Europäische Diskriminierungsverbote und Privatrecht: Unionsrechtliche Vorgaben und Sanktionen 9783161533129, 9783161532986

Der Einsatz der Europäischen Union auf dem Gebiet des privatrechtlichen Diskriminierungsschutzes hat in den letzten Jahr

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German Pages 235 [236] Year 2015

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Kapitel 1: Einleitung und Grundlagen
A. Europäische Diskriminierungsverbote im Privatrecht: Die Ausgangssituation
B. Entwicklung der Europäischen Diskriminierungsverbote
I. EU-Verträge und Sekundärrecht
II. Grundrechte-Charta
C. Terminologie
I. Binnenmarktbezogene, wettbewerbsrechtliche und gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote
II. Kategorien von Diskriminierungsverboten im Primärrecht
III. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
IV. Diskriminierungsbegriff des EuGH
V. Diskriminierungsbegriff der Antidiskriminierungsrichtlinien
D. Gang der Untersuchung
Kapitel 2: Privatautonomie und Diskriminierungsverbote
A. Problemstellung
B. Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbote
I. Kritik an formaler und materialer Konzeption der Vertragsfreiheit
II. Kompromiss zwischen formaler und materialer Konzeption der Vertragsfreiheit
III. Vertragsfreiheit und Diskriminierung
C. Vertragsrecht und iustitia distributiva
D. Legitimationsgründe
E. Schutzumfang
F. Zusammenfassung und Würdigung
Kapitel 3: Die Rechtsetzungskompetenz nach Art. 19 AEUV
A. Allgemein
I. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung
II. Arten von Kompetenzen
B. Art. 19 AEUV als Kompetenzgrundlage für Diskriminierungsverbote im Privatrecht
C. Mögliche Unionskompetenzen in Verbindung mit Art. 19 AEUV
I. Die Binnenmarktkompetenz nach Art. 114 AEUV
1. Allgemein
2. Binnenmarktkompetenz und Art. 19 AEUV: Zwei mögliche Ansätze
3. Lösungsvorschlag für Antidiskriminierungsrichtlinien
II. Die Flexibilitätsklausel nach Art. 352 AEUV
1. Allgemein
2. Flexibilitätsklausel und Art. 19 AEUV
3. Lösungsvorschlag für Antidiskriminierungsrichtlinien
III. Kompetenz im Bereich der Sozialpolitik
D. Zusammenfassung und Ergebnis
Kapitel 4: Die Diskriminierungsverbote der Grundrechte-Charta
A. Problemstellung und Gang der weiteren Untersuchung
B. Drittwirkung von Art. 21 GRC
I. Grundlagen und Terminologie
II. Vergleich der beiden Ansätze
III. Zwischenergebnis
IV. Anwendungsbereich der Diskriminierungsverbote
1. Union
2. Mitgliedstaaten
3. Rechtsprechung
4. Bewertung durch die Literatur
5. Stellungnahme
V. Drittwirkung der Grundrechte-Charta
VI. Interpretation der gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverbote der Grundrechte-Charta
C. Öffnungsklauseln in Richtlinien
I. Problemstellung
II. Öffnungsklauseln und Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC
III. Ausmaß der mitgliedstaatlichen Bindung
D. Zusammenfassung und Ergebnis
Kapitel 5: Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote
A. Problemstellung und Gang der weiteren Untersuchung
B. Die europarechtlichen Vorgaben
I. Die Antidiskriminierungsrichtlinien
II. Der Grundsatz der Effektivität und der Äquivalenz
III. Judikatur des EuGH
IV. Relevanz der Judikatur für privatrechtliche Diskriminierungsverbote
V. Das Transparenzgebot bei der Richtlinienumsetzung
1. Die zwei Ebenen der Richtlinienumsetzung
2. Legislative Umsetzung und Umsetzung durch Rechtsprechung
3. Umsetzung der Richtlinien durch bestehende Vorschriften?
VI. Ergebnis: Unionsrechtlicher Mindeststandard
C. Sanktionsprogramm bei Diskriminierung
I. Schadensersatz
1. Funktion der Haftung: Schadensersatz als Verhaltenssteuerung
2. Das Verschulden
3. Ersatz des immateriellen Schadens: Der Diskriminierungsschaden
4. Kriterien für den Ersatz und die Bemessung des Diskriminierungsschadens
5. Zusammenfassung: Ein schadensersatzrechtlicher Mindeststandard
II. Kontrahierungszwang
1. Problemstellung und Gang der Untersuchung
2. Unionsrechtliche Vorgaben
3. Grundvoraussetzungen eines Kontrahierungszwangs: Meinungsstand
4. Allgemeiner Kontrahierungszwang bei Diskriminierung
5. Besonderer Kontrahierungszwang bei Diskriminierung
6. Kontrahierungszwang als effektives Sanktionsinstrument?
7. Ergebnis
D. Schlussbetrachtung
Kapitel 6: Zusammenfassung der Ergebnisse
Literaturverzeichnis
Entscheidungsverzeichnis
Stichwortverzeichnis
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Europäische Diskriminierungsverbote und Privatrecht: Unionsrechtliche Vorgaben und Sanktionen
 9783161533129, 9783161532986

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Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 326 Herausgegeben vom

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren:

Jürgen Basedow, Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann

Moritz Zoppel

Europäische Diskriminierungsverbote und Privatrecht Unionsrechtliche Vorgaben und Sanktionen

Mohr Siebeck

Moritz Zoppel, geboren 1986; Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien und der Universidad Complutense de Madrid; Doktoratsstudium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien; Forschungsaufenthalt am Max-Planck-Institut assistent für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg; Universitäts­ am ­Institut für Zivilrecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien; Rechts­praktikant im Sprengel des Oberlandesgerichts Wien; derzeit LL.M. Student an der University of Cambridge.

e-ISBN 978-3-16-153312-9 ISBN 978-3-16-153298-6 ISSN 0720-1141 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2015  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer­ tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elek­ tronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­ papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

Meinen Eltern

Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um meine im November 2013 an der Wiener Rechtswissenschaftlichen Fakultät approbierte Dissertation. Für die Veröffentlichung konnten Literatur und Judikatur bis ins Frühjahr 2014 eingearbeitet werden. Großer Dank gilt meinem akademischen Lehrer, Univ.-Prof. i.R. Dr. Gert Iro. Er hat mir nicht nur den für diese Arbeit notwendigen Freiraum gewährt, sondern meine Beschäftigung mit den europäischen Bezügen des Privatrechts stets wohlwollend gefördert. Ihm sei auf diesem Weg nicht zuletzt auch für sein Dissertationsgutachten gedankt, von dem ich sehr profitieren konnte. Univ.Prof. Dr. Stefan Perner hat meine Dissertation von der Wiege an betreut und mich in höchstem Maße dabei unterstützt. Ich möchte mich bei ihm von Herzen für zahlreiche Hinweise, Denkanstöße und unzählige konstruktive Gespräche bedanken. Ein besseres Betreuungsverhältnis hätte man sich nicht wünschen können! Univ.-Prof. Dr. Robert Rebhahn sei für die Erstellung des Dissertationsgutachtens und viele weiterführende Anregungen gedankt. Herzlich danken möchte ich Univ.-Prof. Dr. Martin Spitzer, der meine ersten Gehversuche in der Wissenschaft begleitet hat und sich stets Zeit für ein aufbauendes Gespräch oder eine anregende Diskussion genommen hat. Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg hat mir einen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt ermöglicht, von dem ich außerordentlich profitieren konnte. Vor allem Prof. Dr. Dr. h.c. (mult.) Reinhard Zimmermann sei dafür gedankt, dass er es mir ermöglicht hat, einige Thesen meiner Dissertation im Rahmen seiner „Aktuellen Stunde“ zur Diskussion zu stellen. Den Direktoren des MPI Hamburg, den Professoren Jürgen Basedow, Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann und Herrn Dr. Franz-Peter Gillig vom Mohr Siebeck Verlag danke ich für die Aufnahme in die vorliegende Schriftenreihe. Von Herzen möchte ich mich weiters bei meinen großartigen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Zivilrecht der Rechtwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien bedanken. Besonders hervorzuheben sind Dr. Philipp Fidler und Dr. Reinhard Pesek. Die angenehme Arbeitsatmosphäre und der freundschaftliche Umgang miteinander haben in unschätzbarer Weise zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Wien, im August 2014

Moritz Zoppel

Inhaltsverzeichnis Vorwort.......................................................................................................... VII Abkürzungsverzeichnis . .............................................................................. XIII

Kapitel 1: Einleitung und Grundlagen.................................................... 1 A. Europäische Diskriminierungsverbote im Privatrecht: Die Ausgangssituation.................................................................................1 B. Entwicklung der Europäischen Diskriminierungsverbote............................2 I. EU-Verträge und Sekundärrecht.............................................................3 II. Grundrechte-Charta.................................................................................7

C. Terminologie..............................................................................................10 I. Binnenmarktbezogene, wettbewerbsrechtliche und gesellschafts politische Diskriminierungsverbote......................................................10 II. Kategorien von Diskriminierungsverboten im Primärrecht..................12 III. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung......................................13 IV. Diskriminierungsbegriff des EuGH......................................................14 V. Diskriminierungsbegriff der Antidiskriminierungsrichtlinien..............15

D. Gang der Untersuchung.............................................................................17

Kapitel 2: Privatautonomie und Diskriminierungsverbote.....................19 A. Problemstellung..........................................................................................19 B. Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbote...........................................22 I. Kritik an formaler und materialer Konzeption der Vertragsfreiheit......25 II. Kompromiss zwischen formaler und materialer Konzeption der Vertragsfreiheit................................................................................27 III. Vertragsfreiheit und Diskriminierung...................................................30

C. Vertragsrecht und iustitia distributiva........................................................33

D. Legitimationsgründe..................................................................................36

E. Schutzumfang.............................................................................................37 F. Zusammenfassung und Würdigung............................................................47

X

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 3: Die Rechtsetzungskompetenz nach Art. 19 AEUV..................50 A. Allgemein...................................................................................................50 I. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.........................................51 II. Arten von Kompetenzen.......................................................................53 B. Art. 19 AEUV als Kompetenzgrundlage für Diskriminierungsverbote im Privatrecht.............................................................................................54 C. Mögliche Unionskompetenzen in Verbindung mit Art. 19 AEUV.............61 I. Die Binnenmarktkompetenz nach Art. 114 AEUV...............................62 1. Allgemein...........................................................................................62 2. Binnenmarktkompetenz und Art. 19 AEUV: Zwei mögliche Ansätze......................................................................65 3. Lösungsvorschlag für Antidiskriminierungsrichtlinien......................71 II. Die Flexibilitätsklausel nach Art. 352 AEUV.......................................73 1. Allgemein...........................................................................................73 2. Flexibilitätsklausel und Art. 19 AEUV...............................................74 3. Lösungsvorschlag für Antidiskriminierungsrichtlinien......................78 III. Kompetenz im Bereich der Sozialpolitik..............................................81 D. Zusammenfassung und Ergebnis...............................................................82

Kapitel 4: Die Diskriminierungsverbote der Grundrechte-Charta. .......85 A. Problemstellung und Gang der weiteren Untersuchung.............................85

B. Drittwirkung von Art. 21 GRC...................................................................86 I. Grundlagen und Terminologie..............................................................86 II. Vergleich der beiden Ansätze................................................................91 III. Zwischenergebnis..................................................................................93 IV. Anwendungsbereich der Diskriminierungsverbote...............................94 1. Union..................................................................................................94 2. Mitgliedstaaten...................................................................................97 3. Rechtsprechung..................................................................................97 4. Bewertung durch die Literatur..........................................................101 5. Stellungnahme..................................................................................106 V. Drittwirkung der Grundrechte-Charta.................................................109 VI. Interpretation der gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverbote der Grundrechte-Charta.......................................................... 110

C. Öffnungsklauseln in Richtlinien............................................................... 112 I. Problemstellung.................................................................................. 112 II. Öffnungsklauseln und Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC.............................. 113 III. Ausmaß der mitgliedstaatlichen Bindung........................................... 116

D. Zusammenfassung und Ergebnis.............................................................122

Inhaltsverzeichnis

XI

Kapitel 5: Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote.124 A. Problemstellung und Gang der weiteren Untersuchung...........................124

B. Die europarechtlichen Vorgaben..............................................................126 I. Die Antidiskriminierungsrichtlinien...................................................126 II. Der Grundsatz der Effektivität und der Äquivalenz...........................127 III. Judikatur des EuGH............................................................................130 IV. Relevanz der Judikatur für privatrechtliche Diskriminierungsverbote.....................................................................134 V. Das Transparenzgebot bei der Richtlinienumsetzung.........................135 1. Die zwei Ebenen der Richtlinienumsetzung.....................................137 2. Legislative Umsetzung und Umsetzung durch Rechtsprechung......140 3. Umsetzung der Richtlinien durch bestehende Vorschriften?............142 VI. Ergebnis: Unionsrechtlicher Mindeststandard....................................146

C. Sanktionsprogramm bei Diskriminierung................................................149 I. Schadensersatz....................................................................................149 1. Funktion der Haftung: Schadensersatz als Verhaltenssteuerung......151 2. Das Verschulden...............................................................................152 3. Ersatz des immateriellen Schadens: Der Diskriminierungsschaden 154 4. Kriterien für den Ersatz und die Bemessung des Diskriminierungsschadens................................................................159 5. Zusammenfassung: Ein schadensersatzrechtlicher Mindeststandard...............................................................................164 II. Kontrahierungszwang.........................................................................166 1. Problemstellung und Gang der Untersuchung..................................166 2. Unionsrechtliche Vorgaben...............................................................168 3. Grundvoraussetzungen eines Kontrahierungszwangs: Meinungsstand..................................................................................170 4. Allgemeiner Kontrahierungszwang bei Diskriminierung.................181 5. Besonderer Kontrahierungszwang bei Diskriminierung..................184 6. Kontrahierungszwang als effektives Sanktionsinstrument?.............194 7. Ergebnis............................................................................................197

D. Schlussbetrachtung...................................................................................198

Kapitel 6: Zusammenfassung der Ergebnisse....................................... 201 Literaturverzeichnis ......................................................................................207 Entscheidungsverzeichnis..............................................................................218 Stichwortverzeichnis......................................................................................220

Abkürzungsverzeichnis a.A. ABGB Abs. AcP AEUV AGB AGG AöR ARIEL Art., Artt. AuR BGB BGH Bsp. BVerfG B-VG bzw. CMLRev dens. ders. dies. ebd. ecolex Ed., Eds. EEA EG EGBGB EGKS EGMR EGV ELJ ELRev EMRK EP ERCL ERPL et al. EU EuGH EuGRZ EuR

anderer Ansicht Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (Österreich) Absatz Archiv für die civilistische Praxis Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Allgemeine Geschäftsbedingungen Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Archiv des öffentlichen Rechts Austrian Review of International and European Law Artikel Arbeit und Recht Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Beispiel Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgesetz beziehungsweise Common Market Law Review denselben derselbe(n) dieselbe ebenda Fachzeitschrift für Wirtschaftsrecht Editor(s) Einheitliche Europäische Akte Europäische Gemeinschaft(en) Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft European Law Journal European Law Review Europäische Menschenrechtskonvention Europäisches Parlament European Review of Contract Law European Review of Private Law et alii, et aliae Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte Zeitschrift Zeitschrift Europarecht

Abkürzungsverzeichnis EUV EuZW EvBl EWG EWGV EWS f., ff. Fn. FS GA GEKR GG GlBG GPR GRC h.A. HanseLR h.L. h.M. Hrsg. ILJ IPR i.V.m. JBl Jura JuS JRP JZ KritV KSchG lit. m.E. MJECL m.w.N. MüKoBGB NJW OGH ÖJZ OLG ÖRZ ÖZÖR ÖZW RabelsZ RdA RIW RL Rn.

XIII

Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht der, die folgende(n) Fußnote Festschrift Generalanwalt, Generalanwältin (Vorschlag für eine) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rats über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Bundesgesetz über die Gleichbehandlung (Österreich) Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Charta der Grundrechte der Europäischen Union herrschende Ansicht Hanse Law Review herrschende Lehre herrschende Meinung Herausgeber(in) Industrial Law Journal Internationales Privatrecht in Verbindung mit Juristische Blätter Juristische Ausbildung Juristische Schulung Journal für Rechtspolitik JuristenZeitung Die Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Bundesgesetz, mit dem Bestimmungen zum Schutz der Verbracher getroffen werden littera meines Erachtens Maastricht Journal of European and Comparative Law mit weiteren Nachweisen Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Neue Juristische Wochenschrift Oberster Gerichtshof Österreichische Juristen-Zeitung Oberlandesgericht Österreichische Richterzeitung Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht Österreichische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recht der Arbeit Recht der Internationalen Wirtschaft Richtlinie Randnummer

XIV Rs. RW Rz. SA Slg. Tz. u.a. UAbs. usw. verb. VersR VfGH vgl. VO VVDStRL wbl WM Z. z.B. Zak ZEuP ZEuS ZfRV ZHR ZRP

Abkürzungsverzeichnis Rechtssache(n) Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung Randziffer Schlussantrag, Schlussanträge Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Teilziffer und andere, unter anderem Unterabsatz und so weiter verbundene Zeitschrift für Versicherungsrecht Verfassungsgerichtshof vergleiche Verordnung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer wirtschaftsrechtliche blätter Wertpapiermitteilungen Ziffer zum Beispiel Zivilrecht aktuell Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europäische Studien Zeitschrift für Europarecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Rechtspolitik

Kapitel 1

Einleitung und Grundlagen A. Europäische Diskriminierungsverbote im Privatrecht: Die Ausgangssituation Wann immer die Europäische Union Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung gesetzt hat, ließen hitzige Debatten in der Literatur nicht lange auf sich warten. Vor allem aus dem deutschsprachigen Raum stoßen der Einsatz des Unionsgesetzgebers im Antidiskriminierungsrecht und die Judikatur des EuGH bisweilen auf starken Gegenwind. Manche sehen den Anfang vom Ende der Privatautonomie kommen1, andere hören bereits die Totenglocke des Privatrechts läuten2, wieder andere fürchten, dass der Totalitarismus erneut Einzug hält,3 und selbst ein Vergleich von Diskriminierungsverboten mit dem Trojanischen Pferd, das die Privatautonomie von innen heraus zerstört, wird nicht gescheut4. Die Vielzahl an kritischen und ungewohnt emotionalen Stellungnahmen5 spiegelt die Brisanz der Thematik wider. Gleichermaßen wird das Spannungsverhältnis zwischen Gleichheitsrechten und Privatautonomie, das nun auf europäischer Ebene aufs Neue höchst aktuell geworden ist, evident.6 Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion über unionsrechtlich determinierte gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote im Privatrecht leisten. Es wird dabei eine europarechtliche Perspektive eingenommen. Die unionsrechtlichen Vorgaben stehen folglich im Vordergrund. Ausgangspunkte bilden Art. 19 AEUV, die auf ihm basierenden Richtlinien und die Grundrechte-Charta. Der Fokus liegt auf dem allgemeinen Privatrecht. 1 Picker, JZ 2002, 880; ders., JZ 2003, 540, 542 fürchtet: „Überwachungs- und Inquisitionskomitees von wahrhaft Robespierre’schem Charakter sollen die neue Moral im Zivilrecht sichern“; ders., in: Karlsruher Forum 2004, 7; von Koppenfels, WM 2002, 1489. 2 „Die Totenglocke des Privatrechts läutet“ ist der Titel eines Beitrages von Repgen, in: Isensee, Vertragsfreiheit und Diskriminierung 11. 3 Braun, JuS 2002, 424. Der Titel des Beitrages lautet: „Übrigens – Deutschland wird wieder totalitär.“ 4 Säcker, ZEuP 2006, 1, 3. 5 Ein Überblick findet sich bei Schöbener/Stork, ZEuS 2004, 43, 46 ff. 6 Britz, in: VVDStRL 64, Der Sozialstaat in Deutschland und Europa 355, 358 mit drei Erklärungsversuchen zu einer außergewöhnlichen Debatte; Picker, JZ 2003, 540 f. merkt treffend an, dass die Diskussion um Diskriminierungsverbote im Privatrecht deutlich heftiger geführt werde, als es dem Temperament von Juristen normalerweise entspreche; siehe auch: Streinz/ Streinz, EUV/AEUV2 Art. 19 AEUV, Rn. 1.

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Kapitel 1: Einleitung und Grundlagen

Aufgrund seiner Vorreiterstellung auf dem Gebiet des Diskriminierungsschutzes im Europäischen Privatrecht wird – wenn es im Kontext sinnvoll erscheint – auch auf arbeitsrechtliche Entwicklungen eingegangen. Hierbei wird in erster Linie die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes eine Rolle spielen. Ziel dieser Arbeit ist es, Europäische Diskriminierungsverbote auf ihre „Systemverträglichkeit“ im Privatrecht zu untersuchen. Lassen sich diese mit dem Grundsatz der Vertragsfreiheit vereinbaren oder ist der Unionsgesetzgeber diesbezüglich zu weit gegangen? Die Frage nach der Legitimation der Union auf dem Gebiet des privatrechtlichen Diskriminierungsschutzes stellt sich ebenso aus kompetenzrechtlicher und grundrechtsdogmatischer Perspektive. Die konkrete Wirkung von Diskriminierungsverboten zeigt sich letztlich am deutlichsten an den mit einer Verletzung verbundenen Sanktionen. Ihre unionsrechtlich determinierte Ausformung bildet den abschließenden Teil der Untersuchung. Bevor das Untersuchungsprogramm an die Problemstellung der Arbeit heranführt, lohnt sich ein kurzer Blick in die Vergangenheit. Es folgen Ausführungen zur Terminologie.

B. Entwicklung der Europäischen Diskriminierungsverbote Für eine zweckmäßige Untersuchung soll die Entstehungsgeschichte der relevanten primär- und sekundärrechtlichen Bestimmungen sowie der Gleichheitsrechte der Grundrechte-Charta skizziert werden. Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde 1998 eine neue Kompetenzgrundlage (Art. 13 EGV, Art. 19 AEUV nach dem Vertrag von Lissabon) geschaffen. Sie ermöglicht es dem Unionsgesetzgeber, im Rahmen seiner ihm durch die Verträge übertragenen Zuständigkeiten, Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse7, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. Auf der Basis von Art. 19 AEUV wurden bisher drei Richtlinien erlassen, die Diskriminierung aufgrund der Rasse und des Geschlechts untersagen. Für eine weitere besteht ein Kommissionsvorschlag.8 Diese Antidiskriminierungsrichtlinien und ihre nationalen Umsetzungsnormen sind wegen ihrer Wirkung inter privatos immenser Kritik ausgesetzt.9 In manchen Mitgliedstaaten kam es, aus den verschiedensten Motiven, zu Verzögerungen bei der 7 Zum umstrittenen Begriff „Rasse“ siehe RL 2000/43/EG (Antirassismus-RL) Erwägungsgrund (6): „Die Europäische Union weist Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu belegen, zurück. Die Verwendung des Begriffs ‚Rasse’ in dieser Richtlinie impliziert nicht die Akzeptanz solcher Theorien.“ Dasselbe gilt für die vorliegende Arbeit. 8 RL 2000/43/EG, RL 2000/78/EG, RL 2004/113/EG. 9 Vgl. Calliess/Ruffert/Epiney, EUV/AEUV4 Art. 19 AEUV, Rn. 13 f.

B. Entwicklung der Europäischen Diskriminierungsverbote

3

Umsetzung.10 Vor allem in Deutschland wurde rund um die Ausarbeitung eines Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) eine heftige akademische Debatte ausgelöst. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) normiert in ihrem Titel III eine Vielzahl von Gleichheitsrechten, ähnlich ihrem Vorbild der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie ist seit dem Vertrag von Lissabon rechtsverbindlich und steht auf einer Stufe mit dem Primärrecht. I. EU-Verträge und Sekundärrecht Diskriminierungsverbote haben in der Union eine lange Tradition. Die Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit (heute Art. 18 AEUV) ist seit jeher verpönt.11 Dieses Diskriminierungsverbot wird wegen seiner fundamentalen Bedeutung für die Union auch gerne als ihr Leitmotiv12 oder ihre Magna Charta13 bezeichnet. Die Überwindung von Ungleichbehandlungen aufgrund der Nationalität ist elementare Voraussetzung einer Gemeinschaft, deren Ziel die Errichtung eines funktionierenden gemeinsamen Binnenmarktes ist und die ein engeres Zusammenrücken der Völker Europas anstrebt. Der hohe Stellenwert von Art. 18 AEUV14 wird unmissverständlich klar, wenn man sich vor Augen führt, dass sich der Vorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht aus eben dieser Bestimmung in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV15 ableitet.16 Spricht man von Europäischem Antidiskriminierungsrecht im Zusammenhang mit dem Privatrecht, so ist vor allem die Bestimmung des Art. 19 AEUV bedeutsam. Von ihr leiteten sich Sekundärrechtsakte ab, die wiederum Wirkung im Privatrechtsverhältnis entfalten. Art. 19 AEUV erlaubt es der Union, innerhalb ihres Wirkungsbereichs tätig zu werden, um Diskriminierung aufgrund einer Vielzahl an Kriterien zu bekämpfen. Anders als die in den Grundfreiheiten enthaltenen Diskriminierungsverbote oder jene des Wettbewerbsrechts zielt Art. 19 AEUV nicht primär auf Das hatte ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich, Deutschland, Finnland, Griechenland und Luxemburg wegen Nichtumsetzung bzw. nicht vollständiger Umsetzung der RL 2000/43/EG und der RL 2000/78/EG zur Folge; der EuGH stellte eine Vertragsverletzung des Vereinigten Königreichs und Nordirlands wegen nicht fristgerechter Umsetzung der RL 2004/113/EG fest. 11 Leible, in: Schulze (Hrsg.), Non-Discrimination in European Private Law 27. 12  Grabitz/Hilf/Nettesheim/von Bogdandy, EUV/AEUV, Art. 18 AEUV, Rn. 1; Streinz/ Streinz, EUV/AEUV2 Art. 18 AEUV, Rn. 8. 13 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Rn. 30/3, 30/6. 14 Ehemals Art. 7 EWGV. 15 Ehemals Art. 5 EWGV. 16 EuGH 15.07.1964 Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L) Slg. 1262, 1269 f.; vgl. dazu Grabitz/Hilf/ Nettesheim/von Bogdandy, EUV/AEUV, Art. 18 AEUV, Rn. 1. 10

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Kapitel 1: Einleitung und Grundlagen

die Schaffung und Erhaltung eines freien Binnenmarktes ab.17 Zum Zeitpunkt der Einführung der Bestimmung in den EGV wurde Diskriminierung bereits seit Jahren durch nationale Regelungen in den Mitgliedstaaten bekämpft. Es erscheint daher die Frage jedenfalls berechtigt, aus welchem Grund es europäischer Regelungen dieser höchst sensiblen Materie bedurfte.18 Bereits die Römer Verträge von 1957 (EWGV) enthielt mit den Artt. 7, 40 Abs. 2 und 119 Regelungen zur Bekämpfung von Diskriminierung. Art. 7 EWGV entspricht dem Verbot der Diskriminierung aufgrund der Nationalität in Art. 18 AEUV. Dieses Diskriminierungsverbot ist bis heute die Interpretationsmaxime für alle weiteren Bestimmungen der EU-Verträge.19 Bei Art. 40 Abs. 2 EWGV handelte es sich um ein Diskriminierungsverbot im Rahmen der gemeinsamen Agrarmarktorganisation (Art. 40 Abs. 2 AEUV). Die Geschichte der Union ist daher seit ihren Anfängen auch eine Geschichte der Antidiskriminierung.20 Art. 119 EWGV ist in Hinblick auf den privatrechtlichen Diskriminierungsschutz von besonderem Interesse. Er schreibt den Mitgliedstaaten vor, den Grundsatz des gleichen Entgelts für gleiche Leistung von Frauen und Männern zu verwirklichen. Die Bestimmung entspricht weitestgehend den Abs. 1 und 2 des heutigen Art. 157 AEUV. Während der Verhandlungen des EWGV kristallisierten sich zwei Lager bezüglich der Frage heraus, ob der Vertrag auch eine sozialpolitische Dimension haben solle. Allen voran vertrat Frankreich den Standpunkt, dass dies zwingend notwendig sei.21 Aufgrund des französischen Engagements wurde Art. 119 in den EWGV aufgenommen. Bei genauerer Betrachtung wird augenscheinlich, dass nicht primär sozialpolitische Ziele verfolgt wurden.22 Vielmehr befürchtete Frankreich Wettbewerbsverfälschungen zugunsten anderer Mitgliedstaaten, deren nationales Recht keine derartige Regelung, die gleiches Entgelt bei gleicher Arbeit für Männer und Frauen vorschreibt, vorsieht.23 Die französische Regierung befürchtete, dass Unternehmen in Mitgliedstaaten abwandern würden, in denen sie von „billiger“ weiblicher Arbeitskraft profitieren könnten. Ein Motiv für die Einführung von Diskriminierungsverboten war damit von Beginn an wirtschaftlicher Natur.24 Mittlerweile ist freilich die sozialpolitische Dimension des Grundsatzes der EntgeltsSiehe dazu weiter unten, unter: C.I. Chalmers/Davies/Monti, European Union Law2, 536. 19 Grabitz/Hilf/Nettesheim/von Bogdandy, EUV/AEUV, Art. 18 AEUV, Rn. 1. 20 So Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 174. 21 Bell, Anti-Discrimination Law and the European Union 6 ff. 22 Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 17 Rn. 6. 23 Bell, Anti-Discrimination Law and the European Union 8 ff.; Chalmers/Davies/Monti, European Union Law2, 537; Schwarze/Rebhahn, EU-Kommentar3 Art. 157 AEUV, Rn. 1; Lengauer, ARIEL 1999, 369, 376. 24 Chalmers/Davies/Monti, European Union Law2, 537; Fredman, Discrimination Law 24 ff. 17 18

B. Entwicklung der Europäischen Diskriminierungsverbote

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gleichheit klar ins Zentrum gerückt.25 Die ökonomische Funktion trat vor allem bedingt durch die Judikatur des EuGH26 in den Hintergrund. Dieser will Art. 157 AEUV klar als sozialpolitische Vorschrift verstanden wissen.27 In der ersten Hälfte der Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts wurden Stimmen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft laut, die eine Erweiterung der Kompetenz im Bereich des Antidiskriminierungsrechts forderten. Besonders das Europäische Parlament und zahlreiche NGOs machten sich für dieses Anliegen stark.28 Es wurde darauf hingewiesen, dass Diskriminierung die Freizügigkeit behindere, und daher gefordert, dass die 1993 durch den Vertrag von Maastricht eingeführte Unionsbürgerschaft um eine soziale Dimension erweitert werde.29 Die Mitgliedstaaten standen einem sehr allgemeinen Diskriminierungsverbot zunächst skeptisch gegenüber – dies nicht zuletzt aufgrund der aus den Schwierigkeiten beim Ratifizierungsprozess des Vertrags von Maastricht gezogenen Lehren. Es wurde zumindest erwartet, dass das Vereinigte Königreich30 sich gegen ein derartiges Diskriminierungsverbot aussprechen werde.31 Dennoch geht aus dem Bericht einer vom Rat unter dem Vorsitz Spaniens eingesetzten Reflexionsgruppe hervor, dass der Großteil der Vertreter der Mitgliedstaaten eine Bestimmung, die ein allgemeines Diskriminierungsverbot einführt, für erforderlich hielt. Grund hierfür war vor allem das politische Kalkül, dass die Akzeptanz der Gemeinschaft in der Bevölkerung größer würde, wenn man sich klarer zu Grund- und Menschenrechten positionierte. Neben einer offiziellen Verurteilung von Fremdenfeindlichkeit schlug daher die Reflexionsgruppe die Einführung eines allgemeinen Diskriminierungsverbotes vor.32 Unter irischer Ratspräsidentschaft und auf Vorschlag der vorangegangenen italienischen Ratspräsidentschaft wurde schließlich 1996 ein Entwurf (Dubliner Entwurf) für eine allgemeine Antidiskriminierungsbestimmung vorgelegt: Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld, EUV/AEUV, Art. 157 AEUV, Rn. 3. Erstmals: EuGH 08.04.1976 Rs. 43/75 (Defrenne II) Rn. 8 ff. 27 Schwarze/Rebhahn, EU-Kommentar3 Art. 157 AEUV, Rn. 1. 28 Im Detail siehe Bell/Waddington, ILJ 25/4 (1996), 320 ff.; Bell, MJECL 6 (1999), 1, 5 ff.; Stalder, Antidiskriminierungsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 13 EGVertrag – unter besonderer Berücksichtigung der Rassismusbekämpfung und des Minderheitenschutzes – 3 ff. 29 Bell, MJECL 6 (1999), 1, 5 ff.; Barnard, ILJ 26/3 (1997), 275, 280. 30 Die Regierung des Vereinigten Königreichs war der Auffassung, dass Diskriminierung besser auf nationaler Ebene bekämpft werden könne und die Gemeinschaft jedenfalls nicht das richtige Forum für Grundrechtsbestimmungen sei; vgl. dazu Flynn, CMLRev 36 (1999), 1127, 1130 f.; Stalder, Antidiskriminierungsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 13 EG-Vertrag – unter besonderer Berücksichtigung der Rassismusbekämpfung und des Minderheitenschutzes – 4 f. 31 Flynn, CMLRev 36 (1999), 1127, 1129 ff. 32 Flynn, CMLRev 36 (1999), 1127, 1130 ff. unter Berufung auf den Bericht der Reflexionsgruppe (Reflex 10) SN 509/95. 25 26

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Kapitel 1: Einleitung und Grundlagen

„Unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrages kann der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um im Anwendungsbereich dieses Vertrages Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Zugehörigkeit, der sozialen Herkunft, der Glaubenszugehörigkeit, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu verbieten.“

Uneinigkeit bestand zunächst bezüglich der Personengruppen, die durch die neue Diskriminierungsklausel geschützt werden sollten. Die Regierung der Niederlande schlug vor, die Merkmale Behinderung, Alter und sexuelle Orientierung zu streichen. Vor allem wurde befürchtet, dass ein Gleichbehandlungsgebot von behinderten Menschen schwerwiegende ökonomische Folgen nach sich ziehen könnte. Dies stieß – erwartungsgemäß – auf große Empörung seitens des Europäischen Parlaments und von NGOs.33 Der Dubliner Entwurf wurde daher in der Revisionskonferenz von Amsterdam beinahe wortgetreu in den Gemeinschaftsvertrag aufgenommen.34 Art. 13 EGV wurde, abgesehen von der Veränderung der Rechtsstellung des Parlaments im Rechtsetzungsverfahren, unverändert durch den Vertrag von Lissabon als Art. 19 in den AEUV integriert.35 Auf Art. 19 AEUV wurden bisher in den Jahren 2000 und 2004 drei Richtlinien gestützt, für eine vierte, allgemeine Antidiskriminierungsrichtlinie liegt ein Entwurf der Kommission vor.36 Die RL 2000/43/EG (Antirassismus-RL) sowie die RL 2004/113/EG (Unisex-RL), die Beschränkungen des Zugangs zu Gütern und Dienstleistungen aufgrund der Rasse und der ethnischen Herkunft bzw. des Geschlechts untersagen, sind für das allgemeine Zivilrecht von besonderer Bedeutung. Sie waren deswegen auch bei ihrer Umsetzung Zielscheibe herber Kritik.37 Die Antirassismus-RL verbietet Diskriminierung aufgrund der Rasse und der ethnischen Herkunft. Der sachliche Geltungsbereich erfasst abgesehen vom Arbeitsleben den Sozialschutz, Leistungen der sozialen Sicherheit, soziale Vergünstigungen, die Bildung und den Zugang zu Waren und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Dies schließt den Wohnraum mit ein. Die Mitgliedstaaten können nur in einem sehr engen Rahmen Regelungen 33 Bell, MJECL 6 (1999), 1, 6 ff.; Stalder, Antidiskriminierungsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 13 EG-Vertrag – unter besonderer Berücksichtigung der Rassismusbekämpfung und des Minderheitenschutzes – 6. 34 Es wurde Diskriminierung wegen der „sozialen Herkunft“ gestrichen und der Begriff „Glaubenszugehörigkeit“ durch „Religion und Weltanschauung“ ersetzt. 35 Vgl. Schwarze/Holoubek, EU-Kommentar3 Art. 19 AEUV, Rn. 1; Lenz/Borchardt/Lenz, EU-Verträge5 Art. 19 AEUV, Rn. 1 ff. 36 Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 19 AEUV, Rn. 23. 37 Der sachliche Anwendungsbereich der Antirassismus-RL erfasst allerdings noch andere Materien. Siehe weiter unten. Die RL 2000/78/EG (sogenannte Rahmen-RL) ist für das Arbeitsrecht einschlägig, basiert aber auch auf Art. 19 AEUV.

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vorsehen, die eine Ungleichbehandlung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft nicht als Diskriminierung verstehen. Diese Möglichkeit besteht, wenn es sich beim betreffenden Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Rahmenbedingungen bei ihrer Ausübung um eine entscheidende und wesentliche Voraussetzung handelt. Einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund für direkte38 rassistische Diskriminierung sieht die Richtlinie nicht vor.39 Die Unisex-RL untersagt Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bei der Versorgung mit und dem Zugang zu Gütern und Dienstleistungen. Art. 3 Abs. 1 schränkt den Anwendungsbereich auf jene Güter und Dienstleistungen ein, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen und ohne Ansehen der Person angeboten werden. Es geht der Sache nach um den Schutz vor Geschlechterdiskriminierung bei, in der Terminologie des deutschen AGG, Massengeschäften. Dabei handelt es sich, nach § 19 AGG, um Schuldverhältnisse, die typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen (oder privatrechtliche Versicherungen zum Gegenstand haben). Die RL 2004/113/EG kennt, anders als die Antirassismus-RL, einen generellen Rechtfertigungstatbestand. Art. 4 Abs. 5 sieht eine Diskriminierung als gerechtfertigt an, die unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einem legitimen Ziel folgt. Die unionsrechtlichen Vorgaben laufen daher klar auf eine unterschiedliche Schutzintensität von sexistischer und rassistischer Diskriminierung hinaus.40 Die Antirassismus-RL sieht weder eine Beschränkung auf Massengeschäfte vor, noch lässt sich rassistische Diskriminierung in weitem Maße rechtfertigen. II. Grundrechte-Charta In den Gründungsverträgen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sucht man vergebens nach Grund- und Menschenrechten. Das ist nicht weiter verwunderlich, war es doch erklärtes Ziel der Gemeinschaft die Integration der Völker Europas durch den Zusammenschluss ihrer nationalen Märkte zu erreichen.41 Der Schwerpunkt lag daher unzweifelhaft auf der wirtschaftlichen Integration. Berührungspunkte mit menschenrechtssensiblen Materien hielt man für wenig wahrscheinlich.42 Die frühe Rechtsprechung des EuGH zeichnet sich Siehe C.III.  Vgl. dazu Mahlmann, ZEuS 2002, 414. 40  MüKoBGB/Thüsing, I6 § 19 AGG, Rn. 11. 41  von Bogdandy, in: Duschanek/Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa 71. 42  Goldsmith, CMLRev 38 (2001), 1201, 1202; Perner, Grundfreiheiten, GrundrechteCharta und Privatrecht 13 ff. 38 39

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daher – mag dies auch dogmatisch nachvollziehbar sein43 – durch mangelnde Grundrechtssensibilität aus.44 Mit dem Urteil in der Rechtssache Stauder45 wurde die zurückhaltende Position des EuGH korrigiert. Gegenständlich ging es um die Verteilung von Butter an Sozialhilfeempfänger zu vergünstigten Preisen. Das Gemeinschaftsrecht verpflichtete in seiner deutschen und niederländischen Sprachfassung die Mitgliedstaaten dazu, dafür Sorge zu tragen, dass Begünstigte nur dann Butter erhalten sollten, wenn sie einen „auf ihren Namen ausgestellten Gutschein“ vorweisen konnten. In anderen Sprachfassungen (Französisch und Italienisch) war allerdings lediglich von einem „individualisierten Gutschein“ die Rede. Der Kläger brachte vor, dass es mit seinen Grundrechten unvereinbar sei, seine Identität gegenüber dem Verkäufer preisgeben zu müssen. Auch das mit der Rechtssache befasste Verwaltungsgericht Stuttgart hatte Zweifel und legte die Frage schließlich dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. In Stauder stellt der Gerichtshof klar, dass der am wenigsten belastenden Sprachfassung der Vorzug zu geben sei.46 Anschließend folgt ein für die Urteilsbegründung nicht erforderlicher47, für den europäischen Grundrechtschutz allerdings fundamentaler Satz: „Bei dieser Auslegung enthält die streitige Vorschrift nichts, was die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte der Person in Frage stellen könnte.“48 Dogmatisch wurde vom Gerichtshof nicht der Weg einer unmittelbaren Anwendung der nationalen Grundrechte der Mitgliedstaaten beschritten, sondern er erkannte diese lediglich als Rechtserkenntnisquellen an. Aus ihnen können folglich ungeschriebene Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze geschöpft werden.49 Der EuGH hat diese Rechtsprechung und ihre Begründung50 beibehalten und mehrfach bestätigt.51 Sie fand schließlich Eingang in das Primärrecht. So schreibt Art. 6 Abs. 3 EUV fest, dass Grundrechte, wie sie sich aus den Der EuGH wies Rügen, die sich auf nationale Grundrechte stützen grundsätzlich als unzulässig zurück. Walter, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 1 Rn. 26 geht davon aus, dass die Position des EuGH dogmatisch zwingend war, weil er weder nationale Vorschriften auslegen, noch sie gegenüber dem Gemeinschaftsrecht anwenden konnte. 44 Kühling, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht2, 662 ff.; Walter, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 1 Rn. 26 ff. 45 EuGH 12.11.1969 Rs. 29/69 (Stauder). 46 EuGH 12.11.1969 Rs. 29/69 (Stauder) Rn. 4. 47 Vgl. Walter, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 1 Rn. 27. 48 EuGH 12.11.1969 Rs. 29/69 (Stauder) Rn. 7. 49 Walter, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 1 Rn. 29 ff. 50 Für diese waren die SA von Römer 12.11.1969 Rs. 29/69 (Stauder) von zentraler Bedeutung; vgl. auch Walter, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 1 Rn. 29. 51 Siehe vor allem EuGH 17.12.1970 Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft); 13.12.1979 Rs. 44/79 (Hauer) Rn. 20 ff., 32; 13.07.1989 Rs. 5/88 (Wachauf) Rn. 17. 43

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gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind. In der Rechtssache Nold erkennt der Gerichtshof wenig später neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen auch die EMRK als Rechtserkenntnisquelle an.52 Trotz der Anerkennung von Grundrechten, die auf den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und der EMRK aufbauen und im Primärrecht eine gewisse Absicherung gefunden haben, wollte der Ruf nach einem eigenen, europäischen und vor allem niedergeschriebenen Grundrechtskatalog nicht verstummen.53 Das Ergebnis ist die GRC, die im Jahr 2000 auf dem Europäischen Rat von Nizza feierlich proklamiert wurde.54 Der Grundrechtskatalog war anfangs nicht rechtsverbindlich. Erst Art. 6 Abs. 1 EUV in seiner Fassung des Vertrags von Lissabon legt fest, dass die Grundrechte-Charta anerkannt wird und mit den Verträgen auf einer Stufe steht. Die Bestimmungen des Titel III (Gleichheitsrechte; Artt. 20–26) sind – wegen ihrer Wirkung auf das Privatrecht – hier von besonderem Interesse. Für die vorliegende Untersuchung ist Art. 21 GRC von zentraler Bedeutung. Als Kerntatbestand des III. Titels untersagt Art. 21 Abs. 1 GRC jegliche Diskriminierung, insbesondere aufgrund des Geschlechts, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, genetischer Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung. Art. 21 Abs. 2 GRC wiederholt das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, das sich bereits in Art. 18 AEUV findet. Die Gleichheitsrechte in Artt. 23-26 GRC sollen vor allem eine Präzisierung und Verstärkung von Art. 21 GRC bewirken.55 So ist die Gleichheit von Männern und Frauen im Bereich der Arbeit und des Arbeitsentgelts sicherzustellen (Art. 23 GRC) und die Rechte der Kinder (Art. 24 GRC), älterer Menschen (Art. 25 GRC) und von Menschen mit Behinderungen (Art. 26 GRC) sind zu achten. Zudem wird normiert, dass die Union die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen achtet (Art. 22 GRC).

EuGH 14.05.1974 Rs. 4/73 (Nold) Rn. 13. Siehe Goldsmith, CMLRev 38 (2001), 1201, 1202 ff.; Walter, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 1 Rn. 36; Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 15 ff. 54 Zur Entstehungsgeschichte im Detail siehe: de Burca, ELRev 26 (2001), 126, 128 ff.; Streinz/Streinz, EUV/AEUV2, Vor GR-Charta, Rn. 1 ff.; zum Verlauf des Grundrechtskonvents: Neisser, in: Duschanek/Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa 5 ff. 55 Vgl. Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 17. 52 53

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Kapitel 1: Einleitung und Grundlagen

C. Terminologie Das folgende Kapitel widmet sich dem unionsrechtlichen Begriff der Diskriminierung. Die vielfältige Verwendung des Terminus in unterschiedlichen Kontexten macht dies notwendig. Primär wird eine Differenzierung anhand der Zielsetzung der jeweiligen Diskriminierungsverbote getroffen. Es bietet sich dazu eine Unterscheidung zwischen binnenmarktbezogenen, wettbewerbsrechtlichen und gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverboten an.56 Ebenso kann eine Kategorisierung anhand des Wortlautes im Primärrecht vorgenommen werden. Der vom EuGH herangezogene Diskriminierungsbegriff wird dargestellt. Zuletzt wird auf die Begriffsklärung in den Antidiskriminierungsrichtlinien nach Art. 19 AEUV eingegangen. I. Binnenmarktbezogene, wettbewerbsrechtliche und gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote Im AEUV findet sich der Begriff Diskriminierung an zahlreichen Stellen wieder. Zumeist steht er in einem integrationspolitischen Kontext. Vielfach geht es dem Grunde nach um Bestimmungen, deren Sinn und Zweck die Abschaffung von protektionistischen nationalen Maßnahmen zur Schaffung und Erhaltung eines freien Binnenmarktes ist.57 Auf dem gemeinsamen Markt soll freier Wettbewerb herrschen. Es wäre daher widersprüchlich, ließe man es zu, dass manche Teilnehmer ohne Rücksicht auf ihre Konkurrenten oder die Reaktionen der Marktgegenseite agieren könnten. Die Diskriminierungsverbote des Europäischen Wettbewerbsrechts versuchen im Wesentlichen genau dies zu unterbinden. Neben den binnenmarktbezogenen und wettbewerbsrechtlichen Diskriminierungsverboten stehen jene, die Basedow als gesellschaftspolitisch charakterisiert.58 Ein klares Ziel seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war die Errichtung eines gemeinsamen Marktes. Seit der Einheitlichen Europäischen Akte (1987) sprechen die Verträge von der Verwirklichung eines Binnenmarktes.59 Die Herkunft von Gütern, Leistungen und Kapital sollte innerhalb der Gemeinschaft keine Rolle mehr spielen.60 Um das Funktionieren eines freien und gemeinsamen Binnenmarktes zu gewährleisten, ist es unerlässlich sicherzustellen, dass alle Akteure unter denselben Bedingungen daran teilhaben können. Das in Art. 18 AEUV normierte Verbot der Diskriminierung So Basedow, ZEuP 2008, 230, 234. Basedow, ZEuP 2008, 230, 234. 58 ZEuP 2008, 230, 234. 59 Art. 3 Abs. 3 EUV; Art. 26 AEUV; siehe auch: Basedow, ZEuP 2008, 230, 234. 60  Basedow/Hopt/Zimmermann/Basedow, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts I, 316 ff. 56 57

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aufgrund der Staatsbürgerschaft ist daher von zentraler Bedeutung für die wirtschaftliche Integration.61 Ausländische Anbieter sollen auf dem Markt eines Mitgliedstaats nicht anders behandelt werden als inländische Anbieter. Dieser Grundsatz kommt auch explizit in Art. 36 AEUV in Bezug auf Import- und Exportbeschränkungen zum Ausdruck.62 Das Diskriminierungsverbot aufgrund der Nationalität und die Grundfreiheiten stehen pars pro toto für binnenmarktbezo-gene Diskriminierungsverbote. Das Europäische Wettbewerbsrecht will die größtmögliche wirtschaftliche Handlungsfreiheit der Marktteilnehmer garantieren. Ein funktionierender Wettbewerb ist für die Erhaltung eines gemeinsamen Binnenmarktes unerlässlich.63 Durch die Abweisung gewisser Marktteilnehmer werden unter normalen Umständen Kunden verloren. Die Abgewiesenen werden aber in vielen Fällen davon keinen Nachteil haben, weil sie auf einem freien Markt ohne Probleme gleichwertigen Ersatz finden werden. Haben gewisse Unternehmen eine Machtstellung, die es ihnen erlaubt, ohne Rücksicht auf den Markt zu agieren, so entfällt diese disziplinierende oder auch entmachtende Wirkung des Wettbewerbs. Art. 101 AEUV verbietet die Bildung von Kartellen (Europäisches Kartellverbot) und Art. 102 AEUV das Ausnutzen einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt. Sie zielen somit auf den Erhalt eines freien Wettbewerbs ab.64 Es ist daher der Begriff der wettbewerbsrechtlichen Diskriminierungsverbote gebräuchlich.65 Bereits die Gründungsverträge enthielten Bestimmungen über die Abschaffung von geschlechtsspezifischer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt.66 Dieses Diskriminierungsverbot legte nicht allein den Fokus auf die Errichtung eines freien Binnenmarktes oder die Absicherung eines funktionierenden Wettbewerbs. Es konzentriert sich – spätestens nach seiner Konkretisierung durch die Rechtsprechung – vielmehr auf gesellschaftspolitische Anliegen. Gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote können demzufolge auch in rein innerstaatlichen Sachverhalten ihre Wirkung entfalten. Die aufgrund von Art. 19 AEUV erlassenen Richtlinien sind zu diesen gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverboten zu zählen. Die jüngere rechtswissenschaftliche Debatte konzentriert sich hauptsächlich auf sie.67 Gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote im Privatrecht sind folglich das Thema der vorliegenden Untersuchung. 61  Basedow, ZEuP 2008, 230, 234; Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 157. 62 Basedow, ZEuP 2008, 230, 234. 63  Koenig/Schreiber, Europäisches Wettbewerbsrecht 2 ff. 64  Vgl. Streinz/Eilmansberger, EUV/AEUV2, Vorbemerkungen zu Art. 101 AEUV, Rn. 1 ff. 65  Basedow/Hopt/Zimmermann/Basedow, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts I, 318 f. 66 Art. 119 EWGV (Art. 157 AEUV). 67 Basedow, ZEuP 2008, 230, 236.

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Zum besseren Verständnis der hier interessierenden gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverbote ist vorweg anzumerken: Nach den europarechtlichen Vorgaben ist eine Differenzierung anhand eines verpönten Kriteriums nicht in jedem Fall absolut unzulässig. Allein die Feststellung, dass diskriminiert wurde, muss noch nicht per se zu einer Sanktionierung führen. Es kann ein sachlicher Grund hierfür vorliegen. Blickt man exemplarisch auf das sekundärrechtliche Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts im Privatrecht, besteht mit Art. 4 Abs. 5 eine Rechtfertigungsnorm. Eine unterschiedliche Behandlung könnte durchaus zulässig sein, wenn sie durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung desselben angemessen und erforderlich sind.68 Als Beispiele für eine sachliche Differenzierung, die eine ungleiche Behandlung rechtfertigen kann, nennen die Erwägungsgründe zur Unisex-RL unter anderem die Vereinsfreiheit, den Schutz der Privatsphäre und des sittlichen Empfindens und Förderungsmaßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter.69 Weniger weit lässt sich freilich rassistische Diskriminierung rechtfertigen.70 II. Kategorien von Diskriminierungsverboten im Primärrecht Der Begriff „Diskriminierung“ wird zwar in den EU-Verträgen des Öfteren ausdrücklich verwendet.71 Seine Bedeutung wird hingegen an keiner Stelle definiert.72 Abgesehen von den verschiedenen Zielsetzungen lassen sich drei Kategorien von Diskriminierungsverboten im Primärrecht ausmachen.73 Zum einen solche, die an ein bestimmtes Kriterium anknüpfen. Art. 18 AEUV verbietet Diskriminierung aufgrund der Nationalität; Art. 157 AEUV verbietet die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen bei gleicher Leistung in der Arbeitswelt; auch Art. 19 AEUV ermächtigt zur Bekämpfung von Ungleichbehandlungen aufgrund gewisser Merkmale. Eine zweite Gruppe bilden Diskriminierungsverbote mit einem allgemeinen Anknüpfungskriterium. Als Beispiel kann Art. 40 AEUV dienen. Diese Regelung ist im Bereich der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte angesiedelt. Art. 40 AEUV verbietet jede Diskriminierung zwischen Hersteller oder Verbraucher innerhalb der Siehe zum unterschiedlichen Schutzniveau der Antirassismus-RL im Vergleich zur Unisex-RL: MüKoBGB/Thüsing, I6 § 19 AGG, Rn. 11; Wernsmann, JZ 2005, 224, 227 stellt fest, dass keine Möglichkeit gegeben wurde, um das Vorliegen einer direkten Diskriminierung bereits begrifflich, gleich der mittelbaren Diskriminierung, auszuschließen. Auf Rechtfertigungsebene besteht aber zumindest bei Geschlechterdiskriminierung jedenfalls eine weite Möglichkeit, um Diskriminierung zu legitimieren. 69 Siehe zur Umsetzung in Deutschland in § 20 AGG: MüKoBGB/Thüsing, I6 § 20 AGG, Rn. 7 ff. 70 Vgl. MüKoBGB/Thüsing, I6 § 19 AGG, Rn. 11. 71 Unter anderem in den Artt. 18, 19, 51 Abs. 2 und Abs. 4, 157 AEUV; vgl. Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 18 AEUV, Rn. 44 m.w.N. 72 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 25. 73 Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht 30 ff. 68

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Union.74 Die dritte Gruppe der Diskriminierungsverbote ergänzt „Diskriminierung“ durch das Attribut „willkürlich“.75 Zu dieser Gruppe gehört unter anderem Art. 36 AEUV, der eine Reihe von Ausnahmen aufzählt, die es ermöglichen, von der Grundregel, dass alle Hindernisse für den freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten beseitigt werden müssen, abzugehen. Dies darf allerdings kein Mittel zu willkürlicher Diskriminierung sein.76 III. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung Eine weitere Differenzierung lässt sich anhand der Art und Weise einer Ungleichbehandlung treffen.77 Vereinfacht gesagt ist unmittelbare Diskriminierung dann gegeben, wenn anhand des verbotenen Kriteriums unterschieden wird. Die notwendige Feststellung, dass es sich bei einer Maßnahme um eine diskriminierende handelt, ist daher oft weniger problematisch. Vor allem, wenn die in Frage stehende Maßnahme das verbotene Kriterium explizit als Unterscheidungsmerkmal heranzieht.78 GA Jacobs hat die unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts sehr treffend dahingehend definiert, dass es sich um eine Ungleichbehandlung handelt, die auf ein Kriterium gestützt wird, das entweder ausdrücklich das des Geschlechts ist oder das mit einem dem Geschlecht untrennbar verbundenen Merkmal notwendig zusammenhängt.79 Bei mittelbarer Diskriminierung wird eine Unterscheidung nach einem an sich neutralen Kriterium getroffen. Faktisch kommt es aber zu einer Ungleichbehandlung aufgrund des verpönten Kriteriums.80 Die Prüfung muss demnach über den Text der Regelung hinausgehen und sich mit den tatsächlichen Folgen auseinandersetzen. Im Resultat muss eine mittelbare Diskriminierung einer expliziten Unterscheidung anhand des verbotenen Kriteriums jedenfalls weitgehend gleichkommen.81 Ein Beispiel für eine mittelbare Diskriminierung nach dem Lebensalter wäre das Anknüpfen an die Dauer der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Institution.82

Im Detail siehe Streinz/Kopp, EUV/AEUV2 Art. 40 AEUV, Rn. 92 ff. Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht 30 ff. 76 Im Detail siehe: Streinz/Schroeder, EUV/AEUV2 Art. 36 AEUV, Rn. 1 ff. 77 EuGH 17.07.1963 Rs. 13/63 (Italien/Kommission); vgl. auch Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht 71. 78 Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbote 25. 79 SA Jacobs 07.12.2000 Rs. C-79/99 (Schnorbus) Tz. 33; sich auf diesen berufend SA Sharpston 25.06.2009 Rs. C-73/08 (Bressol) Tz. 52. 80 Zur Bedeutung der Kausalität für das Verbot der mittelbaren Diskriminierung siehe: Rebhahn/Kietaibl, RW 2010, 373. 81 Grabitz/Hilf/Nettesheim/von Bogdandy, EUV/AEUV, Art. 18 AEUV, Rn. 13 ff. 82 Wernsmann, JZ 2005, 224, 227. 74 75

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Kapitel 1: Einleitung und Grundlagen

IV. Diskriminierungsbegriff des EuGH Der EuGH geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass eine Diskriminierung im unmittelbaren Sinne dann vorliegt, wenn gleichgelagerte Sachverhalte unterschiedlich oder verschieden gelagerte Sachverhalte gleich behandelt werden.83 Eine Ungleichbehandlung von an sich gleichen Sachverhalten bzw. eine Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte kann bei Vorliegen objektiver Gründe unter Umständen gerechtfertigt sein.84 Diese sehr allgemein angelegte Formel wird vom Gerichtshof auch bei der Anwendung gesellschaftspolitischer Diskriminierungsverbote herangezogen. Der EuGH trifft keine Unterscheidung zwischen dem allgemeinen Gleichheitssatz85 und Diskriminierungsverboten, die eine Ungleichbehandlung aufgrund eines besonderen Merkmals verbieten (sogenannte spezielle Diskriminierungsverbote).86 Dies führt mitunter dazu, dass er die Subsidiarität des allgemeinen Gleichheitssatzes gegenüber den speziellen Diskriminierungsverboten ignoriert.87 Auch terminologisch unterscheidet der EuGH kaum. Er verwendet die Begriffe „Allgemeiner Gleichheitssatz“ und „Diskriminierungsverbote“ synonym.88 Umstritten ist, ob bei Diskriminierungsverboten der umgekehrte Gleichheitssatz, das Verbot der Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte, eine Rolle spielen kann. Vielfach stellt sich für den EuGH hauptsächlich die Frage, ob eine an sich verpönte Differenzierung zulässig im Sinne von nicht diskriminierend ist, weil die Situationen nicht vergleichbar sind.89 Dem entgegenwirkend wird in der Lehre argumentiert, dass es gerade darum gehe, auch faktisch ungleiche Sachverhalte rechtlich gleich zu behandeln.90 Das Verbot der Diskriminierung aufgrund eines bestimmten Merkmales untersage gerade die Differenzierung, auch wenn tatsächliche Unterschiede vorhanden sind. Die normative Gleichstellung überlagere in diesem Sinne die faktische Ungleichheit.91 Jüngst EuGH 01.03.2011 Rs. C-236/09 (Test Achats) Rn. 28; 17.07.1963 Rs. 13/63 (Italien/Kommission) Slg. 1963, 357, 384; 19.10.1977 verb. Rs. 117/6 und 16/77 (Ruckdeschel) Slg. 1977, 1754; 13.12.1984 Rs. 106/83 (Sermide) Slg. 1984, 4209; 27.10.1998 Rs. C-411/96 (Boyle) Slg. 1998, I-6401; 16.06.2008 Rs. C-127/07 (Arcelor Atlantique et Lorraine) Rn. 23. 84 EuGH 19.10.1977 verb. Rs. 117/6 und 16/77 (Ruckdeschel) Slg. 1977, 1754; 16.06.2008 Rs. C-127/07 (Arcelor Atlantique et Lorraine) Rn. 23; im Detail vor allem in Bezug auf Art. 18 AEUV umstritten: siehe Schwarze/Holoubek, EU-Kommentar3 Art.18 AEUV, Rn. 21 ff. 85 Art. 20 GRC. 86 Prechal, CMLRev 41 (2004), 533, 543; zur dogmatischen Einordnung des Gleichheitssatzes der Europäischen Union grundlegend: Kischel, EuGRZ 1997, 1 ff. 87 Calliess/Ruffert/Rossi, EUV/AEUV4 Art. 20 GRC, Rn. 3. 88 Calliess/Ruffert/Rossi, EUV/AEUV4 Art. 20 GRC, Rn. 3. 89 Siehe dazu mit einigen Beispielen aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes: Prechal, CMLRev 41 (2004), 533, 543 ff. 90 Kischel, EuGRZ 1997, 1,4; ihm folgend Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht 39; Prechal, CMLRev 41 (2004), 533, 543 f. 91 Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht 39. 83

C. Terminologie

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Die Kritik an der Diskriminierungsprüfung des EuGH ist in Hinblick auf die hier behandelten Diskriminierungsverbote berechtigt. Diese werden statuiert, um Diskriminierung aufgrund gewisser, meist kulturell und gesellschaftlich gewachsener Kriterien zu unterbinden. Es bleibt dabei kein Platz für die Frage, ob die verpönte Differenzierung auf faktischer Ungleichheit beruht. Wenn beispielsweise die Ungleichbehandlung aufgrund der Rasse verboten sein soll, dann kann sich nicht im Einzelfall die Frage danach stellen, ob nicht doch ein Unterschied zwischen Menschen verschiedener Rassen besteht, der es gebieten würde, diese unterschiedlich zu behandeln. Eine Differenzierung unmittelbar wegen eines verpönten Merkmals ist gerade grundsätzlich verboten.92 Prechal merkt des Weiteren an, dass die Frage nach der Vergleichbarkeit in den meisten Fällen höchst komplex und oft nur schwer zu beantworten sei.93 Es ist daher plausibler, wenn ein Verstoß gegen ein Diskriminierungsverbot festgestellt wurde, auf nächster Stufe zu prüfen, ob dieser Verstoß sachlich gerechtfertigt war. Lässt folglich das in Frage stehende Diskriminierungsverbot eine allgemeine sachliche Rechtfertigung zu, so kann es – um Willkür zu vermeiden – auch auf die Vergleichbarkeit der vermeintlich diskriminierten Gruppe gegenüber der anderen Gruppe im konkreten Fall ankommen.94 Selbstredend ist bei unmittelbarer Diskriminierung an derartige Rechtfertigungsgründe ein höherer Anspruch zu stellen als bei mittelbarer.95 V. Diskriminierungsbegriff der Antidiskriminierungsrichtlinien Anders als in den EU-Verträgen finden sich in den auf Art. 19 AEUV basierenden Sekundärrechtsakten Legaldefinitionen des Diskriminierungsbegriffs. Die Richtlinien sind allesamt sehr ähnlich strukturiert. In Art. 2 findet sich die Definition des Diskriminierungsbegriffs. Die RL 2000/43/EG (AntirassismusRL), die RL 2004/113/EG (Unisex-RL) sowie der Richtlinienvorschlag der Kommission für eine Richtlinie zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder sexuellen Ausrichtung definieren demzufolge den Begriff der Diskriminierung fast identisch. Zunächst wird klargestellt, dass sowohl Prechal, CMLRev 41 (2004), 533, 543. CMLRev 41 (2004), 533, 544; zu dieser Frage siehe auch Tobler, in: The Court of Justice and the Construction of Europe: Analysis and perspectives on 60 years of case-law 443, 459 ff. 94 Kischel, EuGRZ 1997, 1,4 ff.; in diese Richtung gehend: Prechal, CMLRev 41 (2004), 533, 543. 95 Vgl. SA Kokott 30.09.2011 Rs. C-236/09 (Test Achats) Tz. 37:„Die Rechtfertigung einer unmittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, um deren Prüfung allein es im vorliegenden Fall geht, ist jedoch nur in engen Grenzen denkbar und muss sorgsam begründet werden. Keineswegs steht es dem Unionsgesetzgeber frei, beliebige Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgrundsatz zuzulassen und auf diese Weise das Diskriminierungsverbot auszuhöhlen.“ 92 93

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Kapitel 1: Einleitung und Grundlagen

mittelbare als auch unmittelbare Diskriminierung zu Ungleichbehandlung führen.96 Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person aufgrund eines von der Richtlinie bestimmten Merkmals (Geschlecht, Rasse, ethnische Herkunft, Behinderung, Weltanschauung, Alter, sexuelle Ausrichtung) eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.97 Unter mittelbarer Diskriminierung verstehen die Richtlinien hingegen, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einem bestimmten Merkmal gegenüber Personen, bei denen besagtes Merkmal nicht vorliegt, benachteiligen können. Der Urheber dieser neutralen Vorschrift muss selbst keine Vorstellung von den praktischen Folgen haben. Es ist deswegen auch irrelevant, ob diese intendiert waren oder nicht.98 Trotz der formellen Gleichstellung zwischen mittelbarer und unmittelbarer Diskriminierung besteht ein – nicht geringfügiger – Unterschied. Wird an neutrale Kriterien angeknüpft, die sachlich gerechtfertigt sind und ein legitimes Ziel verfolgen, so liegt keine Diskriminierung im Sinne der Richtlinien vor. Es ist demnach bereits ein Tatbestandselement der mittelbaren Diskriminierung, dass sie nicht gerechtfertigt ist. Ist dieses Negativkriterium nicht erfüllt, besteht eben schon begrifflich keine Diskriminierung.99 Vor allem bezüglich der Rechtfertigungsmöglichkeiten bei rassistischer Diskriminierung im Sinne der Antirassismus-RL hat dies Auswirkungen. Art. 4 sieht vor, dass es den Mitgliedstaaten offensteht, Regelungen vorzusehen, die eine Differenzierung anhand der Rasse als zulässig erachten, wenn diese eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt. Ansonsten besteht keine Möglichkeit, Rechtfertigungsgründe für unmittelbar rassistische Diskriminierung zu normieren. Es handelt sich daher in dieser Hinsicht um ein absolutes Diskriminierungsverbot.100 Anders verhält es sich bei mittelbarer Diskriminierung. Diese liegt tatbestandlich nicht vor, wenn sie allgemein sachlich gerechtfertigt ist. Nichtsdestotrotz müssen auch an sich neutrale Differenzierungen gerechtfertigt werden.101 RL 2000/43/EG Art. 2; RL 200/78/EG Art. 2; RL 2004/113/EG Art. 2; KOM(2008) 426, 2008/0140 (CNS), 19 Art. 2. 97 RL 2000/43/EG Art. 2 (2) a; RL 2000/78/EG Art. 2 (2)a; RL 2004/113/EG Art. 2 a). 98 KOM(2008) 426, 2008/0140 (CNS), Erläuterungen zu Art. 2. 99 Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht 263 ff.; Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 19 AEUV, Rn. 24. 100 Dammann, Die Grenzen zulässiger Diskriminierung im allgemeinen Zivilrecht 242 ff.; Mahlmann, ZEuS 2002, 407, 414 f. 101 Vgl. Althoff, Die Bekämpfung von Diskriminierung aus Gründen der Rasse und der ethnischen Herkunft in der Europäischen Gemeinschaft ausgehend von Art. 13 EG, 153 ff.; Stalder, Antidiskriminierungsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 13 EGVertrag – unter besonderer Berücksichtigung der Rassismusbekämpfung und des Minderheitenschutzes – 69 ff. 96

D. Gang der Untersuchung

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Das weite Verständnis von Diskriminierung in den Richtlinien wird daher vielfach kritisch gesehen.102

D. Gang der Untersuchung Nachdem die historischen und terminologischen Aspekte dargestellt wurden, werden nun die Schwerpunkte der Untersuchung vorgestellt. Zunächst wird in einem ersten Teil das offenkundige Spannungsverhältnis zwischen Diskriminierungsverboten und der Privatautonomie in Form der Vertragsfreiheit untersucht. Die Privatautonomie ist in allen nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union verwirklicht.103 Sie stellt ein zentrales Prinzip des Europäischen Privatrechts dar.104 Es ist hingegen ein klassisches Charakteristikum des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat, dass Gleiches auch gleich zu behandeln ist. Traditionell sind dem liberalen kontinentaleuropäischen Privatrecht Diskriminierungsverbote oder der Gleichheitssatz daher fremd. Es rückt vielmehr den freien Willen des Individuums ins Zentrum.105 Vor allem seit der von den Institutionen der Europäischen Union vorangetriebenen Entstehung eines Europäischen Privatrechts106 erlangen Diskriminierungsverbote und der Gleichheitssatz in den nationalen Rechtsordnungen Europas auch inter privatos immer größere Bedeutung.107 Ob und in welchen Konstellationen Einschränkungen der Vertragsabschluss- und Inhaltsfreiheit zulässig oder sogar geboten sind, ist eine der wesentlichen Fragen, mit der sich der erste Teil der Arbeit auseinandersetzt. Der zweite Teil widmet sich der unionsrechtlichen Kompetenznorm des Art. 19 AEUV. Die Union kann im Rahmen der ihr durch die Verträge übertragenen Kompetenzen Diskriminierung aufgrund einer Vielzahl an Kriterien bekämpfen. Die Untersuchung konzentriert sich auf die Reichweite des Art. 19 AEUV und berücksichtigt grundsätzliche Fragen der Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union im Privatrecht. Im dritten Teil soll der Einfluss der Grundrechte-Charta im Europäischen Antidiskriminierungsrecht, besonders in Hinblick auf eine mögliche (mittelbare oder unmittelbare) Drittwirkung, bestimmt werden. Die Frage nach der 102 Siehe dazu nur Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht 264 f. 103 Basedow, ZEuP 2008, 230, 239. 104 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts 353. 105 Siehe nur Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II4, 6: „Die Geltung des Grundsatzes der Privatautonomie bedeutet die Anerkennung der ‚Selbstherrlichkeit‘ des einzelnen in der schöpferischen Gestaltung von Rechtsverhältnissen“; dazu kritisch Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 101. 106 Ausführlich: Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts 77. 107 Basedow, ZEuP 2008, 230, 239.

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Kapitel 1: Einleitung und Grundlagen

Reichweite der Unionsgrundrechte wird dazu analysiert. Es handelt sich dabei um einen von Seiten der Lehre höchst kontrovers diskutierten Problemkreis.108 Dieser wird in der weiteren Folge anhand eines Beispiels aus dem Antidiskriminierungsrecht illustriert. Es wird untersucht, welcher Grundrechtsstandard anwendbar ist, wenn der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten in einer Richtlinie einen weiten Handlungsspielraum oder die Möglichkeit, Ausnahmeregelungen zu treffen, einräumt. Umstritten ist, ob die Grundrechte-Charta überhaupt anzuwenden ist, wenn der Unionsgesetzgeber dezidiert große Umsetzungsspielräume normiert und deren Ausfüllung dem nationalen Recht überlässt. Im vierten und abschließenden Teil sollen die europarechtlich gebotenen Sanktionen bei Verstößen gegen die Diskriminierungsverbote herausgearbeitet werden. Keine der Richtlinien trifft dazu auf den ersten Blick eine klare Aussage. Vielmehr scheint es, als bliebe es den Mitgliedstaaten überlassen, geeignete Sanktionen zu treffen. Diese müssen lediglich „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein. Wie Sanktionen ausgestaltet sein müssten, um diesen Vorgaben zu entsprechen, ist allerdings völlig unklar.109 Ziel der diesbezüglichen Untersuchungen ist es, anhand der Richtlinienbestimmungen, der Judikatur des EuGH und des Primärrechts einen Mindeststandard herauszuarbeiten, dem Sanktionen bei Verstößen gegen Europäische Diskriminierungsverbote im Privatrecht entsprechen müssen. Es wird folglich ein allgemeines Anforderungsprofil für Rechtsfolgen bei unzulässiger Diskriminierung entstehen. Den Ausgangspunkt bildet auch hierbei das Unionsrecht. Im Anschluss daran werden die meistdiskutierten Sanktionsmechanismen – Schadensersatzansprüche und Kontrahierungszwang – auf ihre unionsrechtlichen Voraussetzungen überprüft und diese konkretisiert.

108 109

Statt vieler Meyer/Borowsky, GRC3 Art. 51 Rn. 24. Basedow, ZEuP 2008, 230, 239.

Kapitel 2

Privatautonomie und Diskriminierungsverbote Für die Auseinandersetzung mit dem Thema der Europäischen Diskriminierungsverbote und ihrer Wirkung auf das Privatrechtsverhältnis ist es gewinnbringend, sich über das dahinterstehende Spannungsverhältnis zwischen Privatautonomie und Diskriminierungsverboten anzunähern – und das umso mehr, als in der gegenwärtigen Debatte, sei es zu Urteilen des EuGH1 oder bei der Umsetzung von EU-Richtlinien,2 juristische Argumente oft in den Hintergrund geraten, philosophische Anspielungen und rhetorische Schärfe hingegen den Ton angeben.3 Vielfach wird auf die Bedrohung der Privatautonomie durch die von der Europäischen Union gesetzten oder geplanten Antidiskriminierungsmaßnahmen verwiesen. Diskriminierungsverbote oder spezielle Gleichheitsrechte verhielten sich zur Privatautonomie diametral und stellten einen Fremdkörper in der Privatrechtsordnung dar.4 Diese Fundamentalkritik soll aufgegriffen werden und bildet den Ausgangspunkt der Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Privatautonomie und Diskriminierungsverboten.



A. Problemstellung

Die Privatautonomie ist unbestritten ein grundlegendes Prinzip des Europäischen Privatrechts.5 Verwirklicht als Vertragsfreiheit ist sie das Leitmotiv des Privatrechts und die Grundvoraussetzung einer marktwirtschaftlichen Werteordnung.6 Unter Privatautonomie versteht man ganz allgemein die Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den Einzelnen nach seinem freien Willen. Sie ist Teil des Prinzips der Selbstbestimmung des Menschen. Jede Person soll Rechtsverhältnisse nach ihren Vorstellungen gestalten können, ohne dass sie in irgeneiner Form dafür Rechenschaft schuldig ist. Es gilt, sicherlich überspitzt 1 Beispielsweise zu EuGH 01.03.2011 Rs. C-236/09 (Test Achats); Armbrüster, VersR 2010, 1571; Schwintowsky, VersR 2011, 167. 2 Statt vieler Säcker, ZRP 2002, 286. 3 Britz, in: VVDStRL 64, Der Sozialstaat in Deutschland und Europa 355, 357 ff. 4 Überblick bei Schöbener/Stork, ZEuS 2004, 43, 46 f.; beispielhaft Picker, JZ 2002, 880; ders., JZ 2003, 540. 5 Siehe nur Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts 353. 6 Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts10 § 10 Rn. 33.

