die gesamtstaatliche Pflicht des Art. 109 Abs. 2 GG Bund und Ländern eine übermäßige Kreditaufnahme über den „Umweg“ der Sozialversicherungen und Kommunen. Die deutsche Schuldenbremse befindet sich also im Einklang mit den europarechtlichen Vorgaben. Ein Verstoß wäre atypisch und wohl nur in speziell konstruierbaren Fällen möglich.271

Schneider, Die neue Regel des Bundes, in: Kastrop et al. (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 89 (102 f.). Sie lehnen eine Berücksichtigung der Sozialversicherung innerhalb der Verschuldungsregel des Bundes ab, weil dies zu hohe Informationsanforderungen an die Aufstellung des Bundeshaushaltes bedeuten und auch den Haushaltsgesetzgeber zu stark an die Entscheidungen der Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherungen binden würde. Klepzig, Die „Schuldenbremse“ im Grundgesetz – Ein Erfolgsmodell?, 2015, S. 340 f. fordert de lege ferenda eine Einbeziehung der Sozialversicherungen und Kommunen. 269  Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 22. 270  Siehe hierzu und im Folgenden Christ, Schuldenregel für den Gesamtstaat, NVwZ 2009, S. 1333 (1338). Für die Länder gilt dasselbe in Bezug auf die kommunalen Gebietskörperschaften. Allerdings bleibt unklar, wem der „verbleibende strukturelle Verschuldungsrahmen“ i. H. v. 0,15 % des BIP (0,5 % gesamtstaatlich zulässiges Defizit minus 0,35 % Defizitrahmen des Bundes gleich 0,15 %) im Bedarfsfall zugerechnet wird, den Kommunen oder den Sozialversicherungen. Weder das Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags vom 15. Juli 2013, BGBl.  I 2013, S.  2398  ff. noch das Sanktionszahlungs-Aufteilungsgesetz vom 5. September 2006 (BGBl. I 2006, S. 2098, 2104) treffen hierzu eine Regelung. 271  Beispielsweise bei einem übermäßigen Defizit in Form eines überhöhten Schuldenstandes, welches nicht durch eine Ausnahmeregelung gerechtfertigt werden kann und auch nicht rasch genug im Sinne des Art. 1a VO  1467/97 sinkt, wenn gleichzeitig die deutsche Schuldenbremse nur eine geringe Nettotilgung fordert. Wahrscheinlicher ist dagegen ein Verstoß aufgrund der gesamtstaatlichen Verschuldung, einschließlich der Sozialversicherungen und kommunalen Gebietskörperschaften. Dies erkennt auch der Gesetzgeber zur Umsetzung des Fiskalvertrages, siehe Gesetzesbegründung, BT-Drs.  17/10976, S. 12 sowie unten Fn. 276. Zur Vereinbarkeit der Schuldenbremse mit dem Europarecht vgl. auch Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, S. 193 f.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

II. Die Schuldenbremse des Grundgesetzes und der europäische Fiskalpakt Die unterzeichnenden Vertragsparteien des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion verpflichten sich im Fiskalpakt (Titel III, Art. 3 bis 8 VSKS)272 über das Unionsrecht hinaus auf weitere Vorgaben zur Staatsverschuldung.273 Ein wesentlicher Teil des Fiskalpaktes (Art. 3 Abs. 1 VSKS) ist gemäß Art. 3 Abs. 2 S. 1 VSKS in nationales Recht mit Verfassungsrang oder ähnlich verbindlicher und dauerhafter Art zu überführen. Obwohl Art. 3 Abs. 1 VSKS sich auf die Vorgaben des reformierten Stabilitäts- und Wachstums­ paktes stützt und sie mit Elementen der deutschen Schuldenbremse verknüpft,274 erfüllen die 2009 novellierten Art. 109 und 115 GG die Vorgaben nur unvollständig.275 Denn die deutsche Schuldenbremse formuliert eine jährliche konkrete Schuldengrenze (0,35 % der Strukturkomponente zuzüglich der Konjunkturkomponente) und nicht, wie der Fiskalpakt, ein mittelfristiges Haushaltsziel mit einer Untergrenze von einem strukturellen Defizit von 0,5 % des BIP oder einem Anpassungspfad dorthin. Sie wählt damit einen anderen (zeitlichen) Maßstab, der zwar in der Regel276 strenger ist, aber nicht zielgenau die Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 VSKS erfüllt. Der 272  Die weiteren Artikel des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (VSKS) betreffen eine stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik und die Steuerung des Euro-Währungsraumes und berühren daher nicht unmittelbar das Staatsschuldenrecht. Siehe ausführlich oben 2. Teil Abschnitt B.I. 273  Der deutsche Gesetzgeber hat dem Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion durch das Gesetz zu dem Vertrag am 13.9.2012 zugestimmt, BGBl. II 2012, S. 1006 f. 274  Der Fiskalpakt greift insbesondere den Kontrollkonto-Mechanismus des Art. 115 Abs. 2 S. 4 GG auf, ebenso die Konstruktion, nach der der materielle Haushaltsausgleich auch bei einer (geringen) strukturellen Verschuldung als eingehalten gilt. Vgl. Art. 115 Abs. 2 S. 2 GG mit Art. 3 Abs. 1 lit. b S. 1 VSKS. 275  Vgl. hierzu die Gesetzesbegründung zum Fiskalvertragsumsetzungsgesetz: „Mit den verfassungsrechtlich verankerten Schuldenregeln und der begleitenden Einrichtung des Stabilitätsrates existieren in Deutschland bereits umfassende institutionelle und rechtliche Regelungen, die die langfristige Tragfähigkeit der Haushalte von Bund und Ländern sichern. In Ergänzung der bestehenden Regeln dient der vorliegende Gesetzentwurf der innerstaatlichen Umsetzung der neuen Vorgaben des Fiskalvertrags und des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.“, BT-Drs.  17/10976, S. 1. 276  Siehe Gesetzesbegründung zum Fiskalvertragsumsetzungsgesetz: „Allerdings gewährleistet die vollständige Einhaltung der Schuldenbremsen durch Bund und Länder die Einhaltung des mittelfristigen Haushaltsziels zwar grundsätzlich, nicht jedoch unbedingt für jedes einzelne Jahr. Ursächlich können hierfür insbesondere temporär mögliche Defizite bei Kommunen und Sozialversicherungen sowie die Spielräume sein, die den Ländern bei der Ausgestaltung ihrer Verschuldungsregeln



C. Die Schuldenregel des Grundgesetzes im europäischen Rechtsrahmen189

Fiskalpakt unterscheidet sich noch in weiteren Punkten von der Schuldenbremse: Er sieht vor, dass der Zeitraum für die Annäherung an das länderspezifische mittelfristige Haushaltsziel – ebenso wie im Stabilitäts- und Wachstumspakt – von der Europäischen Kommission unter Berücksichtigung der Risiken für die langfristige Tragfähigkeit bestimmt und im Rahmen einer Gesamtbewertung evaluiert wird. Die Vorgaben des Fiskalpaktes beziehen sich zudem auf den öffentlichen Gesamthaushalt und schließen damit auch Sozialversicherungen und Gemeinden mit ein. Diese Unterschiede zur deutschen Schuldenbremse erfordern eine spezifisch nationalstaatliche Umsetzung, die der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags vom 15. Juli 2013 (Fiskalvertragsumsetzungs­ gesetz)277 vorgenommen hat.278 Gemäß Art. 1 Fiskalvertragsumsetzungsgesetz übernimmt § 51 Abs. 2 HGrG die Maßstäbe des Art. 3 Abs. 1VSKS und verweist für Einzelheiten sowohl auf den Art. 3 VSKS als auch auf den präventiven Arm des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (VO  1466 / 97).279 Zugleich novelliert Art. 2 Fiskalvertragsumsetzungsgesetz das Stabilitätsratsgesetz und adressiert damit die Vorgabe eines gesamtstaatlichen Korrekturmechanismus280 sowie die Forderung nach einer unabhängigen Institu­ tion,281 welche die Vorgaben des Fiskalpaktes überwacht.282

im Rahmen der Vorgaben des Artikels 109 Absatz 3 des Grundgesetzes verbleiben.“, BT-Drs.  17/10976, S. 12. 277  BGBl. I 2013, S. 2398 ff. 278  Da die Begrenzung des gesamtstaatlichen Defizits durch die Vorgaben des Fiskalpaktes als haushaltsrechtlicher Grundsatz im Sinne des Art. 109 Abs. 4 GG verstanden werden kann, bietet Art. 109 Abs. 4 GG die verfassungsrechtliche Ermächtigung zur einfachgesetzlichen Regelung. Siehe Thye, Der Stabilitätsrat, 2014, S. 238 f. 279  Der Gesetzgeber setzt den Fiskalpakt zwar nicht auf der Verfassungsebene um, wählt aber mit dem Haushaltsgrundsätzegesetz eine Umsetzung von ausreichend verbindlicher und dauerhafter Art. Vgl. hierzu unten 4. Teil Abschnitt A.VI. 280  Der Gesetzgeber argumentiert, dass die Novellierung des Stabilitätsratsgesetzes im Zusammenspiel mit den neuen Regelungen des Art. 109 Abs. 3 und 115 Abs. 2 GG ein wirksames finanzpolitisches Regelwerk etabliert, welches den Anforderungen des Fiskalpaktes an einen automatischen nationalstaatlichen Korrekturmechanismus genügt, siehe Gesetzesbegründung, BT-Drs.  17/10976, S. 13 und 16. Siehe hierzu ausführlich unten 4. Teil Abschnitt A.V.3. 281  Die Anforderung an die einzurichtende unabhängige Institution zur Überwachung der Vorgaben des Fiskalpaktes ergeben sich aus Art. 3 Abs. 2 S. 2 VSKS i. V. m. den Grundsätzen der Kommission, vgl. COM (2012) 342 final vom 20.6.2012. 282  Die weiteren Artikel des Fiskalvertragsumsetzungsgesetzes betreffen die Aufteilung etwaiger Sanktionszahlungen zwischen Bund und Ländern, eine Übergangsregelung in Bezug auf das Kontrollkonto und Änderungen im Finanzausgleichsgesetz. Zur Analyse der Verschuldungsgrenze des Fiskalpakets in § 51 Abs. 2 HGrG siehe unten 4. Teil Abschnitt A.VI.

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3. Teil: Die verfassungsrechtliche Grenze staatlicher Verschuldung

Neben den Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 VSKS wirkt sich insbesondere Art. 4 VSKS auf das deutsche Staatsschuldenrecht aus.283 Hiernach verpflichtet sich die Bundesrepublik Deutschland, ihren Schuldenstand oberhalb des Referenzwertes von 60 % um durchschnittlich ein Zwanzigstel jährlich zu senken. Art. 4 VSKS verweist hierfür auf den bereits bestehenden Schuldenquotenanpassungsrichtwert im reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt (Art. 2 VO  1467 / 97). Dort dient er allerdings der Kommission lediglich als Maßstab bei der Beurteilung, ob ein erhöhter Schuldenstand in einem Mitgliedstaat die Ausnahmekriterien des Art. 126 Abs. 2 lit. b AEUV erfüllt (hinreichend rückläufig und rasch genug dem Referenzwert nähernd). Der Fiskalpakt (Art. 4 VSKS) fordert hingegen, dass die Mitgliedstaaten ihren Schuldenstand aktiv verringern. Dies kann – unter gewissen gesamtwirtschaftlichen Umständen284 – dazu führen, dass der Fiskalpakt eine geringere Nettoneuverschuldung als die deutsche Schuldenbremse gestattet.285

283  Die weiteren Elemente des Fiskalpaktes betreffen die Aufstellung von Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogrammen (Art. 5 VSKS), die Koordinierung der Planung für die Begebung von Schuldtiteln (Art. 6 VSKS), das Abstimmungsverhalten im Rat zu Verfahren bei einem übermäßigen Defizit sowie die judikative Absicherung des Fiskalpaktes (Art. 8 VSKS). 284  Da die Schuldenstandsquote die Gesamtverschuldung in Relation zum BIP ausdrückt, ist die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion hier von zentraler Bedeutung. 285  Siehe hierzu oben 2. Teil Abschnitte B.I.1. sowie A.II.1.e).

Vierter Teil

Die Ausgestaltung der Schuldenbremse durch Bundesgesetz und Rechtsverordnung A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz Die Reform der Finanzverfassung wird durch das Begleitgesetz zur zweiten Föderalismusreform vom 10. August 20091 einfachgesetzlich umgesetzt und ausgestaltet. Als Artikelgesetz besteht es aus dem Stabilitätsratsgesetz (Artikel 1), dem Gesetz zur Ausführung von Artikel 115 Grundgesetz (Artikel 2), dem Gesetz zur Gewährung von Konsolidierungshilfen (Artikel 3) sowie weiteren Gesetzen und Gesetzesänderungen, die nicht das Staatsschuldenrecht betreffen.2 Das Gesetz zur Ausführung von Artikel 115 Grundgesetz (G 115) ist das zentrale Element der Begleitgesetzgebung zur Föderalismusreform II. Laut Gesetzesbegründung soll es die langfristige Tragfähigkeit des Bundeshaushalts gewährleisten und zugleich die finanziellen Handlungsspielräume zur Erfüllung der staatlichen Aufgaben sichern.3 Das Gesetz konkretisiert die Struktur- und Konjunkturkomponente4 und regelt damit insbesondere das Verfahren zur Berechnung der jährlichen Obergrenze für die Nettokredit­aufnahme,5 die Ausgestaltung des Kontrollkontos und die Kreditaufnahme in Ausnahmesituationen.6 Das Stabilitätsratsgesetz (StabiRatG) regelt die Einrichtung eines Systems regelmäßiger Haushaltsüberwachung zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen gemäß Art. 109a GG.7 Und im Gesetz zur Gewährung von Konsolidierungshilfen (KonsHilfG) werden die Konsolidierungshilfen für die Länder Berlin, Bremen, Saarland, Sachsen1  BGBl. I

2009, S. 2702. zählen das Gesetz über die Verbindung der informationstechnischen Netze des Bundes und der Länder (Artikel 4), das Bundeskrebsregisterdatengesetz (Artikel 5) und weitere Gesetzesänderungen (Artikel 6 bis 12). 3  Siehe Gesetzesbegründung, BR-Drs.  263/09, S. 2. 4  Siehe unten Abschnitt A.I. und Abschnitt A.II. 5  Siehe unten Abschnitt A.II.2. 6  Siehe unten Abschnitt A.III. und Abschnitt A.IV. 7  Siehe hierzu und im Folgenden Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 1. Siehe unten Abschnitt A.V. 2  Hierzu

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

Anhalt und Schleswig-Holstein gemäß Art. 143d Abs. 2 und 3 GG näher bestimmt. Das Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages vom 15. Juli 20138 passt die bisherige Ausgestaltung des Staatsschuldenrechts auf der Grundlage des Vertrages über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 3 VSKS) an. Es ändert insbesondere das Stabilitätsratsgesetz, lässt aber die grundlegende Ausgestaltung der Schuldenbremse unverändert.9 Zudem novelliert es § 51 HGrG, um so die materiellen Anforderungen des Fiskalpaktes umzusetzen.10

I. Strukturelle Komponente 1. Ausgestaltung der Strukturkomponente Die strukturelle Komponente wird durch das ausgestaltende Parlamentsgesetz zunächst nicht näher konkretisiert. Stattdessen wiederholt das Artikel 115-Gesetz (§ 2 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 G 115)11 den verfassungsrechtlich normierten Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleichs (Art. 109 Abs. 3 S. 1 und Art. 115 Abs. 2 S. 1 GG) in einer konjunkturellen Normallage, wobei die Ausgaben und Einnahmen um finanzielle Transaktionen bereinigt werden müssen (§ 3 G 115).12 Ebenso wiederholt § 2 Abs. 1 S. 2 G 115 lediglich, dass eine Kreditaufnahme von bis zu 0,35 % des nominalen Bruttoinlandsproduktes als Strukturkomponente zulässig ist. Die Bestimmung der zulässigen strukturellen Kreditaufnahme ist in § 4 des Ausführungsgesetzes (G 115) klar geregelt. Das maßgebliche nominale Bruttoinlandsprodukt wird vom Statistischen Bundesamt ermittelt. Zugrundegelegt wird das BIP, welches dem Jahr der Haushaltsaufstellung vorangegangen ist.13 Indem das Ausführungsgesetz darauf verzichtet, die Normallage positiv zu bestimmen, legt es nicht fest, wann der Kreditrahmen durch die Strukturkomponente abschließend bestimmt wird. Die Normallage ergibt sich 8  BGBl. I

2013, S. 2398. Rahmen der Schuldenbremse führt es lediglich eine Übergangsfrist für das Kontrollkonto ein (Artikel 4 Fiskalvertragsumsetzungsgesetz). Siehe hierzu unten Fn. 167. 10  Siehe unten Abschnitt A.VI. Des Weiteren ändert es das SanktionszahlungsAufteilungsgesetz (Artikel 3 Fiskalvertragsumsetzungsgesetz) sowie das Finanzausgleichsgesetz (Artikel 5 Fiskalvertragsumsetzungsgesetz). 11  BGBl. I 2009, S. 2704. 12  Dazu sogleich A.I.2. Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG verpflichtet zur Bereinigung der Einnahmen und Ausgaben um finanzielle Transaktionen.  13  Siehe oben 3. Teil Abschnitt B.II.1.a). 9  Im



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz193

stattdessen erst im Zusammenhang mit der Konjunkturkomponente. Denn § 5 Abs. 2 G 115 definiert lediglich die Abweichung von der Normallage.14 2. Bereinigung um finanzielle Transaktionen und Abgrenzungen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) Der Grundsatz, Einnahmen und Ausgaben ohne Kredite auszugleichen (§ 2 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 G 115), steht auch im Ausführungsgesetz systematisch vor der Strukturkomponente, die eine Kreditaufnahme in Höhe von 0,35 % des nominalen BIP zulässt (§ 2 Abs. 1 S. 2 G 115). Der auf diese Weise betonte materielle Haushaltsausgleich wird zusätzlich gestärkt, indem der Haushaltsgesetzgeber die Einnahmen und Ausgaben um finanzielle Transaktionen bereinigen muss (§ 2 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 G 115). Der Haushaltsgesetzgeber kann die Zielvorgabe des Haushaltsausgleiches nicht durch Umgehungsstrategien, zum Beispiel durch Privatisierungserlöse, erfüllen. Das Ausführungsgesetz konkretisiert die Bereinigung um finanzielle Transaktionen in § 3 G 115.15 Bei den gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 Bundeshaushaltsordnung (BHO) getrennt zu veranschlagenden Ausgaben und Einnahmen sind folgende Ausgaben herauszurechnen: Ausgaben für den Erwerb von Beteiligungen, für Tilgungen an den öffentlichen Bereich und für die Darlehensvergabe. Analog sind folgende Einnahmearten zu bereinigen: Einnahmen aus der Veräußerung von Beteiligungen, aus der Kreditaufnahme an den öffentlichen Bereich sowie aus Darlehensrückflüssen.16 Das Ausführungsgesetz benennt somit drei Kategorien zu bereinigender Transaktionen: „Erwerb / Veräußerungen von Beteiligungen“, „Kreditaufnahme / Tilgungen an den öffentlichen Bereich“ sowie „Darlehensvergabe / -rückflüsse“. Die konkrete Abgrenzung – also welche Einnahmen und Ausgaben im Einzelnen herauszurechnen sind – ergibt sich allerdings nicht unmittelbar aus dem Wortlaut. Erst die genetische Auslegung, insbesondere die Gesetzesbegründung, konkretisiert die Norm.17 Hiernach ist die Definition der zu bereinigenden finanziellen Transaktionen im Sinne des Systems der Volks14  Näheres

zur Abweichung von der Normallage siehe unten Abschnitt A.II.1. Gesetzgeber hat sich hier an der Definition des Finanzierungssaldos in § 2 Abs. 2 Sanktionszahlungs-Aufteilungsgesetz (BGBl. I 2006, S. 2098) orientiert. Siehe auch Kastrop/Snelting, Das Modell des Bundesfinanzministeriums für eine neue Schuldenregel, in: Wirtschaftsdienst 6/2008, S. 375. 16  Gemeint sind die Einnahmen und Ausgaben des Bundeshaushaltsplans gemäß § 11 Abs. 2 BHO, BGBl. I 1969, S. 1284, geändert durch das Haushaltsbegleitgesetz 2011, Art. 10 Änderung der BHO, BGBl. I 2010, S. 1885. 17  Vgl. BR-Drs.  263/09, S. 40. 15  Der

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

wirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR)18 zu verstehen.19 Als finanzielle Transaktionen gelten Einnahmen und Ausgaben, die das Nettogeldvermögen des Staates (Summe aus liquiden Mitteln und dem Saldo aus Forderungen und Verbindlichkeiten) unverändert lassen.20 Finanzielle Transaktionen sind also nicht-vermögenswirksame Einnahmen und Ausgaben, die defizitneutral wirken. Ein klassisches Beispiel sind Einnahmen aus Aktienverkäufen oder Privatisierungserlöse. Dem damit verbundenen Kassenzugang steht ein Forderungsabgang gegenüber, so dass der Nettosaldo des staatlichen Vermögens unverändert bleibt. Indem der Gesetzgeber die zu bereinigenden Kategorien lediglich benennt (§ 3 G 115), greift er zwar den Regelungsauftrag des Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG auf, erfüllt aber nur seine Mindestanforderung. Das neue Recht nähert sich mit dieser Regelung den europäischen Standards zur Ermittlung des Finanzierungssaldos auf Grundlage des Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung (ESVG 2010) an.21 In Abgrenzung zur deutschen Finanzstatistik wurde bereits in der Vergangenheit das Maastricht-relevante Defizit um die hier genannten Transaktionskategorien bereinigt.22 Allerdings übernimmt das neue Recht die Systematik des ESVG nicht vollständig. Aus der Gesetzesbegründung folgt, dass die Schuldenregel „aus Gründen der Praktikabilität“ das Konzept einer „VGR-nahen Abgrenzung“ wählt.23 Das heißt, es sollen solche Transaktio18  Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) ist die umfassende Buchführung eines Landes zur Erfassung der Güter- und Einkommensströme zwischen privaten Haushalten, Unternehmen, Staat und Ausland. Sie stellt u. a. die Entstehung, Verwendung und Verteilung des Bruttoinlandsproduktes dar, siehe Das Lexikon der Wirtschaft, „volkswirtschaftliche Gesamtrechnung“, 2004, S. 52. 19  Siehe hierzu ESVG 2010, 5.34: „Handelt es sich bei einer Transaktion und der ihr gegenüberstehenden Transaktion um finanzielle Transaktionen, so ändert sich die Zusammensetzung der Forderungen und Verbindlichkeiten und u. U. die Summe der finanziellen Vermögenswerte und der Verbindlichkeiten der institutionellen Einheiten. Der Finanzierungssaldo und das Reinvermögen werden davon allerdings nicht berührt.“ Siehe ferner ESVG 2010, 5.01, 5.02. Ausführliche Erläuterungen zu den finanziellen Transaktionen bietet die Publikation zur Vorgängerregelung ESVG 95, vgl. Handbuch zum ESVG 1995, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.), Defizit und Schuldenstand des Staates, 2002. 20  Siehe hierzu und im Folgenden Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Kasten 1, S. 11. 21  Siehe VO 549/2013 zum Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen auf nationaler und regionaler Ebene in der Europäischen Union, Abl. Nr. L 174 v. 26.06.2013, S. 1. 22  Siehe hierzu ausführlich Dietz, Finanzierungssaldo des Staates – einige methodische Anmerkungen, in: Wirtschaft und Statistik, 4/2006, S. 339 (341 f.). Vgl. auch Arlt, Zur Messung staatlicher Defizite, 1994, S. 55 ff. 23  BR-Drs.  263/09, S. 40.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz195

nen berücksichtigt werden, die im Haushaltsplan unmittelbar ermittelt werden können.24 Das Bundesministerium der Finanzen identifiziert im Gruppierungsplan des Bundeshaushalts25 eine abschließende Liste zu bereinigender Gruppierungen.26 Die Auswahl entspricht sowohl dem Sinn und Zweck als auch dem Wortlaut der Regelung, da sich alle drei Kategorien fast wortgleich jeweils auf der Ausgaben- und der Einnahmenseite der betroffenen Gruppierungen wieder finden. Das Konzept der haushaltsbezogenen, VGR-nahen Abgrenzung fordert des Weiteren, Einnahmen und Ausgaben so zu berücksichtigen, wie sie tatsächlich im Haushalt anfallen, könnten sie doch ansonsten nicht unmittelbar aus dem Haushalt abgelesen werden. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) das Entstehen von 24  Siehe

Gesetzesbegründung, BR-Drs.  263/09, S. 40. Gruppierungsplan des Bundeshaushaltes ist wesentlicher Bestandteil der Haushaltssystematik und gliedert die Einnahmen und Ausgaben nach ihrem ökonomischen Gehalt. Die Einteilung des Haushalts in einen Gruppierungs- und einen Funktionenplan richtet sich nach Verwaltungsvorschriften, die auf Grundlage von § 10 Abs. 2 S. 3 HGrG und § 13 Abs. 2 S. 3 BHO erlassen werden. Siehe Bundesministerium der Finanzen, Verwaltungsvorschrift des BMF „Allgemeine Hinweise zum Gruppierungsplan und zum Funktionenplan (AH-GF)“, Vorbemerkung, http:// www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/bsvwvbund_30121999_IIAHGF.htm (ab­gerufen am 8.4.2017). 26  Siehe Bundesministerium der Finanzen, Kompendium zur Verschuldungsregel des Bundes, http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/The men/Oeffentliche_Finanzen/Schuldenbremse/kompendium-zur-schuldenbremsedes-bundes.pdf?__blob=publicationFile&v=7 (abgerufen am 8.4.2017), S. 11 f.: Kategorie „Beteiligungen“: Erlöse aus der Veräußerung von Beteiligungen und sonstigem Kapitalvermögen (Gruppierungsnummer 133); Kapitalrückzahlungen (134); Erwerb von Beteiligungen und dgl. im Inland (831); Erwerb von Beteiligungen und dgl. im Ausland (836). Kategorie „Kreditaufnahme/Tilgungen an den öffentlichen Bereich“: Schuldenaufnahmen beim Bund (311), bei Ländern (312), bei Gemeinden und Gemeindeverbänden (313), bei Sondervermögen (314), bei Zweckverbänden (317); Tilgungsausgaben an Bund (581), an Länder (582), an Gemeinden und Gemeindeverbände (583), an Sondervermögen (584), an Zweckverbände (587). Kategorie „Darlehensvergabe/-rückflüsse“: Darlehensrückflüsse vom Bund (171), von Ländern (172), von Gemeinden und Gemeindeverbänden (173), von Sondervermögen (174), von Sozialversicherungsträgern sowie von der Bundesanstalt für Arbeit (176), von Zweckverbänden (177), von öffentlichen Unternehmen und Einrichtungen (181), Sonstige aus dem Inland (182), aus dem Ausland (186); Darlehen an Bund (851), an Länder (852), an Gemeinden und Gemeindeverbände (853), an Sondervermögen (854), an Sozialversicherungsträger sowie an die Bundesanstalt für Arbeit (856), an Zweckverbände (857), an öffentliche Unternehmen und Einrichtungen (861), an private Unternehmen (862), an Sonstige im Inland (863), Darlehen an Ausland (866). 25  Der

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

Forderungen und Verbindlichkeiten abbilden, also periodengerecht zuordnen. Die kamerale Finanzstatistik des Bundeshaushalts hingegen bucht den tatsächlichen Mittelab- bzw. -zufluss. Würde die neue Regelung eine vollständige Abgrenzung nach dem System der VGR wählen, müssten beispielsweise Lohnsteuereinnahmen im Januar auf den Dezember zurückgebucht werden, da sie aus den Dezembergehältern stammen.27 Der Gesetzgeber reagiert mit der Bereinigung um finanzielle Transaktionen zum einen auf die europäische Rechtslage und zum anderen auf eine bereits unter der alten Rechtslage regelmäßig erhobene rechtspolitische Forderung.28 Die Regelung soll eines der vormals bestehenden Schlupflöcher exekutiver Umgehungsstrategien schließen.29

II. Konjunkturkomponente Das Ausführungsgesetz zur Schuldenbremse beruht auf dem Verfassungsauftrag des Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG, der insbesondere verlangt, dass „das Verfahren zur Berechnung der Obergrenze der jährlichen Nettokreditaufnahme unter Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung auf der Grundlage eines Konjunkturbereinigungsverfahrens“ durch Bundesgesetz geregelt wird. Die verfassungsrechtlich so vorgezeichnete Konjunkturkomponente wird in § 2 Abs. 2 und § 5 G 115 geregelt. Die Konjunkturkomponente greift, wenn eine von der Normallage abweichende Entwicklung erwartet wird. Um dies festzustellen, bedient sich das Ausführungsgesetz (G 115) des Konzeptes des Produktionspotentials. Ist dieses über- oder unterausgelastet, verändert die Konjunkturkomponente die Höchstgrenze der zu veranschlagenden Einnahmen aus Krediten.30 Das Maß der Konjunkturkomponente richtet sich nach den konjunkturellen Auswirkungen auf den Haushalt,31 die mit Hilfe der Differenz vom gesamtwirtschaftlichen Produktionspotential und dem erwarteten BIP ‒ der Produk­ tionslücke32 ‒ berechnet wird. Zur Bestimmung dieser gesamtwirtschaftlichen Produktionslücke („output gap“) verweist das Ausführungsgesetz auf 27  Siehe Dietz, Finanzierungssaldo des Staates – einige methodische Anmerkungen, in: Wirtschaft und Statistik, 4/2006, S. 339 (342). 28  Siehe Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, §  123, Rn.  38 f. m. w. N. 29  Siehe oben 1. Teil Abschnitt B.V.4. Allerdings ergeben sich durch die Bereinigung um finanzielle Transaktionen neue Umgehungsmöglichkeiten. Siehe hierzu unten Abschnitt B.II.4. 30  Siehe unten Abschnitt A.II.1. 31  Siehe unten Abschnitt A.II.2.a). 32  Siehe unten Abschnitt A.II.2.b).