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Kapitel 2: Privatautonomie und Diskriminierungsverbote

formuliert, der Grundsatz stat pro ratione voluntas. Anstelle der Begründung (oder der Vernunft) zählt demzufolge der Wille.7 Der Vertrag stellt die klassische Form der privatautonomen Gestaltung von Rechtsverhältnissen dar. Bei der Vertragsfreiheit unterscheidet man die Abschlussfreiheit, Formfreiheit, Inhaltsfreiheit, Änderungsfreiheit und Beendigungsfreiheit.8 Durch privatrechtliche Diskriminierungsverbote kommt es vor allem zu einer Einschränkung der Abschlussfreiheit. Es wird daher angenommen, dass es sich, verglichen mit dem Konsumentenschutz- oder Mietrecht, um einen besonders intensiven Eingriff in die Vertragsfreiheit handelt.9 Zudem kann es zu einer Einschränkung der Vertragsinhaltsfreiheit kommen. Ganz anderes soll im Verhältnis zwischen Bürger und Staat gelten. In dieser Konstellation gehört die Maxime der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung zu den elementarsten Prinzipien.10 Der Gleichheitsgrundsatz gilt für jede Art von Staatstätigkeit und steht in Österreich selbst dem Verfassungsgesetzgeber nur äußerst beschränkt zur Disposition. Lediglich in seltenen Fällen, bei „ganz besonderen Sachlagen“, ist seine Durchbrechung zulässig.11 Der Gleichheitssatz ist Teil des gesicherten Bestands der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Er findet sich seit der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon verbindlich als allgemeiner Gleichheitssatz in Art. 20 der Europäischen Grundrechte-Charta.12 Es kann damit festgehalten werden, dass nach dem herrschenden Verständnis im Privatrechtsverhältnis das Prinzip der privatautonomen Rechtsgestaltung gilt. Dieser ist Willkür immanent. Auf den ersten Blick hingegen scheinen Diskriminierungsverbote in diesem Zusammenhang einen Fremdkörper zu bilden, der nicht ganz ins Konzept passt. Das nicht zuletzt, weil sie ihren rechtslogischen Ursprung im öffentlichen Recht nehmen.13 Wagt man hingegen einen zweiten Blick, diesmal über die Grenzen des nationalen Rechts hinaus, offenbart sich mancherorts ein völlig anderes Bild. In England, den Vereinigten Staaten von Amerika oder Schweden ist rassistische und sexistische Diskriminierung seit langem auch im Privatrechtsverkehr verpönt. Bemerkenswerterweise kennen Rechtsordnungen mit einer besonders liberalen und marktwirtschaftlichen Tradition demnach sehr wohl Einschränkungen der Privatautonomie im Zeichen der Gleichberechtigung.14 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II4, 1 ff., 6. P. Bydlinski, Bürgerliches Recht Allgemeiner Teil6 Rz. 5/21. 9 Jüngst Kietaibl, in: Rebhahn (Hrsg.), Grundrechte statt Arbeitsrecht 55, 65. 10 Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht10 Rz. 1348 ff. 11 VfGH 12.12.1998 B 342/98. 12 Meyer/Hölscheidt, GRC3 Art. 20 Rn. 3. 13 Siehe Basedow/Hopt/Zimmermann/Basedow, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts I, 316 ff. 14 Vgl. Rebhahn/Rebhahn, GlbG, Einleitung, Rz. 40. Zu den USA und England bereits grundlegend: Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung 146 ff., 191 ff., 194 mit Beispielen aus der Rechtsprechung zu sogenannten Diskriminierungsklauseln beim Grundstücksverkauf. 7 8



A. Problemstellung

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Entgegen des gerne erweckten Eindrucks15 ist die durch das BGB oder das ABGB verwirklichte Privatautonomie kein absoluter Wert, der in der Weiterentwicklung und Modernisierung des Privatrechts nicht gewisse Einschränkungen erfahren hätte.16 Immer wieder wurde deutlich, dass eine schrankenlose Privatautonomie unter anderem zu einem Marktversagen und letztlich einer Funktionsstörung der Privatautonomie selbst führen kann.17 Dies machte Maßnahmen des Gesetzgebers erforderlich, die oftmals scharf kritisiert wurden. Man denke an das Konsumentenschutzrecht, das zwingende Arbeitsrecht, den Mieterschutz oder das AGB-Recht. All diesen Limitierungen der Privatautonomie ist gemeinsam, dass sie sich auf die Vertragsinhaltsfreiheit auswirken. Diskriminierungsverbote stellen hingegen vielfach auch einen Eingriff in die freie Wahl des Vertragspartners dar und werden deswegen zuweilen als intensivere Einschränkungen empfunden.18 Nicht allein durch den Einfluss des sozialstaatlichen Gedankens, den Schwächeren vor dem Stärkeren auch im Verhältnis Privater untereinander zu schützen, sondern vor allem aufgrund von Interventionen seitens der Europäischen Union wurden Diskriminierungsverbote in den letzten Jahren verstärkt Teil der nationalen Privatrechtsordnungen.19 Diese speziellen Gleichheitsgebote greifen in die Vertragsfreiheit zum Beispiel dahingehend ein, als sie es untersagen, mit einer gewissen Gruppe von Menschen keinen Vertrag abzuschließen. Sie stehen damit klar im Spannungsverhältnis zur Vertragsabschlussfreiheit. Ebenso kann die Inhaltsfreiheit massiv beschränkt werden, beispielsweise wenn Diskriminierungsverbote sich auf die Vertragsbedingungen auswirken oder die Vertragsgestaltung einschränken. Ob es sich bei den Europäischen Diskriminierungsverboten im Privatrecht um einen Fremdkörper handelt, der per se unzulässig ist oder ob sie in gewissen Situationen zulässig oder vielleicht sogar dem Wesen des Privatrechts entsprechend sind, sollen die folgenden Ausführungen beleuchten. Dazu wird das Verhältnis der Diskriminierungsverbote zur Vertragsfreiheit sowie jenes des Vertragsrechts zur distributiven Gerechtigkeit behandelt. Des Weiteren wird auf die Rechtfertigung von Diskriminierungsverboten im Privatrecht und deren Schutzumfang eingegangen. Den Abschluss bildet der Versuch, anhand der RL 2000/43/EG (Antirassismus-RL) und der RL 2000/113/EG (Unisex-RL) herauszuarbeiten, ob die darin normierten Diskriminierungsverbote eine übermäßige Einschränkung der Privatautonomie darstellen.20 Siehe beispielhaft: Picker, JZ 2003, 540, 544. Habermas, Faktizität und Geltung 468, 479 ff.; Canaris, AcP 200 (2000), 271, 292. 17 Kietaibl, in: Rebhahn (Hrsg.), Grundrechte statt Arbeitsrecht 55, 65. 18 Kietaibl, in: Rebhahn (Hrsg.), Grundrechte statt Arbeitsrecht 55, 65. 19 Vgl. Coester, in: FS Canaris Bd I, 115; Basedow, ZEuP 2008, 230. 20 Die Problematik ist im Grunde verwandt mit jener der Drittwirkung von Grundrechten, die an anderer Stelle behandelt wird; siehe dazu IV.B. Grundlegend: Canaris, Grundrechte und Privatrecht; in Bezug auf die Europäische Grundrechte-Charta: Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht. Vgl. zu den m.E. bestehenden Parallelen: Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 25 ff. 15 16

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Kapitel 2: Privatautonomie und Diskriminierungsverbote

B. Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbote Um das Zusammenspiel von Diskriminierungsverboten und Privatrecht zu untersuchen, muss zunächst der Begriff „Vertragsfreiheit“ in Grundzügen definiert werden. Zu unterscheiden sind formal-individualistische und materialteleologische Freiheitskonzepte.21 Nach dem Konzept der formalen Vertragsfreiheit ist es den Privatrechtssubjekten überlassen, die Vertragsfreiheit selbst zu definieren. Jedem Menschen ist es erlaubt, nach eigenen Vorstellungen rechtsgeschäftlich tätig zu werden. Der Staat hat hingegen keine Kompetenz, inhaltliche Determinanten zu setzen. Vertragsfreiheit in diesem Sinne ist die Freiheit, selbstbestimmt rechtsgeschäftlich zu handeln, ohne auf Gerechtigkeits- oder gar Richtigkeitsaspekte Rücksicht nehmen zu müssen. Von manchen Autoren wird diese Form der Vertragsfreiheit deswegen auch als Vertragsfreiheit im klassischen Sinn bezeichnet22; auch der Begriff der negativen Freiheit ist gebräuchlich23. Für dieses Konzept der Vertragsfreiheit existieren im Wesentlichen zwei Begründungsansätze. Die personalistische Begründung stellt die Selbstbestimmung des Individuums im herrschaftsfreien Raum ins Zentrum.24 Kern der Vertragsfreiheit soll folglich die selbstherrliche Gestaltung von Rechtsverhältnissen durch den Einzelnen sein.25 Dieser Ansatz wird wegen seiner Unschärfe und Ambiguität vielfach kritisiert.26 Von anderen wird die Vertragsfreiheit als Wertungsentscheidung des Gesetzgebers gesehen, die wiederum gar keiner Begründung bedürfe.27 Dabei kann, auch wenn es banal wirkt, nicht außer Acht gelassen 21 Begriffe im Anschluss an M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 561; vgl. F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts 158; dens., Fundamentale Rechtsgrundsätze 186 ff.; Neuner, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 74, 75; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 289 ff. 22 Coester, in: FS Canaris Bd I, 115, 116; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 292. 23 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts 158. 24 Vgl. Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 296. 25 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II4, 6: „Für den Bereich der Privatautonomie gilt der Grundsatz sta pro ratione voluntas“; „Die privatautonome Rechtsgestaltung bedarf, soweit sie vom Recht anerkannt wird, keiner anderen Rechtfertigung als, daß der einzelne sie will.“ 26  Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 297. Selbstbestimmung im herrschaftsfreien Raum könne nur für eine beschränkte Anzahl an privaten Geschäften als Begründung herhalten. Auf dem öffentlichen Markt, der von der privaten Sphäre abzugrenzen sei, bedürfe es zusätzlich einer ordnungstheoretischen Begründung der Vertragsfreiheit. Schiek kann sich in diesem Zusammenhang auf Habermas, Faktizität und Geltung 379 ff., 380 berufen. Dieser hält eine ständige Neuverhandlung von privater und öffentlicher Sphäre für notwendig: „Die subjektiven Privatrechte schützen eine Sphäre, innerhalb derer die Privatleute von der Verpflichtung entbunden sind, für ihr Tun und Lassen öffentlich Rede und Antwort zu stehen. Wenn diese Sphäre nicht mehr vorrangig abgegrenzt wird, so scheint sich das folgende Dilemma zu ergeben [...]“. 27 Kötz, Vertragsrecht2 Rn. 23 f.; dahingehend auch: Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II4, 6 ff.

B. Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbote

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werden, dass es sich bei einem Vertrag um ein mehrseitiges Rechtsverhältnis handelt. Die Selbstbestimmung des einen Vertragspartners endet daher klarerweise dort, wo jene des anderen ihren Anfang nimmt. Das Prinzip der Selbstbestimmung des Individuums wird im Vertragsrecht zwar verwirklicht, jedoch in reziproker Form. Es steht daher weniger die „Selbstherrlichkeit“ des Einzelnen im Zentrum, als dass es gilt stets Interessen gegeneinander abzuwägen.28 Beim ordnungstheoretischen Begründungsansatz wird eine ökonomische Perspektive eingenommen. Die formale Vertragsfreiheit stellt demnach ein hochwirksames Mittel zur Steuerung wirtschaftlicher Vorgänge dar. Entscheidet man sich gegen einen vorgefertigten Plan, Güter und Dienstleistungen zuzuteilen, müssen sich die Marktteilnehmer selbst über Preis und Leistung einig werden. Die Beteiligten wissen schließlich am besten über ihre konkreten Bedürfnisse Bescheid.29 Durch Selbstbestimmung werden so Kapital oder Arbeit an die Stellen geleitet, an denen sie tatsächlich gebraucht werden. Vertragsfreiheit wird in diesem Zusammenhang als effektives Steuerungsmittel verstanden.30 Nach einer materialen Konzeption setzt die Vertragsfreiheit die ökonomische und soziale Gleichheit der Vertragspartner voraus.31 Abgezielt wird daher oft auch auf den Ausgleich sozialer Ungerechtigkeiten mit den Mitteln des Vertragsrechts. Es solle eine Chance gewährleistet werden, die formale Vertragsfreiheit auch tatsächlich durch Verwendung des rechtlichen Instrumentariums umzusetzen.32 Nur wenn dafür die Grundvoraussetzungen geschaffen würden, seien die Vertragsparteien in ihrem Willensentschluss wirklich frei. Die materiale Konzeption des Vertragsdenkens versucht, nicht allein der formalen, sondern auch der faktischen Selbstbestimmung rechtliche Bedeutung beizumessen.33 Dieser Prozess wird als Materialisierungsthese des Vertragsrechts bezeichnet.34 28 So Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 101 ff. als Kritik an der sehr monistischen Perspektive von Flumes Position der Selbstbestimmung in Selbstherrlichkeit. 29 Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts10 § 10 Rn. 33. 30  Medicus, Allgemeiner Teil des BGB9 Rn. 176; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 297 ff.; vgl. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts4, 393; zum ökonomischen Modell des Ordoliberalismus, zu dessen konstituierendem Prinzip die Vertragsfreiheit zählt: Schuhmacher, Effizienz und Wettbewerb 63 ff., 65 f. 31 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts II2, 9 f. Ausführliche Darstellung bei Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 305; grundsätzlich könnten die Ziele bei einer materialen Freiheitskonzeption aber sehr verschieden sein: so Neuner, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 74, 76. 32 Habermas, Faktizität und Geltung 472, 488; Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens 20. 33 Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 306. 34 Dazu grundlegend Canaris, AcP 200 (2000), 271, 273 ff., der zu Recht darauf hinweist, dass der Begriff der Materialisierung des Vertragsrechts oft in Bezug auf verschiedene Aspekte verwendet werde. Es wird in der Literatur mitunter nicht zwischen der Materialisierung von Vertragsfreiheit und derjenigen der Vertragsgerechtigkeit unterschieden. Canaris versteht unter materialer Vertragsfreiheit eine tatsächliche Freiheit. Einen anderen Sprachgebrauch hat

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Kapitel 2: Privatautonomie und Diskriminierungsverbote

Die Vertragsfreiheit im materialen Sinne wird daher oft als tatsächliche Vertragsfreiheit tituliert. Hingegen wird die formale Vertragsfreiheit als rechtliche Freiheit umschrieben.35 Aus dem Geschilderten geht noch nicht deutlich genug hervor, worin das Spannungsverhältnis zwischen formaler und materialer Vertragsfreiheit eigentlich liegt. Dies lässt sich anhand des Grundsatzes pacta sunt servanda zeigen. Mit diesem wäre es in höchstem Maße unvereinbar, jedem Vertrag, der nicht vollkommen in tatsächlicher Willensfreiheit geschlossen wurde, die Gültigkeit zu versagen. Verkauft man aufgrund einer finanziellen Notlage widerwillig eine Sache und erhält dafür einen fairen Preis, soll man auch an den Vertrag gebunden sein. Dieser Grundsatz gilt allerdings – man denke an Wucher oder an Verträge, die aufgrund von Drohung oder unter Zwang geschlossen wurden – nicht unbeschränkt.36 Der Ruf nach materialer Vertragsfreiheit ist daher im Wesentlichen als eine Kritik an den Vertretern der klassischen Vertragsfreiheit, denen Naivität und Realitätsfremde attestiert wird, zu verstehen.37 Es geht dabei den meisten Autoren dem Grunde nach weniger um eine „neue, gerechtere Vertragsfreiheit“ als darum, den Zweck von Vertragsfreiheit in weiterem Umfang tatsächlich zu realisieren oder andere Facetten in den Vordergrund zu rücken.38 Der Zweck der Vertragsfreiheit ist dabei weitgehend unabhängig davon, ob man Vertragsfreiheit formell oder material definiert. Es wird daher überwiegend die faktische Verwirklichung der klassischen Vertragsfreiheit eingemahnt. Vertreter der formellen Konzeption der Vertragsfreiheit sehen darin genau das Dilemma der Privatautonomie. Sie werde stets vor dem Hintergrund ungleicher Machtverteilung in Frage gestellt.39 Es ist, abgesehen von Extremen, die noch angesprochen werden, nicht primär das Ziel der Anhänger einer Materialisierungsthese, jedem Vertrag seine Geltung abzusprechen, der nicht ausschließlich auf tatsächlicher Freiheit beruht oder „ungerecht“ erscheint. Es geht vielmehr darum, die Neuner, der davon ausgeht, dass materialer Vertragsfreiheit ein zweckgerichteter Freiheitsbegriff zugrunde liege. Die Vertragsfreiheit kann demnach ganz verschiedenen Zwecken folgen, Neuner, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 74, 76. 35 Vgl. Canaris, AcP 200 (2000), 271, 277 f.; Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens 20 f.; F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts 158 f. 36 Canaris, AcP 200 (2000), 271, 278 ff.; vgl. P. Bydlinski, Bürgerliches Recht Allgemeiner Teil6 Rz. 5/28. 37 Vgl. Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens 35 ff.; auch Schmidt-Rimpler, AcP 141 (1947), 130 ff. 38 Vgl. dazu Canaris, AcP 200 (2000), 271, 276 ff. 39 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II4, 10; diese Feststellung von Flume wandelt Canaris, AcP 200 (2000), 271, 278 dahingehend ab, als er konstatiert, dass es das Dilemma der Privatautonomie sei, dass diese immer wieder durch Beeinträchtigungen der tatsächlichen Entscheidungen in Frage gestellt werde. Eine angemessene Grenze zwischen Fällen, in denen, wie beim Wucher, eine Beeinträchtigung der materialen Freiheit zur Unwirksamkeit des Vertrags führe und in welchen der Grundsatz pacta sunt servanda unbeschränkt gelte, hält er für eine überaus diffizile Problematik.

B. Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbote

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Grenzen, wann ein Vertrag in materialer Hinsicht frei geschlossen werden muss, um gültig zu sein, zu verschieben. Vor allem die weitreichende Entwicklung des Konsumentenschutzrechts in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts steht mit der Materialisierungsthese in enger Verbindung. I. Kritik an formaler und materialer Konzeption der Vertragsfreiheit Die formale Vertragsfreiheit ist Ausfluss der Geisteshaltung des Liberalismus. Kramer zieht eine Parallele zum allgemeinen liberalen Prinzip: Es entspreche derselben Grundhaltung anzunehmen, aus freiem Wettbewerb der Meinungen entstehe die Wahrheit, wie zu glauben, aus freiem Wettbewerb der Vertragspartner ergebe sich soziale Harmonie. Die formale Konzeption gewährleiste demnach weitgehende inhaltliche Vertragsfreiheit und stelle Mechanismen zur Verfügung, diese durchzusetzen. Ob die Freiheit aber auch tatsächlich in Anspruch genommen werden kann, sei nach der klassischen Vertragsfreiheit vollkommen irrelevant.40 Schmidt-Rimpler geht von einer beschränkten Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus aus. Es könne zwar nicht geleugnet werden, dass die Vertragspartner meistens ihre eigenen Interessen forcierten. Aufgrund der notwendigen Willenseinigung sei es jedoch wahrscheinlich, dass ein gerechter Ausgleich getroffen worden sei. Der „unrichtige“ Wille des einen Vertragspartners werde letztlich durch den des anderen korrigiert.41 Diese Richtigkeitsgewähr des Vertrages hält Schmidt-Rimpler allerdings für begrenzt.42 Der entscheidende Unterschied zu den traditionellen liberalen Vertragslehren besteht darin, dass auf einen letzten Endes gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen Wertungen der Parteien abgezielt wird.43 Es steht somit nicht allein das Prinzip der Selbstbestimmung im Zentrum.44 Schmidt-Rimpler sieht es als Fehler des Liberalismus an, die Frage nach dem gerechten Austausch ausgeblendet zu haben. Wenn die Richtigkeitsvermutung nicht mehr zutreffe, sei daher der Gesetzgeber aufgerufen einzugreifen.45 Zweigert/Kötz stellen die Frage, ob die Vertragsfreiheit in ihrer formalen Interpretation noch der Realität entspricht. Sie weisen darauf hin, dass soziale und ökonomische Gleichheit in keiner Gesellschaft der Welt gegeben sei. Genau diese Gleichheit stelle aber die fundamentale Prämisse der formalen Vertragsfreiheit dar. In einer modernen Gesellschaft, in der beinahe bei jedem Vertragsschluss ein gewisses Ungleichgewicht der Parteien bestehe, sei lediglich der stärkere Vertragspartner frei, seinen Willen in den Vertrag einfließen zu Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens 22. Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 161. 42 AcP 147 (1941), 130, 151 f. 43 So Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung 366, 369. 44 Dazu kritisch: Canaris, in: FS Lerche 873, 883. 45 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 155 ff., 157. 40 41

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Kapitel 2: Privatautonomie und Diskriminierungsverbote

lassen. Die Vertragsfreiheit sei lediglich in einer Utopie von gleich starken Unternehmern ohne Arbeitnehmer gewährleistet. Für den Gutteil der geschlossenen Verträge bestehe gar keine Freiheit. Formale Vertragsfreiheit könne somit als ein Traumschloss bezeichnet werden, dem die Realität nie entsprechen könne. Zweigert/Kötz empfehlen der Rechtswissenschaft folglich das „mitgeschleppte“ Verfahren, das Vertragsfreiheit als Prinzip verkündet und ihre Ausnahmen herausarbeitet, über Bord zu werfen. In moderner Zeit liege ihre Aufgabe darin, Verfahren für die weitgehende Herstellung von Vertragsgerechtigkeit zu entwickeln.46 Die materiale Vertragsfreiheit zielt, wie erwähnt, auf die Gewährleistung faktischer Selbstbestimmung ab. Ist diese nicht gegeben, muss versucht werden, Vertragsinhalte dahingehend zu ergänzen. Dabei könne man sich am „wirklichen Interesse“ der Parteien orientieren.47 Schwierigkeiten bei einer überwiegend materialen Interpretation der Vertragsfreiheit bereitet daher die Suche nach einem gerechten und sinnvollen inhaltlichen Ausgleich. Das diesbezügliche Problem zeigt sich ähnlich an der bekannten, jahrhundertealten und bisher keiner befriedigenden Lösung zugeführten Diskussion um den iustum pretium, den gerechten Preis.48 Im Einzelfall muss einerseits der Gesetzgeber, andererseits aber wohl hauptsächlich der Richter den Vertrag in „gerechter“ Weise korrigieren oder ergänzen. Dies kann auf Seiten des Richters zu einer kaum kontrollierbaren Kompetenzausweitung führen. Persönliche Wertungen oder Gerechtigkeitsvorstellungen würden so grundsätzlich über Zustandekommen oder Inhalt eines Vertrags bestimmen. Selbst die Vertreter einer betont materialen Konzeption der Vertragsfreiheit gestehen ein, dass die Frage, wie Vertragsgerechtigkeit realistischerweise gesichert werden könne, nur schwer zu beantworten sei.49 Diese Ungewissheit wird zutreffenderweise als eine der entscheidenden Schwächen des materialen Paradigmas gesehen.50 46 Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts II2, 9 f. In der Folgeauflage wird diese Position nicht mehr in der dargestellten Form vertreten: vgl. zur Vertragsgerechtigkeit: Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts3(einbändig), 323 ff. 47 Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 306. 48 Vgl. Canaris, AcP 200 (2000), 271, 286, allerdings im Zusammenhang mit dem Spannungsverhältnis zwischen materialer und formaler Vertragsgerechtigkeit; dens., in: FS Lerche 873, 884; Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrags 399 ff. erläutert die diesbezügliche Diskussion innerhalb der Europäischen Union bei Erarbeitung der Unidroit-Principles und der Lando-Grundsätze. Er hält einen gerechten Preis ferner für unrealistisch. Schwierigkeiten lägen vor allem in der Frage, wie ein Richter diesen festlegen solle, insbesondere, wenn kein Marktpreis vorliege bzw. mehrere Märkte existierten; F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts 160. 49 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts II2, 10 treffen lediglich die Aussage, dass es sich um eine schwierige Frage handle, über deren Lösung man wohl nachdenken müsse; diese Theorie ablehnend Canaris, in: FS Lerche 873, 882. 50 So Canaris, in: FS Lerche 873, 882.

B. Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbote

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Des Weiteren sollen in einer pluralistischen Gesellschaft mündige Privatrechtssubjekte Rechtsgeschäfte frei nach ihren Vorstellungen gestalten können.51 Eine „Angemessenheitskontrolle“, als Bedingung der Wirksamkeit einer rechtsgeschäftlichen Abrede, käme daher einer Entmündigung der Vertragsparteien gleich.52 So auch, wenn die Überprüfung letztendlich garantieren soll, dass beide Parteien gleichermaßen freie Entscheidungen getroffen haben. Im Ergebnis wird daher von der herrschenden Ansicht zu Recht von einem gewissen Vorrang der formalen Vertragsfreiheit ausgegangen.53 II. Kompromiss zwischen formaler und materialer Konzeption der Vertragsfreiheit Canaris hat darauf hingewiesen, dass selbstredend der formalen Vertragsfreiheit kein unbeschränkter Vorrang zukomme. Eine Rechtsordnung, die die Vertragsfreiheit anerkenne, dürfe dies nicht tun, ohne sich auch grundsätzlich die Gerechtigkeitsfrage zu stellen. 54 Die formale Vertragsfreiheit solle darum als Grundregel verstanden werden, die, um den Anforderungen der Gerechtigkeit zu genügen, durch zwingende Normen ergänzt oder eingeschränkt werden müsse. Damit sehr eng verknüpft sei die Notwendigkeit, faktische Beeinträchtigungen der klassischen Vertragsfreiheit zu kompensieren.55 Denn nur, wenn Entscheidungen nicht bloß formal frei, sondern auch tatsächlich frei getroffen werden könnten, sei die Maxime volenti non fit iniuria vollends verwirklicht.56 Dies gilt nicht allein auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts oder im Sozial- und Steuerrecht, sondern ebenso für die Privatrechtsordnung selbst. 51 Neuner, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 74, 77; dies entspricht im Wesentlichen dem personalistischen Begründungsansatz. 52  Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen 18 ff., zu M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessensausgleich 180 ff., Stellung nehmend. Dieser sieht die Entscheidungsfreiheit als Voraussetzung rechtsgeschäftlichen, privatautonomen Handelns. Ist die Entscheidungsfreiheit unzumutbar beeinträchtigt und lässt sich dies nicht sachlich rechtfertigen, so sei dies in jedem Fall zu verurteilen. 53 So Canaris, in: FS Lerche 873, 886 f; ders., AcP 200 (2000), 271, 286; Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen 39 ff.; ders., JZ 1995, 1133, 1137 f.; Neuner, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 74, 77; F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts 158 f. 54 In: FS Lerche 873, 886 f.; so auch Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrags 151, der betont, dass nur in Ausnahmefällen zu Verboten gegriffen werden solle; Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen 39 ff.; ders., JZ 1995, 1113, 1137. 55 So Canaris, in: FS Lerche 873, 886; a.A. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts II2, 10. 56 Canaris, AcP 200 (2000), 271, 286. Er hebt hervor, dass ein unlösbarer Zusammenhang zwischen tatsächlicher/materialer Vertragsfreiheit und formaler/prozeduraler Vertragsgerechtigkeit bestehe. Eine Verbesserung der tatsächlichen Entscheidungsfreiheit diene daher in der Regel zugleich der formalen Vertragsgerechtigkeit und gewinne sohin zusätzlich an Dignität.

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Kapitel 2: Privatautonomie und Diskriminierungsverbote

Canaris bezeichnet es gar als Trivialität, dass die Grundsatzentscheidung für die (formale) Vertragsfreiheit eine Fülle an Ausgestaltungs-, Ergänzungs- und Beschränkungsregeln erforderlich mache. Grenzen dafür seien allenfalls durch das verfassungsrechtliche Übermaßverbot gesetzt.57 Busche versteht Vertragsfreiheit als mehrseitiges Selbstbestimmungsinstrumentarium. Dieses müsse dort seine immanenten Grenzen finden, wo einzelnen Rechtssubjekten die Möglichkeit des Zugangs zum Vertrag abgeschnitten werde oder wo das Interesse eines Vertragsbeteiligten beim Vertragsschluss vollständig unberücksichtigt bleibe. Diese Schranke kompensiere zwar keine wirtschaftliche Unterlegenheit, allerdings garantiere sie zumindest einen Mindeststandard an vertraglicher Selbstbestimmung.58 Diskriminierungsverbote sind beispielhaft für eine derartige Beschränkung der klassischen Vertragsfreiheit im Sinne ihrer Tendenz zu einer Materialisierung.59 Die formale Vertragsfreiheit greift dann zu kurz, wenn Träger gewisser Merkmale de facto keinen Gebrauch von dieser Freiheit machen können. Um die faktische Vertragsfreiheit der diskriminierten Person zu gewährleisten, kann es daher gerechtfertigt sein, die Privatautonomie des Diskriminierenden einzuschränken.60 Plakativ zeigt erneut Canaris, dass die Veränderung der weltanschaulichpolitischen Grundhaltungen als ein Aspekt der Materialisierung des Vertragsrechts zu sehen sei. Das ABGB und das BGB sind stark vom philosophischen und politischen Liberalismus der Zeit ihrer Entstehung geprägt. Die gesellschaftliche Grundhaltung und damit auch das Rechtsdenken haben sich seitdem verändert und folgen einer „sozialeren“ Orientierung. Dass es diesbezüglich zu Veränderungen gekommen ist und dieser Prozess noch nicht sein Ende erreicht hat, wird kaum zu bestreiten sein.61 Die von der Union erlassenen Diskriminierungsverbote können ebenso als Teil dieser Wandlung zur Materialisierung verstanden werden.62 In: FS Lerche 873, 886 f.; ihm folgend Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrags 34 in Bezug auf das Spannungsverhältnis zwischen der Vertragsfreiheit und der „Staatsaufgabe Vertragsrecht“. 58 Privatautonomie und Kontrahierungszwang 102 ff., 105. 59 Looschelders, JZ 2012, 103, 106; Eichenhofer, AuR 2013, 662, 664. 60 Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 2. 61 AcP 200 (2000), 271, 289 ff. unterscheidet weiters zwischen der Materialisierung der Vertragsfreiheit, derjenigen der Vertragsgerechtigkeit und der des Vertragsrechts; Habermas, Faktizität und Geltung 468, 480 zur Materialisierung des Privatrechts: „Aus dieser Perspektive betrachtet, dringen sozialethische Gesichtspunkte in Rechtsgebiete ein, die sich bisher allein unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistung privater Autonomie zu einem Ganzen zusammenfügen ließen. Der Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit verlangt eine differenzierende Auslegung formell gleicher, aber materiell verschiedener Rechtsbeziehungen, wobei dieselben Rechtsinstitute verschiedene gesellschaftliche Funktionen erfüllen.“ Siehe auch Franck, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 71, 81. 62 Franck, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 71, 81; Looschelders, JZ 2012, 103, 106. 57

B. Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbote

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Pointiert formuliert Radbruch: Es sei Aufgabe des Gesetzgebers einzuschreiten, wenn die „juristische Vertragsfreiheit“ zur „sozialen Vertragsknechtung“ verkomme. Neue Rechtsgebiete, wie das Arbeits- oder Wirtschaftsrecht, stellten sich dem Grunde nach als Inbegriff von Einschränkungen der „bisherigen Vertragsfreiheit“ dar. Möglichkeiten zur Einschränkung der klassischen Vertragsfreiheit seien Kontrahierungszwänge oder auch Kollektivverträge.63 Es fällt vor allem anhand der gewählten Beispiele auf, dass auch Radbruch grundsätzlich das Privatrecht in der Pflicht sieht, unter gewissen Umständen die Privatautonomie zu beschränken. Beispielsweise verbietet § 6 Abs. 1 KSchG die Verwendung gewisser verpönter Klauseln in AGB. Es sollen dadurch Konsumenten vor nachteiligen Vertragsbestimmungen, wie sie ihnen typischerweise von Unternehmern abverlangt werden, geschützt werden.64 In einem Verbrauchergeschäft, vor allem unter Verwendung von AGB, befinden sich die Vertragspartner in einem Ungleichverhältnis zueinander. Der Verbraucher sieht sich typischerweise einem übermächtigen Unternehmer gegenüber. Der AGB-Verwender wird sich mit seinem Klauselwerk intensiv beschäftigt haben und auch versuchen, dieses für sich möglichst vorteilhaft auszugestalten. Dem Verbraucher hingegen werden meist weder Zeit, finanzielle Mittel noch Fachwissen im erforderlichen Maße zur Verfügung stehen. Er wird daher in der Freiheit seines Willensentschlusses beschränkt. Hier kommt es durch das AGB-Recht zu einer Materialisierung der Vertragsfreiheit. Die klassische Vertragsfreiheit (des Unternehmers) wird eingeschränkt, um einen faktisch freiwilligen Vertragsschluss zu gewähren. Doch nicht nur das relativ moderne AGB-Recht, auch die Bestimmungen zur laesio enormis, des Wuchers oder der Angehörigenbürgschaft sind Instrumente, um eine tatsächliche Inanspruchnahme der Vertragsfreiheit zu gewährleisten.65 Dieser herrschende Kompromiss, der auch als „richtig verstandene Vertragsfreiheit“66 bezeichnet wird, lässt sich abgesehen von den bereits angeführten „Schwächen“ des materialen Paradigmas vornehmlich damit begründen, dass die formale Vertragsfreiheit aufs Ganze gesehen jedenfalls zu einem gerechten Ergebnis führen soll. Ausgangspunkt dieser Annahme ist, dass Vertragsfreiheit nicht allein um der Gerechtigkeit willen gewährleistet wird, sondern eben die Selbstbestimmung des Individuums im Zentrum steht.67 In erster Linie aber schaffe der freie Markt ausreichende Hemmnisse, um im Normalfall groben Ungerechtigkeiten, im Sinne von spürbaren Teilhabedefiziten, Rechtsphilosophie8, 243. Rummel/Krecji, ABGB3 § 6 KSchG, Rz. 1. 65 Vgl. F. Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze 189, 194 mit weiteren Beispielen. 66 Vgl. zu diesem Begriff: Limbach, JuS 1985, 10 ff. 67 Dies entspricht einem personalistischen Begründungsmuster: Vertragsfreiheit soll als Voraussetzung zur Gewährleistung von Selbstbestimmung dienen; dazu siehe Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 294. 63 64

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Kapitel 2: Privatautonomie und Diskriminierungsverbote

vorzubeugen.68 Im Allgemeinen werden Verträge deshalb abgeschlossen, weil sie für die Parteien einen Nutzen mit sich bringen. Lehnt eine der potentiellen Vertragsparteien den Vertragsschluss ab, liegt es zumeist daran, dass sie subjektiv keinen Vorteil darin sieht. Ist der Vertragsschluss objektiv gesehen allerdings sehr wohl von Vorteil, wird sich ein anderer Vertragspartner auf einem funktionierenden Markt finden, der bereit ist zu kontrahieren. Der Wettbewerb diszipliniert demzufolge die Marktteilnehmer.69 Die wesentliche Begründung des Primats der klassischen Vertragsfreiheit liefert demnach die Hypothese, dass aufgrund einer Vielzahl von möglichen Vertragspartnern Güter und Dienstleistungen dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Dies entspricht im Wesentlichen dem ordnungstheoretischen Ansatz.70 Die Vertragsfreiheit kann aber nur solange ihrer Versorgungsfunktion nachkommen, wie die Kräfte des Marktes in der Lage sind, für neue und vor allem gleichwertige Angebote zu sorgen.71 Zu einem ähnlichen Befund gelangt man, wenn man sich der Selbstbestimmung des Menschen als Funktion der Vertragsfreiheit zuwendet. Busche hebt hervor, dass die Vertragsfreiheit als mehrdimensionale Freiheit zu verstehen sei. Sie unterliege demnach immanenten Grenzen. Vertragsfreiheit werde daher nur soweit garantiert, als für alle Vertragsbeteiligten die substantielle Möglichkeit zur Selbstbestimmung bestehe. Es versage daher auch diese Funktion der Vertragsfreiheit, sobald Personen der Zugang zum Vertrag abgeschnitten werde.72 III. Vertragsfreiheit und Diskriminierung Dem ordnungstheoretischen Begründungsmuster wird in Bezug auf Diskriminierungsschutzbestimmungen zu Recht nur beschränkte Überzeugungskraft attestiert.73 Diskriminierung wird unbestrittenermaßen in den meisten Fällen 68 Vgl. statt vieler: Canaris, in: FS Lerche 873, 886 f.; dens., AcP 200 (2000), 271, 293 f.; Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen 39 ff.; F. Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäfts 171 f.; Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrags 150 f.; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 297 ff. 69 Basedow/Hopt/Zimmermann/Basedow, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts I, 317; vgl. Canaris, in: FS Lerche 873, 882 ff. 70  Dazu Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 297 ff. mit einer ausführlichen Kritik an diesem Begründungsansatz. 71 Vgl. dazu F. Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäfts 171: „Wo freilich nicht nur ein starkes Marktgefälle besteht, sondern auch der Ausgleich durch den Markt versagt, vermag das Rechtsgeschäft seine Aufgabe, Rechtsgestaltung in Selbstbestimmung zu ermöglichen, nicht mehr zureichend zu erfüllen.“ 72 Privatautonomie und Kontrahierungszwang 102 ff., 105, 108 f. 73 Sunstein, Free Markets and Social Justice 151 ff.; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 19 AGG, Rn. 18 ff., 23: „Aus ökonomischer Sicht könnte eine Rechtfertigung der ordnungspolitischen Beschränkung der Vertragsabschlussfreiheit durch Benachteiligungsverbote greifen, wo das Verhalten bestimmter Marktteilnehmer wettbewerbsbeschränkende Effekte hat.“ Dies setze allerdings verhärtete diskriminierende Sozialstrukturen voraus, deren Marktausschlusswirkung

B. Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbote

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nicht ökonomisch effektiv sein und somit dazu führen, dass sich die diskriminierende Person selbst vom Markt ausschließt. Verweigert man Bevölkerungsgruppen aus sachfremden Motiven pauschal den Abschluss von Rechtsgeschäften, wird man zweifelsohne unter normalen Umständen zum Feind des eigenen wirtschaftlichen Erfolges.74 Treffend formuliert daher Sunstein: ”To put it simply, bigots are weak competitors. The market will drive them out.”75 Die Kräfte der freien Marktwirtschaft vermögen Ungleichbehandlung aus rassistischen oder sexistischen Motiven jedoch nicht immer zu regulieren. Diskriminierende Vorurteile folgen schließlich nicht zwingend der Logik und ebenso wenig der Ratio der liberalen Marktwirtschaft.76 Möglich ist zudem, dass eine diskriminierende Praxis durchaus Anklang findet, weil ein Teil der Bevölkerung zur Ungleichbehandlung einer gewissen Gruppe neigt. In diesem Fall wird der Diskriminierende, zumindest kurzfristig, oft nicht mit wirtschaftlichen Einbußen rechnen müssen. Eher ist es naheliegend, dass nichtdiskriminierendes Verhalten einen wirtschaftlichen Schaden nach sich ziehen könnte.77 Ebenso verhält es sich, wenn diskriminierendes Verhalten in einer Branche allgemein anerkannt ist und schlicht kein nicht diskriminierender Anbieter auf dem Markt auftritt. Diskriminierung wird daher in manchen Fällen auf wirtschaftlich rationalen Motiven basieren und folglich werden damit keine Sanktionen von Seiten des Marktes eintreten.78 Es ist daher wahrscheinlich, dass der Markt nicht immer vor systematischen Teilhabedefiziten schützt. Diskriminierungsverbote können im Grunde zur Aufrechterhaltung einer der zentralen Begründungen der Privatautonomie notwendig sein. Es geht dabei der Sache nach um die Funktionssicherung der Vertragsfreiheit. Die eingetretene Störung wird behoben, um damit den Zweck der Vertragsfreiheit material weitestgehend zu realisieren.79 Damit ist bereits eine Begründungssäule für Diskriminierungsverbote im einer marktbeherrschenden Stellung gleichzustellen sei. Derartige gesellschaftliche Strukturen seien, so Thüsing, in Deutschland schlicht nicht zu diagnostizieren. 74 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 20; auch Posner, Economic Analysis of Law8, 916. 75 Free Markets and Social Justice 151. Es handelt sich dabei um die Ausgangshypothese, die von Sunstein anschließend widerlegt wird. 76 Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 2; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 313 ff. bekräftigt, dass Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften in Bezug auf Geschlechterdiskriminierung klar darlegten, dass der Markt Diskriminierung nicht neutralisiere. Beide in Anlehnung an die grundlegenden Ausführungen von: Sunstein, Free Markets and Social Justice 151 ff.: „Enthusiasm for markets as an anti-discrimination policy is at best wishful thinking.“ Eine ökonomische Analyse des Antidiskriminierungsrechts, insbesondere des Verbots der rassistischen Diskriminierung in den USA, findet sich bei: Posner, Economic Analysis of Law8, 915 ff., zu Diskriminierungsverboten im Privatrecht 921. Vgl. weiters Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 304 ff. 77 Sunstein, Free Markets and Social Justice 153 ff. mit einer Vielzahl von Beispielen. 78 Posner, Economic Analysis of Law8, 916: „Some discrimination is efficient and will therefore presist whether or not a firm’s owners or managers have any taste for discrimination“; Sunstein, Free Markets and Social Justice 153 ff. 79 Vgl. Busche, Kontrahierungszwang und Privatautonomie 126.

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Kapitel 2: Privatautonomie und Diskriminierungsverbote

Privatrecht angesprochen, auf die im Zusammenhang mit deren Legitimation und Schutzzweck zurückzukommen sein wird. Man gelangt zu einem Zwischenergebnis: Einer formalen Interpretation der Vertragsfreiheit kommt zwar als Grundregel der Vorrang zu. Besonders das ABGB und das deutsche BGB sind gekennzeichnet durch ein liberal inspiriertes Vertragsrecht.80 Das Privatrecht muss jedoch auch den Anforderungen der Gerechtigkeit im weiteren Sinne nachkommen.81 In Bezug auf den Diskriminierungsschutz bedeutet dies, dass es Aufgabe des Gesetzgebers ist, die materiale Vertragsfreiheit des Diskriminierungsopfers sicherzustellen.82 Dazu muss ein Ausgleich zwischen der Privatautonomie des Diskriminierenden und des Benachteiligten geschaffen werden.83 Zum Teil wird dem Privatrecht diese Aufgabe durch öffentlich-rechtliche Normen zum Beispiel im Sozial- oder Steuerrecht abgenommen, doch auch das Zivilrecht selbst muss die klassische Vertragsfreiheit ergänzen oder einschränken. Diskriminierungsverbote haben nicht den Zweck, Personen mit geringerer Leistungsfähigkeit, beispielsweise wegen einer Krankheit, aufzufangen. Es ist daher nicht vorrangig Sache des Staates, privatrechtliche Ungleichbehandlung auszugleichen.84 Einschränkungen der formellen Vertragsfreiheit sind keineswegs eine unionsrechtliche Neuerfindung. Sie finden sich, wie bereits angedeutet, auch in anderen Segmenten des Privatrechts. Ein klassisches Beispiel ist das Verbraucherrecht. Klar muss aber sein, dass zwischen konsumentenschutzrechtlich motivierten Einschränkungen der Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverboten, neben gewissen Gemeinsamkeiten, auch deutliche Unterschiede bestehen.85 80 Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens 25; vgl. Hueck, Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht 250 ff. 81 Statt vieler: Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen 17; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 309 weist in ihren grundlegenden Ausführungen diese Sichtweise als h.A. aus. 82 Diskriminierungsverbote sollen nicht ausschließlich die materiale Vertragsfreiheit der Benachteiligten gewährleisten. Sie dienen auch oder sogar vorrangig dem Schutz vor Herabwürdigung. Darauf wird bei der Legitimation und dem Schutzumfang von Diskriminierungsverboten eingegangen. Siehe dazu unter D. und E. 83 MüKoBGB/Thüsing, I6 Einleitung zum AGG, Rn. 61; Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 2; grundsätzlich: Canaris, AcP 200 (2000), 271, 299 f. 84 Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 311; vgl. Coester, in: FS Canaris Bd I, 115, 122 ff. 85 Diskriminierte Personen treten, anders als Verbraucher, nicht per se anfänglich unterlegen am Markt auf. Vielmehr werden sie aufgrund einer zumeist nicht marktkonformen Entscheidung des Benachteiligenden ungleich behandelt. Siehe dazu: Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 312. Bei Diskriminierungsverboten bestehe die „Unterlegenheit“ des benachteiligten Vertragspartners darin, dass er aufgrund eines verpönten Merkmales um seine Entscheidungsfreiheit gebracht bzw. diese eingeschränkt werde. Ein weiterer Unterschied liegt in den dahinterstehenden Gerechtigkeitskonzeptionen: Im Verbraucherschutzrecht geht es darum, ein Mindestmaß an Austauschgerechtigkeit zu garantieren. Im Antidiskriminierungsrecht spielen allerdings auch Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit eine Rolle; vgl. MüKoBGB/Thüsing, I6 Einleitung zum AGG, Rn. 61.

C. Vertragsrecht und iustitia distributiva

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C. Vertragsrecht und iustitia distributiva Die eingangs gestellte Frage nach der Vereinbarkeit von Diskriminierungsverboten und Privatautonomie wird oft unter Bezugnahme auf die dahinterstehenden Gerechtigkeitsformen diskutiert.86 In einem nächsten Schritt soll deswegen die Vereinbarkeit von Diskriminierungsverboten im Privatrechtssystem nach diesem Muster analysiert werden.87 Die formale Vertragsfreiheit beruht auf dem Gerechtigkeitsgedanken der iustitia commutativa, der ausgleichenden Gerechtigkeit oder auch Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person.88 Dieser Unterbegriff der Gerechtigkeit geht auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik zurück.89 Es wird von einer formalen Gleichheit der Beteiligten ausgegangen. Im Vordergrund steht, vereinfacht gesagt, ein fairer Interessenausgleich beider Seiten auf gleicher Augenhöhe.90 Es geht daher dem Grunde nach um das Wohl des Individuums und nicht jenes der Gemeinschaft. Das wichtigste Kriterium bei der Gewährleistung der ausgleichenden Gerechtigkeit ist die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen. Die iustitia commutativa wird demnach vielfach als die Gerechtigkeitsform des Vertragsrechts verstanden.91 Verwirklicht wird sie insbesondere durch das Leitmotiv des Schuldrechts, die formal ausgestaltete Vertragsfreiheit. So muss sich beispielsweise der Verkäufer im Normalfall nicht rechtfertigen, wieso er seine Waren an den einen und nicht an den anderen Interessenten verkauft hat.92 Dies beruht letzten Endes auf einer Entscheidung des liberal inspirierten Gesetzgebers des 19. Jahrhunderts. Die Verteilung von Gütern sollte der Initiative von Einzelnen auf einem freien, hauptsächlich durch Geld regierten Markt überlassen sein. Der Staat begnügte sich hingegen damit, den rechtlichen Rahmen dafür zu schaffen.93 86 Einen Überblick zum Thema Verteilungsgerechtigkeit im Recht, insbesondere der wesentlichen rechtsphilosophischen und rechtssoziologischen Strömungen, findet sich bei: Th. Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie6, 205 ff. 87 Diesen Ansatz verfolgt Coester, in: FS Canaris Bd I, 115. 88 Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen 39; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 305. 89 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, Rn. 1131a 1131b: „Die Gerechtigkeit als Teilerscheinung und das entsprechende Gerechte weisen zwei Grundformen auf: die eine (A) ist wirksam bei der Verteilung von öffentlichen Anerkennungen, von Geld und sonstigen Werten, die den Bürgern eines geordneten Gemeinwesens zustehen. Hier ist es nämlich möglich, daß der eine das gleiche wie der andere oder nicht das gleiche zugeteilt erhält. Ein zweite (B) Grundform ist die, welche dafür sorgt, daß die vertraglichen Beziehungen von Mensch zu Mensch rechtens sind.“ Siehe auch Rn. 1132a. 90 Coester, in: FS Canaris Bd I, 115, 117. 91 Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht 45; F. Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze 200 f; Radbruch, Rechtsphilosophie8, 122. 92 Vgl. Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht 35. 93 Th. Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie6, 206 f.

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Kapitel 2: Privatautonomie und Diskriminierungsverbote

Eine andere Form der Gerechtigkeit ist nach Aristoteles die iustitia distributiva (Verteilungsgerechtigkeit, austeilende Gerechtigkeit). Auch die Bezeichnung als Gerechtigkeit in Ansehung der Person wird verwendet. Nach dem Grundsatz „suum cuique“ sind Güter nach den Bedürfnissen der einzelnen Personen aufzuteilen.94 Grundlegendes Element der iustitia distributiva ist somit die Chancengleichheit.95 Diskriminierungsverbote sollen einen gleichberechtigten Zugang zum Markt ermöglichen. Es soll Chancengleichheit dahingehend garantiert werden, dass Rechtssubjekte dieselben Möglichkeiten zum Vertragsabschluss haben und ihnen dieser nicht aufgrund von gesellschaftlich verpönten Kriterien verweigert werden darf.96 Privatrechtliche Diskriminierungsverbote sind damit Ausdruck der Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva). Kritiker eines zivilrechtlichen Diskriminierungsschutzes vertreten den Standpunkt, dass Verteilungsgerechtigkeit in einem liberal geprägten Schuldrechtssystem keinen Platz habe.97 Diskriminierungsverbote stellten einen systemgefährdenden Fremdkörper dar, weil der Privatautonomie Diskriminierung immanent sei und das Verbot von Ungleichbehandlung nur in äußersten Notfällen geboten sein könne.98 Es werde dabei vergessen, dass Diskriminierung nichts anderes als Teil eines Auswahlverfahrens darstelle. Ein solcher Bewertungsprozess sei für ein selbstbestimmtes Leben nicht wegzudenken. Diskriminierungsverbote stellten damit klar auf die Steuerung von Gesinnung ab und vermischten so Recht und Moral. Es wird gar eine Gefährdung der pluralistischen Gesellschaft befürchtet.99 Picker weist darauf hin, dass dem Privatrecht ein kompetitives System zugrunde liege. In einem derartigen System ließen sich dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden widersprechende Ergebnisse nicht leugnen. Sie würden aber durch das Sozialrecht abgefedert. Dieses Rechtsgebiet basiere, als öffentliches Recht, auf dem Gedanken der Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) und statt Wettbewerb herrsche Solidarität.100 Picker betont weiters, dass die ausgleichende Gerechtigkeit die Gerechtigkeit des Privatrechts, hingegen die Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, Rn. 1131a. Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht 22 ff., weist darauf hin, dass Chancengleichheit in diesem Kontext als vorzeitliches Prinzip verstanden werden muss, und dass der Inhalt der iustitia distributiva nicht zur Gänze von der jeweiligen Staatsform, Gesellschaftsverfassung oder Wirtschaftsordnung abhängt. 96 Coester, in: FS Canaris Bd I, 115, 118. 97 Vor allem ist auf die im Zusammenhang mit der Einführung des AGG in Deutschland geführte Diskussion hinzuweisen. Siehe etwa: Picker, in: Karlsruher Forum 2004, 7, 49 ff.; so aber auch Kietaibl, in: Rebhahn (Hrsg.), Grundrechte statt Arbeitsrecht 55, 65. A.A. und mit einem Überblick zum deutschen Meinungsstand unter diesem Aspekt: Coester, in: FS Canaris Bd I, 115, 118 f. 98 So Picker, JZ 2003, 540, 544, oder auch Adomeit, NJW 2002, 1622 ff. 99 Picker, in: Karlsruher Forum 2004, 7, 26 ff. 100 JZ 2003, 540; ders., in: Karlsruher Forum 2004, 7. 94 95

C. Vertragsrecht und iustitia distributiva

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austeilende Gerechtigkeit die Gerechtigkeit des öffentlichen Rechts sei.101 Er hebt hervor, dass das „soziale System“ ohne das „wettbewerbsorientierte System“ nicht die finanziellen Möglichkeiten hätte, im Sozialfall für Hilfe und Beistand zu sorgen.102 Nach F. Bydlinski sind es im Privatrecht zunächst die Beteiligten an einem Rechtsverhältnis, die darüber zu entscheiden haben, ob der von ihnen vorgenommene Austausch gerecht ist oder nicht. Dieser Vorrang der ausgleichenden Gerechtigkeit bestehe aber nur insoweit, als die Beteiligten ihren Willensentschluss auch wirklich frei und zureichend informiert treffen. In Fällen von verdünnter Willensfreiheit, die sich vor allem durch eine ungleiche Machtverteilung unter den Kontrahenten ergibt, seien zwingende Gesetze nötig, um einen vertretbaren Austausch zu gewährleisten.103 Als Beispiele nennt F. Bydlinski unter anderem das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingung und das Mietrecht. Alles in allem sei klar, dass sowohl die Anforderungen der kommutativen als auch der distributiven Gerechtigkeit im Privatrecht häufig kombiniert und verschränkt seien.104 Henkel105 und Canaris106 betonen, dass sich die zwei Formen der Gerechtigkeit oft kaum voneinander unterscheiden ließen und nicht selten bis zur Untrennbarkeit ineinander verschwimmen würden. Ähnlich dem Verhältnis zwischen formaler und materialer Vertragsfreiheit bestehe im Privatrecht ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen iustitia distributiva und iustitia commutativa.107 Die Normen des Vertragsrechts könnten demnach für distributive Zwecke erlassen werden. Es bedürfe allerdings einer besonderen Legitimation. Hauptgrund hierfür sei die Dominanz der klassischen Vertragsfreiheit im Schuldrecht, die klarer Ausdruck ausgleichender Gerechtigkeit sei.108 Weiterer Grund sei, dass distributiv bedingte Belastungen von Privatrechtssubjekten oft rein zufällig einträten und eine grundlose Schlechterstellung zu anderen Privatrechtssubjekten damit ebenso oft einhergehe. Ausreichende Legitimierungen für Belastungen anderer Privatpersonen lägen im Fall der Integration von besonders schutzbedürftigen Personen vor. Als Beispiel dafür nennt Canaris den arbeitsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz.109 So Radbruch, Rechtsphilosophie8, 122, allerdings einschränkend dahingehend, als er annimmt, dass einem Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit ein Akt der austeilenden Gerechtigkeit vorausgegangen ist. Zuerst müsse allen Beteiligten der gleiche Status verliehen bzw. die gleiche Verkehrsfähigkeit erteilt werden. 102 In: Karlsruher Forum 2004, 7, 49 f.; so auch Kietaibl, in: Rebhahn (Hrsg.), Grundrechte statt Arbeitsrecht 55, 65. 103 Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriffe2, 357 f. 104 Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriffe2, 360. 105 Einführung in die Rechtsphilosophie2, 414. 106 Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht 14. 107 Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht 119. 108 Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht 126. 109 Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht 119 ff. 101

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Kapitel 2: Privatautonomie und Diskriminierungsverbote

Ausnahmen von der Gerechtigkeitsform der iustitia commutativa im Privatrecht sind in einem Staat, der sich gegen eine Planwirtschaft und für eine freie Marktwirtschaft entschieden hat, notwendig. Für Canaris ist dies der Preis für die weitgehende Autonomie, die den Privatrechtssubjekten im Wirtschaftsleben zugebilligt wird.110 Er kommt demzufolge in seinen ausführlichen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass man sich nicht nur im Widerspruch zur lex lata befinde, sondern es auch rechtsphilosophisch unfundiert wäre, würde man distributive Gerechtigkeitselemente aus dem Privatrecht verbannen wollen.111 Die Analyse zur Vereinbarkeit der Vertragsfreiheit mit Diskriminierungsverboten hat zunächst gezeigt, dass der formalen Vertragsfreiheit grundsätzlich der Vorrang gegenüber der materialen Konzeption eingeräumt wird. Die Kritik an der klassischen Vertragsfreiheit ist an ihr allerdings nicht spurenlos vorübergegangen. Sie wird dem herrschenden Kompromiss nach nicht als vollkommen ausnahmslos begriffen. Vielmehr müssen die materiale und die formale Interpretation der Vertragsfreiheit in einem sehr engen Kontext verstanden werden. Die formale Vertragsfreiheit wird durch gegenläufige Prinzipien eingeschränkt. Zu diesen Grundsätzen gehören Diskriminierungsverbote als spezielle Gleichbehandlungsgebote. Aufgrund des Primats der formalen Vertragsfreiheit müssen Einschränkungen der Vertragsfreiheit besonders begründet werden. Vor allem bedarf es eines legitimen Zieles.112 Dasselbe folgt aus den hinter der Vertragsfreiheit stehenden Gerechtigkeitskonzeptionen. Zwar ist die Austauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) die Gerechtigkeitsform des Privatrechts, allerdings verhält sie sich zur distributiven Gerechtigkeit in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis und wird durch sie ergänzt.

D. Legitimationsgründe Geht man von einem Primat der formalen Vertragsfreiheit aus, ergibt sich, dass Einschränkungen, wie sie durch Diskriminierungsverbote geschehen, einer besonderen Rechtfertigung bedürfen. Um die damit verbundene Begründungslast des potentiell Diskriminierenden zu legitimieren, muss man sich den Zielen und der Funktion des Gleichbehandlungsrechts widmen. Der Schutz von Privatpersonen vor Diskriminierung wird im Wesentlichen mit drei Begründungsansätzen vertreten.113 Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht 127. Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht 128; Radbruch, Rechtsphilosophie8, 122. 112 Canaris, in: FS Lerche 873, 886 f. 113 Neuner, JZ 2003, 57, 58, 61; ders., in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 74, 87. 110 111

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Diskriminierendes Verhalten zielt meist nicht auf einen marktwirtschaftlichen Erfolg ab und ist daher nicht marktkonform. Es torpediert zudem unter Umständen eine der zentralen Funktionen der Vertragsfreiheit im Sinne des ordnungstheoretischen Ansatzes. Sachlich nicht begründbare Zugangsblockaden von Individuen oder Gruppen zum Markt gleichen demnach einer „Arterienverkalkung“ des Privatrechtssystems. Diskriminierungsverboten kommt dabei die Funktion zu, die materiale Vertragsfreiheit zu gewährleisten und den Markt für alle Teilnehmer offenzuhalten.114 Erstens wird folglich als Legitimation vorgebracht, dass das Individuum vor systematischer Ausgrenzung von der Gesellschaft und deren Gütern aufgrund gewisser Kriterien geschützt werden müsse.115 Die zentrale Funktion von Antidiskriminierungsmaßnahmen ist der Schutz der Würde des Menschen. Dazu könne es gerechtfertigt sein, die Vertragsfreiheit eines anderen Privatrechtssubjekts einzuschränken. Sehr ähnlich angelegt ist die Begründungssäule, dass Diskriminierungsverbote zum Schutz tendenziell benachteiligter Gruppen, wie zum Beispiel ethnischer Minderheiten, legitim seien.116 Drittens wird geäußert, dass Diskriminierungsverbote nicht ausschließlich dem Schutz der Betroffenen, sondern auch dem der Allgemeinheit dienten. Eine vom Staat tolerierte Ungleichbehandlung aufgrund von verpönten Merkmalen könne den inneren staatlichen Frieden gefährden. Oft werde dadurch Widerstand durch die Benachteiligten und sich mit ihnen solidarisierende Dritte provoziert.117

E. Schutzumfang Im Kontext der Legitimation von Diskriminierungsverboten im Privatrecht stellt sich die Frage nach deren sachlich gerechtfertigtem Umfang.118 Negativ formuliert: Ab wann ist eine Konstellation gegeben, die es rechtfertigen könnte, die formale Vertragsfreiheit einzuschränken und wie weit darf diese Einschränkung theoretisch gehen? Für den zulässigen Schutzumfang von Diskriminierungsverboten hat Neuner maßgebliche Kriterien herausgearbeitet.119 Er trifft dabei eine teleologische Coester, in: FS Canaris Bd I, 115, 123. Nach der Antirassismus-RL (RL 2000/43/EG) wäre in diesem Zusammenhang die Rasse oder ethnische Herkunft ein unzulässiges Auswahlkriterium. 116 Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 39 ff. 117 Neuner, JZ 2003,57, 61; vgl. Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 411 ff.; Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung 147. 118 Vgl. allgemein zur Normstruktur und dem Prüfungsaufbau von Diskriminierungsverboten, insbesondere den Unterschieden zu den Freiheitsrechten: Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 17 Rn. 7 ff. 119 JZ 2003, 57, 61; ders., in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 74, 87; ihm diesbezüglich folgend Riesenhuber/Franck, JZ 2004, 529, 537; Riesen114 115

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Differenzierung zwischen dem Schutz vor Ausgrenzung und der Sicherung des Integritätsinteresses. Bei Ersterem sei die Schutzrichtung teilhaberechtlicher Natur, im zweiten Fall stehe der abwehrrechtliche Charakter im Vordergrund.120 In aller Deutlichkeit zeigen sich hier die zwei vornehmlichen Stoßrichtungen von Diskriminierungsverboten: die Materialisierung der Vertragsfreiheit und der Schutz der Würde des Menschen. Neuner ordnet den Schutz vor Ausgrenzung schwerpunktmäßig dem Vertragsrecht und den Schutz des Integritätsinteresses eher dem Deliktsrecht zu.121 Die zur Rechtfertigung von Diskriminierungsverboten hervorgehobenen Kriterien Neuners sind stimmig und sinnvoll.122 An ihnen orientiert sich daher die weitere Untersuchung. Richtet man den Blick auf den Schutz vor Ausgrenzung, so setzt sich der Tatbestand einer unzulässigen Diskriminierung, zu deren Verhinderung eine Schmälerung der Handlungsfreiheit legitim ist, aus drei Komponenten zusammen: Es bedarf eines Zusammenspiels eines objektiven Unterscheidungsmerkmals, der Schutzbedürftigkeit des potentiell Diskriminierten und des Fehlens eines zu berücksichtigenden Differenzierungsinteresses des Entscheidungsträgers.123 Ausgrenzungsmerkmale sind – das wurde bereits erwähnt – unbegrenzt vorhanden. Dennoch werden gewisse Merkmale von einer Vielzahl an Menschen aus ethischen, sozialen oder auch historischen oder kulturellen Gründen als typische Kriterien zur Ausgrenzung verstanden. Sie haben somit besondere praktische Bedeutung und gelten als in hohem Maße verpönt.124 Die Europäischen Diskriminierungsverbote knüpfen an diese Kriterien an. Zentrale Voraussetzung für das Vorliegen einer unzulässigen Diskriminierung ist die Schutzwürdigkeit des potentiellen Diskriminierungsopfers.125 Es kommt hierbei darauf an, ob das Kriterium anhand dessen differenziert wird, veränderbar ist und wie sehr die diskriminierte Person auf eine Leistung oder ein Gut angewiesen ist. Zur Verhinderung von Diskriminierung aufgrund von unbeeinflussbaren oder nur unter Aufgabe der persönlichen Identität beeinflussbaren Merkmalen sind Diskriminierungsverbote eher geboten als bei disponiblen Merkmalen. Bei der Frage nach der Angewiesenheit wird auf das Vohanhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 47 ff.; Franck, ebd. 71, 82 ff.; Looschelder, JZ 2012, 105, 106. Vgl. Picker, JZ 2003, 540,544. 120 Neuner, JZ 2003, 57, 61. 121 JZ, 2003, 57, 61. 122 So auch Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 47. 123 So Neuner, JZ 2003, 57, 61 ff. 124 Neuner, JZ 2003, 57, 62; dazu auch Zeckei, Das Diskriminierungsverbot im Zivilrecht (Dissertation Universität Göttingen) 64 ff., der sich wegen der unendlichen Anzahl an Diskriminierungsmerkmalen gesetzestechnisch für einen offenen Katalog an Merkmalen, ähnlich Art. 20 GRC, ausspricht. 125 Neuner, JZ 2003, 57, 62.

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densein zumutbarer und gleichartiger Ausweichmöglichkeiten abgestellt. Bei diesem Kriterium steht die Fähigkeit des Marktes, Diskriminierung auszugleichen, im Vordergrund. Die Stoßrichtung ist sehr ähnlich wie bei der Legitimierung eines allgemeinen Kontrahierungszwangs.126 Kommt es zu systematischer Ausgrenzung, die durch den Wettbewerb der Marktteilnehmer nicht ausgeglichen wird, kann die Vertragsfreiheit einer ihrer zentralen Aufgaben nicht mehr gerecht werden. Sie verliert ihre Effektivität als Steuerungsmittel von Gütern und Dienstleistungen.127 Wird demnach eine aus dem Ausland stammende Person an der Tür einer Diskothek nur wegen ihrer Herkunft abgewiesen, würde keine Rechtfertigung für ein Diskriminierungsverbot vorliegen, sofern zumutbare und gleichwertige Alternativen bestehen.128 Es läge keine Angewiesenheit der diskriminierten Person vor. Durch die große Anzahl an Auswahlmöglichkeiten kommt es nicht zu einer Marktausgrenzung. Verhalten sich die meisten Diskothekenbetreiber hingegen diskriminierend, versagt die nivellierende Wirkung des Marktes und ein Diskriminierungsverbot wäre aus dieser Perspektive gerechtfertigt. Es zeichnet sich allerdings ab, dass allein die Aufrechterhaltung der Distributionsfunktion des Marktes keine generelle Rechtfertigung für allumfassende Diskriminierungsverbote sein kann. Bestehen zumutbare Ausweichmöglichkeiten, ist aus dieser Stoßrichtung ein Diskriminierungsverbot nicht gerechtfertigt.129 Bei der Beurteilung dieses Fallbeispiels wird jedoch der Schutz der Achtung der Menschenwürde, auf den weiter unten eingegangen wird, noch zu berücksichtigen sein. Des Weiteren stellt sich die mitunter schwer zu beantwortende Frage, was denn unter einer gleichen oder gleichwertigen Leistung, auf die zumutbarer Weise umgestiegen werden kann, zu verstehen ist.130 Letztlich spielt das Differenzierungsinteresse des Entscheidungsträgers eine tragende Rolle.131 Je eher sachlich begründbare Interessen daran bestehen, eine gewisse Differenzierung vorzunehmen, umso eher könnten diese auch zulässig sein. Hierbei wird insbesondere zwischen privater und öffentlicher Sphäre unterschieden.132 Es gelten Diskriminierungen in der Privatsphäre grundsätzlich Vgl. Coester, in: FS Canaris Bd I, 115, 125. Zu den Voraussetzungen bzw. Rechtfertigungsgründen eines Kontrahierungszwangs siehe Kapitel 5.C.II.3. 128 Der Fall wäre anders zu bewerten, wenn es die einzige Diskothek in der Umgebung wäre. Vgl. OGH 14.07.1986, 1 Ob 554/86. 129 Vgl. mit weiteren Beispielen: Coester, in: FS Canaris Bd I, 115, 125. 130 Coester, in: FS Canaris Bd I, 115, 125 hält eine Differenzierung, ähnlich jener zwischen Normalbedarf bzw. lebensnotwendigen Gütern für die Rechtfertigung eines allgemeinen Kontrahierungszwangs für angebracht. Einen anderen Ansatz vertritt: Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 131 ff., der auf eine Einzelfallprüfung abstellen will. 131 Neuner, JZ 2003,57, 62. 132 So Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 415 ff.; Neuner, JZ 2003,57, 62; Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrags 303. 126 127

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als zulässig. Dies verwundert nicht, weil in diesem Bereich Ungleichbehandlung unverzichtbar scheint. Man denke an die Auswahl des Lebenspartners.133 Außerhalb der Privatsphäre ist ein sachliches Diskriminierungsinteresse des Entscheidungsträgers bei unveränderbaren Merkmalen sachlich schwerer zu rechtfertigen. Es kann sich aber bisweilen aus dem Vertragszweck ergeben. Zu denken wäre an die Besetzung einer Filmrolle mit einem schwarzen Menschen oder das Engagement einer Opernsängerin gerade wegen ihrer besonderen Stimmlage.134 Bei veränderbaren Kriterien, wie zum Beispiel der Lebenseinstellung oder des Berufs, kann jedoch ein anerkennenswertes Interesse zu diskriminieren durchaus leichter zu rechtfertigen sein. Zwar stehen veränderliche Kriterien normalerweise dem Diskriminierten auch nicht zur unmittelbaren rechtsgeschäftlichen Disposition. Dem Entscheidungsträger soll es aber dennoch möglich sein, seine Entscheidungen entsprechend einer Präferenz für gewisse (veränderbare) Kriterien zu berücksichtigen. Neuner erinnert daran, dass der Bürger, anders als der Staat, zu keiner religiösen oder gar weltanschaulichen Neutralität verpflichtet sei. Ein striktes Diskriminierungsverbot bei veränderbaren Merkmalen sei demnach inadäquat. Ein Vermieter könne somit, laut Neuner, einen Pazifisten, Atheisten oder Asketen einem anderen Interessenten vorziehen. Grenzen müssten einem allenfalls legitimen Differenzierungsinteresse jedenfalls durch das Kriterium der Angewiesenheit oder der Verletzung der Menschwürde gesetzt sein.135 Insgesamt kann aus teilhaberechtlicher Perspektive dann von einer unzulässigen Diskriminierung, die eines privatrechtlichen Schutzes bedarf, gesprochen werden, wenn eine systematische Ausgrenzung droht. Dazu müssen die beschriebenen Kriterien nicht alle in selber Intensität vorliegen. Vielmehr sind sie als bewegliches System zu verstehen, sodass es für eine überzeugende Begründung auf eine Gesamtbetrachtung ankommt.136 Eine akute Wohnungsknappheit könnte folglich unter Umständen rechtfertigen, eine Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe für unzulässig zu erachten, obwohl es sich um ein disponibles Kriterium handelt. Andererseits ist ein ermäßigter Eintrittspreis für Frauen in eine Diskothek oder auch zu einer Sportveranstaltung wegen der sehr großen Ausweichmöglichkeiten und eines durchaus nachvollziehbaren Differenzierungsinteresses,

Neuner, JZ 2003, 57, 62; vgl. Canaris, in: FS Lerche 873, 876 ff. Neuner, JZ 2003, 57, 62, 65: Es wäre auch die Verweigerung der Einstellung eines schwer Sehbehinderten als Kraftfahrer mit Sicherheit rechtfertigbar. 135 JZ 2003,57, 62 f. 136 So konkret zu den Begründungselementen von Neuner stellungnehmend: Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 49. 133 134

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aus der Perspektive des Schutzes vor Ausgrenzung nicht weiter zu beanstanden – dies trotz der Unterscheidung anhand eines unveränderlichen Merkmals.137 Die zweite Legitimationssäule von Diskriminierungsverboten bildet der Schutz des Integritätsinteresses.138 Hierbei handelt es sich um die abwehrrechtliche Dimension des Diskriminierungsschutzes. Looschelders hält in diesem Zusammenhang fest, dass sich die Funktion von Diskriminierungsverboten eben nicht allein auf den Schutz einer materialen Vertragsfreiheit bzw. des „offenen“ Marktes reduzieren lasse. Es gehe vielfach um die Achtung der Menschenwürde der Betroffenen.139 Für Riesenhuber ergibt sich diese Funktion bereits aus einer Form des kategorischen Imperativs. Die Freiheit des einen finde ihre Grenzen in der Freiheit des anderen und deren geschützter Position.140 Für die Tragfähigkeit dieser Rechtfertigung sprächen auch die unionsrechtlichen Richtlinien. Sie verbieten Diskriminierung beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. In der Unisex-RL findet sich noch die Einschränkung, dass es sich um Geschäfte handeln müsse, die normalerweise ohne Ansehen der Person geschlossen werden. Unter Berufung auf Salzwedel141 und die bekannte Segelschiff-Entscheidung das Reichsgerichts142, weist Riesenhuber zu Recht darauf 137 Riesenhuber/Franck, JZ 2004, 529, 537. Für eine „Ladies‘ Night“ kann ein sachliches Differenzierungsinteresse bestehen; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 20 AGG, Rn. 43. Auch aus dem Blickwinkel des Schutzes der Würde des Menschen könne argumentiert werden, dass mit einer „Ladies Night“ keine besondere Herabwürdigung einhergehe, so: Rath/Rütz, NJW 2007, 1498. Bei rassistischer Diskriminierung sei eine sachliche Rechtfertigung nach den europarechtlichen Vorgaben deutlich schwerer. Zur gerechtfertigten Diskriminierung nach deutschem Recht siehe ebenfalls: MüKoBGB/Thüsing, I6 § 20 AGG, Rn. 2 ff. 138 Neuner, JZ 2003, 57, 64 ff. 139 JZ 2012, 105,106 f.; ders., JZ 2013, 570, 573 weist in diesem Zusammenhang einprägsam und m.E. zu Recht darauf hin, dass sofern Diskriminierungsverbote ihrer Funktion zum Schutz von Persönlichkeitsrechten nachkommen, es auf die Angewiesenheit und damit auf ein Marktversagen schlicht nicht in besonderem Maße ankommen könne. 140 In: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 49 ff., 52. 141 In: FS Jahrreiss 339, 351: „Bei einem öffentlichen Restaurant oder öffentlichen Lichtspieltheater liegt schon in der Einrichtung selbst die an alle gerichtete Aufforderung, Verträge abzuschließen, und der Ausschluß einer gewissen Gruppe – z.B. durch ein Schild ‚Farbige unerwünscht‘ – oder bestimmter Personen durch verbale Zurückweisung an der Kasse ist ohne eine Beleidigung nicht vorstellbar.“ 142 Reichsgericht 11.04.1901, veröffentlicht in RGZ 48, 114, 127. Dieses legte ähnliche Erwägungen bei der Annahme eines Kontrahierungszwangs beim Transport durch Segelschiffe nach Australien zugrunde: „Ein Transportzwang verpflichtet den Unternehmer, welcher dem Publikum seine Dienste unter bestimmten Bedingungen öffentlich anbietet, die auf ihn angewiesenen Interessenten mit gleichem Maße zu messen, und spricht demselben das Recht ab, willkürlich oder aus illoyalen Gründen den Einzelnen von dem Publikum sonst dargebotenen Transportbedingungen auszuschließen. Ein Vorgehen der letzteren Art kann aber da, wo eine Zwangspflicht gesetzlich nicht besteht, sich als ein Handeln gegen die guten Sitten darstellen. Auch nach den bei uns herrschenden Begriffen von Anstand und Redlichkeit im Verkehr wird

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hin, dass in der Zurücknahme eines grundsätzlich an die Öffentlichkeit gerichteten Angebots eine klare Herabwürdigung der Person liege.143 In diesen Fällen soll für die Betroffenen nicht gelten, was nach Art, Sinn und Zweck der angebotenen Leistung für jeden anderen gilt – dass nämlich ein Vertrag mit jeder zahlungsfähigen und zahlungswilligen Person geschlossen wird. Ist für einen Vertragsabschluss nach der Verkehrsauffassung ausschließlich die Liquidität des Vertragspartners ausschlaggebend und wird dieser aber, obwohl das einzige Bewertungskriterium klar erfüllt ist, nicht geschlossen, geht damit zwangsläufig eine Herabwürdigung der Person einher.144 Der sogenannte Diskotheken-Fall ist folglich aus abwehrrechtlicher Perspektive anders zu beurteilen. Der ausländische Jugendliche muss die erfolgte Verletzung seiner Würde nicht hinnehmen. Aus diesem Blickwinkel kommt es auf ein Marktversagen nicht an.145 Das Beispiel eignet sich auch zur Veranschaulichung des unterschiedlich hohen Schutzniveaus der Europäischen Diskriminierungsverbote. Eine rassistische Ungleichbehandlung lässt sich nur in höchst geringem Umfang sachlich rechtfertigen. Hingegen könnte derselbe Sachverhalt bezogen auf Geschlechterdiskriminierung sachlich durchaus gerechtfertigt sein. Hierbei ist die Argumentationslast mit Blick auf die Antidiskriminierungsrichtlinien eine weitaus geringere.146 Riesenhuber geht davon aus, dass in einer freien Marktwirtschaft eine „besondere Schutzbedürftigkeit“ eher die Ausnahme sein dürfte. Er nimmt an, dass unter normalen Umständen der Diskriminierende sich selbst vom Markt ausschließe und dem Betroffenen andere gleichwertige Angebote zur Verfügung stünden. Ein funktionierender Markt reagiere demnach mit anderen Angeboten, sodass es nicht zu einer Angewiesenheit des Diskriminierten komme. Es müsse man in dem Verhalten eines Transportunternehmers, welcher einen Einzelnen – oder eine bestimmte Gruppe Einzelner – von den allgemeinen dem Publikum angekündigten Tarifen ausschließt, einen Verstoß der guten Sitten erblicken, wenn es zum Zwecke des unlauteren Wettbewerbs geschieht.“ (Hervorhebungen durch den Autor). 143 Riesenhuber, in Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 52 f. 144 Lobinger, in: Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung 99, 142. 145 Looschelders, JZ 2012, 105, 106 f. hält das Kriterium der Angewiesenheit aufgrund der Funktion von Diskriminierungsverboten, die Persönlichkeit zu schützen, für nicht relevant, wenn eine Persönlichkeitsrechtsverletzung vorliegt. In Fällen, wie dem geschilderten, sei der offene Markt nicht gefährdet und es müsse auch keine Vorkehrung zur Erhaltung einer materialen Vertragsfreiheit getroffen werden, allerdings liege eine Verletzung der Menschenwürde vor, die sich der Betroffene nicht gefallen lassen müsse; ders., JZ 2013, 570, 573; so auch Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 430 im Zusammenhang mit einem präventiven Anspruch auf Vertragsschluss: Keinem Menschen sei es zuzumuten, vor einer sittenwidrigen Diskriminierung wegen seiner Abstammung, Rasse oder Staatsangehörigkeit zurückzuweichen; vgl. grundsätzlich Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip 480 ff., 488. Dieser macht deutlich, dass einer effizienzorientierten Betrachtungsweise jedenfalls durch Grundrechte Grenzen gesetzt seien. 146 Rath/Rütz, NJW 2007, 1498, 1499; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 20 AGG, Rn. 43.

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daher zuerst ein Marktversagen festgestellt werden.147 In einer Gesellschaft, in der Rassentrennung zwar rechtlich aufgehoben, aber gesellschaftlich perpetuiert werde, sei der Markt allerdings jedenfalls gestört.148 Dass ein Marktversagen in Deutschland vorliege, sei weder offenkundig noch dargetan.149 Die Rechtfertigung liege daher grundsätzlich im Integritätsschutz und nicht im Schutz vor Ausgrenzung.150 Eine ähnliche Grundannahme trifft Kietaibl. Damit Diskriminierungsverbote im Privatrecht gerechtfertigt wären, müsse zuerst „zumindest empirisch“ nachgewiesen werden, dass tatsächlich strukturelle Teilhabedefizite von Gewicht bestehen. Allein die Zielsetzung, diese verhindern zu wollen, sei kein „Persilschein“ zur Einschränkung der Privatautonomie. Kietaibl geht noch einen Schritt weiter. Am Beispiel des Wohnungsmarktes stellt er in Frage, ob es nicht überhaupt Aufgabe des Staats sei, durch geförderten Wohnbau oder das Aufstellen von Schallschutzwänden eine allenfalls vorliegende Knappheit zu kompensieren. Das Vorhandensein von ausreichendem Wohnraum sei schließlich ein Interesse der Gesamtgesellschaft. Des Weiteren spiegele das Vermieterverhalten nur die gesamtgesellschaftliche Präferenz der Wohnungssuchenden wider.151 Kietaibl widmet sich, anders als Riesenhuber oder Looschelders, jedoch nur einer Seite der Medaille. Wie gezeigt werden konnte, haben Diskriminierungsverbote nicht nur eine teilhaberechtliche Dimension. Sie sollen den Schutz der Integrität sicherstellen. Dafür ist es irrelevant, ob ein Marktversagen bzw. eine besondere Angewiesenheit des Betroffenen vorliegt.152 Des Weiteren handelt es sich bei den Europäischen Diskriminierungsverboten um 147 In: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 49; Franck, ebd. 71, 85 f. 148 Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 49 ff. 149 Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 49 ff. Allerdings handle es sich um eine unionsrechtliche Regelung. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass in einzelnen Mitgliedstaaten ein Marktversagen drohe oder vorliege. Grundsätzlich wird das „Nichtvorliegen“ eines Marktversagens, von jenen, die sich darauf berufen, ebenso wenig empirisch nachgewiesen. Es lässt sich demnach m.E. schwer einschätzen, ob insbesondere bei rassistischer Diskriminierung, nicht u.U. eine systematische Ausgrenzung in Hinblick auf gewisse Bevölkerungsgruppen vorliegt. Aus Langzeitstudien (2002-2012) der Universität Bielefeld zum Thema „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ lassen sich derartige Trends, auch für Deutschland, ablesen. Abrufbar unter: . Zur sexistischen Diskriminierung beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen: Riesenhuber/Franck, JZ 2004, 529, 537. 150 Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 49 ff., 52 ff. Es sei freilich denkbar, dass in einzelnen der 28 Mitgliedstaaten ein Marktversagen vorliege. 151 In: Rebhahn (Hrsg.), Grundrechte statt Arbeitsrecht 55, 66 ff.; in dieselbe Richtung gehend: Picker, JZ 2003, 540; ders., in: Karlsruher Forum 2004, 7. 152 Vgl. Looschelders, JZ 2012, 105,106 f; dens., JZ 2013, 570, 573.

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Kapitel 2: Privatautonomie und Diskriminierungsverbote

eine gesamteuropäische Regelung. Es müssen sich daher die geforderten Daten auf die gesamte Europäische Union beziehen. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind in den Mitgliedstaaten gerade im Hinblick auf eine Diskriminierungsproblematik höchst unterschiedlich. Das zeigt sich unter anderem daran, dass in Ländern mit ethnisch diverser Bevölkerung wie Frankreich, den Niederlanden oder England Diskriminierungsverbote eine weitaus längere Tradition haben als in Österreich oder Deutschland.153 Zuletzt ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass zwar – und daran wird nicht gezweifelt – Teilhabedefizite wegen der nivellierenden Wirkung des Marktes die Ausnahme sein werden. Dessen ungeachtet wird dieses Argument in der Diskussion um Diskriminierungsverbote im Privatrecht überstrapaziert.154 Ungleichbehandlung kann unter gewissen Umständen durchaus effektiv sein.155 Der Markt wird sachlich nicht gerechtfertigte Diskriminierung des Weiteren immer dann besonders unattraktiv machen, wenn die ausgeschlossene Gruppe groß und besonders konsumfreudig ist. Ein Taxiunternehmer, der Frauen die Beförderung verweigert, wird in einer Großstadt nicht lange existieren können. Handelt es sich allerdings um eine kleine Gruppe von Menschen, deren Ausschluss vom Markt unter Umständen auch gesellschaftlich akzeptiert ist – oder zumindest nicht wahrgenommen wird – so ist der Druck auf den Diskriminierenden aus wirtschaftlicher Sicht verschwindend gering.156 Des Weiteren folgt Diskriminierung nicht prinzipiell der Logik des freien Marktes. Dem Diskriminierungstäter wird mitunter sicherlich seine wirtschaftlich 153 Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 49; Ein Überblick zur Rechtslage in Frankreich, Belgien, England, Deutschland und Österreich findet sich bei: Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 12 ff. 154 Siehe dazu bereits III. Dass die grundsätzliche Annahme, der freie Markt verhindere rassistische und sexistische Diskriminierung, nicht zutrifft hat sehr anschaulich Sunstein, Free Markets and Social Justice 151 ff. herausgearbeitet. 155 Posner, Economic Analysis of Law8, 916 f.; Sunstein, Free Markets and Social Justice 151 ff.; dahingehend auch Kietaibl, in: Rebhahn (Hrsg.), Grundrechte statt Arbeitsrecht 55, 67 f., der annimmt, dass Vermieter die überwiegenden Präferenzen der Wohnungssuchenden in der Gesamtgesellschaft widerspiegelten. Dies spreche an sich dagegen, den Vermieter mit Diskriminierungsverboten zu belegen. Kietaibl relativiert aber insofern, als er, sollten Diskriminierungsverbote auf unternehmerische Vermieter beschränkt sein, dies für nicht unverhältnismäßig hält. Zumindest die Unisex-RL sieht nichts anderes vor. Sie verbietet Diskriminierung bei Massengeschäften bzw. Geschäften, bei denen es typischerweise nicht auf die Person des Vertragspartners ankommt. § 19 Abs. 5 AGG stellt daher die widerlegliche Vermutung auf, dass die Vermietung von Wohnraum kein derartiges Geschäft ist, wenn der Vermieter insgesamt nicht mehr als 50 Wohnungen vermietet. Des Weiteren findet sich sowohl in den Erwägungsgründen zur Unisex- als auch zur Antirassismus-RL ein Hinweis (Erwägungsgründe 4 bzw. 3), dass der Schutz der Privatsphäre und des Familienlebens der in diesem Kontext getätigten Geschäfte gewahrt bleiben soll. Vgl. Zu § 19 AGG MüKoBGB/Thüsing, I6 § 19 AGG, Rn. 95 ff.; 119 ff. 156 Siehe dazu: Posner, Econcomic Analysis of Law8, 916 f.; Sunstein, Free Markets and Social Justice 151 ff.

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unsachliche Entscheidung bewusst sein. Dennoch wird er deswegen sein Handeln nicht zwingend marktrational gestalten.157 Geht man nun von einem strukturellen Teilhabedefizit gewisser Bevölkerungsgruppen aus, liegen die Dinge bei Diskriminierung überdies anders als von Kietaibl angenommen.158 Zwar mag es Aufgabe des Staates sein, bei einer Wohnungsknappheit genügend Wohnraum zu schaffen. Werden jedoch Menschen aufgrund verpönter und meist wirtschaftlich irrationaler Motive vom Wohnungsmarkt systematisch ausgeschlossen, sagt dies noch nichts über das Bestehen einer etwaigen Wohnungsknappheit aus. Es wird nicht unbedingt diskriminiert, weil es zu wenige Wohnungen gibt oder Wohnraum in einer gewissen Preiskategorie Mangelware ist. Es liegt hingegen ein Marktversagen vor, wenn eine Gruppe der Bevölkerung aus rassistischen oder sexistischen Gründen keinen Wohnraum findet und der Markt dies nicht durch weitere Angebote reguliert.159 In einer funktionierenden Marktwirtschaft, in der sich die Akteure marktkonform verhalten, wird dies kaum der Fall sein. Es kann allerdings, wie gezeigt wurde, dennoch zu systematischer Ausgrenzung kommen. Ist ein Produkt andererseits generell nur sehr beschränkt vorhanden, führt dies nicht zwingend zu einer verbotenen Diskriminierung, sondern erschwert die Beschaffung für alle Marktteilnehmer gleichermaßen. Es ist stark zu bezweifeln, dass Teilhabedefizite, die von Privaten aus gesellschaftlich verpönten Motiven verursacht wurden, von der Allgemeinheit auszugleichen sind – zumal, und darauf wurde bereits hingewiesen, nicht zwingend eine Situation vorliegen muss, die eine Förderung der Benachteiligten durch den Staat rechtfertigen würde.160 Ein Mitglied einer diskriminierten Bevölkerungsgruppe erfüllt nicht schlechthin die Erfordernisse, sozial förderungswürdig zu sein. Werden Menschen ausländischer Herkunft systematisch vom Zugang zum Wohnungsmarkt abgeschottet, so kann es nicht Aufgabe der Gesamtgesellschaft sein, durch subventionierten Wohnbau unter Umständen finanziell nicht bedürftigen Menschen Wohnraum zu verschaffen, weil sich Vermieter überwiegend rassistisch verhalten. Es ist demzufolge auch Aufgabe des Privatrechts, gegen Diskriminierung vorzugehen, um die disziplinierende Wirkung des Marktes aufrechtzuerhalten.161 Dies vor allem, weil es nicht zuletzt Vgl. Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 2. In: Rebhahn (Hrsg.), Grundrechte statt Arbeitsrecht 55, 66 ff. 159 Für diese Merkmale bestehen Europäische Diskriminierungsverbote im Privatrecht. 160 Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 311. 161 Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 311. Vgl. weiters: Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht 128; Radbruch, Rechtsphilosophie8, 243; F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35 zur Legitimation eines Kontrahierungszwangs. Er geht davon aus, dass ein allgemeiner Kontrahierungszwang dann gerechtfertigt sei, wenn manche Marktteilnehmer aus wirtschaftlich unvernünftigen Gründen vom Vertragsschluss absehen könnten und der abgelehnte Vertragspartner auf die Leistung angewiesen sei. Dies könne sich einerseits daraus ergeben, dass es sich 157 158

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Kapitel 2: Privatautonomie und Diskriminierungsverbote

eine der zentralen Aufgaben der Vertragsrechtsordnung ist, die Bedürfnisse der Menschen durch Güteraustausch zu befriedigen.162 Offen bleibt, ob nicht die Europäischen Diskriminierungsverbote den zulässigen Schutzumfang überschreiten und somit die Privatautonomie zu sehr einengen. Wegen der sehr weiten Formulierungen im AEUV und in der Grundrechte-Charta erscheint es sinnvoll, den Schutzumfang anhand der für das Zivilrecht besonders relevanten Antidiskriminierungsrichtlinien zu analysieren. Diese wirken zudem, anders als Art. 19 AEUV und die Grundrechte-Charta, unmittelbar auf das Privatrechtsverhältnis und waren daher bei der Umsetzung der Kritik der Systemunverträglichkeit ausgesetzt. Sowohl die Antirassismusals auch die Unisex-RL verbieten Diskriminierung beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Die Rasse und ethnische Herkunft, anhand derer nach der RL 2000/43/EG nicht diskriminiert werden darf, stellen ein, wenn nicht das klassische Ausgrenzungsmerkmal dar. Es handelt sich dabei um ein Kriterium, das nicht disponibel ist. Ob davon auszugehen ist, dass Fälle von rassistischer Diskriminierung durch einen funktionierenden Markt ausgeglichen werden, oder dieser dabei versagt, ist schwer prognostizierbar. Da es sich bei den Europäischen Diskriminierungsverboten um ein Regelwerk handelt, das in der Europäischen Union anzuwenden ist, müssen sich diesbezügliche Untersuchungen jedenfalls auf die gesamte Union beziehen. Ein sachliches und folglich nicht verpöntes Differenzierungsinteresse des Entscheidungsträgers ist schwer denkbar. Da es sich um ein unveränderbares Ausgrenzungsmerkmal handelt, ist grundsätzlich jede Form der Differenzierung im öffentlichen Bereich nur in besonderen Konstellationen begründbar. Mit rassistischer Diskriminierung geht jedenfalls eine grobe Herabwürdigung der Persönlichkeit einher. Für die Begründung einer Einschränkung der Vertragsfreiheit im klassischen Sinne zugunsten von Diskriminierungsverboten ist dieser Begründungsansatz der wohl unumstrittenste.163 Das von der RL 2000/43/EG aufgestellte Diskriminierungsverbot stellt folglich keine übermäßige Einschränkung der Privatautonomie dar. Vor dem Hintergrund des Schutzes der Würde des Menschen erscheint es gar notwendig. Das Geschlecht ist, wie die Rasse oder ethnische Herkunft, ein typisches Diskriminierungsmerkmal. Die Schutzbedürftigkeit ist als durchaus hoch einbeim Vertragsverweigerer um den einzig zureichend erreichbaren Anbieter handle, oder andererseits, weil sich alle in Frage kommenden Anbieter gegenüber dem betreffenden Interessenten gleichermaßen verhalten würden. Nach F. Bydlinski soll damit die Funktion der Rechtsgeschäftsordnung, die Befriedigung der normalen Bedürfnisse der Menschen zu gewährleisten, aufrechterhalten werden. Siehe dazu Kapitel 5. 162 Vgl. F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35. 163 Vgl. beispielhaft: Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 49 ff., 52; Looschelders, JZ 2012, 104, 105.

F. Zusammenfassung und Würdigung

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zustufen, da es sich um ein unveränderbares Kriterium handelt. Ob zumutbare Alternativen vorliegen, hängt wiederum von den betroffenen Gütern oder Dienstleistungen und letztendlich vom Markt ab. Ähnlich wie bei einer Diskriminierung aufgrund von rassistischen Motiven können eine systematische Ausgrenzung und damit verbundene strukturelle Teilhabedefizite nicht kategorisch ausgeschlossen werden. An ein sachliches Diskriminierungsinteresse ist, da es sich um ein unveränderbares Merkmal handelt und der Entscheidungsträger in der öffentlichen Sphäre auftritt, ein hoher Maßstab anzulegen. An die Rechtfertigung einer sexistischen Diskriminierung wird allerdings – das geht deutlich aus der Richtlinie hervor164 – ein weniger hoher Anspruch als bei rassistischer Ungleichbehandlung gestellt. Eine Herabwürdigung der Person lässt sich auch bei Geschlechterdiskriminierung darlegen. Die Begründung kann daher im Schutz der Integrität liegen. Die Richtlinie verbietet explizit Ungleichbehandlung bei Rechtsgeschäften, die normalerweise ohne Ansehen der Person geschlossen werden. Ihr Anwendungsbereich bezieht sich daher auf Massengeschäfte, die mit jeder Person, die zahlungsfähig ist, geschlossen werden. Wird der Vertragsabschluss nur wegen des Geschlechts versagt oder nur unter ungünstigeren Konditionen geschlossen, liegt darin in der Folge eine Herabwürdigung.165 Es zeigt sich meines Erachtens, dass auch das von der RL 2004/113/EG aufgestellte Diskriminierungsverbot grundsätzlich keine übermäßige Einschränkung der Privatautonomie darstellt.

F. Zusammenfassung und Würdigung Die Untersuchung der Vertragsfreiheitskonzeptionen auf ihr Verhältnis zu den Diskriminierungsverboten einerseits und den dahinterstehenden Gerechtigkeitsformen anderseits führt zu einem beinahe deckungsgleichen Ergebnis. Seitens der Literatur wird von einem Primat der formalen Vertragsfreiheit ausgegangen.166 Die klassische Vertragsfreiheit ist allerdings einzuschränken, um ihre faktische Inanspruchnahme und letztlich ihre Funktionsfähigkeit zu gewährleisten. Als derartige Einschränkung sind privatrechtliche Diskriminierungsverbote zu verstehen. Iustitia commutativa ist die Gerechtigkeitsform des Vertragsrechts, iustitia distributiva jene des öffentlichen Rechts. Die zwei Konzepte der Gerechtigkeit dürfen aber nicht als unversöhnliche Gegensätze begriffen werden. Vielmehr hat sich gezeigt, dass die unterschiedlichen Spielarten der Gerechtigkeit oft in Statt vieler: MüKoBGB/Thüsing, I6 § 20 AGG, Rn. 2. Vgl. Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 49 ff., 52; Lobinger, in: Isensee, Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbote 99, 142 f. 166 Canaris, in: FS Lerche 873, 886 f. 164 165

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Kapitel 2: Privatautonomie und Diskriminierungsverbote

Verbindung zueinander auftreten.167 Canaris weist darauf hin, dass es rechtsphilosophisch unfundiert wäre, distributive Elemente in der Privatrechtsordnung als grundlegend systemwidrig zu erachten. Die von ihm entwickelten Gedanken lassen sich auf das Verhältnis von Diskriminierungsverboten zum Vertragsrecht übertragen.168 Die aktive Rolle der Europäischen Union auf dem Gebiet des Diskriminierungsschutzes ist daher als ein weiterer Schritt der Tendenz einer Materialisierung der Vertragsfreiheit zu verstehen.169 Das Gerechtigkeitskonzept der kommutativen Gerechtigkeit wird um das zur Verteilungsgerechtigkeit gehörende Element der Chancengleichheit ergänzt. Dies bedeutet allerdings keinen Systembruch. Vielmehr wurde nachgewiesen, dass ein auf der formalen Vertragsfreiheit und der ausgleichenden Gerechtigkeit aufbauendes Privatrechtssystem mit Diskriminierungsverboten grundsätzlich vereinbar ist.170 Das Verbot von Ungleichbehandlung bedarf im Verhältnis zwischen Privaten, anders als zwischen Bürger und Staat, einer besonderen Legitimation, um nicht überschießend zu sein. Das Ziel der Europäischen Diskriminierungsverbote ist letztlich vor allem der Schutz vor Ausgrenzung und die Wahrung der Würde des Menschen. Blickt man auf den Schutz vor Ausgrenzung, kommt es auf die Merkmale, anhand derer differenziert wird, die zumutbaren Ausweichmöglichen des Benachteiligten und das Interesse des Entscheidungsträgers an. Droht systematische Ausgrenzung aufgrund von verpönten Merkmalen und fehlt es dem Entscheidungsträger an sachlichen Gründen hierfür, sind Diskriminierungsverbote gerechtfertigt. Diese von Neuner entwickelten Kriterien bilden ein bewegliches System.171 Umstritten ist im Hinblick auf Europäische Diskriminierungsverbote vor allem das Kriterium der Angewiesenheit der diskriminierten Person. Bestehen keine zumutbaren Ausweichmöglichkeiten, greift der ordnungstheoretische Begründungsansatz der klassischen Vertragsfreiheit nicht mehr. Es kommt nicht zu einer Disziplinierung der Marktteilnehmer durch den Wettbewerb. Damit verfehlt die Vertragsfreiheit ihre Funktion, Güter oder Dienstleistungen dorthin zu schaffen, wo sie tatsächlich benötigt werden. Die Annahme, dass es zu dem Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht 119. Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht 128. 169 So jüngst zu den Europäischen Diskriminierungsverboten: Looschleders, JZ 2012, 104, 105; Eichenhofer, AuR 2013, 62, 64; zur Tendenz der Materialisierung des Schuldvertragsrechts grundlegend: Canaris, AcP 200 (2000), 271. 170 So auch Coester, in: FS Canaris Bd I, 115, 124; Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 58; Franck, ebd. 71, 91 f.; Wolf/ Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts10 § 48 Rn. 2 ff. Ein Übermaß an Diskriminierungsschutz könne die Privatautonomie ersticken, doch zeige die historische Erfahrung, dass die Privatautonomie gleichermaßen zur Makulatur werde, wenn ein Mindestmaß an Diskriminierungsschutz fehle; Eichenhofer, AuR 2013, 62, 64. 171 JZ 2003,57, 62 f. 167 168

F. Zusammenfassung und Würdigung

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beschriebenen Marktversagen in einer freien Marktwirtschaft nicht – oder nur in sehr seltenen Konstellationen – kommen wird, ist zu bezweifeln und als absolute Behauptung wohl unzutreffend. Den zweiten Begründungsansatz liefert der Schutz der Würde des Menschen. Mit einer Diskriminierung aufgrund der Rasse oder des Geschlechts geht eine persönliche Herabwürdigung einher. Dies gilt im Besonderen für Massengeschäfte, die prinzipiell mit jeder zahlungsfähigen Person geschlossen werden.172 Die Ziele und der Schutzumfang der Europäischen Diskriminierungsverbote im Privatrecht rechtfertigen grundsätzlich eine Einschränkung der formalen Vertragsfreiheit. Ob dieser Eingriff konkret als ausufernd zu bewerten ist, hängt nicht zuletzt von den mit ihm verbundenen Sanktionen und Rechtfertigungsmöglichkeiten ab.173 Der an den Europäischen Diskriminierungsverboten geübten Fundamentalkritik kann auch mit einem Blick auf ausländische Rechtsordnungen begegnet werden. In betont liberalen Gesellschaften wie den USA oder dem Vereinigten Königreich haben Diskriminierungsverbote einen besonderen Stellenwert. Ungleichbehandlung aus rassistischen oder sexistischen Motiven ist dort längst auch zwischen Privaten verpönt.174 In diesen Ländern haben die persönliche Freiheit, die freie Marktwirtschaft und die Privatautonomie eine längere und gefestigtere Tradition als in Deutschland oder Österreich. Rebhahn schließt daraus, dass sich Diskriminierungsverbote mit den Grundgedanken des Privatrechts wohl vereinbaren lassen werden.175

Vgl. Salzwedel, in: FS Jahrreiss 339, 351; Reichsgericht 11.04.1901, veröffentlicht in RGZ 48, 114, 127; Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 49 ff., 52. 173 Dazu in Kapitel 5. 174 Reichold, JZ 2004, 384, 392. 175 Rebhahn/Rebhahn, GlbG, Einleitung, Rz. 40. 172

Kapitel 3

Die Rechtsetzungskompetenz der Union nach Art. 19 AEUV1

A. Allgemein

Art. 19 AEUV stellt eine der zentralen Normen bei der Untersuchung des Zusammenwirkens von Diskriminierungsverboten der Union und dem allgemeinen Privatrecht dar. Die Bestimmung ist schließlich die Basis der Antidiskriminierungsrichtlinien, die für ihre Wirkungen auf das Privatrechtsverhältnis kritisiert wurden. Wichtig ist es daher, stets den Kontext zu den bereits auf Basis von Art. 19 AEUV gesetzten und derzeit auf Grundlage dieser Norm geplanten Sekundärrechtsakten herzustellen. Für Nettesheim werden die Gestalt und das Wirken der Union durch keine andere Kategorie besser verständlich als durch jene ihrer Kompetenzen.2 Die Zuständigkeitsnormen finden sich allerdings nicht in einem übersichtlichen Katalog, sondern sind auf die gesamten EU-Verträge verstreut. Limitiert werden sie ferner durch den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung sowie die Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Es wäre auch falsch davon auszugehen, dass der Union, nationalen Verfassungen gleich, die Zuständigkeit für Teile des Zivil- und Unternehmensrecht übertragen wurde.3 Stattdessen wird auf die Verwirklichung verschiedener Politikfelder oder Aufgaben, wie die Errichtung eines gemeinsamen Binnenmarktes, eine gemeinsame Verkehrspolitik oder eben die Bekämpfung von Diskriminierung, gezielt.4 Sprachlich dominieren zudem eher ökonomische und politische Begriffe als juristische Termini.5 Es handelt sich daher um ein fragmentarisches und zudem oft auf den ersten Blick nicht leicht begreifliches Regelwerk. Der Suche nach der „richtigen“ Kompetenzgrundlage kommt bei weitem nicht nur in Bezug auf Art. 19 AEUV große Bedeutung zu. Sie ist nicht zuletzt bei allgemeinen, großflächigen Harmonisierungsbestrebungen im Privatrecht oftmals elementar. Das wurde bei der Diskussion über ein Gemeinsames 1 Die Abschnitte A., B., C.I.1. und C.II.1. stimmen mit einem vom Autor bereits publizierten Aufsatz weitgehend überein bzw. basieren auf diesem: Zoppel, in: FS Iro 263 ff. 2 In: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht2, 389. 3 Art. 10 Z. 6 B-VG überträgt beispielsweise dem Bund die Gesetzgebung und der Vollziehung im Zivilrechtswesen, einschließlich des wirtschaftlichen Assoziationswesens. 4 Basedow, AcP 210 (2010), 158, 164. 5 Basedow, JuS 2004, 89, 92.



A. Allgemein

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Europäisches Kaufrecht (GEKR) deutlich.6 Eine Auseinandersetzung mit den kompetenzrechtlichen Grundlagen der Europäischen Union setzt die Beschäftigung mit ihren Zielen voraus und trägt daher in großem Maße zum besseren Verständnis des Engagements der Union im Privatrecht bei.7 Dieser Befund trifft ebenso für das Europäische Antidiskriminierungsrecht zu. Vergegenwärtigt man sich die Konsequenz eines kompetenzwidrig erlassenen Sekundärrechtsakts, die Nichtigerklärung durch den EuGH, so wird der Sinn einer Untersuchung von Art. 19 AEUV auf seine Reichweite als Rechtsgrundlage rasch evident. I. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung8 Nach dem in Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 EUV festgeschriebenen Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung kann die Union nur innerhalb der ihr übertragenen Zuständigkeiten tätig werden.9 Anders als Legislativorgane eines Staates, die aufgrund ihrer umfassenden Verbands- und Organkompetenz grundsätzlich jede Materie regeln können und dabei auch in der Wahl der Form frei sind, bedarf die Union einer ausdrücklichen und speziellen Handlungsgrundlage in den Verträgen.10 Dadurch wird einerseits klargestellt, dass die EU selbst über keine generelle Handlungskompetenz verfügt, andererseits werden somit auch die Kompetenzen der Mitgliedstaaten von jenen der Union abgegrenzt und geschützt.11 Die zweite Seite des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung besagt, dass es ausschließlich die Verträge sind, die festlegen, welche Zuständigkeit der Union zukommt. Es liegt demnach nicht im (tagespolitischen) Belieben der Institutionen oder einzelner Mitgliedstaaten, wann die EU rechtsetzend tätig werden kann.12 Die Unionskompetenzen lassen sich nach ihrer Wirkung auf die mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten unterteilen.13 Der AEUV unterscheidet in den Artt. 2-614 ausschließliche Zuständigkeiten der Union, Kompetenzen, die sich Siehe dazu W.-H. Roth, EWS 2008, 401, 404; Max Planck Institute for Comparative and International Private Law, Policy Options for Progress Towards a European Contract Law, RabelsZ 75 (2011), 371, 390; Perner, in: Wendehorst/Zöchling-Jud (Hrsg.), Am Vorabend eines Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts 20, 35. 7 Vgl. Basedow, JuS 2004, 89, 92 f. 8 Zum Begriff der begrenzten Einzelermächtigung siehe Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast/von Bogdandy, EUV/AEUV, Art. 5 EUV, Rn. 13. 9 In Art. 7 AEUV wird ebenfalls auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung Bezug genommen. 10 Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 5 EUV, Rn. 8. 11 Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar3 Art. 5 EGV, Rn. 6 ff. 12 Chalmers/Davies/Monti, European Union Law2, 212. 13 Siehe von Bogdandy/Bast, EuGRZ 2001, 441, 445. 14 Ausführlich zur Genese der Artt. 2-6 AEUV: Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, EUV/ AEUV, Art. 2 AEUV, Rn. 6. 6

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Kapitel 3: Die Rechtsetzungskompetenz der Union nach Art. 19 AEUV

die Union mit den Mitgliedstaaten teilt, sowie eine dritte Kategorie, in der die Union Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen vornehmen kann. Beispielsweise zählen die Zollunion und die gemeinsame Handelspolitik zu den ausschließlichen Kompetenzfeldern. In den europarechtlich determinierten Bereichen des Privatrechts besteht geteilte Zuständigkeit. Die Mitgliedstaaten bleiben demnach solange zur Rechtsetzung kompetent, als noch kein Unionsrecht gesetzt wurde.15 Sobald die Union tätig wird, tritt eine Art Sperrwirkung ein.16 Im Gegensatz zu den Rechtsgrundlagen, die sich in diversen materiellen Bestimmungen der Verträge finden, stellen die Artt. 2-6 AEUV selbst keine Ermächtigungsnormen dar, sondern legen die Zugehörigkeit einzelner Sachgebiete zu den unterschiedlichen Zuständigkeitskategorien fest. Die Maßnahmen der Union müssen daher stets an den konkreten über die Verträge verteilten Befugnisnormen gemessen werden.17 Neben der materiellen Rechtsetzungsbefugnis müssen die Verträge auch eine Handlungsform (z.B. Richtlinie oder Verordnung) für den Unionsgesetzgeber vorsehen. Selbst wenn eine materielle Zuständigkeit besteht und auch formell ein passendes Instrument zur Umsetzung gegeben wurde, muss sich die Union in jedem Fall an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, im Fall einer geteilten Zuständigkeit auch an das Subsidiaritätsprinzip, halten. Nach dem Subsidiaritätsprinzip18 wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der angedachten Maßnahme sinnvoll nicht auf lokaler oder regionaler Ebene erreicht werden können, sondern auf Unionsebene zu verwirklichen sind (Art. 5 Abs. 3 EUV). Bei geteilter Zuständigkeit soll nach diesem Grundsatz geklärt werden, ob die Union handlungsbefugt ist. In solchen Fällen flankieren Verhältnismäßigkeits- und Subsidiaritätsgrundsatz das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.19 Die Bedeutung dieses Grundsatzes wird sehr unterschiedlich beurteilt.20 Insgesamt wird moniert, dass es dem EuGH an Bereit15 Vgl. Trüe, Das System der Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union 360 ff. 16 Es ist hierbei allerdings noch zwischen konkurrierenden und parallelen Kompetenzen zu unterscheiden. Eine konkurrierende Kompetenz zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Sperrwirkung aus der Kompetenznorm selbst ergibt, bei einer parallelen Kompetenz kann sich diese aus dem Vorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht ergeben; siehe dazu: Nettesheim, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht2, 424 ff., 427 f. 17 Mayer/Stöger/Schima, EUV/EGV, Art. 5 EUV, Rz. 16; Lenz/Borchardt/Langguth, EUVerträge5 Art. 5 EUV, Rn. 3; Calliess/Ruffert/Calliess, EUV/AEUV4 Art. 5 EGV Rn. 12 ff. 18 Dazu monographisch: Pieper, Subsidiarität, europarechtlich besonders relevant 173 ff.; sehr kritische Beurteilung des Subsidiaritätsprinzips bei Davies, CMLRev 43 (2006), 63 ff.; deutlich positiver: Barber, ELJ 2005, 308, 321. 19 Lenz/Borchardt/Langguth, EU-Verträge5 Art. 5 EUV, Rn. 6. 20 Davies, CMLRev 43 (2006), 63 ff.; Barber, ELJ 2005, 308, 321.



A. Allgemein

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schaft mangele, sich mit der Frage der Subsidiarität auseinanderzusetzen.21 In der Praxis des Gerichtshofes fehle es dem Grundsatz daher an Biss.22 Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit23 besagt, dass die von der Union gesetzten Maßnahmen weder formal noch inhaltlich über die vertraglichen Ziele hinausgehen dürfen. Legt das Subsidiaritätsprinzip fest, ob gehandelt werden kann, so steckt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz den Rahmen des zulässigen Handelns ab. Schutzgut von Art. 5 Abs. 4 EUV ist die Autonomie der Mitgliedstaaten, die auch bei kompetenzmäßigem Handeln nur in jenem Umfang verloren gehen darf, der zur Umsetzung des konkreten Regelungsanliegens erforderlich ist.24 Der EuGH legt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit allerdings sehr weit aus. Maßnahmen sind etwa nur dann unverhältnismäßig, wenn sie zum Erreichen eines Ziels offensichtlich nicht geeignet sind.25 Die Wahl der Kompetenzgrundlage muss sich auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen, zu denen insbesondere das Ziel und der Inhalt eines Rechtsaktes gehören.26 Jedenfalls nichtig ist ein Rechtsakt, zu dessen Erlass der Union keinerlei Kompetenz übertragen wurde. Zudem muss Sekundärrecht seine Rechtsgrundlage ausdrücklich benennen oder zumindest eindeutig erkennen lassen.27 Fehlt die Benennung der Rechtsgrundlage, ist sie zu vage oder unvollständig, dann stellt dies einen wesentlichen Formmangel dar, der zur Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV berechtigt. Ein Formmangel kann dann nicht angenommen werden, wenn unter Berücksichtigung des gesamten Textes (vor allem der Erwägungsgründe) des Rechtsaktes, die Rechtsgrundlage festgestellt werden kann.28 Es lässt sich daher aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und Aspekten der Rechtssicherheit ein allgemeiner Grundsatz der Notwendigkeit der Erkennbarkeit der Rechtsgrundlage ableiten.29 II. Arten von Kompetenzen Die europarechtliche Lehre unterscheidet im Wesentlichen zwei Arten von Kompetenzgrundlagen in den Verträgen. Auf der einen Seite bestehen vertikale Vgl. Mayer/Stöger/Schima, EUV/EGV, Art. 5 EUV, Rz. 10 m.w.N. Übersicht und Analyse der Judikatur bei Schima, ÖJZ 1997, 761. 22 W.-H. Roth, EWS 2008, 401, 404. 23 Dazu jüngst: Trstenjak/Beysen, EuR 2012, 265, 267 ff. 24 SA Poiares Maduro 01.10.2009 Rs. C-58/08 (Roaming VO/Vodafone) Tz. 44; Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Bast/von Bogdandy, EUV/AEUV, Art. 5 EUV, Rn. 66. 25 Vgl. dazu m.w.N. Calliess/Ruffert/Calliess, EUV/AEUV4 Art. 5 EUV, Rn. 53. 26 EuGH 11.06.1991 Rs. C-300/89 (Titandioxid) Rn. 10. 27 EuGH 16.06.1993 Rs. C-325/91 (Frankreich/Kommission) Rn. 26. 28 EuGH 26.03.1987 Rs. 45/86 (Kommission/Rat) Rn. 9; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast/von Bogdandy, EUV/AEUV, Art. 5 EUV, Rn. 33. 29 Görisch, EuR 2007, 103, 105 f.; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast/von Bogdandy, EUV/ AEUV, Art. 5 EUV, Rn. 33. 21

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Kapitel 3: Die Rechtsetzungskompetenz der Union nach Art. 19 AEUV

bzw. branchenspezifische, auf der anderen Seite binnenmarktfinale bzw. horizontale Zuständigkeiten.30 Im Falle von vertikalen Kompetenzen übertragen die Verträge der Union teilweise ganze Wirtschaftszweige oder Politikfelder, in welchen dadurch eine umfassende Gesetzgebungszuständigkeit in einem spezifischen Bereich besteht. Ein Beispiel hierfür bildet die gemeinsame Verkehrspolitik. Davon zu unterscheiden sind horizontale Zuständigkeiten, die branchenunabhängig zur Harmonisierung ermächtigen. Eine solche Querschnittskompetenz stellt die in Art. 114 AEUV normierte Binnenmarktzuständigkeit dar.31 Sie ermöglicht ein Tätigwerden der Union zur Verwirklichung und Verbesserung des Binnenmarktes. Die Querschnittskompetenzen werden durch die Abrundungszuständigkeit des Art. 352 AEUV ergänzt. Diese ermöglicht ein Tätigwerden der Union, sofern für die Verwirklichung eines ihrer Ziele die erforderliche Kompetenz fehlt. Es wird dafür allerdings ein strenger Maßstab angelegt.

B. Art. 19 AEUV als Kompetenzgrundlage für Diskriminierungsverbote im Privatrecht Auf der Grundlage von Art. 19 AEUV wurden neben der für das Arbeitsrecht bedeutsamen RL 2000/78/EG die für das allgemeine Privatrecht eingriffsintensiven RL 2000/43/EG (Antirassismus-RL) und RL 2004/113/EG (UnisexRL) erlassen. Die Bestimmung ist als Rechtsetzungsgrundlage überaus komplex und wirft bei ihrer Interpretation einige – bisher wenig diskutierte – Fragen auf. Nicht zuletzt in Hinblick auf die geplante Richtlinie zur Gleichbehandlung, ungeachtet der Religion, Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung außerhalb des Arbeitsmarktes,32 und wegen der Sensibilität der Materie ist eine Untersuchung zur kompetenzrechtlichen Reichweite von Art. 19 AEUV von großer Bedeutung. „Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge kann der Rat im Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen“ (Art. 19 AEUV).33 Siehe: Basedow, AcP 200 (2000), 445, 474; W.-H. Roth, EWS 2008, 401, 403 unterscheidet zwischen querschnitts- (horizontalen) und branchenspezifischen (vertikalen) Kompetenzen. 31 Basedow, AcP 200 (2000), 445, 474. 32 KOM(2008) 426. 33 Hervorhebungen durch den Autor. 30

B. Art. 19 AEUV als Kompetenzgrundlage f. Diskriminierungsverbote im Privatrecht 55

Wie erörtert, handelt es sich um die Nachfolgebestimmung des Art. 13 EGV34, der durch den Vertrag von Amsterdam 1999 in das Gemeinschaftsrecht aufgenommen wurde.35 Bei der Interpretation treten insbesondere bezüglich des Anwendungsbereichs einige Schwierigkeiten auf. Es soll zunächst das Verhältnis von Art. 19 AEUV zu anderen Kompetenznormen behandelt werden, anschließend wird der Frage nach der Reichweite der Bestimmung nachgegangen. Zur Interpretation der Wendung „Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge“ stellt die Lehre einen Bezug zu Art. 18 AEUV her. Aus einem Vergleich zur Formulierung des Verbotes der Diskriminierung aufgrund der Nationalität (Art. 18 AEUV) und aus den Materialien werden einander entgegenstehende Schlüsse gezogen. Art. 18 AEUV weicht im Wortlaut dahingehend von Art. 19 AEUV ab, als von „unbeschadet besonderer Bestimmungen“ und nicht von „unbeschadet der sonstigen Bestimmungen“ die Rede ist. Von manchen wird daraus gefolgert, dass alle, nicht lediglich besondere Bestimmungen, Art. 19 AEUV vorgehen. Durch die unterschiedliche Diktion soll demnach eine allgemeine Subsidiarität von Art. 19 AEUV angeordnet sein. Er soll nur dann zur Anwendung kommen, wenn ansonsten keine Bestimmung in den Verträgen Maßnahmen gegen Diskriminierung vorsieht.36 Für Holoubek ergibt sich aus der divergierenden Wortwahl, dass Art. 19 AEUV gerade nicht subsidiär, sondern kumulativ neben andere Ermächtigungen der Verträge tritt. Durch die Textierung „unbeschadet der sonstigen Bestimmungen“ soll demnach zum Ausdruck kommen, dass Art. 19 AEUV nicht darauf Rücksicht nehmen muss, ob andere Bestimmungen zur Diskriminierungsbekämpfung in den Verträgen bestehen. Es werde dadurch die Eigenständigkeit von Art. 19 AEUV als allgemeine Antidiskriminierungsbestimmung akzentuiert.37 Zur Untermauerung wird für beide Auslegungsvarianten die Erklärung zur Schlussakte Nr. 22 zum Amsterdamer Vertrag bezüglich Personen mit Behinderungen herangezogen: „Die Konferenz kommt überein, dass die Organe der Gemeinschaft bei der Ausarbeitung von Maßnahmen nach Artikel 100a des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft38 den Bedürfnissen von Personen mit einer Behinderung Rechnung tragen.“ Epiney schließt daraus, dass ein Rückgriff auf Art. 19 AEUV nur dann möglich und erlaubt sei, wenn andere Bestimmungen keine Maßnahmen gegen Diskriminierung vorsähen. Besonders sei bei Anwendbarkeit von Art. 114 AEUV (BinnenmarktkomSiehe Kapitel 1.B.I. Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 1 ff. 36 Calliess/Ruffert/Epiney, EUV/AEUV4 Art. 19 AEUV, Rn. 3; Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 18; Flynn, CMLRev 36 (1999), 1127, 1133 f.; Bell, MJECL 6 (1999), 1, 8. 37 Schwarze/Holoubek, EU-Kommentar3 Art. 19 AEUV, Rn. 7. 38 Art. 114 AEUV (Lissabon). 34 35

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Kapitel 3: Die Rechtsetzungskompetenz der Union nach Art. 19 AEUV

petenz), Art. 19 AEUV jedenfalls nicht einschlägig.39 Holoubek entnimmt der Amsterdamer Schlussakte, dass Art. 114 AEUV für Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung gegenüber behinderten Personen weiterhin zur Anwendung komme und daher Art. 19 AEUV kumulativ neben ihn trete.40 Fraglich sei dabei, welcher Rechtsetzungsprozess Anwendung finde. Im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofes müssten die Voraussetzungen aller potentiellen Rechtsgrundlagen eingehalten sowie die Rechte des Parlaments gewahrt werden.41 Aus systematischen Erwägungen drängt sich die Ansicht auf, die sich für die allgemeine Subsidiarität von Art. 19 AEUV ausspricht. „Unbeschadet“ wird in Bezug auf Art. 18 AEUV vom EuGH42 als „vorbehaltlich“ oder „soweit nichts anderes bestimmt ist“ verstanden.43 Weshalb „unbeschadet“ im Kontext mit „besonderer Bestimmungen“ etwas anderes als im Verhältnis zu „der sonstigen Bestimmungen“ bedeuten mag, erscheint nicht klar.44 Dass dem Wort „unbeschadet“ in Art. 18 AEUV eine andere Bedeutung als im darauffolgenden, ansonsten sehr ähnlich formulierten Art. 19 AEUV zukommt, wäre kaum verständlich. Im Sinne einer systematisch-logischen Interpretation ist daher von der Subsidiarität von Art. 19 AEUV gegenüber von „sonstigen Bestimmungen“ in den Verträgen auszugehen. Bekräftigt wird dieses Argument durch die Entstehungsgeschichte von Art. 13 EGV (Art. 19 AEUV). Ursprünglich (im Dubliner Entwurf) war für Art. 13 EGV derselbe Wortlaut wie jener von Art. 12 EGV (Art. 18 AEUV) vorgesehen. Es kam erst während der niederländischen Ratspräsidentschaft im Jahre 1997 zur Änderung der Worte „besonderer Bestimmungen“ in „der sonstigen Bestimmungen“. Es ist somit in diesem Zusammenhang naheliegender anzunehmen, dass nach dem Willen des Unionsgesetzgebers der einzige Unterschied zwischen Art. 13 EGV und Art. 12 EGV war, dass Ersterer allgemein und Zweiterer beschränkt subsidiär anzuwenden ist.45 39 Calliess/Ruffert/Epiney, EUV/AEUV4 Art. 19 AEUV, Rn. 3 Fn. 7; siehe auch Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 18. 40 Schwarze/Holoubek, EU-Kommentar2 Art. 13 EGV, Rn. 3. In der 3. Auflage wird nicht mehr auf die Amsterdamer Schlussakte rekurriert, sondern auf Systematik und Telos verwiesen. Das Telos liege demnach vor allem in der eigenständigen Bedeutung der Bestimmung. Vgl. von der Groeben/Schwarze/Zuleeg, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag6 Art. 13 EGV, Rn. 15; Althoff, Die Bekämpfung von Diskriminierung aus Gründen der Rasse und der ethnischen Herkunft in der Europäischen Gemeinschaft ausgehend von Art. 13 EG 180 ff. 41 EuGH 27.09.1988 Rs. 165/87 (Harmonisierungssystem) Rn. 11; 11.06.1991 Rs. C-300/89 (Titandioxid) Rn. 13 ff. und 20; vgl. Bell, Anti-Discrimination Law and the European Union 130; Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 5 EUV, Rn. 11; ausführlich zur Mehrfachabstützung von Rechtsakten: Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag 292. 42 EuGH 14.07.1977 Rs. C-8/77 (Sagulo) Rn. 11. 43 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/von Bogdandy, EUV/AEUV, Art. 18 AEUV, Rn. 55 f. 44 So M. Meyer, Das Diskriminierungsverbot des Gemeinschaftsrechts als Grundsatznorm und Gleichheitsrecht 56. 45 Vgl. Bell, Anti-Discrimination Law and the European Union 133; Flynn, CMLRev 36 (1999), 1127, 1134; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 17.

B. Art. 19 AEUV als Kompetenzgrundlage f. Diskriminierungsverbote im Privatrecht 57

Art. 19 AEUV („unbeschadet der sonstigen Bestimmungen“) ist demnach, anders als Art. 18 AEUV („unbeschadet besonderer Bestimmungen“), grundsätzlich gegenüber allen vertraglichen Rechtsgrundlagen subsidiär – allerdings nur soweit deren Regelungsbereich reicht. Art. 19 AEUV kommt daher dann zur Anwendung, wenn sonstige Bestimmungen der Verträge keine Maßnahmen gegen Diskriminierung vorsehen.46 Einigkeit besteht darüber, dass Art. 19 AEUV als subsidiäre Bestimmung zur Bekämpfung von Diskriminierung der allgemeinen Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV vorgeht.47 Die Reichweite von Art. 19 AEUV wird durch den Passus, dass der Rat nur „im Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten“ tätig werden kann, eingeschränkt. Der Wortlaut legt nahe, dass Art. 19 AEUV zu sonstigen Bestimmungen der Verträge akzessorisch ist. Dieses Verständnis wird ebenfalls durch die Systematik der Verträge und die Entstehungsgeschichte der Bestimmungen gestärkt.48 Anders als in Art. 19 AEUV ist in Art. 18 AEUV vom Anwendungsbereich der Verträge und nicht von den der Union übertragenen Zuständigkeiten die Rede. Der sehr weit verstandene Begriff des Anwendungsbereichs der Verträge, der Art. 18 AEUV zugrunde liegt, erfasst jeden Sachverhalt mit Unionsrechtsbezug. Es muss sich nach dem EuGH lediglich um eine Situation handeln, die nicht außerhalb des Unionsrechts liegt.49 Der Entwurf für Art. 13 EGV sah noch denselben Anwendungsbereich wie für Art. 12 EGV vor. Die Bestimmung wurde dann jedoch in ihrer heutigen Fassung durch den Vertrag von Amsterdam aufgenommen.50 Es wird deutlich, dass es eine bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers war, den Anwendungsbereich von Art. 19 AEUV im Sinne seines Wortlautes enger als jenen von Art. 18 AEUV auszugestalten. Die sprachliche Abweichung gegenüber Art. 18 AEUV wäre ansonsten wahrlich unverständlich.51 Um anwendbar zu sein, setzt Art. 19 AEUV daher eine Kompetenz der Union voraus. Ein solches Verständnis legt auch ein Großteil der verschiedenen Sprachfassungen nahe.52 46 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 18; Bell, MJECL 6 (1999), 1, 8; ders., Anti-Discrimination Law and the European Union 129 f.; vgl. auch Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 19 AEUV, Rn. 3. 47 Streinz/Streinz EUV/AEUV2 Art. 19 AEUV, Rn. 4; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 21; Calliess/Ruffert/Epiney, EUV/AEUV4 Art. 19 AEUV, Rn. 4. 48 M. Meyer, Das Diskriminierungsverbot des Gemeinschaftsrechts als Grundsatznorm und Gleichheitsrecht 59. 49 Vgl. EuGH 13.02.1985 Rs. 293/83 (Gravier) Rn. 19. 50 Vgl. M. Meyer, Das Diskriminierungsverbot des Gemeinschaftsrechts als Grundsatznorm und Gleichheitsrecht 59 ff.; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 11; Schwarze/Holoubek, EU-Kommentar3 Art. 19 AEUV, Rn. 9. 51 Wernsmann, JZ 2005, 224, 229. 52 Dazu siehe Bell, MJECL 6 (1999), 1, 14; dens., Anti-Discrimination Law and the European Union 131 ff. nimmt auch auf die Debatte über die nicht ganz eindeutige englische Sprachfassung Bezug, in der von „within the limits of the powers conferred by the Treaty on the

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Kapitel 3: Die Rechtsetzungskompetenz der Union nach Art. 19 AEUV

Grundlage für das Tätigwerden des Rats im Rahmen von Art. 19 AEUV muss demzufolge eine bereits vorhandene Kompetenz der Union sein.53 Die Bestimmung verliert damit nicht ihre selbstständige Bedeutung. Es bedarf nämlich nicht einer explizit zur Setzung von Antidiskriminierungsmaßnahmen ermächtigenden Bestimmung als Grundlage. Vielmehr reicht es nach dem überwiegenden Verständnis des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung aus, wenn eine Befugnis der Union besteht, hoheitlich zu handeln.54 Allein eine Zielvorgabe in den Verträgen ist folglich nicht ausreichend.55 Die herrschende Ansicht geht des Weiteren davon aus, dass der materielle Umfang der Zuständigkeit hinreichend ist, weshalb auch das ausdrückliche Verbot einer Handlungsform nicht auf Art. 19 AEUV durchschlägt.56 Grabenwarter setzt dem entgegen, dass diese Sichtweise vor allem in Bereichen, in welchen die Union nicht zur Harmonisierung ermächtigt wird, zu einer Aushöhlung der Kompetenzordnung führen könne.57 Es erscheint richtig, dass die konkret in Anspruch genommene Kompetenzbestimmung auch die zulässigen Handlungsformen determiniert. Insbesondere in jenen Bereichen, in welchen keine Rechtsetzungsmaßnahmen zulässig sind, ist deren Setzung bei der Bekämpfung von Diskriminierung nach Art. 19 AEUV daher ebenso ausgeschlossen.58 Wird die Union auf Basis von Art. 19 AEUV tätig, kann sie das nur im Rahmen ihrer bereits vorhandenen Zuständigkeiten. Die Verträge müssen daher hoheitliche Maßnahmen der EU auf dem Gebiet zulassen, auf welchem Diskriminierung bekämpft werden soll. Es besteht somit keine allumfassende Antidiskriminierungskompetenz der Union. Union“ die Rede ist; Jochum, ZRP 1999, 279, 280 betont, dass der deutsche Wortlaut keine andere Interpretation zulasse. 53 Statt vieler: Schwarze/Holoubek, EU-Kommentar3 Art. 19 AEUV, Rn. 9; Grabitz/Hilf/ Nettesheim/Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 12; Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 19 AEUV, Rn. 3. 54 Von der Groeben/Schwarze/Zuleeg, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag6 Art. 13 EGV, Rn. 12; Flynn, CMLRev 36 (1999), 1127, 1135 f.; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 12 ff.; Wernsmann, JZ 2005, 224, 229 f.; Schwarze/Holoubek, EU-Kommentar3 Art. 19 AEUV, Rn. 9 nimmt an, dass es einer Rechtsetzungsbefugnis bedarf; dahingehend auch Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 19 AEUV, Rn. 13. 55 Von der Groeben/Schwarze/Zuleeg, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag6 Art. 13 EGV, Rn. 12; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 12. 56 Calliess/Ruffert/Epiney, EUV/AEUV4 Art. 19 AEUV, Rn. 6; Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 19 AEUV, Rn. 13. 57 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 13 ff. 58 Von der Groeben/Schwarze/Zuleeg, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag6 Art. 13 EGV, Rn. 12, geht weiters davon aus, dass nicht zwingend eine Rechtsetzungskompetenz der Union vorliegen müsse. Der Rat sei ermächtigt, gemäß Art. 13 EGV (ebenso Art. 19 AEUV) „Vorkehrungen“ zu treffen. Dieser Terminus schließe Rechtsetzung ein, sei aber weiter zu verstehen. Ermächtige eine Kompetenz demnach die Union zur Förderung gewisser Agenden, so könne auch der Diskriminierungsschutz in diesem Bereich gefördert werden. Als Beispiel nennt Zulegg die Zuständigkeit der Union im Bereich der Kultur nach Art. 151 EGV (Art. 167 AEUV).

B. Art. 19 AEUV als Kompetenzgrundlage f. Diskriminierungsverbote im Privatrecht 59

Die Akzessorietät von Art. 19 AEUV ist von der Subsidiarität zu anderen Ermächtigungsgrundlagen zu trennen. Primär stellt sich demzufolge die Frage, ob eine Kompetenznorm in ihrem Anwendungsbereich zur Bekämpfung von Diskriminierung berechtigt. Ist dies nicht der Fall, kann Art. 19 AEUV einschlägig sein. Art. 19 AEUV gestattet dem Rat allerdings nur dann tätig zu werden, sofern eine Sachzuständigkeit der Union, wenn auch nicht zur Bekämpfung von Diskriminierung, besteht. Es ist, falls bereits eine primäre Kompetenznorm (beispielsweise Art. 114 AEUV) ein Diskriminierungsverbot legitimiert, folglich mit der herrschenden Ansicht anzunehmen, dass diese und nicht Art. 19 AEUV zur Anwendung gelangt (allgemeine Subsidiarität). Das hindert aber nicht daran, Art. 19 AEUV eingreifen zu lassen, wenn eine Situation vorliegt, in der die Union zwar zur Setzung von Sekundärrecht ermächtigt ist, nicht aber zur Bekämpfung einer spezifischen Diskriminierung (Akzessorietät). Die Suche nach einer Ermächtigungsgrundlage für Art. 19 AEUV beginnt somit erst nach der Beantwortung der Frage, ob nicht schon eine speziellere Norm eingreift. Wirft man einen Blick auf die im Privatrecht besonders bedeutsamen Antidiskriminierungsrichtlinien, so fällt auf, dass als ihre Rechtsgrundlage allein Art. 19 AEUV angegeben wurde. Aufgrund der Akzessorietät von Art. 19 AEUV ist es jedoch unzureichend, wenn sich ein Rechtsakt allein auf ihn stützt. Nur im Rahmen der durch die Mitgliedstaaten an die Union übertragenen Zuständigkeiten können Diskriminierungsverbote vom Unionsgesetzgeber erlassen werden. Es müsste daher als Ausfluss des Grundsatzes der beschränkten Einzelermächtigung und aus Rechtssicherheitserwägungen angegeben werden, welche Ermächtigungsgrundlage in Verbindung mit Art. 19 AEUV die Setzung von Sekundärrecht der Union ermöglicht. Aus den Richtlinien geht einzig hervor, dass innerhalb der übertragenen Kompetenzen gehandelt und das Subsidiaritätsprinzip eingehalten wurde.59 Der Inhalt und die Ziele der Richtlinien lassen nicht zweifelsfrei darauf schließen, in Verbindung mit welcher Kompetenznorm Art. 19 AEUV zur Anwendung gelangt sein könnte. Der Bezug auf Art. 19 AEUV und das Subsidiaritätsprinzip alleine sind als Rechtsgrundlage zum Erlass einer Richtlinie jedenfalls zu vage.60 Die Benennungspflicht der richtigen Rechtsgrundlage ist ein Fall des Art. 296 Abs. 2 AEUV.61 Demnach sind alle Rechtsakte mit einer Begründung 59 Riesenhuber/Franck, JZ 2004, 529, 530, merken zu Recht in diesem Zusammenhang an, dass es zweifelhaft erscheine, dass eine solche dynamische Verweisung den kompetenziellen Schranken der Verträge genüge; so auch Althoff, Die Bekämpfung von Diskriminierung aus Gründen der Rasse und der ethnischen Herkunft in der Europäischen Gemeinschaft ausgehend von Art. 13 EGV 175; vgl. auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast/von Bogdandy, EUV/AEUV, Art. 5 EUV, Rn. 33. 60 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast/von Bogdandy, EUV/AEUV, Art. 5 EUV, Rn. 33. 61 Vgl. noch zu Art. 190 EWGV: EuGH 20.09.1988 Rs. 203/86 (Kommission/Spanien) Rn. 36 ff.; siehe auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast/von Bogdandy, EUV/AEUV, Art. 5 EUV, Rn. 33.

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Kapitel 3: Die Rechtsetzungskompetenz der Union nach Art. 19 AEUV

zu versehen. Sie haben auch auf die in den Verträgen vorgesehenen Vorschläge, Initiativen, Empfehlungen, Anträge oder Stellungnahmen Bezug zu nehmen. Kommt der Unionsgesetzgeber seiner Begründungspflicht (bzw. Benennungspflicht) nicht in ausreichendem Maße nach, liegt ein wesentlicher Formmangel vor.62 Ein derartiger Fehler könnte zur Nichtigkeit der bisher erlassenen Richtlinien führen. Jedenfalls legitimiert er zur Nichtigkeitsklage. Ob eine Klage nach Art. 263 AEUV tatsächlich die Nichtigkeit der erlassenen Rechtsakte zum Resultat hätte oder ob der Gerichtshof in der nicht korrekten Angabe der Ermächtigungsnorm lediglich einen bloßen Formfehler sieht, ist kaum prognostizierbar. Die unrichtige Rechtsgrundlage hätte zwar unter Umständen keinen Einfluss auf den Willensbildungsprozess, oder hätte zu einem im Vergleich strengeren geführt63 – dies spricht tendenziell gegen eine Aufhebung64 –, allerdings ist die Rechtsprechung des EuGH dahingehend nicht eindeutig.65 Die vom Gerichtshof entschiedenen Fälle betrafen Rechtsakte, die anstatt auf eine fälschlicherweise auf zwei Rechtsgrundlagen gestützt wurden.66 Dies führte nicht zu einem anderen Gesetzgebungsverfahren und wurde daher als bloßer Formfehler abgetan. Lienbacher vertritt in diesem Zusammenhang, dass die Wahl der falschen Rechtsgrundlage einen wesentlichen und daher zur Nichtigkeit des angefochtenen Rechtsaktes führenden Formmangel darstelle. Lediglich in den genannten, vom EuGH entschiedenen Konstellationen sei von einem bloßen Formgebrechen auszugehen. Das Fehlen, die Unvollständigkeit oder die Ungenauigkeit der Angabe der Rechtsgrundlage sei jedenfalls eine wesentliche Verletzung der Formvorschriften, weil dadurch weder für Betroffene noch den EuGH nachvollziehbar sei, worin die Basis für einen Rechtsakt liege.67 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr, EUV/AEUV, Art. 263 AEUV, Rn. 169 ff. Wenn man davon ausgeht, dass Art. 19 AEUV das Gesetzgebungsverfahren ohnehin vorgegeben hätte, dann ändert sich nichts am Gesetzgebungsverfahren. Allerdings erscheint es nicht ausgeschlossen, dass unter Berücksichtigung der Akzessorietät von Art. 19 AEUV die ergangenen RL auf eine andere Kompetenznorm gestützt würden, welche ein anderes, wohl aber im Vergleich zu Art. 19 AEUV weniger strenges, Gesetzgebungsverfahren vorgesehen hätten. 64 EuGH 26.03.1987 Rs. 45/86 (Kommission/Rat) Rn. 12; 27.09.1988 Rs. 165/87 (Harmonisierungssystem) Rn. 19; 13.07.1995 Rs. C-350/92 (Spanien/Rat); 14.12.2004 Rs. C-210/03 (Swedish Match) Rn. 44. 65 EuGH 26.03.1987 Rs. 45/86 (Kommission/Rat) Rn. 12; 27.09.1988 Rs. 165/87 (Harmonisierungssystem); 13.07.1995 Rs. C-350/92 (Spanien/Rat);14.12.2004 Rs. C-210/03 (Swedish Match) Rn. 44; 02.05.2006 Rs. C-436/03 (Parlament/Rat) Rn. 44; siehe allerdings EuGH 10.01.2006 Rs. C-94/03 (Kommission/Rat), hier geht der EuGH von der Nichtigkeit des angefochtenen Rechtsaktes aus, obwohl sich das Verfahren, insbesondere die Rechte des EP, nicht geändert hätten. In den SA vertrat GA Kokott im Lichte der bisherigen Rechtsprechung, dass es sich in casu um einen bloßen Verfahrensmangel handle, der nicht zur Nichtigkeit führen könne; vgl. Görisch, EuR 2007, 103, 105; Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar3 Art. 5 EUV, Rn. 14. 66 Beispielsweise: EuGH 14.12.2004 Rs. C -210/03 (Swedish Match) Rn. 44. 67 Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar3 Art. 5 EUV, Rn. 14; ähnlich Görisch, EuR 2007, 103, 105. 62 63

C. Mögliche Unionskompetenzen in Verbindung mit Art. 19 AEUV

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Demzufolge vermag auch das Argument, dass sich wohl das Gesetzgebungsverfahren nicht geändert hätte, die Möglichkeit einer Nichtigerklärung der bisher auf der Basis von Art. 19 AEUV erlassenen Richtlinien nicht gänzlich zu entkräften. Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass im Europäischen Antidiskriminierungsrecht mit Art. 19 AEUV eine eigene Ermächtigungsgrundlage geschaffen wurde. Diese ist allerdings gegenüber anderen Bestimmungen, die das Erlassen von Rechtsakten gegen Diskriminierung ermöglichen, subsidiär. Von der Subsidiarität ist die Akzessorietät der Bestimmung zu unterscheiden. Nach Art. 19 AEUV ist die Union nur soweit ihre Kompetenzen in einer bestimmten Materie reichen zusätzlich ermächtigt, Rechtsakte gegen Diskriminierung zu erlassen. Trotz allgemeiner Subsidiarität ist die Bestimmung daher keinesfalls überflüssig. Aus der Benennungspflicht bzw. dem Grundsatz der Erkennbarkeit der Rechtsgrundlage ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber die konkrete Rechtsgrundlage eines Unionsrechtsaktes benennen muss. Wird dieser Pflicht nicht nachgekommen und lässt sich nicht eindeutig aus dem betroffenen Rechtsakt erkennen, welche Zuständigkeit die Union ausübt, so liegt ein Formmangel vor. Kommt es zu einer Anfechtung des Rechtsaktes nach Art. 263 AEUV, kann dies die Nichtigkeit desselben zur Folge haben. Die Richtlinien, die auf der Grundlage von Art. 19 AEUV erlassen wurden, benennen auch nur ihn als Rechtsgrundlage. Wie gezeigt wurde, ist dies allein nicht ausreichend. Vielmehr müsste eine weitere Rechtsgrundlage in Verbindung mit Art. 19 AEUV angegeben werden. Die bisher auf der Basis von Art. 19 AEUV ergangenen Richtlinien, insbesondere die RL 2000/43/EG und die RL 2004/113/EG, sind daher aus kompetenzrechtlicher Sicht höchst problematisch. Welche Konsequenzen dies nach sich ziehen wird und ob es gar aufgrund einer Nichtigkeitsklage zur Aufhebung der erlassenen und (zum Teil sehr widerwillig) umgesetzten Rechtsakte kommt, ist anhand der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes schwer vorauszusehen. Es zeigt sich jedoch deutlich, dass die relativ jungen Europäischen Diskriminierungsverbote im Privatrecht kompetenzrechtlich noch auf recht wackligen Beinen stehen.

C. Mögliche Unionskompetenzen in Verbindung mit Art. 19 AEUV Im Folgenden werden mögliche Rechtsgrundlagen, in deren Rahmen Art. 19 AEUV Maßnahmen ermöglicht, untersucht. Zunächst sollen dazu die für die Setzung von Diskriminierungsverboten im Privatrecht einschlägigen Zuständigkeitsnormen analysiert werden. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Frage, ob eine konkrete Unionskompetenz in Verbindung mit Art. 19 AEUV oder für sich genommen zur Rechtsetzung im Bereich des Diskriminierungsschutzes

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Kapitel 3: Die Rechtsetzungskompetenz der Union nach Art. 19 AEUV

inter privatos ermächtigt. Von Bedeutung ist dies zum einen im Hinblick auf zukünftige Rechtsakte, andererseits wird damit die Reichweite der Rechtsetzungssetzungskompetenz für Diskriminierungsverbote im Privatrecht abgesteckt. Vor allem ist es aber unerlässlich, dass derart umstrittene und für die Privatautonomie eingriffsintensive Rechtsakte auf einem kompetenzrechtlich soliden Fundament aufbauen. Klar muss vorweg sein, dass Art. 19 AEUV nicht die einzige Norm ist, die zur Setzung von Diskriminierungsverboten ermächtigt. Es handelt sich schließlich um eine subsidiäre Rechtsgrundlage. Erst wenn eine andere Bestimmung nicht selbst zur Bekämpfung von Diskriminierung ermächtigt, kann Art. 19 AEUV eingreifen.68 I. Die Binnenmarktkompetenz nach Art. 114 AEUV 1. Allgemein Art. 114 AEUV eröffnet eine auf die Verwirklichung des Binnenmarktes gerichtete Rechtsetzungskompetenz. Dieser Rechtsgrundlage kommt bei der Privatrechtsvereinheitlichung größte Bedeutung zu.69 Der Unionsgesetzgeber ist dazu ermächtigt, Maßnahmen, die das Funktionieren und die Errichtung des Binnenmarktes zum Inhalt haben, zur Angleichung des nationalen Rechts zu erlassen. Ausgenommen sind die Gebiete des Steuerrechts, der Freizügigkeit und Bestimmungen über Rechte und Pflichten der Arbeitnehmer (Abs. 2). Für diese Bereiche bestehen allerdings mittlerweile weitestgehend eigene Zuständigkeiten.70 Der Wortlaut von Art. 114 AEUV ordnet weiters seine Subsidiarität gegenüber anderen Kompetenzbestimmungen, deren Fokus auf der Verwirklichung des Binnenmarktes liegt, an. Besonders hinzuweisen ist neben den allgemeinen, im Verhältnis zu Art. 114 AEUV spezielleren, Kompetenzen zur Verwirklichung der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit auf Art. 50 Abs. 2 lit. g AEUV. Diese Bestimmung ermöglicht es der Union, Schutzvorschriften für Gesellschafter und Gläubiger von Gesellschaften soweit erforderlich zu koordinieren.71 Die Binnenmarktkompetenz spielt bei der Harmonisierung des Verbraucherschutzrechts eine sehr wichtige Rolle. Nach Art. 169 Abs. 2 lit. a AEUV kann die Union Maßnahmen treffen, um ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten und die Interessen der Verbraucher zu fördern. Diese müssen sich allerdings im Rahmen von Art. 114 AEUV befinden. Bei der Harmonisierung 68 M. Meyer, Das Diskriminierungsverbot des Gemeinschaftsrechts als Grundsatznorm und Gleichheitsrecht 62. 69 Monographisch: Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag. 70 Beispielsweise Artt. 45 und 48 AEUV für die Arbeitnehmerfreizügigkeit; vgl. dazu: Streinz/Leible/Schröder EUV/AEUV2 Art. 114 AEUV, Rn. 12; die Bereichsausnahme für besonders sensible Gebiete hat damit insgesamt keine große Bedeutung. 71 Streinz/Müller-Graff, EUV/AEUV2 Art. 50 AEUV, Rn. 18.

C. Mögliche Unionskompetenzen in Verbindung mit Art. 19 AEUV

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des Verbraucherrechts steht zumeist nicht allein das Ziel der Verwirklichung des Binnenmarktes im Vordergrund. Es ergibt sich allerdings bereits aus dem Wortlaut und der Systematik von Art. 169 AEUV72, dass eine Funktionsstörung des Binnenmarktes Voraussetzung für die Eröffnung dieser Rechtsetzungskompetenz ist.73 Zur heiklen Frage, wann eine Maßnahme auf Art. 114 in Verbindung mit Art. 169 Abs. 2 lit. a AEUV gestützt werden kann und wann der Konnex zur Funktionalität des Binnenmarktes zu schwach ist, hat der EuGH in der Tabakwerbungsentscheidung74 Stellung bezogen.75 In concreto handelte es sich um die Parallelproblematik des Verhältnisses von Art. 114 AEUV zur Zuständigkeit im Gesundheitsschutz des Art. 168 AEUV.76 Der Gerichtshof führte aus, dass Art. 114 AEUV nicht als Kompetenzgrundlage herangezogen werden könne, sollten mit einer Maßnahme nicht reale Handelshindernisse oder spürbare Wettbewerbsverzerrungen beseitigt werden.77 Insbesondere reichen das Vorliegen unterschiedlicher nationaler Regelungen und eine abstrakte Gefahr für die Grundfreiheiten nicht aus.78 Um Maßnahmen nach Art. 169 Abs. 2 lit. a AEUV setzen zu können, muss demnach immer der Anwendungsbereich von Art. 114 AEUV eröffnet sein. Zielt eine Regelung nicht in erforderlichem Maße auf die Bekämpfung von Hemmnissen für die Grundfreiheiten oder spürbare Wettbewerbsverzerrungen ab, dann sind lediglich unterstützende Maßnahmen im Sinne von Art. 169 Abs. 2 lit. b zulässig.79 Bei Art. 169 Abs. 2 lit. a AEUV handelt es sich somit nicht um eine eigene Kompetenzgrundlage. Es wird vielmehr (erneut) darauf hingewiesen, dass bei der Verwirklichung des Binnenmarktes ein hohes Verbraucherschutzniveau angestrebt wird.80 Dass für die Eröffnung der im Privatrecht äußerst bedeutsamen Kompetenzgrundlage des Art. 114 AEUV ein gewisser Binnenmarktbezug notwendig ist, 72 „Die Union leistet einen Beitrag zur Erreichung der in Abs. 1 genannten Ziele durch a) Maßnahmen, die sie im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarktes nach Art. 114 AEUV erlässt; b) Maßnahmen zur Unterstützung, Ergänzung und Überwachung der Politik der Mitgliedstaaten.“ Fehlt demnach der geforderte Binnenmarktbezug, dann sind lediglich unterstützende Maßnahmen gemäß lit. b möglich. 73 Grigoleit, AcP 210 (2010), 354, 373; W.-H. Roth, EWS 2008, 401, 405. 74 EuGH 05.10.2000 Rs. C-376/98 (Tabakwerbeverbot). 75 Siehe dazu Streinz/Lurger, EUV/AEUV2 Art. 169 AEUV, Rn. 26 und Rn. 30. 76 Der Rechtssatz ist allerdings nach h.A. ebenso für das Verhältnis zwischen Art. 169 Abs. 2 lit. a und lit. b heranzuziehen: Grabitz/Hilf/Nettesheim/Pfeiffer, EUV/AEUV, Art. 169 AEUV, Rn. 33; Streinz/Lurger, EUV/AEUV2 Art. 169 AEUV, Rn. 26. 77 EuGH 05.10.2000 Rs. C-376/98 (Tabakwerbeverbot) Rn. 91; siehe auch Grabitz/Hilf/ Nettesheim/Pfeiffer, EUV/AEUV, Art. 169 AEUV, Rn. 33 78 EuGH 05.10.2000 Rs. C-376/98 (Tabakwerbeverbot) Rn. 84; 12.12.2006, Rs. C-380/03 (Deutschland/Parlament und Rat) Rn. 37. 79 A.A. Micklitz/Reich, EuZW 1993, 593, 596. 80 Art. 114 Abs. 3 AEUV sieht dies bereits vor, weshalb zu Recht in der Literatur darauf hingewiesen wird, dass es sich bei Art. 169 Abs. 2 lit. a) lediglich um eine Klarstellung handelt; Calliess/Ruffert/Krebber, EUV/AEUV4 Art. 5 EUV Rn. 14.