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz197

die europäische Praxis zur Konjunkturbereinigung33 und erteilt zudem den Auftrag, das Verfahren regelmäßig zu überprüfen und unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes weiterzuentwickeln.34 Die Einzelheiten des Verfahrens zur Bestimmung der Konjunkturkomponente werden durch Rechtsverordnung des Bundesministeriums der Finanzen festgelegt. Die Ermächtigungsgrundlage (§ 5 Abs. 4 G 115) muss den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG genügen.35 1. Abweichung von der Normallage als Grund – Das Produktionspotential Tatbestandliche Voraussetzung für die Konjunkturkomponente ist die erwartete Abweichung der gesamtwirtschaftlichen Situation von der Normallage. Das Ausführungsgesetz liefert jedoch keine Legaldefinition der Normallage. Stattdessen definiert § 5 Abs. 2 S. 1 G 115 die Abweichung als eine Unter- oder Überauslastung des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotentials. Unter dem Produktionspotential verstehen die Wirtschaftswissenschaften regelmäßig das potentielle Bruttoinlandsprodukt, das eine Volkswirtschaft bei Normalauslastung der beiden Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit produziert.36 Das Ausführungsgesetz folgt dieser Interpretation. Das hier gemeinte Produktionspotential beschreibt folglich nicht das theoretisch maximal erreichbare Bruttoinlandsprodukt, also die Obergrenze der Produktionsmöglichkeiten,37 da eine Überauslastung nach § 5 Abs. 2 S. 1 G 115 ansonsten (technisch) gar nicht möglich wäre. Das tatsächliche Bruttoinlandsprodukt weicht typischerweise aufgrund von Konjunkturschwankungen positiv oder negativ vom Produktionspotential ab. In einer vereinfachenden Betrachtung kann das Produktionspotential auch als der (geglättete) Trendwert des BIP interpretiert werden.38 33  Siehe

unten Abschnitt A.II.2.c). unten Abschnitt A.II.2.d). 35  Siehe unten Abschnitt A.II.3. 36  Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2007, Rn. 694. 37  Ältere Methoden in den Wirtschaftswissenschaften interpretieren das Produktionspotential als die maximal mögliche Produktion. Das Verhältnis des Produktionspotentials zum tatsächlichen BIP wird hier durch den Auslastungsgrad angegeben. Wird das Potential vollständig ausgeschöpft, beträgt der Auslastungsgrad eins. In allen anderen Fällen liegt er innerhalb des geschlossenen Intervalls von [0,1]. Siehe hierzu Assenmacher, Konjunkturtheorie, 1998, S. 29. 38  Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bun34  Siehe

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

Das Produktionspotential ist ein aggregiertes Maß für die Angebotsseite einer Volkswirtschaft, das heißt in ihm werden alle Angebotsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft zusammengefasst. Ökonomen beschreiben das Produktionspotential als mathematische Funktion, die sich aus verschiedenen Produktionsfaktoren zusammensetzt.39 Hierzu zählt der volkswirtschaftliche Kapitalstock mit dem gesamten Bruttoanlagevermögen (u. a. Ausrüstungen, Bauten, Produktionsanlagen, Verkehrsinfrastruktur) und dem privaten Kapital als Ergebnis unternehmerischer Investitionsentscheidungen.40 Der Faktor „Arbeit“ umfasst alle produktiv einsetzbaren Fähigkeiten und Kenntnisse sowie physische Leistungsfähigkeiten. Er ist abhängig von der Funktionsfähigkeit und Struktur der Arbeitsmärkte sowie von demographischen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen. Neben Menge und Qualität der Produktionsfaktoren spielt die Produktivität eine wesentliche Rolle. Diese hängt unter anderem vom technologischen Fortschritt und der Effizienz des gesamten marktwirtschaftlichen Systems ab. Zu letzterem zählen beispielsweise das Steuersystem und die Summe der gesetzlichen Vorschriften, die wirtschaftliche Entscheidungen beeinflussen.41 Aus der Beschreibung wird deutlich, dass das gesamtwirtschaftliche Produktionspotential keine beobachtbare Größe und daher nicht messbar ist. Es ist vielmehr ein wirtschaftswissenschaftliches Konzept, welches sich aus verschiedenen Variablen zusammensetzt. Da es nicht empirisch ermittelt werden kann, muss es durch ökonometrische Verfahren geschätzt werden. Hierbei hat sich in den Wirtschaftswissenschaften bislang keine Standardmethode durchgesetzt.42 Auch das Ausführungsgesetz legt keine Methode eindeutig fest. § 5 Abs. 2 S. 2 G 115 wiederholt zunächst nur die grundgesetzliche Vorgabe, die verlangt, dass das Produktionspotential „auf der Grundlage eines Konjunkturbereinigungsverfahrens“ geschätzt wird (Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG). Das desministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn. 219 sowie ders., Jahresgutachten 2007, Rn. 699. Zur Analyse der statistischen Filter und der produktionstheoretisch fundierten Methoden siehe unten Abschnitt A.II.2.b). 39  Siehe Steger, Das Produktionspotential in Euroland, in: Konjunktur-ZinsenWährungen, 1/2001, S. 2 f. 40  Entwickelte Finanzmärkte übernehmen hier eine zentrale Rolle, da sie (Wagnis-)Kapital bereitstellen und Investitionen ermöglichen. Siehe Steger, Das Produktionspotential in Euroland, in: Konjunktur-Zinsen-Währungen, 1/2001, S. 2 f. 41  Siehe Steger, Das Produktionspotential in Euroland, in: Konjunktur-ZinsenWährungen, 1/2001, S. 3. Steger weist darauf hin, dass regelmäßig mehr als die Hälfte des Wirtschaftswachstums von der Produktivität abhängt. 42  Eine gute Übersicht und empirische Analyse der verschiedenen Ansätze bieten Chagny/Döpke, Measures of the Output Gap in the Euro-Zone: An Empirical Assessment of Selected Methods, in: Kiel Working Paper, No. 1053, 2001.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz199

Gesetz verweist stattdessen in § 5 Abs. 4 G 115 auf die Verordnung der Exekutive.43 Die verschiedenen Berechnungsmethoden können dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen führen und so die Höhe der konjunkturellen Komponente verändern.44 Damit die Konjunkturkomponente greift, muss jedoch lediglich der Tatbestand einer Über- oder Unterauslastung der Kapazitäten erfüllt sein.45 Der in § 5 Abs. 2 S. 2 G 115 vorgesehene Vergleich von Produktionspotential und erwarteter gesamtwirtschaftlicher Produktion ist eine gängige volkswirtschaftliche Methode, um Rückschlüsse auf den konjunkturellen Zustand einer Volkswirtschaft ziehen zu können.46 Eine Unterauslastung des Potentials charakterisiert eine negative Wirtschaftslage mit geringem oder sogar negativem Wirtschaftswachstum, eine Überauslastung hingegen 43  Siehe hierzu ausführlich Abschnitt B. Die Verordnung soll im Einklang mit europäischen Verfahren stehen. Siehe Abschnitt A.II.2.c). und A.II.3. 44  Siehe unten Abschnitt A.II.2.b). 45  Allerdings kommen die verschiedenen Verfahren der Konjunkturbereinigung häufig zu diametral unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich des Vorzeichens der Auslastung. Die Schätzverfahren stimmen also regelmäßig nicht darin überein, ob eine Über- oder Unterauslastung des Produktionspotentials vorliegt. Siehe Deutsche Bundesbank, Zur Verlässlichkeit der Schätzungen internationaler Organisationen zur Produktionslücke, Monatsbericht April 2014, S. 13 (27); Europäische Zentralbank, Potentialwachstum und Produktionslücke: Begriffsabgrenzung, Anwendungsbereiche und Schätzergebnisse, EZB Monatsbericht Oktober 2000, S. 44 f.; Hetschko/Quint/ Thye, Nationale Schuldenbremsen für die Länder der Europäischen Union, in: Diskussionsbeiträge des Fachbereiches Wirtschaftswissenschaften der Freien Universität Berlin, 2012/12, S. 6 f. zeigen, wie stark und wie häufig die Schätzergebnisse voneinander abweichen, auch hinsichtlich der Frage, ob eine Über- oder Unterauslastung gegeben ist. Auch der damalige Finanzminister von Rheinland-Pfalz, Ingolf Deubel, sieht die Manipulationsanfälligkeit des offen gehaltenen Verfahrens mittlerweile sehr kritisch: „Aus heutiger Sicht [im Jahr 2010] würde ich dem Bund dringend von einer solch präzisen Festlegung auf ein so unpräzises Verfahren abraten.“, siehe Deubel, Konjunkturausregulierung und Länderhaushalte – Ein Beitrag zur praktischen Umsetzung der Schuldenbremse und des Konsolidierungshilfengesetzes, 2010, S. 2. Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, S. 179 hält die Konjunkturkomponente hingegen für „eindeutig bestimmbar“. 46  Siehe Gabler Wirtschaftslexikon, „Konjunkturdiagnose“, 2014, S. 1826. Eine andere, weithin bekannte Methode ist beispielsweise die Ermittlung von Konjunktur­ indizes (Geschäftsklimaindex, Konjunkturtest) durch das ifo Institut für Wirtschaftsforschung oder das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Diese Indizes beruhen u. a. auf qualitativen Umfragen. Siehe http://www.cesifo-group.de/de/ ifoHome/facts/Survey-Results/Business-Climate.html (abgerufen am 8.4.2017) sowie http://www.zew.de/de/publikationen/zew-gutachten-und-forschungsberichte/for schungsberichte/konjunktur/zew-finanzmarktreport/ (abgerufen am 8.4.2017). Diese Art der Messung der Konjunkturstärke zählt zu der Gruppe der Diffusionsindizes, die das konjunkturelle Phänomen als ein Problem der Streuung verschiedener wirtschaftlicher Aktivitäten begreift, siehe Assenmacher, Konjunkturtheorie, 1998, S. 25 ff.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

deutet auf eine positive wirtschaftliche Entwicklung hin. Die Wirtschaftswissenschaften kennen unterschiedliche Vergleichsmethoden.47 Der Wortlaut des § 5 Abs. 2 S. 1 G 115 weist indes durch den in Klammern eingefügten Zusatz „Produktionslücke“ darauf hin, dass der Gesetzgeber auf die Messgröße der Bruttoinlandsproduktlücke abstellt.48 Sie beschreibt die Differenz von gesamtwirtschaftlicher Produktion und Produktionspotential in Prozent des Produktionspotentials. Ungeachtet ihres Vorzeichens wird sie als Bruttoinlandsproduktlücke oder auch als „BIP-Gap“ bzw. „output gap“ bezeichnet.49 Die Konjunkturkomponente bestimmt also die wirtschaftliche Situation anhand der Auslastung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten. Der Produktionslücke kommt damit eine zentrale Bedeutung für die Ausgestaltung der Schuldenbremse zu.50 Aus der Systematik folgt, dass eine wirtschaftliche Normallage nur dann vorliegt, wenn keine gesamtwirtschaftliche Produktionslücke erwartet wird, also das Produktionspotential weder über- noch unterausgelastet sein wird. Das heißt, die erwartete gesamtwirtschaftliche Produktion muss das geschätzte Potential (nahezu) ausschöpfen und darf es nicht (erheblich) übersteigen.51 Dass Potential und erwartetes BIP (nahezu) deckungsgleich sind, 47  So kann das Verhältnis beispielsweise über den Quotienten von Potential und BIP als Auslastungsgrad kleiner oder gleich eins ausgedrückt werden. Siehe oben Fn. 37. Das Konzept des Auslastungsgrades war in der deutschen Konjunkturforschung ursprünglich stärker verbreitet als das der Bruttoinlandsproduktlücke, siehe Gabler Wirtschaftslexikon, „Bruttoinlandsprodukt-Lücke“, 2014, S. 553. In der Europäischen Union wurde bis 2002 die HP-Filter Methode verwendet, siehe Economic Policy Committee, Report on Potential Output and the Output Gap, ECFIN/ EPC/670/01 S. 9 f. Siehe hierzu unten Abschnitt A.II.2.b)aa). 48  § 5 Abs. 2 G 115: „Eine Abweichung der wirtschaftlichen Entwicklung von der konjunkturellen Normallage liegt vor, wenn eine Unter- oder Überauslastung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten erwartet wird (Produktionslücke).“ 49  Das Verfahren der Bruttoinlandsproduktlücke gibt allerdings keine Auskunft über das Niveau des Produktionspotentials: Trotz unterschiedlicher absoluter Größen von BIP und Potential zeigt es bei gleichen Abständen dieselbe Konjunkturstärke an. Vgl. Assenmacher, Konjunkturtheorie, 1998, S. 29. 50  Das Konzept des Produktionspotentials ist in den Wirtschaftswissenschaften generell von herausragender Bedeutung. Es wird sowohl zu wirtschaftspolitischen Diskussionen als auch zu Prognose- und Analysezwecken herangezogen. Zentralbanken verwenden das Konzept seit den 1970er Jahren, um eine stabilitätsgerechte und potentialorientierte Geldpolitik betreiben zu können. Siehe Deutsche Bundesbank, Das Produktionspotential in Deutschland und seine Bestimmungsfaktoren, Monatsbericht August 1995, S. 41 f.; Deutsche Bundesbank, Das Produktionspotential in der Bundesrepublik Deutschland, Monatsbericht Oktober 1973, S. 28 ff. und Steger, Das Produktionspotential in Euroland, in: Konjunktur-Zinsen-Währungen, 1/2001, S. 2. 51  Die Zusätze „nahezu“ und „erheblich“ werden auf Grund folgender Überlegung verwendet: Da sowohl erwartetes BIP als auch Produktionspotential auf Schätzungen beruhen, sind statistisch nicht-signifikante Abweichungen beider Größen



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz201

erscheint jedoch eher unwahrscheinlich. Die Konjunkturkomponente wird damit regelmäßig – in die eine oder andere Richtung – eingreifen.52 Zusammenfassend gilt: Die Konjunkturkomponente verändert die durch die strukturelle Komponente vorgezeichnete Höchstgrenze der Verschul­ dung,53 wenn das erwartete BIP vom geschätzten Produktionspotential und damit der Normallage abweicht. Die so ermittelte Produktionslücke ist jedoch nicht nur ein graduelles Maß dafür, ob die Konjunkturkomponente greift, sondern quantifiziert die Abweichung von der Normallage. Sie bildet, neben der Budgetsensitivität,54 den entscheidenden Faktor zur Berechnung der Komponente (§ 5 Abs. 3 G 115) und ist damit ein wesentliches Element der Schuldenbremse.55 2. Konjunkturelle Auswirkungen auf den Haushalt als Maß a) Konjunkturreagibilität des Haushaltes – Budgetsensitivität Das Maß der Konjunkturkomponente richtet sich nach den erwarteten Auswirkungen der Konjunktur auf den Haushalt. Übereinstimmend mit Art. 115 Abs. 2 S. 3 GG bestimmt § 2 Abs. 2 G 115 die konjunkturbedingte nicht zu berücksichtigen. Zum Konzept der statistischen Signifikanz vgl. Kronthaler, Statistik angewandt: Datenanalyse ist (k)eine Kunst, 2014, S. 125 ff. 52  Nachvollziehbar ist auch die Argumentation Kubes, der den Tatbstandsbegriff der Normallage inhaltlich weiter fasst und von einem hinreichend breiten „Korridor von Normalität“ ausgeht, um zu verhindern, dass die Konjunkturkomponente die Neuverschuldungsgrenze in jedem einzelnen Jahr verändert, siehe Kube, Art. 115 GG, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, 2009, Rn. 157. So auch Wendt, Art. 115 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2010, Rn. 43. Noch weiter geht wohl Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 217 f., die den Begriff der Normallage weit auslegt und den Ausnahmecharakter der Konjunkturkomponente betont. A. A. Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, S.  180 f. 53  In Phasen des wirtschaftlichen Aufschwungs kann die Höchstgrenze der zulässigen Verschuldung auch ein negatives Vorzeichen haben, also zur Erzielung von Haushaltsüberschüssen verpflichten. 54  Siehe Abschnitt A.II.2.a). 55  Zum Verfahren zur Bestimmung der Produktionslücke siehe unten Abschnitt A.II.2.b). Interessant für die historische Analyse der Konjunkturkomponente ist, dass die Deutsche Bundesbank bereits 1997 für „die Berechnung eines […] konjunkturbedingten Saldos“ diese beiden Faktoren vorzeichnet: „ein gesamtstaatlicher Abweichungsindikator [Produktionslücke] und ein budgetäres Reagibilitätsmaß als Gesamtausdruck für die eingebaute zyklische Flexibilität (built-in flexibility), das heißt für die Empfindlichkeit der öffentlichen Haushaltswirtschaft in Bezug auf den Abweichungsindikator.“, Deutsche Bundesbank, Zur Problematik der Berechnung „struktureller“ Budgetdefizite“, Monatsbericht April 1997, S. 31 (32 f.).

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

Modifikation der Schuldengrenze: Die Höchstgrenze der zu veranschlagenden Einnahmen aus Krediten verändert sich „als Konjunkturkomponente um diejenigen Einnahmen aus Krediten oder um die Haushaltsüberschüsse, die der erwarteten Wirkung der konjunkturellen Entwicklung auf den Haushalt entsprechen.“56 Dem Wortlaut nach sollen die erwarteten Konjunktureffekte auf den Haushalt eins zu eins berücksichtigt werden. Das heißt, die Kreditgrenze steigt oder sinkt genau in dem Maße, in dem die saldierten Mehr- bzw. Minderausgaben respektive -einnahmen anfallen. Konjunkturell bedingte Einnahmen oder Ausgaben lassen sich jedoch nicht eindeutig dem Haushalt entnehmen oder gar für künftig aufzustellende Haushalte vorhersagen. Die Frage, ob einzelne Veränderungen im Haushalt auf die wirtschaftliche Entwicklung oder auf strukturelle, also von der Konjunktur unabhängige Ursachen zurückzuführen sind, kann nicht immer eindeutig beantwortet werden. Sie eröffnet in der Regel einen Einschätzungsspielraum.57 Der Gesetzgeber hat die damit verbundenen Probleme erkannt und leitet die Konjunkturkomponente aus der allgemeinen Wirtschaftslage ab (§ 5 Abs. 1 G 115). Die gesamtwirtschaftliche Situation (genauer: die Entwicklung des BIP im Verhältnis zum Produktionspotential) wird als heuristisches Mittel herangezogen, um die konjunkturelle Wirkung auf den Haushalt bestimmen zu können. Auf diese Weise erübrigen sich aufwendige Verfahren zur Ermittlung der konjunkturellen Veränderung einzelner Haushaltspositionen, die zahlreiche Ermessensentscheidungen erfordern würden und wohl auch kaum justitiabel wären. Genau aus diesem Grund spricht sich auch der Sachverständigenrat in seinem Reformvorschlag von 2007 gegen disaggregierte Modelle der Konjunkturschätzung aus.58 Diese basieren darauf, dass die zyklischen Entwicklungen der Bemessungsgrundlagen der verschiedenen Steuereinnahmen jeweils separat und unabhängig von der Entwicklung des BIP geschätzt werden.59 Da allerdings die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben des Haushaltes nicht parallel (d. h. im Verhältnis 1:1) zur wirtschaftlichen Entwick56  § 2

Abs. 2 G  115. beispielsweise die zahlreichen Annahmen des Sachverständigenrates bei der disaggregierten Methode zur Konjunkturbereinigung der öffentlichen Haushalte, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2005/06, S. 525 ff. 58  Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn. 161. Zum Vorschlag des Sachverständigenrates siehe oben 2. Teil Abschnitt A.I.2. 59  Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn. 229. 57  Vgl.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz203

lung verläuft, muss die Schuldenbremse berücksichtigen, wie stark der Haushalt auf konjunkturelle Schwankungen reagiert. Dies übernimmt die neu eingeführte Größe der Budgetsensitivität. Folgerichtig wird die Konjunkturkomponente bestimmt, indem die Produktionslücke60 mit der Budgetsensitivität61 multipliziert wird (§ 5 Abs. 4 G 115). Eine isolierte Betrachtung der konjunkturellen Entwicklung wäre hingegen unzureichend. Denn eine Berechnung der konjunkturellen Komponente und damit der konkreten Kredithöchstgrenze, die ausschließlich auf der Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes beruht, wäre kaum mit dem insofern eindeutigen Wortlaut des Grundgesetzes vereinbar. Art. 115 Abs. 2 S. 3 GG verlangt explizit, dass die Wirkung auf den Haushalt zu berücksichtigen ist. Das Grundgesetz wendet sich somit gegen einen Maßstab, der lediglich auf die Entwicklung des BIP und seine Abweichung vom Produktionspotential abstellt.62 Die Berücksichtigung der Auswirkung auf den Bundeshaushalt ist verfassungsrechtlich geboten und ein essentielles Element der Schuldenbremse, welches nicht ohne weiteres zur Disposition des einfachen Gesetzgebers steht.63 § 5 Abs. 3 G 115 greift diese Vorgabe auf und definiert die Budgetsensitivität als ein Maß, das angibt, wie Einnahmen und Ausgaben des Bundes bei einer Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Aktivität variieren. Der Gesetzgeber konkretisiert dieses Maß jedoch nicht näher. Aus dem Sinnzusammenhang ergibt sich lediglich, dass die Budgetsensitivität das wirtschaftswissenschaftliche Konzept der Elastizität des Haushalts abbilden soll. Ökonomen beschreiben die Sensitivität der Auswirkungen einer Variablen auf eine andere Variable üblicherweise mit dem Begriff der Elastizi60  Siehe

dazu Abschnitt A.II.2.b). Budgetsensitivität berücksichtigt, dass der Haushalt einen (großen) strukturellen Anteil hat, der nicht unmittelbar auf konjunkturelle Schwankungen reagiert. Sie hat daher einen Wert von (deutlich) kleiner eins. Siehe dazu unten Fn. 64. 62  So aber der Sachverständigenrat, der den Konjunkturfaktor ausschließlich von der Produktionslücke ableitet, da er von einer Konjunkturelastizität des Haushaltes von eins ausgeht, siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn. 161. Er weist allerdings darauf hin, dass der Konjunkturfaktor gegebenenfalls anzupassen ist, siehe Rn. 239. Zum Begriff der Elastizität siehe unten Fn. 64. 63  Die Wirkung auf den Haushalt muss maßgeblich berücksichtigt werden. Das BIP alleine kann hier nicht als typisierender Maßstab herangezogen werden, da sich Schwankungen im Konjunkturverlauf nicht in gleichem Maße auf den Haushalt übertragen. Ursächlich hierfür sind insbesondere ein verhältnismäßig hoher Anteil konjunkturneutraler Haushaltspositionen sowie die zeitliche Verzögerung, mit der sich Entwicklungen des BIP im Haushalt bemerkbar machen (z. B. geändertes Steueraufkommen im Folgejahr eines Wirtschaftsabschwungs). 61  Die

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

tät.64 Die Konjunkturelastizität des Haushalts drückt aus, wie stark sich der Haushaltssaldo verändert, wenn sich die gesamtwirtschaftliche Produktion (BIP) ändert.65 Studien aus den Jahren 2005 und 2006 deuten darauf hin, dass die Konjunkturelastizität des gesamtstaatlichen Haushalts in Deutschland bei rund 0,5 Prozentpunkten liegt.66 Eine Produktionslücke67 von 1 % in Relation zum Produktionspotential verändert demnach den konjunktu­ rellen Finanzierungssaldo von Bund, Ländern, Kommunen und Sozial­ versicherungen in Relation zum BIP um rund 0,5 Prozentpunkte.68 Die Konjunkturelastizität ist also ausschlaggebend dafür, wie stark die konjunkturelle Lage die öffentlichen Haushalte beeinflusst.69 Sie wird durch komplizierte ökonometrische Verfahren geschätzt, die zwangsläufig auf pragmatischen, vereinfachenden Annahmen beruhen.70 Werden diese Annahmen auch nur leicht angepasst, verändert sich die geschätzte Elastizität. 64  Vgl. Mankiew, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 2001, S. 48. Wenn der Haushaltssaldo sich genau in dem Maß verändert, wie sich das BIP verändert, gilt er als einheitselastisch: Steigt das BIP beispielsweise um einen Prozentpunkt und verbessert sich der Haushaltssaldo ebenfalls um einen Prozentpunkt, dann beträgt die Elastizität eins. Eine Elastizität kleiner eins gilt als unelastisch, liegt sie über eins, bezeichnet man sie als elastisch, siehe ders., Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 2001, S. 103. 65  Sie wird wesentlich durch die Elastizität des Steueraufkommens und die Elastizität der Staatsaugaben bestimmt. Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn.  235 ff. und Rn.  240 ff. 66  Vgl. beispielsweise André/Girouard, Measuring Cyclically-Adjusted Budget Balances for OECD Countries, in: OECD Economics Department Working Papers, no. 434, 2005 sowie Büttner et al., Berechnung der BIP-Elastizitäten öffentlicher Ausgaben und Einnahmen zu Prognosezwecken und Diskussion ihrer Volatilität, in: ifo Forschungsberichte, Nr. 28, 2006. 67  Siehe dazu sogleich Abschnitt A.II.2.b). 68  Siehe Baumann/Schneider, Die neue Regel des Bundes, in: Kastrop et al. (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 89 (106 f.) sowie An­ dré/Girouard, Measuring Cyclically-Adjusted Budget Balances for OECD Countries, in: OECD Economics Department Working Papers, no. 434, 2005, S. 22, Table 9. 69  Siehe hierzu auch Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn. 235. 70  So treffen beispielsweise André/Girouard, Measuring Cyclically-Adjusted Budget Balances for OECD Countries, in: OECD Economics Department Working Papers, no. 434, 2005, S. 6 die Annahme, dass arbeitslosigkeitsbedingte Transferleistungen die einzigen konjunkturreagiblen Staatsausgaben sind. Die Güte der Elastizitätsschätzung hängt darüber hinaus wesentlich von Annahmen über die Wirkung von Steuerrechtsänderungen ab. Vgl. hierzu auch Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007,



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz205

Mit der Budgetsensitivität ist also ein Faktor zur Bestimmung der Konjunkturkomponente festgelegt. Dieser Faktor berücksichtigt die Wirkung der Konjunktur auf den Haushalt. Das Artikel 115-Gesetz bestimmt allerdings weder einen konkreten Maßstab noch eine Methode für die Ermittlung der Budgetsensitivität. Stattdessen verweist es in § 5 Abs. 4, wie für die Konjunkturkomponente insgesamt, auf die zu erlassende Rechtsverordnung.71 b) Erwartete konjunkturelle Lage – Produktionslücke Die Budgetsensitivität berücksichtigt, wie stark der Haushalt auf die Konjunktur reagiert, gibt jedoch keine Auskunft über die konjunkturelle Lage selbst. In der Konstruktion der Schuldenbremse übernimmt dies die Produktionslücke („output gap“). Als Differenz von erwartetem BIP und Produktionspotential ist sie das Maß für die (erwartete) konjunkturelle Situation. Die Konjunkturkomponente ergibt sich aus dem Produkt von Produktionslücke und Budgetsensitivität (§ 5 Abs. 3 G 115). Je nachdem wie hoch das Produktionspotential ausfällt, verändern sich auch die Produktionslücke und damit die Konjunkturkomponente insgesamt. Die bedeutsame Methode zur Berechnung des Produktionspotentials72 ist jedoch gesetzlich nicht vorgezeichnet. Das Ausführungsgesetz bezieht sich insofern zwar auf ein Konjunkturbereinigungsverfahren, konkretisiert es jedoch, abgesehen von einem pauschalen Verweis auf die europäische Praxis,73 nicht. Es eröffnet damit einen weiten Auslegungsspielraum. Die hier in Frage kommenden Konjunkturbereinigungsverfahren sind Schätzverfahren zur Bestimmung des Produktionspotentials.74 Das Produktionspotential entspricht jenem BIP, welches bei normaler Auslastung der Produktionsfaktoren produziert werden kann.75 Der Aussagegehalt des Produktionspotentials lässt sich jedoch nicht vollständig isolieren von dem Verfahren zu seiner Bestimmung. Das gesamtwirtschaftliche Produktionspotential ist ein (abstraktes) wirtschaftswissenschaftliches Konzept und keine Rn. 237. Die korrekte Höhe der Elastizitäten ist strittig, siehe Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung, Ermittlung der Konjunkturkomponenten für die Länderhaushalte zur Umsetzung der in der Föderalismuskommission II vereinbarten Verschuldungsbegrenzung, 2010, S. 38. Siehe hierzu unten Abschnitt B.I.1.b). 71  Siehe hierzu Abschnitt A.II.3. 72  Dazu sogleich. Zum Begriff des Produktionspotentials siehe oben Abschnitt A.II.1. 73  Siehe unten Abschnitt A.II.2.c). 74  Das Konjunkturbereinigungsverfahren und das Verfahren zur Schätzung des Produktionspotentials können daher im Folgenden synonym verwendet werden. 75  Siehe oben Abschnitt A.II.1.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

Größe, die unmittelbar messbar ist. Es kann daher nicht einfach statistisch erhoben werden.76 Stattdessen nähert man sich dem Potential durch verschiedene Schätzverfahren zur Konjunkturbereinigung; abhängig von deren Ausgestaltung ändert sich allerdings auch die Interpretation des Produktionspotentials.77 Die Eignung der unterschiedlichen Verfahren kann zudem nur sehr eingeschränkt bewertet werden, da das Produktionspotential nicht beobachtbar ist.78 Alle Konjunkturbereinigungsverfahren treffen grundsätzliche Annahmen darüber, wie sich die gesamtwirtschaftliche Produktionskapazität zusammensetzt.79 Die Wirtschaftswissenschaften kategorisieren die verschiedenen Verfahren zur Berechnung des Produktionspotentials regelmäßig in zwei Gruppen: zum einen die statistischen Analyseverfahren und zum anderen die produktionstheoretisch fundierten Verfahren, die auf einer Produktionsfunktion beruhen.80 76  Lediglich durch Befragungen von Unternehmen, beispielsweise im verarbeitenden Gewerbe, können Potentiale für einzelne Sektoren der Wirtschaft bestimmt werden, siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2003, Rn. 737. 77  Siehe hierzu sogleich die Unterscheidung von statistischen Verfahren und solchen, die eher produktionstheoretisch fundiert sind. Vgl. auch Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2007, Rn. 694. 78  Um die Qualität der Schätzverfahren bewerten zu können, bieten sich folgende (heuristische) Kriterien an: Die Schätzergebnisse sollten sich nicht in deutlichem Widerspruch zu den Befragungen der Kapazitätsauslastung von Unternehmen befinden. Zudem sollte die Schwankungsintensität des Produktionspotentials im Mittel deutlich geringer sein als die des BIP. Langfristig betrachtet sollte die Summe der Produktionslücken nicht zu stark von null abweichen. Siehe Deutsche Bundesbank, Zur Entwicklung des Produktionspotentials in Deutschland, Monatsbericht März 2003, S. 43 (49 f.). Als Näherungsgröße für die Eignung der Verfahren kann außerdem deren Revisionsanfälligkeit herangezogen werden. Demnach ist zu prüfen, wie stark die ursprünglichen Schätzungen am aktuellen Rand von den zu einem späteren Zeitpunkt aktualisierten Schätzungen abweichen, siehe Deutsche Bundesbank, Zur Verlässlichkeit der Schätzungen internationaler Organisationen zur Produktionslücke, Monatsbericht April 2014, S. 13 (20). Siehe hierzu auch unten Abschnitt B.II.1. 79  In Frage kommen sowohl aggregierte als auch disaggregierte Verfahren, wie sie beispielsweise vom Sachverständigenrat verwendet werden. Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2005/06, S. 525 ff. sowie Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung, Ermittlung der Konjunkturkomponenten für die Länderhaushalte zur Umsetzung der in der Föderalismuskommission II vereinbarten Verschuldungsbegrenzung, 2010, S. 6. 80  Vgl. Europäische Zentralbank, Potentialwachstum und Produktionslücke: Begriffsabgrenzung, Anwendungsbereiche und Schätzergebnisse, EZB Monatsbericht Oktober 2000, S. 40 ff.; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaft-



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz207

aa) Statistische Konjunkturbereinigungsverfahren Bei den sogenannten statistischen Verfahren wird das BIP in eine strukturelle Trendkomponente und eine konjunkturelle Komponente zerlegt.81 Sodann glätten die Verfahren die Entwicklung des BIP, um auf diese Weise konjunkturelle Schwankungen auszublenden. Ein häufig verwendetes Verfahren ist die Filtermethode nach Hodrick und Prescott (HP-Filter),82 welche aus einer BIP-Zeitreihe eine Trendkomponente „herausfiltert“.83 Dieser Trend, auch Trendoutput genannt, wird dann als Normalauslastung des Produktionspotentials interpretiert. Dies bedeutet, dass das Produktionspotential mit dem langfristigen Trend des BIP gleichgesetzt wird.84 Diese Herangehensweise hat mehrere Vorteile: Weil die Filterverfahren auf Quartalszahlen zurückgreifen, können sie auch jüngere Entwicklungen berücksichtigen. Da die Filtermethode transparent und leicht nachzuvollziehen ist, zeigt sie sich auch relativ resistent gegenüber verdeckten Manipulationen.85 Der Sachverständigenrat empfiehlt aus diesem Grund nachdrücklich, bei der Berechnung der Schuldengrenze statistische Filterverfahren zu verwenlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2003, Rn. 738 sowie Steger, Das Produktionspotential in Euroland, in: Konjunktur-Zinsen-Währungen, 1/2001, S. 3. Die statistischen Schätzmethoden können zudem noch in univariate und multivariate Schätzmethoden unterteilt werden. 81  Die statistischen Verfahren sind zumeist univariate Verfahren, das heißt sie verwenden nur eine Zeitreihe. Das Produktionspotential wird aus der Zeitreiheninformation der Produktion selbst abgeleitet, in der Regel aus den aneinandergereihten Quartalszahlen des BIP. Vgl. hierzu Sachverständigenrat zur Begutachtung der ­gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2003, Rn. 740 ff. Die multivariaten Verfahren beziehen weitere Variablen und Zeitreihen mit ein, insbesondere Inflationsdaten. Siehe Europäische Zentralbank, Potentialwachstum und Produktions­ lücke: Begriffsabgrenzung, Anwendungsbereiche und Schätzergebnisse, EZB Monats­ bericht Oktober 2000, S. 42. 82  Hodrick/Prescott, Postwar U.S. Business Cycles: An Empirical Investigation, in: Journal of Money, Credit, and Banking, no. 29 (1), 1997, S. 1. 83  Weitere statistische Filterverfahren sind beispielsweise der Filter von Baxter/ King, Measuring Business Cycles: Approximate Band-pass Filters for Economic time Series, in: Review of Economics and Statistics, no. 81, 1999, S. 575; der sogenannte Bandpass-Filter von Christiano/Fitzgerald, The Band Pass Filter, in: NBER Working Paper, no. 7257, 1999 oder auch der äußerst komplexe Kalman-Filter, Kalman, A New Approach to Linear Filtering and Prediction Problems, Journal of Basic Engineering, 1960, S. 35. 84  Ausführlich zu den empirischen Eigenschaften des HP-Filters und seiner Ausgestaltung siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn. 225. 85  Werden einzelne Parameter des Filters verändert, führt dies selbstverständlich auch zu anderen Ergebnissen. Diese Eingriffe sind jedoch relativ leicht nachzuvollziehen.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

den.86 Von Nachteil ist jedoch, dass der Trend die tatsächliche Entwicklung des BIP lediglich ex post nachzeichnet. In einer länger andauernden Phase wirtschaftlicher Schwäche unterschätzt er so das eigentliche Produktions­ potential.87 Weicht der Konjunkturverlauf also von den üblichen Schwankungen eines Konjunkturzyklus ab, bildet diese Methode das Produktionspotential nur unzureichend ab.88 Beispielsweise kann der HP-Filter einen Konjunkturzyklus fälschlicherweise herausfiltern, der so nicht tatsächlich existiert, sondern (teilweise) struktureller Natur ist.89 Insbesondere Politikmaßnahmen, die die Wachstumsmöglichkeiten der Volkswirtschaft nachhaltig verändern, können durch diese Methode nicht prognostiziert, sondern nur nachverfolgt werden. Gleiches gilt für die Auswirkungen von Sondereinflüssen und Strukturbrüchen. Diese werden selbst bei deutlichen Verschiebungen im BIP-Niveau oder BIP-Wachstum geglättet. Ein weiterer Nachteil des HP-Filters ist zudem sein Randwertproblem. Da die Filtermethode auf einen unendlichen Zeithorizont zugeschnitten ist, aber nur endliche BIP-Zeitreihen als Daten zur Verfügung stehen, kommt es zu Verzerrungen, wodurch die ersten und letzten Werte der Zeitreihe unverhältnismäßig stark gewichtet werden.90 Streng genommen ist der so ermittelte Trendoutput nur eine Näherungsgröße, die allein durch ein statistisches Verfahren bestimmt wird. Der Be86  So zuletzt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaft­ lichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn. 161 und 220 sowie Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2007, Rn. 699: „Ihre [d. h. die statistischen Filterverfahren] Manipulationsresistenz ist insbesondere im Rahmen politisch heikler und ökonomisch sensibler Fragestellungen, wie zum Beispiel der Messung des strukturellen Defizits für den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt, von Vorteil.“ 87  Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2003, Rn. 734. Gleiches gilt für eine Überauslastung, nur mit anderen Vorzeichen. 88  Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2007, Rn. 700: „Nachteilig bei den statistischen Filterverfahren ist, dass die Konjunktur nur als relativ regelmäßige Schwankung um einen Trend modelliert werden kann. Die Diagnose sehr lang anhaltender Unterauslastung oder Überauslastung ist konstruktionsbedingt ausgeschlossen.“ 89  Siehe hierzu und im Folgenden Europäische Zentralbank, Potentialwachstum und Produktionslücke: Begriffsabgrenzung, Anwendungsbereiche und Schätzergebnisse, EZB Monatsbericht Oktober 2000, S. 43. 90  Aus diesem Grund verwendet die Schweizer Schuldenbremse einen modifizierten HP-Filter (MHP-Filter), der das Randwertproblem verringert, ohne es vollständig zu beheben, siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn. 224. Siehe oben 1. Teil Abschnitt C.I.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz209

griff des Trendwachstums wird allerdings in den Wirtschaftswissenschaften regelmäßig synonym zum Produktionspotential verwendet.91 Diese Methode der Potentialschätzung glättet den Konjunkturverlauf und genügt damit der grundgesetzlichen Anforderung der Konjunkturbereinigung (Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG). Offen bleibt jedoch, wie stark der Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung „begradigt“ werden muss, um konjunkturell bedingte Schwankungen auszublenden.92 bb) Produktionstheoretische Konjunkturbereinigungsverfahren Die zweite Gruppe der Schätzverfahren ist produktionstheoretisch fundiert. Dies bedeutet, dass sie das Produktionspotential aus einer komplizierten Produktionsfunktion ableiten.93 Diese Verfahren greifen stärker auf ökonomische Theorien zurück.94 Hierbei fließen verschiedene volkswirtschaftliche Größen, wie beispielsweise der Kapitalbestand des Unternehmenssektors, die Höhe des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsvolumens oder die Produktionselastizität des Faktors Arbeit, in die Schätzungen mit ein. Die produktionstheoretischen Ansätze sind in der Regel sehr kompliziert und lassen sich nicht noch einmal in einzelne Verfahrensgruppen unterteilen, da sie zahlreiche „Stellschrauben“ haben, die jeweils (leicht) modifiziert werden können. In der Regel orientieren sich diese Verfahren an dem ursprünglichen Konzept des Produktionspotentials, welches 1962 von Arthur M. Okun entwickelt 91  Siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn. 219: „In dieser Expertise wird das Produktionspotential als der Trendwert des Bruttoinlandsprodukts interpretiert und diese ‚Näherungsgröße‘ des Potentials zur Bestimmung des Konjunkturfaktors verwendet.“ sowie ders., Jahresgutachten 2003 Rn. 735. 92  Dies betrifft bei der HP-Filter-Methode die Frage nach der Wahl des sogenannten Glättungsparameters „Lambda“, der dafür verantwortlich ist, wie stark der Konjunkturverlauf geglättet werden soll, siehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2003, Rn. 741 sowie Economic Policy Committee, Report on potential output and the output gap, ECFIN/ EPC/670/01/en, 2001, S. 3 ff. 93  Auch die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse wird auf der Grundlage einer Produktionsfunktion (vom Typ Cobb-Douglas) ermittelt. Siehe § 2 Abs. 2 S. 2 der Artikel 115-Verordnung – Art 115 V, BGBl. I 2010, S. 790. Siehe hierzu unten Abschnitt B.I.1.a). 94  Siehe hierzu Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2003, Rn. 745  ff. und Jahresgutachten 2007, Rn. 701. Sowohl die OECD als auch der IWF greifen ebenfalls auf dieses Verfahren der Potentialschätzung zurück. Vgl. hierzu ausführlich Deutsche Bundesbank, Zur Verlässlichkeit der Schätzungen internationaler Organisationen zur Produktionslücke, Monatsbericht April 2014, S. 13 ff.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

wurde.95 Hiernach beschreibt das Produktionspotential das Niveau des BIP, das unter Normalauslastung der Produktionsfaktoren produziert werden kann, ohne Spannungen auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Preisstabilität zu verursachen.96 Die Normalauslastung der Faktoren Arbeit und Kapital ist damit nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung. Sie darf nicht auf Kosten der Stabilität erreicht werden, also beispielsweise durch starken Inflationsdruck.97 Diese zusätzliche Bedingung lässt sich kaum in statistischen Verfahren berücksichtigen, sondern erfordert eine stärker wirtschaftstheoretische Bewertung der volkswirtschaftlichen Situation. Die produktionstheoretisch fundierten Verfahren modellieren die angebotsseitigen Bestimmungsgrößen des volkswirtschaftlichen Wachstums in einer Produktionsfunktion. Vereinfacht ausgedrückt analysiert die Produktionsfunktion die verfügbaren Kapazitäten der Volkswirtschaft. Sie wird grundsätzlich gebildet aus den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sowie der sogenannten Totalen Faktorproduktivität (TFP), die als (bedeutende) Residualgröße98 insbesondere den Einfluss des technischen Fortschritts abbildet.99 Durch diese wirtschaftstheoretische Herangehensweise lassen sich insbesondere Veränderungen des technischen Fortschritts und der Produktivitäts95  Vgl. Okun, Potential GNP: Its Measurement and its Significance, in: Proceed­ ings of the Business and Economic Statistics Section, American Statistical Association (Hrsg.), 1962, S. 93. 96  Siehe Assenmacher, Konjunkturtheorie, 1998, S. 29. 97  „Potential GNP [Gross National Product] is a supply concept, a measure of productive capacity. But it is not a measure of how much output can be generated by unlimited amounts of aggregate demand. […] The full employment goal must be understood as striving for maximum production without inflationary pressure“, Okun, Potential GNP: Its Measurement and its Significance, in: Proceedings of the Business and Economic Statistics Section, American Statistical Association (Hrsg.), 1962, S. 93. 98  Der Anteil der Totalen Faktorproduktivität (TFP) am gesamten Produktionspotential liegt regelmäßig über 40 %. Vgl. hierzu die Wachstumszerlegung der Deutschen Bundesbank und des Bundesfinanzministeriums: Deutsche Bundesbank, Zur Entwicklung des Produktionspotentials in Deutschland, Monatsbericht März 2003, S. 43 (47) und Bundesministerium der Finanzen, Die Ermittlung der Konjunkturkomponente des Bundes im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Februar 2011, S. 66 (70). 99  Unter der Totalen Faktorproduktivität (TFP) werden aber auch weitere qualitative Elemente berücksichtigt, die nicht eindeutig den Faktoren Arbeit oder Kapital zugeordnet werden können, beispielsweise Qualitätsverbesserungen oder auch modernere Produktionsverfahren. Allerdings wird darunter auch ein „unerklärter Rest“ subsumiert, der beispielsweise auf Unzulänglichkeiten des statistischen Datenmaterials zurückzuführen ist, siehe Deutsche Bundesbank, Das Produktionspotential in Deutschland und seine Bestimmungsfaktoren, Monatsbericht August 1995, S. 41 (50).