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leuchtet ein. Doch wann trägt eine Regel zur Errichtung und Verbesserung der Funktionsbedingungen des Binnenmarktes bei und wo liegen die Grenzen dieser Zuständigkeit? Zur Beantwortung kann erneut auf das Urteil des EuGH zum Tabakwerbeverbot rekurriert werden.81 Im Allgemeinen betont der Gerichtshof, dass es nicht genüge, die Existenz unterschiedlicher nationaler Regelungen festzustellen und aufgrund der damit verbundenen abstrakten Gefährdung der Grundfreiheiten Rechtsangleichung zu betreiben.82 Die Binnenmarktkompetenz weist zunächst sowohl eine subjektive als auch eine objektive Komponente auf. Der Unionsgesetzgeber muss demnach bei der Erlassung einer Regelung, die er auf Art. 114 AEUV stützt, davon ausgehen, dass die Binnenmarktziele dadurch verwirklicht werden. Die subjektive Binnenmarktrelevanz prüft der Gerichtshof anhand der Erwägungsgründe.83 Allerdings soll die Wahl der Rechtsgrundlage – wenig verwunderlich – nicht nur von den Vorstellungen des rechtsetzenden Organs, welches Ziel eine Regelung anstrebt, abhängen. Sie hat sich vielmehr auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände zu gründen.84 Es ist hierbei zwischen spürbaren Wettbewerbsverzerrungen und Hemmnissen der Grundfreiheiten zu unterscheiden.85 Klar ist damit auch, dass keine schrankenlose Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes besteht. Der Gerichtshof definiert spürbare Wettbewerbsverzerrungen dahingehend, als zwar unterschiedliche Vorschriften bezüglich der Produktionsmodalitäten eine Angleichung der Rechtsvorschriften rechtfertigen könnten, jedoch unterschiedlich restriktive Werberegelungen nicht zu einer spürbaren Verzerrung des Wettbewerbs führen, weil sie ihn nur entfernt tangierten – obwohl dies zu einer Begünstigung von beispielsweise Werbeagenturen, die in jenen Mitgliedstaaten mit liberaleren Werberegelungen ansässig sind, führen könne.86 In Hinblick auf die vom Gerichtshof geforderten Hemmnisse für die Grundfreiheiten wird von der herrschenden Lehre die sogenannte Gleichklang-These vertreten.87 Es wird angenommen, dass der Anwendungsbereich von Art. 114 EuGH 05.10.2000 Rs. C-376/98 (Tabakwerbeverbot). EuGH 05.10.2000 Rs. C-376/98 (Tabakwerbeverbot) Rn. 84; siehe auch W.-H. Roth, EWS 2008, 401, 408. 83 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje, EUV/AEUV, Art. 114 AEUV, Rn. 95. 84 EuGH 11.6.1991 Rs. C-300/89 (Titandioxid) Rn. 10. 85 EuGH 05.10.2000 Rs. C-376/98 (Tabakwerbeverbot) Rn. 96 ff., 106 ff.; es handelt sich dabei um alternative, nicht um kumulative Voraussetzungen: EuGH 10.12.2002 Rs. C-491/01 (British American Tobacco), Rn. 60. 86 EuGH 05.10.2000 Rs. C-376/98 (Tabakwerbeverbot) Rn. 109; Ludwigs, EuR 2006, 370, 387 ff.; vgl. W.-H. Roth, EWS 2008, 401, 408. 87 Grundlegend Weiler, in: Craig/De Burca (Eds.), The Evolution of EU Law 349, 372; Steindorff, ZHR 158 (1994), 149, 168; von Bogdandy/Bast, EuGRZ 2001, 441, 449 beachtenswert Fn. 93; a.A. W.-H. Roth, EWS 2008, 401, 409; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht2 § 5 Rn. 149; zum Meinungsstand vgl.: Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EGVertrag 196. 81 82

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AEUV und jener der Grundfreiheiten im Sinne der Keck-Rechtsprechung88 gleichgeschaltet sind. Die Begründung der Gleichklang-These lässt sich vereinfacht folgendermaßen darstellen: Wo es an Hemmnissen der Grundfreiheiten, die den Binnenmarkt konstituieren, fehlt, kann es auch nicht zur Förderung des Binnenmarktes erforderlich sein, Maßnahmen zu erlassen. Unbestreitbarer Vorteil dieser Konzeption ist, dass bei Unklarheiten um die Reichweite der Binnenmarktkompetenz auf die sehr detailliert entwickelte Dogmatik zu den Grundfreiheiten gegriffen werden kann.89 Bei Verkaufsmodalitäten, die im Sinne der Keck-Rechtsprechung nicht mehr unter das Verbot der mengenmäßigen Beschränkungen des Art. 34 AEUV fallen, liegt demnach keine Rechtsetzungskompetenz der Union vor.90 2. Binnenmarktkompetenz und Art. 19 AEUV: Zwei mögliche Ansätze Hinsichtlich eines Zusammenspiels von Art. 19 AEUV und der Binnenmarktkompetenz erscheint es zunächst fraglich, ob es zu einem solchen überhaupt kommen kann.91 Es liegt nahe, pauschal davon auszugehen, dass Art. 19 AEUV sozialpolitisch motiviert ist und kaum einen Bezug zum Binnenmarkt aufweist.92 Dieser Einwand ist in Hinblick auf die Antirassismus- und die Unisex-RL, vor allem aufgrund der kompetenzrechtlichen Eigenheiten von Art. 19 AEUV und seines weiten Spektrums, jedenfalls nicht unumstößlich. Das Verbot beim Zugang und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen aufgrund der Rasse oder des Geschlechts zu diskriminieren, verwirklicht sich zunächst nicht ausschließlich in grenzüberschreitenden Sachverhalten. Es wäre im Lichte der EuGH-Rechtsprechung in Test Achats93 zur Unisex-RL ebenso unzulässig, würde eine in Österreich niedergelassene Versicherung einem Österreicher (wohnhaft in Österreich) einen höheren Tarif in der Lebensversicherung berechnen, als einer Österreicherin, sofern sich die Höhe des Tarifs EuGH 24.11.1993 verb. Rs. C-267/91 et al. (Keck). von Bogdandy/Bast, EuGRZ 2001, 441, 449. 90 Calliess/Ruffert/Kahl, EUV/AEUV4 Art. 114 AEUV, Rn. 21; von Bogdandy/Bast, EuGRZ 2001, 441, 449; Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag 196; a.A. W.-H. Roth, EWS 2008, 401, 410; Grigoleit, AcP 210 (2010), 354, 367 f.; Trüe, Das System der Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union 266 f. 91 Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht 261, geht davon aus, dass Art. 13 EGV (Art. 19 AEUV) eine gewisse Abrundungszuständigkeit zur Binnenmarktkompetenz zukomme, konkretisiert dies aber nicht weiter. 92 Basedow. ZEuP 2008, 230, 236 ff stellt fest, dass Diskriminierungsverbote, die auf die Verwirklichung eines europäischen Sozialmodells abzielen, wie jenes der Entgeltsgleichheit bei Männern und Frauen, nicht mehr auf den Binnenmarkt bezogen sind, geht allerdings nicht auf die kompetenzrechtliche Stellung von Art. 19 AEUV diesbezüglich ein. Das spricht aber nicht zwingend gegen ein Abstützen gewisser Diskriminierungsverbote auf Art. 114 AEUV i.V.m. Art. 19 AEUV. 93 EuGH 01.03.2011 Rs. C-236/09 (Test Achats). 88 89

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aus dem Kriterium des Geschlechts ergibt. In diesem Kontext stellt sich daher eine grundlegende Frage zum Anwendungsbereich der Binnenmarktkompetenz: Darf sich eine Rechtsvereinheitlichungsmaßnahme, die das Funktionieren des Binnenmarktes ermöglichen oder verbessern soll, auch auf rein nationale Sachverhalte erstrecken?94 Dies kann grundsätzlich dann bejaht werden, wenn es Sinn und Zweck einer Regelung ist, grenzüberschreitende Sachverhalte zu regeln und es dafür auch nötig ist, innerstaatliche Sachverhalte mit einzubeziehen. In den meisten Fällen wird sich eine sinnvolle Trennung der internationalen von der nationalen Dimension ohnehin abstrakt nicht treffen lassen.95 Wo dies nicht der Fall ist, werden allerdings durchaus schwierige Interessenabwägungen notwendig. Es stellt sich des Weiteren ein Problem, das in der Struktur von Art. 114 AEUV angelegt ist. Um einschlägig zu sein, müssen für die Binnenmarktkompetenz Hemmnisse der Grundfreiheiten oder spürbare Wettbewerbsverzerrungen vorliegen. Bestehen diese wegen Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts oder der Rasse, bietet die Binnenmarktkompetenz allerdings selbst die Möglichkeit, Regeln zu erlassen, um die Ziele des Art. 26 AEUV (Binnenmarkt) zu erreichen. Da Art. 19 AEUV gegenüber anderen Bestimmungen der Verträge jedenfalls subsidiär ist, käme er nicht zur Anwendung.96 Andererseits besteht erst gar keine Zuständigkeit nach Art. 114 AEUV, die für die Eröffnung der Kompetenz von Art. 19 AEUV wegen seiner Akzessorietät wiederum Voraussetzung wäre, sollte keine Funktionsstörung des Binnenmarktes vorliegen. Bei Art. 114 AEUV handelt es sich um eine finale Querschnittskompetenz. Es besteht keine sachgegenständliche Eingrenzung des Tatbestands, vielmehr hat eine Konkretisierung des Anwendungsbereichs allein in Hinblick auf das Binnenmarktziel zu erfolgen.97 Der eigenständige Regelungsbereich von Art. 19 AEUV liegt darin, dass er auch dann zur Bekämpfung von Diskriminierung ermächtigt, wenn dies vom materiellen Umfang der sonstigen Kompetenz nicht vorgesehen ist, aber dennoch eine Zuständigkeit der Union vorliegt.98 Für Art. 114 AEUV ließe sich argumentieren, dass der materielle Umfang allein im 94 Stalder, Antidiskriminierungsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 13 EG-Vertrag – unter besonderer Berücksichtigung der Rassismusbekämpfung und des Minderheitenschutzes – 64: Die Grundfreiheiten seien für Maßnahmen nach Art. 13 EGV von untergeordnetem Interesse, weil sie ein „grenzüberschreitendes“ Moment verlangten. Andererseits räumt die Autorin an anderer Stelle ein, dass möglicherweise Art. 95 EGV zur Harmonisierung der unterschiedlichen Antidiskriminierungsmaßnahmen in den Mitgliedstaaten gereicht hätte, siehe dazu 21. 95 W.-H. Roth, EWS 2008, 401, 413 betont, dass es sich nicht um eine Einzelfallentscheidung handeln könne, sondern dass eine Entscheidung in Hinblick auf die verfolgten allgemeinen Interessen und deren Verwirklichung getroffen werden müsse. 96 Vgl. zur Subsidiarität von Art. 19 Calliess/Ruffert/Epiney, EUV/AEUV4 Art. 19 AEUV, Rn. 3; a.A. allerdings Schwarze/Holoubek, EU-Kommentar3 Art. 19 AEUV, Rn. 6 ff. 97 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje, EUV/AEUV, Art. 114 AEUV, Rn. 126. 98 Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 19 AEUV, Rn. 14.

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Erreichen des Ziels (Binnenmarkt) besteht. Eine Konstellation, in der Diskriminierung zur Erreichung der Binnenmarktziele bekämpft werden muss, ohne dass Art. 114 AEUV dazu ermächtigt, obwohl dennoch im Rahmen von Art. 114 AEUV gehandelt wird, ist meines Erachtens – strenggenommen – ausgeschlossen. Dieser Ansatz würde allgemein dazu führen, dass Art. 19 AEUV in Verbindung mit branchenübergreifenden Querschnittskompetenzen nicht als Befugnisnorm zur Anwendung gelangen könnte. Ein solches Verständnis führt zu einem an sich nachvollziehbaren, jedoch restriktiven Resultat. Art. 19 AEUV hätte, vor allem betreffend Diskriminierungen mit einem gewissen Binnenmarktbezug, keinen Anwendungsbereich.99 Ob, das auf Art. 19 AEUV aufbauende Sekundärrecht im genuinen Anwendungsbereich von Art. 114 AEUV liegt und dieser somit als Grundlage für besagte Diskriminierungsverbote dienen könnte, ist ebenso mehr als zweifelhaft. Schließlich handelt es sich um Diskriminierungsverbote, die zumindest nicht vorrangig die Verwirklichung des Binnenmarktes zum Ziel haben.100 Letztlich bliebe die Ausweichkompetenz nach Art. 352 AEUV als Zuständigkeit, in deren Rahmen nach Art. 19 AEUV Diskriminierung beim Zugang zu und der Versorgung mit Waren und Dienstleistungen bekämpft werden könnte.101 Man sollte jedoch zuvor noch einen alternativen Lösungsansatz ins Kalkül ziehen. Eine Kompetenzgrundlage für binnenmarktaffine Diskriminierungsverbote könnte sich folgendermaßen gestalten: Der sehr weite Binnenmarktbegriff bringt es mit sich, dass geradezu jeder Akt der Union einen gewissen Bezug dazu aufweist.102 Meist zielen, sich auf Art. 114 AEUV gründende, Maßnahmen auch auf andere Sachbereiche ab. Dies ergibt sich schon allein aus dem Gebot, bei der Verwirklichung des Binnenmarktes auch andere Vertragsziele zu beachten. Es dienen daher beinahe alle binnenmarktfinalen Harmonisierungsmaßnahmen auch anderen Vertragszielen.103 Als Beispiel dafür eignen sich etwa die auf Art. 114 AEUV gestützten Richtlinien im Verbraucherrecht. Art. 3 Abs. 3 EUV macht den Schutz vor Ausgrenzung und die soziale Gerechtigkeit zu klaren Unionszielen. Des Weiteren weist Art. 8 AEUV darauf hin, dass die Union bei all ihren Tätigkeiten darauf hinwirkt, Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern zu beseitigen. 99 Bereits in einer frühen Untersuchung des Anwendungsbereichs von Art. 13 EGV kommt M. Meyer, Das Diskriminierungsverbot des Gemeinschaftsrecht als Grundsatznorm und Gleichheitsrecht 62 zu dem unbefriedigenden Schluss, dass von den hohen Erwartungen, aufgrund von Subsidiarität, fehlender unmittelbarer Wirkung und der strengen Bindung an bereits bestehenden Unionszuständigkeiten wenig übrig geblieben sei und man fast von einer eher politischen Signalwirkung der Bestimmung ausgehen müsse. 100 Vgl. Basedow, ZEuP 2008, 230, 236 ff. 101 Dazu ausführlich weiter unten unter II. 102 Streinz/Leible/Schröder, EUV/AEUV2 Art. 114 AEUV, Rn. 47. 103 Streinz/Leible/Schröder, EUV/AEUV2 Art. 114 AEUV, Rn. 47.

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Die Binnenmarktverwirklichung muss jedoch den Schwerpunkt einer Regelung nach Art. 114 AEUV ausmachen.104 Ist dies nicht der Fall, muss ergänzend eine weitere Rechtsgrundlage herangezogen werden.105 Wenn ein Rechtsakt mehr als ein Ziel verfolgt, die Ziele untrennbar miteinander verbunden sind und keines von ihnen dem anderen untergeordnet ist, dann ist ein Abstützen auf mehr als eine Rechtsgrundlage zulässig.106 Diesem Konzept folgend wäre es denkbar, Diskriminierungsverbote im Nahebereich der Verwirklichung des Binnenmarktes auf Art. 114 AEUV und aufgrund des ebenso angestrebten Diskriminierungsschutzes auf Art. 19 AEUV zu stützen. Dies kommt der von Holoubek vertretenen Ansicht, dass Art. 19 AEUV nicht subsidiär gelte, sondern insbesondere kumulativ zur Binnenmarktkompetenz herangezogen werden könne, nahe.107 Der Unterschied besteht darin, dass in beschriebener Konstellation Art. 114 AEUV allein nicht zur Bekämpfung von Diskriminierung ermächtigt, weil der Schwerpunkt nicht im vom EuGH geforderten Maße auf der Verwirklichung des Binnenmarktes liegt. Art. 19 AEUV würde als akzessorische, aber auch notwendige Sachkompetenz kumulativ hinzutreten. Ein Zusammenspiel von Art. 19 AEUV und Art. 114 AEUV ist somit dahingehend vorstellbar, als keine der beiden Bestimmungen für sich genommen einen Sekundärrechtsakt stützen könnte. Art. 19 AEUV wegen seiner Akzessorietät und Art. 114 AEUV aufgrund des nicht ausreichenden Binnenmarktbezuges. In einer derartigen Konstellation könnte ein Rechtsakt kumulativ auf Art. 19 AEUV und Art. 114 AEUV gestützt werden. Dies ändert jedoch nichts an der allgemeinen Subsidiarität von Art. 19 AEUV. Könnte im Zuge einer binnenmarktfinalen Reglung gegen Diskriminierung vorgegangen werden, wäre demnach Art. 114 AEUV allein und nicht Art. 19 AEUV einschlägig. Zu klären bleibt, welches Rechtsetzungsverfahren bei kumulativem Zusammenwirken von Art. 114 AEUV und Art. 19 AEUV einzuhalten wäre. Man könnte auf die jeweils strengste Verfahrensregel der zwei Verfahren abstellen und somit ein vollkommen „neues“ Verfahren kreieren. Diesbezüglich wird kritisiert, dass ein in den Verträgen nicht vorgesehenes Verfahren sui generis geschaffen wird. Ein anderer Ansatz will, wenn ein Rechtsakt auf zwei Kompetenzgrundlagen gestützt wird, das jeweils für sich genommen strengste Verfahren anwenden. Problematisch scheint, dass damit einem Verfahren ein gewisser Vorrang eingeräumt wird.108 In der vorgeschlagenen Konstellation sprechen wohl die besseren Gründe gegen die Anwendung der jeweils strengsten Verfahrensregeln. Sinnvoller 104 Zur sogenannten Schwerpunkttheorie kritisch: Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje, EUV/ AEUV, Art. 114 AEUV, Rn. 124 ff. 105 Streinz/Leible/Schröder, EUV/AEUV2 Art. 114 AEUV, Rn. 47 und Rn. 130. 106 EuGH 11.09.2003 Rs. C-211/01 (Kommission/Rat) Rn. 40; 08.01.2009 Rs. C-411/06 (Kommission/Parlament und Rat) Rn. 47. 107 Schwarze/Holoubek, EU-Kommentar3 Art. 19 AEUV, Rn. 7. 108 Vgl. Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag 292.

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erscheint es, das für sich genommen strengste in Betracht kommende Gesetzgebungsverfahren anzuwenden. Es käme demnach in concreto das Verfahren nach Art. 19 AEUV zum Zug. Dadurch wären die in Art. 114 AEUV vorgesehenen verfahrensmäßigen Voraussetzungen auch miterfüllt.109 Es entspricht der Rechtsprechung des Gerichtshofes, dass ein Zusammenspiel von Kompetenznormen nur zulässig ist, wenn die Rechtsetzungsverfahren miteinander vereinbar sind und insbesondere nicht die Rechte des Europäischen Parlaments beschnitten werden.110 Dieser Ansatz steht mit der von Kröll vertretenen Position nicht in Einklang. Er geht davon aus, dass durch den Vertrag von Lissabon ein neues institutionelles Gleichgewicht geschaffen wurde, in dem das Parlament eine gestärkte Position innehabe. Jede weitere Verschiebung des Gleichgewichts zugunsten des Parlaments durch jemanden anderen als die Vertragsparteien selbst sei daher jedenfalls unzulässig.111 Eine Kombination von Kompetenznormen, die das besondere Gesetzgebungsverfahren vorsehen, mit jenen, für die das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gedacht ist, sei demzufolge illegitim. Derartige Verknüpfungen würden dem ausdrücklichen und offensichtlichen Willen der Vertragsparteien widersprechen. Kröll begründet seinen Ansatz mit Art. 13 Abs. 2 Satz 1 EUV, nach dem „jedes Organ nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse nach dem Verfahren, Bedingungen und Zielen, die in den Verträgen festgelegt sind“ zu handeln hat. Rechtsetzungsverfahren, die neu geschaffen würden, seien nicht „in den Verträgen festgelegt“. Seines Erachtens deutet die grundsätzliche Neugestaltung der Gesetzgebungs- und Rechtsetzungsverfahren durch den Vertrag von Lissabon daraufhin, dass eine Unzufriedenheit mit der bisherigen Rechtsprechungspraxis des EuGH seitens der Mitgliedstaaten bestanden habe.112 Art. 13 Abs. 2 Satz 1 EUV besagt, dass die Organe nur nach den in den Verträgen zugewiesenen Befugnissen handeln dürfen und ist daher klarer Ausdruck des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung.113 Die Bestimmung gibt 109 Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag 292, 294, weist zu Recht darauf hin, dass es problematisch sein könne in allen Fällen der Mehrfachabstützung auf das jeweils strengste Verfahren abzustellen, weil es oft von der gewählten Perspektive abhänge, welches das strengere Verfahren sei. Doch auch ein Heranziehen der jeweils strengsten in Frage kommenden Verfahrensregel, stelle nicht den Königsweg dar. Es werde nämlich damit eine quasi neue Kompetenznorm geschaffen. Es bedürfe daher differenzierter Lösungen, die stark von den zusammentreffenden Verfahren abhängig seien. 110 EuGH 11.06.1991 Rs. C-300/89 (Titandioxid) Rn. 17-21; 06.11.2008 Rs. C-155/07 (Parlament/Rat) Rn. 37 m.w.N. 111 In: Eilmansberger/Griller/Obwexer (Hrsg.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon 313, 330; ihm folgend Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar3 Art. 5 EUV, Rn. 12. 112 In: Eilmansberger/Griller/Obwexer (Hrsg.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon 313, 330 f., besonders auf Kombinationen mit Art. 352 AEUV bezugnehmend. 113 Schwarze/Hatje, EU-Kommentar3 Art. 13 EUV, Rn. 29.

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allerdings kaum Antwort auf die Frage, wieweit eine Verschiebung in der Befugnisstruktur gehen darf. Klar muss sein, dass gewisse immanente Grenzen bestehen. Die in den Verträgen festgelegten Grundsätze stehen nicht zur Disposition der Organe der Union.114 Es kann und darf durch eine Mehrfachabstützung auch von untrennbar verbundenen Materien nicht zu einer materiellen Vertragsänderung oder Kompetenzausweitung kommen. Beachtlich erscheint in diesem Kontext, dass beschriebene Rechtsgrundlagenkonflikte regelmäßig nicht die Verbands-, sondern die Organkompetenz betreffen.115 Als wesentliches Element des institutionellen Gleichgewichts gelten die Mitwirkungsrechte des Parlaments. Diese durften, auch nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH, nicht durch eine Kombination von Rechtsgrundlagen beschnitten werden.116 Die Mitgliedstaaten haben sich bei der Ausarbeitung des Vertrags von Lissabon nicht mit dieser Rechtsprechung auseinandergesetzt. Die von Kröll aufgezeigten Anzeichen, dass die bisherige Praxis gegen den Willen der Vertragsparteien verstoße, scheinen nicht zwingend den Schluss nahezulegen, dass eine Kombination von Kompetenzgrundlagen mit unterschiedlichen Gesetzgebungsverfahren unzulässig ist. Es ist daher nicht davon auszugehen, und das wird auch von Kröll eingeräumt, dass der Gerichtshof den Prinzipien seiner bisherigen Rechtsprechung untreu wird.117 Ein weiteres Argument für das Zusammenspiel von Rechtsetzungsbefugnissen im Sinne der Rechtsprechung liegt in einer ansonsten drohenden Funktionsunfähigkeit der Union. Eine solche kann zwar in vielen Fällen durch das Erlassen zweier sich ergänzender Rechtsakte entschärft werden118, ist aber, wie die besprochenen Richtlinien als Beispiele zeigen, nicht unrealistisch. Es ist daher grundsätzlich, sofern kein methodisches Vorrangverhältnis zwischen den Rechtsgrundlagen vorliegt und sich auch kein eindeutiger Schwerpunkt festmachen lässt, eine Mehrfachabstützung zulässig.119 Eine Grenze wird durch die notwendige Vereinbarkeit der Rechtsetzungsverfahren, hauptsächlich dem Verbot der Einschränkung der Rechte des Parlaments, gesetzt. Das soeben skizzierte Modell stellt einen Versuch dar, Art. 19 AEUV mit der für das Privatrecht besonders gewichtigen Binnenmarktkompetenz zu verknüpfen. Dieser Ansatz könnte, wie sich zeigen wird, für die Diskriminierungsverbote beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen als Rechtsgrundlage dienen. Es stellt aber nur eine von mehreren Möglichkeiten einer Kompetenzgrundlage für besagte Diskriminierungsverbote dar. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, EUV/AEUV, Art. 13 EUV, Rn. 30. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast/von Bogdandy, EUV/AEUV, Art. 5 EUV, Rn. 18. 116 EuGH 27.09.1988 Rs. 165/87 (Harmonisierungssystem) Rn. 11; 11.06.1991 Rs. C-300/89 (Titandioxid) Rn. 13 ff. und 20. 117 In: Eilmansberger/Griller/Obwexer (Hrsg.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon 313, 331 f. 118 So Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar3 Art. 5 EUV, Rn. 12. 119 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast/von Bogdandy, EUV/AEUV, Art. 5 EUV, Rn. 18; Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 5 EUV, Rn. 11. 114 115

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3. Lösungsvorschlag für Antidiskriminierungsrichtlinien Zu klären bleibt, ob Art. 114 AEUV exklusiv oder in Verbindung mit Art. 19 AEUV als Zuständigkeitsnorm für die Antirassismus- und die Unisex-RL geeignet ist. Die Antirassismus-RL verbietet Diskriminierung aufgrund der Rasse und der ethnischen Herkunft über das Berufsleben hinaus in zahlreichen Anwendungsfeldern. Ein Binnenmarktbezug kann für einige dieser Bereiche hergestellt werden. Beim Verbot der rassistischen Diskriminierung beim Zugang zu und der Versorgung mit Dienstleistungen und Waren bzw. Wohnraum erscheint Art. 114 AEUV als mögliche Kompetenznorm vielversprechend.120 Dieser Tatbestand der Antirassismus-RL deckt sich im Wesentlichen mit jenem der Unisex-RL, die Geschlechterdiskriminierung beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen untersagt. Es bietet sich daher eine gemeinsame Untersuchung an. Da sich beide Richtlinien auf Art. 19 AEUV und nicht auf Art. 114 AEUV stützen, kann eine Analyse des subjektiven Binnenmarktbezuges unterbleiben und das Augenmerk auf den objektiven Regelungsinhalt gerichtet werden. Von zentraler Bedeutung ist die Frage, ob in nationalen Normen, die Diskriminierungen zulassen, Hemmnisse für die Grundfreiheiten oder spürbare Wettbewerbsverzerrungen gesehen werden können. Rein hypothetisch ist eine Vielzahl an Szenarien denkbar, in denen die Grundfreiheiten wegen rassistischer oder geschlechtlicher Diskriminierung gehemmt werden. Es würde beispielsweise zu einem Hemmnis der passiven Dienstleistungsfreiheit121 führen, wenn einem italienischen Staatsbürger mit nigerianischen Wurzeln in Brüssel die Unterbringung in einem Hotelzimmer aufgrund seiner Hautfarbe verweigert würde. Es ist leicht möglich, eine Vielzahl ähnlicher Fallkonstellationen zu bilden. Im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofes in der Tabakwerbungsentscheidung122, der eine mehr als bloß abstrakte Gefahr für den Binnenmarkt fordert, erscheint dies allerdings zu vage.123 Der Standpunkt ist jedoch nicht unumstritten. Althoff geht in ihren ausführlichen Untersuchungen zur Antirassismus-RL von einem starken Konnex zur Art. 3 Abs. 2 lit. h der RL 2000/43/EG. Vgl. zum Begriff der passiven oder auch negativen Dienstleistungsfreiheit: Schweitzer/ Hummer/Obwexer, Europarecht7 Rz. 1508. 122 EuGH 05.10.2000 Rs. C-376/98 (Tabakwerbeverbot) Rn. 84; EuGH 12.12.2006, Rs. C-380/03 (Deutschland/Parlament und Rat) Rn. 37. 123 Zum selben Ergebnis bei der Bildung eines ähnlichen Beispiels kommt Bell, Anti-Discrimination Law and the European Union 138: “Whilst it seems probable that such a scenario has occurred in practice, there is little empirical evidence beyond the anecdotal. This sits uneasily with the Court’s emphasis in Tobacco Advertising on the need for genuine evidence of obstacles within the internal market to activate Community competence.” In diese Richtung gehend auch: Möllers, in: Festgabe zum 30-jährigen Bestehen der juristischen Fakultät Augsburg 189, 192 f.; vgl. Dittmann, Privatrechtliche Diskriminierungsverbote aus verfassungsrechtlicher Sicht 24 f. 120 121

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Funktionalität des Binnenmarktes aus. Der Schwerpunkt der RL 2000/43/EG liege unzweifelhaft auf der Bekämpfung von Hindernissen für den freien Verkehr von Gütern und Dienstleistungen. In diesem Bereich bestehe eine Unionskompetenz und daher seien Maßnahmen nach Art. 13 EGV zulässig.124 Abgesehen von den bereits aufgeworfenen Problemen, die aufgrund des Anwendungsbereichs von Art. 114 AEUV und der Subsidiarität von Art. 19 AEUV bestehen125, ist der Tatbestand der Binnenmarktkompetenz, wie er vom Gerichtshof ausgelegt wird, nicht erfüllt. Als Rechtsgrundlage dieser Diskriminierungsverbote, und dahingehend ist wohl auch Althoffs Befund zu verstehen, könnte daher unter Umständen Art. 114 AEUV gemeinsam mit Art. 19 AEUV fungieren. Diese Sichtweise entspricht dem zweiten, weiter oben vorgestellten Ansatz eines Zusammenwirkens der Binnenmarktkompetenz mit Art. 19 AEUV.126 Diskriminierungsverbote im Nahebereich der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit könnten ihre Grundlage einerseits in der Binnenmarktkompetenz, andererseits in der allgemeinen und akzessorischen Rechtsgrundlage zur Bekämpfung von Diskriminierung finden. Es bedürfte eines Zusammenwirkens von Art. 19 AEUV, der für sich genommen nur im Rahmen der der Union übertragenen Zuständigkeiten einschlägig wäre, und Art. 114 AEUV, für dessen exklusive Anwendbarkeit der Konnex zur Funktionalität des Binnenmarktes nicht eng genug scheint. Einzuräumen ist allerdings, dass vollkommen offen ist, ob der Gerichtshof einen solchen Lösungsansatz akzeptieren würde. Anders als der kompetenzwidrige status quo, ist der beschriebene Lösungsansatz Ausdruck des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. Ferner ließe sich deutlicher nachvollziehen, auf welche Kombination von Kompetenzgrundlagen sich der Unionsgesetzgeber stützt. Das Verbot der Rassen- und Geschlechterdiskriminierung beim Zugang zu und der Versorgung mit Waren und Dienstleistungen soll nicht allein Diskriminierungen mit Binnenmarktbezug bekämpfen. Es wäre daher zu kurz gegriffen, es bei einem Lösungsansatz, mag er auch eine deutliche Verbesserung zur IstSituation und ein solideres Fundament bieten, zu belassen. In diesem Sinne geht die Suche nach einer Rechtsgrundlage für Europäische Diskriminierungsverbote im Privatrecht weiter. Es werden daher noch andere potentielle Rechtsetzungsgrundlagen, die in Verbindung mit Art. 19 AEUV zur Anwendung kommen könnten, untersucht.

Die Bekämpfung von Diskriminierung aus Gründen der Rasse und der ethnischen Herkunft in der Europäischen Gemeinschaft ausgehend von Art. 13 EG 205 f. 125 Siehe 1. und 2. 126 Siehe 2. 124

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II. Die Flexibilitätsklausel nach Art. 352 AEUV 1. Allgemein Die aufgezeigten „Schwächen“ der Binnenmarktkompetenz führen uns, auf der Suche nach einer passenden Rechtsetzungskompetenz in Verbindung mit Art. 19 AEUV, zu Art. 352 AEUV. Die Rechtsgrundlage wird als die sogenannte Lückenfüllungs- oder Abrundungskompetenz bezeichnet. Die Union kann notwendige Maßnahmen treffen, sollte ein Tätigwerden im Rahmen der ihr von den Verträgen übertragenen Politikbereichen erforderlich sein, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen. Es soll ein Ausgleich für jene Fälle geschaffen werden, in denen eine explizite oder zumindest implizite Rechtsetzungsbasis fehlt, gleichwohl aber eine Befugnis erforderlich ist, damit die Union ihre Aufgaben in Hinblick auf die Erreichung der von den Verträgen festgelegten Ziele wahrnehmen kann.127 Die Funktionsfähigkeit der Union soll demzufolge auch bei Nichtvorliegen einer speziellen Rechtsetzungsgrundlage erhalten bleiben. Zur Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts ist Art. 352 AEUV von großer Bedeutung. Es wurden die Verordnungen über die Schaffung einer Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), jene über das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE) und auch die Verordnung über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) auf die Vorgängerbestimmungen von Art. 352 AEUV (konkret Art. 235 EWGV und Art. 308 EG) gestützt.128 Auch der viel diskutierte Vorschlag der Kommission für eine Verordnung über das Statut einer Europäischen Privatgesellschaft (SPE) sieht die Kompetenz hierfür in Art. 352 AEUV. Vorweg ist es wichtig zu betonen, dass Art. 352 AEUV durch den Vertrag von Lissabon eine Änderung seines Rechtsetzungsverfahrens erfahren hat. Das in Art. 308 EGV normierte Prozedere war durch die Initiativbefugnis der Kommission, das Einstimmigkeitserfordernis im Rat sowie die bloße Anhörung des Parlaments gekennzeichnet. Die nach Art. 352 AEUV erlassenen Regelungen bedürfen nun der Zustimmung des Europäischen Parlaments. Ebenso wurde die Rolle der nationalen Parlamente gestärkt. Abs. 2 ordnet folglich an, dass die Parlamente der Mitgliedstaaten, um das Prinzip der Subsidiarität zu wahren, über alle Vorschläge, die sich auf Art. 352 AEUV stützen, von der Kommission informiert werden müssen. Der nachvollziehbare Einwand, dass Maßnahmen, die das Zivilrecht in großem Maße betreffen, schon deshalb nicht auf Art. 308 EGV gestützt werden sollten, weil weder das Europäische noch nationale Parlamente beteiligt wären129, lässt sich nach dem Vertrag von Lissabon 127 EuGH, Gutachten 2/94 (Beitritt zur EMRK) Rn. 29; Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 352 AEUV, Rn. 1. 128 Zur Bedeutung von Art. 308 EUV im Privatrecht: Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft 91 f. 129 Ludwigs, EuR 2006, 370, 394.

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entkräften. Durch die Einbindung des Europäischen Parlaments kann in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht mehr von legitimationsdefizitärer exekutiver Rechtsetzung gesprochen werden.130 Für die Anwendung von Art. 352 AEUV ist zweierlei von Bedeutung: Die Bestimmung ist Teil des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. Der Grundsatz wird zwar etwas gelockert, jedoch nicht durchbrochen. Art. 352 AEUV überträgt der Union lediglich die Kompetenz, dann tätig zu werden, wenn seine strengen Tatbestandvoraussetzungen erfüllt sind. Zweitens ist hervorzuheben, dass die Lückenfüllungskompetenz jedenfalls ihre tatbestandliche Grenze dort findet, wo sie materiell zu einer Vertragsänderung führt. Es muss klar sein, dass die Flexibilitätsklausel keineswegs die Funktion hat, die Unionsziele und damit die Kompetenzen der Union zu erweitern. Es handelt sich gerade nicht um eine Kompetenz-Kompetenz.131 Neben den allgemeinen Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und im Fall der geteilten Zuständigkeit der Subsidiarität spricht der klare Wortlaut für eine „innere Subsidiarität“ von Art. 352 AEUV. Der Satz „und sind in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen“ macht deutlich, dass die Flexibilitätsklausel nur dann Rechtsgrundlage sein kann, wenn sich ansonsten keine passende Basis in den Verträgen finden lässt.132 2. Flexibilitätsklausel und Art. 19 AEUV Grundsätzlich besteht Einigkeit darüber, dass Art. 19 AEUV, als speziellere Rechtsgrundlage, Art. 352 AEUV vorgeht.133 Betreffend eines Zusammenwirkens von Art. 19 AEUV mit Art. 352 AEUV ist es von Interesse, ob Art. 352 AEUV trotz seiner Subsidiarität dann zur Anwendung kommen kann, wenn zwar eine Unionszuständigkeit nach Art. 19 AEUV vorliegt, diese aber nicht ausreichend ist. Eine Befugnisnorm kann sowohl aus materieller als auch aus formaler Sicht unzureichend sein. Materiell ist eine Kompetenzbestimmung unzureichend, wenn sie das Sachgebiet nicht in gewünschtem Maße erfasst, formell, wenn sie nur ein bestimmtes Instrument (z.B. eine Richtlinie) vorsieht, aber ein anderes (z.B. ein Verordnung) erforderlich wäre.134 130 Sehr treffend formuliert daher Calliess/Ruffert/Rossi, EUV/AEUV4 Art. 352 EUV, Rn. 6: „Durch diese Einbindung des Europäischen Parlaments treten die auf der Grundlage der Flexibilitätsklausel erlassenen Maßnahmen aus dem legitimationsdefizitären Schatten exekutiver Rechtsetzung heraus in das Licht parlamentarisch vermittelter Legitimation.“ 131  Calliess/Ruffert/Rossi, EUV/AEUV4 Art. 352 EUV, Rn. 6 m.w.N.; W.-H. Roth, EWS 2008, 401, 414 sieht darin die passende Grundlage für ein optionales Vertragsinstrument. 132  Calliess/Ruffert/Rossi, EUV/AEUV4 Art. 352 EUV, Rn. 58 ff. 133  Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 19 AEUV, Rn. 4; Calliess/Ruffert/Epiney, EUV/ AEUV4 Art. 19 AEUV, Rn. 3; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 21; Schwarze/Holoubek, EU-Kommentar3 Art. 19 AEUV, Rn. 6. 134 Schwarze/Geiss, EU-Kommentar3 Art. 352 AEUV, Rn. 22 f.

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In der Literatur wird das Thema kontrovers diskutiert.135 Für eine Anwendung von Art. 352 AEUV zur Ergänzung von „unzureichenden“ Kompetenzbestimmungen spricht zum einen der Wortlaut der Flexibilitätsklausel136: „Erscheint ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche erforderlich, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen, und sind in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften.“137

Wollte man den Anwendungsbereich von Art. 352 AEUV auf Fälle beschränken, in denen gar keine ausdrückliche Unionszuständigkeit vorliegt, so hätte sich dieses Anliegen sicherlich im Wortlaut der Bestimmung niedergeschlagen. Zum anderen redet das Telos der Bestimmung einer Anwendung von Art. 352 AEUV neben unzureichenden Zuständigkeitsnormen das Wort. Der Sinn und Zweck der Flexibilitätsklausel liegt darin, dass die Union, auch wenn keine Norm in den Verträgen dies vorsieht, zur Erreichung ihrer Ziele funktionsfähig bleibt.138 Diese Funktionsfähigkeit ist in Fällen von unzureichenden Befugnissen bedroht. Es ist klar, dass Art. 352 AEUV der Union, sollte keine Zuständigkeitsnorm bestehen, unter strengen Voraussetzungen ein Handeln ermöglicht. Bei Bestehen einer unzureichenden Kompetenznorm muss – argumento a maiori ad minus – dasselbe gelten. Ansonsten würde der Union eine weitere Zuständigkeit bei Fehlen einer (speziellen) Kompetenznorm zukommen als in Fällen, in denen eine Befugnis zwar vorliegt, diese aber konkret nicht ausreicht.139 Dies würde, wie der Größenschluss zeigt, zu einem groben Wertungswiderspruch führen.140 Die Grenze einer Ergänzung von unzureichenden Zuständigkeiten durch Art. 352 AEUV bildet die „differenzierte und differenzierende Kompetenzarchitektur der begrenzten Einzelermächtigung“, die nicht überspielt werden darf.141 Wird eine spezielle Ermächtigungsnorm limitiert, beispielsweise indem gewisse Rechtsetzungsbefugnisse ausdrücklich untersagt sind, so kann Art. 352 AEUV nicht – quasi als Umgehungsmaßnahme – angewendet werden. Hinzuweisen ist insbesondere auf: Steindorff, Grenze der EG-Kompetenzen 120 sowie Schwartz, in: FS Mestmäcker 467, 478. 136 Vgl. Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 352 AEUV, Rn. 40; Schwartz, in: FS Mestmäcker 467, 478 f. 137 Hervorhebungen durch den Autor. 138 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft 88; Streinz/ Streinz, EUV/AEUV2 Art. 352 AEUV, Rn. 40. 139 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Winkler, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV, Rn. 82; Schwarze/Geiss, EU-Kommentar3 Art. 352 AEUV, Rn. 21; Schwartz, in: FS Mestmäcker 467, 479; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft 88. 140 Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft 88. 141 So Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 352 AEUV, Rn. 41; vgl. Calliess/Ruffert/Rossi, EUV/AEUV4 Art. 352 AEUV, Rn. 66. 135

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Steindorff lehnt hingegen einen Rückgriff auf Art. 235 EGV (Art. 352 AEUV) mit dem Argument ab, dass in jenen Fällen, in denen eine Spezialnorm bestehe, diese auch anzuwenden sei. Auf keinen Fall stelle Art. 235 EGV Handlungsmittel zur Verfügung, die über jene der Spezialnorm hinausgingen.142 Dem kann entgegengehalten werden, dass durch die Grenze, die durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gesetzt wird, jedenfalls ein ausreichendes Korrektiv besteht. Werden Instrumente von einer Spezialnorm dezidiert ausgeschlossen, so bleibt kein Raum für Art. 352 AEUV als Ergänzungsnorm. Werden sie allerdings lediglich nicht vorgesehen, dann ist eine Vervollständigung im Zuge der Flexibilitätsklausel unter Umständen möglich. In Bezug auf Art. 19 AEUV, der zum Zeitpunkt von Steindorffs Befund noch nicht Teil der Verträge war, passt sein Ansatz zudem nicht. Art. 19 AEUV stellt zwar eine Spezialnorm im Verhältnis zu Art. 352 AEUV dar. Er ist jedoch wegen seiner Akzessorietät nie für sich genommen, sondern nur im Rahmen anderer Kompetenznormen anzuwenden. Es muss stets eine andere Norm ergänzend hinzutreten, in deren Rahmen Art. 19 AEUV zum Tätigwerden ermächtigt. Schwartz bezweifelt in diesem Zusammenhang, dass der von Steindorff ins Treffen geführte Kollisionssatz lex specialis derogat legi generali auch auf subsidiäre Bestimmungen anwendbar ist. Eine subsidiäre Norm solle in Fällen fehlender oder unzureichender Bestimmungen eingreifen. Die lex specialisRegel beziehe sich hingegen auf zwei Normen, die primäre Befugnisse zuweisen. Subsidiarität und Spezialität seien daher zweierlei. Doch selbst wenn man die lex specialis-Regel auf Art. 352 AEUV anwenden wollte, würde, so Schwartz, die lex specialis die lex generalis nur soweit verdrängen, wie ihre Reichweite gehe.143 Die überwiegende Meinung in der Literatur geht somit zu Recht davon aus, dass Art. 352 AEUV in Fällen unzureichender Rechtsetzungsbefugnisse Anwendung findet. 144 Umstritten bleibt, ob Art. 352 AEUV in diesen Fällen die unzureichende Spezialnorm verdrängt oder ob es zu einer kumulativen Anwendung kommt. Könnte daher Art. 19 AEUV, im Rahmen der durch Art. 352 AEUV der Union übertragenen Zuständigkeit, zur Rechtsetzung ermächtigen oder käme die Flexibilitätsklausel exklusiv zur Anwendung? Eine kumulative Anwendung wird erneut vor allem auf den Wortlaut der Bestimmung gestützt. Aus der Wendung „und sind in den Verträgen die hierfür Grenzen der EG-Kompetenzen 120 f. In: FS Mestmäcker 467, 478 f.; vgl. zum Kollisionssatz lex specialis derogat legi generali in der Begründungslehre des Unionsrechts: Martens, Methodenlehre des Unionsrechts 428 f. 144 Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 352 AEUV, Rn. 40 ff.; Schwarze/Geiss, EU-Kommen3 tar Art. 352 AEUV, Rn. 22 ff.; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Winkler, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV, Rn. 82; Calliess/Ruffert/Rossi, EUV/AEUV4 Art. 352 AEUV, Rn. 66; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft 87 ff. 142 143

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erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen“ wird geschlossen, dass nur soweit keine speziellere Befugnis vorliege, Art. 352 AEUV anzuwenden sei.145 Gegen eine kumulative Anwendung von Art. 352 AEUV wird ebenso dessen Wortlaut ins Treffen geführt. Daraus ergebe sich klar, dass die Flexibilitätsklausel nur dann zur Anwendung komme, wann immer in den Verträgen die erforderliche Befugnis nicht vorgesehen sei. Entweder ein Rechtsakt könne sich auf eine spezielle Rechtsgrundlage stützen, oder es bestehe eine Lücke in den Verträgen und die Union würde Kraft Art. 352 AEUV ermächtigt tätig zu werden. Aus der Subsidiarität von Art. 352 AEUV geht, dieser Meinung folgend, hervor, dass Art. 352 AEUV und eine spezielle Befugnisnorm einander als Rechtsgrundlage ausschließen. Die Zuständigkeiten seien demnach einander gar ein aliud.146 Wenn sich ein Regelungsinhalt nicht auf zwei Rechtsakte aufteilen lassen sollte, ist die spezielle Rechtsgrundlage und als Ergänzung dazu Art. 352 AEUV anzuführen. Soweit der Rechtsakt über die spezielle Ermächtigungsgrundlage hinausgeht, kann er auf Art. 352 AEUV gestützt werden.147 Art. 352 AEUV sollte nur dann als Rechtsetzungsbefugnis herangezogen werden, wenn keine andere Norm einschlägig ist. Meines Erachtens ergibt sich daher aus der inneren Subsidiarität der Lückenfüllungskompetenz, dass sie in Fällen von nicht ausreichenden – aber dennoch teilweise einschlägigen – Spezialkompetenznormen nicht exklusiv Anwendung findet. Eine subsidiäre Bestimmung kann, als Norm, die keine primären Befugnisse zuweist, erst dann zur Anwendung kommen, wenn die primäre Norm nicht mehr einschlägig ist. Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung scheint dieses Verständnis angebracht. Der Grundsatz gebietet, sich solange wie möglich an den vorhandenen Zuständigkeiten zu orientieren und erst dann auf die Flexibilitätsklausel zurückzugreifen. Dass eine solche Sichtweise der Rechtsprechung des EuGH entspricht, weist Streinz nach. Vor allem sieht er in der Rechtssache Kadi148 eine Bestätigung dieser Entscheidungspraxis. Die Verordnung 881/2002/EG zur Verhängung individueller Wirtschafts- und Finanzsanktionen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung konnte nicht auf Art. 60 EGV (Art. 75 AEUV) und 301 EGV (Art. 215 AEUV) gestützt werden. Diese Bestimmungen sahen derartige Sanktionen gegen Adressaten, die keine Verbindung zu einem Drittstaat haben, nicht vor. Man ließ daher richtigerweise Art. 308 EGV (Art. 352 AEUV) kumulativ 145 Grabitz/Hilf/Grabitz, EU-Recht, Art. 235 EWGV, Rn. 48, 53; Schwarze/Geiss, EUKommentar3 Art. 352 AEUV, Rn. 24; Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 352 AEUV, Rn. 42. 146 Von der Groeben/Schwarze/Schwartz, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag6 Art. 308 EGV, Rn. 73; diesem folgend: Calliess/Ruffert/Rossi, EUV/AEUV4 Art. 352 AEUV, Rn. 68 ff. 147 Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 352 AEUV, Rn. 42; Schwarze/Geiss, EU-Kommentar3 Art. 352 AEUV, Rn. 24; Grabitz/Hilf/Grabitz, EU-Recht, Art. 235 EWGV, Rn. 48. 148 EuGH 03.09.2008 verb. Rs. C-402/05 P et al. (Kadi) Rn. 212 f; a.A. SA Poiares Maduro 16.01.2008 verb. Rs. C-402/05 P et al. (Kadi) Tz. 11 ff., jedoch nicht aus Gründen der kumulativen Anwendung von Art. 308 EGV.

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hinzutreten.149 Im Sinne des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung, der Rechtsprechung des EuGH und einer überzeugenden Strömung in der Literatur150 kann Art. 352 AEUV ergänzend zur Anwendung kommen.151 Zusammenfassend erscheint es zulässig und geboten, wenn Art. 19 AEUV aufgrund seiner Akzessorietät nicht allein zur Setzung von Sekundärrecht legitimiert, Art. 352 AEUV trotz dessen innerer Subsidiarität kumulativ hinzutreten zu lassen. Art. 352 AEUV würde gewissermaßen den Rahmen der Zuständigkeiten der Union bilden, in dem nach Art. 19 AEUV Diskriminierung bekämpft werden kann. Dies gilt naturgemäß nur dann, wenn keine speziellere Kompetenznorm – man denke beispielsweise an die Binnenmarktkompetenz – einschlägig ist. In diesen Fällen geht die speziellere Rechtsgrundlage der Ergänzungsnorm des Art. 352 AEUV, dem Grundsatz lex specialis derogat legi generali folgend, vor. 3. Lösungsvorschlag für Antidiskriminierungsrichtlinien In Hinblick auf eine Diskriminierung beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen aufgrund der Rasse, ethnischen Herkunft oder des Geschlechts, wurde bereits die Binnenmarktkompetenz in Verbindung mit Art. 19 AEUV als mögliche Rechtsgrundlage erörtert. Sollte der gebotene Konnex zum Binnenmarkt bestehen und sich dies auch in den Erwägungsgründen niederschlagen, so wäre Art. 352 AEUV, als Lückenfüllungskompetenz, jedoch nicht neben Art. 19 AEUV, anwendbar. Die bisher erlassenen Richtlinien sowie der Kommissionsentwurf für eine allgemeine Antidiskriminierungsrichtlinie stützen sich lediglich auf Art. 19 AEUV. Ein unzureichender Binnenmarktbezug, nach den strengen Kriterien des EuGH, kann gegen ein Abstellen auf Art. 114 AEUV sprechen. Art. 352 AEUV könnte daher in Verbindung mit Art. 19 AEUV „vorsichtshalber“ als Rechtsetzungsgrundlage dienen. Es besteht grundsätzlich die Möglichkeit, bei unzureichenden primären Rechtsetzungskompetenzen Art. 352 AEUV kumulativ zur Ergänzung hinzutreten zu lassen. Dies muss umso mehr für eine Bestimmung wie Art. 19 AEUV gelten, der für sich genommen aufgrund seiner Akzessorietät immer unzureichend ist. Zu überlegen bleibt, ob Art. 352 AEUV den notwendigen Rahmen Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 352 AEUV, Rn. 42, m.w.N. in Fn. 126. Siehe: Grabitz/Hilf/Grabitz, EU-Recht, Art. 235 EWGV, Rn. 48, 53; Schwarze/Geiss, EU-Kommentar3 Art. 352 AEUV, Rn. 24; Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 352 AEUV, Rn. 42. 151 Zu den von Kröll, in: Eilmansberger/Griller/Obwexer (Hrsg.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon 313, 330 vorgebrachten Bedenken bezüglich des anzuwendenden Gesetzgebungsverfahrens siehe I.2. Kröll geht davon aus, dass eine Kombination von Zuständigkeitsnormen, die das besondere Gesetzgebungsverfahren, und jenen, die das ordentliche Gesetzgebungsverfahren vorsehen, nicht zulässig wäre. Dieses Problem stellt sich beim Zusammentreffen von Art. 19 AEUV mit Art. 352 AEUV jedoch m.E. nicht. 149 150

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der Zuständigkeit der Union bilden kann, der nach Art. 19 AEUV für das Setzen von Diskriminierungsverboten im Privatrecht notwendig ist. Damit der Tatbestand von Art. 352 AEUV erfüllt ist, muss ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche erforderlich erscheinen und zur Verwirklichung der Ziele der Union notwendig sein.152 Der Schutz vor Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung stellt nach Artt. 18, 19 AEUV und Art. 8 AEUV153 ein allgemeines Vertragsziel dar.154 Es wurde daher beispielsweise die Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu Beschäftigung, zur Berufsausbildung und zum beruflichen Aufstieg ursprünglich auf Art. 308 EGV gestützt.155 Die Diskriminierung aufgrund rassistischer oder sexistischer Motive beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistung zu bekämpfen, kann ohne weiteres unter die genannten Unionsziele subsumiert werden.156 Auch für die geplante Antidiskriminierungsrichtlinie, die eine Diskriminierung in diesem Bereich aufgrund einer Vielzahl von Kriterien untersagen soll, wäre Art. 352 AEUV als Kompetenznorm denkbar. Klar muss allerdings sein, dass Art. 19 AEUV primär zur Anwendung gelangen muss und Art. 352 AEUV „nur“ den Rahmen bildet, in dem nach Art. 19 AEUV gehandelt wird. Die Subsidiarität von Art. 352 AEUV ist zu beachten. Bei allen ihren Tätigkeiten wirkt die Union darauf hin, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern (ehemals Art. 3 Abs. 2 EGV). 154 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Winkler, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV, Rn. 49. 155 Zwar enthielten die Verträge auch schon vor dem Vertrag von Amsterdam mit Art. 119 EWGV den Grundsatz der Entgeltsgleichheit, allerdings wurde erst in Abs. 3 die Ermächtigung aufgenommen, Maßnahmen zu setzen. Daher wurde auch die nachfolgende RL 2006/54/EG auf diese Rechtsgrundlage gestützt. Vgl. dazu Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft 91 f.; Streinz/Eichenhofer, EUV/AEUV2 Art. 157 AEUV, Rn. 1. In diesem Zusammenhang wird vermehrt darauf hingewiesen, dass die Bedeutung von Art. 352 AEUV im Antidiskriminierungsrecht seit der Schaffung von Art. 157 Abs. 3 AEUV sowie Art. 19 AEUV an Bedeutung verloren habe und lediglich noch subsidiär zur Anwendung kommen könne, wenn diese Bestimmungen nicht einschlägig seien. Vgl. dazu auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Winkler, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV, Rn. 49. Dem ist, wie unter 2. dargelegt wird, betreffend Art. 19 AEUV nicht zuzustimmen. 156 Vgl. M. Meyer, Das Diskriminierungsverbot des Gemeinschaftsrechts als Grundsatznorm und Gleichheitsrecht 61 f. kommt zum Ergebnis, dass Art. 308 i.V.m. 3 Abs. 2 EGV eine umfangreiche Kompetenznorm zur Bekämpfung von Diskriminierung darstelle und an sich Art. 13 EGV daher nicht zwingend zu erlassen gewesen wäre. Bezüglich der Zuständigkeit, die sich aus Art. 308 EGV ableiten lässt, ist dem zuzustimmen. Der Befund, dass Art. 13 EGV keine Existenzberechtigung zukomme, weil Art. 308 EGV ebenso geeignet sei, Diskriminierungsverbote zu erlassen, scheint doch etwas übertrieben. Zumal sich das von jeder spezielleren Unionskompetenz, lässt man das strenge Rechtsetzungsverfahren des Art. 308 EGV außer Acht, behaupten ließe. 152 153

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Ein gangbarer Weg für die Begründung einer Unionszuständigkeit im privatrechtrechtlichen Antidiskriminierungsrecht könnte daher Art. 19 AEUV im Rahmen der Unionskompetenz nach Art. 352 AEUV sein. Weder wird die Subsidiarität von Art. 352 AEUV missachtet, da primär Art. 19 AEUV zur Anwendung gelangt und zulässigerweise Art. 352 AEUV ergänzend hinzutritt, noch wird, wie bei den bisher auf Art. 19 AEUV aufbauenden Richtlinien, dessen Akzessorietät verkannt. Dieses Ergebnis würde der Union eine sehr umfangreiche Rechtsetzungsbefugnis zur Bekämpfung von Diskriminierung eröffnen, die sich mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und der Kompetenzordnung im Einklang befinden würde. In dieser Konstellation stellt sich die beim Zusammentreffen von Rechtsgrundlagen zu beachtende Problematik des anzuwendenden Gesetzgebungsverfahrens nicht. Art. 352 AEUV und Art. 19 AEUV sehen dasselbe Verfahren vor.157 Kompetenzgrundlagen, die beide das besondere Gesetzgebungsverfahren vorsehen, sind beliebig kombinierbar, weil jedenfalls das institutionelle Gleichgewicht der Union nicht tangiert wird.158 Im Prinzip sollte bei einem Zusammentreffen von Art. 19 AEUV mit einer anderen Zuständigkeitsnorm aus Akzessorietätsgründen das in Art. 19 AEUV vorgesehene Verfahren Anwendung finden. Materiell kommt schließlich Art. 19 AEUV, der ein eigenes Verfahren vorsieht, zur Anwendung.159 Die zweite Kompetenzbestimmung bildet lediglich den Rahmen und ist daher betreffend das Rechtsetzungsverfahren von untergeordneter Bedeutung. Der vorgestellte Ansatz könnte eine zulässige Rechtsetzungskompetenz für Diskriminierungsverbote nach Art. 19 AEUV beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen darstellen. Es soll nicht die allgemeine Handlungsgrundlage der Union im Antidiskriminierungsrecht vorgezeichnet werden. Art. 352 AEUV kann – aufgrund seiner Subsidiarität – stets nur die ultima ratio sein. Sollte daher eine andere Befugnisnorm einschlägig sein, geht diese Art. 352 AEUV vor. Als alleinige Rechtsgrundlage für Diskriminierungsverbote kommt Art. 352 AEUV gegebenenfalls bezüglich Differenzierungskriterien, die sich nicht in Art. 19 AEUV wiederfinden, Bedeutung zu.160

157 Art. 19 AEUV verlangt ebenso wie Art. 352 AEUV Einstimmigkeit im Rat und die Zustimmung des Parlaments. Art. 352 AEUV sieht allerdings nach Abs. 2 vor, dass die nationalen Parlamente von Vorschlägen, die auf Art. 352 AEUV basieren, zu informieren sind. 158 Kröll, in: Eilmansberger/Griller/Obwexer (Hrsg.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon, 313, 328. 159 Etwas anders, im Ergebnis aber ident, ist die Konstellation, in der Art. 19 AEUV gemeinsam mit Art. 114 AEUV zur Anwendung gelangt, beide aber für sich genommen nicht einschlägig wären. 160 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 21.

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III. Kompetenz im Bereich der Sozialpolitik Als Rahmen, in dem Art. 19 AEUV zur Bekämpfung von Diskriminierung ermächtigt, könnte Art. 151 AEUV bzw. Art. 153 AEUV herangezogen werden. Diese Bestimmungen dienen der Umsetzung der gemeinsamen Sozialpolitik. Art. 151 AEUV nennt als seine Ziele unter anderem die Bekämpfung von Ausgrenzung, die mittels der Kompetenznorm des Art. 153 AEUV verfolgt werden kann. Art. 153 AEUV sieht vor, dass zur Verwirklichung der gemeinsamen Sozialpolitik (deren Ziele Art. 151 AEUV definiert) die Tätigkeiten der Mitgliedstaaten unterstützt werden können. Insgesamt nennt die Bestimmung 11 Gebiete, in welchen die gemeinsame Sozialpolitik unterstützt und ergänzt werden soll. Hauptaugenmerk liegt auf dem Arbeits- und Sozialrecht. Es werden beispielsweise eine Verbesserung der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer oder die soziale Sicherheit und der soziale Schutz der Arbeitnehmer als mögliche Ziele genannt.161 Bei der Antirassismus- und der Unisex-RL wird bezüglich des Sachbereichs ein breiter Ansatz verfolgt. Es steht daher, anders als bei der ebenso auf Art. 19 AEUV aufbauenden Rahmen-RL, nicht allein das Arbeitsrecht (Gleichbehandlung bei Beschäftigung und im Berufsleben) im Zentrum. Als Anknüpfungspunkt nach Art. 153 AEUV, der eine Zuständigkeit der Union, in deren Rahmen Art. 19 AEUV zur Anwendung gelangen würde, bilden könnte, käme lediglich lit. j in Frage. Diese sieht vor, dass die Union soziale Ausgrenzung bekämpfen soll.162 Dass soziale Ausgrenzung oft mit Diskriminierung einhergeht und daher, wollte man eine generelle Zuständigkeit der Union zur Bekämpfung dieser annehmen, ebenso der Diskriminierungsschutz im Privatrecht eine Rolle spielen müsste, bedarf keiner gesonderten Erklärung. Allerdings fordert Art. 153 Abs. 1 lit. j, auch wenn dessen Bezugspersonen nicht ausschließlich Arbeitnehmer sind163, doch einen Bezug zum Arbeitsleben164. Art. 153 Abs. 1 lit. j AEUV scheidet daher schon aus diesem Grund als Zuständigkeitsnorm in Verbindung mit Art. 19 AEUV für Diskriminierungsverbote mit allgemeinerem Sachbereich aus. Beachtenswert ist weiters, dass Art. 153 Abs. 2 lit. a vorsieht, dass es sich bei Abs. 1 lit. j um eine reine Kompetenz zur Organisation und Zusammen161 Es handelt sich um eine ungewöhnlich komplexe Bestimmung. Vgl. Streinz/Eichenhofer, EUV/AEUV2 Art. 153 AEUV, Rn. 1; Calliess/Ruffert/Krebber, EUV/AEUV4 Art. 153 AEUV, Rn. 1 stellt fest, dass es den Eindruck machte, als wollten sich sowohl die Befürworter als auch die Gegner einer Unionskompetenz für Sozialpolitik hinter einer möglichst unübersichtlichen Regelung verstecken. 162 Zu den bisher ergangenen Maßnahmen siehe Schwarze/Rebhahn/Reiner, EU-Kommentar3 Art. 153 AEUV, Rn. 61. Zum Verhältnis von Art. 13 EGV zur sozialpolitischen Kompetenz nach Art. 137 EGV und dessen Genese: Stalder, Antidiskriminierungsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 13 EG-Vertrag – unter besonderer Berücksichtigung der Rassismusbekämpfung und des Minderheitenschutzes – 55 ff. 163 Schwarze/Rebhahn/Reiner, EU-Kommentar3 Art. 153 AEUV, Rn. 61. 164 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Benecke, EUV/AEUV, Art. 153 AEUV, Rn. 96.

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Kapitel 3: Die Rechtsetzungskompetenz der Union nach Art. 19 AEUV

arbeit handelt. Die Union ist somit auf die Förderung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten beschränkt.165 Eine Rechtsangleichung ist folglich ausgeschlossen. Lässt eine Zuständigkeitsnorm zwar keine Rechtsangleichung, wohl aber andere Maßnahmen zu, sind auch in Bezug auf Art. 19 AEUV ausschließlich diese Maßnahmen erlaubt.166 Als Konsequenz daraus ergibt sich, dass bei einer Abstützung auf Art. 19 AEUV in Verbindung mit Art. 153 Abs. 1 lit. j eine harmonisierende Richtlinie als Instrument nicht zulässig wäre. Art. 153 Abs. 1 lit. j AEUV stellt somit keine zu Art. 19 AEUV akzessorische Grundlage zur Setzung von Diskriminierungsverboten außerhalb der Arbeitswelt bzw. zur Rechtsangleichung dar. Die Unisex- und die Antirassismus-RL hätten nicht auf dieser Rechtsgrundlagenkombination aufbauen können.

D. Zusammenfassung und Ergebnis Die Untersuchungen zur kompetenzrechtlichen Stellung von Art. 19 AEUV führen auf den ersten Blick zu einem ernüchternden Ergebnis. Art. 19 AEUV ist gegenüber anderen Bestimmungen, die den Erlass von Rechtsakten gegen Diskriminierung ermöglichen, subsidiär. Sollte eine Bestimmung selbst zur Bekämpfung von Diskriminierung ermächtigen, bleibt daher kein Raum für Art. 19 AEUV. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut wie auch aus der Systematik der EU-Verträge. Die von manchen Teilen der Lehre vertretene Ansicht, Art. 19 AEUV sei gerade nicht subsidiär, stützt sich ebenso auf die Systematik und versucht auch das Telos der Bestimmung für sich fruchtbar zu machen. Zwar kommt der teleologischen Interpretation im Europarecht besondere Bedeutung zu, der Wortlaut und die Systematik des Art. 19 AEUV sprechen jedoch eine sehr deutliche Sprache. Zumal der eigenständige Regelungsgehalt von Art. 19 AEUV nicht verloren geht – dies wird jedoch als teleologisches Argument gegen seine Subsidiarität vorgebracht. Verdrängt wird die Bestimmung selbstverständlich nur, soweit andere Normen ebenso zur Bekämpfung von Diskriminierung ermächtigen. Von der Subsidiarität ist die Akzessorietät zu unterscheiden. Primär stellt sich die Frage, ob eine andere, speziellere Bestimmung einschlägig ist. Erst dann können sich allfällige Probleme aufgrund des akzessorischen Charakters von Art. 19 AEUV stellen. 165 Schwarze/Rebhahn/Reiner, EU-Kommentar3 Art. 153 AEUV, Rn. 61; Lenz/Borchardt/ Coen, EU-Verträge5 Art. 153 AEUV, Rn. 35; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Benecke, EUV/AEUV, Art. 153 AEUV, Rn. 96. 166 Von der Groeben/Schwarze/Zuleeg, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag6 Art. 13 EGV, Rn. 12; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, EUV/AEUV, Art. 19 AEUV, Rn. 14; a.A. Calliess/Ruffert/Epiney, EUV/AEUV4 Art. 19 AEUV, Rn. 6; Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 19 AEUV, Rn. 13. Siehe B.

D. Zusammenfassung und Ergebnis

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Art. 19 AEUV kommt dann zur Anwendung, wenn eine Zuständigkeit der Union bereits besteht. Die primäre Kompetenznorm, in deren Rahmen Art. 19 AEUV zur Bekämpfung von Diskriminierung ermächtigt, muss klarerweise nicht selbst Antidiskriminierungsmaßnahmen in ihrem Anwendungsbereich vorsehen. Das Vorgehen gegen Diskriminierung in jenen Bereichen, in denen eine Unionszuständigkeit besteht, ist unabhängig davon, ob die einschlägige Zuständigkeitsbestimmung dies vorsieht. Darin liegt der eigenständige Gehalt von Art. 19 AEUV. Die Handlungsform richtet sich ferner nach der in Anspruch genommenen Befugnisnorm, die den Rahmen bildet. Das Gesetzgebungsverfahren wird in Art. 19 AEUV vorgezeichnet. Aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und Rechtsstaatlichkeitserwägungen lässt sich ableiten, dass ein Unionsrechtsakt die Rechtsetzungsbefugnis, auf die er sich stützt, anzugeben hat. Einem Rechtsakt muss folglich klar erkennbar zu entnehmen sein, auf welche Kompetenzgrundlage er sich stützt. Kommt der Gesetzgeber dieser Benennungspflicht nicht oder nur in sehr vager Form nach, so liegt ein wesentlicher Formmangel vor, der zur Nichtigkeitsklage legitimiert. Unter welchen Umständen ein solcher Mangel tatsächlich zur Aufhebung eines Rechtsaktes durch den EuGH führt oder wann lediglich von einem unwesentlichen Formalgebrechen auszugehen ist, lässt sich nur schwer prognostizieren. Es finden sich jüngst beachtliche Stimmen in der Lehre, die sich bei falscher oder unvollständiger Angabe der Rechtsgrundlage für das Vorliegen eines wesentlichen Formalfehlers aussprechen. Hierbei ist es gleichgültig, ob sich der Mangel auf das Rechtsetzungsverfahren auswirkt.167 Auf Basis von Art. 19 AEUV wurden bisher drei Richtlinien erlassen. Zwei davon betreffen das allgemeine Privatrecht. Als Rechtsetzungskompetenz wurde allein Art. 19 AEUV angeführt. Ergänzend wurde lediglich in sehr allgemeiner Form auf die Zuständigkeiten der Union und das Subsidiaritätsprinzip verwiesen. Aufgrund seiner Akzessorietät kann Art. 19 AEUV allerdings nur in Verbindung mit bzw. im Rahmen einer anderen Kompetenznorm zur Anwendung gelangen. Der Unionsgesetzgeber ist bei den auf Art. 19 AEUV aufbauenden Antidiskriminierungsrichtlinien seiner Benennungspflicht daher nicht im vorgesehenen Maße nachgekommen. Relativieren lässt sich der eingangs gestellte Befund dahingehend, als davon auszugehen ist, dass für die Antidiskriminierungsrichtlinien 2004/113/EG und 2000/43/EG sehr wohl eine Rechtsetzungszuständigkeit der Union besteht. Die weitere Untersuchung konzentrierte sich daher auf die Frage, in Zusammenhang mit welcher Rechtsetzungsbefugnis Art. 19 AEUV für die Antirassismusund die Unisex-RL zur Anwendung gelangen könnte. Vor allem die Binnenmarktkompetenz, die Flexibilitätsklausel und die Kompetenznorm im Bereich der Sozialpolitik scheinen dafür geeignet zu sein. 167

Siehe B.

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Kapitel 3: Die Rechtsetzungskompetenz der Union nach Art. 19 AEUV

Die Binnenmarktkompetenz ist als finale Querschnittskompetenz dann einschlägig, wenn eine Rechtsvereinheitlichung aufgrund von Hemmnissen der Grundfreiheiten oder spürbarer Wettbewerbsverzerrungen nötig ist. Ist dies nicht der Fall, so kann kein Sekundärrecht auf Art. 114 AEUV gestützt werden. Eine rein abstrakte Gefährdung für den Binnenmarkt ist nicht ausreichend. Für die auf Art. 19 AEUV gestützten Richtlinien besteht zwar ein gewisser Konnex zum Binnenmarkt, ob sie aber alternativ auf Art. 114 AEUV hätten gestützt werden können, ist zweifelhaft. Vor allem für die RL 2000/43/EG wie auch die RL 2004//113/EG wäre es denkbar und auch sachgerecht, ihre Kompetenz in Art. 114 AEUV gemeinsam mit Art. 19 AEUV zu sehen. Ein kumulatives Abstützen auf zwei Rechtsgrundlagen ist allerdings nicht unproblematisch. Zum einen ist dies nur in Ausnahmesituationen, in denen der Schwerpunkt der Maßnahme weder der einen noch der anderen Zuständigkeitsnorm zuzuordnen ist, zulässig. Zum anderen bestehen Bedenken bezüglich des anzuwendenden Rechtsetzungsverfahrens. Die Flexibilitätsklausel ist eine taugliche Rechtsetzungsbefugnis, in deren Rahmen nach Art. 19 AEUV Diskriminierung bekämpft werden kann. Bedenken bezüglich der inneren Subsidiarität können aufgrund des Wortlauts und des Telos ausgeräumt werden. Ist eine spezielle Befugnisnorm materiell oder formell nicht ausreichend, so kann Art. 352 AEUV zur Anwendung gelangen. Auch die Flexibilitätsklausel ist Ausdruck des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. Fraglich bleibt, ob Art. 19 AEUV von Art. 352 AEUV verdrängt wird. Im Sinne des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung, des Wortlauts von Art. 352 AEUV und dessen innerer Subsidiarität ist davon auszugehen, dass Art. 352 AEUV kumulativ neben Art. 19 AEUV treten würde. Diese Sichtweise findet Unterstützung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes. Die sozialpolitische Rechtsgrundlage der Union, insbesondere Art. 153 Abs. 1 lit. j AEUV, verlangt einen gewissen Bezug zur Arbeitswelt und erlaubt keine Rechtsangleichung. Ein Zusammenspiel von Art. 19 AEUV mit Art. 153 Abs. 1 lit. j AEUV kann daher nicht zu einer rechtsangleichenden Richtlinie führen.

Kapitel 4

Die Diskriminierungsverbote der Grundrechte-Charta A. Problemstellung und Gang der weiteren Untersuchung Die bisherigen Ausführungen haben sich der „Systemverträglichkeit“ von Diskriminierungsverboten im Privatrecht und der Kompetenz der Union, Antidiskriminierungsreglungen nach Art. 19 AEUV zu erlassen, gewidmet. Nun wird der Blick auf Verhaltensweisen Privater gerichtet. Zuerst muss der Frage nachgegangen werden, welche gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverbote sich überhaupt auf das Privatrechtsverhältnis auswirken könnten. Es bedarf dazu einiger klärender Worte vorweg: Art. 157 AEUV sieht ein subjektives Recht auf gleiches Entgelt bei gleicher und gleichwertiger Arbeit ungeachtet des Geschlechts vor. Die Bestimmung ist unmittelbar anwendbar und ihr kommt horizontale Wirkung zu.1 Das Hauptaugenmerk dieser Untersuchung liegt auf Diskriminierungsverboten im allgemeinen Zivilrecht; es wird daher auf die Arbeitsentgeltsgleichheit nur peripher eingegangen. Die seit dem Vertrag von Lissabon verbindliche GRC sieht in ihrem Titel III Gleichheitsrechte vor. Von besonderem Interesse ist Art. 21 GRC. Das spezielle Diskriminierungsverbot der Charta untersagt eine Ungleichbehandlung aufgrund einer Vielzahl demonstrativ genannter Kriterien. So ist unter anderem die Diskriminierung anhand des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, aber auch wegen des Vermögens2 oder der politischen Weltanschauung verboten. Es stellt sich eine viel diskutierte Frage: Sind EU-Grundrechte für das Verhalten von Privaten relevant? Oder pointierter: Wirkt sich das weite Diskriminierungsverbot von Art. 21 GRC auf das Privatrechtsverhältnis aus? Eine wesentliche Vorfrage dazu muss sein, in welchen Konstellationen die Unionsgrundrechte überhaupt zur Anwendung gelangen. Es ist dem folgend zuerst zu erörtern, in welchen Situationen der Unionsgesetzgeber bzw. der nationale Gesetzgeber überhaupt an die Unionsgrundrechte gebunden ist. Erst anschließend stellen sich die Fragen, ob und wie sich diese Bindung für Private auswirken kann.3 Dem vorangestellt werden Ausführungen zur Terminologie. 1 Die Begriffe Horizontalwirkung und Drittwirkung werden in Folge synonym verwendet; vgl. Lenz/Borchardt/Coen, EU-Verträge5 Art. 157 AEUV, Rn. 2. 2 Siehe dazu Rebhahn, JRP 2012, 386, 390 ff. 3 Canaris, Grundrechte und Privatrecht 15 ff., 33 ff. stellt sich eingangs die Frage, ob der Privatrechtsgesetzgeber überhaupt an die (nationalen) Grundrechte gebunden ist. Er geht des

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Kapitel 4: Die Diskriminierungsverbote der Grundrechte-Charta

Das Verhältnis der Diskriminierungsverbote der Charta und dem Privatrecht soll weiters anhand eines Beispiels veranschaulicht werden. Es wird erörtert, welche – nationale oder europäische – Grundrechte auf sogenannte Öffnungsklauseln anzuwenden sind. Hierbei handelt es sich um Bestimmungen, die zumeist in Richtlinien, aber auch in Verordnungen vorkommen. Derartige Normen ermöglichen den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung – oftmals sehr weite – Spielräume oder ein gewisses Ermessen. Der Problemkreis bietet sich einerseits deshalb an, weil Öffnungsklauseln bei Antidiskriminierungsrichtlinien eine besondere Bedeutung zukommt. Andererseits wird die Reichweite des Anwendungsbereichs der Charta dadurch deutlich gemacht.

B. Drittwirkung von Art. 21 GRC I. Grundlagen und Terminologie Überlegungen zur Bindung Privater an die Grund- und Menschenrechte sind gewiss nicht neu.4 Es handelt sich dabei quasi um ein „Jahrhundert Problem“ der Rechtswissenschaften5, das auch kein besonderes Spezifikum des Unionsrechts ausmacht.6 Allerdings bestehen dennoch weiterhin Unsicherheiten, ob Privatpersonen an EU-Grundrechte gebunden sind und vor allem wie sich diese Bindung vollzieht.7 Umso mehr spielt eine Untersuchung der Wirkung des Grundrechts der Nichtdiskriminierung in Art. 21 GRC auf das Privatrechtsverhältnis in gegebenem Zusammenhang eine tragende Rolle. Geht es doch letztlich um die Frage, ob Private untereinander die sehr weitreichenden Diskriminierungsverbote einzuhalten haben. Weiteren auf die Frage ein, ob der Privatrechtsgesetzgeber nur mittelbar oder unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist, und wendet sich dann in einem späteren Schritt dem Problemkreis zu, wie Grundrechte auf das Privatrechtsverhältnis wirken. Allein die Frage, ob und wie Privatrechtssubjekte an die Grundrechte gebunden sind, stellt seiner Meinung nach die Diskussion um die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte dar. Das Verständnis für diese Debatte werde, so Canaris, immens erleichtert, wenn man drei Fragen voneinander trennt: (1.) Wer ist Normadressat? (2.) Was ist Gegenstand der Prüfung an den Grundrechten? und (3.) Was ist die Funktion der Grundrechte? 4 Zwischen Grund- und Menschenrechten kann in mehrfacher Hinsicht unterschieden werden. Grundrechte können als Rechte, die innerstaatlich garantiert werden (StGG), und Menschenrechte als jene, die zumindest überkontinentale (oder auch weltweite) Geltung beanspruchen (z.B. EMRK), verstanden werden: Diese Unterscheidung trifft beispielsweise Berka, Verfassungsrecht3 Rz. 1157 ff. 5 Fezer, JZ 1998, 265, 267. 6 So jüngst Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 141. 7 Jarass, Charta EU-Grundrechte, Art. 51 Rn. 24; Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 18; Meyer/Borowsky, GRC3 Art. 51 Rn. 31; Schwarze/Hatje, EU-Kommentar3 Art. 51 GRC, Rn. 22.

B. Drittwirkung von Art. 21 GRC

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Art. 21 GRC verbietet Diskriminierung aufgrund einer Vielzahl an Kriterien, die sich nicht immer mit jenen des Art. 19 AEUV decken. So ist eine Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung verboten (Art. 21 GRC). Dieser Katalog von Merkmalen ist nicht abschließend und eine richterliche Rechtsfortbildung demzufolge möglich. Weitere Kriterien könnten vor allem an die typischen Charakteristika der in der Charta genannten Merkmale anknüpfen. Der Wortlaut spricht vom Verbot der Diskriminierung. Das ist aber nicht so zu verstehen, dass eine Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt sein könnte. Ein anderes Verständnis würde schon wegen der Vielzahl an Merkmalen zu einem untragbaren Ergebnis führen.8 In einem ersten Schritt soll Terminologisches bzw. Strukturelles geklärt werden. Die Diskussion um die Auswirkung von Grundrechten auf das Privatrechtsverhältnis orientiert sich auch auf europäischer Ebene wesentlich an einer in Deutschland seit Jahrzehnten geführten Debatte.9 Es verwundert daher nicht weiter, dass auch die Terminologie ihren Ursprung in Deutschland nimmt.10 Das Phänomen der Wirkung von Grundrechten auf das Verhältnis inter privatos wird folglich als Dritt- oder Horizontalwirkung bezeichnet.11 Es bestehen zwei unterschiedliche Ansätze einer Dritt- oder Horizontalwirkung: Man differenziert zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung. Perner weist zu Recht darauf hin, dass eine saubere Begriffsverwendung in diesem Zusammenhang keine überflüssige Fleißaufgabe, sondern für das Verständnis des Problems von großer Bedeutung ist.12 Um gröberen Missverständnissen vorzubeugen, muss daher klargestellt werden, dass unmittelbare oder mittelbare Drittwirkung von unmittelbarer Anwendbarkeit oder Geltung zu unterscheiden ist.13 Die Unionsgrundrechte sind unmittelbar anwendbar, das 8 Schwarze/Graser, EU-Kommentar3 Art. 21 GRC, Rn. 7 ff. So sind beispielsweise Regelungen über ein Mindestalter für den Einlass in eine Bar grundsätzlich zulässig. 9 Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 141 ff. Siehe zur in Deutschland geführten Diskussion: Canaris, AcP 184 (1984), 201; ders., Grundrechte und Privatrecht. 10 Vgl. Cherednychenko, ERPL 2006, 23, 26. 11 Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht9, 343 halten „Horizontalwirkung“ für den passenderen Terminus. In englischer Sprache ist (direct bzw. indirect) „horizontal effect“, aber auch Drittwirkung gebräuchlich; vgl. dazu Engle, HanseLR 2009, 165; zur Begriffsbildung und Definition im Überblick siehe: Lengauer, Drittwirkung von Grundfreiheiten 4 ff. 12 Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 141 ff.; vgl. auch Lengauer, Drittwirkung von Grundfreiheiten 4 ff.; Floren, Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht 27. 13 Canaris, Grundrechte und Privatrecht 35 konstatiert, dass in der in Deutschland geführten Diskussion mancherlei terminologische Verwirrung herrsche. Er macht dies beispielhaft deutlich. Eine Trennung der Begriffe „unmittelbare Drittwirkung“ und „unmittelbare Geltung“

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Kapitel 4: Die Diskriminierungsverbote der Grundrechte-Charta

wird nicht angezweifelt. Gleich dem Primärrecht und anders als Richtlinien bedürfen sie keiner Transformation in nationales Recht. An die Chartagrundrechte sind der Unionsgesetzgeber sowie die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts gebunden. Damit sind sie jedenfalls unmittelbar anwendbar.14 Über eine mögliche Drittwirkung, im Sinne einer Wirkung auf das Verhältnis zwischen Privatpersonen zueinander, wird damit noch keine abschließende Aussage getroffen. Unmittelbare Drittwirkung und unmittelbare Anwendbarkeit hängen nur insofern zusammen, als Letztere notwendige Voraussetzung der Ersteren ist.15 Bezüglich der EU-Grundrechte ist auf die Frage nach ihrem Anwendungsbereich daher später noch einzugehen. Aus europarechtlicher Perspektive sorgen zusätzliche Divergenzen in deutscher und englischer Terminologie für Verwirrung. Horizontal direct effect wird im Zusammenhang mit den Grundrechten synonym für Drittwirkung verwendet.16 Mit horizontal direct effect of directives ist hingegen auch dasselbe wie direkte Horizontalwirkung, also die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien zwischen Privaten, gemeint.17 Der Begriff wird im Englischen daher sowohl für die Frage nach der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien zwischen Privaten als auch für die Wirkung von Grundrechten im Privatrecht verwendet. Unter unmittelbarer Drittwirkung versteht man eine Konzeption, in der sich die Grundrechte nicht nur gegen den Staat bzw. die Union, sondern auch gegen die Bürger selbst richten.18 Sie sind demnach Normadressaten der konstitutionellen Gewährleistungen. Die Grundrechte werden, ohne Dazwischentreten etwa einfacher Gesetze, im Privatrechtsverhältnis schlagend. Folglich kommt es zu einer Wirkung der Grundrechte als zivilrechtliche Ansprüche oder Gebote. Es wäre beispielsweise ein grundrechtswidriger Vertrag ohne weiteres sei jedenfalls notwendig. Anderenfalls werde die unmittelbare Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Grundrechte als unmittelbare Drittwirkung bezeichnet, was widersinnig wäre; ders., AcP 184 (1984), 201, 212 ff.; a.A. Diederichsen, AcP 198 (1998), 171, 213, 231, 234236. Aus österreichischer Sicht: Mayer, JBl 1990, 768, 771; a.A. Griller, JBl 1992, 205 (1. Teil), 289 (2.Teil), 300. Zur Drittwirkung der Grundrechte in Österreich und aus rechtsvergleichender Sicht: Novak, EuGRZ 1984, 133. 14 Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 162 f. 15 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht 634 im Zusammenhang mit der verwandten Diskussion zur Drittwirkung der Grundfreiheiten. 16 Vgl. Cherednychenko, ERPL 2006, 23, 29 ff.; Engle, HanseLR 2009, 165. Weder die deutsche noch englische Terminologie ist m.E. aus Wertungsgesichtspunkten vorzugswürdig, es soll lediglich auf sprachliche Unterschiede, die unter Umständen zu Verwirrung führen können, hingewiesen werden. 17 Siehe zur Verwendung des Terminus horizontal direct effect in Verbindung mit Richtlinien: Craig/De Burca, EU-Law5, 194 ff.; vgl. zur direkten Horizontalwirkung von RL: Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 25 ff., 30 ff. 18 Als Begründer und zugleich bekanntester Vertreter der These von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte gilt: Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht; ders., in: FS Molitor 17.

B. Drittwirkung von Art. 21 GRC

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nichtig.19 Mit anderen Worten: Durch die Lehre der unmittelbaren Drittwirkung der konstitutionellen Garantien gelangt man direkt zu Eingriffsverboten im Privatrechtsverkehr und zu Abwehrrechten gegenüber anderen Privatrechtssubjekten.20 Ein Beispiel soll der Illustration des Konzepts der unmittelbaren Horizontalwirkung von Grundrechten dienen: Die auflagenstärkste deutsche Tageszeitung hatte im Jahr 2004 über die Verhaftung eines beliebten Fernsehkommissars auf dem Münchner Oktoberfest wegen Kokainbesitzes berichtet. Der Artikel mit der Überschrift „Kokain! TV-Kommissar Balko auf Oktoberfest erwischt“ wurde mit drei Fotos des Schauspielers, eines davon auf der Titelseite, versehen.21 Dieser klagte daraufhin gegen das Verlagshaus auf Unterlassung der weiteren Berichterstattung und Schadensersatz. Er sei durch die Veröffentlichung in seinem Menschenrecht auf Achtung der Privatsphäre verletzt.22 Wollte man besagtem Grundrecht eine unmittelbare Drittwirkung attestieren, könnte der betroffene Schauspieler ohne Umwege seine Klage auf diese konstitutionelle Gewährleistung stützen. Klar muss aber sein, dass damit noch nichts über den Ausgang des Falls gesagt ist. Der Eingriff in das Grundrecht auf Achtung der Privatsphäre kann nämlich durchaus gerechtfertigt sein. Es stehen sich zwei Grundrechtsträger gegenüber. Auch das Verlagshaus kann (und hat) sich auf seine konstitutionellen Gewährleistungen, in concreto die Pressefreiheit, berufen.23 Damit können wir eine Unterscheidung der beiden Drittwirkungskonzepte bereits nicht treffen: Egal, ob man die These von der unmittelbaren oder der mittelbaren Drittwirkung vertritt, es hat stets eine Interessenabwägung stattzufinden.24 Von mittelbarer Drittwirkung ist die Rede, wenn Privatrechtssubjekte nicht Normadressaten der konstitutionellen Gewährleistungen sind.25 Daraus resultiert, dass Verhaltensweisen Privater nicht unmittelbar an den Grundrechten gemessen werden können. Damit Grundrechten aber dennoch eine Wirkung auf Berka, Verfassungsrecht3 Rz. 1271. Canaris, Grundrechte und Privatrecht 34. 21 EGMR 07.02.2012 Rs. Springer AG/Deutschland (39954/08), Rn. 9 ff. 22 Art. 8 EMRK. 23 Das Verlagshaus hat sich gegen das Urteil an den EGMR gewendet. Der EGMR hat der Beschwerde des Verlags stattgegeben. Dieser sei durch das Veröffentlichungsverbot in seiner Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) verletzt. Zwar sei diese, um die Privatsphäre des Schauspielers zu schützen, einzuschränken. Dennoch sei ein Veröffentlichungsverbot unangemessen. In einer demokratischen Gesellschaft sei ein solcher Eingriff nicht notwendig. 24 Dazu Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 142 ff. Dieser zeigt die Unterschiede zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung anhand aktueller Judikatur aus dem Vereinigten Königreich. 25  Mayer, JBl 1990, 768, 771 kritisiert den Begriff „mittelbare Drittwirkung“. Seiner Ansicht nach müsse man eher von „Nicht-Wirkung der Grundrechte“ sprechen. Wenn ein Begriff des einfachen Gesetzes, wie die guten Sitten, im Sinne der Grundrechte interpretiert werde, sei das nichts Besonderes und ebenso wenig Grundrechtsanwendung. 19 20

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das Privatrechtsverhältnis zukommt, bedarf es einer „gedanklichen Brücke“.26 Diese Brücke wird durch die Funktion der Grundrechte als staatliche Schutzpflichten geschlagen.27 Zwar ist der Staat und nicht die Privatperson Normadressat der Grundrechte. Allerdings entfalten diese mediatisiert durch Schutzpflichten dennoch eine mittelbare Wirkung.28 Der Staat (bzw. die Union) ist im Grunde verpflichtet, die Bürger voreinander zu schützen.29 Er kann gerade nicht tatenlos zusehen, wie Bürger durch andere Bürger in ihren fundamentalen Rechten verletzt werden.30 Die These der mittelbaren Drittwirkung soll ebenfalls anhand eines Beispiels veranschaulicht werden: Der Wirt des einzigen Gasthauses einer kleinen Gemeinde in Niederösterreich befand sich im Streit mit einem in diversen ortsansässigen Vereinen aktiven Einwohner. Der Gastwirt sprach daraufhin ein Lokalverbot aus. Dieses wurde mit der Behauptung einer Persönlichkeitsrechtsverletzung nach § 16 ABGB gerichtlich bekämpft. Der OGH führt unter Berufung auf F. Bydlinski31 und Aicher32 aus, dass ein diskriminierendes Lokalverbot unter Umständen sittenwidrig sein könnte. Des Weiteren bestehe ein die Privatautonomie einschränkender Kontrahierungszwang, wenn die mit der Ausnützung einer Monopolstellung verknüpfte, faktische Übermacht einem Beteiligten trotz formaler Gleichheit die Möglichkeit der Fremdbestimmung einräumt. Dem Kläger fehlten aufgrund der örtlichen Gegebenheiten zudem zumutbare Ausweichmöglichkeiten. § 16 ABGB sei Grundlage für einen Abschlusszwang, der sich für den Monopolisten auch aus seiner Bindung an den Gleichheitssatz ableiten lasse.33 Durch § 16 ABGB fließt die grundrechtliche Wertung in den privatrechtlichen Persönlichkeitsschutz ein. Die Bestimmung transportiert die konstitutionellen Gewährleistungen gewissermaßen ins Privatrecht. § 16 ABGB befindet sich somit an der Schnittstelle zwischen dem privaten und dem öffentlichen Recht.34 Ein weiteres prominentes Beispiel für eine derartige „Brücke“, über die Grundrechte im österreichischen Zivilrecht Wirkung entfalten, stellt die grundrechtskonforme Auslegung von § 879 Abs. 1 ABGB dar.

 Canaris, Grundrechte und Privatrecht 34.  Canaris, AcP 184 (1984), 201, 225; vgl. Staudinger/Sack/Seibl, BGB § 134 Rn. 41 m.w.N. und einer Übersicht zur Rechtsprechung des BGH. 28 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts 105. 29 Canaris, Grundrechte und Privatrecht 38. 30 Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 144 ff. 31 AcP 180 (1980), 1, 44 insbesondere Fn. 69. 32 Rummel/Aicher, ABGB3 § 16 Rz. 30 ff. 33 OGH 14.07. 1986, 1 Ob 554/86. 34 Kletečka/Schauer/Schauer, ABGB-ON 1.00 § 16 Rz. 15 f.; KBB/Koch, ABGB3 § 16 Rz. 10. 26 27

B. Drittwirkung von Art. 21 GRC

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II. Vergleich der beiden Ansätze Die jahrzehntelang geführte Debatte wurde zu einer juristischen Glaubensfrage hochstilisiert.35 Dadurch wurde der Blick auf die wesentlichen Unterschiede der Thesen vielfach verstellt. Es erscheint prima vista einleuchtend, dass sich aus der Art der Grundrechtswirkung auch die Intensität auf das Privatrechtsverhältnis ergibt. Dabei sagt die Wahl der Form der Drittwirkung über das Ergebnis im konkreten Konflikt nichts aus.36 Alexy bezeichnet die Konstruktionen daher als ergebnisäquivalent.37 Weder der unmittelbare noch der mittelbare Ansatz kann sich über den Vorrang der konstitutionellen Anordnungen hinwegsetzen. Widersprechen einfachgesetzliche Normen den höherrangigen Grundrechten, so setzen sich diese jedenfalls durch.38 Ebenso ist F. Bydlinski der Ansicht, dass es für das Resultat von untergeordneter Bedeutung sei, ob man das Grundrecht selbst anwende oder es durch Generalklauseln auf das Privatrechtsverhältnis wirke. Es sei des Weiteren nicht ganz klar, welche praktische Bedeutung sich aus der einen oder der anderen Theorie ergebe.39 Aus europarechtlicher Sicht ist auf GA Poiares Maduro hinzuweisen. Er geht unter Berufung auf Alexy davon aus, dass in der Sache selbst kein Unterschied zwischen unmittelbarer und mittelbarer Horizontalwirkung bestehe.40 Die Wahl der Konstruktion der Drittwirkung sagt folglich nichts über die Reichweite der Bindung von Privatrechtssubjekten an die Grundrechte aus.41 Die Unterscheidung und die sich daran knüpfende juristische Debatte führen einander aber nicht ad absurdum. Zwar kann man mit beiden Theorien zu einem kongruenten Ergebnis gelangen, dennoch ist es nicht gleichgültig, welchen Weg man dafür einschlägt.42 Um ein klares Verständnis für die folgende Untersuchung zur Drittwirkung des Diskriminierungsverbotes der Grundrechte-Charta 35 Fezer, JZ 1998, 265, 267 spricht von der „Gretchenfrage“ an jeden Juristen: „Wie hältst du es mit dem Verhältnis der Verfassung zum Privatrecht?“; Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 167. 36 Siehe schon I. 37 Theorie der Grundrechte 481 f. Zwei juristische Konstruktionen sind ergebnisäquivalent, wenn jedes Ergebnis, das im Rahmen der einen erzielt werden kann, auch im Rahmen der anderen erzielt werden kann; vgl. auch SA Poiares Maduro 23.05.2007 Rs. C-438/05 (Viking Line) Tz. 40; weiters Rebhahn, AcP 210 (2010), 489, 544 f. 38 Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 162 ff. 39 ÖZOR 162/63, 423, 436, 441 ff.; ihm folgend Floren, Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht 27 hält weiters zu Recht fest, dass der langjährige dogmatische Diskurs vor allem deshalb mit Ausdauer und Leidenschaft geführt wurde, weil man sich nicht ausreichend über Begrifflichkeiten verständigt habe. 40 SA Poiares Maduro 23.05.2007 Rs. C-438/05 (Viking Line) Tz. 40. Er beruft sich dafür auf Alexy, A Theory of Constitutional Rights 354 ff. 41 Siehe dazu Rebhahn, AcP 210 (2010), 489, 544 f. Er relativiert allerdings dahingehend, als ein geschulter und ausreichend forscher Jurist auf jedem Weg dasselbe Ergebnis erreichen könne. 42 Rebhahn, AcP 210 (2010), 489, 544 f.

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zu schaffen, müssen daher die Unterschiede der verschiedenen Spielarten kurz skizziert werden.43 Häufig wird die Frage nach der Art der Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht als ein Problem der Rechtstechnik dargestellt.44 Diese Differenzierung ist aufgrund des äußerlichen Unterschieds der Theorien nachvollziehbar. Im Falle einer unmittelbaren Horizontalwirkung kann sich der Private gegenüber seinem, sich formal auf gleicher Augenhöhe befindlichen, Vertragspartner direkt auf seine Grundrechte berufen. Das Privatrecht wird, überspitzt formuliert, überspielt und auf eine verfassungsrechtliche Ebene gehoben.45 Bei der mittelbaren Drittwirkung werden die privatrechtlichen Normen hingegen „konstitutionell aufgeladen“.46 In gewisser Hinsicht kommt so der Respekt vor der Eigenständigkeit der Privatrechtsordnung deutlicher zum Ausdruck. Die Grundrechte finden hauptsächlich durch die Interpretation der privatrechtlichen Generalklauseln Eingang in das Verhältnis zwischen Privaten. Die unmittelbare Drittwirkung wird daher aufgrund ihrer direkten Bindung der Privatrechtssubjekte an die Grundrechte und der damit bestehenden Rechtfertigungslast als intensiver empfunden. Es lässt sich demnach zumindest ein gewisser psychologischer Unterschied ausmachen.47 Das führt uns zu einem inhaltlichen Unterscheidungsmerkmal. Die mittelbare Drittwirkung lässt Grundrechte über die gedankliche Brücke von staatlichen Schutzpflichten inter privatos wirken. Die Schutzgebotsfunktion bedeutet nichts anderes, als dass der Staat ein Minimum an Schutz zu garantieren hat. Es besteht demnach ein Untermaßverbot.48 Damit überhaupt eine Pflicht zum Handeln besteht, muss zuerst eine gewisse Argumentationsschwelle genommen werden. Es bedarf einer Begründung, wieso gehandelt werden muss. In der Überwindung besagter Rechtfertigungsschwelle liegt ein bedeutender Unterschied zwischen mittelbarer und unmittelbarer Drittwirkung.49 Bevor die Überwindung der Argumentationsschwelle nicht gelingt, müssen zwei einander gegenüberstehende Interessen von Privaten gar nicht erst gegeneinander abgewogen werden. Bei der unmittelbaren Horizontalwirkung hingegen wirken die Grundrechte jedenfalls, beispielsweise als Verbotsgesetze, im Verkehr zwischen Privaten.50 43 Zu den Verschiedenheiten von mittelbarer und unmittelbarer Wirkung der Grundfreiheiten und Grundrechte siehe Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 164 ff. 44 Vgl. Griller, JBl 1992, 205, 207. 45 Canaris, Grundrechte und Privatrecht 38. 46 Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 164. 47 So zu den Grundfreiheiten: Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 472 f. 48  Canaris, AcP 184 (1984), 201, 228, 245. Das Untermaßverbot gilt sowohl gegenüber dem Gesetzgeber als auch der Rechtsprechung. 49  Canaris, Grundrechte und Privatrecht 42 ff.; Perner, Grundfreiheiten, GrundrechteCharta und Privatrecht 164 f. 50  Siehe zu der bezüglich der Grundfreiheiten ebenso geführten Diskussion: Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts 105 f.

B. Drittwirkung von Art. 21 GRC

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Der wesentlichste strukturelle Unterschied der zwei Thesen liegt daher im Vorliegen des Untermaßverbots bei der mittelbaren Drittwirkung. Bis eine bestimmte Schwelle überwunden ist, bedarf das Verhalten Privater keiner Rechtfertigung, auch wenn es mit Grundrechten in Konflikt gerät.51 Klarheit besteht weitgehend darüber, dass im Verhältnis zwischen Privaten auch bei Zugrundelegung einer unmittelbaren Drittwirkung andere Maßstäbe für eine Rechtfertigung bestehen müssen.52 III. Zwischenergebnis Bei der Frage nach der Wirkung von Grundrechten auf das Privatrecht sind klare Begrifflichkeiten von zentraler Bedeutung. Vorgelagert ist allerdings die Frage, in welchen Situationen Grundrechte überhaupt anwendbar sind. Erst nachdem die Reichweite der Charta bestimmt ist, können Aussagen über eine mögliche Drittwirkung sinnvoll getroffen werden.53 Privatpersonen können unmittelbar oder mittelbar an Grundrechte gebunden sein. Keiner der Ansätze ist aus rechtslogischen Gründen vorgezeichnet. Ein Vergleich der beiden Theorien zeigt, dass sowohl die mittelbare als auch die unmittelbare Drittwirkung zu identischen Ergebnissen führen kann. Die Wirkung auf das Privatrechtsverhältnis hängt demnach nicht zwingend von der Art der Horizontalwirkung ab.54 Dennoch bestehen auf dem Weg zu diesem Ergebnis wesentliche Unterschiede.55 Das Privatrecht wird bei der unmittelbaren Drittwirkung ausgehebelt. Die direkte Bindung der Privatrechtssubjekte an konstitutionelle Gewährleistungen wird daher auch aus psychologischen Gründen als intensiver empfunden.56 Durch die mittelbare Drittwirkung wird hingegen ein Untermaßverbot statuiert.57 Der Staat muss ein Mindestmaß an Schutz, auch zwischen Privatrechtssubjekten untereinander, garantieren. Es geht folglich um die Verweigerung des Rechtsschutzes durch den Staat. Um eine Handlungspflicht zu begründen, muss zunächst eine gewisse Argumentationshürde genommen werden. Gelingt dies nicht, so stellen sich Fragen nach einer Interessenabwägung zwischen Privaten erst gar nicht. Darin liegt nach Vgl. Singer, JZ 1995, 1133, 1136 f. Siehe Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 165 f. 53 So zur Drittwirkung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten: Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 141 ff. 54 Alexy, Theorie der Grundrechte 481 ff., 483 räumt ein, dass die Vertreter der einen These wohl zu anderen Ergebnissen als jene der anderen neigen. Dies ändere allerdings nichts daran, dass man stets zum selben Ergebnis gelangen könne. Die Theorien seien daher ergebnis-äquivalent; Rebhahn, AcP 210 (2010), 489, 545 merkt an, dass juristische Argumentationsmuster gerade die Aufgabe haben, die Argumentation anzuleiten und in eine gewisse Richtung zu lenken. Deshalb sei es nicht gleichgültig, welchen Weg man einschlage. 55 Vgl. Rebhahn, AcP 210 (2010), 489, 544 f. 56 Siehe zu den Grundfreiheiten Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 472 f. 57 Canaris, AcP 184 (1984), 201, 228, 245. 51 52

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Canaris gerade die Pointe der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Wege der Annahme einer Schutzgebotsfunktion.58 IV. Anwendungsbereich der Diskriminierungsverbote „Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“.59 Art. 51 GRC steht am Anfang der allgemeinen Bestimmungen der Charta. Er stellt, von spezifischen Fragen der einzelnen Norm abstrahiert, Regeln über die ihr zugrunde liegende Dogmatik auf. Das macht die Bestimmung im Vergleich zu nationalen Verfassungen und der EMRK einzigartig.60 Inhaltlich wird neben dem Anwendungsbereich auch das Verhältnis zu anderen Grundrechtskodifikationen behandelt. Ein enger Zusammenhang der allgemeinen Bestimmungen der Grundrechte-Charta besteht zur Grundsatznorm in Art. 6 EUV.61 Als Ziel von Art. 51 GRC kann insbesondere eine trennscharfe Abgrenzung der europäischen Grundrechtsordnung von jener der Mitgliedstaaten verstanden werden.62 Die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte ist für die Untersuchung der Horizontalwirkung der Charta wesentlich. Einerseits muss klar sein, wer an die Grundrechte gebunden ist, wer also Normadressat ist. Andererseits ist von Bedeutung, wie weit der Anwendungsbereich der Europäischen Grundrechte, vor allem bei der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten, geht. Damit wird auch Grundsätzliches gezeigt: Die Unionsgrundrechte reichen nur soweit wie das Unionsrecht selbst.63 Die Frage nach dem Anwendungsbereich der Charta ist damit gleichzeitig eine nach der Reichweite des Unionsrechts. 1. Union Die Bindung der Union an die Grundrechte-Charta lässt sich als notwendige Folge der (unmittelbaren) Wirkung des Unionsrechts auf die Bürger der MitGrundrechte und Privatrecht 42 f. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC (Hervorhebungen durch den Autor). 60 Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 208; Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 1. 61 Abs. 1 drückt aus, dass die Charta rechtsverbindlich ist und ihr derselbe Rang wie dem Primärrecht zukommt. Abs. 2 schreibt den Beitritt zur EMRK vor. Vgl. dazu Streinz/Streinz, EUV/AEUV2 Art. 6 EUV, Rn. 1. 62 Schwarze/Hatje, EU-Kommentar3 Art. 51 GRC, Rn. 2. 63 Vgl. dazu Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 177; dens., ÖJZ 2011, 333, 334. EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 21: „Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte.“ 58 59

B. Drittwirkung von Art. 21 GRC

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gliedstaaten begreifen.64 Die wesentliche Funktion des EU-Grundrechtsschutzes war und ist daher die Kontrolle der supranationalen Regelungsgewalt der Union.65 Zum besseren Verständnis lohnt sich ein kurzer Blick zurück auf die Entstehungsgeschichte der Charta.66 Die Römer Verträge kannten keinen Grundrechtekatalog. Das war auch wenig verwunderlich, weil man davon ausging, dass es sich um traditionell völkerrechtliche Verträge handelt.67 Allerdings wurde bereits früh von Seiten der nationalen Rechtsprechung68, aber auch dem EuGH69 das Potential des Unionsrechts erkannt bzw. anerkannt, grundrechtssensible Materien zu berühren.70 Ein Rückgriff auf nationale Grundrechte war, wegen des Vorrangs des Unionsrechts gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten, freilich ausgeschlossen.71 Ein Rechtsschutzbedürfnis blieb. Man behalf sich daher mit der Anerkennung gewisser Grundrechte, als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts.72 Als Rechtserkenntnisquelle dienten die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie die EMRK. Trotzdem verstummte die Forderung nach einem „eigenen“ Unionsgrundrechtekatalog nicht. Die Diskussion mündete schließlich in der Proklamation der Grundrechte-Charta auf dem Europäischen Rat von Nizza im Jahr 2000. Die Charta wurde allerdings erst durch den Vertrag von Lissabon rechtsverbindlich. Die Bindung an

Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 4; die Begriffe „unmittelbare Wirkung“, „unmittelbarer Anwendbarkeit“ oder „unmittelbare Geltung“ werden vom EuGH im Wesentlichen synonym verwendet. Auch in der Lehre fehlt eine einheitliche Terminologie. Gemeint ist damit, dass Unionsrechtsakte direkt, sprich ohne Dazwischentreten eines nationalen Hoheitsaktes, Bindungswirkung für nationale Behörden und Gerichte entfalten. Sie bilden unmittelbare Grundlage für verwaltungsbehördliche Entscheidungen und gerichtliche Urteile und bedürfen, unter gewissen Umständen, keiner Transformation in nationales Recht. Vgl. dazu erstmals: EuGH 05.02.1963 Rs. 26/62 (Van Gend en Loos) S. 25; Schweizer/Hummer/ Obwexer, Europarecht, Rz. 163 ff. 65 Eilmansberger, ecolex 2010, 1024. 66 Siehe auch Kapitel 1.B.II. 67 Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 14 Rn. 3; vgl. Weiler, in: Weiler, The Constitution of Europe: „Do the new clothes have an emperor?” 102, 107 ff.; Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 13 ff. 68 Siehe nur BVerfG 29.05.1974, 2 BvL 52/71 (Solange I). 69 EuGH 12.11.1969 Rs. 29/69 (Stauder); 17.12.1970 Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft). 70 Vgl. Schwarze/Hatje, EU-Kommentar3 Art. 51 GRC, Rn. 9. 71 EuGH 17.12.1970 Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft): „Daher kann es die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staats gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt.“ Vgl. Walter, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 1 Rn. 25 ff. 72 EuGH 12.11.1969 Rs. 29/69 (Stauder). 64

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die Grundrechte ist daher nichts anderes als Ausdruck deren ursprünglichsten Ziels: der Begrenzung der Hoheitsgewalt der Union.73 Art. 51 Abs. 1 GRC unterscheidet zunächst zwischen Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union als Verpflichtungsadressaten der Charta. Bei den Organen handelt es sich um die in Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV genannten Institutionen.74 Die „Einrichtungen und sonstigen Stellen“ bilden eine Auffangkategorie.75 Es fallen alle durch die Verträge oder Sekundärrecht geschaffenen Institutionen darunter. Insbesondere sind auch die in grundrechtssensiblen Bereichen tätigen EU-Einrichtungen, wie die Grenzschutzagentur Frontex oder das Amt für Korruptionsbekämpfung Olaf, an die Unionsgrundrechte gebunden.76 Die Union und ihre Stellen sind bei sämtlichen Tätigkeiten an die Charta gebunden. Es soll kein grundrechtsfreier Raum verbleiben.77 Auch wenn die Union privatrechtlich aktiv ist, besteht weiterhin eine Grundrechtsbindung. Eine derartige Fiskalgeltung der Unionsgrundrechte wird schon deshalb kaum angezweifelt, weil das Unionsrecht keine ausgeprägte Differenzierung zwischen dem öffentlichem Recht und dem Privatrecht kennt.78 Durch privatrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten soll sich die Union nicht ihrer Grundrechtsbindung entziehen können. Hierbei spielen die für die Grundfreiheiten entwickelten Grundsätze eine tragende Rolle.79 Es kann daher festgehalten werden, dass die Union bei jeder Tätigkeit in mehrfacher Hinsicht umfassend an die Grundrechte-Charta gebunden ist. Eine nur scheinbare Begrenzung ergibt sich durch das ebenso in Art. 51 GRC normierte Subsidiaritätsprinzip.80 Die Bindung der Unionsorgane stieß weder vor noch nach Inkrafttreten der Charta auf Widerstand. Von den nationalen Gerichten wurde sie nicht nur begrüßt, sondern stets eingefordert.81 73 Meyer/Borowsky, GRC3 Art. 51 Rn. 16; sehr treffend formuliert: Calliess/Ruffert/ Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 4: „Die Unionsgrundrechte sind damit legitimatorisch notwendiger Bestandteil des unmittelbar geltenden und Vorrang beanspruchenden Unionsrechts.“ Siehe auch: Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 14 Rn. 47; Eilmansberger, ecolex 2010, 1024. 74 Es sind daher das Europäische Parlament, die Kommission, der Europäische Rat, der Rat, der Gerichtshof der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank und der Rechnungshof an die GRC gebunden. 75 Schwarze/Hatje, EU-Kommentar3 Art. 51 GRC, Rn. 11. 76 Streinz/Streinz/Michl, EUV/AEUV2 Art. 51 GRC, Rn. 3. 77 Meyer/Borowsky, GRC3 Art. 51, Rn. 16. 78 Vgl. Jarass, Charta EU-Grundrechte, Art. 51, Rn. 5 f, siehe dort auch Fn. 12. 79 Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 45. 80 Das Subsidiaritätsprinzip hat für die Drittwirkungsthematik nur begrenzte Relevanz. So Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 172: Die Bindung der Union hat keinen Einfluss auf die Kompetenzverteilung zwischen derselben und den Mitgliedstaaten. 81 Kühling, in: von Bogdandy/Bast(Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht2, 679 f. verweist insbesondere auf die diesbezüglich wichtige Rolle des deutschen Bundesverfassungsgerichts und des italienischen Corte Constituzionale.

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2. Mitgliedstaaten Nach Art. 51 GRC sind die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung von Unionsrecht an die Grundrechte der Charta gebunden. Vor der Geltung der Grundrechte-Charta wurde die Reichweite der Bindung von Mitgliedstaaten durch die Rechtsprechung des EuGH determiniert. Über einen Zeitraum mehrerer Jahrzehnte hinweg hat sich eine gefestigte Judikatur entwickelt. Diese bildete auch die Hauptinspirationsquelle für Art. 51 GRC.82 Trotz dieser Verschriftlichung blieb bezüglich der Reichweite des Anwendungsbereichs der Unionsgrundrechte noch einiges im Dunkeln. Stark vereinfacht war weiterhin ungewiss, inwieweit die Mitgliedstaaten an EU-Grundrechte gebunden sein sollen.83 Dazu nahm erst kürzlich der Gerichtshof erneut Stellung. Alles in allem wurde die Judikatur des EuGH von Seiten der Lehre seit jeher höchst kontrovers betrachtet. Das ist nicht weiter verwunderlich. Im Kern geht es darum, wann nationale konstitutionelle Gewährleistungen jenen der Union weichen müssen, und somit um ein Stück nationalstaatliche Souveränität.84 3. Rechtsprechung Die umstrittene Frage, inwieweit die Mitgliedstaaten bei ihrem Handeln an die Unionsgrundrechte gebunden sind, hat den Gerichtshof in zahlreichen Entscheidungen beschäftigt. Die Rechtsprechungsentwicklung ist allerdings wohl noch nicht ganz am vollkommenen Endpunkt angekommen.85 Erst kürzlich sorgte der Gerichtshof mit zwei Urteilen erneut für Furore.86 82 In den Erläuterungen zur Grundrechte-Charta wird unmissverständlich Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH genommen. Dazu Griller, in: Duschanek/Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa 131, 139 f.; Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563, 564 f.; a.A. Meyer/Borowsky, GRC3 Art. 51 Rn. 29. Der EuGH hat mittlerweile klar Stellung bezogen: EuGH 26.02.2013 Rs. 617/10 (Akerberg Fransson). Siehe auch unter 5. 83 Vgl. Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 222 ff. Für Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/ AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 7 ist es wenig erstaunlich, dass die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte zu einem zentralen Gegenstand der unionsrechtlichen Grundrechtsdiskussion geworden sei; Meyer/Borowsky, GRC3 Art. 51 Rn. 24 meint, es handle sich dabei um eine überaus heikle, streitige und bisweilen ungeklärte Frage. 84 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang Art. 53 GRC. Die Schutzniveauklausel regelt das Verhältnis der Grundrechte-Charta zu anderen Grund- und Menschrechtskodifikationen. Die EMRK und die mitgliedstaatlichen Grundrechte sind von besonderer Relevanz. Bezüglich der Bedeutung der Schutzniveauklausel ist einiges noch ungeklärt. Siehe statt vieler: Griller, in: Duschanek/Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa 129, 169; Meyer/Borowsky, GRC3 Art. 53 Rn. 7 ff.; Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 53 GRC, Rn. 3 ff., fasst den Meinungsstand zusammen und bezieht dazu Stellung. Siehe dazu jüngst: EuGH 26.02.2013 Rs. C-399/11 (Melloni). 85 Kühling, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht2, 680. 86 EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson); 26.02.2013 Rs. C-399/11 (Melloni). Siehe dazu Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1267, 1272 ff.; A. Posch, ÖJZ 2013, 380.

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Der EuGH geht in ständiger Judikatur davon aus, dass die Mitgliedstaaten dann an die Unionsgrundrechte gebunden sind, wenn eine Reglung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.87 Dreh- und Angelpunkt ist somit die Frage, wann eine Situation gegeben ist, in der die Mitgliedstaaten Unionsrecht anwenden. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass ein Großteil der Rechtsprechung aus der Zeit vor Geltung der Grundrechte-Charta stammt. Nach Art. 51 GRC sind die Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht an die Grundrechte-Charta gebunden. Diese unterschiedliche Diktion entflammte auf Seiten der Lehre erneut die Debatte um den Geltungsbereich der Grundrechte-Charta. Vielfach bestand die Impression, dass diese Formulierung eine Einschränkung des Anwendungsbereichs der Grundrechte-Charta im Vergleich zum weiten Verständnis des Gerichtshofes bedeuten würde.88 Dieser hätte sohin wohl seine Rechtsprechungslinie verlassen müssen. Im Wesentlichen lassen sich zwei Konstellationen unterscheiden, in welchen eine Grundrechtskontrolle am Maßstab der Unionsgrundrechte seitens des EuGH bejaht wird.89 Der erste Fall setzt einerseits das Vorhandensein von Unionsrecht und andererseits dessen Durchführung seitens der Mitgliedstaaten voraus.90 Die mitgliedstaatlichen Organe führen entweder einen Unionsrechtsakt durch oder setzen diesen um. Sie handeln daher im Grunde als verlängerter Arm der Union.91 Weiler hat diese Konstellation daher sehr treffend Agency-Situation benannt.92 In Wachauf stellt der EuGH erstmals klar, dass nicht nur die Union, sondern auch ihre Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte gebunden sein können.93 Eine Bindung bestehe sowohl bei der Durchführung von Seiten der Verwaltung als auch bei normativer Umsetzung von Unionsrechtsakten. Ob die „Durchführung“ mittelbar, wie etwa bei der Umsetzung von Richtlinien oder unmittelbar, wie bei Verordnungen, geschieht, sei gleichgültig. Bei der Auslegung von Unionsrecht haben die Mitgliedstaaten die Grundrechte ebenfalls stets zu beachten. EuGH 18.06.1991 Rs. C-260/89 (ERT) Rn. 42. Siehe dazu bei 5. 89 Siehe dazu Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte 38 ff. Weitere generelle Fallgruppen ließen sich nicht ausmachen; Eilmansberger, ecolex 2012, 1024; a.A. ist Rebhahn, JPR 2012, 386, 389. Er geht davon aus, dass bezüglich der zweiten Konstellation gar keine einheitliche Rechtsprechung vorliege; von Bogdandy et al., CMLRev 49 (2012), 489, 497 ff. unterscheiden drei Konstellationen. Die Dritte wird von den Autoren in den weiter unten behandelten Öffnungsklauseln gesehen. 90 Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 8. 91 Haltern, Europarecht2, 526 ff. 92 In: Weiler, The Constitution of Europe: „Do the new clothes have an emperor?” 102, 119 ff.; Weiler/Lockhart, CMLRev 32 (1995), 51 (Part 1), 72; vgl. auch Kühling, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht2, 680. 93 EuGH 13.07.1988 Rs. C-5/88 (Wachauf). 87 88

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Sie sind daher immer bei der Umsetzung und Ausführung von Unionsrecht an die Grundrechte-Charta gebunden. In der zweiten Konstellation, die sich aus der Judikatur des Gerichtshofes entwickelt hat, bilden die Unionsgrundrechte Schranken-Schranken für die Grundfreiheiten. Die durch die Grundfreiheiten garantierten Rechte gelten nicht ausnahmslos. Es bestehen sogenannte Schutzklauseln, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, die Grundfreiheiten einzuschränken, um bestimmte Rechtsgüter zu schützen.94 Beruft sich ein Mitgliedstaat auf eine derartige Ausnahmebestimmung des Unionsrechts, um eine Verletzung der Grundfreiheiten zu rechtfertigen, ist er dabei an die Unionsgrundrechte gebunden. Es stehen damit die Rechtfertigungen der Mitgliedstaaten auf dem Prüfstand.95 Durch die Einschlägigkeit des Schutzbereichs der Grundfreiheiten wird das Tor zur Anwendbarkeit des Unionsrechts geöffnet. Die Ausnahmebestimmungen der Grundfreiheiten bewirken eine gewisse Transmission der Unionsgrundrechte in die nationale Sphäre.96 Die Rechtsprechungsgruppe wird wegen der gleichnamigen Leitentscheidung des Gerichtshofes ERT-Situation genannt. Als Beispiel für das Zusammenspiel von Grundrechten und Grundfreiheiten bietet sich die Rechtssache Schmidberger an. 97 Wegen einer Straßenblockade durch Umweltaktivisten war die Brennerautobahn zwischen Österreich und Italien für 26 Stunden nicht befahrbar. Bei der Brennerblockade handelte es sich um eine von den österreichischen Behörden geduldete Demonstration. Dem Speditionsunternehmen Schmidberger entstand dadurch ein Schaden. Es begehrte den Ersatz desselben von der Republik Österreich. Der EuGH hält fest, dass es sich bei der Duldung der Versammlung durch die österreichischen Behörden um eine Behinderung der Warenverkehrsfreiheit handelte, die einer Rechtfertigung bedürfe.98 Die Versammlungsfreiheit gehöre zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaft und könne daher eine mögliche Schranke der Grundfreiheiten darstellen. Da aber auch der Versammlungsfreiheit oder dem Recht auf freie Meinungsäußerung keine uneingeschränkte Wirkung zukomme, geht der Gerichtshof dazu über, das Grundrecht direkt mit 94 Vgl. Cirkel, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte 102 f. Ein Beispiel für eine derartige Schutzklausel ist Art. 36 AEUV. Darin finden sich zahlreiche Ausnahmen, wie der Schutz der öffentlichen Sittlichkeit, der öffentlichen Ordnung und Sicherheit etc. Ist eine Beschränkung der bestehenden Einfuhr-, Ausfuhr-, oder Durchfuhrverbote aus den in Art. 36 AEUV genannten Gründen notwendig, dann steht sie dem Verbot von mengenmäßigen Beschränkungen in Art. 34 und Art. 35 AEUV nicht entgegen. 95 EuGH 18.06.1991 Rs. C-260/89 (ERT) Rn. 43: Es sind daher „die im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Rechtfertigungen im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen“; vgl. Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 24. 96 Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 14. 97 EuGH 12.06.2003 Rs. C-112/00 (Schmidberger); Haltern, Europarechtrecht2, 533 weist auf die Unterschiede zwischen Schmidberger und ERT hin. 98 EuGH 12.06.2003 Rs. C-112/00 (Schmidberger) Rn. 64.

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der Warenverkehrsfreiheit abzuwägen.99 Der EuGH gelangt zu der Ansicht, dass Österreich mit der Nichtuntersagung der Demonstration nicht gegen seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen hat. Es wird deutlich, dass die Unionsgrundrechte nicht nur Schranken-Schranken für die Grundfreiheiten bilden, sie können vielmehr auch als Schranken der Grundfreiheiten begriffen werden.100 In diesem Zusammenhang soll noch auf eine Differenzierung zwischen nationalen Grundrechten und Unionsgrundrechten hingewiesen werden. Nationale Grundrechte können als Rechtfertigungsgrund für eine Derogation von den Grundfreiheiten berücksichtigt werden. Kommt es allerdings zur Kollision zwischen Europäischen Grundrechten und Grundfreiheiten, stehen diese einander auf derselben (primärrechtlichen) Ebene gegenüber.101 Mit seinem Urteil in der Rechtssache Akerberg Fransson bringt der Gerichtshof klar zum Ausdruck, dass er den Anwendungsbereich der GrundrechteCharta auch nach ihrem Inkrafttreten unverändert weit versteht. Nach dem Verständnis des EuGH wurde in Art. 51 Abs. 1 GRC die bisherige Rechtsprechung festgeschrieben. Die Sichtweise werde durch die Erläuterungen zu Art. 51 GRC bestätigt, die gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV und Art. 52 Abs. 7 GRC für die Auslegung der Charta zu berücksichtigen sind. Es komme demzufolge nicht zu einer Einschränkung der Bindung der Mitgliedstaaten an Unionsgrundrechte durch die Grundrechte-Charta.102 Art. 51 GRC sei sohin mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu identifizieren.103 Zusammenfassend gelangt man zum Ergebnis, dass nach ständiger Judikatur des Gerichtshofes Unionsgrundrechte dann anwendbar sind, wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht mittelbar oder unmittelbar durchführen. Zudem fallen auch solche Akte in den Anwendungsbereich, die die Grundfreiheiten beschränken. Dies gilt einerseits für die „klassische“ ERT-Situation, in der die Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte gebunden sind, wenn sie sich auf die im Unionsrecht vorgesehenen Ausnahmebestimmungen, um Beschränkungen der Grundfreiheiten zu rechtfertigen, berufen. Andererseits können die Unionsgrundrechte selbst eine Schranke für die Grundfreiheiten bilden. Der Gerichtshof sieht in den Bestimmungen der Charta eine Bestätigung seiner bisherigen Rechtsprechung.104 Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass damit die von Seiten der Lehre diesbezüglich bestehenden Zweifel aus dem Weg geräumt wurden. EuGH 12.06.2003 Rs. C-112/00 (Schmidberger) Rn. 80 ff. Haltern, Europarechtrecht2, 533 ff. 101 Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 67 f., vgl. auch 135 ff. 102  EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 20 ff.; siehe dazu Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1267, 1272 ff.; A. Posch, ÖJZ 2013, 37. 103 So bereits zuvor: Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563, 564. 104  EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 16 ff. 99

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4. Bewertung durch die Literatur Die Literatur ist seit jeher gespalten. Da es sich um eines der am breitesten diskutierten Themen in der Unionsgrundrechtsdebatte handelt, kann schon allein aufgrund der hohen Anzahl an Beiträgen nur ein Überblick über die bestehenden „Strömungen“ gegeben werden.105 Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte in der AgencySituation wird seitens der Lehre kaum mehr bestritten.106 Als Begründung werden in erster Linie der Vorrang des Unionsrechts, dessen einheitliche Auslegung und der effektive Rechtsschutz vorgebracht.107 Die Diktion des Anwendungsbereichs der Charta in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC legt diese Verständnis zudem nahe. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC sieht vor, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union an die Grundrechte-Charta gebunden sind. Daraus wird geschlossen, dass Sachverhalte, in denen die Mitgliedstaaten als verlängerter Arm der Union tätig werden, vom Anwendungsbereich der Charta jedenfalls erfasst sind.108 Umstritten bleibt jedoch, ob eine Bindung auch für sogenannte Öffnungsklauseln in Frage kommt. Diese ermöglichen es den Mitgliedstaaten, abweichende oder weitergehende Regelungen von den unionsrechtlichen Vorgaben zu treffen.109 Auf dieses im Zusammenhang mit Antidiskriminierungsrichtlinien interessante Sonderproblem des Anwendungsbereichs der Unionsgrundrechte wird weiter unten eingegangen. Weitaus kontroverser beurteilt wird die ERT-Situation. Abgesehen von einer grundsätzlichen Diskussion zeigt sich hier vollends eine bereits angedeutete 105  Meyer/Borowsky, GRC3 Art. 51 Rn. 24 vermag allein im deutschsprachigen Raum auf sechs Monographien und 11 Aufsätze zu diesem Thema seit dem Jahr 1999 zu verweisen; Ruffert, EuGRZ 2004, 466 merkt an, dass es sich im Jahr 1995 noch um ein eher exotisches Thema gehandelt habe. Mittlerweile sei es einer der Schwerpunkte der europäischen Grundrechtsdebatte. Dazu erst jüngst mit einem Überblick zu den unterschiedlichen Standpunkten und mit einem eigenen Lösungsansatz: Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte 40 ff., 46 f.; siehe zum aktuellen Diskussionsstand: Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1267, 1272 ff. 106  Siehe etwa Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 14 Rn. 47; Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 222 ff. Kritik an der Agency-Situation noch bei: Coppel/ O’Neill, CMLRev 29 (1992), 669, 692. Vor allem wurde dem EuGH vorgeworfen, er weite die Kompetenzen der Gemeinschaft durch seine Grundrechtsjudikatur aus. Es gehe nicht darum, das Individuum zu schützen, sondern lediglich um eine Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Integration. Am Schluss wird die eingangs gestellte Frage, ob der Gerichtshof Grundrechte denn ernst nehme, folgendermaßen beantwortet: “By using the term fundamental rights in such an instrumental way the Court refuses to take the discourse of fundamental rights seriously. It thereby both devalues the notion of fundamental rights and brings its own standing into disrepute.” Eine grundlegende Replik zu diesem Beitrag haben Weiler/Lockhart, CMLRev 32 (1995), 51 (Part 1), 597 (Part 2) verfasst. 107 Ruffert, EuGRZ 1995, 218, 523. 108 Vgl. statt vieler Streinz/Streinz/Michl, EUV/AEUV2 Art. 51 GRC, Rn. 7 ff. 109 Vgl. Haltern, Europarecht2, 526 f.

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Problematik. Es ist umstritten, ob das weite Verständnis des EuGH, dass die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts an die Grundrechte gebunden sind, mit dem Wortlaut der Charta, die von der Durchführung des Unionsrechts spricht, vereinbar ist. Wurde durch Art. 51 Abs. 1 GRC der Anwendungsbereich im Vergleich zur vom EuGH verwendeten Formel demnach verengt? Das Inkrafttreten der Grundrechte-Charta hat der Debatte um die ERTSituation daher neuen Aufwind verliehen. Der EuGH hat sich diesbezüglich in den Rechtssachen Akerberg Fransson und Melloni nun klar positioniert.110 Art. 51 der Charta sei als Bestätigung der Rechtsprechung zu verstehen und stelle daher keine Reduktion des bisherigen Verständnisses vom Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte dar.111 Damit macht der Gerichtshof deutlich, dass aus seiner Sicht die von Seiten einer Minderheit in der Lehre teils gehegte Hoffnung, dass es durch die Grundrechte-Charta zu einer Einschränkung der mitgliedstaatlichen Bindung gekommen sei, nicht begründet ist. Dass die Bekräftigung seiner kontroversen Rechtsprechung zur höheren Akzeptanz derselben führen wird, ist allerdings unwahrscheinlich. Die dazu bestehenden Kritikpunkte sind daher weiterhin von hoher – wenn auch vornehmlich akademischer – Relevanz. Im Folgenden wird zunächst auf die kontroversen Ansichten in der Literatur zur ERT-Situation eingegangen. Hierbei werden strukturelle Probleme bezüglich der Reichweite des Unionsrechts augenscheinlich. Anschließend wird der Meinungsstand zur Frage, ob es zu einer Einschränkung des Geltungsbereichs der Charta durch Art. 51 Abs. 1 GRC gekommen ist, dargestellt. Weiler/Lockhart sehen in den Ausnahmebestimmungen zu den Grundfreiheiten jedenfalls Begriffe des Gemeinschaftsrechts.112 Selbst bei einer formalistischen Betrachtungsweise leuchte ein, dass die Frage, ob eine Verletzung der Grundfreiheiten gerechtfertigt und damit erlaubt ist, letztlich eine Frage des Gemeinschaftsrechts sein müsse. Es sei für einen gemeinsamen Markt nicht denkbar, dass die Mitgliedstaaten nach eigenen Wertvorstellungen die Reichweite der Grundfreiheiten und deren Ausnahmen definierten. Damit gehe die Konsequenz einher, dass man sich, wenn eine Verletzung der Grundfreiheiten vorliege und sich ein Mitgliedstaat auf einen Rechtfertigungstatbestand stütze, im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts befinde.113 Die Tatbestands110  In diese Richtung gehend bereits: EuGH 07.06.2012 Rs. C- 27/11 (Vinkov) Rn. 58; 15.11.2011 Rs. C-256/11 (Derci) Rn. 72; vgl. dazu A. Posch, ÖJZ 2013, 380, 381. 111  EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson); 26.02.2013 Rs. C-399/11 (Melloni). Siehe dazu A. Posch, ÖJZ 2013, 380. 112  CMLRev 32 (1995), 51, 74 ff. (Part 1), 597 (Part 2): “The scope of the derogation and the conditions for its employment are all creatures of Community law, Treaty and judge made”; ebenso Weiler, in: Weiler, The Constitution of Europe: „Do the new clothes have an emperor?” 102, 122. 113  Weiler/Lockhart, CMLRev 32 (1995), 51, 76 (Part 1); Weiler, in: Weiler, The Constitution of Europe: „Do the new clothes have an emperor?” 102, 121 f.; diesen Ausführungen schließt sich neben vielen auch Haltern, Europarecht2, 531 an.

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merkmale der Ausnahmebestimmungen seien daher, vom Gerichtshof richtig erkannt, im Lichte der Gemeinschaftsgrundrechte auszulegen.114 In die beschriebene Richtung geht der Grundtenor in großen Teilen des Schrifttums. Man dürfe die Schutzklauseln nicht als Grenzen der Grundfreiheiten und damit des Gemeinschaftsrechts begreifen. Es handle sich dabei um eine Beschränkungsmöglichkeit in einer eigenen Prüfstufe. Somit sei es konsequent, dass Einschränkungen der Grundfreiheiten nur dann zulässig seien, wenn sie auch den Unionsgrundrechten entsprechen.115 Durch die Beschränkung der Grundfreiheiten werde der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts eröffnet. Falls es sich um eine gerechtfertigte Beschränkung handle, folge daraus nicht, dass das Gemeinschaftsrecht insgesamt suspendiert werde, sondern eben nur, dass die Grundfreiheiten legitimierweise beschränkt werden könnten.116 Kingreen deutet auf den engen Zusammenhang zwischen Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten hin. Die Problematik der ERT-Rechtsprechung zeige sich erst bei Betrachtung der Dogmatik zum Anwendungsbereich der Grundfreiheiten. Die Grundfreiheiten seien durch die Judikatur des EuGH weitgehend zu einer spezifischen Art von Freiheitsrechten ausgebaut worden.117 Es ließen sich daher beinahe alle nationalen Regulierungsmaßnahmen, die sich potentiell grenzüberschreitend auswirken könnten, an ihnen messen. Gehe man nun davon aus, dass bei jeder wie auch immer gearteten Tangierung der Grundfreiheiten der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet werde, so würden in all jenen sehr weitgehenden Fallgruppen die Unionsgrundrechte Anwendung finden.118 Überspitzt formuliert es daher Kingreen: „Ist der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten eröffnet, so wird zugleich der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte erschlossen und derjenige der nationalen Grundrechte verschlossen“.119 Darin liege eine zu weitgehende Verdrängung von nationalen Grundrechten. Die Notwendigkeit zur einheitlichen Anwendung des Unionsrechts könne die Rechtsprechung des EuGH nicht stützen. Durch die Ausnahmeklauseln der Grundfreiheiten nehme das Unionsrecht nämlich unterschiedliEuGH 18.06.1991 Rs. C-260/89 (ERT) Rn. 43. Jarass, EuR 1995, 202, 221 ff.; Cirkel, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte 103. 116 Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte 90 ff., 93 trifft noch eine weitere Unterscheidung zwischen Rechtfertigungsgründen und Ausnahmeregelungen, die dazu führen, dass der Tatbestand der Grundfreiheiten gar nicht mehr erfüllt ist. Auf derartige Ausnahmeregelungen seien auch die EU-Grundrechte nicht anzuwenden. So nimmt Abs. 4 von Art. 45 AEUV Beschäftigung im öffentlichen Dienst aus dem Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus. Es handelt sich hierbei nicht um einen Rechtfertigungstatbestand, sondern um eine Ausnahme aus dem Anwendungsbereich des Unionsrechts. So auch Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte 50 ff. 117 Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 16 zeigt dies an den Entscheidungen: EuGH 11.07.2002 Rs. C-60/00 (Carpenter) und 25.03.2004 Rs. C-71/02 (Karner). 118 Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 16 f. 119 EuGRZ 2004, 570, 576. 114 115

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che Regelungen gerade hin.120 Der Mitgliedstaat werde gewissermaßen aus dem Anwendungsbereich der Verträge entlassen.121 Ruffert fordert den Gerichtshof dazu auf, den eingeschlagenen Weg nur mit großer Vorsicht und Behutsamkeit weiter zu beschreiten.122 Er bewertet die meisten Argumente, die für eine Bindung der Mitgliedstaaten als verlängerter Arm der Union vorgebracht werden, in der ERT-Situation als nicht mehr schlagkräftig. Die Gemeinschaftsgrundrechte hätten zum damaligen Zeitpunkt noch nicht dieselbe Funktion als nationale Grundrechte gehabt. Eine Ausstrahlungswirkung auf die Grundfreiheiten anzunehmen, sei daher zu weitreichend. Unter Berufung auf Coppel/O’Neill123 hält er fest, dass der EuGH gravierend in den mitgliedstaatlichen Bereich eingreife, wenn er mitgliedstaatliche Vorschriften, die die Ausübung der Grundfreiheiten beeinträchtigen, am Maßstab der EUGrundrechte überprüfe. Der tragenden dogmatischen Begründung für eine Bindung der Mitgliedstaaten an Gemeinschaftsgrundrechte komme aber auch hier große Bedeutung zu.124 Verstoße eine nationale Ausnahmeregel grob gegen Gemeinschaftsgrundrechte, sei dies zugleich als Verstoß gegen tragende Prinzipien der Gemeinschaftsverfassung zu werten. Der Vorrang und die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts sprechen daher für eine Grundrechtskontrolle durch den Gerichtshof. Allerdings seien nach Ruffert dem Grundsatz nach nationale Grundrechte anwendbar. Nur wenn eine nationale Regelung grob gegen Gemeinschaftsgrundrechte verstoße, sei eine Kontrolle durch den EuGH auch in der ERT-Situation hinzunehmen.125 Abgesehen von der wenig umstrittenen Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte-Charta als verlängerter Arm der Union, blieb auch nach Inkrafttreten der Charta, bezüglich ihres Anwendungsbereichs, so manches unklar.126 Dies vor allem in Hinblick auf die seit jeher kontroverse ERT-Situation. Umstritten ist von Seiten des Schrifttums, ob durch den in der Charta verwendeten Begriff Durchführung die Reichweite gegenüber der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes eingeschränkt wurde. Zur Erinnerung: Der EuGH ging vor Inkrafttreten der Charta davon aus, dass eine nationale Maßnahme dann an den Unionsgrundrechten zu messen ist, wenn sie in den Anwendungsbereich der Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 16 f. Kingreen, EuGRZ 2004, 570, 576 unter Berufung auf Coppel/O’Neill, CMLRev 29 (1992), 669, 672. 122 EuGRZ 1995, 518, 528 f. 123 CMLRev 29 (1992), 669, 692. 124 Ruffert, EuGRZ 1995, 518, 528 f. siehe dort Fn. 142: Ruffert beruft sich ausdrücklich auf Weiler, in: Liber Amicorum Pescatore 821, 840: „Neither Community law nor the European Court of Justice should be asked to, or could positively sanction a practice which violates fundamental human rights. This would simply be inconsistent with the judicial function in general and Article 164 in particular”. 125 EuGRZ 1995, 518, 528 f. 126 Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 10 ff.; Streinz/Streinz/Michl, EUV/AEUV2 Art. 51 GRC, Rn. 9. 120 121

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Verträge fällt.127 Für den Gerichtshof ist Art. 51 GRC mit seiner Rechtsprechung zu identifizieren.128 Eine Legaldefinition des Begriffs „durchführen“ findet sich weder in den EU-Verträgen noch in der Charta. Der Wortlaut der Grundrechte-Charta wird von Teilen der Lehre im Sinne eines engeren Anwendungsbereichs ausgelegt, sodass die ERT-Situation nicht mehr davon erfasst sein soll. Die Mitgliedstaaten seien ausschließlich bei Durchführung des Unionsrechts an die Charta gebunden. Bei einer unter Umständen legitimen Beschränkung der Grundfreiheiten handle es sich aber nicht um eine Durchführung von Unionsrecht. Eine Beschränkung kann nach dieser Ansicht schon begrifflich keine Durchführung sein. Vielmehr würde der Mitgliedstaat gerechtfertigt aus dem Anwendungsbereich des EU-Rechts entlassen.129 Über den eindeutigen Wortlaut könnten auch nicht die Erläuterungen der Charta hinwegtäuschen.130 Dem wurde bereits vor der diesbezüglichen Positionierung des Gerichtshofes entgegengehalten, dass der Wortlaut der Charta mit der Rechtsprechung des EuGH zu identifizieren sei. Nach den Erläuterungen der Charta sei es unzweifelhaft die Rechtsprechung des Gerichtshofes, die in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 festgeschrieben werde.131 In den Erläuterungen zu Art. 51 Abs. 1 GRC wird festgehalten, dass „die Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte für die Mitgliedstaaten nur dann gilt, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln.“ Die dogmatische Unschärfe der Wortwahl ist offenkundig.132 Auf diese Formulierung folgt jedoch unmittelbar die Nennung des ERT-Urteils. Es sei daher der klare Wille des Unionsgesetzgebers, dass die Charta keine Änderung des Anwendungsbereichs, wie er sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes entwickelt hat, erfährt.133 Zu diesem Resultat kommt bei ähnlicher Begründung auch der EuGH.134 Hatje führt ein dogmatisches Argument gegen eine restriktive Auslegung des Begriffs der Durchführung in Art. 51 GRC an. Es drohten dabei im Bereich der Diskriminierungsverbote jedenfalls systematische Brüche im europäischen Grundrechtsschutz. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) ist nach ständiger Rechtsprechung bereits in einer Situation anwendbar, die nicht außerhalb des Gemeinschaftsrechts liegt.135 127 128

380.

Siehe dazu 2. EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 16 ff.; A.Posch, ÖJZ 2013,

129 Meyer/Borowsky, GRC3 Art. 51, Rn. 29 ff.; Kingreen, EuGRZ 2004, 570, 576; Calliess/ Ruffert/ders., EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 16. 130 Kingreen, EuGRZ 2004, 570, 576. 131 Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563, 564. 132 So Griller, in: Duschanek/Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa 131, 139 f. 133 Griller, in: Duschanek/Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa 131, 139 f.; Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563, 564; jüngst Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1267, 1272 ff. 134 EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 16 ff., insbesondere Rn. 20. 135 Vgl. EuGH 13.02.1985 Rs. 293/83 (Gravier), Rn. 19.

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Andererseits wären, dem engen Verständnis des Anwendungsbereich der Charta folgend, das Diskriminierungsverbot des Art. 21 GRC nur bei der Umsetzung und beim Vollzug des Unionsrechts anwendbar.136 Eilmansberger vertritt, dass sich das der Charta zugrunde liegende Ziel des Schutzes Einzelner vor Übergriffen durch supranationale Regelungen nur verwirklichen lasse, wenn nationale Gerichte in der Lage seien unionsrechtliche Verbote durch Anwendung der Grundrechte-Charta zu entschärfen.137 Bildet die Charta demnach ein Vehikel zur Einschränkung der Grundfreiheiten – wie in Schmidberger – wird die Gleichschaltung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und Art. 51 GRC als zweckmäßig empfunden.138 5. Stellungnahme Die Rechtsprechung des Gerichtshofes in Akerberg Fransson und Melloni ist – bezüglich des Verhältnisses von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 zur Vorjudikatur – meines Erachtens zutreffend. Der Wortlaut von Art. 51 GRC: „bei der Durchführung des Unionsrechts“, der als Hauptargument gegen eine Bindung der Mitgliedstaaten in der ERT-Situation vorgebracht wird, deutet weder notwendigerweise in die eine noch in die andere Richtung. Jedenfalls ergibt sich daraus nicht zweifelsfrei, dass die ERT-Situation davon nicht erfasst ist. Die Berufung auf einen Rechtfertigungsgrund für eine Verletzung der Grundfreiheiten könnte, dem Wortlaut folgend, ebenso als „durchführen“ des Unionsrechts im weiteren Sinne verstanden werden.139 Dass ein Unterschied, vor allem bezüglich der ERT-Situation, zwischen der Formel des EuGH, der vom Anwendungsbereich des Unionsrechts spricht, und dem Wortlaut der Charta bestehen solle, dürfte wohl auch den Redaktoren der GrundrechteCharta nicht klar gewesen sein. Anders lässt es sich nur schwer erklären, warum die Erläuterungen zur Charta den Begriff mit der Rechtsprechung des EuGH Schwarze/Hatje, EU-Kommentar3 Art.51 GRC, Rn. 18. ecolex 2010, 1024, 1026. 138 Vgl. Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 25. 139 A.A. Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 17. Der davon ausgeht, dass ein Mitgliedstaat, der von einer Ausnahmebestimmung Gebrauch mache, sicherlich kein Unionsrecht durchführe; Meyer/Borowsky, GRC3 Art. 51 Rn. 29 ff.; Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte 56; Rebhahn, JPR 2012, 386, 389 hält die Rechtsprechung zum Tatbestand der Freizügigkeit für uferlos. Dem Wortlaut der Charta sei nicht zu entnehmen, dass sie für alle nationalen Regelungen gelten solle. In die hier vertretene Richtung gehend: Jarass, Charta EU-Grundrechte, Art. 51 Rn. 19; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 14 Rn. 53; SA Cruz Villalon 12.06.2012 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Tz. 27 ff., 34; vgl. auch A.Posch, ÖJZ 2013, 380, 382; Eilmansberger, ecolex 2011, 1024 hält zwar die ERT-Situation nicht vom Wortlaut des Art. 51 GRC umfasst, jedoch sei es wahrscheinlich, dass der EuGH die Charta extensiv auslegen werde. Ausführlich zur Diskussion: Craig/De Burca, EU-Law5, 362 ff. 136

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und dem Anwendungsbereich des Unionsrechts gleichsetzen.140 Zudem wäre anzunehmen, dass – wäre eine Korrektur der Rechtsprechung des EuGH intendiert gewesen – der Unionsgesetzgeber dies deutlicher anklingen lassen hätte.141 In der ERT-Situation ist der Schutzbereich der Grundfreiheiten eröffnet. Damit ist eine Grundwertung bereits getroffen. Diese redet für sich genommen einer Anwendung der Unionsgrundrechte bei der Einschränkung der Grundfreiheiten das Wort.142 Die Frage, wann konkret eine Verletzung der Grundfreiheiten vorliegt, wird durch das Unionsrecht beantwortet.143 Bei den Rechtfertigungsgründen handelt es sich jedenfalls um Begriffe des EU-Rechts. Sie wurden durch das Unionsrecht geschaffen und definiert. Wird einer der Ausnahmetatbestände zu den Grundfreiheiten beansprucht, so müssen folglich unionsrechtliche Rahmenbedingungen eingehalten werden.144 Es wirkt nicht überzeugend, nationale Maßnahmen in Ausfüllung unionsrechtlicher Tatbestände, an unterschiedlichen Grundrechtsmaßstäben zu messen. Es könnte insbesondere der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts entgegenstehen.145 Zwar lassen Ausnahmebestimmungen explizit unterschiedliche Regelungen zu, das führt allerdings nicht unbedingt dazu, dass diese Regelungen nicht demselben Grundrechtsstandard entsprechen müssen. Auch bei normativer oder administrativer Durchführung von Unionsrecht im Rahmen der Agency-Situation können den Mitgliedstaaten mitunter erhebliche Umsetzungsspielräume zukommen. Es werden somit unterschiedliche Regelungen ebenso toleriert. Das schließt für sich genommen aber eine Bindung an die Unionsgrundrechte als Schranken-Schranken nicht aus.146 Letztlich sollen die Unionsgrundrechte vor Grundrechtseingriffen durch supranationale Regelungen schützen.147 In der ERT-Situation bestehen zumindest Regelungen unionsrechtlichen Ursprungs. Es ist daher sinnvoll von einer Unionsgrundrechtsbindung der Mitgliedstaaten auszugehen. Diese Sichtweise wurde durch das Inkrafttreten der Grundrechte-Charta gestärkt. Anders als der Wortlaut von Art. 51 GRC, sprechen nämlich die Er140 Vgl. Erläuterungen zur GRC, Art. 51; von einer Verengung des Anwendungsbereichs ist in den Erläuterungen der Charta keine Rede. Siehe nur EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 20. 141 So auch Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1267, 1277. 142 Vgl. Jarass, Charta EU-Grundrechte, Art. 51 Rn. 19; Kühling, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht2, 682 f. 143 Haltern, Europarecht2, 531. 144 So bereits Weiler/Lockhart, CMLRev 32 (1995), 51, 74 ff. (Part 1), 597 (Part 2). 145 Weiler/Lockhart, CMLRev 32 (1995), 51, 76 (Part 1); Weiler, in: Weiler, The Constitution of Europe: „Do the new clothes have an emperor?” 102, 121 f. 146 Vgl. Jarass, Charta EU-Grundrechte, Art. 51 Rn. 19. 147 Vgl. Eilmansberger, ecolex 2010, 1024.