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz211

entwicklungen der Faktoren „Arbeit“ und „Kapital“ besser abbilden. Auch strukturelle Veränderungen können so berücksichtigt werden, beispielsweise demographische Entwicklungen (Migration), strukturpolitische Maßnahmen oder exogene Schocks. Die Prognose für die zukünftige Entwicklung beruht damit auf einer stärker wirtschaftstheoretischen Analyse und wird nicht bloß statistisch geschätzt. Diese Vorteile gehen jedoch zu Lasten der Transparenz. Produktionstheoretische Verfahren sind deutlich komplexer und damit auch gestaltungsanfällig. Zudem sind diese Verfahren stark abhängig von der Qualität und Verfügbarkeit der Daten für die einzelnen Produktionsfaktoren. Auch sie kommen letztlich nicht ohne Filter- und Trendbereinigungsverfahren aus, beispielsweise bei der Approximation der strukturellen Arbeitslosigkeit.100 Im Unterschied zu den statistischen Filterverfahren (z. B. HP-Filter) setzen die produktionstheoretisch fundierten Verfahren das Produktionspotential jedoch nicht mit dem Trend des Bruttoinlandsprodukts gleich. Sie versuchen stattdessen, die einzelnen Faktoren des Produktionspotentials zu bestimmen und ihre jeweiligen Entwicklungen zu schätzen, um sich auf diese Weise dem Produktionspotential zu nähern. cc) Bestimmung der konjunkturellen Situation für die Schuldenbremse Sowohl die statistischen Schätzverfahren als auch die produktionstheoretisch fundierten Verfahren zur Potentialschätzung genügen den Anforderungen des Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG und des Ausführungsgesetzes (§ 5 Abs. 2 S. 2 G 115), da sie eine „normalausgelastete“ gesamtwirtschaftliche Produktion und damit ein konjunkturbereinigtes BIP schätzen. Welche Konjunkturbereinigungsverfahren verwendet werden sollen, lässt das Gesetz offen. Die statistischen Filterverfahren erscheinen aus rechtspolitischer Sicht vorzugswürdig, da sie leichter nachzuvollziehen, transparenter und dadurch weniger manipulationsanfällig sind.101 Ausgeschlossen sind lediglich solche Schätzverfahren, die den Konjunkturverlauf nicht bereinigen, sondern nur historische Daten fortschreiben (extrapolieren). Hierbei handelt es sich zumeist um ältere Methoden.102 100  Vgl. Deutsche Bundesbank, Zur Entwicklung des Produktionspotentials in Deutschland, Monatsbericht März 2003, S. 43 (46). 101  Das Bundesministerium der Finanzen hat in der Artikel 115-Verordnung (Art 115 V) allerdings festgelegt, dass das Produktionspotential mit einem produktionstheoretischen Konjunkturbereinigungsverfahren, einer Produktionsfunktion vom Typ Cobb-Douglas, geschätzt wird. Die Cobb-Douglas-Produktionsfunktion ist ein prominentes und regelmäßig verwendetes Beispiel dieses Verfahrensansatzes. Siehe hierzu Abschnitt B.I.1.a). 102  Wie zum Beispiel die sogenannte „peak-to-peak“-Methode, die lediglich die absoluten Hochpunkte konjunktureller Hochphasen linear miteinander verbindet und

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

Um nun die für die Schuldenbremse relevante konjunkturelle Situation anhand der Produktionslücke zu bestimmen, wird das Produktionspotential mit dem erwarteten Produktionsniveau (BIP) verglichen. Maßgeblich ist das zu schätzende BIP jenes Haushaltsjahres, für das der Haushalt aufgestellt wird. Im Gegensatz zum BIP der Strukturkomponente, welches gemäß § 4 G 115 durch das Statistische Bundesamt ermittelt wird, lässt das Ausführungsgesetz (G 115) allerdings offen, wie und von wem das hier relevante BIP geschätzt wird.103 Das Gesetz (§ 5 Abs. 4 S. 1 G 115) reicht das Schätzverfahren an die Rechtsverordnung des Bundesministeriums der Finanzen weiter. § 2 Abs. 4 der Verordnung über das Verfahren zur Bestimmung der Konjunkturkomponente nach § 5 des Artikel 115-Gesetzes (Artikel 115-Verordnung – Art 115 V)104 legt als Datengrundlage die Angaben der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen des Statistischen Bundesamtes sowie die jeweils aktuelle gesamtwirtschaftliche Vorausschätzung der Bundesregierung für die kurze und die mittlere Frist fest. Der Verordnungsgeber nimmt bewusst in Kauf, dass die aktuellen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) des Statistischen Bundesamtes die tatsächliche Wirtschaftslage nicht fehlerfrei abbilden können, da die VGR-Daten noch über Jahre hinweg rückwirkend angepasst werden.105 Die Vorausschätzungen der Bundesregierung sind ebenfalls mit wesentlichen Unsicherheiten behaftet.106 In diesem Zusammenhang übernimmt das Kontrollkonto eine wichtige Funktion, da es mit seinem Ex-Post-Maßstab – bereits zum Zeitpunkt der Berechnung der Konjunkturkomponente – der Verwendung wirklichkeitsfremder Daten entgegenwirkt.107

so auf das erreichbare Produktionspotential schließt. Für die aktuellen Werte, bei denen noch kein Höhepunkt zu erkennen ist, wird der Wachstumstrend des Potentials einfach fortgeschrieben. Die Schätzergebnisse sind daher sehr ungenau. Siehe Deutsche Bundesbank, Das Produktionspotential in Deutschland und seine Bestimmungsfaktoren, Monatsbericht August 1995, S. 41 (43 f.) sowie Steger, Das Produktionspotential in Euroland, in: Konjunktur-Zinsen-Währungen, 1/2001, S. 3. 103  Bei der Strukturkomponente wird zudem jenes BIP (ex post) zugrundegelegt, welches dem Jahr der Haushaltsaufstellung vorangegangen ist. Siehe oben 3. Teil Abschnitt B.II.1.a). 104  Artikel 115-Verordnung vom 9. Juni 2010, BGBl. I 2010, S. 790. Siehe hierzu unten Abschnitt B.I. 105  Die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen unterliegen fortlaufenden, kleineren Revisionen (jährlich jeweils für die zurückliegenden vier Jahre) und werden etwa alle fünf Jahre in Generalrevisionen überarbeitet, siehe Statistisches Bundesamt, Qualitätsbericht Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, 2014, S. 8. Grobe Fehlschätzungen in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen für das zu erwartende BIP können daher die Konjunkturkomponente erheblich verzerren. 106  Siehe hierzu unten Abschnitt B.II.3. 107  Siehe unten Abschnitt A.III.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz213

c) Übereinstimmung mit dem europäischen Konjunkturbereinigungsverfahren Das Ausführungsgesetz reicht die Ausgestaltung der Konjunkturkomponente und damit auch die Auswahl des anzuwendenden Verfahrens an die Rechtsverordnung weiter, wobei die Einzelheiten des Verfahrens in Übereinstimmung mit dem im Rahmen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes angewandten Konjunkturbereinigungsverfahren festzulegen sind.108 Satz 1 des § 5 Abs. 4 G 115 konkretisiert damit die Konjunkturkomponente durch einen Verweis auf europäisches Recht. Der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt, insbesondere der Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“, wirkt generell interpretationsleitend für die Schuldenbremse.109 An dieser Stelle verweist das Ausführungsgesetz jedoch erstmals explizit auf die europäische Ebene. Es stellt sich damit die Frage, ob der Verweis auf die europäische Praxis statisch oder dynamisch zu verstehen ist: Verweist § 5 Abs. 4 S. 1 G 115 auf das konkrete Verfahren zum Zeitpunkt der Verfassungsänderung oder bezieht er sich dynamisch auf das Verfahren, welches jeweils aktuell auf europäischer Ebene verwendet wird? Das Grundgesetz spricht in Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG nur von der Verwendung „eines Konjunkturbereinigungsverfahrens“, verweist also mit dem unbestimmten Artikel auf keinen konkreten Rechtsakt oder eine dokumentierte Praxis.110 Es verlangt zwar, dass der zum Zeitpunkt der Verfassungsänderung vorgefundene Bedeutungsgehalt des Begriffs „Konjunkturbereinigungsverfahren“ in Ausführungsgesetz und Verordnung berücksichtigt wird,111 legt sich damit aber nicht auf ein bestimmtes Verfahren fest. Der Begriff „Konjunkturbereinigungsverfahren“ ist ein Oberbegriff, der mehrere Methoden zur Produktionspotentialschätzung zulässt.112 Und auch das Motiv des Gleichklanges mit dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt113 bietet keinen Hinweis auf die Art des Verweises. Aus der Verfassung lässt sich demnach nicht auf einen statischen Verweis des Ausführungsgesetzes auf die 2009 angewandte europäische Praxis der Konjunk108  Zur Vereinbarkeit der Verordnungsermächtigung mit Art. 80 Abs. 1 GG siehe unten Abschnitt A.II.3. 109  Siehe hierzu oben 2. Teil Abschnitt A.III.1. und 3. Teil Abschnitt B.I. 110  Siehe Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, in: JZ 2009, S. 721 (725). 111  Siehe Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, in: JZ 2009, S. 721 (725). 112  Vgl. oben Abschnitt A.II.2.b). 113  Siehe Gesetzesbegründung, BR-Drs.  262/09, S. 28.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

turbereinigung schließen. Die Bereinigungsverfahren müssen jedoch dem Symmetrieerfordernis und dem Ziel eines langfristig ausgeglichenen Haushalts genügen.114 Auch die einfachgesetzliche geforderte „Übereinstimmung mit dem im Rahmen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes angewandten Konjunkturbereinigungsverfahren“ ist nicht als statischer Verweis zu verstehen. Hierfür spricht insbesondere, dass die gemeinschaftsrechtliche Konjunkturbereinigung nicht statisch rechtsförmlich geregelt ist, weder primärnoch sekundärrechtlich. Sie stützt sich lediglich auf einen Beschluss des ECOFIN-Rates vom 12. Juli 2002.115 Darin benennt er die Produktionsfunktionsmethode als Referenzmethode zur Schätzung der gesamtwirtschaftlichen Produktionslücke.116 Bei der Produktionsfunktionsmethode handelt es sich allerdings nicht um einen geschlossenen, klar umrissenen Ansatz, sondern vielmehr um eine grundsätzliche Herangehensweise, die konkret ausgestaltet werden muss.117 Zudem begrüßt der ECOFIN-Rat in seinem Beschluss die Absicht der Kommission, den Produktionsfunktionsansatz nicht-mechanistisch, transparent und konsistent anzuwenden. Mit dem Zusatz „nicht-mechanistisch“ verstärkt der Rat nochmals erheblich den Ausgestaltungsspielraum der Kommission. Für eine Übergangzeit soll daneben 114  Siehe

oben 3. Teil Abschnitt B.III.1.b). des ECOFIN-Rates, Pressemitteilung Nr. 10668/02 vom 12.  Juli 2002, S. 11, http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/eco fin/71577.pdf (abgerufen am 8.4.2017). Grundlage für den Beschluss ist der „Report on Potential Output and the Output Gap“ des Economic Policy Committee (EPC), ECFIN/EPC/670/01 vom 25. Oktober 2001, http://ec.europa.eu/economy_finance/pub lications/pages/publication_summary6588_en.htm (abgerufen am 8.4.2017). Der Beschluss wurde wiederholt im ECOFIN-Rat am 11.  Mai 2004, PV/CONS 25  – ECOFIN 179 i. V. m. 8624/04 ECOFIN 137 UEM 62 STATIS 37, basierend auf dem „EPC Report on Potential Output and Output Gaps“, EPC/ECFIN/156/-04 final vom 23. März 2004. 116  Die Produktionslücke ist zentraler Maßstab bei der Beurteilung der europäischen Stabilitäts- und Konvergenzprogramme. Die in diesen Programmen festgelegten mitgliedstaatspezifischen mittelfristigen Haushaltsziele („medium term budgetary objectives – MTO“) müssen ebenso um konjunkturelle Einflüsse bereinigt werden wie die jährlichen Anpassungspfade in Höhe von 0,5 % des BIP in Richtung des mittelfristigen Haushaltsziels. Die Anforderungen an die Programme und die Berechnung der mittelfristigen Haushaltsziele werden nicht rechtsförmlich, sondern lediglich in einem „code of conduct“ geregelt. Dieser „code of conduct“ wird vom europäischen Wirtschafts- und Finanzausschuss (Art. 134 AEUV) erstellt und vom ECOFIN-Rat befürwortet: „Specifications on the implementation of the Stability and Growth Pact and Guidelines on the format and content of Stability and Convergence Programmes“, zuletzt beschlossen vom ECOFIN Rat am 3.9.2012, http://ec.europa. eu/economy_finance/economic_governance/sgp/pdf/coc/code_of_conduct_en.pdf (abgerufen am 8.4.2017). 117  Siehe hierzu oben Abschnitt A.II.2.b). 115  Beschluss



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz215

auch noch die HP-Filter-Methode118 unterstützend angewendet werden. Seit dem Beschluss aus dem Jahr 2002 hat die Europäische Kommission die Produktionsfunktionsmethode wiederholt verändert und angepasst, zuletzt 2014.119 Sie stützt sich hierbei insbesondere auf die Arbeit der sogenannten „Output Gaps Working Group“,120 eine Arbeitsgruppe des Economic Policy Committee,121 die seit 1999 in regelmäßigen Abständen tagt.122 Die auf europäischer Ebene vorgenommene Konjunkturbereinigung muss zudem länderspezifische Besonderheiten berücksichtigen können, da ansonsten nicht valide Schätzergebnisse drohen. Neben strukturellen Veränderungen im Steuer- und Leistungsrecht gilt es beispielsweise, die traditionell starke Exportorientierung der deutschen Wirtschaft angemessen zu berücksichtigen.123 Das Ausführungsgesetz kann demzufolge nicht auf ein konkretes Verfahren verweisen. Die von Satz 1 des § 5 Abs. 4 G 115 geforderte Übereinstimmung meint daher keine vollständige Identität mit einem konkreten europäischen Verfahren, sondern eine gleichartige Methodik. Das Ausfüh118  Vgl.

oben Abschnitt A.II.2.b)aa). Havik/McMorrow/Orlandi et al., The production function methodology for calculating potential growth rates and output gaps, in: European Economy – Economic Papers, No. 535, 2014 und D’Auria/Denis/Havik/McMorrow et al., The production function methodology for calculating potential growth rates and output gaps, in: European Economy – Economic Papers, No. 420, 2010, S. 6. 120  Vgl. https://europa.eu/epc/output-gaps-working-group_en (abgerufen am 8.4. 2017). 121  Das Economic Policy Committee (Wirtschaftspolitischer Ausschuss) wurde vom Rat der EG am 18.2.1974 eingesetzt (74/122/EWG), zuletzt geändert durch Beschluss des Rates vom 18.6.2003 (2003/475/EG). 122  Die Zusammenfassung der fortlaufenden Änderungen und deren methodische Erläuterungen sind in vier aufeinander aufbauenden Aufsätzen der Mitglieder der „Output Gaps Working Group“ beschrieben: Denis/McMorrow/Röger, Production function approach to calculating potential growth and output gaps – estimates for the EU Member States and the US, in: European Economy – Economic Papers, No. 176, 2002; Denis/Grenouilleau/McMorrow/Röger, Calculating potential growth rates and output gaps – A revised production function approach, in: European Economy – Economic Papers, No. 247, 2006; D’Auria/Denis/Havik/McMorrow et al., The production function methodology for calculating potential growth rates and output gaps, in: European Economy – Economic Papers, No. 420, 2010; Havik/ McMorrow/Orlandi et al., The production function methodology for calculating potential growth rates and output gaps, in: European Economy – Economic Papers, No. 535, 2014. 123  Letztere wirkt sich auf die Zusammensetzung der aggregierten Nachfrage in Deutschland und damit insbesondere auf die Konjunkturbereinigung bei konjunkturellen Wendepunkten aus. Siehe hierzu beispielsweise André/Girouard, Measuring Cyclically-Adjusted Budget Balances for OECD Countries, in: OECD Economics Department Working Papers, no. 434, 2005, S. 9 f, Box. 1. 119  Vgl.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

rungsgesetz verlangt also, dass die europäische Methode zur Konjunkturbereinigung bei der deutschen Konjunkturkomponente berücksichtigt wird. Durch den Verweis soll die Konsistenz mit dem Regelwerk des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes sichergestellt werden.124 In diesem Lichte ist auch der Auftrag zur regelmäßigen Überprüfung und Fortentwicklung des § 5 Abs. 4 S. 2 G 115 zu sehen.125 Er beschränkt sich jedoch nicht darauf, methodische Neuerungen der europäischen Ebene aufzugreifen, sondern bezieht sich generell auf Fortentwicklungen der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung zur Konjunkturbereinigung. Aus dem dynamischen Verweis folgt nicht, dass eine veränderte europäische Praxis automatisch in die deutsche Schuldenbremse übernommen wird. Die Berechnung der Konjunkturkomponente kann nur durch den deutschen Gesetzgeber oder gegebenenfalls durch den Verordnungsgeber126 verändert werden. Sie folgt nicht „blind“ der europäischen Praxis.127 Aus Sicht des Demokratieprinzips wäre es höchst bedenklich, wenn eine nationale Schuldengrenze mittels eines flexiblen europäischen Verfahrens berechnet würde und insbesondere von Entscheidungen des ECOFIN-Rates abhinge. d) Prüfung und Fortentwicklung unter Berücksichtigung des Standes der Wissenschaft Das Verfahren zur Bestimmung der Konjunkturkomponente ist nach § 5 Abs. 4 S. 2 G 115 regelmäßig unter Berücksichtigung des Standes der Wissenschaft zu überprüfen und fortzuentwickeln. Mit diesem gesetzlichen Auftrag reagiert der Gesetzgeber auf den geringen Erfahrungsschatz bei Kreditgrenzen, die mit Hilfe eines Konjunkturbereinigungsverfahrens bestimmt werden. Im internationalen Vergleich verwendet bislang lediglich die Schweiz seit 2003 ein solches Verfahren, um die zulässige Neuverschuldung zu ermitteln.128 Die dort eingeführte Schuldenbremse zeigt, dass Anpassungen beim Konjunkturbereinigungsverfahren notwendig sein können.129 In der konkreten Anwendung der deutschen Konjunkturkomponente können 124  Siehe

Gesetzbegründung, BR-Drs.  263/09, S. 41. hierzu sogleich Abschnitt A.II.2.d). 126  Siehe hierzu unten Abschnitt A.II.3. 127  Die Deutsche Bundesbank betont die Risiken einer vorbehaltlosen Übernahme der jüngsten europäischen Konjunkturbereinigungsmethode. Sie zeigt, dass ein Verfahrenswechsel die Symmetrie beeinträchtigen und Defizitspielräume erhöhen kann, siehe Deutsche Bundesbank, Anforderungen an die Konjunkturbereinigung im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Januar 2011, S. 59 (63). 128  Siehe oben 1. Teil Abschnitt C. 129  Statt des ursprünglich vorgesehenen einfachen HP-Filterverfahrens verwendet die Schweiz seit 2003/2004 den modifizierten HP-Filter. Vgl. oben 1.  Teil Abschnitt 125  Siehe



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz217

sich zudem Probleme ergeben, die aus heutiger Perspektive noch nicht absehbar sind.130 Neben der mangelnden Erfahrung bei der Anwendung reagiert § 5 Abs. 4 S. 2 G 115 mit seinem Tatbestandsmerkmal „Stand der Wissenschaft“ insbesondere auf die fortlaufende Entwicklung der ökonometrischen Konjunktur- und Elastizitätsforschung.131 Dieser Zweig der Ökonometrie hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht und ist weiterhin Gegenstand intensiver Forschung. Inwieweit zukünftige, neu entwickelte Modelle die bestehenden Methoden ersetzen können, ist derzeit nicht absehbar. Für die Schuldenbremse gilt jedoch der rechtliche Rahmen: § 5 Abs. 4 S. 2 G 115 eröffnet nicht nur einen Gestaltungsspielraum zur Weiterentwicklung, sondern setzt i. V. m. Art. 115 GG zugleich eine Schranke. Die Fortentwicklung des Verfahrens kann nur im bestehenden Rechtsrahmen des neuen Staatsschuldenrechts erfolgen. Das heißt, eine grundlegend neue Methodik zur Berechnung der Produktionslücke bedürfte einer gesetzlichen Ermächtigung und wäre nicht durch den offenen Vorbehalt des § 5 Abs. 4 S. 2 G 115 abgedeckt. 3. Vereinbarkeit der Verordnungsermächtigung mit Art. 80 Abs. 1 GG Das Ausführungsgesetz regelt die Einzelheiten des Verfahrens zur Bestimmung der Konjunkturkomponente nicht selbst, sondern verweist in § 5 Abs. 4 G 115 auf die Exekutive. Das Bundesministerium der Finanzen legt durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates fest, wie die Konjunkturkomponente bestimmt werden soll. Als Ermächtigungsgrundlage zum Erlass einer Rechtsverordnung muss § 5 Abs. 4 G 115 den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG genügen.132 C.I., Fn. 218 sowie Colombier, Eine Neubewertung der Schuldenbremse, in: Working Paper der Eidgenössischen Finanzverwaltung, No. 2, 2004, S. 46. 130  Zu Anpassungsproblemen beim HP-Filterverfahren könnten beispielsweise die Wahl des Glättungsparameters oder bei der Produktionsfunktionsmethode die Wahl der konkreten Faktoren führen. Siehe hierzu oben Abschnitt A.II.2.b). 131  Im Unterschied zu den Verfassungsreformen von 1967 und 1969, bei der der Verfassungsgesetzgeber bewusst den unbestimmten Rechtsbegriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts wählte, um diesen „für künftige Fortentwicklungen der wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnis offenzuhalten“, BVerfGE 79, 311 (338) (Staatsverschuldung I), benennt hier der einfache Gesetzgeber explizit den Stand der (Wirtschafts-)Wissenschaft als Tatbestandsmerkmal, siehe § 5 Abs. 4 S. 2 G 115. 132  Vgl. zu Art. 80 Abs. 1 GG u.  a. die Kommentierungen von Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Hrsg.), GG-Kommentar, 2011; Uhle, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: September 2015; Bauer, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 2006; Brenner, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

Die gesetzliche Grundlage (Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG) muss Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung hinreichend bestimmen (S. 2). Mit dieser Voraussetzungstrias begrenzt das Grundgesetz die exekutive Rechtssetzungsbefugnis und schützt so vor einer unzulässigen Überdehnung dieser Befugnis zu Lasten des rechtsstaatlichen Prinzips der Gewaltenteilung.133 Das Bundesverfassungsgericht betont zudem die demokratische Verantwortung des Parlaments: „Sinn der Regelung des Art. 80 Abs. 1 GG ist es, das Parlament darin zu hindern, sich seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft zu entäußern. Es soll nicht einen Teil seiner Gesetzgebungsmacht der Exekutive übertragen können, ohne die Grenzen dieser Befugnis bedacht und diese nach Tendenz und Programm so genau umrissen zu haben, daß schon aus der Ermächtigung erkennbar und vorhersehbar ist, was dem Bürger gegenüber zulässig sein soll.“134 Neben dieser Funktionssicherungs- und Begrenzungsfunktion135 erfüllt Art. 80 Abs. 1 GG den Zweck, den parlamentarischen Gesetzgeber zu entlasten, damit der Staat flexibel und notfalls reaktionsschnell agieren kann.136 Das Spannungsfeld dieser Funktionen unterstreicht die Bedeutung des Art. 80 Abs. 1 GG, der hier für das Verhältnis von Legislative und Exekutive maßstabbildend ist. Dies gilt insbesondere für das Bestimmtheitsgebot des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG. Der Wortlaut des Bestimmtheitsgebotes in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG verleitet dazu, die Begriffe „Inhalt, Zweck und Ausmaß“ jeweils getrennt voneinander zu prüfen und die Norm überwiegend normtextorientiert auszulegen.137 Demgegenüber betont das Bundesverfassungsgericht, dass sich die Kommentar, 2010; Maunz (Erstbearbeitung), in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, 1978 sowie monographisch Seiler, Der einheitliche Parlamentsvorbehalt, 2000 und Uhle, Parlament und Rechtsverordnung, 1999. 133  Neben dem Rechtsstaatsprinzip konkretisiert Art. 80 Abs. 1 GG auch das Demokratieprinzip und schützt i. V. m. der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 20 GG die Grundrechte. Grundlegend hierzu BVerfGE 33, 125 (158 f.) (Facharzt). Siehe Schulze-Fielitz, Art. 20 GG, in:, Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar 2006, Rn. 113 ff. Besondere Anforderungen an die Verordnungsermächtigung gelten insbesondere für Bereiche der unmittelbaren Grundrechtseinwirkung, beispielsweise im Straf- oder Steuerrecht. Vgl. Sannwald, Art. 80 GG, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Hrsg.), GG-Kommentar, 2011, Rn. 75 f. 134  BVerfGE 78, 249 (272) (Fehlbelegungsabgabe), St. Rspr. Vgl. BVerfGE 58, 257 (277) (Schulentlassung) m. w. N. 135  Siehe Bauer, Art. 80 GG, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 2006, Rn. 11. 136  Siehe Brenner, Art. 80 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2010, Rn. 8. 137  Siehe Bauer, Art. 80 GG, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 2006, Rn. 32. Bauer zeigt auf, dass eine engere Auslegung am Wortlaut möglich ist; bestätigend Uhle, Art. 80 GG, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: September 2015, Rn.  19. A. A. Brenner, Art. 80 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GGKommentar, 2010, Rn. 34 f. Zur Kritik an der „nicht immer schwankungsfreien



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz219

Begriffsinhalte teilweise erläutern, ergänzen und überschneiden und sich daher nicht trennscharf voneinander abgrenzen lassen.138 Das Gericht verfolgt daher einen Auslegungsansatz, der nicht starr auf die drei Einzelanforderungen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG abstellt, sondern das Bestimmtheitsgebot ganzheitlich versteht.139 Zur Prüfung, ob das ermächtigende Gesetz „hinreichend bestimmt“ ist, können die allgemeinen Auslegungsmethoden herangezogen werden, einschließlich des Sinnzusammenhangs und des Ziels der Norm sowie seiner Entstehungsgeschichte.140 Inhalt, Zweck und Ausmaß der Rechtsverordnung müssen also nicht ausdrücklich im Text der Ermächtigungsnorm bestimmt sein, sondern sich durch Auslegung ermitteln lassen.141 Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner frühen Judikatur drei „Formeln“ geprägt, mit Hilfe derer es versucht, die Bestimmtheit handhabbarer zu machen:142 die Selbstentscheidungs­ formel,143 die Vorhersehbarkeitsformel144 sowie die Programmformel.145 Ob eine Ermächtigungsnorm im Einzelnen den Anforderungen des Art. 80 Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichtes“ siehe Bauer, Art. 80 GG, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 2006, Rn. 31 m. w. N. 138  Siehe BVerfGE 38, 348 (357 f.) (Zweckentfremdung von Wohnraum). 139  Siehe Brenner, Art. 80 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2010, Rn. 35 sowie Seiler, Der einheitliche Parlamentsvorbehalt, 2000, S.  183 f. 140  Siehe BVerfGE 55, 207 (226 f.) (Öffentlicher Dienst). 141  Siehe Uhle, Art. 80 GG, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: September 2015, Rn. 24. 142  Vgl. Uhle, Art. 80 GG, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: September 2015, Rn. 19; Brenner, Art. 80 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2010, Rn. 36; Bauer, Art. 80 GG, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 2006, Rn. 33 jeweils m. w. N. Besonders prägend für die „Formel-Judikatur“ des BVerfG war insbesondere Wolff, Die Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen nach dem Grundgesetz, AöR 78 (1952/53), S. 194. Siehe hierzu auch Hasskarl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, AöR 94 (1969), S. 85 (102 f.). 143  „Der Gesetzgeber muß also selbst die Entscheidung treffen, daß bestimmte Fragen geregelt werden sollen, er muß die Grenzen einer solchen Regelung festsetzen und angeben, welchem Ziel die Regelung dienen soll.“, BVerfGE 2, 307 (334) (Gerichtsbezirke), St. Rspr. 144  „Jedenfalls fehlt es dann an der [nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG] nötigen Beschränkung, wenn die Ermächtigung so unbestimmt ist, daß nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können.“, BVerfGE 1, 14 (60) (Südweststaat), St. Rspr. 145  Aus dem Gesetz muss sich ergeben, „welches vom Gesetzgeber gesetzte ‚Programm‘ durch die Verordnung erreicht werden soll.“, BVerfGE 5, 71 (77) (Verordnungsermächtigung). Das Parlament darf nicht einen Teil seiner Gesetzgebungsmacht an die Exekutive übertragen, „ohne die Grenzen dieser Kompetenzen bedacht und diese nach Tendenz und Programm so genau umrissen zu haben, daß schon aus der

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

Abs. 1 S. 2 GG genügt, hängt jedoch wesentlich vom jeweiligen Regelungsgegenstand und der Regelungsintensität ab.146 Das Bundesverfassungsgericht sieht damit „ausreichend Raum für eine sachgerechte und situationsbezogene Lösung bei der Abgrenzung von legislativen und exekutiven Kompetenzen.“147 Regelungsgegenstand der Verordnungsermächtigung (§ 5 Abs. 4 G 115) ist die Bestimmung des Verfahrens der Konjunkturkomponente. Auch wenn die Verordnung damit nicht in grundrechtlich geschützte Bereiche eingreift,148 spricht die Bedeutung dieses Verfahrens für das Funktionieren der grundgesetzlichen Schuldenbremse doch dafür, die an die Ermächtigungsnorm zu stellenden Bestimmtheitsanforderungen nicht zu gering zu bemessen. Das Anliegen der Art. 109, 115 GG besteht gerade darin, dem Haushaltsgesetzgeber und der Exekutive ein enges Regelkorsett aufzuerlegen. Aus diesem Grund beauftragt Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG explizit den Bundesgesetzgeber, „das Verfahren zur Berechnung der Obergrenze der jährlichen Nettokreditaufnahme unter Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung auf der Grundlage eines Konjunkturbereinigungsverfahrens“ zu regeln. Das Grundgesetz nimmt den Gesetzgeber also besonders in die Pflicht.149 Doch wie weit reicht der Gesetzgebungsauftrag genau und welchen Bestimmtheitsanforderungen muss die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage genügen? Die Antwort folgt insbesondere aus dem Sinn und Zweck des Staatsschuldenrechts: Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG ist nur gewahrt, wenn die Exekutive nicht die Grenze der zulässigen Kreditaufnahme setzen kann. Der Wortlaut des Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG stützt diese Argumentation. Indem er ausdrücklich fordert, dass der Gesetzgeber das Nähere regeln muss, wird Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG „aufgeladen“. Der Gesetzgeber ist dazu verpflichtet, das „Wesentliche“ des „Näheren“ zu regeln. Hierzu zählt, dass das Berechnungsverfahren der Kreditobergrenze eindeutig durch das Gesetz bestimmt Ermächtigung erkennbar und vorhersehbar ist, was dem Bürger gegenüber zulässig sein soll.“, BVerfGE 58, 257 (277) (Schulentlassung), St. Rspr., m. w. N. 146  Vgl. BVerfGE 41, 251 (265 f.) (Speyer-Kolleg); BVerfGE 62, 203 (209 ff.) (§ 158 Nr. 1 StBerG). Siehe Uhle, Art. 80 GG, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: September 2015, Rn. 25 f. 147  BVerfGE 58, 257 (278) (Schulentlassung). 148  Bei Eingriffen in Grundrechte sind besonders hohe Anforderungen an das Bestimmtheitsgebot zu stellen. Vgl. BVerfGE 58, 257 (278) (Schulentlassung). Über die erhöhte Steuerbelastung zukünftiger Generationen betreffen die Staatsschulden allerdings mittelbar auch die Grundrechte. 149  Hierbei muss er den materiellen Rahmen beachten, den Art. 109 und 115 GG vorzeichnen, insbesondere die Ziele des materiellen Haushaltsausgleiches (siehe oben 3. Teil Abschnitt B.I.) und der Symmetrie von verkürztem und erweitertem Kreditrahmen.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz221

werden muss.150 Solche ausschlaggebenden Punkte dürfen nicht an die Verordnung weitergereicht werden.151 Die gesetzliche Kreditgrenze ist also nicht zuletzt Ausdruck des bundesverfassungsgerichtlich entwickelten Wesentlichkeitsvorbehaltes,152 der hier mit Rücksicht auf die demokratische Relevanz strikt zu handhaben ist. Dies ergibt sich aus dem normativen Umfeld der Delegationsnorm,153 denn in seinem Kern schützt das begrenzende Staatsschuldenrecht den Bürger vor einer übermäßigen Kreditaufnahme der Exekutive, um seine demokratischen Mitwirkungsrechte langfristig zu wahren.154 Respektiert die Ermächtigungsgrundlage die Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes und des Wesentlichkeitsvorbehaltes, ist sie verfassungskonform.155 Da die strukturelle Komponente der Neuverschuldungsgrenze mit maximal 0,35 % des BIP fixiert ist, hängt das jeweils aktuelle Kreditlimit von 150  Ein Blick auf die alte Rechtslage stützt diese Argumentation. Das Bundesverfassungsgericht kritisierte im ersten staatsschuldenrechtlichen Urteil 1989, dass der Gesetzgeber den ‒ für die alte Rechtslage ausschlaggebenden ‒ Begriff der Investition bis dahin nicht konkretisiert und damit den Regelungsauftrag des Art. 115 Abs. 1 S. 3 GG a. F. („Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.“) mißachtet habe: „Gibt die Verfassung dem parlamentarischen Gesetzgeber den Auftrag, ein verfassungsrechtliches Regelungskonzept, das ihn selbst – als Haushaltsgesetzgeber – betrifft, […] näher zu konkretisieren und damit erst zu vervollständigen, kann er sich dieser Aufgabe nicht entziehen; Anstrengungen repräsentativen Handelns, die damit verbunden sein mögen, darf gerade der parlamentarische Gesetzgeber im Interesse der demokratischen Ordnung des politischen Gemeinwesens nicht ausweichen.“ BVerfGE 79, 311 (356 f.) (Staatsverschuldung I). Vgl. auch BVerfGE 79, 311 (336 ff., 352, 355 f.) (Staatsverschuldung I). 151  Vgl. auch Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 228: „mit Blick auf den grundlegenden wesentlichen Regelungsgehalt gelten aber strenge Bestimmtheitsanforderungen.“ 152  Vgl. BVerfGE 49, 89 (126 f.) (Kalkar I); BVerfGE 58, 257 (274) (Schulentlassung); BVerfGE 83, 130 (152) (Mutzenbacher) sowie Brenner, Art. 80 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2010, Rn. 32. Die Abgrenzung zwischen den Anforderungen, die sich aus dem Bestimmtheitsgebot (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG) ergeben, und denen des Wesentlichkeitsvorbehalts sind nicht immer trennscharf, siehe ders., Art. 80 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2010, Rn. 34 sowie ausführlich Nierhaus, Bestimmtheitsgebot und Delegationsverbot des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG und der Gesetzesvorbehalt der Wesentlichkeitstheorie, in: FS für Stern, 1997, S. 717 (720 ff.). 153  Siehe Seiler, Der einheitliche Parlamentsvorbehalt, 2000, S. 242. 154  Vgl. oben 1. Teil Abschnitt A.II.3. 155  Die in zahlreichen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts erhobene Forderung, dass Tendenz und Programm der Verordnung erkennbar und vorhersehbar sein müssen (vgl. BVerfGE 58, 257 [277] [Schulentlassung] m. w. N. der st. Rspr.), muss für das Staatsschuldenrecht bereichsspezifisch konkretisiert werden. Eine bloße Tendenz, die anzeigt, ob mehr oder weniger Verschuldung zulässig ist, reicht selbstverständlich nicht aus.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

der konjunkturellen Komponente ab. § 5 Abs. 3 G 115 bestimmt, dass die Konjunkturkomponente das Produkt von Produktionslücke und Budgetsensitivität ist. Die Produktionslücke ist gemäß § 5 Abs. 2 S. 2 G 115 auf der Grundlage eines Konjunkturbereinigungsverfahrens zu schätzen. Das Gesetz verzichtet darauf, das genaue Verfahren der Konjunkturbereinigung zu bestimmen, obwohl es zentraler Dreh- und Angelpunkt für die Berechnung der Neuverschuldungsgrenze ist.156 Dabei entscheidet die Schätzung der Produktionslücke bzw. des Produktionspotentials letztendlich nicht nur darüber, in welchem Maß die Konjunkturkomponente die Grenze der Nettokreditaufnahme verändert, sondern auch darüber, ob überhaupt eine Unter- oder Überauslastung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten vorliegt. Unterschiedliche Schätzmethoden können hierbei mitunter zu Ergebnissen mit unterschiedlichen Vorzeichen kommen.157 Da das Ausführungsgesetz darüber hinaus auch die Normallage nicht positiv definiert – obwohl im ursprünglichen Entwurf des Bundesfinanzministeriums explizit gefordert158 – und die Budgetsensitivität ebenso unbestimmt lässt, erfüllt es den Gesetzgebungsauftrag des Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG nur unzureichend. Der Verordnungsgeber konkretisiert demnach in entscheidender Weise die Produktionspotentialschätzung und damit die Konjunkturkomponente. Auf diese Weise besteht die Gefahr, dass die Exekutive das Verfahren so gestaltet, dass am Ende die von ihr gewünschte Neuverschuldungsgrenze steht. Mit der Wahl des konkreten Verfahrens beeinflusst die Exekutive die Feststellung, ob eine Überauslastung des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotentials (Aufschwung), eine Normallage oder eine Unterauslastung (Abschwung) im Sinne der Art. 109 und 115 GG vorliegt. Sie entscheidet also, ob die Konjunkturkomponente im konkreten Fall angewendet wird,159 156  Siehe

oben Abschnitte A.II.1. und 2. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2003, Rn. 764, 3. Absatz; ders., Staatsverschuldung wirksam begrenzen – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, 2007, Rn. 231 sowie Thye, Die neue „Schuldenbremse“ im Grundgesetz, 2010, S. 84, m. w. N. Siehe hierzu auch oben Abschnitt A.II.1., Fn. 45. 158  „Eine Schuldenregel, die konjunkturelle Effekte berücksichtigen soll, kommt ohne die Definition einer Normallage als Referenzpunkt für die Konjunktur nicht aus. Nur mit Hilfe der Berechnung von Abweichungen der tatsächlichen Lage von der Normallage kann der Konjunktureffekt identifiziert, auf diese Weise zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Zeiten unterschieden und so die Höhe der konjunkturellen Defizite bzw. Überschüsse bestimmt werden.“, Kom-Drs. 096, S. 5. Vgl. oben Abschnitt A.II.1. 159  Vgl. hierzu BVerfGE 78, 249 (272) (Fehlbelegungsabgabe): „Es gehört im Geltungsbereich des Gesetzesvorbehalts zum rechtsstaatlich-demokratischen Gehalt dieser Vorschrift, daß in einer Verordnung, die auf ihrer Grundlage ergeht und ihrem Grundgedanken entspricht, niemals originärer politischer Gestaltungswille der Exekutive zum Ausdruck kommen darf […]. Es bedeutete aber gerade ein Stück origi157  Vgl.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz223

und verstößt damit gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG.160 Auch der ergänzende Zusatz des § 5 Abs. 4 S. 1 G 115, dass die Verordnung das europäische Konjunkturbereinigungsverfahren berücksichtigen muss, ändert nichts an dem Befund der Verfassungswidrigkeit. Zum einen handelt es sich hierbei um einen dynamischen Verweis, bei dem der Gesetzgeber selbst mögliche Änderungen auf europäischer Ebene nicht absehen kann.161 Zum anderen ist auch das europäische Konjunkturbereinigungsverfahren lediglich in einem „code of conduct“ und damit nicht rechtsförmlich geregelt.162 Der Verweis auf das europäische Konjunkturbereinigungsverfahren genügt daher nicht dem Bestimmtheitsgebot des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG als Ausdruck des Rechtsstaats‑ und des Demokratieprinzips.

nären politischen Gestaltungswillens, wenn der Verordnungsgeber in Bezug auf das ‚Ob‘ der konkreten Anwendbarkeit einer im Übrigen näher bestimmten Regelung volle (politische) Entscheidungsfreiheit hätte.“ 160  Im Schrifttum wird die Verordnungsermächtigung überwiegend kritisch gesehen. Thye, Die neue „Schuldenbremse“ im Grundgesetz, 2010, S. 84 f. erkennt ebenfalls einen Verfassungsverstoß. Kube ist skeptisch, ob das Ausführungsgesetz mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar ist, siehe Kube, Art. 115 GG, in: GG-Kommentar, Maunz/Dürig (Hrsg.), 2009, Rn. 164 und Kube, Art. 109 GG, in: GGKommentar, Maunz/Dürig (Hrsg.), 2011, Rn. 187 (Fn. 5). Kritisch auch Pünder, Art. 115 GG, in: GG-Kommentar, Friauf/Höfling (Hrsg.), 2010, Rn. 106 und Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, S.  721 (725). A. A. Sackofsky, Die Justitiabilität der Schuldenregel, in: Kastrop et al. (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 393 (407); Heun, Art. 115 GG, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Supplementum 2010, Rn. 34 und Heintzen, Art. 115 GG, in: v.  Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, 2012, Rn. 25. Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 230, erkennt „keine durchgreifenden Bedenken gegen eine Übertragung auf die Exekutive“ und damit keinen Verstoß gegen Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG. Für sie ergibt sich jedoch die Verfassungswidrigkeit aus einer zu engen Definition der Normallage, die „auf Umgehungen der verfassungsrechtlichen Kreditgrenzen geradezu angelegt“ ist, Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 227. Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, S. 179, hält die konjunkturelle Verschuldungskomponente für „eindeutig bestimmbar“. 161  Zudem gibt es auf europäischer Ebene kein einheitliches Konjunkturbereinigungsverfahren. Neben unterschiedlichen Abgrenzungen können die Verfahren auch länderspezifische Besonderheiten berücksichtigen. 162  Vgl. oben Abschnitt A.II.2.c).

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III. Kontrollkonto 1. Funktionsweise und einfachgesetzliche Ausgestaltung a) Buchungen auf dem Kontrollkonto In § 7 konkretisiert das Ausführungsgesetz (G 115) die Funktionsweise und Ausgestaltung des Kontrollkontos. Das Kontrollkonto vergleicht nach dem Haushaltsabschluss die tatsächliche Kreditaufnahme mit der zulässigen Obergrenze, die für das abgeschlossene Haushaltsjahr mit aktualisierten Zahlen neu berechnet wird.163 Hierzu wird die „tatsächliche Wirkung der konjunkturellen Entwicklung auf den Haushalt“ (§ 7 Abs. 1 S. 1 G 115) in Form der aktualisierten Konjunkturkomponente herangezogen. Maßstab für das Kontrollkonto ist also nicht die bei Haushaltsaufstellung ermittelte Obergrenze, sondern die neu berechnete Grenze nach dem Haushaltsabschluss. Die aktualisierte Datenbasis für das abgelaufene Haushaltsjahr ermöglicht es, den Verlauf der konjunkturellen Entwicklung genauer abzubilden, als dies ex ante bei Haushaltsaufstellung möglich ist.164 Zwischen dem 1. März und dem 1. September des dem Haushaltsjahr folgenden Jahres wird die zu verbuchende Abweichung aktualisiert und schließlich festgestellt. Als Verrechnungskonto verbucht das Kontrollkonto positive und negative Abweichungen.165 Hierbei sind auch die tatsächlich getätigten finanziellen Transaktionen (§ 3 G 115) zu bereinigen.166 Kredite, die auf Grund der Ausnahmeregelung (Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG) aufgenommen wurden, sind für das Kontrollkonto unbeachtlich und werden herausgerechnet. Das Kontrollkonto verbucht also fortlaufend – über mehrere Haushaltsjahre hinweg – die Differenz von tatsächlicher Kreditaufnahme und zulässiger Obergrenze. Es erfüllt damit eine wichtige Transparenzfunktion, indem es die aufsummierten Verfehlungen im Haushaltsvollzug und bei den BIP-Voraus163  Das Kontrollkonto setzt an zwei Zeitpunkten des Haushaltskreislaufes an: zum einen nach dem Haushaltsabschluss (Ermittlung der Abweichung von Soll und Ist) und zum anderen bei der Aufstellung des Haushalts im Folgejahr (Rechtsfolgen bei negativem Saldo), dazu sogleich. Zu den vier Phasen des Haushaltskreislaufes siehe Nowotny, Der öffentliche Sektor, 1999, S. 179 ff. Siehe auch die schematische Darstellung der Schuldenbremse im Haushaltszyklus des Bundes von der Deutschen Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche Inhalte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 15 (27). 164  Grund hierfür sind die aktualisierten Zahlen für das BIP. Vgl. auch unten Abschnitt B.I.2. 165  Siehe § 7 Abs. 1 S. 1 G 115. 166  § 7 Abs. 1 S. 1 G 115 i. V. m. §§ 3 und 2 Abs. 1 Hs. 1 G 115. Siehe Gesetzesbegründung, BR-Drs.  263/09, S. 43 und siehe oben Abschnitt A.I.2.



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schätzungen für die Konjunkturkomponente speichert.167 Verstöße gegen die Schuldengrenze werden damit erstmals eindeutig und klar benannt.168 Das Kontrollkonto verfolgt zwei Zielsetzungen:169 Zum einen erhöht es den Anreiz, die Obergrenze auch im Vollzug tatsächlich einzuhalten. Zum anderen sollen bewusst geplante, strategische Fehlannahmen bei der Haushaltsaufstellung verhindert werden. Ein konjunkturell bedingter erhöhter Kreditbedarf soll jedoch zulässig sein und nicht negativ verbucht werden. Anschaulich werden die Buchungen auf dem Kontrollkonto anhand einer fiktiven Modellrechnung für das Haushaltsjahr 2004:170 Der Bundeshaushalt 2004 wurde im Herbst 2003 beschlossen, und zwar unter der Annahme eines BIP-Wachstums von 1,7 %, das in Verbindung mit einer deutlich negativen Produktionslücke zu einer Kreditobergrenze von 15,5 Mrd. Euro führt. Nach dem Haushaltsabschluss 2005 wurde festgestellt, dass das BIP-Wachstum lediglich 1,1 % betrug. Die Konjunkturkomponente räumte daher eine zusätzliche Kreditaufnahme in Höhe von 3,5 Mrd. Euro ein. Insgesamt waren also 19 Mrd. Euro erlaubt. Da die tatsächliche Kreditaufnahme jedoch bei 27,8 Mrd. Euro lag, wurden 8,8 Mrd. Euro als negative Abweichung von der Obergrenze auf dem Kontrollkonto verbucht.171 167  Das Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages vom 15. Juli 2013, BGBl. I 2013, S. 2398 ff. legt in Art. 4 eine neue Übergangsfrist für das Kontrollkonto fest: Der kumulierte Saldo der Haushaltsjahre 2011 bis 2015 wird mit Wirkung zum 31.12.2015 gelöscht. Zur Entwicklung des Kontrollkonto-Saldos siehe Deutsche Bundesbank, Schuldenbremse: Sicherheitsabstand zu strikter Kreditobergrenze, Monatsbericht Februar 2012, S. 70 f. sowie unten Abschnitt B.II.2. 168  Dass bei einem komplexen Gebilde wie dem Bundeshaushalt nicht-zyklische Abweichungen auftreten, ist selbstverständlich. Denn nicht jeder einzelne Haushaltsposten kann in seinem finanziellen Volumen ex ante richtig geschätzt werden. Bestes Beispiel sind unvorhergesehene Auswirkungen einer Steuerreform. Verbuchungen auf dem Kontrollkonto sind somit nicht unbedingt ein Indikator für ungenügende Haushaltsdisziplin, siehe Bundesministerium der Finanzen, Reforming the Constitutional Budget Rules in Germany, 2009, S. 6 f. So auch der verfassungsändernde Gesetzgeber: „Abweichungen der Kreditaufnahme im Haushaltsvollzug von der Soll-Kreditaufnahme sind in der Praxis kaum zu vermeiden.“, BR-Drs. 262/09, S. 27. 169  Siehe hierzu und im Folgenden Kastrop/Snelting, Das Modell des Bundesfinanzministeriums für eine neue Schuldenregel, in: Wirtschaftsdienst 6/2008, S. 375 (379). 170  So aufgestellt und berechnet von Kastrop/Snelting, Das Modell des Bundesfinanzministeriums für eine neue Schuldenregel, in: Wirtschaftsdienst 6/2008, S. 375 (379f). Die nachfolgende Beschreibung lehnt sich hieran eng an. Für eine detailierte Abrechnung für das Haushaltsjahr 2015 siehe Bundesministerium der Finanzen, Schuldenbremse 2015: Struktureller Überschuss – das zweite Jahr in Folge, Monatsbericht September 2016, S. 22 (24 ff.). 171  Siehe Kastrop/Snelting, Das Modell des Bundesfinanzministeriums für eine neue Schuldenregel, in: Wirtschaftsdienst 6/2008, S. 375 (379 f). Zur Ausgestaltung des Rückführungsmechanismus durch die Rechtsverordnung siehe unten Abschnitt B.I.2.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

b) Korrekturmechanismus Wie mit den Belastungen auf dem Kontrollkonto umzugehen ist, wird im Ausführungsgesetz eigenständig geregelt. Der vom Grundgesetz in Art. 115 Abs. 2 S. 4 vorgegebene Schwellenwert von 1,5 % des BIP, ab dem die Belastungen zurückzuführen sind, wird durch § 7 Abs. 2 S. 2 G 115 als Obergrenze des Kontrollkontos formuliert. Die Belastungen sollen den Wert von 1,5 % des BIP also gar nicht erst übersteigen. Um dieses Ziel zu erreichen, fordert § 7 Abs. 2 S. 1 G 115 „auf einen Ausgleich des Kontrollkontos hinzuwirken“,172 sobald das Kontrollkonto einen negativen Saldo aufweist.173 Ohne einen Adressaten explizit zu benennen, richtet sich die Norm allgemein an den Haushaltsgesetzgeber und die Exekutive. Sie eröffnet allerdings einen großen Ermessenspielraum, wie und bis wann auf einen Ausgleich hinzuwirken ist. Damit ist ihre tatsächliche Wirkung stark eingeschränkt. Erst ab einem negativen Saldo in Höhe von 1 % des BIP benennt das Ausführungsgesetz eine konkrete Rechtsfolge. Sobald die Belastung des Kontrollkontos den Wert von 1 % des BIP übersteigt, setzt ein Korrekturmechanismus ein, der die zulässige Obergrenze der Kreditaufnahme automatisch senkt. Die maximal zulässige Kreditaufnahme wird um den Betrag reduziert, der den Schwellenwert von 1 % überschießt, höchstens aber 0,35 % des BIP. Der Höchstbetrag entspricht damit exakt der Strukturkomponente (Art. 115 Abs. 2 S. 2 GG i. V. m. § 2 Abs. 1 S. 2 G 115). Sie kann also durch den Rückführungsmechanismus auf null schrumpfen, aber keinen negativen Wert annehmen. Weist das Kontrollkonto beispielsweise eine Belastung von 1,2 % des BIP auf, würde die Strukturkomponente um 0,2 % auf 0,15 % des BIP reduziert. Bei einem negativen Saldo von 1,5 % würde die Strukturkomponente für das folgende Haushaltsjahr gänzlich wegfallen und auf null gesetzt.174

172  Das Ausführungsgesetz konkretisiert damit die verfassungsrechtliche Rückführungspflicht: Der Saldo soll auf null zurückgeführt werden. 173  Gutschriften auf dem Kontrollkonto (positiver Saldo) dürfen hingegen nicht dazu genutzt werden, um schon bei der Haushaltsaufstellung ein Überschreiten der Kreditgrenze zu planen. Eine Verrechnung der Gutschriften mit zusätzlichen (unvorhersehbaren) Kreditaufnahmen im Haushaltsvollzug, also einer negativen Buchung auf dem Konto, ist aber ex post möglich. Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, S. 191 f. erkennt in den Gutschriften einen „Automatismus“ zur Ausnutzung der Strukturkomponente. Da die Gutschriften jedoch nicht bewusst verplant werden dürfen, ist seine Kritik nur zum Teil berechtigt. 174  Der Korrekturmechanismus des Kontrollkontos kann nicht dazu führen, dass die strukturelle Komponente für sich genommen einen Überschuss verlangt. Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 324 f. hält die Beschränkung auf 0,35 % des BIP für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz227

§ 7 Abs. 3 Hs. 2 G 115 sieht vor, dass der Korrekturmechanismus nur in Jahren mit positiver Veränderung der Produktionslücke wirksam wird, also nur in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs, wenn das erwartete BIP über dem geschätzten Produktionspotential liegt. Das Ausführungsgesetz konkretisiert auf diese Weise den Begriff „konjunkturgerecht“ (Art. 115 Abs. 2 S. 4 GG) und soll so eine antizyklische Wirkung des Kontrollkontos verhindern.175 Ein ausgelöster Korrekturmechanismus reduziert zwar die Strukturkomponente, ob der Saldo des Kontrollkontos sinkt, zeigt sich jedoch erst bei der abschließenden Buchung des Kontrollkontos nach dem Haushaltsabschluss im Folgejahr.176 Kommt es beispielsweise im Verlauf des Haushaltsjahres zu einer höheren Verschuldung wegen ungeplanter Mehrausgaben bzw. Mindereinnahmen, die nicht konjunkturbedingt aufgetreten sind,177 wird auch das Kontrollkonto belastet. Der Saldo sinkt also nicht zwangsläufig. Bei der abschließenden Buchung auf dem Kontrollkonto stellt sich zudem die Frage, welche Kreditgrenze zugrunde gelegt wird: Wird zur Berechnung des neuen Saldos eine konstante Strukturkomponente von 0,35 % des BIP unterstellt oder wird die durch den Korrekturmechanismus abgesenkte Kreditgrenze herangezogen? Das Gesetz trifft hierzu keine Festlegung, sondern regelt nur die ordentliche Buchung auf dem Kontrollkonto (§ 7 Abs. 1 S. 1 G 115), ohne Einfluss des Korrekturmechanismus. Allerdings zielt der automatische Korrekturmechanismus (§ 7 Abs. 3 G 115) gerade darauf ab, den Saldo des Kontos zu senken. Um dies zu erreichen, muss die Buchung 175  Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 325 sieht in der Begrenzung auf Jahre mit einer positiven Veränderung der Produktionslücke hingegen keine Konkretisierung der grundgesetzlichen Anforderung „konjunkturgerecht“. Sie hält die Begrenzung für verfassungswidrig, obwohl die einfachgesetzliche Ausgestaltung die grundgesetzliche Vorgabe („konjunkturgerecht zurückzuführen“) eindeutig wahrt. Man kann allenfalls kritisieren, dass das Ausführungsgesetz erst ab einer Belastung des Kontrollkontos i. H. v. 1 % des BIP eine Tilgungsreglung trifft. Denn wie unterhalb dieses Wertes in konjunkturell günstigen Zeiten getilgt werden soll, bleibt unklar. So auch Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, S. 187. 176  Die Feststellung des Gesetzgebers, dass die Abbauverpflichtung sowohl durch einnahmeseitige als auch durch ausgabeseitige Maßnahmen erfüllt werden kann, ist wohl nur durch die politische Entstehungsgeschichte zu erklären, vgl. Gesetzesbegründung, BR-Drs.  263/09, S. 44. Das Ausführungsgesetz reduziert ausschließlich die Kreditermächtigung und trifft grundsätzlich keine Aussage, wie das Budgetziel erreicht werden soll. 177  Konjunkturbedingte Mehrausgaben bzw. Mindereinnahmen werden nach Haushaltsabschluss bei der aktualisierten Berechnung der Konjunkturkomponente und damit der zulässigen Kreditaufnahme berücksichtigt.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

unter der Annahme einer unveränderten Strukturkomponente in Höhe von 0,35 % des BIP erfolgen. Andernfalls würde die abgesenkte Kreditgrenze zu einer anspruchsvolleren Vorgabe führen, die eine positive Verbuchung auf dem Kontrollkonto erheblich erschwert. Sie könnte nur durch einen Haushaltsabschluss erreicht werden, der die abgesenkte Kreditgrenze nochmals unterbietet. Diese Berechnungsgrundlage verstieße jedoch gegen Sinn und Zweck des automatischen Korrekturmechanismus, der einen Abbau des Kontrollkonto-Saldos beinhaltet. Der Wortlaut der Gesetzesbegründung stützt die Argumentation, dass bei der Berechnung des Kontrollkontos immer eine Strukturkomponente in Höhe von 0,35 % zugrunde gelegt wird, indem er die reduzierte Kreditermächtigung mit einer „Abbauverpflichtung“ des Kontrollkontos gleichsetzt. Das Ausführungsgesetz entwickelt mit dem Schwellenwert von 1 % des BIP einen strengeren Maßstab für das Kontrollkonto als vom Grundgesetz gefordert und gestaltet auf diese Weise die Rückführungspflicht eigenständig aus. Die Vorschrift verschärft und konkretisiert Art. 115 Abs. 2 S. 4 GG in verfassungskonformer Art und Weise.178 Der bereits ab 1 % des BIP einsetzende Korrekturmechanismus soll zum einen verhindern, dass der Schwellenwert von 1,5 % überhaupt erreicht wird, und zum anderen einen Puffer für konjunkturschwache Zeiten schaffen,179 da die Rückführungspflicht nur in Jahren mit positiver Veränderung der Produktionslücke greift. Die einfachgesetzliche Ausgestaltung befindet sich damit auch im Einklang mit der Konjunkturkomponente und stellt eine „konjunkturunschädliche“ Finanzpolitik180 sicher. 2. Nachtragshaushalt Das Ausführungsgesetz regelt ferner in § 8 G 115 den Fall einer unvorhergesehenen Entwicklung der Einnahmen oder Ausgaben, ohne dass eine Ausnahmesituation nach Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG vorliegt. Sollte aus diesem Grund im Laufe des Haushaltsvollzugs ein Nachtragshaushalt nötig werden,181 greift folgende Regelung: Die strukturelle Kreditaufnahme darf bis zu einer Höhe von 3 % der veranschlagten Steuereinnahmen überschrit178  Siehe Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, in: JZ 2009, S. 721 (725). 179  Siehe Bundesministerium der Finanzen, Reforming the Constitutional Budget Rules in Germany, 2009, S. 7. 180  Siehe Gesetzesbegründung, BR-Drs.  263/09, S. 44. 181  Ein solcher Nachtragshaushalt setzt voraus, dass die Bundesregierung dieser Entwicklung nicht durch Bewirtschaftungsmaßnahmen im ordentlichen Haushalt entgegenwirken kann, siehe Gesetzesbegründung, BR-Drs.  263/09, S. 44.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz229

ten werden. In dem Nachtragshaushalt dürfen jedoch keine neuen Maßnahmen veranschlagt werden, die zu Mehrausgaben oder Mindereinnahmen führen. Hierdurch will der Gesetzgeber sicherstellen, „dass die strukturelle Verschuldungskomponente nicht durch zusätzliche diskretionäre Maßnahmen erhöht wird und damit die für die strukturelle Verschuldung geltende Grenze umgangen wird.“182 Die Konjunkturkomponente wird für die Aufstellung des Nachtragshaushalts nicht neu berechnet, sondern nur aktualisiert. Es wird lediglich die Veränderung des erwarteten Bruttoinlandsproduktes berücksichtigt.183 Nach Abschluss des Haushaltsjahres gilt allerdings die ex post neu berechnete Konjunkturkomponente. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass alle Krediteinnahmen des Nachtragshaushaltes bei der Berechnung des Kontrollkontos berücksichtigt werden. Da somit alle Abweichungen von der Kreditobergrenze auf dem Kontrollkonto erfasst werden, entspricht § 8 G 115 den Anforderungen der Verfassung.

IV. Ausnahmeregelung Für die außerordentliche Kreditaufnahme im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen wiederholt das Ausführungsgesetz in § 6 G 115 lediglich die Vorgaben der Art. 115 Abs. 2 S. 6 bis 8 GG, ohne sie näher zu konkretisieren. Auch die Gesetzesbegründung ist nahezu wortgleich mit der Begründung zur Änderung der Art. 109 und 115 GG.184 Das Einzige, was die Gesetzesbegründung zum Ausführungsgesetz gesondert betont, ist die Pflicht zur Rückführung der Schulden. Der Gesetzgeber stellt damit klar, dass auch die Rückführung der außerordentlichen Kreditaufnahme – ebenso wie die Abbauverpflichtungen des Kontrollkontos – die Struktur- und Konjunkturkomponente der Schuldenbremse überlagern.185 Das heißt: Die Tilgungsverpflichtungen aus Kontrollkonto186 und außerordentlicher Kreditaufnahme senken die zulässige Schuldengrenze beziehungsweise erhöhen die tatsächlichen Tilgungsvorgaben zusätzlich. Der Gesetzgeber sieht darin einen Anreiz, dass die Ausnahmeregelung nicht extensiv ausgelegt wird und die außerordentlichen Kredite möglichst zeit182  Gesetzesbegründung,

BR-Drs.  263/09, S. 45. BR-Drs.  263/09, S. 45. 184  Vgl. Gesetzesbegründung zur Änderung des Grundgesetzes, BR-Drs.  262/09, S. 22 f. und Gesetzesbegründung zum Begleitgesetz, BR-Drs.  263/09, S. 41 f. 185  Gesetzesbegründung, BR-Drs.  263/09, S. 43. 186  Die Abbauverpflichtung des Kontrollkontos greift jedoch nur bei positiver Veränderung der Produktionslücke, also bei einem wirtschaftlichen Aufschwung. Vgl. oben Abschnitt A.II.2.b). 183  Gesetzesbegründung,

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

nah zurückgeführt werden. Gerade letzteres erscheint jedoch aus rechtspolitischer Sicht sehr optimistisch, denn insbesondere ein frei gewählter Zeitraum für die Rückführung der außerordentlichen Kredite übt nur einen schwachen Konsolidierungsdruck auf den Haushaltsgesetzgeber aus.