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läuterungen eine ungemein deutliche Sprache.148 Hier ist klar von der Kodifizierung der Rechtsprechung des EuGH die Rede. Expressis verbis wird auf die ERT-Entscheidung Bezug genommen. Dieser Umstand deutet in Hinblick auf die Beziehung zwischen Grundrechte-Charta und der Rechtsprechung eher auf Kontinuität als auf Konfrontation hin.149 Die Judikatur des Gerichtshofes sollte durch Art. 51 der Charta folglich wenig zweifelhaft positiviert werden.150 Es sprechen meines Erachtens daher die besseren Gründe dafür, dass auch die ERT-Situation – wie vom Gerichtshof entschieden151 – in den Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta nach Art. 51 fällt. Mitgliedstaatliche Regelungen sind demzufolge auch bei gerechtfertigter Beeinträchtigung der Grundfreiheiten an den Unionsgrundrechten zu messen.152

148 A.A. Nusser, Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte 56. Der Wortlaut sei eindeutig als Einschränkung zu verstehen und auch die Erläuterungen seien nicht so klar, wie gemeinhin behauptet. Auf diese Hypothese folgen historische Argumente jenseits der Erläuterungen. Man müsse sich vor allem mit dem Willen des „wirklichen Gesetzgebers“, den Mitgliedstaaten, auseinandersetzen. Dabei ergebe sich ein diffuses Bild. Nusser führt an, dass die Vertreter Polens, Großbritanniens und Tschechiens bei der Ratifizierung des Vertrages von Lissabon eine Verengung des Anwendungsbereichs der Charta forciert hätten und folgert weiters, dass die anderen Mitgliedstaaten diesem Druck offenbar nachgegeben hätten. Daher sprächen die besseren Gründe für eine Verengung des Anwendungsbereichs durch die Charta; Rebhahn, JRP 2012, 386, 389 hält fest, dass es nicht der Wille der Vertragsstaaten gewesen sei, dass die Charta für alle nationalen Regelungen gelten solle. Man müsse dazu aber geneigt sein, den öffentlichen Erklärungen zum Unionsrecht Glauben zu schenken. M.E. ist das von Nusser vorgebrachte subjektiv-historische Argument wenig überzeugend. Unionsrechtliche Normen sind oft von diversen politischen Kompromissen geprägt. Die historische Auslegung unterläge folglich auch politischen Zwängen und der Suche nach Kompromissen. So und zum Stellenwert der historischen Auslegung im Unionsrecht im Allgemeinen: Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre2 § 8 Rn. 32 ff.; weiters grundlegend Martens, Methodenlehre des Unionsrechts 378 ff. Er hält zu Recht fest, dass die Meinung einzelner nationaler Unterhändler nicht die Meinung aller Beteiligten ausdrücke. Primärrechtliche Normen und somit auch die GRC seien oftmals der kleinste gemeinsame Nenner, hinter dem sich oft sehr unterschiedliche mitgliedstaatliche Positionen verbergen. 149 So, allerdings mit gewissen Einschränkungen, SA Cruz Villalon 12.06.2012 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Tz. 25. 150 „Was die Mitgliedstaaten betrifft, so ist der Rechtsprechung des Gerichtshofes eindeutig zu entnehmen, dass die Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte für die Mitgliedstaaten nur dann gilt, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“. So Griller, in: Duschanek/Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa 131, 139 f.; Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563, 564; Calliess, JZ 2009, 113, 115; EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 20. 151 Vgl. EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 16 ff. 152 So Griller, in: Duschanek/Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa 131, 139 f.; Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563, 564; Jarass, Charta EU-Grundrechte, Art. 51 Rn. 19; jüngst Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1267, 1272 ff.; a.A. statt vieler Nusser, Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte 56, 181 f.

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V. Drittwirkung der Grundrechte-Charta Der Rahmen der Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte wurde abgesteckt. Nun kann der Frage nach einer Drittwirkung der Charta nachgegangen werden. Aus dem oben herausgearbeiteten Ansatz, könnten sich unter Umständen bereits erste Schlüsse ziehen lassen. Es liegt nahe, dass der Grundrechte-Charta keine unmittelbare Drittwirkung zukommt.153 Dies ergibt sich wenig zweifelhaft bereits aus dem Wortlaut von Art. 51 Abs. 1 Satz 1. Die Bestimmung nennt neben der Union die Mitgliedstaaten, jedoch nicht Private, als Adressaten der GRC. Eine unmittelbare Anwendbarkeit im Verhältnis zwischen Privaten, ist aber – wie bereits ausgeführt wurde154 – Voraussetzung für eine unmittelbare Drittwirkung. Von manchen wird allerdings bereits bezweifelt, dass sich der Gerichtshof vom dahingehend klaren Wortlaut des Art. 51 GRC abhalten lassen werde. Gewissen Bestimmungen der Charta wird sohin das Potential einer unmittelbaren Drittwirkung im Wege der Rechtsfortbildung durch den EuGH attestiert.155 Der Gerichtshof würde sich damit allerdings in sehr deutlicher Opposition zum Wortlaut von Art. 51 GRC befinden. Es lässt sich allein aus dem Anwendungsbereich der Charta jedenfalls kein sicherer Schluss über die Wirkung derselben im Privatrechtsverhältnis ziehen. Die Grundrechte-Charta selbst schweigt zum Thema einer möglichen Horizontalwirkung und auch in den Erläuterungen werden dazu keine Angaben gemacht. Es ist daher davon auszugehen, dass der Grundrechtskonvent die Entwicklung derartiger Konzepte dem EuGH bzw. der Doktrin überlassen wollte.156 Da weder der Wortlaut noch die historischen Materialien zu einer Antwort auf die Frage nach der Drittwirkung der Europäischen Grundrechte führen, ist das Telos des jeweiligen Grundrechts das ausschlaggebende Kriterium. Eine Aussage über die Horizontalwirkung der Grundrechte-Charta als Ganzes kann nicht getroffen werden. Vielmehr ist der Frage im Wege der Interpretation jeder einzelnen Grundrechtsnorm nachzugehen. 157 153 So die h.A.: Jarass, Charta EU-Grundrechte, Art. 51 Rn. 24; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 14 Rn. 54; Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 18; Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 149; etwas zurückhaltender: Schwarze/Hatje, EU-Kommentar3 Art. 51 GRC, Rn. 18; Streinz/Streinz/ Michl, EUV/AEUV2 Art. 51 GRC, Rn. 18. 154 Siehe I. 155 Schwarze/Hatje, EU-Kommentar3 Art. 51 GRC, Rn. 18: Erinnert daran, dass auch bezüglich der Grundfreiheiten der klare Wortlaut gegen eine unmittelbare Drittwirkung gesprochen habe; Rebhahn, JPR 2012, 386, 394 f. bezweifelt, dass der EuGH sich vom Adressatenkreis der Charta überzeugen lasse; Jarass, Charta EU-Grundrechte, Art. 51 Rn. 24 ist der Ansicht, dass sich aus der Drittwirkung der Grundfreiheiten, wegen deren abweichendem Charakter, keine Schlüsse für die Grundrechte ziehen ließen. 156 Meyer/Borowsky, GRC3 Art. 51 Rn. 31. 157 Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 168.

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In Hinblick auf die hier interessierenden Gleichheitsgrundrechte spielen insbesondere der Schutz der Menschenwürde und der Schutz vor Ausgrenzung eine tragende Rolle.158 Um Auskunft über die Drittwirkung der Diskriminierungsverbote der Charta zu geben, müssen folglich die einschlägigen Bestimmungen, vor allem Art. 21 GRC, teleologisch interpretiert werden. VI. Interpretation der gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverbote der Grundrechte-Charta Die Funktion der Diskriminierungsverbote liegt einerseits im Schutz der Würde des Menschen.159 Andererseits kommt ihnen im Privatrecht die Aufgabe zu, den Markt gewissermaßen offen zu halten und damit die Vertragsfreiheit in materialer Hinsicht zu gewährleisten. Sie können daher als Teil einer Tendenz zur Materialisierung des Vertragsrechts verstanden werden.160 Die Schutzrichtung hat somit sowohl teilhabe- als auch abwehrrechtlichen Charakter. Private sind nicht unmittelbare Adressaten der Chartagrundrechte. Nichtsdestotrotz ist Sinn und Zweck der Diskriminierungsverbote auch der Schutz Privater voreinander im Sinne eines staatlichen Untermaßverbotes. Die Grundrechtsadressaten haben daher die Pflicht, diskriminierenden Akten im Privatrechtsverhältnis Grenzen zu setzen. Mit einem privatrechtlichen Diskriminierungsverbot ist meist eine Verletzung der Privatautonomie verbunden. Klarerweise bedürfen Diskriminierungsverbote im Privatrecht folglich einer besonderen Rechtfertigung. Hierfür kann auf die Ausführungen zum legitimen Schutzumfang von Diskriminierungsverboten und insbesondere auf die von Neuner161 herausgearbeiteten Kriterien verwiesen werden.162 Auch nachdem die Argumentationsschwelle im Sinne des Untermaßverbotes genommen wurde, kann Diskriminierung unter Umständen gerechtfertigt sein, weil die Interessenabwägung zu Gunsten der diskriminierenden Person ausgeht. Basedow hingegen lehnt eine Drittwirkung der gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverbote dem Grunde nach ab. Wollte man die Gleichheitsrechte der Charta auf das horizontale Verhältnis umlegen, sei dies mit den Grundrechten der unternehmerischen Freiheit (Art. 16 GRC) oder auch der Berufsfreiheit (Art. 17 GRC) unvereinbar. Insbesondere stellt Basedow die Frage, was denn von der grundrechtlich geschützten Wahl des Vertragspartners übrigbleibt, wenn 17 Differenzierungskriterien verpönt sind.163 Statt vieler: Looschelders, JZ 2012, 105, 106. Calliess/Ruffert/Rossi, EUV/AEUV4 Art. 21 GRC, Rn. 3; Neuner, JZ 2003, 57, 61 ff. 160 Kapitel 2.D. und E. 161 JZ 2003, 57; ihm folgend Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 49; vgl. auch Looschelders, JZ 2012, 105, 106. 162 Vgl. dazu Kapitel 2.E. 163 ZEuP 2008, 230, 249. 158 159

B. Drittwirkung von Art. 21 GRC

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Diesen Bedenken kann folgendermaßen begegnet werden: Es besteht ein Rahmen, in dem Privatautonomie und Diskriminierungsverbote vereinbar sind. Zwar gehen mit Diskriminierungsverboten Einschränkungen der Privatautonomie einher, doch können diese im Sinne einer Tendenz zur Materialisierung als Teil des Vertragsrechts begriffen werden. Sie ermöglichen gewissermaßen die allgemeine Inanspruchnahme der Vertragsfreiheit. Dazu wird die Auswahlfreiheit in Bezug auf einige Kriterien eingeschränkt. Dies kann aber unter Umständen gerechtfertigt und für die Funktionsfähigkeit der Vertragsfreiheit nötig sein.164 Zentrale Funktion der Diskriminierungsverbote ist zudem der Schutz der Würde des Menschen. Man denke insbesondere an rassistische, sexistische oder auch religiös motivierte Diskriminierung. Der Schutz des Integritätsinteresses kann einen Eingriff in die Vertragsfreiheit rechtfertigen. Die in Art. 21 GRC angeführten Kriterien sind jedoch unbestrittenermaßen höchst inhomogen. Eine Verletzung der Menschenwürde geht wohl unwahrscheinlicher oder zumindest weniger intensiv beispielsweise mit einer Diskriminierung aufgrund des Vermögens einher. In diesen Fällen wird allerdings ohnehin die Interessenabwägung zu Gunsten der Privatautonomie ausschlagen und daher eine Diskriminierung gerechtfertigt sein.165 Das Problem der überschießenden Einschränkung der Vertragsfreiheit lässt sich folglich letzten Endes auf Rechtfertigungsebene in den Griff bekommen. Dies führt zu Differenzierungen bei den verschiedenen Diskriminierungsmerkmalen der Charta. Je diffuser das Kriterium, desto breiter müssen die Rechtfertigungsmöglichkeiten sein. Es kann infolgedessen einem tatbestandlich überschießenden Diskriminierungsverbot dadurch begegnet werden, dass seine Verletzung im Privatrecht gerechtfertigt ist. Es zeigt sich, dass die mittelbare Drittwirkung der Diskriminierungsverbote der Charta jedenfalls ausreichenden Spielraum für die Berücksichtigung der Besonderheiten des Privatrechts lässt.166 Eine pauschale Ablehnung167 einer solchen ist daher nicht gerechtfertigt. Letztlich spricht noch ein pragmatisches Argument für die Annahme einer mittelbaren Drittwirkung von Europäischen Diskriminierungsverboten. Die Kompetenznorm des Art. 19 AEUV zielt zweifellos auf die Bekämpfung von Diskriminierung im Privatrechtsverhältnis ab. Dies lässt sich unschwer anhand der auf diese Norm zurückgehenden Sekundärrechtsakte im Arbeits- und Zivilrecht belegen. Es besteht daher bereits durch Art. 19 AEUV eine Brücke, die Gleichheitsgrundrechte im Privatrechtsverhältnis wirken lässt. Es ist nur Siehe dazu: Neuner, JZ 2003, 57, 61 ff.; Looschelders, JZ 2012, 105. Vgl. Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 49 ff. 166 Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 176. 167 Basedow, ZEuP 2008, 230, 249 lehnt zwar eine Drittwirkung der gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverbote ab. Möchte sie aber dennoch in Fällen zulassen, in welchen „die fragliche Diskriminierung gegen die Menschwürde verstößt oder von einem marktmächtigen Unternehmen ausgeht“. 164 165

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folgerichtig, den weitgehend inhaltsgleichen Grundrechten auch eine derartige Wirkung zuzugestehen.168 Der Gerichtshof hat sich in Test Achats zumindest implizit zur Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Diskriminierungsverbote der Charta bekannt. Die auf Art. 19 AEUV basierende RL 2004/113/EG (Unisex-RL) sah in ihrem Art. 5 Abs. 2 eine Ausnahme für private Versicherungen vor. Unter gewissen Umständen waren sogenannte „Geschlechtertarife“ zulässig. Der EuGH hob die Öffnungsklausel auf. Die Begründung dafür lieferte ein Verstoß gegen Art. 21 und Art. 23 der Charta.169 Der Unionsgesetzgeber habe Diskriminierungen auf diesem Gebiet ungerechtfertigter Wiese zugelassen. Es wird deutlich, dass der EuGH jedenfalls davon ausgeht, dass die Diskriminierungsverbote der Grundrechte-Charta auch im Privatrechtsverhältnis Wirkung zeigen. Methodisch ist die Entscheidung Ausdruck der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung. Es wird durch das Verhalten privater Akteure eine Schutzpflicht des Staats bzw. der Union ausgelöst. Im Ergebnis kommt den Gleichheitsgrundrechten der Charta daher jedenfalls in der unionsrechtlichen Realität eine mittelbare Drittwirkung zu.170

C. Öffnungsklauseln in Richtlinien I. Problemstellung Die theoretischen Ausführungen sollen anhand einer konkreten und kontroversen Fallgruppe mit Leben erfüllt werden. Dazu wird eine Konstellation gewählt, an der vor allem das Verständnis des Anwendungsbereichs der GrundrechteCharta analysiert werden kann. Zudem ist diese im Bereich des privatrechtlichen Antidiskriminierungsrechts häufig anzutreffen und hat aufgrund jüngerer Judikaturentwicklungen mehrfach für Gesprächsstoff gesorgt. Sogenannte Öffnungsklauseln in Richtlinien ermöglichen den Mitgliedstaaten, meist unter genauer definierten Umständen, weite Umsetzungsspielräume. Es wird ein Rahmen geschaffen, in dem Regelungen, die dem Richtlinienziel zuwiderlaufen, getroffen werden dürfen oder zumindest ein dahingehendes Ermessen besteht.171 Ein prominentes Beispiel dafür war Art. 5 Abs. 2 der Unisex-RL. Dieser wurde vom EuGH in der Rechtssache Test Achats für uniPerner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 175 f. EuGH 01.03.2011 Rs. C-236/09 (Test Achats) Rn. 15 ff. 170 So Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 173 ff. 171 Siehe zum Begriff Öffnungsklausel: Lindner, EuZW 2007, 71; Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 249 ff sieht nur diejenigen Bestimmungen als Öffnungsklauseln an, die abweichende oder weitere Regelungen zulassen, hingegen nicht jene, die Ermessen einräumen, Spielräume eröffnen oder eingeschränkte Wahlmöglichkeiten bieten. Dieser Arbeit liegt ein weiteres Verständnis von Öffnungsklausel zugrunde. So etwa auch: Kühling, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht2, 682 f. 168 169

C. Öffnungsklauseln in Richtlinien

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onsgrundrechtswidrig erklärt.172 Die Bestimmung sah vor, dass es den Mitgliedstaaten offen steht vom Verbot der Geschlechterdiskriminierung im Bereich der Berechnung von Versicherungsprämien abzuweichen. Voraussetzung war allerdings, dass das Geschlecht einen bestimmenden Faktor bei der Risikobewertung darstellt, der auf genauen und relevanten versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruht.173 In Art. 5 Abs. 3 der Richtlinien wird zusätzlich noch klargestellt, dass die Schwangerschaft in keinem Fall zu einer Prämienerhöhung führen darf. Eingebettet in den gegebenen Kontext stellt sich hierbei einerseits die Frage – die in Hinblick auf Test Achats vom Gerichtshof ein weiteres Mal eindeutig beantwortet wurde –, ob eine derartige Ausnahmebestimmung als Tätigwerden der Union im Sinne des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC zu verstehen ist. 174 Wollte der Unionsgesetzgeber nicht lediglich klar zum Ausdruck bringen, eine Materie gar nicht zu regeln und sie somit in der mitgliedstaatlichen Kompetenz belassen?175 Andererseits steht ganz allgemein zur Debatte, ob mitgliedstaatliche Maßnahmen, die in Ausfüllung einer Öffnungsklausel erlassen wurden, an der Grundrechte-Charta zu messen sind oder nationale Grundrechte die einzige Messlatte sein sollten.176 Es geht dabei letzten Endes um die Reichweite der Bindung an die Grundrechte-Charta bei der Richtlinienumsetzung. II. Öffnungsklauseln und Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC Nach Art. 19 AEUV ist der Unionsgesetzgeber dazu ermächtigt, Diskriminierung aufgrund einer Fülle an Kriterien zu verbieten. Er tat dies, wie schon mehrfach beschrieben, bisher in zwei für das allgemeine Zivilrecht relevanten Fallgruppen. Sowohl die privatrechtlichen als auch die arbeitsrechtlichen Antidiskriminierungsrichtlinien haben gemeinsam, dass sie nicht ausnahmslos gelten. Die Unisex-RL sieht in Art. 4 Abs. 5 vor, dass eine unterschiedliche Behandlung dann gerechtfertigt sein kann, wenn sie durch das legitime Ziel 172 EuGH 01.03.2011 Rs. C-236/09 (Test Achats) Rn. 30-32; siehe dazu: Perner, ÖJZ 2011, 333; Lüttringhaus, EuZW 2011, 296; Tobler, CMLRev 48 (2011), 2041 ff.; Mayer, Zak 2011, 243, 245. 173 Vgl. Art. 5 Abs. 2 Unisex-RL (2004/113/EG). 174 Vgl. dazu schon EuGH 27.06.2006 Rs. C-540/03 (Parlament/Rat) Rn. 23. 175 So Armbrüster, VersR 2010, 1571, 1579 f.; Karpenstein, EuZW 2010, 885; vgl. Looschelders, VersR 2011, 421, 425. A.A. und damit im Sinne der Rechtsprechung: Kalher, NJW 2011, 894 f.; Mönnich, VersR 2011, 1092, 1094 ff. Grundsätzlich zur Frage der Öffnungsklausel als Prüfungsgegenstand der Gemeinschaftsgrundrechte Lindner, EuZW 2007, 71, 72. 176 Gegen eine mitgliedstaatliche Bindung spricht sich im deutschsprachigen Schrifttum vor allem: Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 11 ff. aus. Differenziert: Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 222 ff.; Jarass, Charta EU-Grundrechte, Art. 51 Rn. 21 ff.; Calliess, JZ 2009 113, 120 ff. Vgl. dazu aus der Judikatur insbesondere: EuGH 27.06.2006 Rs. C-540/03 (Parlament/Rat) Rn. 71, 104 f.

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gerechtfertigt ist, die Güter und Dienstleistungen ausschließlich oder vorwiegend für die Angehörigen eines Geschlechts bereitzustellen, und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Konkreter wurde die in Art. 5 Abs. 2 normierte Öffnungsklausel, die im Zuge der Test Achats Entscheidung für unionsgrundrechtswidrig erklärt wurde. Doch es handelt sich auch dabei um nichts anderes als einen ausformulierten Tatbestand einer (in den Augen des Unionsgesetzgebers) sachlich gerechtfertigten Geschlechterdiskriminierung. Es stand daher den Mitgliedstaaten offen, derartige Unterschiede bei der Tarifierung zuzulassen. Weniger umfangreich lässt sich selbstverständlich rassistische Diskriminierung legitimieren. Die Antirassismus-RL sieht in Art. 4 vor, dass eine gerechtfertigte rassistische Diskriminierung beim Zugang zum Arbeitsmarkt durch die spezifischen Bedingungen oder die Art der angestrebten Tätigkeit vorliegen kann. Die Merkmale der Rasse oder der Ethnie müssen für die angestrebte berufliche Tätigkeit oder deren Ausübung eine wesentliche Voraussetzung darstellen. Klarerweise muss auch in diesen, wohl eher seltenen, Konstellationen ein rechtmäßiger Zweck verfolgt werden und es sich um eine angemessene Anforderung handeln. Es wäre daher etwa gerechtfertigt, bei der Besetzung der Filmrolle des Nelson Mandela schwarze Hautfarbe und männliches Geschlecht als unweigerliche Voraussetzung für ein Engagement aufzustellen. Ähnliche Öffnungsklauseln finden sich auch in den Antidiskriminierungsrichtlinien, die über das allgemeine Privatrecht hinausgehen, wieder.177 Von Seiten der Literatur werden Öffnungsklauseln in Antidiskriminierungsrichtlinien jüngst vermehrt als Ausnahme vom Unionsrecht begriffen. Der Gesetzgeber wolle damit nur das zum Ausdruck bringen, was im Bereich der geteilten Zuständigkeiten ohnehin auch durch gesetzgeberisches Schweigen erreicht werde: das Ausklammern einer bestimmten Materie vom Unionsrecht. Öffnungsklauseln seien daher Inbegriff eines unionsrechtlichen Handelns unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips.178 Ein gewisser Bereich werde damit in der Kompetenz der Mitgliedstaaten belassen.179 Als Konsequenz dürften Öffnungsklauseln in Richtlinien nicht auf ihre Konformität mit der Grundrechte-Charta durch den Gerichtshof überprüft werden.180 Eine mitgliedstaatliche Bindung scheidet nach diesem Verständnis ohnehin aus, weil kein Unionsrecht angewendet werde.181 Diese in erster Linie im Zusammenhang mit Test Achats geäußerte Ansicht ist meines Erachtens wenig überzeugend. In einer Entscheidung, die eine ÖffLüttringhaus, EuZW 2011, 296, 297 m.w.N. in Fn. 6. Looschelders, VersR 2011, 421, 425. 179 Zu Art. 5 Abs. 2 Unisex-RL: Armbrüster, VersR 2010, 1571, 1579 f. 180 Armbrüster, VersR 2010, 1571, 1579 f.; Karpenstein, EuZW 2010, 885; Looschelders, VersR 2011, 421, 425. 181 Vgl. Karpenstein, EuZW 2010, 885. 177 178

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nungsklausel in der Familienzusammenführungs-RL betraf, hat sich der EuGH bereits mit der zur Diskussion stehenden Thematik auseinandergesetzt. „Dazu ist zu sagen, dass der Umstand, dass eine Richtlinienbestimmung den Mitgliedstaaten einen gewissen Beurteilungsspielraum einräumt und es ihnen erlaubt, unter bestimmten Umständen nationale Rechtsvorschriften anzuwenden, die von den mit der Richtlinie vorgegebenen Grundsatzregelungen abweichen, nicht dazu führen kann, dass diese Bestimmungen der Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit durch den Gerichtshof nach Art. 230 EGV entzogen werden. Im Übrigen kann es sein, dass eine Bestimmung einer Gemeinschaftshandlung als solche die Grundrechte missachtet, wenn sie den Mitgliedstaaten vorschreibt oder ihnen ausdrücklich oder implizit gestattet, nationale Gesetze zu erlassen oder beizubehalten, die die Grundrechte missachten.“182

Die Rechtsprechung des EuGH entspricht dem Sinn und Zweck des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes und ist daher stimmig.183 Des Weiteren deckt sie sich mit der herrschenden Meinung zum Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta. Die Union soll gemäß Art. 51 GRC allumfassend an die Charta gebunden sein. Es soll schließlich ein lückenloser Grundrechtsschutz bestehen.184 Schafft die Union demnach Ausnahmetatbestände oder Rechtfertigungsgründe – argumento a fortiori bezüglich grundrechtssensibler Materien –, so schafft sie Unionsrecht. Dieses muss sich am Maßstab der Grundrechte-Charta messen lassen.185 Zwar verletzt die Union die Grundrechte nicht unmittelbar selbst; sie ermächtigt allerdings die Mitgliedstaaten und letzten Endes Private dazu.186 Dass es sich bei einer Öffnungsklausel um ein unionsrechtliches „Nichts“ handelt187, ist – wirft man erneut einen Blick auf die durchaus detaillierten Vorschriften in Art. 5 Abs. 2 der Unisex-RL – zudem nicht richtig.188 Der Unionsgesetzgeber legt fest, unter welchen Umständen ein Abweichen vom Grundsatz der Geschlechtergleichbehandlung zulässig ist. Er schafft damit unverkennbar einen konkreten sachlichen Rechtfertigungsgrund für diskriminierendes Verhalten. Öffnungsklauseln erlauben Ausnahmeregelungen in an 182 EuGH 27.05.2006 Rs. C-540/03 (Parlament/Rat) Rn. 22; 23 und 71 (Hervorhebungen durch den Autor). 183 Statt vieler Eilmansberger, ecolex 2011, 1024. 184 Meyer/Borowsky, GRC3 Art. 51 Rn. 16; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 14 Rn. 47 f.; Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte 29 ff.; Eilmansberger, ecolex 2010, 1024. 185 Vgl. Lindner, EuZW, 71, 72. 186 Zu Test Achats: Perner, ÖJZ 2011, 333, 334; ders., Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht 3 f.; EuGH 27.05.2006 Rs. C-540/03 (Parlament/Rat) Rn. 71. 187 So Looschelders, VersR 2011, 421, 425; Karpenstein, EuZW 2010, 885 spricht von „Nicht-Harmonisierung“. Des Weiteren ist für ihn klar, dass der Unionsgesetzgeber den Versicherungssektor klar von der Unisex-RL ausnehmen wollte. Zu Recht a.A. und m.w.N. Mönnich, VersR 2011, 1092, 1094. 188 Kahler, NJW 2011, 894, 895. Selbiges gilt für die in EuGH 27.05.2006 Rs. C-540/03 (Parlament/Rat) in Frage stehende Öffnungsklausel des Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG (Familienzusammenführungs-RL).

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sich regulierten Bereichen.189 Die Union ist infolgedessen in vollem Umfang an die Grundrechte-Charta gebunden. Ein gegenteiliges Verständnis würde ferner suggerieren, dass jede Richtlinienbestimmung, die einen gewissen Umsetzungsspielraum oder einen Rechtfertigungsgrund für ein Abweichen vom Richtlinienziel vorsieht, darauf zu überprüfen wäre, ob der Unionsgesetzgeber nur zum Ausdruck bringen wollte, dass er von seiner Rechtsetzungskompetenz gar keinen Gebrauch gemacht hat. Das erscheint höchst impraktikabel. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass in der europarechtlichen Literatur eine vollumfassende Grundrechtsbindung der Union im Bereich ihrer Rechtsetzungstätigkeit, von gezeigtem Einzelfall abgesehen, kaum auf Gegenwind stößt.190 Zu Recht wurde die umfassende Grundrechtsbindung des Unionsgesetzgebers, die in Art. 51 Abs. 1 GRC festgeschrieben ist, auch in Bezug auf Öffnungsklauseln von Seiten des EuGH daher anerkannt. Der Unionsgesetzgeber ist an die Charta gebunden, sobald er tätig wird, das gilt auch bei der Setzung von Öffnungsklauseln. Will er tatsächlich eine Materie dezidiert vom Anwendungsbereich des Unionsrechts ausnehmen, empfiehlt sich eine andere Rechtsetzungstechnik.191 III. Ausmaß der mitgliedstaatlichen Bindung Ab wann ist eine Richtlinienbestimmung derart offen gestaltet, dass es sich bei ihrer Umsetzung nicht mehr um die Durchführung von Unionsrecht im Sinne des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC handelt?192 Vgl. Mönnich, VersR 2011, 1092, 1094. Siehe dazu etwa: Kühling, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht2, 679 f. 191 Der Unionsgesetzgeber hätte in der Unisex-RL das private Versicherungsrecht grundsätzlich ausklammern können. Dies hätte allerdings systematisch korrekter in Art. 3 (Geltungsbereich) geschehen sollen. Stattdessen wurde in Art. 5 Abs. 1 darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen haben, dass der Faktor Geschlecht bei der Berechnung von Prämien im Bereich des Versicherungswesens und verwandter Finanzdienstleistungen nicht zu unterschiedlichen Prämien und Leistungen führt und in Abs. 2 ein Rechtfertigungsgrund davon abzugehen normiert. Es ist daher bereits unzutreffend davon auszugehen, der Unionsgesetzgeber wollte das Versicherungsrecht gar nicht regeln. So aber Armbrüster, VersR 2010, 1571, 1579; zutreffend hingegen: Mönnich, VersR 2011, 1092, 1094; Kalher, NJW 2011, 894, 895. Ein Verbot der Geschlechterdiskriminierung im privaten Versicherungsrecht war daher auch unionsrechtlich geboten. Vgl. dazu und zur deutschen Rechtslage: MüKoBGB/Thüsing, I6 § 19 AGG, Rn. 48. 192 In welchem Verhältnis die Unionsgrundrechte im Kollisionsfall zu nationalen Grundrechten oder der EMRK stehen und vor allem die kontroverse Frage nach dem zu garantierenden Schutzniveau, kann in der folgenden Untersuchung hingegen nur ein Randthema sein. Dazu aus jüngerer Zeit: EuGH 26.02.2013 Rs. C-399/11 (Melloni) Rn. 60 ff. Siehe zur Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts etwa: Callies, JZ 2009, 113, 118 ff.; grundsätzlich: Meyer/Borowsky, GRC3 Art. 53 Rn. 14a. Diesbezügliche Folgeprobleme in tripolaren Konstellationen aufzeigend: Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 12. 189 190

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Kingreen, der eine mitgliedstaatliche Bindung in der ERT-Situation betont ablehnt, steht dieser im Bereich der Richtlinienumsetzung sehr kritisch gegenüber. Richtlinien fungierten mehr und mehr als schmale Stege, über die Unionsgrundrechte für weite Teile des mitgliedstaatlichen Rechts zum Prüfstein würden. Zur einheitlichen Anwendung sei eine Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nicht notwendig. Diese werde bereits durch den Vorrang des Unionsrechts – und damit auch der Richtlinienbestimmungen – gewährleistet. Die Richtlinie allein sei demnach der Maßstab, an dem nationales Recht zu messen sei. Zudem müsse diese im Lichte der Unionsgrundrechte interpretiert werden. Die Bindung des Unionsgesetzgebers an die Grundrechte-Charta wird von Kingreen dem Grundsatz nach nicht angezweifelt. Als zweistufiger Rechtsakt seien Spielräume bei der Richtlinienumsetzung naturgemäß gegeben. Ein Mitgliedstaat, der jenseits der zwingenden Richtlinienvorgaben in Grundrechte eingreife, führe aber gerade nicht mehr Unionsrecht durch. Die einheitliche Anwendung desselben sei daher auch kein Argument für eine mitgliedstaatliche Bindung an die Grundrechte-Charta.193 Kühling setzt dem entgegen, dass richtlinienbedingte mitgliedstaatliche Maßnahmen jedenfalls durch das Unionsrecht veranlasst worden seien. Die Grundrechtsgefährdung gehe daher meist ausschließlich von der Union aus. Nur wenn auch bei der Ausschöpfung von Umsetzungsspielräumen die Grundrechte-Charta anzuwenden sei, wäre daher ein einheitlicher Grundrechtsstandard bei Verletzungen der Grundrechte, die ihren Ursprung im Unionsrecht nehmen, gewährleistet. In der Agency-Situation erlange der Betroffene eben gerade nicht nur Schutz gegenüber unmittelbaren Maßnahmen von Unionsorganen, sondern auch gegenüber solchen, die einer nationalen Realisierung bedürfen. Es solle daher garantiert sein, dass auch bei richtlinienbedingten Spielräumen die Grundrechte-Charta als einheitlicher Maßstab herangezogen werde.194 Vielfach wurden Versuche differenzierter Lösungsansätze unternommen. Dahinter verbirgt sich ein bereits bekanntes Problem. Es ist – und das wird vor dem Hintergrund der Öffnungsklausel besonders deutlich – unklar, was unter Begriffen wie Anwendungsbereich oder Durchführung des Unionsrechts im Detail verstanden werden darf und wo folglich deren Grenzen liegen.195 Nicht zuletzt wird zusätzlich der Begriff „Öffnungsklausel“ nicht vollkommen einheitlich verwendet. Frenz nimmt an, dass die Diktion des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC eine gewisse Einschränkung nahe lege. Dies ergebe sich aus der Formulierung, dass die Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 12. In: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht2, 682 f.; zustimmend von Bogdandy et al., CMLRev 49 (2012), 489, 497 ff.; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten3 § 14 Rn. 51; vgl. auch: Ruffert, EuR 2004, 165, 176 ff.; Meyer/Borowsky, GRC3 Art. 51 Rn. 28. 195 Vgl. Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 12. 193 194

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Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts an die Grundrechte-Charta gebunden sind.196 Bei der Inanspruchnahme von Öffnungsklauseln in Richtlinien, die den Mitgliedstaaten abweichende oder weitergehende Regelungen gestatten, seien daher nur nationale Grundrechte anwendbar. Anders verhalte es sich jedoch, wenn das Unionsrecht Ermessenspielräume ermögliche oder eingeschränkte Wahlmöglichkeiten eröffne. Hier handle es sich um Unionsrecht, weshalb die Grundrechte-Charta anwendbar sei.197 Jarass bemüht sich ebenfalls um eine Unterscheidung nach Fallgruppen. Ähnlich der ERT-Situation bestehe bei der mitgliedstaatlichen Ausfüllung von Spielräumen, auch bei der Richtlinienumsetzung, eine Bindung an die Unionsgrundrechte. Zentral scheine jedoch eine Klarstellung, wie weit ein unionsrechtliches Ermessen vorliege und wann man sich bereits nicht mehr im Anwendungsbereich des EU-Rechts befinde.198 Schaller stellt diesbezüglich darauf ab, ob ein Regel-Ausnahme-Verhältnis vorliege. Haben Öffnungsklauseln demnach Rechtfertigungs- oder Ausnahmecharakter, sei die ERT-Doktrin übertragbar.199 Die überwiegende Auffassung nimmt eine umfangreiche Bindung der Mitgliedstaaten an. Dies sowohl im klar richtliniendeterminierten Bereich als auch, wenn Umsetzungsspielräume gegeben wurden.200 Trotz zum Teil uneinheitlicher Terminologie201, wird in der Literatur eine Bindung der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Öffnungsklauseln daher grundsätzlich befürwortet.202 Ein derartiges Verständnis des Anwendungsbereichs der Charta ist überzeugend und zweckmäßig. Trotz der Wirren um den Begriff der Öffnungsklausel soll damit im Wesentlichen eine Bestimmung, die Ausnahmen, Ermessensspielräume oder Rechtfertigungsgründe festschreibt, gemeint sein.203 Wird der mitgliedstaatliche Gesetzgeber im Rahmen einer Öffnungsklausel tätig, so setzt er Unionsrecht um. Er führt daher konsequenterweise Unionsrecht im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRC durch und ist an die Grundrechte-Charta gebunden.204 Eine gewisse Parallele zur ERT-Situation kann hier durchaus 196 Europäische Grundrechte, Rn. 249 ff. A.A. Schwarze/Hatje, EU-Kommentar3 Art. 51 GRC, Rn. 18. Es solle dadurch lediglich klar gestellt sein, dass die Mitgliedstaaten nicht allumfassend an die GRC gebunden seien. 197 Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 249 ff. 198 Charta EU-Grundrechte, Art. 51 Rn. 21 f. 199 Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte 53 ff. Vgl. auch Kühling, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht2, 682 f. 200 Das räumt auch Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn.10 ein. 201 Vgl. Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 249 ff. 202 Zu diesem Ergebnis gelangt, nach Analyse des Meinungsstandes, ebenfalls: Calliess, JZ 2009, 113, 118. Siehe auch Fn. 66 mit einem weitreichenden Überblick zu einer Vielzahl an Literaturmeinungen. 203  Vgl. Streinz/Streinz/Michl, EUV/AEUV2 Art. 51 GRC, Rn. 9; von Bogdandy et al., CMLRev 49 (2012), 489, 497 ff. 204 So Eilmansberger, ecolex 2010, 1024 der sich auf den Wortlaut beruft; Lindner, EuZW 2007, 71, 73.

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gezogen werden.205 Durch den Anwendungsbereich einer EU-Richtlinie wird das Tor zum Unionsrecht aufgestoßen. Aus ihm bestimmen sich Umsetzungsspielräume oder Ermessen bei der Umsetzung. Das Recht der Union setzt damit letztlich die Determinanten des mitgliedstaatlichen Handelns.206 Der Anwendungsbereich wirkt so durch die Richtlinienvorgaben in den nationalen Rechtsordnungen fort.207 Es ist folglich ebenfalls das Unionsrecht, das die diesbezüglichen Grenzen setzen muss.208 Handelt es sich bei einer Öffnungsklausel – so wie in privatrechtlichen Antidiskriminierungsrichtlinien – um eine Ermächtigung, Ausnahmen von der Regel der Richtlinien zu treffen, ist dies offenkundig. Der Grundrechtseingriff wird durch das Unionsrecht veranlasst. Nur durch eine Bindung an die Unionsgrundrechte wird ein einheitlicher Mindeststandard gegenüber unionsrechtlich veranlassten Grundrechtseingriffen in der Folge gewährleistet.209 Die Frage nach der konkreten Reichweite der Unionsgrundrechte bei der Richtlinienumsetzung muss hingegen offen bleiben. Dies liegt nicht ausschließlich an der bereits angesprochen Unschärfe der Formel vom Anwendungsbereich der Charta.210 Werden Richtlinien umgesetzt, verschwimmen der unionsrechtliche und der mitgliedstaatliche Regelungsrahmen weitgehend miteinander. Es ist daher auch nicht sinnvoll möglich, eine abstrakte Grenze zwischen der einen und der anderen Sphäre zu ziehen.211 In der Doktrin wird von manchen darin der praktische Schwachpunkt der Ansicht, dass ausschließlich der zwingend unionsrechtlich determinierte Teil einer Richtlinie an der Charta zu messen sei, gesehen. Sie biete lediglich eine schwer praktikable Lösung. Rebhahn merkt zu Recht an, dass es in Anbetracht der zahllosen Richtlinien, die neben 205 Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte 56 f. 206 Vgl. zu ERT: Weiler/Lockhart, CMLRev 32 (1995), 51, 74 ff. (Part 1); oder zum Erlass einer Verordnung mit gewissen mitgliedstaatlichen Spielräumen 597, 608 f. (Part 2); Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte 86 f. 207 Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte 86. 208 Vgl. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte 48. 209 Vgl. Kühling, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht2, 682; von Bogdandy et al., CMLRev 49 (2012), 489, 497 ff. 210 So aber Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 12. 211 Weiler, in: Weiler, The Constitution of Europe: „Do the new clothes have an emperor?” 102, 120; Weiler/Lockhart, CMLRev 32 (1995), 51, 73 f.: “In this case the very nomenclature which distinguished Member State and Community acts fails to capture the reality of Community governance and the Community’s legal order.” Haltern, Europarecht2, 527 konkret zur Richtlinienumsetzung: „Die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten kollabiert in diesen Fällen funktional, so dass die Ratio der Ausdehnung des Anwendungsbereichs europäischer Grundrechte einsichtig und notwendig erscheint“; Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte 87; vgl. Ruffert, EuR 2004, 165, 176 f.; Rebhahn, JPR 2012, 386, 389; Streinz/Streinz/Michl, EUV/AEUV2 Art. 51 GRC, Rn. 9 räumen das Problem grundsätzlich ein, treffen aber dennoch eine Abgrenzung.

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Kapitel 4: Die Diskriminierungsverbote der Grundrechte-Charta

Hauptfragen auch Nebenfragen regeln, häufig zweifelhaft sei, wann Unionsrecht vorliege.212 Nusser geht davon aus, dass durch eine Abgrenzung stets hochkomplexe rechtstheoretische Probleme an die Oberfläche gespült würden. Grenzfälle ließen sich daher oftmals nicht beurteilen.213 Dem ist hinzuzufügen, dass sich, egal welchen Ansatz man für adäquat hält, stets Abgrenzungsschwierigkeiten stellen werden. Dies auch, wenn man den mitgliedstaatlichen Ermessensbereich miteinbezieht. Eine Erleichterung liegt darin, dass keine klare Abgrenzung von unions- und mitgliedstaatlicher Sphäre mehr getroffen werden muss. Jedoch auch eine Antwort auf die Frage, wann ein nationaler Rechtsakt unionsrechtlich veranlasst ist, im Geltungsbereich des Unionsrechts liegt214 oder „in die Dienste der vom Unionsrecht vorgegebenen Ziele gestellt wird“215, bedarf letzten Endes stets einer Prüfung im Einzelfall.216 Zusammenfassend sind durch Öffnungsklauseln bedingte mitgliedstaatliche Regelungen an den Unionsgrundrechten zu messen. Es handelt sich dabei um unionsrechtlich determinierte und oftmals sehr konkret ausgestaltete Tatbestände, die daher auch europarechtlichen Mindeststandards entsprechen müssen. Diese Sichtweise kann sich auf die erst kürzlich bestätigte Judikatur des Gerichtshofes stützen. In seinem bereits angesprochenen Urteil zu einer Öffnungsklausel in der Familienzusammenführungs-RL setzte sich der EuGH ebenfalls mit der Frage der Reichweite der mitgliedstaatlichen Bindung bei der Richtlinienumsetzung auseinander. Er geht davon aus, dass der nationale Gesetzgeber auch dann an die Unionsgrundrechte gebunden sei, wenn er von einem Ermessensspielraum Gebrauch mache.217 In seiner jüngeren Judikatur spiegelt sich deutlich dieses weite Verständnis vom Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta wider. Umso mehr erscheint es unwahrscheinlich, dass der EuGH – zumindest in nächster Zeit – bereit sein wird, diese Rechtsprechungslinie zu verlassen und, wie von Seiten der Lehre vielfach angeregt, Art. 51 Abs. 1 GRC enger auszulegen.218 Das Urteil in Akerberg Fransson bekräftigt einerseits, wie bereits erwähnt, den vom Gerichtshof vor Inkrafttreten der Charta eingeschlagenen Weg. Andererseits zeigt sich, zwar exemplarisch, aber doch deutlich, die Reichweite der mitgliedstaatlichen Bindung an die Grundrechte-Charta. JPR 2012, 386, 388 f. Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrecht 45 f.; vgl. auch Ruffert, EuR 2004, 165, 176 ff.; Weiler, in: Weiler, The Constitution of Europe: „Do the new clothes have an emperor?” 102, 120; Weiler/Lockhart, CMLRev 32 (1995), 51, 73 f.; Haltern, Europarecht2, 527. 214 EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 21. 215 SA Cruz Villalon 12.06.2012 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Tz. 60. 216 Dies zur Rs. Akerberg Fransson anmerkend: A.Posch, ÖJZ 2013, 380, 382. 217 EuGH 27.05.2006 Rs. C-540/03 (Parlament/Rat) Rn. 104 ff.; Lindner, EuZW 2007, 71, 72 f.; Calliess, JZ 2009, 113, 116; vgl. mit einer Rechtsprechungsübersicht in der Sache allerdings kritisch: Calliess/Ruffert/Kingreen, EUV/AEUV4 Art. 51 GRC, Rn. 12. 218 Vgl. B.IV. 212 213

C. Öffnungsklauseln in Richtlinien

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Stein des Anstoßes war ein Vorabentscheidungsansuchen des schwedischen Haparanda tigsrätt. Dieser wollte wissen, ob es mit dem in Art. 50 GRC verankerten Grundsatz ne bis in indem vereinbar ist, sollte ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung eingeleitet werden, obwohl bereits eine steuerrechtliche Sanktion strafrechtlicher Natur verhängt wurde. Des Weiteren war fraglich, ob die schwedische Gerichtspraxis, nach der nationale Bestimmungen, die gegen die EMRK oder die Grundrechte-Charta verstoßen, nur dann unangewandt bleiben, wenn sich dies klar aus der betreffenden Rechtsvorschrift oder der Rechtsprechung ergibt, unionsrechtskonform ist. Zunächst nutzt der Gerichtshof die Gelegenheit um klarzustellen, dass keine Fallgestaltung denkbar sei, die vom Unionsrecht erfasst werde, ohne dass die Grundrechte-Charta anwendbar wäre. „Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte“.219 Erst wenn eine rechtliche Situation nicht mehr vom Unionsrecht erfasst sei, bestehe folglich keine Prüfungskompetenz des EuGH mehr.220 Für die Bestimmung der Reichweite der Grundrechte-Charta ist es erkenntnisfördernd sich vor Augen zu führen, worin für den Gerichtshof in Akerberg Fransson ein Durchführen von Unionsrecht seitens Schwedens gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC bestand. Die gegen Herrn Akerberg Fransson eingeleiteten steuer- und strafrechtlichen Sanktionen standen im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung von Mitteilungspflichten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer. Es war daher grundsätzlich die RL 2006/12/EG (Mehrwertsteuer-RL) einschlägig. Aus den Artt. 2, 250 Abs. 1 und 273 dieser Richtlinien und Art. 4 Abs. 3 EUV geht hervor, dass Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen sind, die sich dazu eignen, die Erhebung der gesamten Mehrwertsteuer in einem Mitgliedstaat zu gewährleisten und Betrug zu bekämpfen.221 Des Weiteren sieht Art. 325 AEUV vor, dass zur Bekämpfung von rechtswidrigen Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, abschreckende und wirksame Maßnahmen ergriffen werden müssen. In erster Linie seien zur Bekämpfung von Betrug auf diesem Gebiet, egal ob es um innerstaatliche Interessen oder jene der Union gehe, dieselben Maßnahmen zu ergreifen.222 Zwar wurden die steuerrechtlichen und strafrechtlichen Sanktion nicht zur Umsetzung der Mehrwertsteuer-RL erlassen, dennoch sah der EuGH darin ein Durchführen von Unionsrecht im Sinne des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC.223 Unter Berufung auf die am selben Tag ergangene Entscheidung in Melloni hält der Gerichtshof weiters fest, dass wenn ein Rechtsakt nicht ausschließlich unionsrechtlich determiniert sei, es den mitgliedstaatlichen Behörden frei stehe auch nationale Grundrechte anzuwenden. Er trifft allerdings eine EinschränEuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 21. EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 22. 221 EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 25. 222 EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 26. 223 EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 27 f. 219 220

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Kapitel 4: Die Diskriminierungsverbote der Grundrechte-Charta

kung. Dies sei nur insoweit zulässig, als dadurch weder das Schutzniveau der Charta noch der Vorrang des Unionsrechts beeinträchtigt werde.224 Neben der an anderer Stelle thematisierten Bekräftigung, dass Art. 51 Abs. 1 GRC mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu identifizieren sei225, hat Akerberg Fransson daher weit darüber hinausgehende Bedeutung.226 Es wird erneut demonstriert, wie „eng“ der Konnex zwischen einem Sekundärrechtsakt und der innerstaatlichen Umsetzungsnorm sein muss, damit Unionsrecht „durchgeführt“ wird. Vor diesem Hintergrund bleiben kaum Zweifel daran übrig, dass der Gerichtshof auch in Zukunft mitgliedstaatliche Rechtsakte, die in Ausfüllung von Öffnungsklauseln ergangen sind, am Maßstab der Grundrechte-Charta prüfen wird. Für die Gewährleistung eines einheitlichen grundrechtlichen Mindeststandards für unionsrechtlich bedingte Eingriffe ist dies jedenfalls notwendig. Öffnungsklauseln in Antidiskriminierungsrichtlinien ermöglichen einen klar unionsrechtlich definierten Grundrechtseingriff. Dieser sollte demzufolge auch an den Grundrechten der Union gemessen werden. Die Rechtsprechung des EuGH ist daher jedenfalls folgerichtig. Zudem ist die „Gretchenfrage“ nach der exakten Grenze zwischen unionsrechtlicher und mitgliedstaatlicher Sphäre bei der Richtlinienumsetzung oftmals kaum zu beantworten. Ein nicht zu restriktives Verständnis des Anwendungsbereichs der Grundrechte-Charta ist daher auch aus diesem Blickwinkel sinnvoll und stimmig.227

D. Zusammenfassung und Ergebnis Es kann sowohl auf dem Weg der mittelbaren, als auch auf jenem der unmittelbaren Drittwirkung von Grundrechten dasselbe Ergebnis erzielt werden. Der wesentliche Unterschied der beiden Konzeptionen besteht in der Annahme eines Untermaßverbotes bei der mittelbaren Drittwirkung. Private sind nach dieser Konzeption nicht Adressaten der Grundrechte. Der Staat muss allerdings ein Mindestmaß an Schutz garantieren. Erst ab dem Überschreiten einer gewissen Schwelle entfalten Grundrechte nach diesem Verständnis eine Wirkung im Privatrechtsverhältnis. Dadurch kommt der Respekt vor den Eigenwertungen des Privatrechts zum Ausdruck.228 Bevor zur Wirkung von Art. 21 GRC zwischen Privaten Stellung genommen werden kann, muss die Reichweite der Charta bestimmt werden. Die Charta ist 224 EuGH 26.02.2013 Rs. C-617/10 (Akerberg Fransson) Rn. 29; 26.02.2013 Rs. C- 399/11 (Melloni) Rn. 60. 225 Vgl. 3. 226 Für das Verhältnis zwischen mitgliedstaatlichen und unionsrechtlichen Grundrechten ist wohl Melloni von größerer Bedeutung. Vgl. Sarmiento, CMLRev 50 (2013), 1267. 227 Vgl. Haltern, Europarecht2, 527. 228 Siehe B.III.

D. Zusammenfassung und Ergebnis

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nach Art. 51 GRC dann anwendbar, wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen. Die Bestimmung ist nach dem Verständnis des EuGH mit seiner Judikatur zu identifizieren. Dafür sprechen vor allem die Materialien. Auch in der ERT-Situation sind die Mitgliedstaaten demnach an die Grundrechte-Charta gebunden. Das dagegen vorgebrachte Wortlautargument erscheint jedenfalls nicht zwingend. Die ERT-Situation ist im Begriffshof der Wendung: „bei der Durchführung des Rechts der Union“ enthalten. Es ist weiters davon auszugehen, dass sich der Unionsgesetzgeber bei der Schaffung der Charta deutlicher artikuliert hätte, wollte er der Rechtsprechung des Gerichtshofes entgegenwirken. Das Unionsrecht legt fest, in welchen Konstellationen eine Verletzung der Grundfreiheiten vorliegt und inwiefern diese gerechtfertigt sein kann. Werden die, den Binnenmarkt konstituierenden, Grundfreiheiten eingeschränkt, sollten diese Ausnahmebestimmungen an einem einheitlichen Maßstab gemessen werden. Private sind hingegen nicht Verpflichtete der Grundrechte-Charta. Aufgrund des Adressatenkreises der Charta ist daher eine unmittelbare Drittwirkung ausgeschlossen. Bei der Bestimmung einer möglichen Drittwirkung von Art. 21 GRC ist dessen Telos ausschlaggebend. Der Zweck der Diskriminierungsverbote liegt im Schutz vor Ausgrenzung und der Achtung der Würde des Menschen. Die Grundrechtsadressaten haben diese auch im Verhältnis zwischen Privaten im Sinne eines Untermaßverbotes zu gewährleisten. Art. 21 GRC kann somit (mittelbare) Drittwirkung entfalten. Mitgliedstaatliche Rechtsakte, die in Ausfüllung von Öffnungsklauseln ergehen, sind an den Unionsgrundrechten zu messen. Wird der mitgliedstaatliche Gesetzgeber im Rahmen einer Öffnungsklausel tätig, so führt er Unionsrecht im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRC durch. Er ist folglich an die GrundrechteCharta gebunden. Eine konkrete Abgrenzung der mitgliedstaatlichen von der unionsrechtlichen Sphäre lässt sich bei der Richtlinienumsetzung meist nicht treffen. Eine Differenzierung nach jenem Teil einer Richtlinie, der zwingend ist und jenem, in dem Ermessen besteht, ist kaum praktikabel.

Kapitel 5

Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote A. Problemstellung und Gang der weiteren Untersuchung Der Frage nach den möglichen Rechtsfolgen bei einem Verstoß gegen privatrechtliche Diskriminierungsverbote kommt im europäischen Kontext zentrale Bedeutung zu.1 Der Wert und die Berechtigung von Diskriminierungsverboten zeigt sich letztlich am deutlichsten an den Rechten, die einer betroffenen Person im Falle der Verletzung zustehen und den Sanktionen, mit welchen die diskriminierende Person zu rechnen hat.2 Der Problemkreis ist von verschiedenen Blickwinkeln aus von Interesse. Die Sanktionen bei einer Verletzung von Diskriminierungsverboten zwischen Privaten hängen wesentlich mit der Intensität des damit verbundenen Eingriffs in die Vertragsfreiheit zusammen. Das darf nicht missverstanden werden. Mit der Entscheidung, Diskriminierung aufgrund gesellschaftlich verpönter Merkmale zwischen Privatpersonen zu untersagen, wird die klassische vom Liberalismus geprägte Vertragsfreiheit eingeschränkt. Es gilt nicht mehr allein der Wille des Einzelnen.3 Stattdessen wird jemandem untersagt, einen Vertrag nicht oder nicht zu den von ihm gewünschten Bedingungen zu schließen. Die Diskriminierungsverbote im Privatrecht stoßen daher bei manchen Vertretern in der Literatur beinahe reflexartig auf Ablehnung. Es lässt sich jedoch kaum von der Hand weisen, dass die Sanktion eines solchen Verstoßes den Eingriff in die formale Vertragsfreiheit verstärkt oder abgeschwächt wirken lassen kann. Die Antidiskriminierungsrichtlinien im Privatrecht geben vor, dass es sich jedenfalls um wirksame, verhältnismäßige, aber auch abschreckende Sanktionen handeln muss.4 Es wurde den Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung der 1 In den Antidiskriminierungsrichtlinien ist von Sanktionen die Rede, es werden daher die Begriffe Sanktionen und Rechtsfolgen bei Verletzungen von Diskriminierungsverboten synonym verwendet. 2 Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159; Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 189. 3 Zur formalen Vertragsfreiheit siehe: Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II4, 6 ff.: „Für den Bereich der Privatautonomie gilt der Grundsatz sta pro ratione voluntas“. 4 RL 2004/113/EG Art. 14; 2000/43/RG Art. 15; ebenso im Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung außerhalb des Arbeitsmarktes: KOM(2008) 426, 2008/0140(CNS) Art. 14.

A. Problemstellung und Gang der weiteren Untersuchung

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Sanktionsmechanismen ein gewisser Umsetzungsspielraum zugestanden. Dies spiegelt sich in den unterschiedlichen innerstaatlich erlassenen Sanktionsregelungen wider.5 Man sollte hingegen nicht den Eindruck gewinnen, es bestünde bezüglich der Wahl der Sanktionsmechanismen und deren Ausgestaltung völlige mitgliedstaatliche Autonomie. Zum einen wurden durch die Judikatur des EuGH weitere Kriterien der Rechtsfolgen herausgebildet, zum anderen finden sich auch in den Richtlinien und Materialien weitere Anhaltspunkte, die es bei der Umsetzung jedenfalls zu beachten gilt.6 Das Antidiskriminierungsrecht hat unterschiedliche Gesichter in den einzelnen Mitgliedstaaten und kann selbst in ein und derselben Rechtsordnung in unterschiedlichster Gestalt auftreten.7 Eine weitgehende Gemeinsamkeit besteht jedoch bei der Ausformung der innerstaatlichen Sanktionsmechanismen. Ein Verstoß gegen Europäische Diskriminierungsverbote wird mehrheitlich mit zivilrechtlichen Ersatzansprüchen geahndet.8 Darin liegt an und für sich bereits ein privatrechtlicher Harmonisierungserfolg.9 Bei der Ausgestaltung und bezüglich der Funktion der privatrechtlichen Haftung10 sind allerdings verschiedenste Mechanismen und Gewichtungen möglich. Zu denken wäre an eine grundsätzliche Verwirklichung des Ausgleichsgedankens, verhaltenssteuernde Maßnahmen oder gar pönale Elemente. Naturgemäß existieren Kombinationen, flankiert oder nicht durch straf- oder verwaltungsrechtliche Konsequenzen. Viel diskutiert wird in diesem Zusammenhang ein Kontrahierungszwang als Sanktion im Gleichbehandlungsrecht.11 Im folgenden Abschnitt werden zunächst die unionsrechtlichen Mindestvoraussetzungen der Rechtsfolgen bei Verletzung von richtliniendeterminierten 5 Vgl. Schmidt-Kessel, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 53, 54; Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 11 ff. mit einem beeindruckenden Überblick über diverse Diskriminierungsschutzkonzepte in den Mitgliedstaaten. Es stellen sich des Weiteren bei grenzüberschreitenden Sachverhalten erhebliche kollisionsrechtliche Probleme, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Insbesondere zur Frage, ob eine Kumulation der verschiedenen Regelungssysteme letzten Endes nicht gegen das Verbot der Verhältnismäßigkeit verstößt, siehe: Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 303 ff. 6 Vgl. Haberl, GPR 2009, 202, 204. 7 Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 11 ff. 8 Das soll nicht bedeuten, dass diese nicht in Kombination mit Verwaltungstrafen oder strafrechtlichen Sanktionen bestehen können. Frankreich und auch Belgien setzen z.B. auf zivilrechtliche wie auch strafrechtliche Rechtsfolgen. 9 Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 300; Basedow, ZEuP 2008, 230, 239 zweifelt daran. Nicht vergessen werden darf, dass in manchen Mitgliedstaaten neben zivilrechtlichen auch straf- und verwaltungsrechtliche Sanktionen bestehen. 10 Zu den Funktionen des Haftpflichtrechts grundlegend: Koziol, Österreichisches Haftpflichtrecht I3 Rz. 1/13 ff. 11 Beispielsweise: Thüsing/von Hoff, NJW 2007, 21; Armbrüster, NJW 2007, 1494; ders., KritV 2005 41, 46 ff.; Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 174 ff.; Neuner, JZ 2003, 57, 64; Looschelders, JZ 2012, 105, 111.

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Kapitel 5: Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote

Diskriminierungsverboten aufgezeigt. Es soll ein allgemeiner Mindeststandard für Sanktionen bei Verletzungen von Diskriminierungsverboten herausgearbeitet werden. Dazu ist insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofes von Bedeutung. Anschließend werden, aufbauend auf den allgemeinen Determinanten, mögliche Sanktionsmechanismen diskutiert. Auch hierbei müssen selbstverständlich die unionsrechtlichen Vorgaben im Auge behalten werden. Vor allem Erwägungen bezüglich der Effektivität und letztlich der Sinnhaftigkeit der behandelten Sanktion werden eine wichtige Rolle spielen. Der Fokus wird zuerst auf mögliche schadensersatzrechtliche Ansprüche des Diskriminierungsopfers und deren wesentliche Ausgestaltung gerichtet. Anschließend wird, die auf den ersten Blick am gravierendsten wirkende Sanktion, der Kontrahierungszwang bei verweigertem Vertragsschluss aufgrund von verpönten Motiven, erörtert.

B. Die europarechtlichen Vorgaben I. Die Antidiskriminierungsrichtlinien Die Antidiskriminierungsrichtlinien, 2000/43/EG (Antirassismus-RL) und 2004/113/EG (Unisex-RL) gewähren den Mitgliedstaaten im Bereich der Sanktionen einen erheblichen Umsetzungsspielraum. In Art. 7 Abs. 1 RL 2000/43/ EG und Art. 8 RL 2004/113/EG ist zunächst festgeschrieben, dass den Benachteiligten zur Durchsetzung ihrer Ansprüche der Weg zu Gerichten, Verwaltungsbehörden oder gegebenenfalls zu einer Schlichtungsstelle offenstehen muss.12 Unter der Rubrik „Sanktionen“ wird in Art. 15 der Antirassismus- und in Art. 14 der Unisex-RL in identischem Wortlaut Folgendes festgeschrieben: „Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die nationalen Vorschriften zur Anwendung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um deren Durchsetzung zu gewährleisten. Die Sanktionen, die auch Schadenersatzleistungen an die Opfer umfassen können, müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“13

Aus dem Gebot der Wirksamkeit kann jedenfalls geschlossen werden, dass es sich um effektive Sanktionen handeln muss.14 Diese dürfen ferner nicht unverhältnismäßig stark in die Privatautonomie eingreifen.15 Dennoch müssen sie abschreckend wirken. Dieses Erfordernis soll den Präventionsgedanken unterstreichen.16 Vgl. dazu nur: MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 2. Hervorhebungen durch den Autor. 14 Armbrüster, KritV 2005, 41, 42. 15 Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 165; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 3. 16 MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 3. 12 13

B. Die europarechtlichen Vorgaben

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Die Unisex-RL enthält in Art. 8 Abs. 2 zudem die Vorgabe, dass diskriminierten Personen der entstandene Schaden tatsächlich und wirksam zu ersetzen ist. Dies hat auf abschreckende und dem erlittenen Schaden angemessene Art und Weise zu geschehen. Daraus erschließt sich bereits eine relevante Einschränkung der Autonomie der Mitgliedstaaten. Geht es um die Sanktionierung von Geschlechterdiskriminierung, muss jedenfalls ein Schadensersatzanspruch vorgesehen werden.17 Ein anderes Verständnis würde Art. 8 Abs. 2 RL 2004/113/EG jegliche Bedeutung nehmen und seinem Wortlaut folglich nicht Genüge tun. Die Trias an Kernvorgaben des Rechtsfolgenprogramms der Antidiskriminierungsrichtlinien wirkt bei oberflächlicher Betrachtung höchst rudimentär und unvollständig.18 Das bedeutet allerdings nicht, dass der nationale Gesetzgeber diesbezüglich vollkommen freie Hand hätte.19 Ausgangspunkt der weiteren Untersuchungen bildet daher die Frage, was unter wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionen tatsächlich zu verstehen ist. In einem zweiten Schritt werden die Auswirkungen der unionsrechtlichen Vorgaben auf gängige Rechtsbehelfe behandelt. Den zentralen Anknüpfungspunkt hierbei bildet die Rechtsprechung des Gerichtshofes. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz. Diese Prinzipien spielen bei der Umsetzung von Unionsrecht und insbesondere bei der Konkretisierung von Rechtsfolgeanordnungen eine entscheidende Rolle. Sie sind daher von den Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang jedenfalls zwingend zu beachten. II. Der Grundsatz der Effektivität20 und der Äquivalenz Die Richtlinienvorgaben nach wirksamen, abschreckenden und verhältnismäßigen Sanktionen finden ihren Ursprung im Grundsatz der Effektivität und der Äquivalenz.21

So Wagner, AcP 206 (2006), 352, 400 f.; Adomeit/Mohr/Adomeit, Kommentar zum AGG2 § 21 Rn. 3; Schiek/Schiek, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, § 21, Rn. 2. 18 Daneben bestehen weitere Vorgaben, die das soziale und rechtliche Umfeld der geschützten Privatrechtssubjekte regeln; vgl. Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 162. 19 Armbrüster, KritV 2005, 41, 42; Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 163. 20 In der deutschsprachigen Literatur wird oft auch stattdessen der Begriff der „Effizienz“ verwendet: vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht5 § 12 Rn. 36 f. Der EuGH verwendet in den deutschen Fassungen seiner Urteile stets den Begriff der „Effektivität“. Daran orientiert sich auch diese Untersuchung. 21 Vgl. zur Entwicklung des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots: Streinz, in: FS Everling 1491, 1500; Honsell, in: FS Krejci 1929, 1930 ff. 17

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Kapitel 5: Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote

Unter dem Prinzip der Effektivität werden im europarechtlichen Diskurs unterschiedliche Dinge verstanden.22 Der EuGH verwendet den Begriff im Zusammenhang mit der Durchsetzung von unionsrechtsrechtlich gewährleisteten Rechten durch Gerichte und Behörden der Mitgliedstaaten.23 Es handelt sich demnach um eine zentrale Aufgabe der nationalen Gerichte, den Schutz, der den Bürgern aus dem Unionsrecht erwachsen ist, zu garantieren. Die Ausgestaltung von Rechtsbehelfen ist bei Fehlen einer unionsrechtlichen Regelung Sache der Mitgliedstaaten. Diese Folge ergibt sich bereits aus dem Subsidiaritätsprinzip.24 Die im innerstaatlichen Recht geschaffenen Modalitäten dürfen die Ausübung der unionsrechtlich determinierten Rechte des einzelnen nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivität25). Zudem dürfen die von den Mitgliedstaaten vorgesehenen Verfahren nicht ungünstiger ausgestaltet sein als entsprechende Verfahren im nicht unionsrechtlich determinierten Bereich des innerstaatlichen Rechts (Äquivalenz oder Gleichwertigkeit).26 Eine neuere Tendenz in der Rechtsprechung lässt auf eine dritte Voraussetzung schließen. Nationale Verfahrensvorschriften und Rechtsbehelfe müssen folglich mit der Grundrechte-Charta konform sein.27 Diese dritte Kategorie wird allerdings von Seiten der Literatur in den Effektivitätsgrundsatzes integriert.28 Für die Umsetzung von Richtlinien ergeben sich die vorgestellten Grundsätze bereits aus Art. 288 Abs. 3 AEUV.29 Allgemein folgt die Pflicht zur effektiven Durchsetzung des Unionsrechts aus dem Loyalitätsgebot in Art. 4 Abs. 3 EUV.30 Insbesondere der Grundsatz der Effektivität ist als Folge der unvollständigen Gesetzgebung der Union zu verstehen. Der Unionsgesetzgeber normiert 22 Neben dem hier dargestellten Effektivitätsgrundsatz im engeren Sinn, ist beispielsweise die Auslegungsregel des „effet utile“ zu nennen, die im Wesentlichen ebenso die Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleisten soll. Dazu siehe schon EuGH 05.02.1963 Rs. 26/62 (Van Gend en Loos); vgl. Basedow/Hopt/Zimmermann/Heinze, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts I, 337 ff. 23 Basedow/Hopt/Zimmermann/Heinze, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts I, 337 ff. 24 Dazu siehe im Überblick Kapitel 3.A.I. 25 In der englischsprachigen Literatur ist auch der Begriff von principle of practical possibility gebräuchlich; vgl. Craig/De Burca, EU-Law5, 220 ff. 26 Der Äquivalenzgrundsatz wurde auch „Diskriminierungsverbot“ genannt. Diese Terminologie wird allerdings seit längerer Zeit aufgrund der evidenten Verwechslungsgefahr nicht mehr verwendet. EuGH 16.12.1976 Rs. 33/76 (Rewe Zentralfinanz) Rn. 5; 10.07.1997 Rs. C-261/95 (Palmisani) Rn. 27; 20.09.2001 Rs. C-453/99 (Courage) Rn. 29; 13.07.2006 verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04 (Manfredi) Rn. 62. 27 EuGH 10.04.2003 Rs. C-276/01 (Steffensen) Rn. 80. 28 Tridimas, The General Principles of EU Law2, 423. 29 Siehe dazu: Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 9; Franzen, Rechtsangleichung durch die europäische Gemeinschaft 296 f.; Streinz/Schroeder, EUV/AEUV2 Art. 288 AEUV, Rn. 100; zur Richtlinienumsetzung siehe unten V. 30 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts 268.

B. Die europarechtlichen Vorgaben

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zumeist lediglich primäre Verhaltenspflichten. Die Ausformung der Rechtsbehelfe wird oft allein oder zumindest weitestgehend den Mitgliedstaaten überlassen. Ziel des Effektivitäts- und des Äquivalenzgrundsatzes ist es, den Vorrang und die Wirksamkeit des materiellen Unionsrechts in Hinblick auf potentiell beeinträchtigende nationale Vorschriften zu sichern.31 Es wird dadurch das Ermessen der Mitgliedstaaten bei der Gestaltung von Sanktionsmechanismen eingeschränkt, sollte es keine konkreten unionsrechtlichen Vorgaben geben.32 Das EU-Recht soll schließlich nicht durch „zahnlose“ Rechtsfolgen de facto unwirksam gemacht werden können. Die beiden Grundsätze bilden separate Prüfungsstufen. Sie müssen folglich kumulativ erfüllt sein.33 Führt eine nationale Regelung aus unionsrechtlicher Sicht zur ineffektiven Umsetzung, so darf sie nicht angewendet werden, auch wenn das nationale Recht es in gleichgelagerten Fällen vorsieht. 34 Der Effektivitätsgrundsatz wurde auf dem Gebiet des Antidiskriminierungsrechts maßgeblich entwickelt.35 In sämtlichen auf Art. 19 AEUV bzw. Art. 13 EGV aufbauenden Richtlinien findet er sich daher in positivierter Form wieder. Um die Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz gewissermaßen mit Leben zu erfüllen, ist ein Blick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes unerlässlich. Von großer Bedeutung ist hierbei die zur RL 76/207 EWG ergangene Judikatur. Die besagte Richtlinie bildet den ersten Baustein auf dem Weg zu einem privatrechtlichen Europäischen Antidiskriminierungsrecht.36 Ihr Ziel war die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Mann und Frau auf dem Arbeitsmarkt. Aus den zu ihr ergangenen Entscheidungen des Gerichtshofes lässt sich eine Rechtsprechungslinie ableiten, die ebenso für die Diskriminierungsverbote im allgemeinen Zivilrecht Relevanz aufweist.37 Dabei dürfen allerdings nicht die Richtlinienvorgaben aus den Augen verloren werden. Die Unisex-RL geht, vor allem bezüglich der Wahlfreiheit der Sanktion der Mitgliedstaaten, weiter als die Rechtsprechung des Gerichtshofes. Anhand der Judikatur wird versucht, den Vorgaben der Antirassismus- und der Unisex-RL weitere Konturen zu verleihen und die europarechtlichen Mindeststandards für Sanktionen bei Verletzung von Diskriminierungsverboten im 31 Basedow/Hopt/Zimmermann/Heinze, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts I, 337 ff. 32 Lecheler, Der Grundsatz der Effektivität im Gemeinschaftsrecht 16 ff. 33 Tridimas, The General Principles of EU Law2, 424 ff.; Prechal, Directives in EC Law2, 90; SA Van Gerven 26.01.1993 Rs. C-271/91 (Marshall II) Tz. 15. 34 EuGH 09.11.1983 Rs. 199/82 (San Giorgo) Rn. 14; 14.12.1995 Rs. C-312/93 (Peterbroeck) Rn. 21. 35 Schiek/Schiek, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, § 21 Rn. 2. 36 Wagner/Potsch, JZ 2006, 1085, 1086; Wagner, AcP 206 (2006), 352, 400. 37 Dass die Antirassismus- und die Unisex-RL einen weiteren Anwendungsbereich haben, kann keinen wesentlichen Unterschied machen. Dazu weiter unten. Siehe auch: MüKoBGB/ Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 48.