V. Stabilitätsrat Der Stabilitätsrat, als gesamtstaatlicher Präventionsmechanismus, wird durch das Grundgesetz nur in Grundzügen vorgezeichnet und erst durch das Stabilitätsratsgesetz konkret ausgestaltet.187 Dass die Verfassung den Stabilitätsrat nicht mit Sanktionsinstrumenten ausstattet, erweist sich hierbei als seine größte Schwäche.188 Neben seiner Kernaufgabe, der fortlaufenden Überwachung der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern, prüft der Stabilitätsrat auch die Einhaltung der Konsolidierungsauflagen des Art. 143d Abs. 2 S. 4 GG189 und übernimmt die Aufgaben des aufgelösten Finanzplanungsrates.190 Und mit dem Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages191 soll er auch die gesamtstaatlichen Vorgaben des Fiskalpaktes überwachen und als Korrekturmechanismus im Sinne des Art. 3 Abs. 2 S. 2 VSKS fungieren.192 1. Ausgestaltung durch das Stabilitätsratsgesetz a) Aufgaben, Zusammensetzung und Verfahren Das Gesetz zur Errichtung eines Stabilitätsrates und zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen (Stabilitätsratsgesetz – StabiRatG) beruht auf dem Ge187  Siehe unten Abschnitt A.V.1.a). Ausführlich zum Stabilitätsrat als gemeinsames fiskalpolitisches Gremium von Bund und Ländern sowie zu seinen Aufgaben, Verfahren und seiner Organisation Thye, Der Stabilitätsrat, 2014. Im Rahmen der geplanten Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems ab dem Jahr 2020 soll nicht nur Art. 109a GG (siehe unten 3.Teil Abschnitt B.VI., Fußnote 251), sondern auch das Stabilitätsratsgesetz (BT-Drs. 18/11135, S. 24 f.) novelliert werden. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass der Stabilitätsrat in jedem Herbst die Einhaltung der Vorgaben des Art. 109 Abs. 3 GG durch den Bund und alle einzelnen Länder überprüft und zwar für das abgelaufene, das aktuelle und das darauffolgende Jahr. Er soll sich hierbei an den europarechtlichen Vorgaben und Verfahren orientieren. Der Aufgabenbereich des Stabilitätsrates wird damit nicht grundlegend verändert, sondern lediglich konkretisiert. 188  Siehe unten Abschnitt A.V.1.b). 189  Siehe unten Abschnitt A.V.1.c). 190  Siehe unten Abschnitt A.V.2. 191  BGBl. I 2013, S. 2398 ff. 192  Siehe unten Abschnitt A.V.3.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz231

setzgebungsauftrag des Art. 109a GG. Es konkretisiert insbesondere Zusammensetzung, Aufgaben und Verfahren des Gremiums. Die Einzelheiten seiner Arbeitsweise legt der Stabilitätsrat eigenständig in einer Geschäftsordnung fest.193 Als gesamtstaatliches Gremium weicht es von der grundsätzlichen Trennung der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern (Art. 109 Abs. 1 GG) ab und konkretisiert das Bundesstaatsprinzip in besonderer Weise.194 Dies spiegelt sich in der Zusammensetzung und dem Modus der Beschlussfassung wider. Dem Stabilitätsrat gehören die Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen sowie die Finanzminister der Länder an.195 Den Vorsitz teilt sich der Bundesfinanzminister mit dem jeweiligen Vorsitzenden der Finanzministerkonferenz der Länder. Seine Beschlüsse fasst der Stabilitätsrat mit der Stimme des Bundes und der Mehrheit von zwei Dritteln der Länder.196 Der Stabilitätsrat überwacht die Haushaltslage jedes Landes und des Bundes auf Grundlage von allgemein geltenden und geeigneten volkswirtschaftlichen Kennziffern sowie Projektionen der mittelfristigen Haushaltsentwicklungen. Die Kennziffern legt der Stabilitätsrat eigenständig fest. Hierbei sollen verschiedene Indikatoren berücksichtigt werden, welche die Haushaltslage von Bund und Ländern „umfassend und zielgenau charakte­ risieren.“197 Jede Gebietskörperschaft legt jährlich einen Bericht vor, der neben den Kennziffern und der Projektion der Haushaltsentwicklung, auf Basis einheitlicher Annahmen, auch die Einhaltung der verfassungsmäßigen Kreditaufnahmegrenzen enthalten soll (§ 3 Abs. 2 StabiRatG). Diese sogenannten Stabilitätsberichte sind die Grundlage für weitere Verfahrensschritte: die Feststellung einer drohenden Haushaltsnotlage (§ 4 StabiRatG) und die Vereinbarung eines Sanierungsprogramms (§ 5 StabiRatG). Der Stabilitätsrat beschließt für die von ihm festgelegten Kennziffern allgemein geltende Schwellenwerte, deren Überschreitung auf eine drohende 193  Siehe § 1 Abs. 5 StabiRatG. Die Geschäftsordnung ist auf der Internetseite des Stabilitätsrates einzusehen: http://www.stabilitaetsrat.de/DE/Organisation/Ge schaeftsordnung/Geschaeftsordnung_node.html (abgerufen am 8.4.2017). 194  Hierfür sprechen sachliche Gründe: zum einen die Einstandspflicht in extremen Haushaltsnotlagen als ultima ratio und zum anderen die gesamtstaatliche Pflicht zur Einhaltung der Vorgaben des Art. 126 AEUV, siehe Thye, Die neue „Schuldenbremse“ im Grundgesetz, 2010, S. 44. 195  Vertreter der kommunalen Spitzenverbände oder der Bundesbank können als Gäste zu den Beratungen eingeladen werden. 196  Bei Entscheidungen, die einzelne Länder betreffen, ist das betroffene Land nicht stimmberechtigt. Entscheidungen, die den Bund betreffen, werden mit der Mehrheit von zwei Dritteln aller stimmberechtigten Mitglieder gefasst (§ 1 Abs. 4 StabiRatG). 197  Gesetzesbegründung, BR-Drs.  263/09, S. 38.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

Haushaltsnotlage hinweisen soll. Das Gesetz unterscheidet hierbei nicht zwischen einer drohenden Haushaltsnotlage und einer bereits bestehenden. In seiner konstituierenden Sitzung hat der Stabilitätsrat folgende Kennziffern festgelegt: Zins-Steuer-Quote, Schuldenstand, Kreditfinanzierungsquote und struktureller Finanzierungssaldo.198 Werden bei einer Mehrzahl der Kennziffern die Schwellenwerte überschritten oder deutet die mittelfristige Haushaltsentwicklung (Projektion) auf eine negative Entwicklung hin, prüft der Stabilitätsrat, ob eine (drohende) Haushaltsnotlage vorliegt. In die Prüfung werden alle relevanten Bereiche des betroffenen Haushalts einbezogen, insbesondere Höhe und Entwicklung der Verschuldung, Haushaltsdefizite, Zinsausgaben sowie Höhe und Struktur der Ausgaben und Einnahmen.199 Die jeweilige Gebietskörperschaft ist dazu verpflichtet, die erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Auf Grundlage des Prüfberichtes und der darin enthaltenen Beschlussempfehlung beschließt der Stabilitätsrat, ob eine Haushaltsnotlage droht (§ 4 Abs. 5 StabiRatG). Als unmittelbare Rechtsfolge einer so festgestellten Haushaltsnotlage vereinbart der Rat mit dem betroffenen Land, beziehungsweise dem Bund, ein Sanierungsprogramm. Dieses erstreckt sich über fünf Jahre und enthält Vorgaben über die jährlich angestrebten Abbauschritte der Nettokreditaufnahmen und Sanierungsmaßnahmen, die in der alleinigen Kompetenz der betroffenen Gebietskörperschaft liegen.200 Der Bund oder das Land setzen das Programm in eigener Verantwortung um. Wird die vereinbarte Nettokreditaufnahme überschritten, prüft der Rat im Einvernehmen mit dem betroffenen Land oder dem Bund, ob und welche Maßnahmen erforderlich sind. 198  Vgl. zur Erläuterung der Schwellenwerte die Beschlüsse des Stabilitätsrates in seiner konstituierenden Sitzung am 28. April 2010, TOP 2, http://www.stabilitaets rat.de/DE/Beschluesse-und-Beratungsunterlagen/20100428_1.Sitzung/Sitzung2010 0428_node.html (abgerufen am 8.4.2017). Für den Bund hat der Stabilitätsrat folgende Schwellenwerte beschlossen: Die Kennziffer zum strukturellen Finanzierungssaldo gilt in einem Jahr als nicht eingehalten, wenn der Abbaupfad zur Senkung des Saldos um 50 Euro je Einwohner überschritten wird. Als Schwellenwert für die Kreditfinanzierungsquote, die Zins-Steuer-Quote und den Schuldenstand wird der gleitende Jahresdurchschnitt der jeweiligen Quote des Bundeshaushalts der letzten fünf Jahre zuzüglich acht Prozentpunkte herangezogen. Siehe http://www.stabili taetsrat.de/DE/Aufgaben/Haushaltsueberwachung %20zur %20Vermeidung %20von %20Haushaltsnotlagen/Kennziffern/Kennziffern_node.html (abgerufen am 8.4.2017). 199  Siehe Gesetzesbegründung, BR-Drs.  263/09, S. 39. 200  Da das Stabilitätsratsgesetz die Vorgaben für die Sanierungsprogramme nicht näher konkretisiert, hat der Stabilitätsrat Eckpunkte zur Durchführung von Sanierungsverfahren nach § 5 StabiRatG beschlossen. Vgl. Beschluss des Stabilitätsrates in der dritten Sitzung vom 23. Mai 2011, Anlage zum Beschluss des Stabilitätsrates zu TOP 3.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz233

Werden hingegen die vereinbarten Maßnahmen nur unzureichend umgesetzt, kann der Stabilitätsrat zur verstärkten Haushaltssanierung auffordern. Kommt die betroffene Gebietskörperschaft dieser Aufforderung innerhalb von zwölf Monaten nicht nach, fordert der Stabilitätsrat erneut eine verstärkte Haushaltssanierung (§ 5 Abs. 3 StabiRatG). b) Schwächen Insbesondere die erneute Aufforderung zur Haushaltssanierung offenbart die große Schwäche des neu eingerichteten Präventionsmechanismus: Der Stabilitätsrat ist nicht mit Sanktionsinstrumenten ausgestattet. Hält sich die betroffene Gebietskörperschaft nicht an die Maßnahmen des Sanierungsprogramms oder setzt sie nur unzureichend um, droht ihr keine Sanktion. Das Fehlverhalten bleibt ohne Rechtsfolgen. Lediglich die Veröffentlichung der Beschlüsse und der zugrunde liegenden Beratungsunterlagen kann zu öffentlichem Druck führen. Ähnlich dem „blauen Brief aus Brüssel“201 soll das betroffene Land öffentlich „an den Pranger gestellt“ werden. Inwieweit dieser Druck ausreicht, um eine Verhaltensänderung zu erzielen, kann aus rechtswissenschaftlicher Perspektive nicht abschließend beurteilt werden.202 Für den Gesetzgeber ist die Veröffentlichung jedenfalls „ein elementarer Bestandteil […], um Transparenz herzustellen und die Wirksamkeit der Beschlüsse zu unterstützen“.203 In Anbetracht der Schwäche des Stabilitätsrates erscheint es zumindest fraglich, ob die Forderungen des Bundesverfassungsgerichts nach geeigneten „Verpflichtungen und Verfahrensregelungen“204 erfüllt wurden. Der umgesetzte Präventionsmechanismus ist zwar grundsätzlich handlungslei­ tend,205 bleibt jedoch unvollständig und inkonsequent. Bund und Länder 201  Vgl.

hierzu 2. Teil Abschnitt A.IV.1. findet der Stabilitätsrat nur eine vergleichsweise geringe Beachtung in der medialen Öffentlichkeit. 203  Gesetzesbegründung, BR-Drs.  263/09, S. 38. Härtel, Föderalismusreform II, JZ 2008, S. 437 (440) betont, dass durch den Verzicht auf Sanktionen die Haushaltsautonomie von Bund und Ländern gewahrt bleibt. Auch der Gesetzentwurf zur Änderung des Art. 109a GG, im Zuge der Neuregelung der Finanzbeziehungen von Bund und Ländern ab 2020 (BT-Drs. 18/11131), verzichtet auf die Einführung von Sanktionsinstrumenten. Die Schwäche des Stabilitätsrates bleibt damit weiterhin bestehen. 204  BVerfGE 86, 148 (266) (Finanzausgleich II) und BVerfGE 116, 327 (393) (Berliner Haushalt). 205  Vgl. hierzu das Berlin-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur alten Rechtslage: „Als gravierende Schwäche des geltenden Rechts kommt hinzu, dass es an den notwendigen verfahrensrechtlich wie auch inhaltlich handlungsleitenden Regelungen zum Umgang mit potentiellen und aktuellen Sanierungsfällen im Bundesstaat fehlt“, 202  Bislang

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

können die Konsolidierungsvorgaben des Stabilitätsrates ignorieren, ohne eine Sanktion erwarten zu müssen. Die bloße erneute Aufforderung zur Haushaltsdisziplin dürfte die Betroffenen nicht dazu bewegen, ihr Handeln zu ändern. Der Zweck der Regelung, Haushaltsnotlagen zu verhindern, erscheint damit nur bedingt erfüllbar. Denn gerade eine präventive Wirkung lässt sich nur dadurch erzielen, dass Fehlverhalten unmittelbar sanktioniert wird. Weicht eine Gebietskörperschaft von ihren Vorgaben ab, wird die zusätzliche Schulden- und Tilgungslast in den Folgejahren fortgeschrieben. Strukturell ausgeglichene Haushalte können noch schwerer erreicht werden. Als zusätzlicher Schwachpunkt könnten sich die Haushaltskennziffern erweisen, da sie weder gesetzlich noch durch ein unabhängiges Gremium festgelegt sind. Der Stabilitätsrat legt diese selbst fest und bestimmt auch noch die Schwellenwerte, die auf eine Haushaltsnotlage hinweisen.206 Zwar müssen diese so ausgestaltet sein, dass sie präventiv wirken können, also so rechtzeitig, dass noch eine Haushaltsnotlage abgewendet werden kann.207 Allerdings kann der Stabilitätsrat sie dennoch jederzeit anheben oder senken.208 Der verfassungsrechtlich vorgezeichnete Rahmen räumt dem Stabilitätsrat bei der Haushaltsüberwachung einen weiten, kaum justiziablen Einschätzungsspielraum ein. Er sperrt sich lediglich gegen Entscheidungen, die offensichtlich seinem Sinn und Zweck, der Vermeidung von Haushaltsnotlagen, widersprechen. c) Prüfen der Konsolidierungsverpflichtungen Neben seinen dauerhaften Aufgaben prüft der Stabilitätsrat gemäß § 2 Abs. 2 Konsolidierungshilfengesetz (KonsHilfG) i. V. m. § 2 S. 1 StabiRatG auch die Einhaltung der Konsolidierungsverpflichtungen der Länder Berlin, Bremen, Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein. Diese Länder BVerfGE 116, 327 (393) (Berliner Haushalt). Zur Prävention von Haushaltsnotlagen und der Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung vgl. Rossi/Schuppert, Notwendigkeit und Inhalt eines Haushaltsnotlagengesetzes, in: ZRP 2006, S. 8. Vgl. auch Blankart/Fasten, Wer soll für die Schulden im Bundesstaat haften? Eine vernachlässigte Frage der Föderalismusreform II, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 2009, Bd. 10(1), S. 39. 206  Kritisch hierzu Koemm, Eine Bremse für die Verschuldung?, 2011, S. 346 f. und 349, die darin sogar einen Verstoß gegen die Verfassung sieht. 207  Siehe Gesetzesbegründung, BR-Drs.  263/09, S. 38. 208  Es kann sich zudem als Schwäche erweisen, dass sich die Schwellenwerte der Länder am Länderdurchschnitt orientieren. Da eine besonders schlechte Situation in einem Land oder einer Gruppe von Ländern den Durschnitt stark beeinflussen kann, ist es möglich, dass die Schwellenwerte keine drohende Haushaltsnotlage anzeigen, obwohl sie tatsächlich vorhanden ist, siehe Thye, Der Stabilitätsrat, 2014, S.  161 f.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz235

sind zu einem stetigen und vollständigen Abbau des strukturellen Finanzierungsdefizits bis zum Jahresende 2020 verpflichtet (Art. 143d Abs. 2 S. 4 GG). Hält ein Land seine länderspezifisch festgelegte jährliche Obergrenze des Finanzierungssaldos nicht ein, wird es vom Stabilitätsrat grundsätzlich verwarnt. Nur in begründeten Ausnahmefällen kann der Rat feststellen, dass eine Überschreitung unbeachtlich ist (§ 2 Abs. 2 S. 2 KonsHilfG). Spricht der Stabilitätsrat eine Verwarnung aus, entfällt der Anspruch auf die Konsolidierungshilfe für dieses Jahr. Im Gegensatz zur regelmäßigen Haushaltsüberwachung erhält der Stabilitätsrat hier das Druckmittel finanzieller Sanktionen. Die Länder Berlin, Bremen, Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein haben auf Grund dieses Sanktionsmechanismus große Anreize, die Konsolidierungsvorgaben auch tatsächlich einzuhalten. 2. Der Stabilitätsrat als Nachfolger des Finanzplanungsrates Der Stabilitätsrat löst den bisher bestehenden Finanzplanungsrat (§§ 51, 51a HGrG a. F.) ab.209 Er wurde im Zuge der großen Finanzreform Ende der 1960er Jahre geschaffen und sollte, ganz im Sinne des damaligen Trends einer Globalsteuerung der Wirtschaft, die Haushalts- und Finanzpolitik von Bund, Ländern und Gemeinden koordinieren. Seine Befugnisse erschöpften sich jedoch in Empfehlungen und Erörterungen, schwerpunktmäßig im Zusammenhang mit den Verpflichtungen im Rahmen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes.210 Der nun eingerichtete Stabilitätsrat ähnelt in seiner personellen Zusammensetzung stark seinem Vorgänger211 und übernimmt dessen fortzuführende Aufgaben. Hierzu zählen insbesondere die koordinierende Beratung über die volks- und finanzwirtschaftlichen Grundannahmen für die Haushalts- und Finanzplanungen der Gebietskörperschaften (§ 51 HGrG) sowie die Erörterung der Fortschrittsberichte zum „Aufbau Ost“ der ostdeutschen Bundesländer (§ 11 Abs. 3 Finanzausgleichsgesetz).212 Die 209  Siehe Art. 1 Gesetz zur Abschaffung des Finanzplanungsrates und zur Übertragung der fortzuführenden Aufgaben auf den Stabilitätsrat sowie zur Änderung weiterer Gesetze (StabRatÄndG) vom 27. Mai 2010, BGBl. I 2010, S. 671. Der Finanzplanungsrat hat in seiner 111. Sitzung vom 10. Dezember 2009 seine Selbstauflösung beschlossen und zum Ausdruck gebracht, dass der Stabilitätsrat seine Aufgaben übernehmen soll. Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Pressemitteilung des Bundesministeriums der Finanzen vom 11.12.2009. 210  Siehe Gesetzesbegründung in BT-Drs.  17/983, S. 7 sowie BVerfGE 116, 327 (393) (Berliner Haushalt). 211  Dem Finanzplanungsrat gehörten zusätzlich vier Vertreter der Gemeinden und der Gemeindeverbände an. 212  § 2 S. 3 Stabilitätsratsgesetz räumt darüber hinaus die Möglichkeit ein, dem Stabilitätsrat weitere Aufgaben zu übertragen, siehe Gesetzesbegründung in BTDrs.  17/983, S. 7.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

Auflösung des Finanzplanungsrates zur Vermeidung von Parallelstrukturen ist daher folgerichtig. Aus rechtspolitischer Sicht ist zudem erwägenswert, den Konjunkturrat gemäß § 18 StabG ebenfalls aufzulösen, da seine Funktion unter den geänderten Rahmenbedingungen zunehmend ins Leere läuft.213 3. Die erweiterten Funktionen des Stabilitätsrates seit dem Fiskalpakt a) Überwachung Das Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages vom 15. Juli 2013214 erweitert in Art. 2 die Aufgaben des Stabilitätsrates. Er überwacht nunmehr auch die Einhaltung der Obergrenze des strukturellen gesamtstaatlichen Finanzierungsdefizits gemäß Art. 3 Abs. 1 VSKS i. V. m. § 51 Abs. 2 HGrG. Er soll damit eine Vorgabe des Fiskalpaktes erfüllen, welche die unterzeichnenden Vertragsparteien auffordert, unabhängige Institutionen einzurichten, um die materiellen Vorgaben des Paktes zu überwachen (Art. 3 Abs. 2 S. 2 VSKS).215 Der neu angefügte § 6 StabiRatG sieht vor, dass der Stabilitätsrat auf der Grundlage einer Schätzung des gesamtstaatlichen Finanzierungssaldos zweimal jährlich die Einhaltung der Vorgaben des Fiskalpaktes überprüft, jeweils für das laufende Haushaltsjahr und die vier folgenden Jahre. Stellt er hierbei fest, dass die Obergrenze des gesamtstaatlichen strukturellen Finanzierungsdefizits in Höhe von 0,5 % des BIP überschritten wird, empfiehlt er Maßnahmen zur Beseitigung des Defizits.216 Der Stabilitätsrat erfüllt damit zwar eine Überwachungsfunktion, doch es ist äußerst fraglich, ob er auch die 213  Siehe schriftliche Stellungnahme des Sachverständigen Homburg, in: Drucksache 1361 des Haushaltsausschusses, 17. Legislaturperiode, S. 3. 214  BGBl. I 2013, S. 2398. Bund und Länder haben zudem am 24. Juni 2012 gemeinsame Eckpunkte zur Umsetzung des Fiskalpaktes vereinbart. Bundesregierung und Bundesrat haben diese am 27. und 29. Juni 2012 in einem gemeinsamen Eckpunktepapier zur Umsetzung des Fiskalpaktes gleichlautend beschlossen, BRDrs.  400/12 (Beschluss). 215  Sie sollen sich hierbei auf die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen „Grundsätze für nationale fiskalpolitische Korrekturmechanismen“ stützen, die auch die Rolle und Unabhängigkeit der für die Überwachung zuständigen Institution betreffen (Grundsatz 7), siehe COM (2012) 342 final vom 20.6.2012, Anhang. Siehe sogleich Abschnitt A.V.3.b) und oben 2. Teil Abschnitt B.I.2.b). 216  Hierbei berücksichtigt er die Empfehlungen des Rates im Rahmen des präventiven Arms des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Kommt kein Beschluss über eine Empfehlung zustande, leiten die Vorsitzenden des Stabilitätsrates das Ergebnis der Prüfung und die erörterten Maßnahmen an den Bundestag und die Landesparlamente weiter.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz237

vom Fiskalpakt geforderte Unabhängigkeit besitzt. Denn seine Zusammensetzung belegt das buchstäbliche Gegenteil: Er besteht ausschließlich aus Mitgliedern der Exekutive von Bund und Ländern.217 Um dem zu begegnen, ergänzt das Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages den Stabilitätsrat um einen „unabhängigen Beirat“ (§ 7 StabiRatG). Mitglieder sind je ein Vertreter der Bundesbank, des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, ein Vertreter der an der Gemeinschaftsdiagnose beteiligten Forschungsinstitute,218 je ein Sachverständiger der kommunalen Spitzenverbände und der Sozialversicherungen219 sowie je zwei Sachverständige, die durch den Bund und die Länder benannt werden (§ 7 Abs. 2 StabiRatG). Der Beirat gibt eine Stellungnahme ab zur Einhaltung der Vorgaben des Fiskalpaktes und beschließt gegebenenfalls Empfehlungen für Maßnahmen, die geeignet sind, das überhöhte Finanzierungsdefizit zu beseitigen. Seine Einschätzungen und Empfehlungen werden veröffentlicht und dem Stabilitätsrat vorgelegt, sie binden diesen jedoch nicht bei seinen Entscheidungen. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass das novellierte Stabilitätsratsgesetz die Anforderungen des Fiskalpaktes an eine unabhängige Überwachung nicht hinreichend erfüllt.220 Zum einen werden vier von neun Mitgliedern des unabhängigen Beirates unmittelbar durch die Vertreter des Bundes und der Länder im Stabilitätsrat benannt.221 Zum anderen hat die Stellungnahme lediglich einen beratenden Charakter. Die Einrichtung des unabhängigen Beirates stellt sich daher als bloßes Feigenblatt heraus, um so die Anforderungen des Fiskalpaktes zu erfüllen.222 Die eigentlichen Beschlüsse zur 217  Mitglieder sind der Bundesminister der Finanzen, der Bundeswirtschaftsminister und die Finanzminister der Länder (§ 1 Abs. 1 StabiRatG). 218  Die Gemeinschaftsdiagnose bewertet die konjunkturellen Entwicklungen in Deutschland und in ausgewählten Weltregionen. Sie wird seit 1950 von den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten zweimal pro Jahr herausgegeben. 219  Zu den Spitzenorganisationen der Sozialversicherungen gehören die Bundesagentur für Arbeit, der GKV-Spitzenverband (Verband der Gesetzlichen Krankenkassen), die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung und die Deutsche Rentenversicherung Bund, siehe Gesetzesbegründung, BT-Drs.  17/10976, S. 17. 220  So aber die Gesetzesbegründung zum Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages, BT-Drs.  17/10976, S. 16 f. Das novellierte Stabilitätsratsgesetz erfüllt auch nicht den – von der Kommission aufgestellten – Grundsatz zur „Rolle und Unabhängigkeit der für die Überwachung zuständigen Institutionen“, vgl. COM (2012) 342 final, Anhang (Grundsatz 7). Siehe oben 2. Teil. Abschnitt B.I.2.b). Im Ergebnis so auch Thye, Der Stabilitätsrat, 2014, S. 240 ff. und Klepzig, Die „Schuldenbremse“ im Grundgesetz – Ein Erfolgsmodell?, 2015, S. 187 f. 221  Darüber hinaus kritisiert Thye, Der Stabilitätsrat, 2014, S. 241 zu Recht, dass der unabhängige Beirat weder mit den erforderlichen Ressourcen ausgestattet ist noch einen ausreichenden Zugang zu Information hat. 222  So auch Thye, Der Stabilitätsrat, 2014, S. 243.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

Kontrolle, ob die materiellen Vorgaben des Fiskalpaktes eingehalten werden, trifft allerdings weiterhin der Stabilitätsrat.223 Dass bei Abstimmung im Stabilitätsrat der Finanzminister der betroffenen Gebietskörperschaft nicht stimmberechtigt ist, reicht nicht aus, um den Stabilitätsrat als unabhängige Institution im Sinne des Fiskalpaktes zu bewerten.224 b) Korrekturmechanismus In Art. 3 Abs. 2 S. 2 VSKS haben sich die Vertragsparteien dazu verpflichtet, auf nationaler Ebene einen Korrekturmechanismus einzurichten und sich dabei auf von der Kommission vorgeschlagene Grundsätze zu stützen.225 Der Fiskalpakt sieht vor, dass bei erheblichen Abweichungen vom mittelfristigen Haushaltsziel oder dem dorthin führenden Anpassungspfad ein automatischer Korrekturmechanismus ausgelöst wird (Art. 3 Abs. 1 lit. e VSKS).226 Auf diese Weise soll die Verbindlichkeit des präventiven Arms des Stabilitäts- und Wachstumspaktes gestärkt werden.227 Aus der Gesetzesbegründung zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalpaktes geht hervor, dass der Stabilitätsrat nicht nur die Überwachungsfunk223  Zwar berücksichtigen die Grundsätze der Europäischen Kommission, dass „bei der Gestaltung [der für die Überwachung zuständigen Institutionen …] dem bereits bestehenden institutionellen Rahmen und der länderspezifischen Verwaltungsstruktur Rechnung getragen“ wird, aber sie fordern unabhängige oder funktional autonome Stellen, die ohne Einflussnahme die Einhaltung des Fiskalpaktes überwachen, siehe COM(2012) 342 final, Anhang (Grundsatz 7). Die im Stabilitätsrat gewählte Struktur, in der die Finanzminister sich selbst überwachen, widerspricht insoweit den Vorgaben des Fiskalpaktes. 224  So aber die Gesetzesbegründung zum Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages, BT-Drs.  17/10976, S. 13. 225  Siehe COM (2012) 342 final vom 20.6.2012, Anhang. Da die Grundsätze selbst nicht materieller Bestandteil des VSKS sind, berühren sie nicht die Kompetenz der Vertragsparteien, den Korrekturmechanismus eigenständig auszugestalten. Vgl. BVerfGE 132, 195 (284) (Europäischer Stabilitätsmechanismus) und siehe oben 2. Teil Abschnitt B.I.2.b). 226  Der nun eingeführte automatische Mechanismus greift einen Grundgedanken des ehemaligen deutschen Bundesfinanzministers Theo Waigel zur Einführung des europäischen Stabilitätspaktes auf, siehe Häde, Art. 104 EGV, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 2007, Rn. 112 f. Vgl. oben 2.  Teil Abschnitt A.V.2., Fn. 203. 227  Siehe Gesetzesbegründung zum Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages, BT-Drs.  17/10976, S. 12. Der Fiskalpakt bedient sich der Maßstäbe des präventiven Arms des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Dies trifft sowohl auf die „erheblichen Abweichungen vom mittelfristigen Haushaltsziel“ (VO  1466/97 Art. 2a) als auch auf den „dorthin führenden Anpassungspfad“ (VO  1466/97 Art. 5, 6, 9, 10) zu.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz239

tion erfüllen, sondern auch als automatischer gesamtstaatlicher Korrekturmechanismus im Sinne des Fiskalpaktes fungieren soll. Der Gesetzgeber argumentiert, dass das neue Staatsschuldenrecht den Vorgaben des Fiskalpaktes bereits im Kern entspräche. Indem der Stabilitätsrat nun das gesamtstaatliche Defizit überwacht, würden die bestehenden Fiskalregeln derart ergänzt, dass der Fiskalpakt auch in puncto Korrekturmechanismus erfüllt wäre.228 Wie genau der – ursprünglich als Präventionsinstrument etablierte – Stabilitätsrat nun auch noch als automatischer Korrekturmechanismus wirken soll, bleibt jedoch unklar. Das novellierte Stabilitätsratsgesetz etabliert jedenfalls keinen Korrekturmechanismus.229 Der Stabilitätsrat spricht lediglich Empfehlungen aus, wenn die im Fiskalpakt festgelegte (und in § 51 Abs. 2 HGrG so übernommene) Defizitgrenze überschritten wird. Ihm stehen weder Sanktionsinstrumente zur Verfügung, noch löst er „automatisch einen Korrekturmechanismus“230 aus. Mit Blick auf die Bundesebene bietet die deutsche Schuldenbremse allerdings auch ohne den Stabilitätsrat einen automatischen Korrekturmechanismus. Das Kontrollkonto des Bundes (Art. 115 Abs. 2 S. 4 GG) bildet in Verbindung mit dessen Rückführungspflicht (§ 7 Abs. 2 und 3 G 115) einen eigenen automatischen Korrekturmechanismus. Auch wenn dieser sich nicht am Maßstab des Fiskalpaktes (d. h. am mittelfristigen Haushaltsziel) orientiert, erfüllt er im praktischen Ergebnis dessen Anforderungen für den Bund,231 und zwar durch die Rückführungspflicht, die greift, sobald das Kontrollkonto ein Defizit aufweist. Ab einem negativen Saldo von 1 % des BIP wird die Nettoneuverschuldungsgrenze für den Bund automatisch um bis zu 0,35 % des BIP abgesenkt.232 Damit erfüllt er den geforderten Auto228  Siehe hierzu die Gesetzesbegründung zum Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages, BT-Drs.  17/10976, S. 12 und insbesondere S. 13: „Mit den Änderungen des Stabilitätsratsgesetzes wird das bereits bestehende umfassende institutionelle und rechtliche Rahmenwerk zur Sicherung der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte um einen fiskalpolitischen Korrekturmechanismus auf gesamtstaatlicher Ebene ergänzt.“ 229  So aber die Gesetzesbegründung zum Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages, BT-Drs.  17/10976, S. 13. Auch die geplante Neuregelung des Stabilitätsratsgesetzes (BT-Drs. 18/11135) ändert hieran nichts. 230  Ebendies fordert jedoch Art. 3 Abs. 1 lit. e S. 1 VSKS. 231  Der Rückführungsmechanismus des deutschen Kontrollkontos legt zwar keinen Zeitraum zur Korrektur fest, wie von Art. 3 Abs. 1 lit. e S. 2 VSKS gefordert. Aber mit der Rückführungspflicht ab einem negativen Saldo von 1 % des BIP gilt er unmittelbar für das nächste Haushaltsjahr und wirkt damit schnellstmöglich. Siehe auch oben Abschnitt A.III.1. 232  Überschreitet der negative Saldo des Kontrollkontos 1 % des BIP, veringert sich die Kreditermächtigung im nächsten Jahr um den überschießenden Betrag, höchstens aber 0,35 % des BIP, und nur bei positiver Veränderung der Produktionslücke. Siehe § 7 Abs. 3 G 115 und oben Abschnitt A.III.1.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

matismus bei der Defizitkorrektur für den Fall, dass der gesamtstaatliche Schuldenstand unter dem Referenzwert von 60 % liegt. Denn Art. 3 Abs. 1 lit. d VSKS erlaubt für diesen Fall ein strukturelles mittelfristiges Haushaltsziel von bis zu 1 % des BIP.233 Für die Länder,234 die kommunalen Gebietskörperschaften und die Sozialversicherungen kennt das deutsche Staatsschuldenrecht jedoch keinen Korrekturmechanismus. Da der Fiskalvertrag einen gesamtstaatlichen Mechanismus fordert, genügt das deutsche Staatsschuldenrecht, auch unter Berücksichtigung des novellierten Stabilitäts­ rats­gesetzes,235 insoweit nicht dessen Anforderungen.236

VI. Die Verschuldungsgrenze des Fiskalpaktes im deutschen Recht (§ 51 Abs. 2 HGrG) Das 2009 reformierte deutsche Staatsschuldenrecht befindet sich – auch mit seinen begrenzenden Regeln zur Kreditaufnahme – im Einklang mit dem europäischen Rechtsrahmen.237 Es verpflichtet Bund und Länder grundsätzlich zu strukturell ausgeglichenen Haushalten und trägt damit auch dem europäischen Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“ Rechnung.238 Jedoch unterscheiden sich seine Maßstäbe von denen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.239 Aus diesem Grund ist die Reform des 233  Der Gesetzgeber sieht im Korrekturmechanismus des Bundes eine besonders strenge Form des nach den Vorgaben des Fiskalpaktes einzurichtenden Korrekturmechanismus, siehe Gesetzesbegründung, BT-Drs.  17/10976, S. 12. 234  Für die Länder gilt zwar eine strenge Schuldenregel, die ab 2020 keine strukturelle Verschuldung zulässt. Einen Korrekturmechanismus schreibt das Grundgesetz für sie aber nicht vor. 235  Bezeichnend und offenbarend ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag des Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble, den Stabilitätsrat „in eine echte Kontrollbehörde umzuwandeln“, ihm Sanktionsinstrumente zur Verfügung zu stellen und ein spezifisches Klagerecht vor dem Bundesverfassungsgericht einzuräumen, siehe Bohsem, Schäuble will Schuldenbremse lockern, in: SZ (Süddeutsche Zeitung), http:// www.sueddeutsche.de/wirtschaft/umdenken-beim-finanzminister-schaeuble-will-dieschuldenbremse-lockern-1.2125202 (abgerufen am 8.4.2017). Der Vorstoß zeigt, dass der Stabilitätsrat derzeit gerade keine Kontrollbehörde ist. 236  So aber der Gesetzgeber: „Mit den Empfehlungen des Stabilitätsrates wird im Zusammenspiel mit den Schuldenbremsen des Bundes und der Länder sowie den Fiskalregeln der Kommunen und der Sozialversicherungen ein fiskalpolitischer Korrekturmechanismus für den Gesamtstaat etabliert. Damit wird ein strenger Maßstab für die Auslösung von Korrekturen festgelegt, der die europäischen Anforderungen erfüllt.“, Gesetzesbegründung, BT-Drs.  17/10976, S. 16. 237  Es erfüllt jedoch die Anforderung des Fiskalpaktes hinsichtlich einer unabhängigen Überwachung der materiellen Vorgaben und eines gesamtstaatlichen Korrekturmechanismus nur unzureichend. Siehe dazu oben Abschnitt A.V.3. 238  Vgl. oben 3. Teil Abschnitt B.I.



A. Ausgestaltung durch Bundesgesetz241

deutschen Staatsschuldenrechts von 2009 auch nicht hinreichend, um die materiellen Vorgaben des erst später geschlossenen Fiskalpaktes zu erfüllen, zumal dieser auf dem präventiven Arm des 2011 reformierten Stabilitäts- und Wachstumspaktes aufbaut. Der deutsche Gesetzgeber hat hierauf reagiert, indem er 2013 § 51 Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG) novelliert hat.240 § 51 Abs. 2 S. 1 HGrG bestimmt, dass das strukturelle gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit241 einen Grenzwert von 0,5 % des BIP nicht überschreiten darf. Die deutsche Umsetzung des Fiskalpaktes formuliert den Grenzwert von 0,5 % des BIP nicht als mittelfristiges Haushaltsziel, sondern als Vorgabe für jedes einzelne Haushaltsjahr. Sie ist damit strenger als die Vorgabe des Fiskalpaktes, der den Wert von 0,5 % als Grenze für das mittelfristige Haushaltsziel vorsieht.242 Da § 51 Abs. 2 S. 2 HGrG jedoch Abweichungen zulässt, sind die Vorgaben im Ergebnis vergleichbar.243 Die Regelung soll gewährleisten, dass Deutschland sein mittelfristiges Haushaltsziel, mit der im Fiskalvertrag (Art. 3 Abs. 1 lit. b VSKS) festgelegten Grenze von 0,5 %, dauerhaft einhält.244 Für die Einzelheiten zur zulässigen Abweichung, für die Berechnungsmethodik des strukturellen Finanzierungsdefizits sowie für Umfang und Zeitrahmen der Rückführung des Defizits verweist § 51 Abs. 2 S. 2 HGrG auf die entsprechenden Bestimmungen des 239  Beispielsweise findet sich eine „erhebliche Abweichung“ vom „mittelfristigen Haushaltsziel“ oder dem „dorthin führenden Anpassungspfad“ nicht im deutschen Staatsschuldenrecht. Siehe hierzu auch oben 3. Teil Abschnitt C.II. 240  Siehe Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages vom 15. Juli 2013, BGBl. I 2013, S. 2398 ff. § 51 Abs. 1 S. 2 HGrG berücksichtigt nunmehr, neben den Verpflichtungen aus Art. 126 AEUV, explizit auch die mit dem präventiven Arm des Stabilitäts- und Wachstumspaktes im Zusammenhang stehenden Verpflichtungen der Art. 121 AEUV und Art. 136 AEUV (als vertragliche Grundlage für spezielle Regelungen für Euroländer zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin im Hinblick auf das reibungslose Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion), vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs.  17/10976, S. 16. In Art. 109 Abs. 3 GG fehlt dieser explizite Bezug auf die Art. 121 und 136 AEUV noch. 241  Das strukturelle gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit ist gemäß Art. 3 Abs. 3 lit. a VSKS das konjunkturbereinigte jährliche Defizit des Gesamtstaates (einschließlich Kommunen und Sozialversicherungen) ohne Anrechnung einmaliger und befristeter Maßnahmen. 242  Siehe oben 2. Teil Abschnitt B.I.2.a). 243  Indem § 51 Abs. 2 S. 1 HGrG die Grenze von 0,5 % des BIP festlegt, verzichtet das deutsche Recht auf die Option des Art. 3 Abs. 1 lit. d VSKS, der für den Fall eines Schuldenstandes von erheblich unter 60 % des BIP ein strukturelles Defizit von 1 % des BIP zulässt. 244  Der Fiskalpakt ist damit sogar strenger als der präventive Arm des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, welcher eine Untergrenze für die länderspezifischen mittelfristigen Haushaltsziele (der Eurostaaten) von 1 % des BIP vorsieht (Art. 2a UAbs. 2 VO  1466/97). Siehe oben 2.  Teil Abschnitte A.III.2. und B.I.2.a).

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

präventiven Arms des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (VO  1466 / 97) und auf Art. 3 VSKS.245 Seine Maßstäbe sind insoweit auch Bestandteil des deutschen Staatsschuldenrechts.246 § 51 Abs. 2 HGrG ergänzt damit die bestehenden Regeln der deutschen Schuldenbremse.247 Neben den materiellen Vorgaben stellt sich allerdings auch die Frage, ob die Regelung in § 51 Abs. 2 HGrG den formalen Anforderungen für die natio­nalstaatliche Umsetzung (Art. 3 Abs. 2 S. 1 VSKS) genügt. Art. 3 Abs. 2 S. 1 VSKS verlangt Bestimmungen von verbindlicher und dauerhafter Art. Das deutsche Haushaltsgrundsätzegesetz stützt sich auf die spezifische Grundsatz-Gesetzgebungskompetenz des Bundes gemäß Art. 109 Abs. 4 GG.248 Hiernach beschränkt der Bund – mit Zustimmung des Bundesrates – nicht nur die Zuständigkeiten der Länder, sondern bindet auch sich selbst. Dem Haushaltsgrundsätzegesetz kommt damit praktisch „eine Stellung zwischen Verfassung und einfachem Recht zu [… ohne damit eine] eigenständige Rechtskategorie zwischen Verfassung und einfachem Recht“ zu schaffen.249 Folglich wird das Haushaltsgrundsätzegesetz mitunter auch als „Grundgesetz des Haushaltsrechts“250 bezeichnet. Die besondere Bindungswirkung ergibt sich sowohl aus der inhaltlichen Beschränkung, dass nur gemeinsam geltende Grundsätze für Bund und Länder erlassen werden dürfen, als auch aus der verfahrensrechtlichen Beschränkung, die eine Zustimmung des Bundesrates verlangt.251 Das Haushaltsgrundsätzegesetz entwickelt damit eine Vorrang- und Bindungswirkung, nicht nur gegenüber den Gesetzgebern der Länder, sondern auch gegenüber dem Bundesgesetzgeber.252 Die Selbst245  Siehe

Gesetzesbegründung, BT-Drs.  17/10976, S. 15. hierzu die Analyse oben 2. Teil Abschnitte A.III. und B.I.2.a). 247  Bis 2020, dem Ende des Übergangszeitraums, in dem das strukturelle Neuverschuldungsverbot für die Länder noch nicht gilt, sind die Vorgaben des § 51 Abs. 2 HGrG für den Gesamtstaat strenger als die bisherige deutsche Schuldenbremse. 248  Die von Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 597 ff. (im Jahre 2004) diskutierte Frage, inwieweit Art. 109 Abs. 3 GG a. F. (nunmehr Abs. 4 n. F.) eine Kompetenz zur Regelung konkreter innerstaatlicher Verschuldungskennziffern für Bund und Länder enthält, stellt sich hier nicht, da § 51 Abs. 2 HGrG eine mittelfristige Obergrenze für den Gesamtstaat als Ganzes formuliert. Es handelt sich hierbei um keine Detailregelung, die zusätzlich zu Art. 109 Abs. 2 GG in die Haushaltsautonomie der Länder eingreift. Dies betont auch das Eckpunktepapier von Bund und Ländern, BR-Drs.  400/12 (Beschluss), S. 2. 249  Siehe Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 352. 250  Siehe Heller, Haushaltsgrundsätze für Bund, Länder und Gemeinden: systematische Darstellung, 1998, Rn. 14. 251  Siehe Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn.  352 ff. 252  Siehe hierzu und im Folgenden Rodi, Art. 109 in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK-GG, 2004, Rn. 353 f. 246  Vgl.



B. Ausgestaltung der Konjunkturkomponente durch Rechtsverordnung243

bindung entfällt nur durch eine ausdrückliche Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes selbst. Das Haushaltsgrundsätzegesetz ist demnach hinreichend verbindlich für die Umsetzung des Fiskalpaktes im deutschen Recht.

B. Ausgestaltung der Konjunkturkomponente durch Rechtsverordnung Das Bundesministerium der Finanzen legt in der Artikel 115-Verordnung (Art 115 V) das Verfahren zur Bestimmung der Konjunkturkomponente fest.253 Die Verordnung regelt, wie die Konjunkturkomponente ermittelt wird, sowohl für die Aufstellung des Haushalts254 als auch für die Buchungen auf dem Kontrollkonto.255 Die Ausgestaltung der Konjunkturkomponente birgt allerdings Gefahren für eine wirksame Begrenzung der Staatsverschuldung.256

I. Die Ermittlung der Konjunkturkomponente 1. Berechnung von Produktionslücke und Budgetsensitivität Die Artikel 115-Verordnung wiederholt in § 2 Abs. 1 Art 115 V zunächst die gesetzliche Vorgabe (§ 5 Abs. 3 G 115), dass die Konjunkturkomponente durch Multiplikation von Produktionslücke und Budgetsensitivität berechnet wird. In den folgenden Absätzen werden sodann die Verfahren zur Bestimmung der Produktionslücke (§ 2 Abs. 2 Art 115 V) und der Budgetsensitivität (§ 2 Abs. 3 Art 115 V) konkretisiert. a) Produktionslücke Die Produktionslücke ist die Differenz zwischen dem erwarteten Bruttoinlandsprodukt und dem normalausgelasteten Produktionspotential.257 Letzteres entspricht dem BIP, welches bei Normalauslastung der Produktionsfak253  Die Verordnung über das Verfahren zur Bestimmung der Konjunkturkomponente nach § 5 des Artikel 115-Gesetzes (Artikel 115-Verordnung – Art 115 V) wurde am 09. Juni 2010 auf der Grundlage des § 5 Abs. 4 S. 1 G 115 im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie erlassen. Sie gilt seit dem 19.06.2010. Siehe BGBl. I 2010, S. 790. 254  Siehe unten Abschnitt B.I.1. 255  Siehe unten Abschnitt B.I.2. 256  Siehe unten Abschnitt B.II. 257  Siehe hierzu und im Folgenden § 2 Abs. 2 Art 115 V. Siehe oben Abschnitt A.II.2.b).

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

toren erreichbar ist. Die Schätzung des Produktionspotentials erfolgt mit Hilfe einer gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktion vom Typ CobbDouglas (§ 2 Abs. 2 S. 2 Art 115 V).258 Um das Produktionspotential zu bestimmen, kombiniert die Produktionsfunktion die normal ausgelasteten Produktionsfaktoren Arbeit und Kapitalstock und multipliziert sie mit dem Trend der Totalen Faktorproduktivität (TFP),259 dem Maß für den technischen Fortschritt bei Normalauslastung. Cobb-Douglas-Produktionsfunktionen sind ein weit verbreitetes Instrument der Makro- und Mikroökonomie. Sie beschreiben eine gesamtwirtschaftliche Produktion (Output) als Funktion der Input-Faktoren (Arbeit, Kapital, TFP) und deren Output-Elastizitäten.260 Sowohl die Input-Faktoren als auch die Elastizitäten müssen mittels komplizierter ökonometrischer Modelle geschätzt werden.261 Die Input-Faktoren werden hierfür jeweils in weitere Komponenten aufgeschlüsselt, um die gesamtwirtschaftlichen Einflüsse auf das Produktionspotential berücksichtigen zu können.262 Hierzu 258  Die Cobb-Douglas-Funktion ist eine der bekanntesten und am häufigsten verwendeten Produktionsfunktionen in den Wirtschaftswissenschaften. Sie ist hoch aggregiert, umfasst die Technologie der gesamten Volkswirtschaft und berücksichtigt die Output-Elastizitäten der einzelnen Produktionsfaktoren. Siehe Gabler Wirtschaftslexikon, „Cobb-Douglas-Funktion“ und „Produktionsfunktion“, 2014, S. 630 und S. 2563. 259  Die Totale Faktorproduktivität (TFP) stellt den Anteil des Produktionsanstieges dar, der nicht auf die Faktoren Arbeit oder Kapital zurückzuführen ist. Sie ist das Maß für den technischen Fortschritt, enthält aber auch weitere Residual-Größen. Siehe oben Abschnitt A.II.2.b)bb)., Fußnoten 98 und 99. Vgl. Holtemöller et al., Modelle zur Konjunkturbereinigung und deren Auswirkungen, IWH Online 2/2014, S. 9. 260  Die Output-Elastizitäten geben an, wie stark die gesamtwirtschaftliche Produktion steigt, wenn die Input-Faktoren erhöht werden. Das Grundmodell der CobbDouglas-Produktionsfunktion unterstellt konstante Skalenerträge, d. h. die Summe der Elastizitäten (Arbeit und Kapital) ergibt den Wert eins. Die Cobb-Douglas-Produktionsfunktion basiert auf der Formel Y  =  La  ∙  Kb  ∙  TFP, wobei Y den Output, L den Faktor Arbeit, K den Faktor Kapital, a und b die jeweilige Outputelastizität und TFP die Totale Faktorproduktivität angeben. Siehe Gabler Wirtschaftslexikon, „Cobb-Douglas-Funktion“, 2014, S. 630. 261  Siehe hierzu oben Abschnitt A.II.2.b).bb). Vgl. u. a. Havik/McMorrow/­Orlandi et al., The production function methodology for calculating potential growth rates and output gaps, in: European Economy – Economic Papers, No. 535, 2014. Für den Faktor Arbeit müssen beispielsweise die Zeitreihen für Arbeitszeit je Erwerbs­ tätigem, Partizipationsraten und die strukturelle Arbeitslosigkeit geschätzt werden, zum Beispiel mit einem HP-Filter. Siehe Bundesministerium der Finanzen, Gesamtwirtschaftliches Produktionspotenzial und Konjunkturkomponenten – Datengrund­ lagen und Ergebnisse der Schätzungen der Bundesregierung, Jahresprojektion vom 28.1.2015, S. 11, http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/ Abt_1/1110171a5002.pdf?__blob=publicationFile&v=17 (abgerufen am 8.4.2017). 262  Die einzelnen Faktoren werden nachfolgend nur beispielhaft und nicht abschließend benannt. Ausführlicher hierzu Deutsche Bundesbank, Das Produktionspo-



B. Ausgestaltung der Konjunkturkomponente durch Rechtsverordnung245

zählen beispielsweise: Arbeitskräfteangebot, Erwerbsbeteiligung (Partizipationsrate), Arbeitszeit pro Kopf, strukturelle Arbeitslosigkeit (Faktor Arbeit); Wachstum des Kapitalstocks, Kapitalintensität, Auslastung des Anlagevermögens, Investitionsquote (Faktor Kapital). Welche gesamtwirtschaftlichen Größen als Input-Komponenten herangezogen werden und wie diese konkret in die Produktionsfunktion einfließen, hängt jedoch von der jeweiligen Spezifikation der Cobb-Douglas-Produktionsfunktion ab. Die Schätzung des Produktionspotentials soll mit dem im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes angewandten Verfahren übereinstimmen (§ 2 Abs. 2 S. 2 Art 115 V).263 Die Verordnung bezieht sich hier auf den jeweiligen Entwicklungsstand des EU-Verfahrens zur Potentialschätzung. Dieses wird von der sogenannten „Output Gaps Working Group“264 ständig weiterentwickelt.265 Die Verordnung fordert jedoch keine vollständige Identität, da die Produktionsfunktion länderspezifische Charakteristika berücksichtigen muss, gefordert ist vielmehr eine gleichartige Methodik.266 Um nun die Produktionslücke zu bestimmen, wird das geschätzte Produktionspotential mit dem erwarteten BIP verglichen. Maßgeblich ist das BIP für das Haushaltsjahr, für das der Haushalt aufgestellt wird (§ 5 Abs. 2 S. 2 G 115). Die Bundesregierung bestimmt das erwartete BIP mit ihrer jeweils aktuellen gesamtwirtschaftlichen Vorausschätzung für die kurze und mittlere Frist. Diese Vorausschätzungen der Bundesregierung sind fester Bestandteil des Haushaltszyklus und werden dreimal jährlich erstellt, als Jahresprojektion Anfang Januar (Jahreswirtschaftsbericht),267 als Frühjahrsprojektion im April und als Herbstprojektion im Oktober.268 Für die Bestimmung der ertential in Deutschland und seine Bestimmungsfaktoren, Monatsbericht August 1995, S. 41. 263  Vgl. oben 2. Teil Abschnitt A.II.3., Fn. 80. 264  Vgl. https://europa.eu/epc/output-gaps-working-group_en (abgerufen am 8.4.2017). 265  Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Die Ermittlung der Konjunkturkomponente des Bundes im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Februar 2011, S. 66 (68). Die letzte Anpassung wurde im Herbst 2014 vorgenommen, vgl. Havik/McMorrow/Orlandi et al., The production function methodology for calculating potential growth rates and output gaps, in: European Economy – Economic Papers, No. 535, 2014. Siehe auch oben Fn. 122. 266  Siehe hierzu oben Abschnitt A.II.2.c). Das Bundesministerium der Finanzen betont, dass das Modell der EU auf einem möglichst einheitlichen Ansatz für alle Mitgliedstaaten beruht und dass es sinnvoll sein kann, hiervon abzuweichen, siehe Bundesministerium der Finanzen, Die Ermittlung der Konjunkturkomponente des Bundes im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Februar 2011, S. 66 (69). 267  Siehe § 2 Abs. 1 Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8.6.1967, BGBl. I 1967, S. 582. 268  Die Vorausschätzungen der Bundesregierung werden von dem interministe­ riellen Arbeitskreis „gesamtwirtschaftliche Vorausschätzung“ unter Federführung des

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

warteten Produktionslücke bei der Verabschiedung des Haushaltes wird die Herbstprojektion herangezogen.269 Als weitere Datengrundlage für die Berechnung der Produktionslücke dient die vom Statistischen Bundesamt erstellte Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR).270 b) Budgetsensitivität Die Budgetsensitivität gibt an, wie elastisch der Bundeshaushalt auf Veränderungen der Konjunktur reagiert. Sie erfasst die Veränderung des Finanzierungssaldos des Bundes in Relation zum BIP, wenn das BIP um ein Prozent vom Produktionspotential abweicht.271 Die Budgetsensitivität wird berechnet aus der Summe der gesamtstaatlichen Teilelastizitäten,272 die auch im Verfahren zur Haushaltsüberwachung nach dem Stabilitäts- und Wachstumspakt verwendet werden (§ 2 Abs. 3 S. 2 Art 115 V). Das zum Vorbild genommene europäische Verfahren stützt sich ganz wesentlich auf eine Studie der OECD aus dem Jahr 2005.273 Die Ökonomen André und Girouard entwickeln hierin ein Modell der Budgetsensitivität, Bundeswirtschaftsministeriums erstellt. Die aktuellen Projektionen können hier abgerufen werden: http://www.bmwi.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunktur-und-Statisti ken/projektionen.html (abgerufen am 8.4.2017). 269  Siehe Bundesministerium der Finanzen, Die Ermittlung der Konjunkturkomponente des Bundes im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Februar 2011, S. 66 (72). 270  Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) ist die umfassende Buchführung eines Landes zur Erfassung der Güter- und Einkommensströme zwischen privaten Haushalten, Unternehmen, Staat und Ausland. Sie stellt u. a. die Entstehung, Verwendung und Verteilung des Bruttoinlandsproduktes dar. Siehe Das Lexikon der Wirtschaft, „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung“, 2004, S. 52. 271  Siehe hierzu und im Folgenden § 2 Abs. 3 Art 115 V. 272  Für die Budgetsensitivität des Bundes wird nur der Anteil des Bundeshaushaltes an der gesamtstaatlichen Budgetsensitivität herangezogen. Das heißt, die Budgetanteile der Länder, Kommunen und Sozialversicherungen werden auf der Grundlage der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) herausgerechnet. Siehe Baumann/ Schneider, Die neue Regel des Bundes, in: Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, Kastrop et al. (Hrsg.), 2010, S. 89 (107). Das Bundesfinanzministerium legt für das Haushaltsjahr 2015 eine Budgetelastizität des Bundes in Höhe von 0,205 zugrunde, siehe Bundesministerium der Finanzen, Schuldenbremse 2015: Struktureller Überschuss – das zweite Jahr in Folge, Monatsbericht September 2016, S. 22 (24). 273  Siehe André/Girouard, Measuring Cyclically-Adjusted Budget Balances for OECD Countries, in: OECD Economics Department Working Papers, no. 434, 2005. Die OECD-Methode wurde vom Ecomomic Policy Committee am 27.6.2005 angenommen, vgl. Europäische Kommission (Hrsg.), ECFIN/B/6(2005)  REP54508 vom 30.9.2005, S. 2. Seitdem wurde sie von Mourre/Isbasoiu/Paternoster/Salto, The cyclically-adjusted budget balance used in the EU fiscal framework: an update, European Economy. Economic Papers Nr. 478, 2013 und Mourre/Astarita/Princen, Ad-



B. Ausgestaltung der Konjunkturkomponente durch Rechtsverordnung247

die sich – unter Berücksichtigung weiterer Annahmen274 – aus folgenden Teilelastizitäten zusammensetzt: Steuereinnahmen (indirekte Steuern, Einkommen- und Körperschaftssteuern), Beiträge zu Sozialversicherungen und die Transferzahlungen für (nicht-strukturelle) Arbeitslosigkeit als die einzige konjunkturreagible Ausgabenposition.275 Das bedeutet, die Elastizitäten dieser Einnahmen- und Ausgabenkategorien geben an, wie stark der Haushalt auf konjunkturelle Veränderungen reagiert.276 Die Artikel 115-Verordnung bezieht sich ebenfalls auf diese OECD-Untersuchung als Grundlage, um die Budgetsensitivität bestimmen zu können.277 Sie ist jedoch nicht auf diese eine Untersuchung festgelegt, sondern offen für methodische Weiterentwicklungen, beispielsweise durch das Economic Policy Committee der EU.278 Die Budgetsensitivität muss insbesonjusting the budget balance for the business cycle: the EU methodology, European Economy. Economic Papers Nr. 536, 2014 weiterentwickelt. 274  André/Girouard unterstellen beispielsweise eine zeitliche Verzögerung der konjunkturellen Wirkung auf den Haushalt von maximal zwei Jahren, siehe André/ Girouard, Measuring Cyclically-Adjusted Budget Balances for OECD Countries, in: OECD Economics Department Working Papers, no. 434, 2005, S. 25 f. 275  Die mit diesem Modell berechneten gesamtstaatlichen Budgetelastizitäten weisen nur geringe Schwankungen im Zeitverlauf auf, und zwar für das Jahr 2003 eine Elastizität von 0,51, für 2000 eine Elastizität von 0,47 und für 1996 eine Elastizität von 0,49. Siehe André/Girouard, Measuring Cyclically-Adjusted Budget Bal­ ances for OECD Countries, in: OECD Economics Department Working Papers, no. 434, 2005, S. 24. Durch die methodische Weiterentwicklung (vgl. oben Fn. 273) erhöhte sich die gesamtstaatliche Budgetsensitivität leicht, auf nunmehr 0,55. Siehe Mourre/Astarita/Princen, Adjusting the budget balance for the business cycle: the EU methodology, European Economy. Economic Papers Nr. 536, 2014, S. 21. 276  Die Berücksichtigung der Wirkung der Konjunktur auf den Haushalt wird vom Grundgesetz gefordert (Art. 115 Abs. 2 S. 3 GG). Siehe hierzu auch oben Abschnitt A.II.2.a). 277  Dies belegt die entstehungsgeschichtliche Auslegung, siehe Baumann/Schneider, Die neue Regel des Bundes, in: Kastrop et al. (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 89 (106 f.); Bundesministerium der Finanzen, Die Ermittlung der Konjunkturkomponente des Bundes im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Februar 2011, S. 66 (71 f.). Die Ergebnisse der OECD-Studie wurden durch die Untersuchung von Büttner et al., Berechnung der BIP-Elastizitäten öffentlicher Ausgaben und Einnahmen zu Prognosezwecken und Diskussion ihrer Volatilität, in: ifo Forschungsberichte, Nr. 28, 2006, im Auftrage des Bundesministeriums der Finanzen grundsätzlich bestätigt. 278  Das Economic Policy Committee (Wirtschaftspolitischer Ausschuss) des ECOFIN-Rates wurde vom Rat der EG am 18.2.1974 eingesetzt (74/122/EWG), zuletzt geändert durch Beschluss des Rates vom 18.6.2003 (2003/475/EG). Die Weiterentwicklung der Methode steht allerdings unter dem Vorbehalt des § 5 Abs. 4 S. 2 G 115, vgl. oben Abschnitt A.II.2.d). Ungeachtet dessen verstößt die unzureichende gesetzliche Bestimmung der Budgetsensitivität gegen die Vorgaben des Art. 80 Abs. 1 GG. Vgl. oben Abschnitt A.II.3.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

dere (grundlegende) Änderungen im Steuer- und Leistungsrecht berücksichtigen, soweit sie die konjunkturreagiblen Einnahmen und Ausgaben des Bundeshaushaltes betreffen.279 2. Buchung auf dem Kontrollkonto nach Haushaltsabschluss Für die Buchung auf dem Kontrollkonto wird die Konjunkturkomponente mit den aktualisierten Daten für die tatsächliche Wirtschaftsentwicklung neu berechnet. Hierzu wird die zum Zeitpunkt der Haushaltsaufstellung ermittelte Produktionslücke korrigiert. Grundlage hierfür ist die Differenz zwischen der zum Zeitpunkt der Buchung auf dem Kontrollkonto vom Statistischen Bundesamt festgestellten und der bei Haushaltsaufstellung erwarteten Veränderung des BIP (§ 3 Art 115 V).280 Die Verordnung verzichtet darauf, das Produktionspotential ebenfalls neu zu schätzen, sondern beschränkt sich auf die Veränderung des BIP. Mit diesem sogenannten „konditionierten Ansatz“281 unterstellt der Verordnungsgeber, dass unerwartete Veränderungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vollumfänglich konjunktureller Natur sind. Mögliche strukturelle Verschiebungen der gesamtwirtschaftlichen Produktion bleiben damit unberücksichtigt.282 Eine 279  Das OECD-Verfahren alleine reicht nicht aus, um die Budgetsensitivität des Bundes zu bestimmen. Denn es ist darauf angelegt, möglichst vergleichbare Ergebnisse im OECD-Raum zu erreichen. Und auch wenn die untersuchten Länder grob nach ihrer grundsätzlichen Ausgestaltung des Steuersystems gruppiert werden, kann die Studie nicht die individuellen Besonderheiten der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigen. Darüber hinaus trifft die Studie weitere vereinfachende Annahmen. So wird beispielsweise bei den indirekten Steuern eine Elastizität von eins unterstellt. Das bedeutet, sie würden sich genau in dem Maße verändern wie das Wirtschaftswachstum. Auch wenn die indirekten Steuern sehr stark auf die Konjunktur reagieren, erscheint eine Elastizität von eins eher unrealistisch. Denn ein wirtschaftlicher Aufschwung kann beispielsweise durch einen starken Exportüberschuss getrieben sein, welcher nicht unmittelbar zu Mehreinnahmen bei den indirekten Steuern führt. 280  Wurde die Strukturkomponente bei der Haushaltsplanung durch den automatischen Rückführungsmechanismus des Kontrollkontos gesenkt, unterstellt man für die abschließende Buchung des betreffenden Haushaltsjahres auf dem Kontrollkonto eine unveränderte Strukturkomponente von 0,35 % des BIP. Siehe hierzu oben Abschnitt A.III.1.b). 281  Siehe Kastrop/Snelting, Das Modell des Bundesfinanzministeriums für eine neue Schuldenregel, in: Wirtschaftsdienst 6/2008, S. 375 (380). Die Verordnung der deutschen Schuldenbremse unterscheidet sich mit ihrem konditionierten Ansatz des Kontrollkontos von dem Modell der Schweizer Schuldenbremse und des Sachverständigenrates. Vgl. oben 1. Teil Abschnitt C.I. und 3. Teil Abschnitt A.I.2., jeweils m. w. N. 282  Siehe Bundesministerium der Finanzen, Die Ermittlung der Konjunkturkomponente des Bundes im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Februar 2011, S. 66 (73).



B. Ausgestaltung der Konjunkturkomponente durch Rechtsverordnung249

Neuschätzung des Produktionspotentials würde hingegen die Produktions­ lücke zusätzlich verändern.283 Mit dem konditionierten Ansatz ist die Wirkung jedoch einfach: Eine schwächere Entwicklung erhöht den Kreditspielraum, eine positivere Entwicklung verkürzt ihn. Das Bundesfinanzministerium befürwortet diesen Ansatz aus mehreren Gründen:284 Eine Neuschätzung des Produktionspotentials bedeutet zugleich, dass die Revisionsan­fälligkeit zunimmt. Das Ergebnis der Schätzung (d. h. die zulässige Ober­grenze) würde bei der rückblickenden Analyse stark schwanken, die Abweichung der konjunkturellen Entwicklung von der ursprünglichen Vorausschätzung könnte nur ungenau abgebildet werden.285 Darüber hinaus erscheint es dem Bundesfinanzministerium nicht angemessen, die Haushaltswirtschaft aufgrund von Informationen zu bewerten, die der Politik bei Haushaltsaufstellung noch nicht vorlagen. Zudem ergeben sich die Abweichungen vom Finanzierungssaldo in der Regel überwiegend durch eine veränderte BIPEntwicklung.286 Bei diesem Ansatz besteht die Gefahr, dass das Kontrollkonto – und damit die einfachgesetzliche Ausgestaltung insgesamt – in Konflikt mit dem Symmetriegebot des Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG gerät. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Produktionspotentiale am aktuellen Rand und für die Zukunft häufig zu positiv bewertet werden.287 In diesen Fällen können auch Schätzverfahren, die grundsätzlich symmetrisch ausgestaltet sind, für die jeweils aktuelle Situation eine konjunkturelle Unterauslastung errechnen 283  So könnte beispielsweise ein reduziertes Produktionspotential eine negative Produktionslücke (Differenz zwischen BIP und Potential) verkleinern und damit auch die für das Kontrollkonto relevante Obergrenze der Verschuldung absenken. Als Folge müsste auf dem Kontrollkonto ein höherer Betrag an unzulässiger (struktureller) Verschuldung gebucht werden. Mit dem konditionierten Ansatz kann das Kontrollkonto jedenfalls einem politisch bewusst geplanten, zu hoch angesetzten Produktionspotential nicht entgegen wirken, einer opportunistischen BIP-Schätzung bei Haushaltsaufstellung hingegen schon. 284  Siehe im Folgenden Bundesministerium der Finanzen, Die Ermittlung der Konjunkturkomponente des Bundes im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Februar 2011, S. 66 (73). 285  Kastrop/Snelting, Das Modell des Bundesfinanzministeriums für eine neue Schuldenregel, in: Wirtschaftsdienst 6/2008, S. 375 (380). 286  Siehe Bundesministerium der Finanzen, Die Ermittlung der Konjunkturkomponente des Bundes im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Februar 2011, S. 66 (73). 287  Siehe Deutsche Bundesbank, Zur Verlässlichkeit der Schätzungen internationaler Organisationen zur Produktionslücke, Monatsbericht April 2014, S. 13 (35 f.). Siehe auch Kempkes, Cyclical Adjustment in Fiscal Rules: Some Evidence on RealTime Bias for EU-15 Countries, in: Finanzarchiv, Vol. 7 No. 2, 2014, S. 278 (305 f.) und Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche Inhalte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 15 (25 f.).

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

und damit schließlich den Kreditrahmen erhöhen.288 Da diese Kreditaufnahmen vermeintlich konjunkturell gerechtfertigt sind, werden sie nicht auf dem Kontrollkonto verbucht.289 Werden diese zu optimistischen Schätzungen nicht innerhalb des Konjunkturzyklus durch das Schätzverfahren kompensiert, kommt es zu einem Schuldenaufbau, der dem verfassungsrechtlichen Symmetriegebot widerspricht.290 Im Gegensatz zum Produktionspotential ist die Budgetsensitivität in der Regel deutlich stabiler. Sie wird daher grundsätzlich nicht neu berechnet.291 Bei Nachträgen zum Haushaltsgesetz wird die Konjunkturkomponente nach dem gleichen Verfahren, aber mit jeweils aktuellen BIP-Daten, an die veränderte Einschätzung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung angepasst (§ 4 Art 115 V).

II. Rechtspolitische Analyse der Ausgestaltung: Gefahren für eine wirksame Begrenzung der Staatsverschuldung 1. Unsicherheiten der Konjunkturbereinigung Die derzeit bekannten Verfahren zur Konjunkturbereinigung bieten keine sicheren Schätzungen der Produktionslücke. Mehrere empirische Untersuchungen292 zeigen, dass die Ergebnisse der unterschiedlichen Verfahren zum 288  Siehe Deutsche Bundesbank, Zur Verlässlichkeit der Schätzungen internationaler Organisationen zur Produktionslücke, Monatsbericht April 2014, S. 13 (35). 289  Siehe dazu auch unten Abschnitt B.II.1. 290  Da das Produktionspotential bei Haushaltsaufstellung jeweils neu, aber nicht gänzlich unabhängig vom Vorjahr, geschätzt wird, sind die Folgewirkungen von zu optimistischen Annahmen am aktuellen Rand für die kommenden Haushaltsjahre nicht eindeutig. A priori lässt sich nicht feststellen, ob die Fehlannahmen dadurch möglicherweise perpetuiert oder kompensiert werden. Zu den Unsicherheiten bei den Schätzverfahren siehe sogleich Abschnitt B.II.1. 291  Eine Neubestimmung kann jedoch dann zwingend erforderlich sein, wenn beispielsweise eine große Ausgabenposition diskretionär verändert wird. So hat der Bund beispielsweise im Jahr 2010 das Defizit der Bundesagentur für Arbeit (einmalig) durch einen Zuschuss finanziert. Da der direkte Zuschuss nicht als finanzielle Transaktion bereinigt wird, war der Bundeshaushalt konjunkturell stärker belastet. Die Budgetsensitivität erhöhte sich von rund 0,16 auf rund 0,25, siehe Bundesministerium der Finanzen, Die Ermittlung der Konjunkturkomponente des Bundes im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Februar 2011, S. 66 (71 f.). Eine Anpassung könnte zudem erforderlich sein, wenn grundsätzliche strukturelle Änderungen im Steuer- oder Leistungsrecht vorgenommen wurden, die bereits im Laufe des abgelaufenen Haushaltsjahres haushaltswirksam geworden sind. 292  Vgl. Kempkes, Cyclical Adjustment in Fiscal Rules: Some Evidence on RealTime Bias for EU-15 Countries, in: Finanzarchiv, Vol. 7 No. 2, 2014, S. 278 (305 f.);



B. Ausgestaltung der Konjunkturkomponente durch Rechtsverordnung251

Teil sehr deutlich voneinander abweichen.293 Die große Unsicherheit ergibt sich nicht nur durch die Ausgestaltung des Schätzmodells, sondern auch durch unklare Parameter, also den konkreten Werten, die in das gewählte Modell „eingesetzt“ werden, um die Produktionslücke zu bestimmen. Denn teilweise müssen auch diese Werte erst geschätzt oder schlicht unterstellt werden.294 Zudem werden Daten regelmäßig in großem Umfang revidiert, auch für lang zurückliegende Zeiträume.295 Das bedeutet, dass es auch inDeutsche Bundesbank, Zur Verlässlichkeit der Schätzungen internationaler Organisationen zur Produktionslücke, Monatsbericht April 2014, S. 13; Europäische Zen­ tralbank, Potentialwachstum und Produktionslücke: Begriffsabgrenzung, Anwendungsbereiche und Schätzergebnisse, EZB Monatsbericht Oktober 2000, S. 39; Deutsche Bundesbank, Das Produktionspotential in Deutschland und seine Bestimmungsfaktoren, Monatsbericht August 1995, S. 41 sowie Kastrop/Snelting, Das Modell des Bundesfinanzministeriums für eine neue Schuldenregel, in: Wirtschaftsdienst 6/2008, S. 375 (380). 293  Hetschko/Quint/Thye, Nationale Schuldenbremsen für die Länder der Europäischen Union, in: Diskussionsbeiträge des Fachbereiches Wirtschaftswissenschaften, 2012/12, S. 6 f. zeigen, dass die unterschiedlichen Verfahren der Potentialschätzung die Höhe der Konjunkturkomponente massiv beeinflussen. Für das Jahr 2009 hätte sich beispielsweise eine Schwankungsbreite von über 30 Mrd. Euro ergeben. Auch kleinere Modifikationen innerhalb des Produktionsfunktionsverfahrens, wie es die EU verwendet, haben bereits deutliche Auswirkungen auf das Produktionspotential. Das Institut für Makroökonomie hat die daraus resultierenden Spannweiten der Konjunkturkomponente berechnet. Sie liegen für das Haushaltsjahr 2010 zwischen –1,9 und +15,4 Mrd. Euro und für das Jahr 2011 sogar zwischen –12,2 Mrd. und +3,1 Mrd. Euro, siehe Horn et al., Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik 2011, IMK Report Nr. 59, Januar 2011, S. 16. 294  Diese Input-Komponenten der Produktionsfunktion sind in der Regel keine trivialen Daten(reihen), die einfach „eingesetzt“ werden können. Häufig müssen sie erst (ökonometrisch) geschätzt und selbst konjunkturell geglättet werden. Die Glättung beeinflusst das Schätzergebnis in erheblichem Ausmaß. Seit der Umstellung des Schätzmodells der EU 2011 werden die einzelnen Komponenten der Produktionsfunktion mit dem vergleichsweise komplexen, und damit gestaltungsanfälligen, Kalman-Filter konjunkturell geglättet. Der zuvor verwendete HP-Filter war dagegen deutlich transparenter und lieferte klar symmetrische Schätzergebnisse. Siehe Deutsche Bundesbank, Anforderungen an die Konjunkturbereinigung im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Januar 2011, S. 59 (62 f.); Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche Inhalte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 15 (30). A. A. Bundesministerium der Finanzen, Die Ermittlung der Konjunkturkomponente des Bundes im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Februar 2011, S. 66 (68 f.). Vgl. auch oben Abschnitt A.II.1., Fn. 45. 295  Der Umfang der späteren Revisionen entspricht dabei sogar oftmals dem Ausmaß der ursprünglich ermittelten Produktionslücke. Die Revisionen führen häufig auch zu Vorzeichenwechseln, ändern also die Einschätzung, ob eine Über- oder Unterauslastung des Produktionspotentials vorlag. Siehe Deutsche Bundesbank, Zur Verlässlichkeit der Schätzungen internationaler Organisationen zur Produktionslücke, Monatsbericht April 2014, S. 13 und 27.