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Kapitel 5: Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote

Allgemeinen darzulegen. Es wird damit das Fundament für die weiteren Untersuchungen gelegt. III. Judikatur des EuGH Den Anfang in einer Reihe an hier relevanten Entscheidungen des Gerichtshofes bilden die sehr ähnlich gelagerten Rechtssachen Von Colson und Kamann38 und Harz39. In Von Colson und Kamann wurde die Klägerin aufgrund ihres Geschlechts nicht als Sozialarbeiterin in einer deutschen Justizvollzugsanstalt eingestellt. Darin lag ein Verstoß, gegen das arbeitsrechtliche Verbot aufgrund des Geschlechts zu diskriminieren. Als Rechtsfolge verpflichtete die einschlägige RL 76/207/EWG in Art. 6 die Mitgliedstaaten dazu, innerstaatliche Vorschriften zu erlassen, die notwendig sind, damit jeder, der sich wegen der Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Geschlechter im Sinne der Vorschrift für beschwert hält, nach etwaiger Befassung anderer zuständiger Stellen, seine Rechte gerichtlich geltend machen kann.40 In Deutschland wurden die Rechtsfolgen bei einem Verstoß gegen die Gleichbehandlungs-RL in § 611a Abs. 2 BGB umgesetzt.41 Dieser sah im Fall der geschlechterdiskriminierenden Verweigerung des Abschlusses eines Arbeitsvertrages den Ersatz des Vertrauensschadens vor. Es wurden der Klägerin daher von einem deutschen Gericht 7,20 DM als Reisekostenersatz zugesprochen.42 Der EuGH stellt zunächst klar, dass sich aus der Richtlinie nicht entnehmen lasse, dass der diskriminierende Arbeitgeber verpflichtet sei, als Sanktion für die verbotene Ungleichbehandlung einen Arbeitsvertrag mit dem Diskriminierungsopfer zu schließen.43 Es bestehe daher keine Verpflichtung, für den nationalen Gesetzgeber einen Kontrahierungszwang in jedem Fall vorzusehen. Ganz generell habe man die Sanktionen offen gelassen. Die Mitgliedstaaten könnten EuGH 10.04.1984 Rs. C-14/83 (Von Colson und Kamann). EuGH 10.04.1984 Rs. 79/83 (Harz). Die Rs. Harz und die Rs. Von Colson und Kamann ergingen am selben Tag und gleichen sich auch inhaltlich. 40 Vgl. RL 76/207/EWG Art. 6. 41 § 611a BGB aF: „Ist ein Arbeitsverhältnis wegen eines vom Arbeitgeber zu vertretenden Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des Abs. 1 nicht begründet worden, so ist er zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den der Arbeitnehmer dadurch erleidet, daß er darauf vertraut, die Begründung des Arbeitsverhältnisses werde nicht wegen eines solchen Verstoßes unterbleiben“. Die Bestimmung wurde 1994 novelliert und mit der Einführung des AGG im Jahr 2006 aufgehoben. 42 Das Arbeitsgericht Hamm sprach von „einem fast zynisch anmutenden Schein einer wirklichen Sanktion“, ArbG Hamm, DB 1983, 1102, 1103; Zulegg, RdA 1984, 325, 327 bezeichnete § 611a BGB als den „Portoparagraph“; dieses und weitere Beispiele sowie eine Darstellung der Situation nach der Entscheidung in Von Colson und Kamann in Deutschland finden sich bei: Wagner, AcP 206 (2006), 352, 390. 43 EuGH 10.04.1984 Rs. C-14/83 (Von Colson und Kamann) Rn. 19. 38 39

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aus den geeigneten und zielführenden Rechtsbehelfen wählen. Wird aber eine Entschädigung vorgesehen, so dürfe sie nicht lediglich symbolischen Charakter aufweisen.44 Vielmehr müsse die Wiedergutmachung, damit ihre abschreckende Wirkung und Effektivität gewährleistet sei, in einem angemessenen Verhältnis zum Schaden stehen. Allein der Ersatz der Bewerbungskosten komme dieser Funktion jedenfalls nicht in gebotener Weise nach.45 Der Gerichtshof betont besonders, dass die gewählte Sanktion eine wirklich abschreckende Wirkung haben müsse.46 Es soll demnach durch den Entschädigungsanspruch eine gewisse verhaltenssteuernde Wirkung erzielt werden. Mit Abschreckung ist jedoch nicht unbedingt die Forderung nach einem Strafcharakter des Schadensersatzes47 gemeint, wie in späteren Entscheidungen klargestellt wird.48 Die Quintessenz der Rechtsprechung aus den Achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Es besteht aus europarechtlicher Sicht weder eine Pflicht einen Kontrahierungszwang vorzusehen noch zivilrechtliche Sanktionen einzuführen. Den Mitgliedstaaten kommt eine grundsätzliche Wahlfreiheit bezüglich möglicher Sanktionen zu. Es wäre auch an Verwaltungsstrafen49 (Bußgelder) zu denken, oder es könnten strafrechtliche Tatbestände geschaffen werden. Wird allerdings ein zivilrechtlicher Schadensersatzanspruch seitens der Mitgliedstaaten gewählt, so muss ein angemessenes Verhältnis zwischen der Entschädigung und dem erlittenem Schaden bestehen. In Von Colson wurde daher erstmals zum Ausdruck gebracht, dass nationale Sanktionen unzureichend für die Durchsetzung von europarechtlichen Vorgaben sein können. Dies selbst dann, wenn die unionsrechtlichen Vorgaben zu den Sanktionsmechanismen gar keine Aussagen treffen.50 Der Grundsatz der mitgliedstaatlichen Autonomie gilt für die Normierung von Rechtsfolgen bei Diskriminierung folglich nicht unbegrenzt. In seinem Urteil in Marshall II wird der Gerichtshof konkreter. Die Klägerin wurde aus einem Arbeitsverhältnis entlassen, weil sie das staatliche Mindestpensionsalter erreicht hatte. Dieses war für Frauen und Männer in England ein unterschiedliches. Bereits Jahre zuvor hatte der EuGH in Marshall I entschieden, dass eine solche Entlassungspolitik nicht mit dem Grundsatz der GleichEuGH 10.04.1984 Rs. C-14/83 (Von Colson und Kamann) Rn. 24. EuGH 10.04.1984 Rs. C-14/83 (Von Colson und Kamann) Rn. 23, 28. 46 EuGH 10.04.1984 Rs. C-14/83 (Von Colson und Kamann) Rn. 23, 28. 47 Hier sollte differenziert werden. Straf- oder Vergeltungsfunktion und Prävention sind demnach zu unterscheiden. Wagner, AcP 206 (2006), 352, 360 ff.: „Die Vermischung von Straf- und Präventionszwecken ist in analytischer Hinsicht unbefriedigend, und sie blockiert eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Frage der Verhaltenssteuerung durch Privatrecht.“ 48 EuGH 22.04.1997 Rs. C-180/95 (Draehmpaehl). Vgl. dazu auch: EuGH 13.07.2006 Rs. C-295/04 bis C-298/04 (Manfredi) Rn. 100; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 15 AGG, Rn. 14 ff. 49 Der EuGH verwendet, der deutschen Rechtssprache entsprechend, den Terminus Ordnungswidrigkeit. 50 Tridimas, The General Principles of EU Law2, 456 f. 44 45

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Kapitel 5: Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote

behandlung von Mann und Frau beim Zugang zum Arbeitsmarkt vereinbar sei.51 Das House of Lords wollte nun vom EuGH wissen, ob eine nationalrechtliche Vorschrift, die eine vorgesehene Entschädigung der Höhe nach begrenzt, als Sanktion im Sinne der RL 76/207 EWG zulässig ist. Weiters war fraglich, ob der durch die Diskriminierung verursachte Schaden in vollem Maße wiedergutzumachen ist und ob dabei auch entsprechende Zinsen erstattet werden müssen.52 Unter Berufung auf Von Colson und Kamann bestätigt der Gerichtshof zunächst die grundsätzliche Wahlfreiheit der Mitgliedstaaten bezüglich der Sanktionen beim Verstoß gegen das arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgebot von Mann und Frau. Das Ziel der Richtlinie sei unzweifelhaft die Wiederherstellung der tatsächlichen Chancengleichheit. Wie dies geschehe, sei von Fall zu Fall zu beurteilen. Bei einer diskriminierenden Entlassung könne jedoch die Gleichheit ohne finanzielle Entschädigung oder Wiedereinstellung nicht wiederhergestellt werden.53 Das innerstaatliche Recht könne allerdings bei der Umsetzung sowohl einen Anspruch auf eine Entschädigung als auch die Wiedereinstellung vorsehen.54 Obergrenzen, die den zu ersetzenden Betrag von vornherein auf einem Niveau festlegen, das nicht den Erfordernissen nach einer angemessen Wiedergutmachung des entstandenen Schadens entspricht, stellen nach dem Gerichtshof schon begrifflich keine ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinie dar. Auch die Zuerkennung von Zinsen, entsprechend der nationalen Vorschriften, sei unerlässlicher Bestandteil einer Entschädigung.55 Der EuGH definiert in Marshall II die Voraussetzungen einer national vorgesehenen Entschädigung.56 Er macht dabei unmissverständlich klar, dass diese einen wirklichen Ausgleich schaffen muss und letztlich die Chancengleichheit wiederherstellen soll. Die dafür gewählten Mechanismen bleiben den Mitgliedstaaten zwar überlassen, jedoch kann aus der Fokussierung des EuGH auf die Wiederherstellung der tatsächlichen Chancengleichheiten ein weiterer Schluss gezogen werden. 57 Es können offenbar Konstellationen vorliegen, in denen EuGH 25.02.1986 Rs. 152/84 (Marshall I). EuGH 02.08.1993 Rs. C-271/91 (Marshall II) Rn. 27 und Rn. 28. 53 EuGH 02.08.1993 Rs. C-271/91 (Marshall II) Rn. 25. 54 EuGH 02.08.1993 Rs. C-271/91 (Marshall II) Rn. 23 ff. 55 EuGH 02.08.1993 Rs. C-271/91 (Marshall II) Rn. 30 ff. 56 Das Verbot der Festsetzung einer Höchstgrenze der Entschädigung im Sinn des Marshall II Urteils findet sich in der Unisex-RL, in Art. 8 Abs. 2 Satz 2, jedoch nicht in der AntirassismusRL wieder. Einige Mitgliedstaaten haben dies zum Anlass genommen, bei der Umsetzung den Schadensersatzanspruch der Höhe nach zu begrenzen. Dies wäre aus österreichischer und deutscher Perspektive aufgrund des Äquivalenzgrundsatzes problematisch. Siehe dazu auch mit einem Vergleich zum italienischen Recht: Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 193 Fn. 374. 57 EuGH 02.08.1993 Rs. C-271/91 (Marshall II) Rn. 25. 51 52

B. Die europarechtlichen Vorgaben

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allein ein Bußgeld nicht den europarechtlichen Vorgaben entsprechen würde.58 Vor diesem Hintergrund lässt sich in der Folge auch nicht per se ausschließen, dass ein Kontrahierungszwang neben der Entschädigung als notwendige Sanktion bestehen muss. In der Rechtssache Dekker befasste der Hooge Raad der Niederlande den EuGH mit der Frage, ob ein, in Umsetzung von Art. 6 der GleichbehandlungsRL geschaffener, Schadensersatzanspruch Verschulden des Diskriminierenden als Voraussetzungen vorsehen darf. Darüber hinaus war fraglich, ob Rechtfertigungsgründe seitens des Arbeitgebers sich entlastend auswirken dürfen. Die Klägerin bewarb sich als Erzieherin in einer Bildungsstätte für Erwachsene. Sie teilte bereits während des Bewerbungsprozesses mit, dass sie seit drei Monaten schwanger war. Die Auswahlkommission gelangte zum Ergebnis, dass es sich bei ihr um die am besten qualifizierte Bewerberin handle. Dennoch wurde die Klägerin nicht eingestellt. Als Begründung nannte der potentielle Arbeitgeber drohende finanzielle Einbußen mit gravierenden Folgen. Da die Schwangerschaft schon vor der Einstellung bekannt war, würde die Versicherung das zu bezahlende Krankengeld während des Mutterschaftsurlaubes nicht refundieren. Es wäre daher budgetär unmöglich, eine Vertretung für die Klägerin einzustellen. Dies hätte den Verlust von Bildungsplätzen im Bereich der Erwachsenenbildung zur Folge.59 Der Gerichtshof bleibt zunächst seiner in der Rechtssache Von Colson eingeschlagenen Linie treu. Er fordert tatsächlichen, wirksamen und abschreckenden Rechtsschutz für die Opfer von Diskriminierung.60 Die Wirksamkeit von Diskriminierungsverboten sei aber grob beeinträchtigt, wenn man den Nachweis des Verschuldens bzw. das nicht Vorliegen von Rechtfertigungsgründen als Voraussetzung einer Entschädigung sehe.61 Daraus folgert der EuGH, dass es zwar weiterhin im Ermessen der Mitgliedstaaten liege, ob sie Sanktionen auf zivilrechtlicher Ebene zulassen. Ist allerdings die Entscheidung für eine privatrechtliche Haftung gefallen, so dürfe es im Sinne der Wirksamkeit der Sanktion nicht auf Rechtfertigungsgründe und ein Verschulden des Urhebers ankommen.62 In der Rechtsache Draehmpaehl bestätigt der EuGH einige Jahre später seine Judikatur. Stein des Anstoßes war erneut § 611a Abs. 2 BGB. Diesmal allerdings in seiner novellierten Fassung aus dem Jahr 1994.63 Die Bestimmung 58 Vgl. Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 193. 59 EuGH 08.11.1990 Rs. C-177/88 (Dekker) Rn. 2 ff. 60 EuGH 10.04.1984 Rs. C-14/83 (Von Colson und Kamann) Rn. 23; 08.11.1990 Rs. C-177/88 (Dekker) Rn. 23. 61 EuGH 08.11.1990 Rs. C-177/88 (Dekker) Rn. 24. 62 EuGH 08.11.1990 Rs. C-177/88 (Dekker) Rn. 25. Siehe zur Voraussetzung des Verschuldens für einen Schadensersatzanspruch bei der Verletzung von Diskriminierungsverboten 2. 63 Detailliert zur Genese von § 611a BGB aufgrund der Judikatur des EuGH: Wagner, AcP 206 (2006), 352, 390 ff.

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Kapitel 5: Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote

sah nun einen Ausgleich des materiellen sowie des immateriellen Schadens vor. Allerdings war der Anspruch verschuldensabhängig ausgestaltet und mit maximal drei Monatsgehältern begrenzt.64 Ein Mann bewarb sich auf folgende Stellenausschreibung: „Für unseren Betrieb suchen wir eine versierte Assistentin der Vertriebsleitung. Wenn Sie mit den Chaoten eines vertriebsorientierten Unternehmens zurechtkommen können, diesen Kaffee kochen wollen, sind sie richtig bei uns.“ Der Kläger wurde trotz bester Qualifikation aufgrund seines Geschlechts nicht eingestellt.65 Das Arbeitsgericht Hamburg befand sich im weiteren Verlauf des Verfahrens darüber im Unklaren, ob § 611a Abs. 2 und Abs. 3 BGB mit den europarechtlichen Vorgaben der RL 76/207/EWG konform sei. Auch in diesem Fall bleibt der Gerichtshof konsistent. Unter Berufung auf Dekker hält er fest, dass ein verschuldensabhängiger Ersatzanspruch nicht mit den Richtlinienzielen in Einklang zu bringen sei. Bei national festgesetzten Höchstgrenzen des Ersatzanspruches sei zu differenzieren. Eine grundsätzliche Obergrenze bei Schadensersatz wegen Geschlechterdiskriminierung sei mit der Richtlinie, wie schon aus Marshall II bekannt, unvereinbar.66 Anderes solle nur für jene Fälle gelten, in denen der Bewerber auch bei diskriminierungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.67 Aus der dargestellten Judikatur des EuGH lassen sich gewisse Mindestanforderungen für mitgliedstaatliche Sanktionen bei verbotener Diskriminierung ableiten. Doch es stellt sich zunächst noch eine andere Frage. Ist die Rechtsprechung zur Richtlinie, die den Grundsatz der Gleichbehandlung bei Zugang zum Arbeitsmarkt vorschreibt, auf die zivilrechtlichen Diskriminierungsverbote der Antirassismus- und der Unisex-RL übertragbar? IV. Relevanz der Judikatur für privatrechtliche Diskriminierungsverbote Die zitierte Judikatur erging zu nationalen Umsetzungen der RL 76/207 EWG. Es können daher durchaus Zweifel darüber aufkommen, ob diese zum arbeitsrechtlichen Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts ergangene Rechtsprechung auf das allgemeine Zivilrecht übertragbar ist. In den Erwägungsgründen zu den privatrechtlichen Antidiskriminierungsrichtlinien finden sich keine Verweise auf besagte Judikatur. Ein Blick auf die Unisex- und die Antirassismus-RL vermag Klarheit zu schaffen. In beiden, für das allgemeine Privatrecht abseits des Arbeitsrechts 64 Vgl. Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 166 f. 65 EuGH 22.04.1997 Rs. C-180/95 (Draehmpaehl) Rn. 12 ff. 66 EuGH 22.04.1997 Rs. C-180/95 (Draehmpaehl) Rn. 23 ff. In concreto lag das Problem auch darin, dass in Deutschland derartige Höchstgrenzen nicht im Sinne des Äquivalenzgrundsatzes waren. 67 EuGH 22.04.1997 Rs. C-180/95 (Draehmpaehl) Rn. 31 ff.

B. Die europarechtlichen Vorgaben

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relevanten, Richtlinien werden wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen gefordert. Dieselben Anforderungen stellt der Gerichtshof unter Berufung auf den Effektivitätsgrundsatz an Sanktionen bei Verletzung der RL 76/207 EWG.68 Es erscheint daher nicht besonders naheliegend eine Differenzierung zwischen dem Arbeits- und dem Zivilrecht vorzunehmen. Zudem wird diese Unterscheidung auch von Seiten des Unionsgesetzgebers nicht getroffen. Die Antirassismus-RL ist sowohl im Arbeitsrecht als auch im allgemeinen Privatrecht anwendbar. Bezüglich der Sanktionen trifft sie in Art. 15 keine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Anwendungsbereichen. Sowohl im Arbeitsrecht als auch im allgemeinen Zivilrecht müssen wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Rechtsfolgen im innerstaatlichen Recht zur Verfügung gestellt werden.69 Es besteht demnach kein ersichtlicher Grund, diese Kriterien nicht im Sinne der Rechtsprechung des EuGH zur RL 76/207/EWG zu verstehen.70 Es lässt sich dies auch ohne ausdrückliche Positivierung aus den Richtlinien entnehmen.71 Die vom Gerichtshof entwickelten Voraussetzungen sind folglich für die im allgemeinen Privatrecht anzuwendenden Diskriminierungsverbote ebenso wesentlich. V. Das Transparenzgebot bei der Richtlinienumsetzung Geht es um die konkrete Umsetzung von Antidiskriminierungsrichtlinien, wird häufig die Ansicht vertreten, dass ihre ausdrückliche Transformierung in natioVgl. EuGH 22.04.1997 Rs. C-180/95 (Draehmpaehl) Rn. 25. MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 48. 70 So die ganz h.A. in Deutschland: MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 48; Schiek/ Schiek, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz § 21 Rn. 2; Adomeit/Mohr/Adomeit, Kommentar zum AGG2 § 21 Rn. 4; für Österreich zum GlBG, das u.a. die RL 2000/43/EG (seit 2008 auch die RL 2004/113/EG) umsetzt, zumindest implizit: Rebhahn/Kletečka, GlbG, § 35 Rz. 1. Er verweist für die Sanktion bei Verletzungen des Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse auf seine Ausführung zu selbigem Verbot im Arbeitsrecht (§ 12 GlbG); siehe auch: Prechal, Directives in EC Law2, 81. A.A. wohl Schmidt-Kessel, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 53, 66 f. bringt vor, dass in Ländern, die bereits vor Umsetzung der Richtlinien Diskriminierungsverbote im allgemeinen Privatrecht vorsahen, die Haftung auf Fälle der Fahrlässigkeit (Norwegen) und sogar auf Vorsatz (UK) beschränkt war. Das vermag, abgesehen davon, dass Norwegen nicht Mitglied der Europäischen Union ist, nicht zu überzeugen. Ob die zu einer Antidiskriminierungsrichtlinie im Arbeitsrecht ergangene Rechtsprechung des EuGH auf die Unisex- und die Antirassismus-RL anzuwenden ist, hat m.E. nichts mit der vor der Harmonisierung bestehenden Rechtslage in den Mitgliedstaaten (und offenbar auch Nicht-Mitgliedstaaten) zu tun. Dieser Ansatz kann wohl als Kritik an der Rechtsprechung und ihrer Übertragung verstanden werden, ändert aber nichts daran, dass unionsrechtlich nichts gegen die Relevanz der Rechtsprechung des EuGH auch für das allgemeine Zivilrecht spricht. 71 Schiek/Schiek, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz § 21 Rn. 2. 68 69

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Kapitel 5: Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote

nales Recht gar nicht erforderlich sei. Den europarechtlichen Vorgaben könnte insbesondere durch die Anwendung von privatrechtlichen Generalklauseln72 zur Wirkung verholfen werden. Oft wird auch angenommen, dass durch Interpretation bereits bestehender, meist sehr offen formulierter Tatbestände73, die nationale Rechtslage bereits unionsrechtskonform sei. Es bestehe daher, so der Tenor, ausreichender Schutz vor Diskriminierung, weswegen eine spezialgesetzliche Umsetzung nicht notwendig und vor allem nicht gerechtfertigt wäre.74 Picker lobt die Vorzüge von Generalklauseln für den Diskriminierungsschutz. Gleichbehandlungsvorschriften stellten stets gesellschaftliche Wertungen dar. Daher seien sie auch einem stetigen Wandel unterworfen. Festgeschriebene und damit unflexible Regelungen empfindet Picker dafür als wenig zweckmäßig. Über moralisch richtig oder falsch, habe im Privatrecht nicht das Gesetz autoritativ zu entscheiden. Maßgeblich sei das Volksempfinden der jeweiligen zeitlichen Epoche. Er erachtet es daher als sinnvoll, dass der Richter von Fall zu Fall das jeweilige Volksempfinden als Maßstab seiner Urteile ermitteln solle. In diesem Sinn sei auch den unionsrechtlichen Vorschriften Rechnung zutragen.75 Diese Ansicht hat einiges für, aber mindestens genau so viel gegen sich.76 Der geübte Jurist, der gelernt hat, mit Generalklausel umzugehen, mag deren Vorteil vor überladenen Spezialvorschriften als überwiegend ansehen.77 Dagegen sprechen vor allem Rechtssicherheitserwägungen. Der Diskriminierungsschutz sollte einer klaren Linie folgen. Eine gesellschaftspolitische Grundsatzentscheidung allein den Wertungen des Richters im Einzelfall zu überlassen, ist daher nur schwer mit dem Sinn und Zweck des Europäischen AntidiskriminieZ.B. § 879 ABGB oder 138 Abs. 1 BGB. Z.B. deliktische Ansprüche aus § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Siehe dazu auch MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 4. 74 Von Koppenfels, WM 2002, 1489, 1492 ff., 1495; Picker, JZ 2003, 540, 545 regt an, dass, sollte die Richtlinie dennoch auf „europäischer Hegemonie“ beharren, sich Deutschland den europarechtlichen Vorgaben, trotz schlechter Erfolgsaussichten, widersetzen solle. 75 JZ 2003, 540, 544 f. Ganz Ähnlich: Repgen, in: Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung 11, 82 f.: Die Diskriminierungsverbote seien zwar zum Schutze der Personenwürde geeignet, aber nicht notwendig und daher auch nicht verhältnismäßig, weil das geltende Recht schon derartige Regeln vorsehe. 76  Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 43 zum deutschen status quo ante. Weist, m.E. zu Recht, darauf hin, dass Rassen- und Geschlechterdiskriminierung durch die Richtlinien pauschal untersagt sind. Die richterliche Bewertung im Einzelfall wird daher durch die gesetzgeberische Wertung ersetzt. Es ist somit nicht der Richter, wie von Picker gefordert, der das Volksempfinden „statistisch“ festlegt, sondern es besteht bereits eine klare Wertung des Gesetzgebers. Siehe dazu unter 3. 77  Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 164. 72 73

B. Die europarechtlichen Vorgaben

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rungsrechts in Einklang zu bringen.78 Weiters werden Betroffene durch eine spezielle Umsetzungsnorm in die Lage versetzt, ihre Rechte leichter zu erkennen und geltend zu machen. Vielfach wird der nationale Gesetzgeber an der Erlassung von Spezialnormen bei der Richtlinienumsetzung aus inhaltlichen Gründen wohl nicht umhin kommen. Ein Beispiel dafür ist die Beweislastverteilung, die von den Antidiskriminierungsrichtlinien vorgesehen wird.79 Zuletzt wird durch eine spezielle Umsetzung eine höhere Präventionswirkung erreicht. Wie sich zeigt, lassen sich Argumente für und gegen eine spezifische Umsetzung vorbringen. Dies trifft jedoch nicht den Kern des Problems. Als ausschlaggebend erweist sich eine formalistische Betrachtungsweise. Der Gesetzgeber könnte zu einer eindeutigen Umsetzung in nationales Recht europarechtlich verpflichtet sein.80 Ob es einer gesonderten Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien bedarf, auch wenn man mit der Auslegung bestehender nationaler Vorschriften dasselbe Ergebnis erreichen könnte, ist Gegenstand der weiteren Untersuchung. Die Frage ist in Hinblick auf das unionsrechtliche Mindestprogramm für Sanktionen bei Diskriminierung von Bedeutung. Es ist schließlich wesentlich, ob „neue“ Regelungen im innerstaatlichen Recht geschaffen werden müssten oder ob man sich theoretisch mit einer richterlichen Interpretation, selbstverständlich im Lichte der Richtlinien, des status quo behelfen könnte. 1. Die zwei Ebenen der Richtlinienumsetzung Die Rechtsetzung durch Richtlinien geschieht in einem zweistufigen Verfahren. Die erste Stufe bildet der Erlass der Richtlinie durch den Unionsgesetzgeber, anschließend folgt die Transformation in innerstaatliches Recht. Doch auch die zweite Stufe – die Richtlinienumsetzung – besteht wiederum aus zwei Vgl. nicht auf Diskriminierungsverbote, sondern auf die rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit als Wirksamkeitserfordernis vertraglicher Bindung eingehend: Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen 18 ff. Die Ähnlichkeit besteht darin, dass nach dem von Singer kritisierten Ansatz (von M. Wolf), auch ein Richter im Zuge einer von ihm zu treffenden Interessenabwägung über Gültigkeit und inhaltliche Gestaltung eines Vertrages zu entscheiden hätte. 79 Art. 9 der Unisex-RL: „[…] immer dann, wenn Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in ihren Rechten für verletzt halten und bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Behörde Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt zu beweisen, dass keine Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung vorgelegen hat.“ Dazu bzw. zur deutschen Umsetzung in § 22 AGG: Schramm, Ungewisse und diffuse Diskriminierung 246 ff. 80 So Armbrüster, KritV 2005, 41, 42; ders., ZRP 2005, 41 f.; Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 164; Riesenhuber, in: Riesenhuber/ Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 43 f.; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 4. 78

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Kapitel 5: Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote

Ebenen.81 Eine EU-Richtlinie gibt zwar ein inhaltlich verbindliches Ziel vor, die Form und die Mittel, mit denen sie in nationales Recht transferiert wird, sind aber grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen.82 Die Richtlinie ist somit gestuft verbindlich.83 Darin liegt einer der deutlichsten Unterschiede zwischen EU-Verordnungen und EU-Richtlinien. Die Verordnung ist umfassend, folglich auch bezüglich der Form, der Mittel und des Wortlautes verbindlich. Die Wahlfreiheit bei der Richtlinienumsetzung ermöglicht es den Mitgliedstaaten, eine bestimmte „Rechtstechnik“ zu wählen. Damit wird erreicht, dass den Besonderheiten der nationalen Rechtsordnungen in notwendigem Maße Rechnung getragen werden kann.84 Es soll letztlich die Souveränität der nationalen Legislativorgane zum Ausdruck gebracht werden. Die Verbindlichkeit lediglich des Ziels soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Richtlinien sehr detaillierte Regelungen enthalten können. Dies führt mitunter dazu, dass Vorgaben wie aus einem Modellgesetz zu übernehmen sind.85 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes lässt sich trotz des bestehenden Gestaltungspielraums der Mitgliedstaaten ein Anforderungsprofil an die innerstaatliche Umsetzung von Richtlinien ableiten.86 Die Mitgliedstaaten haben jene Mittel und Formen zu wählen, die sich zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie unter Berücksichtigung des verfolgten Zweckes am besten eignen.87 Die Verpflichtung zur bestmöglichen Umsetzung ergibt sich ohne weiteres direkt aus Art. 288 Abs. 3 AEUV. Sie trägt dem Umstand der Verbindlichkeit der Richtlinienziele Rechnung.88 Dieser spezielle Effektivitätsgrundsatz führt dazu, dass eine Nichtumsetzung des Unionsrechtsaktes nicht mit Komplikationen, die innerstaatlichen Ursprunges sind, gerechtfertigt werden kann.89 Es schützt daher nicht vor Sanktionen durch die Union, sich auf bundesstaatliche Besonderheiten im Vergleich zu einem zentralistischen Staat 81 Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 229; Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 9 f.; ähnlich Prechal, Directives in EC Law2, 81. 82 Vgl. den eindeutigen Wortlaut des Art. 288 Abs. 3 AEUV; siehe weiters: Prechal, Directives in EC Law2, 73 ff. Es besteht eine Tendenz der Kommission, sich in sogenannten Vermerken zu der Umsetzung von Richtlinien in das nationale Recht zu äußern. Diese sind aber nicht rechtlich verbindlich; dazu: Ehricke, EuZW 2004, 359. 83 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Rn. 21/27 ff. 84 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, EUV/AEUV Art. 288 AEUV, Rn. 132. 85 Schwarze/Biervert, EU-Kommentar3 Art. 288 AEUV, Rn. 26; Streinz/Schroeder, EUV/ AEUV2 Art. 288 AEUV, Rn. 86. 86 Kritisch zu dieser Entwicklung: Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV, Rn. 132. Der Rechtsprechung sei nicht zu folgen, weil sich daraus eine ungerechtfertigte Einschränkung des mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielraumes ergebe. 87 EuGH 08.04.1976 Rs. 48/75 (Royer) Rn. 69/73. 88 Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 9. 89 Allgemeinere Ausführungen zu den Grundsätzen der Effektivität und Äquivalenz finden sich weiter oben unter B.II. In gegebenem Zusammenhang ist auch vom Gebot der effektiven Umsetzung von Richtlinien die Rede. Vgl. dazu: Calliess/Ruffert/Ruffert, EUV/AEUV4 Art. 288 AEUV, Rn. 26 ff.

B. Die europarechtlichen Vorgaben

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zu berufen. Ebenso wenig aussichtsreich ist es vorzubringen, dass andere Mitgliedstaaten bei der Umsetzung ebenfalls säumig sind.90 Wie eingangs angedeutet, unterscheidet der EuGH bei der Umsetzung von Richtlinien zwei Ebenen: die legislative Ebene und die Ebene der Rechtsanwendung.91 Die Mitgliedstaaten sind einerseits verpflichtet, den normativen Rahmen zu schaffen, der den Vorgaben der Richtlinie entspricht (legislative Ebene bzw. normative Ebene).92 Dazu haben sie zwingendes und verbindliches staatliches Recht zu erzeugen.93 Nicht ausreichend ist nach der Judikatur eine ständige richtlinienkonforme Verwaltungspraxis. Durch sie werde keine kontinuierliche Richtlinienkonformität gewährleistet, weil eine Änderung der bestehenden Praxis jederzeit möglich sei.94 Andererseits ist nicht nur der Gesetzgeber in der Pflicht. Alle Träger öffentlicher Gewalt sind angehalten, nach ihren Möglichkeiten den Richtlinien zur effektiven Umsetzung zu verhelfen.95 Dies ist nur konsequent. Eine effiziente Umsetzung, so wie sie in Art. 288 Abs. 3 AEUV vorgesehen ist und seitens der Judikatur gefordert wird, bedarf ohne Zweifel der Einbeziehung von Verwaltungsbehörden und Gerichten. Der Gesetzgeber schafft durch abstrakte Reglungen ein mehr oder weniger vages Normenprogramm. Die Umsetzung, insbesondere die Konkretisierung im Einzelfall, obliegt letztlich faktisch der Rechtsprechung.96 Die Richtlinienziele sind daher nicht nur auf normativer Ebene, sondern auch konkret auf der Ebene der Rechtsanwendung zu erreichen.97 Bei der Frage, wie sich die effektive Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien gestalten sollte, muss der Blick auf die Anforderungen der beiden 90 Vgl. EuGH 06.05.1980 Rs. 102/79 (Kommission/Belgien) Rn. 15; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 229; weitere „unzulässige“ Rechtfertigungsargumente zeigt Calliess/Ruffert/Ruffert, EUV/AEUV4 Art. 288 AEUV, Rn. 28 auf. 91 Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 9 f.; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 229 unterscheidet zwischen normativer und applikativer Ebene. Diese Ebenen seien nicht mit den drei Staatsgewalten zu verwechseln. Zur Schaffung der normativen Ebene sei allein die Legislative, zur Schaffung der applikativen Ebene nicht allein die Exekutive und Judikative berufen. Die Begriffe sind daher funktional zu verstehen. 92 EuGH 23.05.1985 Rs. 29/84 (Kommission/Deutschland) Rn. 22 f.; 15.03.1990 Rs. C-339/87 (Kommission/Niederlande) Rn. 29; 28.02.1991 Rs. C-131/88 (Kommission/ Deutschland) Rn. 8. 93 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV, Rn. 121. 94 Beispielsweise: EuGH 06.05.1980 Rs. 102/79 (Kommission/Belgien) Rn. 10 f.; 13.03.1997 Rs. C-197/96 (Kommission/Frankreich) Rn. 14; 09.03.2000 Rs. C-358/98 (Kommission/Italien) Rn. 17; Prechal, Directives in EC Law2, 83; Calliess/Ruffert/Ruffert, EUV/AEUV4 Art. 288 AEUV, Rn. 37. 95 EuGH 10.04.1984 Rs. C-14/83 (Von Colson und Kamann) Rn. 26; EuGH 10.04.1984 Rs. 79/83 (Harz) Rn. 26. 96 Canaris, in: FS Bydlinski 47, 56. 97 Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 10.

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Kapitel 5: Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote

Ebenen gerichtet werden. Ist eine bestehende Auslegungspraxis der nationalen Gerichte ausreichend? Müssen die Unisex- und die Antirassismus-RL in speziellen Rechtsakten implementiert werden oder reichen bestehende Generalklauseln zur wirksamen Umsetzung aus? 2. Legislative Umsetzung und Umsetzung durch Rechtsprechung Der Gerichtshof verlangt nicht, dass der nationale Gesetzgeber jedenfalls rechtsetzend tätig wird. Wenn die Rechtslage in den Mitgliedstaaten bereits der Richtlinie entspricht, muss die Legislative nicht weiter handeln.98 Die Voraussetzungen dafür sind allerdings streng.99 Unerlässlich ist jedenfalls, dass eine hinreichend bestimmte und klare Rechtslage besteht. Die Rechtsunterworfenen müssen zudem in die Lage versetzt werden, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gegebenenfalls auch durchsetzen zu können.100 Eine lediglich dem Ergebnis nach richtlinienkonforme Rechtslage reicht demnach nicht aus. Der Normadressat muss vielmehr ex ante klar erkennen können, welche Rechte und Pflichten er hat.101 Der EuGH statuiert somit ein Klarheits- oder Transparenzgebot für die Umsetzung von Richtlinien. Dafür versetzt er sich in die Position eines Unionsbürgers, der sich über seine Rechte, unter Umständen nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats, erkundigen möchte. Beurteilt wird der innerstaatliche Regelungsrahmen nicht streng nach methodischen Grundsätzen. Der Gerichtshof beschränkt sich auf einen Textabgleich zwischen nationaler Umsetzung und Richtlinienvorgaben.102 Welche Anforderungen an die Transparenz gestellt werden, ist in hohem Maße einzelfallabhängig.103 Der Gerichtshof hat diesbezüglich durch seine Rechtsprechung ein bewegliches System geschaffen.104 Eine derartige Gewichtung unterschiedlicher Kriterien ermöglicht zum einen vorhersehbare Ergebnisse, zum anderen kann auf die sehr unterschiedlichen Richtlinienziele eingegangen und somit ein sachgerechtes Resultat erzielt werden.105 Je konkreter und EuGH 10.05.2001 Rs. C-144/99 (Kommission/Niederlande) Rn. 17; Staudinger, WM 1999, 1546, 1547 ff.; vgl. Pernice, EuR 1994, 325, 330 ff. 99 Prechal, Directives in EC Law2, 83, 85: “In general, however, the Court is not easily satisfied in this respect.” 100 EuGH 28.02.1991 Rs. C-131/88 (Kommission/Deutschland) Rn. 8; 23.03.1995 Rs. C-365/93 (Kommission/Griechenland) Rn. 9; 10.05.2001 Rs. C-144/99 (Kommission/Niederlande) Rn. 17. 101 Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 11; Prechal, Directives in EC Law2, 81 merkt kritisch an: “It seems to me that the situation just described will draw too heavily on an individual’s knowledge of the law“; Staudinger, WM 1999, 1546, 1547 ff. 102 Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 231. 103 Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 211 geht von einer uneinheitlichen Rechtsprechung aus. A.A. Prechal, Directives in EC Law2, 82 vgl. auch Fn. 65. 104 Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 11. 105 Staudinger, WM 1999, 1546, 1547. 98

B. Die europarechtlichen Vorgaben

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detaillierter eine Richtlinie Vorschriften trifft, desto eher ist der Erlass einer präzisen Umsetzungsnorm notwendig. Für den EuGH spielen neben dem Inhalt der Richtlinie auch die Adressaten eine wichtige Rolle. So haben Richtlinien, die besonders darauf abzielen ausländischen Unionsbürgern, die typischerweise keine Kenntnis des innerstaatlichen Rechtes haben, Rechte zu verleihen, besonders transparent transformiert zu werden. Vor allem allgemeine Rechtsgrundsätze und Rechtsprechung seien ausländischen Unionsbürgern in den meisten Fällen nicht bekannt.106 Richtlinien, die Individuen Rechte und Pflichten verleihen, müssen jedenfalls ausreichend publik und transparent sein, sodass von ihnen Kenntnis erlangt werden kann und sie gerichtlich durchgesetzt werden können.107 Ferner ist in der Gesamtschau des EuGH der Stellenwert der umzusetzenden Richtlinienbestimmung im Unionsrecht ein gewichtiger Parameter. Eher einer speziellen Transformation bedürfen Rechtsakte, die von wesentlicher Bedeutung sind. Ob dies der Fall ist, wird im Sinne des Gebots der autonomen Auslegung und nicht anhand des nationalen Rechts bestimmt. Hierbei kommt es darauf an, ob eine Richtlinienvorgabe zu den tragenden Grundprinzipien des Unionsrechts zählt. Auch aus der Richtlinie selbst können Schlüsse über ihre Wesentlichkeit gezogen werden.108 Das Transparenzgebot fordert von den Mitgliedstaaten hingegen keineswegs, dass sie die Richtlinienbestimmungen wörtlich übernehmen.109 Dies wäre schon in Hinblick auf den Wortlaut von Art. 288 Abs. 3 AEUV nicht geboten. Wollte der Unionsgesetzgeber eine wörtliche Übernahme der Bestimmungen erreichen, müsste er als Instrument eine Verordnung wählen. Bestimmungen durch „abschreiben“ in nationales Recht zu transformieren, ist nicht Sinn und Zweck des Instruments der Richtlinie.110 Zu klären bleibt, ob eine Umsetzung von Richtlinien durch die Rechtsprechung im Sinne des Art. 288 Abs. 3 AEUV zulässig wäre. Mit der bereits getroffenen Feststellung, dass eine legislative Umsetzung sowie eine Umsetzung durch die Rechtsanwendung notwendig ist, bleiben kaum Zweifel daran übrig, dass jedenfalls eine hinreichend transparente Rechtslage von Seiten der 106 EuGH 23.05.1984 Rs. 29/84 (Deutschland/Kommission) Rn. 23. Die Überzeugungskraft der Differenzierung zwischen In- und Ausländern wird zu Recht angezweifelt. Um den Zugang zum Recht für Ausländer, insbesondere für Verbraucher, tatsächlich zu erleichtern, bedürfte es wohl vor allem einer amtlichen und verbindlichen Übersetzung der bereits hinreichend transparenten Vorschriften. Allgemeine Rechtsgrundsätze, Judikatur der Höchstgerichte und bestehende Verwaltungspraxis erschließen sich Laien aus dem In- und Ausland wohl ähnlich wenig. Siehe dazu Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 15 Fn. 81; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 231. 107 EuGH 28.02.1991 Rs. C-131/88 (Kommission/Deutschland) Rn. 6; zum Kriterium der Verleihung von Rechten oder Pflichten von Individuen siehe: Prechal, Directives in EC Law2, 82 ff. 108 So Staudinger, WM 1999, 1546, 1547. 109 EuGH 09.04.1987 Rs. 363/85 (Kommission/Italien) Rn. 7. 110 Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 11.

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Kapitel 5: Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote

Legislative geschaffen werden muss.111 Eine Richtlinienumsetzung allein durch die Judikative ist demnach nicht ausreichend. Die Gerichte sind zwar verpflichtet, die abstrakten Normen im Lichte der Richtlinie zu interpretieren, richtlinienkonforme Interpretation stellt allerdings keinen Ersatz zur legislativen Umsetzung dar. Gleich wenig wie eine, wenn auch gefestigte, Verwaltungspraxis die normative Umsetzung substituieren kann, ist dies durch die Rechtsprechung möglich. Die Begründung ist sehr ähnlich. Zwar wird eingeräumt, dass vor allem höchstgerichtliche Judikatur nicht immer „leicht“ abänderbar ist. Dennoch gewährleistet sie die faktische Wirksamkeit der Richtlinien nicht im selben Maße wie ein erga omnes wirkendender Normativakt.112 In Rechtssystemen, die auf Richterrecht beruhen, ist dies unter Umständen anders zu beurteilen.113 Allerdings werden auch in Staaten, in denen höchstgerichtliche Entscheidungen normative Bindungswirkung entfalten, diese oftmals keinen ausreichenden Grad an Transparenz aufweisen können. Aus Aspekten der hinreichenden Publizität und Klarheit entspricht eine Umsetzung durch die Rechtsprechung meist nicht den Vorgaben des Art. 288 Abs. 3 AEUV bzw. jenen vom EuGH entwickelten.114 Für Österreich ist § 12 ABGB zu beachten. Richterlichen, auch höchstgerichtlichen, Entscheidungen kommt keine über den Einzelfall hinausgehende Bindungswirkung in normativer Hinsicht zu. Sie stellen damit nicht zwingendes und verbindliches Recht dar. Eine Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung befindet sich somit nicht im Einklang mit dem Unionsrecht.115 3. Umsetzung der Richtlinien durch bestehende Vorschriften? Dem Gerichtshof folgend muss der Gesetzgeber nicht notwendigerweise bei der Richtlinienumsetzung tätig werden. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass bereits eine hinreichend transparente innerstaatliche Rechtslage besteht.116 Dass eine Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien durch privatrechtliche Generalklauseln den unionsrechtlichen Vorgaben im Sinne des vom EuGH 111 Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 13. In Staaten in denen höchstgerichtlichen Urteilen normative Bindung zukommt, sei dies unter Umständen anders zu beurteilen. 112 Dreher, EuZW 1997, 522, 523 f; Staudinger, WM 1999, 1546, 1548 aus deutscher Perspektive: Aus der in Art. 97 GG geschützten richterlichen Unabhängigkeit folgt, dass der BGH von seinen eigenen richtlinienkonformen Entscheidungen wieder abweichen kann. Gerichte unterer Instanzen seien zwar faktisch aber nicht dejure an die Judikatur des BGH gebunden; Ehricke, EuZW 1999, 553, 558; allgemein: Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV, Rn. 121; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 240 ff. sieht die Problematik auch in der fehlenden Bindungswirkung von Präjudizen. 113 Ehricke, EuZW 1999, 553, 558; Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 13. 114 Vgl. Staudinger, WM 1999, 1546, 1548. 115 Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 13. 116 EuGH 10.05.2001 Rs. C-144/99 (Kommission/Niederlande) Rn. 17; Staudinger, WM 1999, 1546, 1547 ff.; vgl. Pernice, EuR 1994, 325, 330 ff.

B. Die europarechtlichen Vorgaben

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entwickelten beweglichen Systems entsprechen würde, ist unwahrscheinlich. Es sei daran erinnert, dass es nicht ausreicht, wenn durch Rechtsanwendung faktisch ein richtlinienkonformer Zustand hergestellt wird.117 Die Betroffenen müssen ex ante in die Lage versetzt werden, ihre Rechte zu erkennen, um diese wahrnehmen zu können. Zuerst soll auf die von Picker angedachte Generalklausel-Lösung eingegangen werden.118 Anschließend wird erörtert, welche Aspekte im Allgemeinen für die Erlassung einer spezifischen Antidiskriminierungsregelung sprechen.119 Auf den ersten Blick erscheint eine Richtlinienumsetzung durch die Ausfüllung von Generalklauseln, wie den „Guten Sitten“ oder „Treu und Glauben“, keine transparente Rechtslage darzustellen. Wie soll durch unbestimmte Rechtsbegriffe oder Generalklauseln eine hinreichend transparente und klare Rechtslage geschaffen werden? Schon terminologisch wirkt dies ausgeschlossen.120 Die Problematik der Auffüllung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen als Richtlinienumsetzung liegt allerdings noch eine Ebene höher. Es drängt sich nämlich prima vista der Verdacht auf, dass gar keine legislative Umsetzung vorliegt.121 Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Richtlinienumsetzung durch richterrechtliche Konkretisierung von Generalklauseln und Rechtsanwendung durch Schließung von Lücken besteht zumindest dem Eindruck nach. Im einen Fall wird eine sehr generelle Norm geschaffen oder sie besteht bereits. Diese wird durch Wertungen des Richters in concreto ausgefüllt. Im anderen Fall besteht keine Regelung und der Richter kann unter Umständen dieses Vakuum nach methodischen Grundsätzen füllen.122 Es liegt der Schluss nahe, sich gar nicht erst auf die Frage, ob eine transparente Rechtslage geschaffen wurde, einzulassen. Eher bietet es sich an, wie im Falle der Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, das Fehlen der legislativen Umsetzung als Ganzes zu unterstellen. Es bestünde damit kein zwingendes Recht und fehlte an der geforderten Bindungswirkung über den Einzelfall hinaus. In Hinblick auf unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln liegen die Dinge im Detail jedoch nicht gleich. Es wurden, anders als bei der Umsetzung allein auf Rechtsanwendungsebene, normative Rahmenbedingungen geschaffen. Diese sind zwar allgemein und unbestimmt, doch es besteht immerhin

Vgl. Prechal, Directives in EC Law2, 81. JZ 2003, 540, 545. 119 Klarerweise nur dann, wenn noch kein den RL entsprechender Legislativakt besteht. 120 Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 238 ff. 121 Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 238 ff. 122 Canaris, Feststellung von Lücken im Gesetz 26 ff. behandelt die Frage, ob es sich bei „wertausfüllungsbedürftigen“ Begriffen und Generalklauseln wie „gute Sitten“ oder „Treu und Glauben“ um Lücken handelt. Er verneint dies, verweist aber auf beachtliche Strömungen in der Lehre, die diese Fälle dem Lückenbereich zuweisen wollen. 117 118

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Kapitel 5: Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote

ein Legislativakt.123 Der Gesetzgeber hat, anders als bei einer Gesetzeslücke, von seiner Prärogative Gebrauch gemacht.124 Die Rechtsprechung agiert daher weder im rechtsfreien Raum noch ohne Rechtsgrundlage.125 Man gelangt zum Ergebnis, dass im Unterschied zur „reinen“ Rechtsanwendung durch die Gerichte, im Fall von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen, eine Regelung mit Bindungswirkung vorliegt. Die Bindungskraft ist indes inhaltlich schwächer ausgeprägt.126 Für den rechtsuchenden Unionsbürger, der den Maßstab des EuGH bildet, ist der Unterschied jedoch verschwindend gering. Hierbei handelt es sich allerdings nicht mehr um die Frage, ob der Mitgliedstaat seiner Verpflichtung auf legislativer Ebene überhaupt nachgekommen ist, sondern in welcher Qualität er das getan hat. Wird eine Richtlinie durch eine Generalklausel umgesetzt, besteht zwar eine zwingende Regelung, es lässt sich aus ihr aber oft nicht ableiten, welche Rechte und Pflichten den Einzelnen treffen. Ob ein höherer Tarif in der Lebensversicherung von Männern im Vergleich zu Frauen zulässig ist oder nicht, ergibt sich nicht ohne weiteres aus dem Begriff der „guten Sitten“.127 Hat der Einzelne demnach keine profunde Kenntnis der nationalen Rechtsprechung, sind Generalklauseln in den meisten Fällen nicht ausreichend transparent. Letztlich muss jedoch im Einzelfall ermittelt werden, ob eine hinreichend klare Regelung durch Generalklauseln oder unbestimmte Rechtsbegriffe geschaffen wurde oder nicht. Es wird hierbei vor allem darauf ankommen, wie detailliert die Richtlinie ausgestaltet ist und ob dem Individuum daraus Rechte und Pflichten erwachsen sollen. Es gilt der Grundsatz: Je generalklauselartiger und allgemeiner die Richtlinie formuliert ist, desto allgemeiner darf auch die Umsetzungsbestimmung gestaltet sein.128 Dabei sind die Kriterien der Wesentlichkeit eines Unionsrechtsaktes und dessen Ziele jedenfalls zu beachten. Die Antirassismus- und die Unisex-RL verbieten in ihrem Anwendungsbereich pauschal zu diskriminieren. Es wird hier die richterliche Einzelfallbewertung durch eine generelle und klare gesetzgeberische Wertung ersetzt. Der für den Richter geforderte Spielraum „die je festgestellten moralischen Daten“ in bindendes Recht zu transformieren129, besteht nach den Richtlinienvorschriften

123 Zur Richtlinienumsetzung durch Generalsklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe: Herrmann, Richtlinien Umsetzung durch die Rechtsprechung 234 ff. 124 Canaris, Feststellung von Lücken im Gesetz 26 ff., 28. 125 Siehe zu den Funktionen von Generalklauseln im Zivilrecht: Ohly, AcP 201(2011), 1, 7. 126  Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 239; Ohly, AcP 201 (2001), 1, 7. 127 Vgl. Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 239. mit einem wettbewerbsrechtlichen Beispiel. Es lasse sich aus dem Begriff der „guten Sitten“ jedenfalls nicht entnehmen, ob vergleichende Werbung verboten oder erlaubt sei. 128 Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 14 ff. 129 So Picker, JZ 2003, 540, 545.

B. Die europarechtlichen Vorgaben

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schon nicht.130 Die europarechtlichen Vorgaben sind, was die untersagten Tatbestände angeht, nicht offen wie eine Generalklausel, sondern klar und spezifisch formuliert. Das spricht deutlich gegen eine Generalklausel-Lösung mit ihren Beurteilungen im Einzelfall. Das erkennt wohl auch Picker, schlägt jedoch vor, sich den europarechtlichen Vorgaben schlicht zu widersetzen.131 Allgemein lässt sich eine deutliche Tendenz für die spezifische Umsetzung der Antirassismus- und der Unisex-RL aufzeigen. Ihr Regelungsinhalt gleicht einem Lehrbuchbeispiel für Bestimmungen, die Individuen Rechte verleihen sollen. Es werden daher besonders hohe Anforderungen an die Klarheit der Umsetzung gestellt.132 Wie bereits bezüglich der Generalklausel-Lösung angemerkt wurde, ist die Diktion der Diskriminierungsverbote kaum missverständlich oder allzu generell gehalten. Auch von dieser Warte aus ist es wenig fragwürdig, dass der Gesetzgeber, um seiner legislativen Umsetzungspflicht nachzukommen, aufgerufen ist tätig zu werden. Darüber hinaus handelt es sich beim Verbot der Ungleichbehandlung aufgrund der Rasse oder des Geschlechts um tragende Grundsätze des Unionsrechts. Diese wurden schließlich in der Grundrechte-Charta verankert.133 Es ist – um die eingangs gestellte Frage zu beantworten – somit nicht unionsrechtskonform, die Antidiskriminierungsrichtlinien durch bereits bestehende, offene Normen, insbesondere privatrechtliche Generalklauseln, „umzusetzen“.134 Wenn nicht bereits transparente Gleichbehandlungsnormen im nationalen Recht bestehen, muss ein spezifisches Verbot erlassen werden. Das Ergebnis ist stimmig. Zwar könnte wohl vielfach mit bereits bestehenden innerstaatlichen Reglungen und der darauf aufbauenden Rechtsprechung ein Auskommen gefunden werden. Dem Sinn und Zweck von Diskriminierungsverboten entsprechend wäre dies jedoch nicht. Regelungen, die vor Ungleichbehandlung schützen sollen, müssen einen hohen Standard an Transparenz 130 Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 43. 131 JZ 2003, 540, 545: „Einer Richtlinie, die dennoch in europäischer Hegemonie auf besonderen Gesetzen beharrt, sollte man deshalb, ist ihre Korrektur oder Abwehr nicht schon im Vorfeld geglückt, in Zukunft mit allen rechtlichen Mitteln entgegentreten. Auch das bisherige Scheitern solcher Verfahren sollte diese Bereitschaft nicht dämpfen: Eine Nation, die darin geübt ist, ihre unerwünschten Gesetze ohne Verzug vor das Bundesverfassungsgericht zu tragen, sollte gegenüber europäischen Rechtsdirektiven von erheblicher Sach- und Systemwidrigkeit nicht plötzlich mentalitätsfremden Fatalismus trainieren.“ Wäre Deutschland Pickers Rat gefolgt, hätte es wohl ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH riskiert. 132 Vgl. Streinz/Schroeder, EUV/AEUV2 Art. 288 AEUV, Rn. 86. 133 Tridimas, The General Principles of EU Law2, 59 ff. 134 So auch die h.L. in Deutschland. Siehe dazu: Armbrüster, KritV 2005, 41, 42; ders., ZRP 2005, 41 f.; Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 164; Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 43 f.; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 4; a.A. Picker, JZ 2003, 540, 545: „Den europäischen Maßgaben ist hier bei richtiger Auslegung schon entsprochen!“; ebenfalls in diese Richtung gehend: von Koppenfels, WM 2002, 1489, 1494 ff.

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Kapitel 5: Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote

und Publizität aufweisen. Die Interpretation von sehr weiten Bestimmungen, auch wenn gerichtliche Entscheidungen in einem Großteil der Mitgliedstaaten öffentlich zugänglich sind, bietet nicht dasselbe Mindestmaß an Klarheit, das durch normative Reglungen erzeugt wird. Zwar mag man trotzdem der Ansicht sein, dass auch bei ordentlich kundgemachten Gesetzen eine neue Regelung dem Laien nicht hinreichend bekannt sein werde. Die Annahme, die grundsätzliche Rechtsunkenntnis von juristischen Laien unterstellt, führt allerdings die öffentliche Kundmachung von Gesetzen und Gerichtsurteilen ad absurdum und entspricht im gegebenen Zusammenhang wohl auch nicht der Realität.135 Es setzten sich, der Judikatur des Gerichtshofes folgend, Argumente für Rechtssicherheit, Transparenz und sicherlich auch Prävention auf europäischer Ebene durch.136 Eine besondere Umsetzung kann zwar vielfach zu einem Regelwerk führen, das sich nicht immer einwandfrei in das innerstaatliche System einfügt. Im Antidiskriminierungsrecht ist ein Rückgriff auf bestehende meist richterrechtlich entwickelte und geprägte Grundsätze dennoch kaum zweckmäßig. Ein derartiges Verständnis bedeutet nicht, dass es eines speziellen Antidiskriminierungsgesetzes, wie dem österreichischen Gleichbehandlungsgesetz oder dem deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, aus europarechtlicher Perspektive bedurft hätte. Es bleibt den Mitgliedstaaten überlassen, an welcher Stelle – als völlig neues Gesetz oder integriert in ein bereits bestehendes – die Richtlinien umgesetzt werden.137 VI. Ergebnis: Unionsrechtlicher Mindeststandard Die Richtlinienvorgaben bilden den Ausgangspunkt für das Anforderungsprofil der Sanktionierung von Diskriminierung im Privatrecht. Der Forderung nach 135 Zwischen Februar und März 2002, demnach vor der Neufassung des GlBG und der Einführung des AGG, gab die Kommission eine Umfrage in Auftrag. Siehe dazu: Marsh/SahinDikem, Diskriminierung in Europa, Eurobarometer 57.0 (2003) 14: „Mehr als ein Drittel der EU-Bürger gaben an, dass sie im Fall einer Diskriminierung oder einer Belästigung ihre Rechte kennen, etwa die Hälfte dagegen kennen sie nach eigener Aussage nicht. Der Prozentsatz derjenigen, die angaben, sie würden ihre Rechte nicht kennen, war bei den Belgiern, Österreichern, Deutschen (neue Bundesländer) und Dänen am höchsten, bei den Finnen am niedrigsten.“ Es ist davon auszugehen, dass sich die Rechtskenntnis auch bei juristischen Laien durch die Einführung des GlBG oder des AGG verbessert hat. So schon im Jahr 2007: Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 43 Fn. 135. Vgl. Ehricke, EuZW 1999, 353, 359. Er ist der Ansicht, dass einem Legislativakt im Gegensatz zur Judikatur ein höherer Bekanntheitsgrad zukomme. Ausnahmen müsse man allenfalls, in Ländern deren Rechtssystem auf Richterrecht basiert, anerkennen. 136 Nach der Rechtsprechung des EuGH steckt der Präventionsgedanke insbesondere hinter den Sanktionen gegen Verstöße gegen die Benachteiligungsverbote: siehe dazu MüKoBGB/ Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 3. 137 Siehe Art. 288 Abs. 3 AEUV; vgl. Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 164 f.

B. Die europarechtlichen Vorgaben

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wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionen liegen die Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz zugrunde. Die innerstaatliche Ausgestaltung von aus dem Unionsrecht entspringenden Rechten darf deren Durchsetzung nicht praktisch unmöglich machen oder in erheblicher Weise erschweren. Des Weiteren dürfen unionsrechtlich determinierte Rechtsbehelfe nicht ungünstiger gestaltet sein, als jene die bereits im nationalen Recht bestehen. Die Prinzipien sind die Konsequenz der Unvollständigkeit der Unionsgesetzgebung. Die Mitgliedstaaten sollen die Vorgaben in effektiver und äquivalenter Weise ins innerstaatliche Recht transformieren. Die dazu eingesetzten Mittel sind oftmals ihnen überlassen. Die mitgliedstaatliche Autonomie darf jedoch nicht die Torpedierung der unionsrechtlichen Ziele durch zu laxe Sanktionierung zur Folge haben. Es sind ihr daher durchaus Grenzen gesetzt. Für Richtlinien ergibt sich die Pflicht zur effektiven und äquivalenten Umsetzung bereits aus Art. 288 Abs. 3 AEUV.138 Die Grundsätze stehen in enger Verbindung zum Loyalitätsgebot des Art. 4 Abs. 3 EUV und bilden das Fundament für die Voraussetzungen der Sanktionen beim Verstoß gegen die Verbote der Antidiskriminierungsrichtlinien. Zusätzlich wurden die allgemeinen Anforderungen an die Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien thematisiert. Betreffend die Transformation von Richtlinien hat der EuGH ein konkretes Anforderungsprofil erstellt. Die bestmögliche Umsetzung muss auf zwei Ebenen geschehen. Es bedarf einer Umsetzung sowohl auf normativer Ebene als auch auf der Ebene der Rechtsanwendung. Besteht bereits eine hinreichend klare Regelung im innerstaatlichen Recht, ist der nationale Gesetzgeber nicht zum Handeln verpflichtet. Es muss für den Betroffenen jedoch ex ante erkennbar sein, welche Rechte er hat und welche Pflichten ihn treffen. Der Gerichtshof stellt bei der Frage, wann eine derartig transparente Rechtslage vorliegt, auf den Einzelfall ab. Ausschlaggebend sind vor allem der Adressatenkreis, der Inhalt der betreffenden Norm, der Stellenwert einer Bestimmung in der Architektur des Unionsrechts und wie detailliert die Richtlinie selbst ausgestaltet ist. Folgt man dem System des EuGH und richtet das Augenmerk auf die Umsetzungsvoraussetzungen der Antirassismus- und der Unisex-RL, so schlägt das Pendel klar in eine Richtung aus. Hier sollen möglichst transparente Regelungen für Individuen geschaffen werden. Die Richtlinien sind hinsichtlich der verbotenen Tatbestände hinreichend detailliert. Des Weiteren handelt es sich beim Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse und des Geschlechts unzweifelhaft um wesentliche Grundsätze des Unionsrechts. Ein Rekurrieren auf bereits bestehende Generalklauseln des nationalen Rechts würde keine ausrei-

138 Es handelt sich dabei um allgemeine Grundsätze, die sich aus dem Loyalitätsgebot in Art. 4 EUV ableiten lassen. Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts 268 ff.; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht5 § 12 Rn. 36 f.

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chend transparente Rechtslage schaffen.139 Damit kann bezüglich der Diskriminierungssanktionen eine wichtige Prämisse bereits aufgestellt werden: Es muss jedenfalls eine klare und eindeutige Rechtslage auf normativer Ebene im Sinn des Transparenzgebots geschaffen werden oder bestehen. Der Gerichtshof hat in seiner, hauptsächlich zum Gleichbehandlungsgebot von Mann und Frau beim Zugang zum Arbeitsmarkt ergangenen, Rechtsprechung konkrete Voraussetzungen von Sanktionen bei einem Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot definiert. Die Kriterien wurden zwar im arbeitsrechtlichen Kontext entwickelt, sind aber dennoch weitestgehend auf das allgemeine Privatrecht übertragbar. Weder die Rechtsprechung noch die Richtlinien treffen diesbezüglich eine Unterscheidung. Von großer Bedeutung ist das Urteil Von Colson und Kamann. Der EuGH legt darin fest, dass es den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, ob und welche zivilrechtlichen Sanktionen bei Diskriminierung vorgesehen werden. Er stellt jedoch auch klar, dass die mitgliedstaatliche Autonomie diesbezüglich Grenzen hat. Dieser Rechtsprechungslinie blieb der Gerichtshof weitgehend treu. Er entwickelte auf ihr aufbauend weitere Kriterien für wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen bei der Verletzung von gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverboten. Eine gewisse Autonomie der Mitgliedstaaten blieb allerdings über die Jahre durchwegs erhalten. Das Credo lautet weiterhin: Es ist dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich überlassen, ob er privatrechtliche Sanktionen vorsieht oder nicht.140 Es bestehen aber darüber hinaus beachtliche Konstellationen, in denen für eine faktische Wiederherstellung der Chancengleichheit sehr konkrete Rechtsfolgen vorgesehen werden müssen.141 An die gewählten Rechtsfolgen stellt der EuGH in Hinblick auf das Ziel der Richtlinie und dessen effektive Durchsetzung bestimmte Mindestanforderungen. Vor allem die Modalitäten eines Schadensersatzanspruches wurden durch die Rechtsprechung geformt. Darauf wird im nächsten Kapitel eingegangen. Abstrahiert vom tatsächlich seitens des Mitgliedstaats gewählten Sanktionsmechanismus, lässt sich der unionsrechtliche Mindeststandard folgendermaßen zusammenfassen: Es muss primär eine klare und transparente Rechtslage im Sinne des durch die Judikatur entwickelten beweglichen Systems geschaffen werden. An eine Verletzung der Diskriminierungsverbote müssen sich wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Rechtsfolgen knüpfen. Die Ziele der Antidiskriminierungsrichtlinien müssen dadurch effektiv und vergleichbaren 139 A.A. Picker, JZ 2003, 540, 545; ebenfalls in dessen Richtung gehend: von Koppenfels, WM 2002, 1489, 1494 ff.; zur hier vertretenen Ansicht vgl. Armbrüster, KritV 2005, 41, 42; dens., ZRP 2005, 41 f.; Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 164; Riesenhuber in Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 43 f. 140 Z.B. EuGH 08.11.1990 Rs. C-177/88 (Dekker) Rn. 25. 141 EuGH 02.08.1993 Rs. C-271/91 (Marshall II) Rn. 25; so z.B. bei einer diskriminierenden Entlassung; Art. 8 Abs. 2 der Unisex-RL sieht zudem explizit einen Schadensersatzanspruch der diskriminierten Person gegen den Diskriminierungstäter vor.

C. Sanktionsprogramm bei Diskriminierung

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nationalen Regelungen ebenbürtig erreicht werden. Es soll damit auch eine Präventionswirkung erzeugt werden. Es wären allerdings selbst ausschließlich verwaltungsstrafrechtliche Sanktionen unter gewissen Umständen zulässig.142 Aus dem Telos der Richtlinien wird sich aber vielfach etwas anderes ergeben. Die Unisex-RL sieht zudem explizit einen Schadensersatzanspruch der diskriminierten Person vor. Fällt die innerstaatliche Entscheidung zu Gunsten einer haftungsrechtlichen Lösung als Sanktion aus, so stellt der EuGH weitere Kriterien auf. Bei einem Anspruch auf Schadensersatz handelt es sich es sich – vor dem Hintergrund der Unisex-RL und der Judikatur nicht verwunderlich – rechtsvergleichend um das häufigste Sanktionsinstrument.

C. Sanktionsprogramm bei Diskriminierung Das unionsrechtliche Programm der allgemeinen Mindestvoraussetzungen macht deutlich, dass bei der Wahl und insbesondere bezüglich der Ausgestaltung der Sanktionen noch weitreichende mitgliedstaatliche Autonomie besteht. Es soll nun auf die am meisten diskutierten zivilrechtlichen Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote eingegangen werden. Den Anfang wird eine schadensersatzrechtliche Sanktionsvariante machen. Der Gerichtshof verwendet in diesem Zusammenhang den Terminus „Entschädigungsanspruch“. Der EuGH hat, wie dargestellt werden konnte, schon einige grundsätzliche Parameter hierfür aufgestellt. Auf sie soll weiterhin Bezug genommen werden. Das Ziel des folgenden Kapitels ist es, unionsrechtliche Kriterien eines Schadensersatzanspruches als wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktion herauszuarbeiten. Im Anschluss daran wird der Blick auf den kontroversesten Sanktionsmechanismus bei verbotener Diskriminierung, den Kontrahierungszwang, gerichtet. I. Schadensersatz Eine haftpflichtrechtliche Variante stellt die populärste Rechtsfolge bei Verstößen gegen die Europäischen Diskriminierungsverbote im Privatrecht dar.143 142 Vgl. dazu allerdings einschränkend: Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 193 unter Berufung auf EuGH 02.08.1993 Rs. C-271/91 (Marshall II) Rn. 25. 143 Vgl. Schmidt-Kessel, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 53, 66; Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 11 ff., 303 nennt es einen grundsätzlichen Harmonisierungserfolg, dass den unterschiedlichen Regelungsstrukturen zum Trotz nationale Diskriminierungsschutzkonzepte stets zumindest auch zivilrechtliche Ersatzansprüche vorsehen.

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Dies liegt einerseits daran, dass die Unisex-RL, anders als die AntirassismusRL, einen tatsächlichen und wirksamen Schadensausgleich fordert.144 Es lässt sich daher bereits aus den Zielen der Unisex-RL ableiten, dass ein Ersatz des erlittenen Schadens bei der Umsetzung jedenfalls vorgesehen werden muss. Unzureichend wären folglich ausschließlich verwaltungsstrafrechtliche Sanktionen, sofern diese nicht zumindest mit einem privatrechtlichen Schadensersatzanspruch kombiniert würden.145 Zudem wird das Haftpflichtrecht als Sanktionsinstrument bei verbotener Diskriminierung von Seiten der Doktrin als effektiv und für die Privatautonomie wenig invasiv erachtet.146 Strafrechtliche und verwaltungsstrafrechtliche Rechtsfolgen werden im deutschsprachigen Raum prinzipiell skeptisch gesehen. Es handle sich bei zivilrechtlichen Ansprüchen der Betroffenen um das modernere und zugleich effizientere Mittel.147 Den Kern der folgenden Untersuchung soll die Herausarbeitung von notwendigen Kriterien eines Schadensersatzanspruches bilden. Als Perspektive wird weiterhin eine überwiegend europarechtliche gewählt. Wo es angebracht erscheint, wird vor allem auf die deutsche und österreichische Rechtslage Bezug genommen. Die behandelten Fragestellungen sind vielfältig. Muss die diskriminierende Person die rechtswidrige Ungleichbehandlung verschuldet haben? Ist auch der immaterielle Schaden, der sogenannte Diskriminierungsschaden, zu ersetzen? Wie könnte ein solcher berechnet werden? Wann liegt ein derartiger Schaden überhaupt vor? Diesen Untersuchungen wird eine kurze Analyse der Funktion des Entschädigungsanspruches bei rechtswidriger Diskriminierung vorangestellt.

Art. 8 Abs. 2 der Unisex-RL besagt, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen müssen, dass der durch eine Diskriminierung dem Opfer entstandene Schaden tatsächlich und wirksam ausgeglichen oder ersetzt wird. Dies hat auf abschreckende und dem erlittenen Schaden angemessene Art und Weise zu erfolgen. 145 Wagner, AcP 206 (2006), 352, 400 f.; Adomeit/Mohr/Adomeit, Kommentar zum AGG2 § 21 Rn. 3; Schiek/Schiek, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz § 21 Rn. 2; MüKoBGB/ Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 3. Vgl. auch B.1. 146 Statt vieler F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 f., Fn. 69. Ihm erscheint der Ersatz des immateriellen Schadens in Geld am sinnvollsten. Allerdings unter der Prämisse, dass es nicht um die Befriedigung eines notwendigen Lebensbedürfnisses gehe. An der Präventionswirkung sei, bei sinnvoller Bemessung des Schadersatzes, nicht zu zweifeln. 147 Armbrüster, KritV 2005, 40, 44; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 3. England setzt ebenso auf schadensersatzrechtliche Sanktionen. In Frankreich oder Belgien bestehen strafrechtliche und zivilrechtliche Sanktionen. Vgl. dazu Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 12 ff. 144

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1. Funktion der Haftung: Schadensersatz als Verhaltenssteuerung148 Die Textierung der Antidiskriminierungsrichtlinien legt nahe, dass die Rechtsfolgen von Verstößen gegen Diskriminierungsverbote nicht alleine der Ausgleichsfunktion nachkommen sollen. Ein derartiges Verständnis scheint insbesondere mit der Anforderung einer abschreckenden Sanktion kaum kompatibel. Noch eindringlicher bringt es der Gerichtshof in der Rechtssache Von Colson und Kamann zum Ausdruck: Ein Schadensersatzanspruch eines diskriminierten Arbeitnehmers müsse dem Umfang nach so ausgestaltet sein, dass ihm eine „wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber“ zukomme.149 Erblickt man in dieser durchaus drastischen Diktion des EuGH aber bereits Tür und Tor zu punitive damages, nach US-amerikanischem Vorbild, aufgestoßen, übersieht man eine relevante Einschränkung sowohl in den Richtlinien als auch seitens des Gerichtshofes.150 Schon in den frühen Jahren seiner Rechtsprechung zum Entschädigungsanspruch bei Diskriminierung in der Arbeitswelt wurde vom EuGH diesbezüglich eine Eingrenzung getroffen. Der Ersatzanspruch muss neben seiner abschreckenden Wirkung in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen.151 Es soll der tatsächlich erlittene Schaden ausgeglichen und nicht nur ein symbolischer Betrag zugesprochen werden. Die Sanktion soll demzufolge auch einen spürbaren wirtschaftlichen Druck auf die diskriminierende Person ausüben. Der EuGH hat in seinen Urteilen betreffend den deutschen § 611a BGB eine am Schaden des Diskriminierungsopfers orientierte Bemessung des Ersatzanspruches angemahnt, um auch in diesem Rahmen Abschreckung zu gewährleisten. Nirgends, weder in der Judikatur noch von Seiten des Gesetzgebers, ist die Rede von Sühne, Vergeltung oder Bestrafung. Der Gerichtshof scheint in einer vollumfänglichen Kompensation des erlittenen Schadens automatisch das gebotene Maß an Abschreckung zu begreifen.152 Der Zweck der Haftung ist nicht eine besonders strenge Bestrafung (als Pönalisierung für unerwünschtes Verhalten), wie sie das Strafrecht kennt. Der Schädiger soll nicht als Reaktion auf seine rechtswidrige Verhaltensweise mit Siehe dazu die grundlegenden Untersuchungen zur Prävention und Verhaltenssteuerung durch Privatrecht von Wagner, AcP 206 (2006), 352, 398. 149 EuGH 10.04.1984 Rs. C-14/83 (Von Colson und Kamann) Rn. 23, 28. 150 Wagner, AcP 206 (2006), 352, 392 ff. Kritisch zur Rechtsprechung des EuGH: Adomeit, NJW 1997, 2295; Schäfer, AcP 202 (2002), 397, 411. 151 EuGH 10.04.1984 Rs. C-14/83 (Von Colson und Kamann) Rn, 23, 28: „Entscheidet sich der Mitgliedstaat dafür, als Sanktion für einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot eine Entschädigung zu gewähren, so muss diese jedenfalls in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen.“ 152 So eindeutig: Wagner, AcP 206 (2006), 352, 394, 398: „Die Behauptung, der EuGH habe die RL 76/207/EWG bzw. § 611a BGB zu einem Sanktionsvehikel pervertiert, ist hohle Polemik, und auch die These, er habe ein ‚gemischt pönal-reipersekutorisches Rechtsinstitut’ geschaffen, geht fehl.“ 148

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einem Übel belegt werden. Zweck der Haftung ist auch daher nicht die vom Schaden losgelöste Abschreckung. Im Vordergrund steht die Prävention durch Schadensausgleich.153 Der Diskriminierende wird durch seine Ersatzpflicht dazu bewegt, in Zukunft nicht mehr gegen das Diskriminierungsverbot zu verstoßen. Allgemein wird jeder, dem Gedanken der Generalprävention folgend, durch die Androhung einer Haftpflicht dazu angespornt, sich nichtdiskriminierend zu verhalten.154 Die Erzeugung von wirtschaftlichem Druck soll einen diskriminierungsfreien Vertragsabschluss gewährleisten.155 Von dieser Art der Abschreckung ist in den Urteilen des EuGH die Rede, und nicht von einem Strafschaden nach US-amerikanischem Vorbild. Der Konnex zwischen Verhaltenssteuerung und Ausgleich hat auch Eingang in den Text der Antirassismus- und der Unisex-RL gefunden.156 Es wird zusätzlich zur Effektivität und Abschreckung auch die Verhältnismäßigkeit der Sanktionen gefordert.157 Es sieht beispielsweise Art. 8 Abs. 2 der Unisex-RL vor, dass der entstandene Schaden wirksam und tatsächlich ausgeglichen werden soll. Dies hat auf abschreckende und in Hinblick auf den erlittenen Schaden in angemessener Art und Weise zu geschehen. 2. Das Verschulden Die EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Dekker158 ist für eine Beurteilung, ob eine Haftpflicht von einem Verschuldenserfordernis abhängig gemacht werden darf, von zentraler Relevanz. Zur Erinnerung: Ein niederländischer Arbeitgeber im Bereich der Erwachsenenbildung verweigerte der bestqualifizierten Bewerberin die Anstellung, weil sie zum Zeitpunkt der Bewerbung im dritten Monat schwanger war und dies auch offenlegte. Zur Rechtfertigung wurde vorgebracht, dass eine Einstellung hohe finanzielle Einbußen und damit auch den Verlust von Bildungsplätzen zur Folge hätte. Diese budgetären Schwierigkeiten ergaben sich aus dem Umstand, dass der zuständige Sozialfonds dem Bildungszentrum die Kosten, nach niederländischem Recht legitimerweise, für eine Krankheitsvertretung nicht erstatten müsste, wenn die Schwangerschaft bei der Einstellung bereits bekannt war. Der Gerichtshof hatte sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob innerstaatliche Rechtsvorschriften, die das Verschulden als Voraussetzung für den Ersatz des Schadens fordern und gegebenenfalls Entschuldigungsgründe zulassen, als Sanktionen des arbeitsrechtlichen Diskriminierungsverbotes zulässig wären. Wagner, AcP 206 (2006), 352, 398 ff.; Wagner/Potsch, JZ 2006, 1085, 1088. Dies entspricht der Präventionsaufgabe des Schadensersatzrechts. Siehe nur: Koziol, Österreichisches Haftpflichtrecht I3 Rz. 1/15. 155 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 284. 156 Wagner/Potsch, JZ 2006, 1085, 1088. 157 Art. 15 RL 2000/43/EG und Art. 14 RL 2004/113/EG. 158 EuGH 08.11.1990 Rs. C-177/88 (Dekker) Rn. 25. Zu Dekker siehe B.III. 153 154

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GA Darmon stellt in seinen Schlussanträgen eingangs zu Recht fest, dass es sich um ein klassisches Problem der Aufgabenverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten handele.159 Die Unterinstanzen waren sich einig, dass das Diskriminierungsverbot verletzt war. Allerdings war aus Sicht des niederländischen Privatrechts auf Seiten des Arbeitgebers ein Rechtfertigungsgrund gegeben bzw. es lag zumindest kein Verschulden vor.160 Das Urteil des Gerichtshofes ist bereits bekannt. Er schließt sich seinem Generalanwalt an. Die praktische Wirksamkeit des Grundsatzes der Gleichbehandlung sei gefährdet, setze man ein Verschulden des Diskriminierungstäters für die Haftung voraus. Konsequenterweise muss demnach jeder Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot die volle Haftung des Urhebers auslösen.161 Das Urteil des EuGH ist eindeutig. In der Rechtsache Draehmpaehl bestätigt der Gerichtshof den eingeschlagenen Weg. Es ist folglich auch irrelevant, ob das Verschulden leicht zu beweisen sein wird und das innerstaatliche Recht (in casu das deutsche Recht) einen Ersatz bereits bei leichter Fahrlässigkeit zulässt.162 Es gilt der Grundsatz: Entscheidet sich ein Mitgliedstaat für eine schadensersatzrechtliche Variante als einzigen Sanktionsmechanismus, so darf der Anspruch nicht vom Verschulden des Schädigers abhängig gemacht werden.163 SA Darmon 15.11.1986 Rs. C-177/88 (Dekker) Tz. 34. In Bezug auf die Unterinstanzen wird nur das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes genannt. Der Hoge Raad möchte in seiner Vorlagefrage allerdings wissen, ob das Abstellen auf ein Verschulden oder Rechtsfertigungsgründe der RL 76/207/EWG entgegensteht. 161 EuGH 08.11.1990 Rs. C-177/88 (Dekker) Rn. 24 ff. Auch Rechtfertigungsgründe des innerstaatlichen Rechts seien nicht zu berücksichtigen. 162 EuGH 22.04.1997 Rs. C-180/95 (Draehmpaehl) Rn. 19 ff. 163 Das Ausklammern des Verschuldenserfordernisses für einen Schadensersatzanspruch wird seitens der Lehre in Österreich und Deutschland kritisiert. Vor allem sei eine verschuldensunabhängige Haftung nur mit besonderer Begründung gerechtfertigt. Rebhahn/Kletečka, GlbG, § 12 Rz. 38 besänftigt aber dahingehend, als eine unmittelbare Diskriminierung ohne Verschulden kaum vorkommen werde. Dies allerdings im Kontext mit den Gleichbehandlungsgeboten im Zusammenhang mit einem Arbeitsverhältnis (§ 3 GlBG). Bei mangelnder Zurechnungsfähigkeit (z.B. Schizophrenie) sei eine Haftung dennoch auszuschließen; Repgen, in: Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung 11, 84 geht aufgrund des „Prinzips der Verantwortung“ davon aus, dass auch in Diskriminierungsfällen ein Verschulden vorliegen müsse. Dies sei auch mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, weil die Richtlinien es den Mitgliedstaaten überließen, welche Sanktionen sie überhaupt wählten. Bei einem dahingehenden Verständnis wird die Judikatur des Gerichtshofes in den Rechtssachen Dekker und Draehmpaehl ausgeblendet. Des Weiteren sieht die RL 2004/113/EG in Art. 8 Abs. 2 einen Schadensausgleich explizit vor. Siehe dazu Wagner, AcP 206 (2006), 352, 400 f.; Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 176 ist der Ansicht, dass das Verschulden in der Praxis wohl kaum eine Rolle spielen werde. Das ist allerdings aus europarechtlicher Sicht irrelevant und daher kein Argument für eine Verschuldenshaftung; Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 716 ff., 718; Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 192; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 45 ff. erörtert die unionsrechtlichen Voraussetzungen und gelangt zum Ergebnis, dass jede zivilrechtliche Haftung, um europarechtskonform zu sein, verschuldensunabhängig gestaltet sein müsse. 159 160

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3. Ersatz des immateriellen Schadens: Der Diskriminierungsschaden Auslegungsbedürftiger stellen sich die unionsrechtlichen Determinanten bezüglich des konkret zu ersetzenden Schadens dar. Der Ausgleich des mit einer Diskriminierung einhergehenden Vermögensschadens wird dabei kaum kritisiert. Dieser könnte sich, bemüht man ein aktuelles versicherungsrechtliches Beispiel, aus einem an verpönten Motiven festgemachten, vergleichsmäßig höheren Tarif ergeben. Kontroverser gestaltet sich die Diskussion rund um einen möglichen Ersatz des ideellen Schadens. Wendet man sich der Umsetzung der Antirassismus- und der Unisex-RL in Österreich, Deutschland oder auch England und Wales zu, so zeigt sich jedoch erstaunlicherweise ein recht klares Bild. Der Wortlaut des jeweiligen Regelwerkes sieht den Ersatz eines immateriellen Schadens vor.164 Immaterielle oder ideelle Schäden führen nicht zu einem in Geld messbaren Vermögensminus. Es handelt sich dabei um Gefühlsschäden, die als weitere Folgen von Vermögensschäden oder für sich genommen auftreten können. Die weitaus bedeutendere Gruppe stellen jene ideellen Schäden dar, die aus einer Verletzung der Persönlichkeitsrechte resultieren.165 Das österreichische GlBG spricht vom „Schaden der persönlichen Beeinträchtigung“. Es ist der Begriff des Diskriminierungsschadens gebräuchlich. Ein immaterieller Schaden, wie Schmerzen oder Trauer, ist schwer objektiv bezifferbar. Es stehen dabei subjektive Empfindungen im Vordergrund, die nicht an reale Marktvorgänge anknüpfen.166 Auf den Punkt gebracht besteht ein Schaden, der einen nicht ärmer macht, aber dennoch auf einer Beeinträchtigung eines geschützten Rechtsgutes beruht.167 Der Ersatz des Diskriminierungsschadens wirkt außerhalb Österreichs oder Deutschlands weit weniger spektakulär oder gar kritikwürdig.168 Das ist darauf 164 Vgl. § 21 Abs. 2 Satz 3 AGG; § 38 Abs. 1 GlBG; in England wird der Ersatz des immateriellen Schadens insbesondere wegen injury to feelings zugesprochen. Zur Rechtslage in England und Wales, aber auch in Frankreich und Belgien, siehe Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 12 ff., 20; auch Schmidt-Kessel, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 53, 66 f. 165 Karner/Koziol, Der Ersatz ideellen Schadens im österreichischen Recht und seine Reform 15. ÖJT II/1, 11; Koziol, Österreichisches Haftpflichtrecht I3 Rz. 2/102 ff., 11/1. 166 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts 221 ff. Deswegen stünden das österreichische und das deutsche Recht dem Ersatz ideeller Schäden grundsätzlich skeptisch gegenüber. Eine Ersatzpflicht sei in einem Kernbereich, der einerseits stark zurechenbare Verletzungshandlungen und andererseits zentrale Persönlichkeitsrechte erfasse, zu bejahen. Siehe auch Karner/Koziol, Der Ersatz ideellen Schadens im österreichischen Recht und seine Reform, 15. ÖJT II/1, 11; Koziol/P.Bydlinski/Bollenberger/Karner, Kurzkommentar zum ABGB3 § 1293 Rz. 2. 167 MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 60. 168 Zum Ersatz des ideellen Schadens bei Persönlichkeitsrechtsverletzung, aus österreichischer und deutscher Perspektive, siehe statt vieler: F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts 221 ff.