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

nerhalb eines festgelegten Modells zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann, je nach Zeitpunkt der (rückblickenden) Schätzung.296 Die Einschätzung über eine wirtschaftliche Situation ist umso zuverlässiger, je länger sie zurückliegt. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob ein Wirtschaftswachstum struktureller oder konjunktureller Natur ist. Diese Unsicherheit bei der Potentialschätzung birgt die Gefahr, dass die aktuelle wirtschaftliche Situation falsch eingeschätzt wird.297 Da dies eventuell erst nach zwei, drei Jahren oder auch noch später festgestellt wird, kann die Schuldenbremse die Fehleinschätzung nicht erfassen. Die Konjunkturkomponente kann damit potentiell auch eine prozyklische Wirkung entfalten. Für das periodenbezogene Haushaltsgesetz und das Kontrollkonto bleibt es jedoch folgenlos, wenn sich die vom Grundgesetz geforderte Konjunkturbereinigung rückblickend als fehlerhaft herausstellt. Dem Haushaltsgesetzgeber kann nicht entgegengehalten werden, dass er eine Verschuldungsgrenze einhält, die auf Grund von unvorhersehbaren Entwicklungen falsch berechnet wurde.298 Allenfalls kann man aus dem Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleiches (Art. 109 Abs. 3 S. 1 GG) in Verbindung mit dem Telos der Schuldenbegrenzung ein Vorsichtsprinzip ableiten. Hiernach müssen die Unsicherheitsfaktoren berücksichtigt werden, indem das 296  Maßgeblich hierfür sind die Neueinschätzung des Potentialpfades und die Korrektur des Datenmaterials, siehe Deutsche Bundesbank, Zur Verlässlichkeit der Schätzungen internationaler Organisationen zur Produktionslücke, Monatsbericht April 2014, S. 13. Kastrop/Snelting, Das Modell des Bundesfinanzministeriums für eine neue Schuldenregel, in: Wirtschaftsdienst 6/2008, S. 375 (380) zeigen, dass die Schätzung der Produktionslücke für das Jahr 2004 stark schwankt, und zwar zwischen –1,4 % bei Haushaltsaufstellung im Jahr 2003 und –0,4 % im Jahr 2006. Diese Erkenntnis bleibt nicht ohne Implikationen für die Funktionsfähigkeit des Kon­ trollkontos. Denn der Verordnungsgeber hat sich für einen konditionierten Ansatz entschieden, bei dem das Produktionspotential nach Haushaltsabschluss nicht erneut geschätzt wird. Siehe oben Abschnitt B.I.2. 297  Die Gefahr ist unvermeidbar, da die Einschätzung der aktuellen wirtschaftlichen Situation (Position im Konjunkturzyklus) ganz entscheidend von dem Ausblick auf die weitere Entwicklung abhängt. Erweist sich dieser als falsch, müssten auch die zurückliegenden Jahre neu beurteilt werden. Vgl. Deutsche Bundesbank, Zur Verlässlichkeit der Schätzungen internationaler Organisationen zur Produktionslücke, Monatsbericht April 2014, S. 13 (20). Dazu sogleich. 298  Das gilt natürlich nicht für bewusste, strategisch geplante Modifikationen des Schätzverfahrens, um zu einer gewünschten Konjunkturkomponente zu gelangen. Siehe hierzu auch unten Abschnitt B.II.3. Kremer/Stegarescu, Eine strenge und mittelfristig stabilisierende Haushaltsregel, Wirtschaftsdienst 2008, S. 181 (187) sprechen sich dafür aus, dass notwendige Korrekturen beim Verfahren der Potentialschätzung aufgrund unvorhergesehener Abweichungen nicht sofort, sondern erst mittelfristig vorgenommen werden, da ansonsten abrupte und prozyklische Anpassungen der Haushltspolitik drohen.



B. Ausgestaltung der Konjunkturkomponente durch Rechtsverordnung253

Produktionspotential etwas niedriger angesetzt wird. Auf diese Weise kann ein Sicherheitsabstand hergestellt werden. Mittel- bis langfristig kann nur das verfassungsrechtliche Symmetriegebot eine Neuausrichtung der Potentialschätzung fordern. Ein langfristig symmetrisch ausgestaltetes Schätzverfahren ist essentiell für das Funktionieren der Schuldenbremse.299 Zeigt sich bei der rückblickenden Analyse der Potentialschätzung, dass sie systematisch zu hoch ausfällt,300 muss das Produk­ tionspotential für die folgenden Haushaltsjahre manuell nach unten korrigiert werden, um mit Hilfe dieses Sicherheitsabstandes die Symmetrie und angemessene Buchungen auf dem Kontrollkonto zu gewährleisten. Allerdings bleiben methodische Anpassungen nicht folgenlos für die langfristige Wirkung der Schuldenbremse. Verändert man das Schätzverfahren – und damit die Konjunkturkomponente – für die nächsten Jahre sowie den Defizitspielraum am aktuellen Rand, müsste man aus rechtspolitischer Sicht konsequenterweise auch die Konjunkturkomponente der zurückliegenden Jahre neu bewerten, zumindest in einer theoretischen Simulation.301 Warum eine Revision der zurückliegenden Jahre von Bedeutung ist, zeigt eine Beispielrechnung der Bundesbank, welche die Produktionslücken für die Jahre 1985 bis 2011 berechnet,302 einmal mit dem EU-Verfahren von 2009 und einmal mit dem aktualisierten Verfahren von 2010.303 Beide sind für sich genommen über den gesamten Zeitraum symmetrisch. Das neuere Verfahren ermittelt jedoch am aktuellen Rand der Untersuchung (2010–2011) eine deutlich negativere Produktionslücke, räumt also größere Verschuldungsspielräume ein als das alte Verfahren. Dafür hätte das neuere Verfahren in dem Zeitraum von 1985 bis 2001 eine geringere Konjunkturkomponente berechnet und auf diese Weise den größeren Defizitspielraum am aktuellen Rand kompensiert. Ohne eine Neubewertung der Kreditaufnahmen (beispielsweise auf dem Kontrollkonto)304 299  Siehe

hierzu oben 3. Teil Abschnitt B.III.1.b). für diesen Zweck enthält die hessische Schuldenbremse ein Konjunkturausgleichskonto. Siehe hierzu oben 3. Teil Abschnitt B.III.2. 301  Das geltende Recht sieht eine Neubewertung jedoch nicht vor. Eine Simulation könnte zumindest die theoretischen Auswirkungen auf die zurückliegenden Konjunkturkomponenten aufzeigen. Die Erkenntnisse daraus könnten in die Neuausrichtung des Schätzverfahrens einfließen. 302  Hierzu und im Folgenden Deutsche Bundesbank, Anforderungen an die Konjunkturbereinigung im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Januar 2011, S. 59 (63). 303  Zu den Unterschieden der beiden Verfahren siehe Bundesministerium der Finanzen, Die Ermittlung der Konjunkturkomponente des Bundes im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Februar 2011, S. 66 (68 f.). 304  Eine Ex-Post-Neubewertung ist jedoch nicht unproblematisch, da rückwirkende Eingriffe nicht berücksichtigen, dass der jeweilige Haushaltsgesetzgeber auf die veränderte Potentialschätzung reagiert haben könnte. 300  Eigens

254

4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

bliebe der aktualisierte Blick auf die vergangenen Haushalte folgenlos. Würden bei Verfahrenswechseln diese Gefahr ignoriert und die Produktionspotentialschätzung für die jeweils aktuellen Haushaltsjahre regelmäßig erhöht (d. h. die Konjunkturkomponente vergrößert), droht die Gefahr eines langfristigen Schuldenaufbaus, der die Intention der Schuldenbremse konterkariert.305 Im Ergebnis müssen aus rechtspolitischer Sicht zwei entgegengesetzte Anliegen zum Ausgleich gebracht werden. Auf der einen Seite soll das Produktionspotential möglichst genau geschätzt und hierfür auf aktuelle Erkenntnisse und Methoden der Ökonometrie-Forschung zurückgegriffen werden (§ 5 Abs. 4 S. 2 G 115). Auf der anderen Seite verlangt das Symmetriegebot Kontinuität, damit sich positive und negative Abweichungen von der Normallage langfristig die Waage halten können, und zwar nicht nur als unverbindliche Empfehlung für die Zukunft. Um den Ausgleich der beiden Anliegen zu befördern, könnte de lege ferenda ein Konjunkturausgleichskonto nach hessischem Vorbild306 eingerichtet werden. Auf diesem Konto könnten die Konjunkturkomponenten der vergangenen Jahre gespeichert werden, um deren Wirkung und langfristige Symmetrie zu überprüfen. Denkbar wäre auch eine erweiterte Kompetenz des Bundesrechnungshofes. Er könnte als unabhängige Institution307 sowohl die Modellierung des aktuellen Schätzverfahrens durch das Bundesfinanzministerium – bereits zum Zeitpunkt der Haushaltsaufstellung – kritisch prüfen als auch die langfristige Wirkung der Schuldenbremse bewerten. Durch eine Veröffentlichung der Prüfberichte würde die Anwendung der Schuldenbremse transparenter und damit auch die demokratische Kontrolle gestärkt.308 2. Auswirkungen von Fehlschätzungen am Beispiel des Sprungschanzeneffekts Wie sich gesamtwirtschaftliche Fehleinschätzungen auf die Schuldenbremse auswirken können, zeigt der sogenannte Sprungschanzeneffekt für den Defizitabbau im Übergangszeitraum 2011 bis 2015 (Art. 143d GG). Ausgehend vom Basiswert im Jahr 2010 sollte die strukturelle Komponente 305  Siehe Deutsche Bundesbank, Anforderungen an die Konjunkturbereinigung im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Januar 2011, S. 59 (63). 306  Siehe hierzu oben 3. Teil Abschnitt B.III.2. sowie Deutsche Bundesbank, Zur Verlässlichkeit der Schätzungen internationaler Organisationen zur Produktionslücke, Monatsbericht April 2014, S. 13 (37). 307  Siehe § 1 S. 1 Bundesrechnungshofgesetz vom 11.07.1985, BGBl. I 1985. 308  Vgl. auch Ryczewski, Die Schuldenbremse im Grundgesetz, 2011, S. 218 ff., der ein Antragsrecht des Bundesrechnungshofs für das abstrakte Normenkontrollverfahren diskutiert, aber letztlich aus Gründen der Gewaltenteilung und des Demokratieprinzips ablehnt.



B. Ausgestaltung der Konjunkturkomponente durch Rechtsverordnung255

in gleichmäßigen Schritten auf 0,35 % im Jahr 2016 gesenkt werden (§ 9 Abs. 2 G 115). Indem der Startwert, also das strukturelle Defizit im Jahr 2010, zu hoch angesetzt wurde, ergab sich allerdings ein zu „steiler“ Anpassungspfad, gleichsam ein zu großer struktureller Verschuldungsspielraum für die Jahre 2011 bis 2015.309 In der graphischen Darstellung wirkt der steile Anpassungspfad wie eine Sprungschanze. Obwohl die positive Entwicklung bereits bei der Verabschiedung des Haushaltes im Herbst 2010 absehbar war, wurde das geplante strukturelle Defizit vom Sommer 2010 nicht aktualisiert310 und um über 13 Mrd. Euro zu hoch angesetzt.311 Da die großzügige Verschuldungsgrenze in den Folgejahren unterschritten wurde, konnten Gutschriften auf dem Kontrollkonto verbucht werden. Der Gesetzgeber hat dieses fragwürdige Ergebnis erkannt und hat mit Art. 4 des Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags312 das Kontrollkonto zum 31. Dezember 2015 auf null ­gesetzt. Der Sprungschanzeneffekt bleibt damit ohne Folgen für die Schuldenbremse ab 2016. Obwohl dieser Sondereffekt nur für den Übergangszeitraum gilt und damit nicht auf die zukünftige Schuldenbremse übertragen werden kann, zeigt er dennoch die grundsätzliche Anfälligkeit gegenüber (intendierten) Fehleinschätzungen der gesamtwirtschaftlichen Ent­ wick­lung.313

309  Siehe hierzu und im Folgenden Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche Inhalte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 15 (28 f.). Siehe auch Horn et al., Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik 2011, IMK Report Nr. 59, Januar 2011, S. 20. 310  Die Bundesregierung wollte zunächst sogar den noch höheren Wert zum Zeitpunkt der Haushaltsaufstellung im März 2010 heranziehen, siehe BT-Drs. 17/494, S.  14 f. 311  Nach dem Beschluss des Haushaltsentwurfes im März 2010 mit einem geplanten strukturellen Defizit von rund 66,5 Mrd. Euro verbesserten sich die gesamtwirtschaftlichen Aussichten zunehmend. Die geplante strukturelle Neuverschuldung wurde daher im Sommer 2010 auf rund 53 Mrd. Euro (2,2 % des BIP) abgesenkt. Obwohl bereits zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Haushaltes im Herbst 2010 eine noch günstigere Entwicklung absehbar war, wurde der Startwert für den Abbaupfad nicht angepasst. Im Vergleich zum tatsächlichen Haushaltsabschluss für 2010 mit einem tatsächlichen strukturellen Defizit von rund 40 Mrd. Euro war der Startwert damit um mehr als 13 Mrd. Euro zu hoch, siehe Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche Inhalte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 15 (28). 312  Siehe Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages vom 15. Juli 2013, BGBl. I 2013, S. 2398 ff. 313  Da für das Kontrollkonto nur die Entwicklung des BIP aktualisiert wird, kann es einer Fehlschätzung nur begrenzt entgegenwirken. Siehe oben Abschnitte A.III.1. und B.I.2.

256

4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

3. Vorausschätzungen der Bundesregierung Die Verordnung legt fest, dass sowohl die Angaben der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen des Statistischen Bundesamtes als auch die gesamtwirtschaftlichen Vorausschätzungen der Bundesregierung als Datengrundlage für die Ermittlung der Konjunkturkomponente dienen (§ 2 Abs. 4 Art 115 V). Während das Statistische Bundesamt zur Neutralität, Objektivität und wissenschaftlichen Unabhängigkeit gesetzlich verpflichtet ist (§ 1 S. 2 BStatG),314 stellt sich für die Vorausschätzungen der Bundesregierung315 die rechtspolitische Frage, ob diese nicht potentiell manipulationsanfällig sind. Zwar wird das Kontrollkonto, welches auf Basis des tatsächlichen BIP berechnet wird, voraussichtlich eine disziplinierende Wirkung entfalten, aber insbesondere im letzten Haushaltsjahr einer Legislaturperiode droht eine „wohlwollende“ Vorausschätzung des BIP, die möglicherweise den Kreditrahmen des Haushaltsgesetzgebers erhöht.316 4. Bereinigung um finanzielle Transaktionen Die Bereinigung um finanzielle Transaktionen soll die Schuldenbremse an die europäischen Regeln zur Defizitbewertung (Maastricht-Rechnung)317 annähern und damit beispielsweise verhindern, dass Privatisierungserlöse den Kreditbedarf senken.318 Sie eröffnet jedoch durch ihre unzureichende Definition auch einen Gestaltungsspielraum, den der Haushaltsgesetzgeber potentiell dazu nutzen kann, die Schuldenbegrenzung zu umgehen. Darlehensvergaben und Beteiligungserwerbe könnten instrumentalisiert werden, um der Schuldenbremse auszuweichen, indem sie schuldenwirksame Zuschüsse oder reguläre Ausgaben ersetzen.319 Dies gilt insbesondere, wenn 314  Vgl

oben 3. Teil Abschnitt B.II.1.a)., Fn. 99 und 100. gesamtwirtschaftliche Vorausschätzung der Bundesregierung erfolgt dreimal jährlich, einmal als Jahresprojektion sowie als Frühjahrs- und Herbstprojektion. Siehe hierzu auch oben Abschnitt B.I.1.a)., Fußnoten 267 bis 269. 316  Da die Belastung des Kontrollkontos erst im September des Folgejahres erfolgt, wird die fehlerhafte Vorausschätzung erst in der folgenden Legislaturperiode offensichtlich. 317  Siehe VO 549/2013 zum Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen auf nationaler und regionaler Ebene in der Europäischen Union, Abl. Nr. L 174 v. 26.06.2013, S. 1. 318  Vgl. Schmidt, Die neue Schuldenregel und die weiteren Finanzthemen der zweiten Föderalismusreform, DVBl. 2009, S. 1274 (1278 f.). 319  Siehe hierzu und im Folgenden Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche Inhalte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 15 (30). Vgl. Hetschko/Thye, Die Bereinigung um finanzielle Transaktionen – Achillesverse der deutschen Schuldenbremse, DVBl. 2012, S. 743, die insbe315  Die



B. Ausgestaltung der Konjunkturkomponente durch Rechtsverordnung257

die Darlehen auf unbestimmte Zeit und mit niedrigem Zins vergeben werden oder wenn die Beteiligungen kein werthaltiges Finanzvermögen aufweisen. Vor diesem Hintergrund ist die stetige Praxis der zinsfreien Darlehen an die Bundesagentur für Arbeit (BA) kritisch zu sehen. Das gilt insbesondere, wenn der BA-Beitragssatz nicht ausreicht, um die Arbeitsagentur nachhaltig zu finanzieren, sie also langfristig defizitär arbeitet und die Darlehen nicht zurückzahlen kann.320 Es droht eine versteckte Verschuldung. Zudem hat der Gesetzgeber gezeigt, dass er den Finanzbedarf der Bundesagentur für Arbeit auch als Gestaltungsmittel verwendet, um den Defizitspielraum zu erweitern oder zu verkürzen. Im Haushalt 2010 wurde beispielsweise das Defizit der Arbeitsagentur (einmalig) durch einen Zuschuss finanziert.321 Auf diese Weise wurde das Defizit des Bundes, im Basisjahr für die Übergangsfrist bis 2016, erhöht.322 Auch der Einsatz von Projekten der Öffentlich-Privaten-Partnerschaft (ÖPP) als alternatives Finanzierungsmodell, beispielsweise beim Autobahnausbau, ist geeignet, die Schuldenbremse zu umgehen.323 Zukünftige Zahlungsverpflichtungen oder Einnahmeverluste (z.  B. Einnahmen aus der LKW-Maut) erhöhen indirekt die Verschuldung des Staates und können die Flexibilität künftiger Haushaltsgesetzgeber einschränken.324

sondere kritisieren, dass der Gesetzgeber weder eine einheitliche noch eine eindeutige Systematik bei der Bereinigung um finanzielle Transaktionen gewählt hat (siehe S. 746). Vgl. auch Tappe, Haushaltsrechtliche Umsetzung der Artikel 109 und Artikel 115 GG n. F. in Bund und Ländern, in: Kastrop et al. (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, 2010, S. 432 (436 ff.); Thye, Der Stabilitätsrat, 2014, S. 152 f. 320  Dabei kann der Bund die Finanzlage der Bundesagentur unmittelbar beeinflussen, denn Leistungen und Beitragssatz werden durch Bundesgesetz gesteuert, siehe Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche Inhalte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 15 (31). 321  Siehe Bundesministerium der Finanzen, Die Ermittlung der Konjunkturkomponente des Bundes im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht Februar 2011, S. 66 (71 f.). 322  Im Haushalt 2010 erschien es wohl opportun, das Defizit möglichst hoch auszuweisen, um die Defizitspielräume in der Übergangsphase bis 2016 zu erhöhen. Zum Sprungschanzeneffekt siehe oben Abschnitt B.II.2. 323  Vgl. hierzu beispielsweise die Kritik des ehemaligen Präsidenten des Bundesrechnungshofes, Dieter Engels, im Tagesspiegel vom 13. Januar 2013, S. 1. 324  Vgl. Beckers, Zentrale Problembereiche bei der Anwendung des ÖPP-Ansatzes bei den Bundesautobahnen („A-Modell-Projekte“), Stellungnahme im Rahmen der öffentlichen Anhörung zum Thema Öffentlich-Private-Partnerschaft (ÖPP) im Deutschen Bundestag (Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung) am 24.10.2012, 19.10.2012, S. 1, https://www.wip.tu-berlin.de/fileadmin/fg280/forschung/ publikationen/2012/beckers_2012-problembereiche_anwendung_oepp-ansatzes_bei_ bab.pdf (abgerufen am 8.4.2017).

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4. Teil: Die Ausgestaltung der Schuldenbremse

Aus rechtspolitischer Sicht ist es daher zwingend erforderlich, dass die finanziellen Transaktionen strikt abgegrenzt und nur solche bereinigt werden, die die Vermögensposition des Staates auch tatsächlich nicht verändern. Beteiligungserwerbe an Unternehmen, die öffentliche Aufgaben erfüllen, sind auf deren werthaltiges Finanzvermögen zu prüfen. Ein Wertverlust durch Beteiligungen ist als solcher in den Haushalt aufzunehmen. Bei ÖPP-Projekten sollte das Investitionsvolumen von der Schuldenbremse erfasst werden, wenn der Staat das Projektrisiko oder langfristige Einnahmeverluste trägt.325

325  Siehe Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche Inhalte und deren Umsetzung, Monatsbericht Oktober 2011, S. 15 (32).

Ergebnis Die nachfolgende Zusammenfassung in Thesen bietet einen Gesamtüberblick über die vorliegende Arbeit (Abschnitt A.). Sie fasst die Ergebnisse der einzelnen Abschnitte zusammen und verweist dabei auf den jeweiligen Gliederungspunkt. Das darauffolgende Resümee (Abschnitt B.) nimmt eine abschließende Bewertung hinsichtlich der Begrenzungswirkung der unterschiedlichen Normebenen vor.

A. Zusammenfassung in Thesen I. Erster Teil 1. Kreditfinanzierung des Staates (1) Das Steuerstaatsprinzip fordert die Regelfinanzierung des Staates durch Steuern. Mit dem materiellen Haushaltsausgleich (Art. 109 Abs. 3 S. 1 GG) betont das Grundgesetz die Subsidiarität der Kreditaufnahme [A.I.]. (2) Das Staatsschuldenrecht überführt ökonomische Erkenntnisse und ­Argumentationen in Gesetz und Verfassung, wobei die jeweils vorherrschenden wirtschaftspolitischen Positionen sich auch in der historischen Entwicklung des Staatsschuldenrechts widerspiegeln. Das gel­ tende Recht ist unter anderem gekennzeichnet von dem Motiv der passiven Konjunkturpolitik (Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG, Konjunkturkompo­ nen­te) und der langfristigen Wahrung der ökonomischen Lebensbedingungen nachfolgender Generationen (Art. 109 Abs. 3 S. 1 GG, materieller Haushaltsausgleich) [A.II.1. und 2.]. (3) Das ökonomische Argument der Generationengerechtigkeit bildet keinen rechtlichen Maßstab. Dem Demokratieprinzip kann keine materielle Begrenzungsfunktion für die staatliche Kreditaufnahme entnommen werden. Es enthält lediglich die offene Maßgabe, die realen Gestaltungsmöglichkeiten nachfolgender Generationen nicht über Gebühr einzuengen [A.II.3.].

260 Ergebnis

2. Bisherige grundgesetzliche Ausgestaltung (4) Seit den großen Finanzverfassungsreformen Ende der 1960er Jahre war das Konzept des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes die zentrale Determinante des Staatsschuldenrechts. Ohne das Gleichgewicht oder die konjunkturelle Normallage positiv zu definieren, blieb es ein auf Verfassungsebene abstrakt normierter Grundgedanke, offen für legislativ aufgegriffene Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften. Die Regulierungsfunktion des Art. 109 Abs. 2 GG a. F. konnte sich jedoch in der Praxis nicht entfalten, da ein handhabbares Maß für die jährlich zulässige Kreditaufnahme fehlte [B.I.]. (5) Der 1969 eingeführte Situationsbezug der Kreditaufnahme drängte die ursprünglich objektbezogene Deckungsregel in den Hintergrund. Während die Regelkreditgrenze und die Ausnahmeregelung (Art. 115 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG a. F.) mit dem Konzept des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts dem Motiv des Situationsbezuges folgten, blieb die reguläre Obergrenze der Investitionssumme im Kern dem Denkmuster der klassischen Deckungslehre verhaftet. Diese zwei wesensfremden Konzepte ließen sich im Staatsschuldenrecht jedoch nicht spannungsfrei verbinden [B.II.]. (6) Der parlamentarische Haushaltsgesetzgeber konnte mit einer großzügigen Einschätzungsprärogative beurteilen, ob eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts drohte. In der Staatspraxis wurde daher das Regel-Ausnahme-Verhältnis für die außerordentliche Kreditaufnahme umgekehrt. Auch die Einrichtung von Sondervermögen unterlag einem weiten Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers [B.III. und IV.]. (7) Die Ursachen für die eingeschränkte Begrenzungswirkung des überkommenen Staatsschuldenrechts lagen insbesondere in dem weit gefassten Investitionsbegriff, der Möglichkeit einer unlimitierten außerordentlichen Kreditaufnahme bei drohender Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes, der fehlenden Pflicht zur Rückführung der Staatsschuld sowie der Möglichkeit exekutiver Umgehungsstrategien [B.V.]. 3. Exkurs: Die Schweizer Schuldenbremse (8) In der Schweizer Schuldenregel entspricht der Höchstbetrag der zu bewilligenden Gesamtausgaben dem Produkt der erwarteten Einnahmen und einem Konjunkturfaktor, der, je nach konjunktureller Lage, eine Verschuldung zulässt oder Überschüsse fordert. Die Schuldenre-



A. Zusammenfassung in Thesen261

gel wird durch ein Ausgleichskonto (Kontrolle des Haushaltsvollzuges) und ein Amortisationskonto (Kontrolle von Einmal- und Sondereffekten) abgesichert [C.I.]. (9) Die besondere Wirkungskraft des Schweizer Modells ergibt sich aus der Pflicht, in Phasen des wirtschaftlichen Wachstums Überschüsse zu erwirtschaften. Dieser Automatismus – eine Form institutioneller Selbstbindung – schiebt der Versuchung von politischen Akteuren, kostenintensive politische Wohltaten zu versprechen, einen Riegel vor [C.I.]. (10) Die ökonometrischen Berechnungsmodelle und Glättungsverfahren beeinflussen die zulässige Verschuldungsgrenze. Es besteht daher die Gefahr, dass die Exekutive, durch Anpassung von Berechnungsparametern, den Konjunkturfaktor in ihrem Sinne beeinflusst. Im Ergebnis erscheint die Schweizer Schuldenbremse jedoch als gelungener Kompromiss zwischen Flexibilität und konkretisierter Regelbindung [C.II.].

II. Zweiter Teil 1. Das Regelungsregime der EU zur Begrenzung der Staatsverschuldung (1) Die unionsrechtlichen Vorgaben zum Staatsschuldenrecht zeichnen sich durch eine komplexe und vielschichtige Maßstabsystematik aus, die teilweise prozedural eingebettet ist. Dieser Rahmen wird durch europäisches Völkerrecht (Fiskalpakt, Euro-Plus-Pakt) ergänzt [A.I.]. (2) Die Pflicht zur Vermeidung eines übermäßigen öffentlichen Defizits (Art. 126 Abs. 1 AEUV) beinhaltet eine umfassende Haushaltsdisziplin, die nicht nur das jährliche Finanzierungsdefizit, sondern auch den absoluten Schuldenstand beschränkt und auf die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzlage abzielt [A.II.1.]. (3) Die Ausnahmeregelung bei einem außergewöhnlichen Ereignis, das sich der Kontrolle des betreffenden Mitgliedstaats entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt (Art.  2 Abs.  1 VO 1467 / 97), ist eng auszulegen. Der Staat darf nicht in der Lage sein, durch sein Handeln, das Ereignis und seine Auswirkungen zu beeinflussen oder gar abzuwehren, noch darf er es billigend in Kauf genommen haben. Die Finanzlage muss in solchem Ausmaß beeinträchtigt sein, dass er die entstehenden Kosten nicht durch verhältnismäßige Ausgabenkürzungen oder Einnahmesteigerungen kompensieren kann [A.II.1.].

262 Ergebnis

(4) Im Unionsrecht ist das Verhältnis der öffentlichen Investitionsausgaben zum öffentlichen Defizit (Art. 126 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 AEUV) weiterhin ein Berücksichtigungsmaßstab, jedoch deutlich enger gefasst als der des Grundgesetzes a. F. [A.II.2.]. (5) Das Primärrecht eröffnet mit den „sonstigen einschlägigen Faktoren“ (Art. 126 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 AEUV) einen großen Subsumtionsraum, der sekundärrechtlich nicht ausreichend konkretisiert wird und im Ergebnis ein sonst übermäßiges Defizit rechtfertigen kann [A.II.3.]. (6) Der Grundsatz des „Close-to-Balance or in Surplus“ ist die zentrale Zielvorgabe des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Allerdings dürfen die Mitgliedstaaten hiervon abweichen und sich eigene länderspezifische mittelfristige Haushaltsziele setzen sowie den dorthin führenden Anpassungspfad festlegen [A.III.1.]. (7) Kommission und Rat prüfen auf der Grundlage der multilateralen Überwachung des Art. 121 AEUV und anhand konkreter Kriterien, ob die Mitgliedstaaten von ihren Zielen „erheblich abweichen“. Seit 2011 müssen die Mitgliedstaaten eine Einnahmen-Ausgaben-Regel beachten, welche das Ausgabenwachstum begrenzen soll [A.III.2.]. (8) Der Maßstab langfristig tragfähiger öffentlicher Finanzen wirkt über den Indikator der Tragfähigkeitslücke auf den Anpassungspfad in Richtung des mittelfristigen Haushaltsziels und fungiert als Vorbehalt für die Ausnahmeregelungen der präventiven und korrektiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes [A.III.3.]. (9) Das vielschichtige Maßstabssystem des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wird durch ein komplexes, mehrstufiges Überwachungs- und Defizitverfahren prozedural abgesichert. Rat und Kommission können im Verfahren der präventiven Komponente (VO  1466 / 97 i. V. m. Art. 121 AEUV) den betreffenden Mitgliedstaat verwarnen, fiskalpolitische Empfehlungen aussprechen oder Vor-Ort-Missionen durchführen. Gegen Mitglieder der Währungsunion können seit 2011 auch Sanktionen in Form von verzinslichen Einlagen verhängt werden [A.IV.1.]. (10) Im korrektiven Defizitverfahren (Art. 126 AEUV i. V. m. VO 1467 / 97) prüfen Kommission und Rat, in einem komplizierten Wechselspiel aus Empfehlungen und Beschlüssen, die Haushalte der Mitgliedstaaten. Sie können Maßnahmen zur Korrektur empfehlen, den Mitgliedstaat in Verzug setzen und mehrstufige Sanktionen beschließen. Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 und 259 AEUV sind jedoch ausgeschlossen [A.IV.2. und 3.]. (11) Die unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen der Maßstäbe des Unions­rechts verhindern transparente und eindeutige Schuldengrenzen



A. Zusammenfassung in Thesen263

für die jährlich aufzustellenden Haushalte in den Mitgliedstaaten. Während nur wenige Maßstäbe für jedes einzelne Haushaltsjahr – und auch dann nicht strikt – gelten (Maastricht Kriterien, Verbesserung des jährlichen strukturellen Saldos um 0,5 % des BIP), hat die Mehrzahl der Maßstäbe einen mittelfristigen Zeithorizont. Sollen sie nicht ohne Direktionskraft – und damit bedeutungslos – sein, müssen sie, aus teleologischer Sicht, dynamisch wirken: Das bedeutet, die Entwicklung vergangener Haushaltsjahre muss konkrete Rechtsfolgen für den aktuellen oder zu beschließenden Haushalt auslösen können. Die SixPack-Reformen von 2011 folgen bereits dieser Vorgehensweise und konkretisieren die Analysezeiträume der Schuldenanpassung (drei Jahre) und der erheblichen Abweichung (ein bis zwei Jahre) [A.V.1.]. (12) Die Maßstäbe des präventiven und korrektiven Arms des Stabilitätsund Wachstumspaktes folgen keiner stringenten, logischen Struktur, sondern überlappen sich teilweise und lassen sich auch nicht von ihrer verfahrensrechtlichen Einbettung trennen. Sie eröffnen häufig einen großen Ermessenspielraum und lassen die Maßstabsystematik unscharf werden [A.V.2.]. (13) Die Funktionsfähigkeit des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wird sowohl durch seine flexiblen und auslegungsbedürftigen Maßstäbe als auch durch die individuelle, eigenständige Festlegung der mittelfristigen Haushaltsziele der Mitgliedstaaten geschwächt [A.V.2.]. (14) Der Versuch, mit dem reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt eine möglichst große Breite ökonomischer Sachverhalte tatbestandlich zu berücksichtigen, schwächt die Direktionskraft des Unionsrechts. Es bietet zudem zahlreiche Ansatzpunkte, eine zusätzliche, und möglicherweise überhöhte, Staatsverschuldung zu rechtfertigen. Die 2011 eingeführte Einnahmen-Ausgaben-Regel stärkt hingegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt [A.VI.]. (15) Im Ergebnis zeigt sich das Unionsrecht als zusammengesetztes Bild verschiedener Maßstäbe mit unterschiedlichen (zeitlichen) Dimensionen. Es bietet keine eindeutigen Vorgaben, die für alle Mitgliedstaaten einheitliche Verschuldungsgrenzen setzen. Die zulässige Verschuldung im jeweiligen Haushaltsjahr hängt im Wesentlichen von Schätzungen, Prognosen und Annahmen der Kommission ab [A.VI.]. 2. Begleitendes Europäisches Völkerrecht (16) Der Fiskalpakt, als Teil des völkerrechtlichen Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 3 bis 8 VSKS), greift Elemente der deutschen Schuldenbremse

264 Ergebnis

auf und verknüpft sie mit Vorgaben des reformierten Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Die Vertragsparteien sollen nationale Schuldenbremsen einführen, vorzugsweise mit Verfassungsrang. Allerdings gibt der Fiskalpakt keine strikte Schuldengrenze für jedes einzelne Haushaltsjahr vor, sondern eine Grenze von 0,5 % des BIP für das mittelfristige Haushaltsziel. Er geht damit kaum über das unionsrechtlich Geforderte hinaus [B.I.1.]. (17) Die Regeln sollen zudem durch einen automatischen Korrekturmechanismus auf der Ebene der Nationalstaaten abgesichert werden, der sich an den bestehenden Elementen des präventiven Arms des Stabilitätsund Wachstumspaktes orientiert und durch nationale, unabhängige und funktional autonome Stellen überwacht werden soll [B.I.2.]. (18) Der Fiskalpakt führt keine neuen materiellen Maßstäbe ein, sondern affirmiert im Wesentlichen den reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt. Er fordert jedoch erstmals den aktiven Abbau des Schuldenstandes, jährlich um ein Zwanzigstel des über dem Schwellenwert von 60 % des BIP liegenden Anteils (Art. 4 VSKS). Sein Erfolg hängt insbesondere davon ab, ob sich die Vertragsstaaten auch in wirtschaftlichen Schwierigkeiten an ihre eigenen Regeln halten und ihren Korrekturmechanismus beachten [B.I.3.]. (19) Im Euro-Plus-Pakt von 2011 verpflichten sich die beteiligten Staaten, die Stabilität und langfristige Tragfähigkeit ihrer Finanzen zu stärken, indem sie nationale Haushaltsvorschriften etablieren. Der weiterhin gültige Pakt weist jedoch den Charakter einer politischen Absichtserklärung auf und erscheint damit als eher unverbindlicher Vorläufer des Fiskalpaktes [B.II.].

III. Dritter Teil 1. Die Neuregelung des Staatsschuldenrechts im Überblick (1) Mit der Grundgesetzänderung (sog. Föderalismusreform II) werden Abs. 2 und Abs. 3 des Art. 109 GG zu den Grund- und Ausgangsnormen des deutschen Staatsschuldenrechts [A.I. und II.]. (2) Art. 109 Abs. 2 GG verpflichtet Bund und Länder gemeinsam auf die unionsrechtlichen Vorgaben zur Haushaltsdisziplin. Der Schuldenmechanismus des Art. 109 Abs. 3 GG greift Motive des Unionsrechts auf [A.II.1.]. (3) Ausgangspunkt des neuen Staatsschuldenrechts ist der materielle Haushaltsausgleich für Bund und Länder, wobei gesamtwirtschaftliche



A. Zusammenfassung in Thesen265

Schwankungen den Verschuldungsrahmen durch eine Konjunkturkomponente verkürzen oder erweitern können [A.II.2.]. (4) Das neue Staatsschuldenrecht bricht mit der Tradition sowohl der objektiven als auch der investitionssummenorientierten Deckungsregel. Stattdessen etabliert es für den Bund eine Strukturkomponente, als qualifizierende Erweiterung des materiellen Haushaltsausgleichs [A.III.1.]. (5) Bund und Länder tragen nur noch im unionsrechtlichen Rahmen dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht Rechnung. Es büßt seine vormals bedeutende Ausstrahlungswirkung auf grundsätzlich alle unmittelbar einnahmen- und ausgabenrelevanten Entscheidungen ein und wird durch die Vorgaben des Art. 109 Abs. 3 GG inhaltlich überlagert [A.III.2.]. (6) Die Neufassung der Art. 109 und 115 GG schärft die Konturen des bis dahin steuerungsschwachen Konzepts des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts [A.III.2.]. (7) Erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte verpflichtet die Finanzverfassung Bund und Länder explizit zum Haushaltsausgleich ohne Einnahmen aus Krediten. In der historischen Perspektive leitet das neue Staatsschuldenrecht damit einen Paradigmenwechsel ein und betont die Regelfinanzierung des Staates durch Steuereinnahmen [A. III.3.]. (8) Mit dem Kontrollkonto überwindet das neue Staatsschuldenrecht seine „Vergesslichkeit“ und den ausschließlichen Bezug auf die einzelne Haushaltsperiode. Das Symmetriegebot (Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG) ist ebenfalls Ausdruck der neuen, mehrjährigen Perspektive [A.III.4.]. 2. Insbesondere: Die neue Schuldenregel (9) Der Grundsatz des materiell ausgeglichenen Haushalts strahlt als übergeordnete Ziel- und Orientierungsgröße auf die Schuldenbremse als Ganzes aus und leitet die konkrete Ausführung der Schuldenbremse an. Als verfassungsrechtlicher Rahmen bindet er die Ausführungsgesetzgebung und verhindert, dass die begrenzende Funktion des grundgesetzlichen Staatsschuldenrechts einfachgesetzlich umgangen wird [B.I.]. (10) Die Wirtschaftsleistung bildet mit der festgelegten Relation von 0,35 % des nominalen BIP den statischen Maßstab der strukturellen Verschuldungskomponente. Sie soll nachhaltige und wachstumsfördernde Zukunftsinvestitionen ermöglichen [B.II.1.].

266 Ergebnis

(11) Die Länder sind verpflichtet, eine Schuldenbremse nach den Vorgaben des Art. 109 Abs. 3 GG einzuführen. Das strukturelle Neuverschuldungsverbot für die Länder ist mit Art. 79 Abs. 3 GG (Ewigkeitsklausel) vereinbar, denn Art. 79 Abs. 3 GG schützt das Prinzip der Bundesstaatlichkeit, nicht jedoch seine konkrete Ausgestaltung [B.II.2.]. (12) Sowohl Grund als auch Maß der Konjunkturkomponente richten sich nach der Abweichung der wirtschaftlichen Entwicklung von der Normallage. Die Auswirkung der Konjunktur auf den Staatshaushalt bestimmt den Umfang der Komponente. Einnahmeverluste beziehungsweise Mehreinnahmen der eigenständigen sozialen Sicherungssysteme werden ebensowenig berücksichtigt wie Maßnahmen einer aktiven Konjunkturpolitik [B.III.1.a)]. (13) Das verfassungsrechtliche Symmetriegebot verpflichtet den Haushaltsgesetzgeber, konjunkturelle Ab- und Aufschwünge über den gesamten Konjunkturzyklus hinweg gleichmäßig zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber muss die Normallage fortwährend auf ihre symmetrische Eigenschaft überprüfen und rechtzeitig so anpassen, dass sich zusätzliche Kreditaufnahme und Tilgung langfristig ausgleichen können. Das Symmetriegebot strahlt zudem auf die einfachgesetzliche Ausgestaltung aus und entfaltet so seine Wirkung für die Interpretation der Schuldenbremse insgesamt [B.III.1.b)]. (14) Die Bundesländer dürfen im Rahmen des Art. 109 Abs. 3 GG eigenständige Regeln für eine konjunkturbedingte Verschuldung erlassen. Bislang zeigt sich noch kein einheitlicher Trend, ob und wie die Länder eine konjunkturelle Kreditaufnahme regeln [B.III.2.]. (15) Das Kontrollkonto soll Abweichungen von der Kreditgrenze dokumentieren und die Einhaltung der Schuldenbremse im Haushaltsvollzug sicherstellen [B.IV.]. (16) Eine außerordentliche Kreditaufnahme ist nur im Falle von Naturkatastrophen oder Notsituationen zulässig (Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG). Eine solche Notsituation muss zudem drei Kriterien erfüllen: Sie muss außergewöhnlich sein, den Haushalt erheblich beeinträchtigen und sie muss sich der staatlichen Kontrolle entziehen. Das bedeutet, der Staat darf weder unmittelbar für die Notlage verantwortlich sein, noch darf er sie fahrlässig oder absichtlich herbeigeführt haben. Sie muss plötzlich auftreten und sich auf sehr seltene Ausnahmesituationen beschränken. Zudem muss die Krisensituation in unmittelbarem Zusammenhang mit der erheblichen Belastung des Bundeshaushalts stehen [B.V.1. und 2.]. (17) Der Haushaltsgesetzgeber muss für den Tilgungsplan einen angemessenen Zeitraum wählen, der das Volumen der Kreditaufnahme und die konkrete konjunkturelle Situation berücksichtigt. Die außerordentliche



A. Zusammenfassung in Thesen267

Tilgung erfolgt zusätzlich zu möglichen Tilgungspflichten, die sich aus der ordentlichen Schuldenbremse ergeben [B.V.3.]. (18) Nur wenn die drei Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG und der angemessene Tilgungszeitraum eng ausgelegt werden, kann verhindert werden, dass die Schuldenbremse umgangen wird [B.V.4.]. (19) Mit dem Präventionsmechanismus (Stabilitätsrat) reagiert der Gesetzgeber auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BerlinUrteil). Aus dem Sinn und Zweck des Art. 109a GG folgt die Pflicht, dass die Gebietskörperschaften Gefahren, Risiken und Fehlentwicklungen ihrer Haushaltssituationen dem Stabilitätsrat rechtzeitig anzeigen [B.VI.]. 3. Die Schuldenregel des Grundgesetzes im europäischen Rechtsrahmen (20) Auch wenn die Maßstäbe verschiedenartig sind, befindet sich die deutsche Schuldenbremse im Einklang mit dem Europarecht. Mit ihrer Strukturkomponente von 0,35 % des BIP ist die deutsche Schuldenbremse strenger als die (mittelfristigen) Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes [C.I.]. (21) Die Verpflichtung auf den europäischen Rahmen (Art. 109 Abs. 2 GG) betrifft den Gesamtstaat. Innerstaatlich trägt der Bund die Verantwortung für etwaige Defizite der Sozialversicherungen. Für Haushaltsdefizite der kommunalen Gebietskörperschaften stehen die Länder ein [C.I.]. (22) Indem der Fiskalpakt (Art. 4 VSKS) die Bundesrepublik Deutschland dazu verpflichtet, ihren Schuldenstand oberhalb des Referenzwertes von 60 % um durchschnittlich ein Zwanzigstel jährlich aktiv zu verringern, kann er – unter gewissen gesamtwirtschaftlichen Umständen – eine geringere Nettoneuverschuldung als die deutsche Schuldenbremse fordern [C.II.].

IV. Vierter Teil 1. Ausgestaltung durch Bundesgesetz (1) Das Ausführungsgesetz (G 115) verzichtet darauf, die Normallage positiv zu definieren. Sie ergibt sich erst aus dem Zusammenhang mit der Konjunkturkomponente [A.I.1.].

268 Ergebnis

(2) Das Ausführungsgesetz orientiert sich bei der Bereinigung um finanzielle Transaktionen an der europäischen Systematik der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, ohne sie vollständig zu übernehmen [A.I.2.]. (3) Das Produktionspotential beschreibt das Bruttoinlandsprodukt einer Volkswirtschaft unter der Bedingung einer Normalauslastung der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit. Weicht das erwartete BIP positiv oder negativ von dem Potential ab, ergibt sich eine Produktionslücke. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass die Konjunkturkomponente die Höchstgrenze der zulässigen Nettoneuverschuldung verändert [A. II.1.]. (4) Das Maß der Konjunkturkomponente richtet sich nach den Auswirkungen der Konjunktur auf den Haushalt. Die Berücksichtigung der Konjunkturreagibilität des Haushaltes (Budgetsensitivität) ist verfassungsrechtlich geboten und ein essentielles Element der Schuldenbremse, welches nicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers steht [A.II.2.a)]. (5) Das Ausführungsgesetz legt kein Verfahren zur Bestimmung des Produktionspotentials fest, es verweist hierfür stattdessen auf eine Verordnung des Bundesfinanzministeriums. Grundsätzlich genügen sowohl statistische Filterverfahren als auch komplexere Produktionsfunktionsmethoden den gesetzlichen Anforderungen an eine Konjunkturbereinigung, auch wenn der exakte Aussagegehalt des Produktionspotentials an das konkrete Schätzverfahren geknüpft ist [A.II.2.b)]. (6) Das Ausführungsgesetz verweist zwar auf das europäische Konjunkturbereinigungsverfahren, fordert aber keine vollständige Identität, sondern eine gleichartige Methodik [A.II.2.c)]. (7) Das Gebot der Weiterentwicklung des Konjunkturbereinigungsverfahrens unter Berücksichtigung des Standes der Wirtschaftswissenschaften (§ 5 Abs. 4 S. 2 G 115) eröffnet nicht nur einen Gestaltungsspielraum, sondern setzt i. V. m. Art. 115 Abs. 2 GG zugleich eine Schranke. Die Fortentwicklung des Verfahrens kann nur im bestehenden verfassungsrechtlichen Rechtsrahmen des Staatsschuldenrechts erfolgen. Eine grundlegend neue Methodik zur Berechnung der Produktions­ lücke bedürfte einer gesetzlichen Ermächtigung [A.II.2.d)]. (8) Das Ausführungsgesetz (§ 5 Abs. 4 G 115) reicht die Bestimmung der konkreten Höhe der Kreditgrenze an die Verordnung weiter und verstößt damit gegen die Bestimmtheitsanforderungen und den Wesentlichkeitsvorbehalt des Art. 80 Abs. 1 GG. Der Gesetzgebungsauftrag des Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG zur näheren Bestimmung der Budgetsen-



A. Zusammenfassung in Thesen269

sitivität und des Konjunkturbereinigungsverfahrens wurde nur unzureichend erfüllt [ A.II.3.]. (9) Das Kontrollkonto erfüllt eine wichtige Transparenzfunktion, indem es die aufsummierten Verfehlungen im Haushaltsvollzug und bei den ex ante Berechnungen des erwarteten BIP speichert. Das Ausführungsgesetz gestaltet die Rückführungspflicht eigenständig aus und verschärft sie grundgesetzkonform [A.III.1.]. (10) Die einfachgesetzliche Regelung zur Kreditaufnahme in Nachtragshaushalten erhöht nicht die allgemeine Kreditobergrenze. Sie ist somit verfassungskonform ausgestaltet [A.III.2.]. (11) Die Tilgungsverpflichtungen aus einer außerordentlichen Kreditaufnahme gelten zusätzlich zu den Vorgaben von Schuldenbremse und Kontrollkonto [A.IV.]. (12) Als gesamtstaatliches Gremium weicht der neu eingerichtete Stabilitätsrat (Art. 109a GG) von der grundsätzlichen Trennung der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern (Art. 109 Abs. 1 GG) ab und konkretisiert das Bundesstaatsprinzip in besonderer Weise [A.V.1.]. (13) Die Beschlüsse des Stabilitätsrates sind zwar grundsätzlich handlungsleitend, bleiben jedoch, aus rechtspolitischer Sicht, unvollständig und inkonsequent, da sie nicht mit Sanktionsinstrumenten verbunden werden können [A.V.1.]. (14) Die Auflösung des Finanzplanungsrates vermeidet Parallelstrukturen und ist daher folgerichtig. Aus rechtspolitischer Sicht erscheint es angebracht, den Konjunkturrat (§ 18 StabG) ebenfalls aufzulösen [A.V.2.]. (15) Das novellierte StabiRatG genügt nicht den Anforderungen des Fiskalpaktes an einen automatischen gesamtstaatlichen Überwachungs- und Korrekturmechanismus [A.V.3.]. (16) Mit dem neu gefassten § 51 HGrG sind die Verschuldungsgrenze und die Maßstäbe des Fiskalpaktes Bestandteile des deutschen Rechts. Diese Umsetzung erfüllt insoweit die Anforderungen zur nationalstaatlichen Umsetzung des Fiskalpaktes [A.VI.]. 2. Ausgestaltung der konjunkturellen Komponente durch Rechtsverordnung (17) Die Produktionslücke der Konjunkturkomponente wird durch eine komplizierte Produktionsfunktion bestimmt. Hierbei müssen weitere gesamtwirtschaftliche Faktoren ökonometrisch geschätzt werden, auch mit Hilfe von statistischen Filterverfahren [B.I.1.].

270 Ergebnis

(18) Die Budgetsensitivität setzt sich aus verschiedenen Teilelastizitäten der staatlichen Einnahmen und Ausgaben zusammen. Sie ist im Zeitverlauf konstanter als das Produktionspotential, muss aber bei grundlegenden Änderungen im Steuer- und Leistungsrecht aktualisiert werden [B.I.1.]. (19) Für die Buchung auf dem Kontrollkonto verzichtet die Verordnung darauf, das Produktionspotential neu zu schätzen. Bei diesem sogenannten „konditionierten Ansatz“ besteht jedoch Gefahr für die Symmetrie, insbesondere wenn die Produktionspotentialschätzungen regelmäßig zu positiv ausfallen [B.I.2.]. (20) Die Unsicherheit bei der Potentialschätzung birgt die Gefahr, dass die aktuelle wirtschaftliche Situation falsch eingeschätzt wird und die Schuldenbremse prozyklisch wirkt. Für das periodenbezogene Haushaltsgesetz bleibt dies jedoch folgenlos. Langfristig kann nur das Symmetriegebot eine Neuausrichtung der Potentialschätzung fordern [B.II.1.]. (21) Im Ergebnis müssen aus rechtspolitischer Sicht zwei entgegengesetzte Anliegen zum Ausgleich gebracht werden. Auf der einen Seite soll das Produktionspotential möglichst genau geschätzt und hierfür auf aktuelle Erkenntnisse und Methoden der Ökonometrie-Forschung zurückgegriffen werden (§ 5 Abs. 4 S. 2 G 115). Auf der anderen Seite verlangt das Symmetriegebot Kontinuität, damit sich positive und negative Abweichungen von der Normallage langfristig die Waage halten können. Das Symmetriegebot gilt nicht nur als unverbindliche Empfehlung für die Zukunft [B.II.1.]. (22) Wie stark sich Fehleinschätzungen auf die Schuldenbremse auswirken können, zeigt beispielhaft der zu hoch angesetzte Defizitspielraum für die Übergangsphase von 2011 bis 2015 [B.II.2.]. (23) Die für die Obergrenze der Neuverschuldung relevante Vorausschätzung der Bundesregierung erscheint aus rechtspolitischer Sicht manipulationsanfällig. Das gilt insbesondere im letzten Jahr einer Legislaturperiode, da die Buchung auf dem Kontrollkonto erst in der folgenden Legislaturperiode vorgenommen wird [B.II.3.]. (24) Die Bereinigung um finanzielle Transaktionen kann potentiell dazu genutzt werden, das schuldenbremsenrelevante Defizit bewusst zu verändern. Aus rechtspolitischer Sicht ist es daher zwingend erforderlich, dass die finanziellen Transaktionen strikt abgegrenzt und nur bereinigt werden, wenn die Vermögensposition des Staates nicht verändert wird [B.II.4.].



B. Resümee271

B. Resümee Auf der Grundlage der hier angestellten Analyse der unterschiedlichen Normebenen des Staatsschuldenrechts lässt sich deren Begrenzungswirkung abschließend bewerten. Die europäische Ebene ist durch eine große Vielzahl von staatsschuldenrechtlichen Maßstäben mit unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen geprägt. In der Gesamtbeurteilung weisen sie eine hohe inhaltliche Unschärfe auf. Dies zeigt sich insbesondere an den mittelfristigen Haushaltszielen, aus denen sich keine eindeutigen und strikten Verschuldungsgrenzen ableiten lassen. Zuviel hängt von Einschätzungen und Entscheidungen der Kommission und des Rates der Europäischen Union ab. Der Fiskalpakt geht kaum über das unionsrechtlich geforderte Maß hinaus, verlangt jedoch von den Vertragsstaaten, einen automatischen Korrekturmechanismus und eine unabhängige Institution zur Überwachung der materiellen Vorgaben einzurichten. Beide Maßnahmen würden die Begrenzungswirkung stärken, sind aber von der Bundesrepublik Deutschland bislang nur unzureichend umgesetzt worden. Auf Verfassungsebene markiert die Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2009 einen Wendepunkt. Zum ersten Mal wird verfassungsrechtlich festgelegt, dass Haushalte grundsätzlich ohne Krediteinnahmen aufzustellen sind. Die konkrete Verschuldungsgrenze des Bundes wird mit der Strukturund Konjunkturkomponente genau festgelegt und so dem politischen Entscheidungsprozess weitgehend entzogen. Zugleich wird im Grundgesetz das sogenannte Symmetriegebot verankert. Dieses schärft die Konturen des bislang steuerungsschwachen Konzeptes des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes, indem Auf- und Abschwünge nunmehr zwingend symmetrisch berücksichtigt werden müssen. Das Symmetriegebot leitet sowohl das Ausführungsgesetz als auch die konkrete Ausführung der Schuldenbremse an und trägt damit entscheidend zur ihrer langfristigen Wirksamkeit bei. Es könnte zusätzlich gestärkt werden, indem de lege ferenda ein Konjunkturausgleichskonto nach hessischem Vorbild eingerichtet wird. Ein solches Ausgleichskonto würde sicherstellen, dass positive und negative Abweichungen von der Normallage sich (in etwa) die Waage halten, die Symmetrieachse also richtig ausgerichtet ist. Die im Grundgesetz vorgesehenen Ausnahmeregelungen zur außerordentlichen Kreditaufnahme sind notwendig, um die Handlungsfähigkeit des Staates in Notsituationen zu gewährleisten. Sie bedürfen allerdings einer strikten Auslegung, um eine Umgehung der Schuldenbremse zu verhindern. Die neue Einrichtung des Stabilitätsrates bleibt letztlich inkonsequent. Der Stabilitätsrat ist weder unabhängig, noch besitzt er die erforderlichen Sanktionsinstrumente. Daher kann er seine Präventionsfunktion nur unzureichend erfüllen.

272 Ergebnis

Das Ausführungsgesetz zur Schuldenbremse konkretisiert die verfassungsrechtlichen Regelungen nur unzureichend. Entscheidend für die konkrete Verschuldungsgrenze ist die Konjunkturkomponente, welche das Maß der Kreditaufnahme und -tilgung von den Auswirkungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung auf den Haushalt abhängig macht. Das Ausführungsgesetz benennt zwar die Budgetsensitivität und das Produktionspotential als die entscheidenden Faktoren für die Berechnung der Konjunkturkomponente, präzisiert aber nicht, wie diese näher zu bestimmen sind. Damit verstößt das Ausführungsgesetz zur Schuldenbremse in diesem Punkt gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG und genügt insoweit nicht dem Gesetzgebungsauftrag des Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG. Die unzureichende Bestimmtheit des Ausführungsgesetzes birgt das Risiko, dass der Verordnungsgeber die Höhe der zulässigen Kreditaufnahme maßgeblich beeinflusst und dadurch die Effektivität der Schuldenbremse gefährdet. Die derzeit geltende Verordnung (Art. 115-Verordnung) gibt die Methoden zur Berechnung der Konjunkturkomponente vor. Ein wesentlicher Faktor für diese Berechnung ist das gesamtwirtschaftliche Produktionspotential. Für die Bestimmung des Produktionspotentials legt die Rechtsverordnung die Produktionsfunktionsmethode fest. Die Berechnung nach dieser Methode ist jedoch problematisch. Zum einen ist sie voraussetzungsreich, weil einzelne Faktoren aufwendig geschätzt werden müssen. Zum anderen ergeben sich je nach Gestaltung des Modells unterschiedliche Ergebnisse, die zum Teil erheblich voneinander abweichen. Vor diesem Hintergrund wäre zu erwägen, die Produktionsfunktionsmethode durch ein statistisches Filterverfahren zu ersetzen, wie zum Beispiel den modifizierten HP-Filter, der seit 2004 in der Schweiz verwendet wird. Diese Filter-Methoden sind übersichtlicher und dadurch weniger manipulationsanfällig. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Berechnungen der Konjunkturkomponente sich – unabhängig von der Wahl der Methode – als überaus komplex erweisen und mit großen Unsicherheiten behaftet sind. Daher wäre zu überlegen, einer Institution wie dem Bundesrechnungshof de lege ferenda eine Prüfkompetenz bezüglich dieser Berechnungen einzuräumen. Die Ergebnisse der Prüfung könnten dann in einem Bericht publik und der öffentlichen Kontrolle zugänglich gemacht werden. Die Analyse des Staatsschuldenrechts auf mehreren Ebenen hat deutlich gemacht, dass weitere legislative Aktivitäten dringend vonnöten sind, um die normativen Vorgaben zu präzisieren und eine wirksame Begrenzung der Staatsverschuldung zu erreichen. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass rechtliche Regelungen alleine keine gesunden Staatsfinanzen garantieren. Sie müssen eingebettet sein in eine Kultur des nachhaltigen Wirtschaftens, in der Politik und Gesellschaft ihrer Verantwortung für nachfolgende Generationen gerecht werden.

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Urteile und Gerichtsentscheidungen Bundesverfassungsgericht: BVerfG, 2 BvG 1/10 vom 19.8.2011. – BVerfG, 2 BvR 1390/12 vom 18.3.2014. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: Herausgegeben von den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen: – BVerfGE 1, 14 (60) (Südweststaat). – BVerfGE 1, 144 (Geschäftsordnungsautonomie). – BVerfGE 2, 307 (Gerichtsbezirke). – BVerfGE 5, 71 (Verordnungsermächtigung). – BVerfGE 30, 1 (24) (Telefonüberwachung). – BVerfGE 33, 125 (Facharzt). – BVerfGE 34, 9 (Besoldungsvereinheitlichung). – BVerfGE 38, 348 (Zweckentfremdung von Wohnraum). – BVerfGE 41, 251 (Speyer-Kolleg). – BVerfGE 49, 89 (Kalkar I). – BVerfGE 55, 207 (Öffentlicher Dienst). – BVerfGE 55, 274 (Berufsausbildungsabgabe). – BVerfGE 58, 257 (Schulentlassung). – BVerfGE 62, 203 (§ 158 Nr. 1 StBerG). – BVerfGE 67, 256 (Investitionshilfegesetz). – BVerfGE 72, 330 (Finanzausgleich I). – BVerfGE 78, 249 (Fehlbelegungsabgabe). – BVerfGE 79, 311 (Staatsverschuldung I). – BVerfGE 82, 159 (Absatzfonds). – BVerfGE 83, 130 (Mutzenbacher). – BVerfGE 84, 90 (Bodenreform). – BVerfGE 86, 148 (Finanzausgleich II). – BVerfGE 91, 186 (Kohlepfennig). – BVerfGE 93, 121 (Einheitswerte II). – BVerfGE 93, 319 (Wasserpfennig). – BVerfGE 94, 49 (Asyl). – BVerfGE 101, 158 (Finanzausgleich III). – BVerfGE 106, 62 (Altenpflegegesetz). – BVerfGE 109, 279 (großer Lauschangriff). – BVerfGE 111, 226 (Juniorprofessur). – BVerfGE 112, 226 (Studiengebühren). – BVerfGE 115, 118 (Luftsicherheitsgesetz).

294 – – – – –

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

Urteile und Gerichtsentscheidungen 116, 119, 129, 131, 132,

327 (Berliner Haushalt). 96 (Staatsverschuldung II). 124 (EFS). 152 (Unterrichtungspflicht). 195 (Europäischer Stabilitätsmechanismus).

Europäischer Gerichtshof (EuGH): Urteil v. 13.7.2004, Rs. C-27/04, Kommission/ Rat der Europäischen Union, Slg. 2004 I, S. 6679 ff. Verfassungsgerichtshof Berlin: Urteil vom 31.10.2003, VerfGH 125/02, in: NVwZ 2004, S. 210. Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen: Urteil vom 2.9.2003, in: DÖV 2004, S. 121. – Urteil vom 24.04.2007, VerfGH 9/06, in DÖV 2007, S. 698.

Legislative Dokumente (insbesondere Drucksachen) Bundesrat: Entwurf eines Begleitgesetzes zur zweiten Föderalismusreform, BRDrs.  263/09, 2009. – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, BR-Drs. 262/09, 2009. – Gemeinsames Eckpunktepapier von Bundesregierung und Bundesrat zur Umsetzung des Fiskalpaktes, BR-Drs.  400/12 (Beschluss), 2012. Deutscher Bundestag: Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 2005 zur Haushaltsund Wirtschaftsführung des Bundes, BT-Drs. 16/160, 2005. – Beschluss von Bundestag und Bundesrat zur „Einsetzung einer gemeinsamen Kommission zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen“, BTDrs.  16/3885, 2006. – Beschluss zur „Einsetzung einer gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ vom 16.10.2003, BT-Drs.  15/1685, 2003. – BT-Drs.  17/494, 2010. – BT-Drs.  18/11131, 2017. – BT-Drs.  18/11135, 2017. – BT-Drs.  18/11186, 2017. – Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung des Finanzplanungsrates, BT-Drs.  17/ 983, 2010. – Gesetzesbegründung zum Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages, BT-Drs.  17/10976, 2012. Europäischer Rat: Anlage II der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 24./25.3.2011, EUCO 10/1/11. – Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des AEUV hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, 2011/199/EU. – Euro-Plus-Pakt, Anlage I der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 24./25.3.2011, EUCO 10/1/11, S. 19 Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaat­ lichen Ordnung (Hrsg.), Vorschlag der Vorsitzenden, Arbeitsunterlage der Kommission 0104 (neu) vom 13.12.2004. Landtag Rheinland-Pfalz: Gesetzentwurf zur Änderung der Verfassung für Rheinland-Pfalz (Verankerung einer Schuldenregel in der Landesverfassung), Drs. 15/4966 des Rheinland-Pfälzischen Landtages, 8.9.2010.

296

Legislative Dokumente (insbesondere Drucksachen)

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Sachverzeichnis Anpassungspfad  86, 87, 89, 91, 93, 101, 102, 105, 107, 113, 114, 115, 118, 119, 121, 122, 123, 124, 139, 152, 188, 238, 241, 255, 262 außergewöhnliche Ereignisse  78, 102, 103 Bestimmtheitsgebot  218–221, 223, 272, 286 Bruttoinlandsprodukt  13, 21, 61, 73, 79, 149, 150, 154, 162, 177, 192, 197, 200, 243, 268, 280, 290 Budgetsensitivität  25, 201, 203, 205, 222, 243, 246, 247, 248, 250, 268, 269, 270, 272 Bundesrechnungshof  13, 58, 272

Föderalismuskommission II  21, 132, 133, 134, 151, 155, 169, 205, 206, 284, 287 Föderalismusreform II  53, 57, 61, 130, 133, 136, 156, 158–160, 169, 171, 176, 191, 233, 234, 264, 274, 281, 285, 286, 289, 291 gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht  32, 38, 41, 48, 143, 144 goldene Regel  31, 34, 46 Haushaltsnotlage  132, 140, 148, 161, 176, 183, 231, 232, 234, 286, 288 Haushaltsnotlagen  135, 139, 140, 182, 191, 230, 231, 234

Cobb-Douglas-Produktionsfunktion  211, 244, 245

intertemporale Lastenverteilung  81, 142

Deckungsregel  33, 43, 46, 142, 260, 265

Konjunkturbereinigungsverfahren  135, 164, 205, 206, 207, 209, 211, 213, 214, 216, 223, 268 Konjunkturkomponente  13, 25, 32, 65, 137, 141, 156, 161–165, 167–169, 172, 177, 186, 188, 191, 193, 196, 197, 199–203, 205, 209, 210, 212, 213, 216, 217, 220, 222, 224, 225, 227–229, 243, 245, 246–253, 256, 257, 259, 265–269, 271, 272, 274 Konjunkturzyklen  146, 165, 166 Konjunkturzyklus  45, 60, 80, 85, 102, 103, 109, 114, 121, 122, 134, 137, 145, 146, 147, 148, 165, 166, 168, 172, 208, 250, 252, 266, 280, 286 Konsolidierungshilfe  235 Konsolidierungshilfen  133, 139, 140, 141, 191 Kontrollkonto  24, 25, 138, 139, 141, 147, 165–167, 174, 179, 180, 186,

Elastizität  169, 203, 204, 247, 248 erhebliche Abweichung  93, 102, 108, 124, 241 Europäische Semester  70 Euro-Plus-Pakt  68, 126, 127, 128, 129, 261, 264, 295 finanzielle Transaktionen  25, 138, 141, 164, 173, 192, 193, 194, 196, 256, 268, 270, 282 Finanzierungsdefizit  68, 72, 73, 74, 77, 78, 80, 81, 87, 90, 95, 99, 101, 102, 105, 115, 121, 122, 126, 139, 185, 237, 241, 261 Fiskalpakt  14, 22, 24, 25, 67, 116–118, 120–125, 184, 188–190, 236–239, 241, 261, 263, 264, 267, 271

298 Sachverzeichnis 188, 189, 192, 212, 224–229, 239, 243, 248, 249, 252, 253, 255, 256, 265, 266, 269, 270 Konvergenzprogramme  70, 83, 86, 89, 92, 93, 95, 101, 214 Korrekturmechanismus  119, 122–127, 189, 226–228, 230, 238–240, 264, 269, 271 Landeshaushaltsordnung  15, 156, 169, 172 Lissabon-Strategie  83, 153, 155 Maastricht-Kriterien  105, 106, 107, 111, 112, 185 mittelfristiges Haushaltsziel  88, 89, 93, 102, 103, 121, 122, 152, 188, 240, 241 modifizierter HP-Filter  62 Naturkatastrophe  177, 178 Nettoinvestitionen  155, 173, 280 Normallage  44, 46, 134, 137, 155, 162, 165, 166, 168, 169, 171, 192, 193, 196, 197, 200, 201, 222, 223, 254, 260, 266, 267, 270, 271 Notsituation  171, 175, 176, 177, 178, 266 Potentialschätzung  109, 209, 211, 245, 251–253, 270 Potentialwachstum  82, 114, 199, 206–208, 251, 279 Präventionsmechanismus  21, 24, 139, 182, 183, 230, 233, 267 Primärsaldo  82, 83, 128 Produktionslücke  25, 173, 196, 199, 200, 201, 203–209, 212, 214, 217, 222, 225, 227–229, 239, 243, 245, 248–254, 268, 269, 277, 279 Produktionspotential  34, 35, 61, 75, 82, 113, 154, 169, 196–205, 207, 209–212, 227, 243–246, 248, 249–254, 268, 270, 272, 276, 290 Referenzkriterien  73, 90, 106, 112

Sanierungsprogramme  139, 232 Schuldenquotenanpassungsrichtwert  79, 103, 114, 120, 125, 190 Schuldenstandskriterium  69, 79, 80, 87, 114, 186 Schuldenstandsquote  19, 21, 65, 74, 80, 81, 83, 87, 90, 105, 118, 120, 150, 154, 190 Six-Pack  24, 67, 69, 86, 99, 105, 108, 109, 126, 129, 263 Sondervermögen  38, 51–53, 59, 195, 260 Stabilitätsprogramme  86 Stabilitätsrat  21, 25, 139, 140, 182, 183, 189, 230– 240, 257, 267, 269, 271, 289, 291 Stabilitäts- und Wachstumspakt  23, 66, 67, 69–80, 82, 84–91, 93, 97–99, 103–105, 107, 108, 111–113, 115, 119, 122, 123, 125, 126, 131, 136, 139, 148, 151, 153, 161, 175, 177, 184, 186, 189, 190, 208, 213, 246, 263, 264, 285, 292 Steuerstaatsprinzip  26, 29, 34, 160, 259 strukturelle Komponente  137, 149, 150, 152, 154, 162, 192, 201, 221, 226, 254 Strukturkomponente  25, 146, 153, 156, 186, 188, 192, 193, 212, 226, 227, 248, 265, 267 Symmetrieerfordernis  164–166, 214 Symmetriegebot  147, 167, 168, 170, 249, 253, 254, 265, 266, 270, 271 Tilgung  45, 48, 54, 137, 147, 150, 168, 169, 179, 180, 266, 267 Tragfähigkeit  21, 69, 72, 83, 87, 89–91, 104, 108, 118, 119, 122, 123, 127, 185, 188, 189, 191, 239, 261, 264 Trendwachstum  165, 166 Two-Pack  24, 67, 125 Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung  17, 194, 246, 276 Zins-Steuer-Quote  20, 104, 232

SUMMARY The legislative framework around public debt in the Federal Republic of Germany is extremely complicated. It is based on different sources of law: the European law of nations, European Union law, the German constitution, the elaboration of federal law and ordinance. Taking this into account, the thesis facilitates a better understanding of the public debt set of rules. The thesis offers an extensive overview of legal public debt requirements. It analyses norms and their mode of operation in detail, classifying them according to their general legal view. In this way, the thesis explains not only the concrete requirements of public borrowing, but also discusses and answers central legal questions pertaining to the significantly amended legal framework surrounding public borrowing. Thus, the thesis also develops an assessment, considering if these norms are sufficient to limit public borrowing with lasting effect.

RÉSUMÉ Le régime légal des dettes publiques pour la République fédérale d’Allemagne est extrêmement complexe et repose sur différentes sources de droit: le droit international public et le droit de l’Union européenne, les dispositions de la loi fondamentale allemande, les lois fédérales et les décrets d’application de la loi. Cette thèse permet de mieux comprendre l’ensemble de règles des dettes publiques. Elle offre une idée d’ensemble détaillée des dispositions juridiques qu’enjoint le régime légal des dettes publiques, elle analyse les normes, précise leur fonctionnement et les classe ensuite sous le contexte juridique. De cette manière, la thèse n’explique pas seulement les dispositions relatives à l’emprunt public, mais répond également aux questions juridiques centrales du régime légal des dettes publiques largement réformé. Ainsi elle permet de juger si les normes sont capables de limiter durablement l’emprunt public.