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zurückzuführen, dass andere Rechtsordnungen diesbezüglich kein derartig strenges Regime vorsehen.169 Der EuGH operiert vorwiegend mit einem französisch inspirierten, extensiven gemeineuropäischen Schadensbegriff.170 Eine scharfe Trennung zwischen ideellem und materiellem Schaden trifft er in seiner Rechtsprechung daher nicht.171 Wagner illustriert dies anhand der Rechtssache Simone Leitner/Tui172. Der Gerichtshof bezieht in dieser Entscheidung bei seiner Beurteilung sämtliche immaterielle Schäden, wie entgangene Urlaubsfreuden, in den Schadensbegriff mit ein. Art. 5 der Pauschalreise-RL verlor hierzu allerdings kein Wort.173 Bei der Untersuchung, ob der Diskriminierungsschaden zu ersetzen ist oder nicht, ist es daher wenig aussichtsreich oder konstruktiv auf einen wörtlichen Hinweis in den Richtlinien oder eine besonders sorgfältige Begründung in der Rechtsprechung zu hoffen.174 Aus europarechtlicher Perspektive gilt eben nicht der Grundsatz: Immaterielle Schäden sind nur dann zu ersetzen, wenn dies explizit angeordnet ist. Das Unionsrecht steht dem Ersatz von ideellen Schäden des Weiteren weitaus weniger kritisch gegenüber, als das in manchen Mitgliedstaaten der Fall ist. Entsprechend den Richtlinienvorgaben muss der erlittene Schaden auf tatsächliche und angemessene Art und Weise ersetzt oder ausgeglichen werden. Dafür müssen abschreckende, wirksame und auch verhältnismäßige Sanktionen zur Verfügung gestellt werden. In Zusammenschau mit der Judikatur des Gerichtshofes weisen die sekundärrechtlichen Vorschriften deutlich in eine Vgl. schon Stoll, Empfiehlt sich eine Neuregelung der Verpflichtung zum Geldersatz für immaterielle Schäden?, 45. DJT I/1, 124; Schmidt-Kessel, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 53, 66 f.: in der englischen Rechtsprechung finde sich sogar der Hinweis, dass die betreffende Regelung nur „for avoidance of doubt“ erfolge. Für Deutschland: vgl. § 253 Abs. 1 BGB, der klarmacht, dass der ideelle Schaden nur dann zu ersetzen ist, wenn dies das Gesetz vorsieht. Dazu: Wagner, AcP 206 (2006) 352, 394 ff.: „In Wahrheit sind die genannten Prinzipien des BGB-Schadensrechts keineswegs naturrechtlich oder europarechtlich vorgegeben, sondern kontingente Entscheidungen, die in den europäischen Nachbarländern zum Teil ganz anders ausgefallen sind.“ In Österreich sehen die §§ 1323, 1324 ABGB einen Ersatz des ideellen Schadens vor. Es bestehe demnach eine Generalklausel, nach der vom grob schuldhaft handelnden Täter ideelle Schäden zu ersetzen seien. Zudem bestehen Spezialvorschriften, die den Ersatz ausdehnen oder einschränken. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging die Rechtsprechung dazu über, dass der immaterielle Schaden nur in jenen Fällen zu ersetzen sei, in denen es ausdrücklich angeordnet sei. So zum Ersatz des ideellen Schadens in Österreich: Karner/Koziol, Der Ersatz ideellen Schadens im österreichischen Recht und seine Reform 15. ÖJT II/1, 17 ff. 170 Wagner, AcP 206 (2006), 352, 395. 171 Wagner, AcP 206 (2006), 352, 395; Wurmnest, Grundzüge eines Europäischen Haftungsrechts 289 ff., 299; Wagner/Potsch, JZ 2006, 1085, 1094 f. 172 EuGH 12.03.2002 Rs. C-168/00 (Simone Leitner/TUI). 173 Wagner, AcP 206 (2006), 352, 395. 174 Ebenso nicht zielführend sei es, axiomatisch darauf zu beharren, dass das nationale Recht dem Ersatz des ideellen Schadens grundsätzlich kritisch gegenüber stehe und er daher an besondere Voraussetzungen zu knüpfen sei. So Wagner, AcP 206 (2006), 352, 394. 169

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Richtung. Es ist der Ersatz des Diskriminierungsschadens aus Sicht des Unionsrechts jedenfalls vorzusehen. Der Gerichtshof stellt an eine zivilrechtliche Haftung als Sanktionsmechanismus den Anspruch, die vollkommene Wiederherstellung der Chancengleichheit sicherzustellen. Es ist demnach der durch die Diskriminierung tatsächlich erlittene Schaden vollständig wiedergutzumachen.175 Schadensersatzrechtliche Rechtsfolgen, die einen rein symbolischen Charakter aufweisen, sind hingegen mit dem Unionsrecht klar unvereinbar.176 Die Unisex-RL verbietet Diskriminierung beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit ohne Ansehen der Person zur Verfügung gestellt werden. In der Antirassismus-RL fehlt diese Einschränkung allerdings.177 Das Verbot der Geschlechterdiskriminierung ist somit auf Fälle beschränkt, in denen es typischerweise und vor allem aus ökonomischer Sicht auf die Person des Vertragspartners nicht ankommt. Es sind damit Rechtsgeschäfte gemeint, die, solange die Kapazitäten vorliegen, mit jeder zahlungswilligen und zahlungsfähigen Person abgeschlossen werden.178 Wird bei derartigen Massengeschäften diskriminiert, ist ein materieller Schaden oftmals in sehr geringem oder gar keinem Ausmaß zu erwarten. In einer funktionierenden Marktwirtschaft wird sich bei dieser Art von Schuldverhältnissen meist ein vollkommen gleichwertiger Vertragspartner, der zu sehr ähnlichen Konditionen kontrahieren möchte, ohne weiteres finden lassen.179 Die mit einer sexistischen oder rassistischen Diskriminierung verbundene Verletzung der Würde lässt sich nicht in Vermögenskategorien ausdrücken. Die diskriminierte Person ginge demnach ohne Ersatz des ideellen Schadens oft leer aus.180 Eine derartige Rechtslage wäre mit den Richtlinienvorgaben nach wirksamen, aber vor allem abschreckenden Sanktionen nicht in Einklang zu bringen. Es ist auch nicht anzunehmen, dass der EuGH einer derartigen RechtsEuGH 02.08.1993 Rs. C-271/91 (Marshall II) Rn. 24 f. EuGH 10.04.1984 Rs. C-14/83 (Von Colson und Kamann) Rn. 24. 177 Vgl. dazu Art. 3 Abs. 1 RL 2004/113/EG und Art. 3 Abs. lit. h RL 200/43/EG. Dies zeigt die unterschiedliche Schutzintensität der beiden Richtlinien. Dazu: MüKoBGB/Thüsing, I6 § 19 AGG, Rn. 11. 178 MüKoBGB/Thüsing, I6 § 19 AGG, Rn. 11. Im deutschen AGG ist von Massengeschäften die Rede. Es handelt sich dabei um zivilrechtliche Schuldverhältnisse, die typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen oder eine privatrechtliche Versicherung zum Gegenstand haben. 179 Ist der Markt dahingehend gestört, als sich ein solcher Vertragspartner nicht mehr findet, ist dieses Argument weniger akkurat. Allerdings ist im Bereich der Geschlechterdiskriminierung bei Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, eher als bei rassistischer Diskriminierung, nicht von einem systematischen Teilhabedefizit auszugehen. Vgl. Riesenhuber/Franck, JZ 2004, 529, 537 in Bezug auf Geschlechterdiskriminierung: „Markt und Wettbewerb regeln das Problem“; Posner, Economic Analysis of Law8, 916 f. 180 Vgl. zur Persönlichkeitsrechtsverletzung: F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts 223. 175 176

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folge das Prädikat eines vollkommenen und faktischen Ausgleichs des erlittenen Schadens ausstellen würde.181 Das angedeutete Szenario lässt sich allerdings nicht verabsolutieren. Die Verweigerung eines Anspruchs auf Ersatz des Diskriminierungsschadens muss nicht unbedingt in der Versagung jeglicher Kompensation liegen, sofern ein materieller Schaden vorliegt. Es wurden bereits Konstellationen angesprochen, in denen der Markt Diskriminierung nicht ausgleicht. In diesen Fällen findet sich kein oder kein nichtdiskriminierender Vertragspartner, der zu ähnlichen Konditionen bereit ist zu kontrahieren.182 Das gilt umso mehr für die Antirassismus-RL, deren Anwendungsbereich jedenfalls nicht auf Massengeschäfte beschränkt ist. Es wird allerdings ein allgemeiner Aspekt einer unionsrechtskonformen Sanktionsordnung bei Diskriminierung im Privatrecht akzentuiert. Sollte der ideelle Schaden bei verbotener Diskriminierung nicht ersetzt werden, bleibt die damit verbundene Herabwürdigung völlig sanktionslos.183 Den Wertungen des europäischen Antidiskriminierungsrechts lässt sich entnehmen, dass mit einer sexistischen oder rassistischen Diskriminierung eine Verletzung der Würde des Menschen jedenfalls einhergeht.184 Dies unterstreicht, dass der Ersatz des immateriellen Schadens bei Verletzungen, die den Kern einer Persönlichkeit betreffen, sinnvoll und notwendig ist. Eine Rechtsfolge, die den Ausgleich des Diskriminierungsschadens nicht vorsehen würde, wäre kaum abschreckend und nur beschränkt effektiv. Dem Präventionsgedanken würde damit in keinerlei Hinsicht Rechnung getragen.185 Vor allem aber wird damit die Verletzung der Würde nicht ausgeglichen. Das Sekundärrecht verlangt in Anlehnung an die Rechtsprechung die effektive Kompensation des gesamten erlittenen Nachteils.186 Mit dem alleinigen Ersatz des Vermögensschadens wäre es daher nicht getan.

Vgl. EuGH 02.08.1993 Rs. C-271/91 (Marshall II) Rn. 24 f. Siehe Kapitel 2.E. 183 Gesteht man den Opfern von Persönlichkeitsrechtsverletzungen keinen Ersatz des immateriellen Schadens zu, so wird eine Verletzung des Kernbereichs der Person oft völlig sanktionslos bleiben. So Karner/Koziol, Der Ersatz ideellen Schadens im österreichischen Recht und seine Reform 15. ÖJT II/1, 11; F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts 221 ff.; Canaris, JBl 1991, 203, 220; zu den Rechtsfolgen bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts/der Persönlichkeitsrechte nach österreichischem Recht vgl. Rummel/Aicher, ABGB3 § 16 Rz. 35a; Kletečka/Schauer/Schauer, ABGB-ON 1.00 § 16 Rz. 28 ff. 184 Wagner, AcP 206 (2006), 352, 402 ff.; dahingehend auch Lehner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz und Grundrechte 398 ff., 401. 185 Vgl. F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts 221 ff., insbesondere 223. 186 EuGH 02.08.1993 Rs. C-271/91 (Marshall II) Rn. 24 ff.; 22.04.1997 Rs. C-180/95 (Draehmpaehl) Rn. 25 ff. Der Schadensersatz muss in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen. Vgl. auch B.I.–III. 181 182

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Es kann somit ein weiterer Eckpfeiler eines unionsrechtskonformen Schadensersatzanspruches bei verbotener Diskriminierung aufgestellt werden: Der Diskriminierungsschaden muss ersetzt werden.187 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes hat auch der Ersatz des ideellen Schadens verschuldensunabhängig zu erfolgen.188 Jede zivilrechtliche Haftung, die einen Verstoß gegen Diskriminierungsverbote sanktionieren soll, muss dem Grundsatz nach verschuldensunabhängig gestaltet sein.189 Eine Unterscheidung zwischen dem Vermögens- und dem Nichtvermögensschaden wird seitens der Rechtsprechung eben nicht getroffen. Zum Schutz der Würde des Diskriminierungsopfers ist der ideelle Schaden, dem Zweck der Antidiskriminierungsrichtlinien nach, jedenfalls zu ersetzen. Für Busche ist es gerade der immaterielle Schaden, der im Lichte der Rechtsprechung verschuldensunabhängig gewährt werden müsse. Das Leitmotiv der Judikaturlinie zu RL 76/207/EG, insbesondere nach der Entscheidung Draehmpaehl, sei, dass die Haftung des Urhebers einer Diskriminierung keineswegs vom Nachweis eines Verschuldens abhängig gemacht werden dürfe. Abgezielt werde vorrangig auf den Ersatz des mit der Ungleichbehandlung einhergehend ideellen Schadens. Einschränkungen seien daher bestenfalls hinsichtlich des materiellen Schadens anzudenken. Der Diskriminierungsschaden müsse jedenfalls verschuldensunabhängig zugestanden werden.190 Eine Umsetzungsnorm, die neben dem Ausgleich des Vermögensschadens keinen Ersatz des ideellen Schadens vorsieht oder diesen von einem Verschulden des Urhebers abhängig macht, wäre somit unionsrechtswidrig.191 187 Dies entspricht der h.L. in Deutschland: Armbrüster, KritV 2005, 41, 48 f.; Wagner, AcP 206 (2006), 352, 402 ff.; Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 175 ff.; a.A. für Österreich zu § 12 GlBG (Rechtsfolgen bei Verletzung des Gleichbehandlungsgebot von Männern und Frauen in der Arbeitswelt): Rebhahn/Kletečka, GlbG, § 12 Rz. 20: vertritt, dass für den Ersatz des immateriellen Schadens unionsrechtlich keine Verpflichtung bestanden habe. Er beruft sich auf den Äquivalenzgrundsatz, übersieht aber, dass dieser kumulativ zum Effektivitätsprinzip geprüft werden muss. Die Tatsache, dass für ähnliche Verstöße in Österreich der Ersatz des immateriellen Schadens nicht vorgesehen ist, reicht für sich genommen nicht aus, um den Voraussetzungen von Effektivität und Äquivalenz zu genügen. Siehe dazu: Tridimas, The General Principles of EU Law2, 424 ff.; Prechal, Directives in EC Law2, 90; SA Van Gerven 26.01.1993 Rs. C-271/91 (Marshall II) Tz. 15. 188 EuGH 08.11.1990 Rs. C-177/88 (Dekker) Rn. 25; 22.04.1997 Rs. C-180/95 (Draehmpaehl) Rn. 23 ff. 189 MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 48; Armbrüster, KritV 2005 41, 48 f. 190 In: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 176. A.A. Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 716 ff. Dieser hält eine Differenzierung der Schadensposten, in Anlehnung an die Rs. Draehmpaehl, für nicht überzeugend. Der EuGH differenziere nicht zwischen materiellem und immateriellem Schaden. Für beide Arten gelte folglich, dass sie auf abschreckende und wirksame Weise zu ersetzen seien. Das sei, setzt man ein Verschulden der diskriminierenden Person für eine Haftung voraus, nach der unmissverständlichen Rechtsprechung nicht der Fall. 191 Für Österreich siehe § 38 GlbG; für Deutschland siehe § 21 Abs. 2 AGG. In Deutschland wird § 21 AGG von der h.L. als unionsrechtwidrig angesehen, weil er ein „Vertretenmüssen“

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4. Kriterien für den Ersatz und die Bemessung des Diskriminierungsschadens Mit der Feststellung, dass der immaterielle Schaden dem Grunde nach zu ersetzen ist, bleibt noch die Frage unbeantwortet, in welchen Konstellationen ein solcher überhaupt vorliegt. Daran scheiden sich in der Literatur die Geister.192 Das liegt allerdings entscheidend daran, dass die innerstaatliche Doktrin zum Ersatz des ideellen Schadens bei einer Persönlichkeitsrechtsverletzung193 nicht vollkommen mit den unionsrechtlichen Vorgaben korreliert. In einem nächsten Schritt werden einige Kriterien zur Bemessung des Diskriminierungsschadens vorgeschlagen. Traditionell wird in einer Vielzahl der Rechtsordnung Europas bei rechtswidriger Diskriminierung an eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts angeknüpft. Eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung könnte in einer Verletzung der Menschenwürde resultieren. Daraus ergibt sich unter Umständen der der Pflichtverletzung durch den Benachteiligenden als Voraussetzung an den Ersatz des materiellen, wie wohl auch des immateriellen Schadens knüpft. Dazu: MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 45 ff.; in Deutschland ist es des Weiteren in der Lehre wenig umstritten, dass der Diskriminierungsschaden verschuldensunabhängig aufgrund der europarechtlichen Vorgaben zu gewähren ist. Siehe auch Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 205 ff.; Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 716 ff.; Rebhahn/Kletečka, GlbG, § 12 Rz. 20 ff. spricht sich hingegen, zu § 12 GlBG, gegen den verschuldensunabhängigen Ersatz des ideellen Schadens aus. Es handle sich um einen reinen Gefühlschaden, stelle man nicht auf das Verschulden des Urhebers ab. Er gelangt durch systematische und verfassungskonforme Interpretation zum Ergebnis, dass ein Verschulden und eine Erheblichkeitsschwelle notwendig seien, um eine Haftung für den Diskriminierungsschaden auszulösen. Des Weiteren sei diese Interpretation von § 12 GlBG unionsrechtskonform. Dem kann aus europarechtlicher Perspektive nicht zugestimmt werden. Das Abstellen auf das Verschulden als Voraussetzung für den Ersatz des Diskriminierungsschadens ist, nach der Judikatur des Gerichtshofes wenig zweifelhaft, nicht richtlinienkonform. Der EuGH trifft keine Unterscheidung zwischen immateriellem und materiellem Schaden. Ebenso wenig wird der ideelle Schaden nur bei besonderen Zurechnungsgründen ersetzt. Auf die Schwere des Eingriffes, die sich letztlich auf die Bemessung des immateriellen Schadens auswirkt, wird noch eingegangen. 192 Die h.M. in Österreich lehnt anders als in Deutschland ein „allgemeines Persönlichkeitsrecht“ ab und geht davon aus, dass spezielle einzelne Persönlichkeitsrechte herausgebildet werden müssen. § 16 ABGB steht weder der einen noch der anderen Variante im Weg. Im Ergebnis sind die Unterschiede der beiden Ansätze wohl gering. Dazu: Kletečka/Schauer/Schauer, ABGB-ON 1.00 § 16 Rz. 12 ff.; Schwimann/Kodek/Posch, ABGB3 § 16 Rz. 12 ff. mit einer ausführlichen Analyse der Diskussion. Für ein Allgemeines Persönlichkeitsrecht mit überzeugenden Argumenten: Rummel/Aicher, ABGB3 § 16 Rz. 12 ff.; Rebhahn/Kletečka, GlbG, § 12 Rz. 22: Wie Kletečka aufzeigt, sind die Diskriminierungsverbote als neue Persönlichkeitsrechte zu verstehen. Die spannendste Frage sei allerdings, ob jeder Eingriff in diese bereits zum Ersatz des ideellen Schadens verpflichte. 193  Siehe dazu und mit einem Überblick zur Rechtslage in Österreich, Deutschland, der Schweiz, Griechenland, Italien und Portugal: Karner/Koziol, Der Ersatz ideellen Schadens im österreichischen Recht und seine Reform 15. ÖJT II/1, 36; auch Wagner, AcP 206 (2006), 352, 394 ff.

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immaterielle Schaden. Die Intensität eines Eingriffs kann dabei allerdings in hohem Maße variieren.194 In Deutschland entspricht es dem herrschenden Verständnis, dass, erst wenn eine schwerwiegende und nicht anderweitig zu kompensierende Verletzung des Persönlichkeitsrechts vorliegt, auch ein ersatzfähiger Diskriminierungsschaden gegeben ist. Nicht jede minimale Persönlichkeitsrechtsverletzung erzeugt demnach zugleich einen ersatzfähigen ideellen Schaden.195 In Österreich wird, der herrschenden Lehre folgend, der ideelle Schaden bei einer Persönlichkeitsrechtsverletzung gemäß den §§ 1323, 1324 ABGB erst bei grobem Verschulden ersetzt. Wie Karner/Koziol nachweisen konnten, setzt sich dieser Trend in den meisten Rechtsordnungen der Europäischen Union fort. Es wird dabei allgemein auf die Schwere der Verletzung einerseits und auf die Stärke der Zurechnungsgründe andererseits abgestellt.196 Es soll schließlich die diskriminierte Person für die erfahrene Herabwürdigung entschädigt werden. Liegt eine solche schon gar nicht vor oder ist sie nur sehr gering, läuft der Ersatz des immateriellen Schadens leer. Jüngere Tendenzen in der Literatur kritisieren diesen Ansatz. Er beruhe auf einem freiheitsrechtlichen Verständnis, das den eigenständigen Zweck von Diskriminierungsverboten verkenne. Das haftungsauslösende Moment sei die Ungleichbehandlung. Es komme gar nicht darauf an, ob mit ihr auch eine schwerwiegende Herabwürdigung der Persönlichkeit im Sinne der Lehre im deutschsprachigen Raum einhergehe.197 Die Debatte lässt sich aus europarechtlicher Perspektive entschärfen. Eine Verletzung der Europäischen Diskriminierungsverbote kann zu einer schwerwiegenden Herabwürdigung der diskriminierten Person im Sinne des innerstaatlichen Rechts und somit zum Ersatz des immateriellen Schadens führen. Das kann, muss aber nicht der Fall sein.198 Die unionsrechtlichen Vorgaben sehen bei einer nicht gerechtfertigten Diskriminierung keine Geringfügigkeitsschwelle bezüglich einer erfolgten Herabwürdigung vor. Es muss demnach nicht zwingend eine schwerwiegende Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bestehen, damit der ideelle Schaden ersetzt wird. Das Unionsrecht Vgl. Wagner, AcP 206 (2006), 352, 394 ff. Siehe nur MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 60. 196 Rechtsvergleichend zum deutschen, österreichischen, schweizerischen, italienischen und portugiesischen Recht. Karner/Koziol, Der Ersatz ideellen Schadens im österreichischen Recht und seine Reform 15. ÖJT II/1, 36 ff.; F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts 221 ff.; Wagner, AcP 206 (2006), 352, 394 ff. weist darauf hin, dass dem französischen Recht, das den Schadensbegriff des EuGH maßgeblich beeinflusst hat, ein anderes Verständnis zugrunde liegt. Es werde nicht zwischen immateriellem und materiellem Schaden differenziert und es bestehe keine erhöhte Schwelle für die Kompensation des ideellen Persönlichkeitsinteresses. 197 Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 731 ff. 198 Erman/Armbrüster, BGB13 § 21 AGG, Rn. 14, 21; Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 64 ff. 194 195

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führt zu einer Erhöhung des Schutzniveaus für „die Persönlichkeit“. Es knüpft nicht an das Vorliegen eines besonders intensiven Eingriffs an. Ebenso könnte argumentiert werden, dass nach unionsrechtlichem Verständnis bei ungerechtfertigter rassistischer oder sexistischer Diskriminierung bereits per se ein schwerwiegender Eingriff in das Persönlichkeitsrecht vorliegt oder dieser fingiert wird. Der Diskriminierungsschutz ist daher weit mehr als „nur“ der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.199 In der Rechtssache Feryn geht der Gerichtshof gar so weit, eine sanktionsbedürftige Benachteiligung anzunehmen, ohne dass konkret schon ein Opfer der Diskriminierung feststellbar war.200 Es kann folglich für den Ersatz des immateriellen Schadens kaum auf die konkrete Herabwürdigung ankommen.201 Die erfolgte Erniedrigung kann allerdings eine Rolle bei der Frage, ob eine Diskriminierung sachlich gerechtfertigt ist, spielen. Die Unisex-RL sieht in Art. 4 Abs. 5 vor, dass eine Differenzierung zulässig ist, wenn sie sich durch ein legitimes Ziel rechtfertigen lässt. Nach § 20 Abs. 1 Z 3 AGG ist beispielsweise eine Ungleichbehandlung, mit der Ausnahme der rassistischen Diskriminierung, dann gerechtfertigt, wenn besondere Vorteile gewährt werden und ein Interesse an der Durchsetzung der Gleichbehandlung fehlt. Klassische Beispiele dafür sind die „Ladies‘ Nights“ in Bars oder ein vergünstigter Eintrittspreis für Frauen bei Sportveranstaltungen.202 Je gröber demzufolge die konkrete Herabwürdigung ist, desto schwerer wird es sein, sie sachlich zu rechtfertigen. Durch das Unionsrecht wird vorgegeben, dass eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung den Ersatz des ideellen Schadens verschuldensunabhängig auslöst. Damit ist eine Grundwertung bereits getroffen. Die Frage, ob darin eine schwerwiegende Herabwürdigung der Person im Sinne des innerstaatlichen Rechts liegt oder nicht, braucht man sich daher in der Folge gar nicht zu stellen. Ein Ersatz des ideellen Schadens, der an das Vorliegen einer schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzung anknüpft, wäre von unionsrechtlicher Warte aus kein effektiver Schutz des Benachteiligten.203 Bei einer unmittelbaren, nicht gerechtfertigten rassistischen oder sexistischen Diskriminierung wird der Unterschied zur Lehre von der schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzung allerdings eher gering ausfallen. Die damit verbundene Verletzung der Menschenwürde wird in den meisten Fällen ohnehin über der Geringfügigkeitsschwelle liegen.204 So Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 64. EuGH 10.07.2008 Rs. C-54/07 (Feryn) Rn. 21 ff. 201 Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 65. 202 MüKoBGB/Thüsing, I6 § 20 AGG, Rn. 39 ff.; Rath/Rütz, NJW 2007, 1498; vgl. Perner, ÖJZ 2011, 333, 334. 203 Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 64 ff.; Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 731 ff. 204 Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 425 prononciert m.E. richtigerweise, dass bei einer rassistischen Diskriminierung die Würde der Person praktisch negiert werde; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 60. 199 200

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Letztlich illustriert die referierte Problematik erneut, was schon unter dem Aspekt des Transparenzgebotes angesprochen wurde. Das allgemeine Zivilrecht war ohne seine umstrittenen Ergänzungen – zumindest in Deutschland und Österreich – nicht immer das optimale Instrument für den Rechtsschutz bei Diskriminierung. Der nationale Gesetzgeber war daher – entgegen einer weit verbreiteten Meinung205 – zur Schaffung spezieller Normen, insbesondere bezüglich der Sanktionen, aufgefordert.206 Tatsächlich wirkt sich die Intensität eines Verstoßes gegen ein Diskriminierungsverbot bei der Bemessung des immateriellen Schadens weiter aus. Im Anschluss an den Befund, dass ein Diskriminierungsschaden entstanden ist und dieser grundsätzlich ersetzt werden muss, stellt sich das Problem seiner Quantifizierung. Wie viel ist es „wert“, wenn einer Person der Einlass in eine Diskothek wegen ihrer Herkunft verweigert wurde?207 Wie hoch ist ein ideeller Schaden zu beziffern, wenn ein ermäßigter Pensionistentarif im öffentlichen Nahverkehr Frauen sachwidrigerweise fünf Jahre früher als Männern gewährt wird?208 Unzweifelhaft ist die Bemessung von immateriellen Schäden immer mit gewissen Schwierigkeiten und Unschärfe verbunden.209 Der Zweck der Entschädigung liegt neben der Prävention210 in der Wiedergutmachung der Herabwürdigung und gewissermaßen einer Genugtuung für den Benachteiligten.211 Daran ist die Bemessung des Ersatzes vordergründig auszurichten. Der diskriminierten Person soll es ermöglicht werden, sich durch Zahlung eines Geldbetrages gewisse Annehmlichkeiten zu verschaffen.212 205

B.V.

Vgl. von Koppenfels, WM 2002, 1489, 1492 ff., 1495; Picker, JZ 2003, 540, 545; Vgl.

206 So Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 176; vgl. B.V. 207 Dieselbe Frage stellt sich Wagner, AcP 206 (2006), 352, 402 f.: Auch im Zusammenhang mit dem Vermögensschaden stellten sich schwierige Bewertungsfragen. Er weist darauf hin, dass die herkömmliche Reaktion des deutschen Rechts darin bestehe, den Schadensersatz auf null zusetzen, diese Option aber unter dem Dach des Unionsrechts nicht mehr bestehe. Zum „Diskofall“ vgl. den Sachverhalt in: AG Tempelhof-Kreuzberg 16.12.2004 Rs. 8 C 267/04. 208 Vgl. BG Innere Stadt (Wien) 08.11.2012 Rs. 78C 493/ 12 w – 6 (Wiener Linien). Eine ermäßigte Seniorenjahreskarte für öffentliche Verkehrsmittel in Wien konnten Frauen bereits ab dem 60., Männer erst ab dem 65. Lebensjahr erwerben. Diese Tarifpraxis sei eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Dem Kläger wurde der Vermögensschaden (die Differenz zwischen „normaler“ Jahreskarte und Seniorenjahreskarte über zwei Jahre) in Höhe von 458 Euro und ein Diskriminierungsschaden in Höhe von 1.500 Euro zugesprochen. Das Berufungsgericht hielt einen immateriellen Schaden in Höhe von 500 Euro für angemessen. 209 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts 222 f. 210 Dazu unter I.1. 211 Erman/Armbrüster, BGB13 § 21 AGG, Rn. 14; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 60. Vgl. F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 f., Fn. 69; dens., System und Prinzipien des Privatrechts 221 ff. 212 Karner/Koziol, Der Ersatz ideellen Schadens im österreichischen Recht und seine Reform 15. ÖJT II/1, 119 ff.

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Andererseits zielen die unionsrechtlichen Vorgaben klar auch auf Prävention oder Abschreckung ab. Letztlich liegt der erstmaligen Festsetzung eines ideellen Schadens in Geld stets eine gewisse Ermessensentscheidung zugrunde.213 Es ist durchaus sinnvoll, den Gerichten bei der Eruierung einer angemessenen Entschädigung einen relativ weiten Spielraum zuzugestehen. Es kann so bei der Bemessung der Höhe des immateriellen Schadensersatzanspruches den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung getragen werden. Diesem Ermessen können durch Pauschalierungen, ähnlich wie beim Schmerzensgeld, Konturen verliehen werden, die der Orientierung dienen.214 Faktoren, die bei der Festsetzung der Höhe des ideellen Entschädigungsanspruches eine Rolle spielen sollten, sind das Gewicht oder die Schwere der Diskriminierung, Gesichtspunkte der Genugtuung und nicht zuletzt der Präventionsgedanke.215 Beim Gewicht der Diskriminierung können objektive und subjektive Umstände kombiniert werden. Es ist die Intensität der Diskriminierung von großer Bedeutung. Dabei geht es um das Ausmaß der Verletzung des Integritätsinteresses. Hierbei bestehen im Einzelfall sicherlich nicht unerhebliche Unterschiede. Es ist unter anderem die Dauer und Häufigkeit des Eingriffes zu berücksichtigen. Auch das nachträgliche Verhalten des Diskriminierungstäters sollte ins Kalkül gezogen werden, vor allem wenn dieser Wiedergutmachungsbemühungen angestrengt hat. Erfolgt die Herabwürdigung öffentlich, ist dies ein Aspekt auf den jedenfalls Rücksicht genommen werden sollte.216 Auf subjektiver Seite spricht aus unionsrechtlicher Sicht nichts gegen die Berücksichtigung des Verschuldens, einer Absicht oder eines Benachteiligungsvorsatzes des Schädigers. Die tatsächliche Höhe der Sanktion lässt sich bei der Bemessung durchaus nach dem Verschuldensgrad abstufen.217 Daraus kann abgeleitet werden, dass der Entschädigungsanspruch bei unmittelbarer Diskriminierung höher ist als jener bei mittelbarer, und jener bei vorsätzlicher höher als jener bei fahrlässiger oder gar unbewusster. Es soll sich weiters auswirken, ob wegen eines oder mehrerer verpönter Motive benachteiligt wurde. Thüsing schlägt vor, den Betrag auf die Hälfte zu reduzieren, wenn die Diskriminierung bewusst, quasi als Test, durch den Geschädigten in Kauf genommen wurde.218 213 Karner/Koziol, Der Ersatz ideellen Schadens im österreichischen Recht und seine Reform 15. ÖJT II/1, 120 f. 214 Wagner, AcP 206 (2006), 352, 394 ff., 402 f.; Armbrüster, KritV 2005, 41, 48 ff. 215 Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung 147 f.; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 61 zieht Grundsätze der Bemessung der Geldentschädigung bei der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts heran. 216 Armbrüster, KritV 2005, 41, 48 ff.; Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung 147 f.; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 61. 217 Armbrüster, KritV 2005, 41, 49; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 61. 218 MüKoBGB, I6 § 21 AGG, Rn. 61 in Anlehnung an eine Entscheidung des Amtsgerichts Oldenburg, zum Geldentschädigungsanspruch bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.

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Um dem Präventionsgedanken Rechnung tragen zu können, wird in Erwägung gezogen, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten als Größe miteinzubeziehen.219 Es lässt sich argumentieren, dass eine abschreckende Sanktion im Sinne der Richtlinien sicherlich auch aus der subjektiven Position des Schädigers zu bewerten ist. Für ein Großunternehmen wird ein verhältnismäßig geringer Geldbetrag kaum präventiv wirken. Die Lebensumstände des Benachteiligten sollten jedenfalls nicht in besonderem Maße berücksichtigt werden. Dies ist wohl auch im Sinne der europarechtlichen Vorgaben nicht geboten. Der erlittene ideelle Schaden ist demnach unabhängig von den subjektiven Lebensbedingungen des Diskriminierten zu bemessen.220 Zieht man bei der Bemessung der Höhe des Anspruches auf den Ersatz des Diskriminierungsschadens die vorstehenden Kriterien ins Kalkül, dann gewährt man dem Richter einen erheblichen Ermessenspielraum. Ergänzend könnten auch Mindestgrenzen aufgestellt werden. Der Entschädigung darf nur nicht ausschließlich symbolischer Charakter zukommen. Durch ein flexibles Instrument kann den höchst unterschiedlichen Umständen von Diskriminierung im Einzelfall sachgerecht entsprochen werden.221 Die Rechtsprechungspraxis zur Bemessung von Schmerzensgeld zeigt, dass es gelingt, klare Maßstäbe herauszubilden. Nach Armbrüster unterscheiden sich Diskriminierungsfälle dahingehend lediglich durch das Vorliegen eines höheren Präventionsinteresses.222 Das erscheint aber hier nicht weiter problematisch. Um den Umständen des Einzelfalls gerecht zu werden und die unionsrechtlichen Vorgaben nach einer angemessenen und effektiven Rechtsfolge zu erfüllen, ist ein flexibles Instrument zur Bemessung des Diskriminierungsschadens zweckmäßig.223 5. Zusammenfassung: Ein schadensersatzrechtlicher Mindeststandard Die Funktion der schadensersatzrechtlichen Sanktion bei Verstößen gegen die Europäischen Diskriminierungsverbote liegt neben dem Schadensausgleich in der Verhaltenssteuerung. Prävention ist eine der klassischen Aufgaben des Haftpflichtrechts. Ist in der Judikatur und den Richtlinien daher die Rede von abschreckenden Sanktionen, sind damit nicht punitive damages nach dem Vorbild der US-amerikanischen Rechtsordnung gemeint. Weder die Richtlinien noch die Rechtsprechung legen einen solchen Schluss nahe.224 Anhand der Regelung in den Antidiskriminierungsrichtlinien und besonders den Entscheidungen des Gerichtshofes kann ein Mindeststandard, dem eine Armbrüster, KritV 2005, 41, 49. Vgl. MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 61. 221 Armbrüster, KritV 2005, 41, 49 f. 222 KritV 2005, 41, 49 f. 223 Armbrüster, KritV 2005, 41, 49 f; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 61. 224 Dazu insbesondere Wagner, AcP 206 (2006), 352, 394, 398. 219 220

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haftungsrechtliche Sanktionsvariante nach unionsrechtliche Vorstellungen entsprechen muss, aufgezeigt werden. Die Frage nach der Voraussetzung des Verschuldens für das Auslösen einer Haftpflicht wurde vom Gerichtshof mehrfach und eindeutig beantwortet. In den Rechtssachen Dekker und Draehmpaehl wird klargestellt, dass ein Abstellen auf das Verschulden der diskriminierenden Person bei einem Verstoß gegen die Diskriminierungsverbote nicht mit den Richtlinienzielen vereinbar ist. Vertritt man den vor dem Hintergrund des Art. 8 Abs. 2 RL 2004/113/EG nur schwer zu begründenden Standpunkt der völligen mitgliedstaatlichen Autonomie bei der Wahl der Rechtsfolgen, ändert sich dieser Befund nicht. Zwar besteht grundsätzlich die Freiheit der Mitgliedstaaten bei der Auswahl der Sanktion, daraus kann jedoch nicht darauf geschlossen werden, dass nach erfolgter Wahl nicht gewisse Mindeststandards einzuhalten sind. Wird ein Schadensersatzanspruch als Rechtsfolge vorgesehen, ist dieser verschuldensunabhängig auszugestalten. Mit einer rassistischen oder einer sexistischen Diskriminierung geht eine Missachtung des Kerns der Persönlichkeit einher. Eine effektive Rechtsfolge muss daher neben dem materiellen auch den damit einhergehenden immateriellen Schaden ersetzen. Dies lässt sich aus den Richtlinienbestimmungen und der Judikatur ableiten. Dem Unionsrecht ist eine strikte Trennung zwischen materiellen Schäden und ideellen Schäden fremd.225 Der Gerichtshof fordert eine tatsächliche Wiederherstellung der Chancengleichheit und die vollkommene Kompensation des erlittenen Schadens. Werden Europäische Diskriminierungsverbote verletzt, ist der Diskriminierungsschaden folglich zu ersetzen, um die unionsrechtlichen Determinanten zu erfüllen. Auch der Ersatz des ideellen Schadens hat verschuldensunabhängig zu erfolgen. Die unionsrechtlichen Vorgaben sehen keine Geringfügigkeitsschwelle vor, die überschritten werden muss, damit vom Vorliegen eines Diskriminierungsschadens auszugehen ist. Bei sachlich nicht gerechtfertigter Ungleichbehandlung tritt daher ohne weiteres der Haftungsfall ein. Das Unionsrecht korreliert nicht mit der deutschen Doktrin zur schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzung bzw. geht davon aus, dass jede Missachtung der Diskriminierungsverbote in einer derartigen Herabwürdigung der Person resultiert. Bei der Bemessung der Höhe des Ersatzanspruches des immateriellen Schadens empfiehlt es sich, sowohl die Intensität als auch die subjektive Vorwerfbarkeit der Ungleichbehandlung zu berücksichtigen. Zur Beachtung des Einzelfalls ist es geboten, einen weiten Ermessenspielraum des Richters zu belassen. Kriterien, die dabei herangezogen werden, haben sich am Zweck des Entschädigungsanspruchs auszurichten. Das Verständnis des EuGH ist stark am französischen Recht orientiert. Das französische Schadensersatzrecht differenziert nicht zwischen Vermögens- und Nichtvermögensschaden und kennt auch keine Schwelle für den Ausgleich von ideellen Schäden. Siehe Wagner, AcP 206 (2006), 352, 394 f. 225

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II. Kontrahierungszwang 1. Problemstellung und Gang der Untersuchung Die am häufigsten und intensivsten diskutierte Rechtsfolge im Zusammenhang mit Europäischen Diskriminierungsverboten stellt ohne Zweifel der Vertragsabschlusszwang dar.226 Unter Kontrahierungszwang versteht man eine von der Rechtsordnung auferlegte Pflicht eines Rechtssubjekts, ohne seine eigene Willensbildung mit einem Begünstigten einen Vertrag in dessen Interesse zu schließen.227 Funktional lässt sich der Kontrahierungszwang als Korrektiv für eine marktbedingte Alternativenlosigkeit des Begünstigten bei einem Vertragsschluss über meistens wichtige Güter beschreiben.228 Es kommt folglich zu einem Rechtsgeschäft völlig unabhängig vom Willen eines Verpflichteten.229 Nicht weiter verwunderlich ist es somit, dass der Kontrahierungszwang als Sanktion bei Diskriminierung für Kontroversen sorgt.230 Ein Vertragsabschlusszwang kann als Rechtsfolge ausdrücklich normiert sein. Es handelt sich dabei um eher seltene Fälle, in denen von einem spezialgesetzlichen Vertragsabschlusszwang die Rede ist. Zudem bestehen Kontrahierungszwänge, die spezialgesetzlich motiviert sind. Für beide Fälle ist der Terminus des besonderen Kontrahierungszwangs gebräuchlich.231 Ein Rechtszwang zum Kontrahieren besteht jedoch nicht ausschließlich in speziellen Sonderfällen. Er kann sich gleichermaßen als Folge einer allgemeinen Verpflichtung zum Schadensersatz oder zur Abwehr einer rechtswidrigen Verhaltensweise ergeben. Gebräuchlich ist dabei der Terminus des allgemeinen Kontrahierungszwangs, in Abgrenzung zu jenem der speziell gesetzlich geregelt oder angelegt ist.232 226 Vgl. Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 199. 227 So die gängige Definition von Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag 7; vgl. Busche, Kontrahierungszwang und Privatautonomie 110; m.w.N. zur Widersprüchlichkeit des Terminus: F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 3 ff.; die Definition Nipperdeys ist bis dato gebräuchlich: siehe etwa das aktuelle Lehrbuch von Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts10 § 48 Rn. 6; für Österreich: P. Bydlinski, Bürgerliches Recht Allgemeiner Teil6 Rz. 5/22; Koziol/Welser, Bürgerliches Recht I13, 141 ff. 228 Kilian, AcP 180 (1980), 47, 52; siehe auch L. Raiser, in: Kartelle und Monopole im modernen Recht II, 523, 530 ff. 229 Zum Begriff des Kontrahierungszwang sehr ausführlich: Busche, Kontrahierungszwang und Privatautonomie 110 ff.; 117 ff. 230 Siehe dazu etwa: Armbrüster, KritV 2005, 41, 46 ff.; MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 17 ff.; Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 171 ff.; Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 199 ff.; Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 726 ff.; Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts10 § 48 Rn. 6. 231 Busche, Kontrahierungszwang und Privatautonomie 117 ff. 232 Dazu ausführlich: Busche, Kontrahierungszwang und Privatautonomie 110 ff. Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 468 ff. mit einer Übersicht der wichtigsten spezialgesetzlichen Kontrahierungszwängen im deutschen Recht.

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Hier wird mit dem Begriff des allgemeinen Kontrahierungszwangs ein Vertragsabschlusszwang, der sich aus den Wertungen der Vertragsrechtsordnung ergibt, bezeichnet. Es liegt daher zunächst der Fokus darauf, Strukturen für einen Kontrahierungszwang herauszubilden, der mit den Wertungen des Privatrechts – insbesondere der Vertragsfreiheit – in Einklang steht oder zu deren Funktionssicherung gar geboten ist. Anhand des umfangreichen und ebenso weit zurückreichenden Meinungsstandes sollen Kriterien eines allgemeinen Kontrahierungszwangs herausgearbeitet werden. Die Frage nach der Verankerung im innerstaatlichen Recht tritt dabei in den Hintergrund. Die Vorstellung eines allgemeinen Kontrahierungszwangs basiert letztlich auf Grundwertungen der Vertragsrechtsordnung und ist somit auch unabhängig vom Bestand von Diskriminierungsverboten im Privatrecht.233 Geht es hingegen um den Kontrahierungszwang, der sich aus einem Verstoß gegen Europäische Diskriminierungsverbote als Rechtsfolge ergeben könnte, wird von einem speziellen oder besonderen Kontrahierungszwang die Rede sein. Zum einen liegt es nahe, als Sanktion für einen aus verpönten Motiven verweigerten Vertragsabschluss eben diesen zu fordern. Die Entscheidungen des EuGH zum arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot drängen nach der Auffassung mancher Autoren die Frage nach einem Anspruch auf Vertragsschluss förmlich auf.234 Sie stellt sich dessen ungeachtet in allen Fällen einer Vertragsverweigerung aus gesellschaftlich verpönten Motiven. Erinnert sei an das Beispiel des untersagten Einlasses in eine Diskothek eines ausländischen Jugendlichen.235 Des Weiteren wäre an die sogenannten Bewirtungsfälle zu denken. Darin werden Hotelzimmer nur an weibliche oder männliche Personen vermietet, ohne dass ein sachlicher Grund dafür ersichtlich wäre.236 Andererseits ist der Kontrahierungszwang naturgemäß ein höchst invasiver Eingriff in die Privatautonomie, der nur unter besonderen Bedingungen gerechtfertigt ist.237 Nach dem bisher gängigen Muster soll zunächst erörtert werden, ob das Unionsrecht eine Antwort auf die Frage nach einem Kontrahierungszwang als Rechtsfolge bei einem Verstoß gegen Europäische Diskriminierungsverbote anregt. Daran werden sich Ausführungen dazu anschließen, unter welchen Aspekten ein Zwang zum Vertragsschluss in einer marktwirtschaftlich orientierten Ver233 Vgl. F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 29 f.; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 241: „Der Rechtszwang zum Kontrahieren ergibt sich nicht ausdrücklich aus dem Gesetz, sondern ist dort nur latent angelegt.“ 234 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 286. 235 Siehe dazu Kapitel 2.E. 236 Zu den sogenannten „Bewirtungsfällen“ siehe: Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 214. 237 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 4 f. nennt ihn gar eine Negation der Vertragsfreiheit; vgl. auch Zöllner, in: FS Bydlinski 517, 518.

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tragsrechtsordnung zulässig sein könnte. Greift bei rassistischer oder sexistischer Diskriminierung bereits ein allgemeiner Kontrahierungszwang? Wie die bisherigen Untersuchungen zeigen konnten, liegt eine Kompensation des durch Diskriminierung entstandenen Nachteils mit schadensersatzrechtlichen Mechanismen aus europarechtlicher Perspektive nahe. Es handelt sich dabei rechtsvergleichend betrachtet um die häufigste Form der Sanktionierung.238 Es soll daher überprüft werden, ob sich aus der Verpflichtung zur verschuldensunabhängigen Leistung von Schadensersatz ein Anspruch auf Vertragsschluss konstruieren lässt.239 Letztlich sind folgende Fragen entscheidend: Ist der Kontrahierungszwang als Sanktion bei verbotener Diskriminierung überhaupt ein sinnvolles und effektives Instrument? Lässt sich aus dem Telos der Diskriminierungsverbote eine Notwendigkeit für einen erzwungenen Vertragsschluss ableiten und legitimieren? Eine derartige Betrachtungsweise wird nicht zuletzt von den Richtlinienvorgaben nach effektiven, abschreckenden und verhältnismäßigen Sanktionen nahegelegt. Weiters könnte man sich fragen, ob der Gesetzgeber einen spezialgesetzlichen Kontrahierungszwang, unabhängig von den europarechtlichen Wertungen, vorsehen sollte. Die nach K. Schmidt bereits „zur Studentenmaterie verkommene Diskussion“ um einen allgemeinen Kontrahierungszwang bekommt im Zusammenhang mit Europäischen Diskriminierungsverboten daher neuen Aufwind.240 2. Unionsrechtliche Vorgaben Wer nach der Analyse der unionsrechtlichen Determinanten bei der Ausgestaltung von haftpflichtrechtlichen Sanktionen auf ebenso klare Antworten bezüglich eines möglichen Kontrahierungszwangs durch das Unionsrecht hofft, wird zunächst eine Enttäuschung hinnehmen müssen. In der Unisex-RL findet sich unter der Rubrik Geltungsbereich in Art. 3 Abs. 2 lediglich der Passus, dass die freie Wahl des Vertragspartners nicht berührt wird, solange nicht an das Geschlecht angeknüpft wird. Das ist allerdings nur deswegen erwähnenswert, weil an keiner anderen Stelle in den Richtlinien auf die Wahl des Vertragspartners Bezug genommen wird. Es kommt darin zum Ausdruck, dass der Unionsgesetzgeber nur Geschlechterdiskriminierung 238 Vgl. Schmidt-Kessel, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 53, 54; Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 11 ff. 239 Dieser Frage geht unter anderem auch Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 287 ff., allerdings vor der Einführung europäischer Diskriminierungsverbote im Privatrecht, nach. 240 AcP 206 (2006), 169, 190 bezieht sich damit auf den allgemeinen Kontrahierungszwang im Zivilrecht, der nach wohl h.A. in § 826 BGB angelegt ist; zum selben Befund kommt, im Zusammenhang mit Europäischen Diskriminierungsverboten, Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 199; vgl. auch Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 151 ff.

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in gegebenem Kontext untersagt. Es lassen sich daraus gleichwohl nur schwer Argumente für einen richtliniendeterminierten Kontrahierungszwang ableiten. Solchen würde zudem die Systematik der Unisex-RL im Weg stehen. Art 8., nicht Art. 3, befasst sich mit dem Rechtsschutz. In Art. 8 finden sich allerdings keine Referenzen eines Anspruchs auf Vertragsschluss oder dergleichen.241 Aus der Rechtsprechung lassen sich ebenso wenig eindeutige Schlüsse ziehen. In Von Colson und Kamann findet sich noch ein auf den ersten Blick klares Statement. Es müsse grundsätzlich kein Vertragsabschlusszwang vorgesehen werden, um dem Grundsatz der Geschlechtergleichberechtigung im Arbeitsrecht nachzukommen.242 Von Seiten der Lehre besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass ein Kontrahierungszwang nicht zwingend zur Erfüllung der unionsrechtlichen Determinanten normiert werden muss.243 Eine Begründung hierfür liefert hauptsächlich die Ermangelung einer ausdrücklichen Bestimmung in den Richtlinien. Falsch wäre es aber, daraus zu schließen, dass über einen Vertragsabschlusszwang als Sanktion nicht von Seiten der Mitgliedstaaten disponiert werden dürfe. Im Rahmen der Autonomie bei der Wahl der Rechtsfolgen könnte demnach ein spezialgesetzlicher Kontrahierungszwang vorgesehen werden oder ein allgemeiner Kontrahierungszwang bestehen.244 Es wäre aber auch zu kurz gegriffen, dem Unionsrecht jeglichen Einfluss zu versagen, allein weil die Richtlinien einen Vertragsabschlusszwang expressis verbis nicht statuieren. Europarechtliche Wertungen sind jedenfalls bei einer Herleitung eines Kontrahierungszwangs aus schadensersatzrechtlichen Sanktionsnormen zu beachten. Es müssen alle im innerstaatlichen Recht erlassenen Rechtsfolgen wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen im Lichte des Unionsrechts darstellen. Der EuGH hat seine Rechtsprechung seit der Entscheidung Von Colson und Kamann, vor allem in den Rechtssachen Marshall II und Dekker, signifikant weiterentwickelt. Er zielt dabei verstärkt auf eine tatsächliche Wiederherstellung der Chancengleichheit und den effektiven Schutz der Würde des Menschen ab.245 Diese Parameter sind bei der Untersuchung des Kontrahierungszwangs als Sanktion bei verbotener Diskriminierung jedenfalls nicht außer Acht zu lassen. 241 So Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 172; vgl. Lehner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz und Grundrechte 403 Fn. 510. 242 EuGH 10.04.1984 Rs. C-14/83 (Von Colson und Kamann) Rn. 19. 243 Vgl. zur h.L. Adomeit/Mohr/Adomeit, Kommentar zum AGG2 § 21 Rn. 2; Rebhahn/ Kletečka, GlbG, § 12 Rz. 19; Thüsing/von Hoff, NJW 2007, 21, 22; Busche, in: Leible/ Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 172; Lehner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz und Grundrechte 401 ff. 244  Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 171 ff. verneint den allgemeinen, d.h. nicht spezialgesetzlich vorgesehenen Kontrahierungszwang. 245 Siehe dazu B.III.

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3. Grundvoraussetzungen eines Kontrahierungszwangs: Meinungsstand Den Ausgangspunkt bildet ein Vertragsrechtssystem, in dem der formalen Vertragsfreiheit der Vorrang eingeräumt wird.246 Dies entspricht dem herrschenden Verständnis in der Literatur. Es handelt sich dabei um den Kompromiss zwischen an sich formaler Vertragsfreiheit und ihrer vielfach zu Recht eingeforderten materialen Gewährleistung.247 Aufgezeigt werden die Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit unter dieser Prämisse die Konstruktion eines Kontrahierungszwangs zulässig und stimmig erscheint. Im Vordergrund stehen deshalb zunächst nicht spezielle oder gar ausdrückliche gesetzliche Vorschriften, die einen Vertragsabschlusszwang im weitesten Sinne vorsehen. Die Darstellung der Voraussetzung des allgemeinen Kontrahierungszwangs ist für die weitere Untersuchung hilfreich. Es wird gezeigt, ob in Diskriminierungsfällen möglicherweise eine Situation feststellbar ist, in der ein derartiger Zwang generaliter eingreift. Die Klärung, unter welchen Aspekten in einer marktwirtschaftlich orientierten Privatrechtsordnung ein Zwang, einen Vertrag abzuschließen, besteht, soll zudem das Verständnis für den weiteren Gang der Untersuchung schärfen. Insbesondere in Hinblick auf den in weiterer Folge zu erörternden Problemkreis, ob sich ein besonderer Kontrahierungszwang aus einem haftpflichtrechtlichen Sanktionsmechanismus unter Beachtung der unionsrechtlichen Wertungen ableiten lässt, ist dies geboten. Die Vertragsfreiheit ermöglicht einerseits die freie Wahl des Vertragspartners, andererseits ergibt sich daraus, dass es möglich sein muss, einen Konterpart ebenso frei ablehnen zu können. Kommt es zur Vertragsverweigerung stehen diese zwei Ausformungen der Vertragsbegründungsfreiheit in Konflikt zueinander. Der potenzielle Vertragspartner möchte einen Vertrag abschließen, der Vertragsverweigerer hingegen macht von seinem Recht, davon abzusehen, Gebrauch. Weder die Freiheit, mit einem beliebigen Kontrahenten einen Vertrag zu schließen, noch jene, den Vertragsabschluss zu verweigern, ist in dieser Konstellation vorrangig. Der durch die Vertragsverweigerung entstandene Antagonismus kann daher nicht schlichtweg zu Lasten des Verweigerers gelöst werden.248 Das eben Geschilderte – auch wenn man es inhaltlich im Detail kritisch sehen mag249 – zeigt doch deutlich, dass ein allgemeiner Kontrahierungszwang nur in besonderen Lagen gerechtfertigt sein kann. Zur einfachen Verweigerung Vgl. F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 4 ff. Dazu siehe Kapitel 2.B. 248 So der einleuchtende Problemaufriss bei Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 124 ff. Dazu kritisch: Zöllner, in: FS Bydlinski 517, 524 ff. 249 Zöllner, in: FS Bydlinski 517, 524 ff., geht davon aus, dass zwei verschieden ausgerichtete Freiheiten bestünden. Busches Konstruktion baue aber insbesondere auf der Fehlannahme auf, dass die positive Vertragsbegründungsfreiheit auch gegenüber dem gewünschten Kontrahenten bestehe. 246 247

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eines Vertragsschlusses müssen noch weitere Umstände hinzutreten. Es bedarf gewissermaßen einer besonderen oder qualifizierten Vertragsverweigerung, die als Rechtfertigung für die Entscheidung zu Gunsten des Vertragssuchenden fungieren kann.250 Das erste und zugleich bekannteste Konzept eines allgemeinen Kontrahierungszwangs geht auf das deutsche Reichsgericht251 und die daran anknüpfenden Untersuchungen252 Nipperdeys zurück. Das maßgebliche Kriterium in den Entscheidungen des Gerichts war eine Monopolstellung der vertragsverweigernden Partei.253 Werde eine tatsächliche Monopolstellung grundlos und aus missbilligenswerten Gründen ausgenutzt, um jemanden vom Rechtsverkehr auszuschließen oder ihm den Zugang dazu derart unattraktiv zu gestalten, dass er daran nicht mehr teilhaben möchte, sei ein allgemeiner Kontrahierungszwang geboten.254 Als gesetzliche Grundlage im BGB anerkannten die Gerichte in Anlehnung an Nipperdey bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Sittenwidrigkeit einer solchen Verhaltensweise. Historisch gesehen stand folglich der Missbrauch der Vertragsfreiheit als Anknüpfungspunkt für die Begründung von Kontrahierungszwängen bereits im Zentrum.255 Dieser Missbrauch hing zunächst eng mit der faktischen Monopolstellung des Vertragsverweigerers zusammen. Wichtige Impulse zur Weiterentwicklung dieser Gedanken lieferten die Diskussionen zur Drittwirkung von Grundrechten und moderne kartellrechtliche Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 127; vgl. F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 5. 251 Reichsgericht 11.04.1901 veröffentlicht in RGZ 48, 114: Einen ausführlichen Überblick der Rechtsprechung des Reichsgerichts, des BGH und diverser Instanzgerichte gibt Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 162 ff. 252 Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag; Kilian, AcP 180 (1980), 47, 48 f. zeigt deutlich, dass der Kontrahierungszwang sicherlich keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist. Es unterlag beispielsweise schon die Beförderung der Pilger ins Heilige Land, im frühen Mittelalter, starken Restriktionen. Anders verhalte es sich mit dem heutigen Verständnis der Vertragsfreiheit, die sich erstmals im ökonomischen, politischen und philosophischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts durchgesetzt habe. Nipperdey sei daher der erste, der versuchte, das Spannungsverhältnis zwischen der Realität von Kontrahierungszwängen auf der einen und liberaler Vertragsfreiheit auf der anderen Seite zum Ausgang seiner Untersuchungen zu nehmen. Siehe auch F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 30; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 110 ff. 253 Kilian, AcP 180 (1980), 47, 56. 254 Das wohl bekannteste und am häufigsten zitierte Beispiel für eine derartige Situation stammt von Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag 61 ff.: „Wenn der einzige Fleischer in einem einsamen weit abgelegenen Gebirgsdorf dem Lehrer, der dem Sohn des Fleischers eine verdiente Züchtigung erteilt hat, aus diesem Grund die Abgabe von Fleisch verweigert oder sie ihm nur gewähren will, wenn er das Doppelte des Kaufpreises zahlt, den alle anderen zahlen müssen, so würde das eine sittenwidrige Abkehr sein. Daher besteht hier ein Kontrahierungszwang.“ 255 So Kilian, AcP 180 (1980), 47, 57 f. 250

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Kodifikationen.256 F. Bydlinski geht nach einer Analyse des bis zu Beginn der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts bestehenden Meinungsstandes davon aus, dass ein Monopol, eine übernommene Versorgungsaufgabe sowie die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Rechtsgeschäftsordnung sinnvolle Aspekte für die Begründung und Begrenzung eines allgemeinen Kontrahierungszwangs darstellen könnten.257 Die Kontrollbedürftigkeit der negativen Vertragsentscheidung ergibt sich allerdings für ihn in erster Linie aus der Funktion der Rechtsgeschäftsordnung.258 Diese liege wesentlich darin, die Bedürfnisse der Menschen durch Güteraustausch zu befriedigen. Nach dem normalen Gang der Dinge verbiete es bereits der Markt, nach sachfremden Motiven, wie persönlicher Abneigung oder politischen Phantasien, potentielle Vertragspartner auszuschließen. Bei marktwirtschaftlich irrationalem Verhalten bestünden, auch ohne juristische Sanktionen, Konsequenzen. Letzten Endes drohe der völlige wirtschaftliche Ruin.259 Es sei infolgedessen ein Kontrahierungszwang in den meisten Konstellationen zur Aufrechterhaltung der Versorgungsfunktion der Vertragsfreiheit nicht notwendig. Der Markt selbst gleiche Funktionsstörungen der Privatautonomie aus.260 Probleme würden sich tendenziell erst dann ergeben, wenn manche Teilnehmer nicht mehr nach den Regeln des Marktes spielen müssten. Bestehe daher eine Marktmacht, die es ermöglicht bei ökonomischer Betrachtungsweise unvernünftige Entscheidungen dennoch zu treffen, trete die disziplinierende Wirkung des Wettbewerbs nicht mehr ein. Es können dann Entscheidungen getroffen werden, die die Versorgungsfunktion der Rechtsgeschäftsordnung beeinträchtigen, ohne dass Konsequenzen folgen. Es müsse daher unter Berücksichtigung der Versorgungsfunktion überprüft werden, ob der Vertragsschluss bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise verweigert worden 256 Ein Überblick darüber findet sich bei Kilian, AcP 180 (1980), 47, 58 ff. Während der Zeit des Nationalsozialismus war der Kontrahierungszwang vermehrt Teil des rechtswissenschaftlichen Diskurses. Geprägt waren die Ausführungen allerdings vielfach von einem nationalsozialistischen Vorverständnis. Vgl. Bülck, Vom Kontrahierungszwang zur Abschlusspflicht; etwas differenzierter Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130. Diesbezüglich kritisch setzt sich u.a. mit Schmidt-Rimplers Thesen Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung 360 ff., 366 ff. auseinander. Ebenso widmet er sich ihrer Bedeutung für die Gegenwart. 257 AcP 180 (1980),1, 33. 258 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35. So auch schon L. Raiser, in: Kartelle und Monopole im modernen Recht II, 523, 530, 532 ff.: Er sieht drei Konstellationen, in denen ein Kontrahierungszwang geboten sein könne. Eine davon liege vor, wenn es zur Funktionserhaltung der marktwirtschaftlichen Ordnung notwendig sei. Die anderen zwei Situationen stehen im Zusammenhang mit den §§ 25 und 26 des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung bzw. werden des Weiteren von F. Bydlinski zu Recht verworfen. Siehe auch Kilian, AcP 180 (1980), 57, 76. 259 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 34 f. Aus dieser gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit leitet F. Bydlinski eine nur „tendenzielle Richtigkeitsgewähr“ des Vertragsschlussmechanismus ab; vgl. dazu Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 155 ff. 260 Siehe dazu Kapitel 2.E.

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wäre. Ist dies nicht der Fall, sei die negative Vertragsentscheidung zu korrigieren.261 Um einen allgemeinen Kontrahierungszwang zu rechtfertigen, bedarf es nach F. Bydlinski einer besonderen Machtkonstellation. Diese Sicht der Dinge ist weitgehend mit der Nipperdeys, der einen Monopolmissbrauch als Voraussetzung fordert, im Einklang. Woraus sich die geforderte Marktmacht ergibt, bedarf allerdings einer weiteren Konkretisierung. Die Form der Machtstellung ermögliche es dem Vertragsverweigerer, zumindest gegenüber gewissen Markteilnehmern, frei von wirtschaftlich vernünftigen Erwägungen zu agieren. Das reicht freilich für sich genommen noch nicht aus, einen Kontrahierungszwang eingreifen zu lassen. Der Vertragspartner in spe muss auf die angebotene Dienstleistung oder das Gut angewiesen sein. Aus dieser Angewiesenheit ergibt sich wiederum die Machtstellung des Vertragsverweigerers. Dieses Machtgefälle könne, so F. Bydlinski, einerseits aus der Position des Anbieters auf dem Markt resultieren. Andererseits lasse es sich auf systematische Vertragsverweigerung aller in Frage kommender Anbieter gegenüber dem Interessenten zurückführen.262 Eine Rechtfertigung eines Vertragsabschlusszwanges kann anders formuliert dann angenommen werden, wenn der ordnungstheoretische Begründungsansatz der Vertragsfreiheit versagt. In diesen Szenarien stellt Vertragsfreiheit kein effektives Mittel mehr für die Verteilung von Gütern und Dienstleistungen dar. Sie kommt somit einer ihrer wesentlichen Aufgaben nicht mehr nach. 263 Entscheidet sich eine Fahrschule dazu, keine Frauen mehr auszubilden, wird dies nichts anderes zur Konsequenz haben, als dass in etwa 50% des Umsatzes ausbleiben. Agiert man wirtschaftlich vernünftig, wird man eine derartige Folge vermeiden wollen. Wesentlich ist aber, dass sich für die ausgegrenzten Frauen dadurch kein Nachtteil ergeben wird, wenn sich ohne Probleme eine andere und gleichwertige Fahrschule finden lässt. Handelt es sich hingegen um die einzige Fahrschule, die zumutbarerweise besucht werden kann, kommt es zu einem Ausschluss der Frauen vom Markt.264 In derartigen Konstellationen wäre nach obenstehender Theorie ein allgemeiner Kontrahierungszwang geboten, weil das Vertragsrecht seine Versorgungsfunktion nicht mehr hinlänglich erfüllen kann. Bei der geforderten Machtstellung muss es sich aus Aspekten der Funktionsfähigkeit der Vertragsrechtsordnung nicht um eine klassische Monopolsituation handeln. Ob sich die Angewiesenheit im Fahrschul-Beispiel daraus ergibt, dass F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35. Dazu kritisch: Zöllner, in: FS Bydlinski 517, 527. AcP 180 (1980), 1, 35. 263 Zur Funktion der Vertragsfreiheit Waren und Dienstleistungen dorthin zu leiten, wo sie benötigt werden, vgl. Medicus, Allgemeiner Teil des BGB9 Rn. 176; siehe dazu bereits unter Kapitel 2.B. 264 Siehe auch das altbekannte Beispiel des einzigen Fleischers in einem Bergdorf bei Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag 61 ff. Siehe auch oben Fn. 254. 261

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es nur ein Fahrschulunternehmen auf dem Markt gibt, oder alle Fahrschulunternehmer sich weigern, Frauen auszubilden, darf nicht von wesentlicher Bedeutung sein. Essenziell ist vielmehr, dass es in Folge der Vertragsverweigerung zu einer Funktionsstörung der Rechtsgeschäftsordnung kommt, die nicht vom Markt ausgeglichen wird. Maßgeblich ist daher nicht die konkrete Marktstellung des Vertragsverweigerers, sondern die Angewiesenheit des Vertragssuchenden.265 Im Falle von Monopolmissbrauch ist diese evident. Es sind aber, wie bereits angedeutet wurde, auch andere Konstellationen leicht denkbar. Darauf will wohl auch F. Bydlinski hinaus, wenn er festhält, dass der Begriff „Monopolstellung“ in einem höchst untechnischen Sinne zu verstehen sei.266 Die geforderte Marktmacht ergibt sich demnach wenig zweifelhaft aus dem Fehlen von Ausweichmöglichkeiten der Vertragsinteressenten.267 Woraus diese Alternativenlosigkeit de facto resultiert, ist irrelevant. Dies entspricht im Wesentlichen bereits den neueren Theorien zum Kontrahierungszwang und auch den bestehenden Tendenzen in der Judikatur in Deutschland.268 Fraglich bleibt, wann eine Störung der Befriedigungsfunktion der Rechtsgeschäftsordnung tatsächlich vorliegt. In anderen Worten, welcher Bedarf muss durch eine funktionierende Vertragsrechtsordnung gedeckt werden? Etwas überspitzt könnte man sich auch fragen, zu welchen Gütern und Dienstleistungen der Gesellschaft durch das Vertragsrecht der Zugang jedenfalls gesichert werden sollte? Nach F. Bydlinski ist auf den Normalbedarf abzustellen. Damit sei der Bedarf eines Menschen bei normaler Lebensführung gemeint. Güter und Dienstleistungen, die alltäglich sind und von Menschen regelmäßig konsumiert werden, müssten der Allgemeinheit auf Dauer zur Verfügung stehen. Eine Begrenzung auf lediglich lebensnotwendige Güter sei demnach zu eng. Diese Anforderung an das Vertragsrecht müsse von jedem Teilnehmer des Wirtschaftslebens akzeptiert werden. Von einer funktionierenden Wirtschaftsordnung könne schließlich erwartet werden, dass der Normalbedarf der Bevölkerung gedeckt werde.269 265 Vgl. Grunewald, AcP 182 (1982), 181, 194 ff. geht davon aus, dass es oft zu einer Verquickung einer bestimmten Marktsituation mit Kriterien der Angewiesenheit komme. Die Voraussetzungen eines Kontrahierungszwangs seien aber weitgehend unabhängig von bestehenden Marktstrukturen; Busche, Kontrahierungszwang und Privatautonomie 210 f. Dies bereits andeutend: Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung 35. 266 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35. 267 So treffend Basedow, Der Transportvertrag 206. Er geht davon aus, dass sich eine gewisse Marktmacht an den Ausweichmöglichkeiten des potentiellen Kunden erkennen lasse; vgl. Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 479 ff. 268 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 214 ff.; zur Entwicklung in der deutschen Lehre und Rechtsprechung ausführlich Grunewald, AcP 182 (1982), 181, 188 ff. In Hinblick auf Diskriminierungsverbote: Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 200 f. 269 AcP 180 (1980), 1, 35 ff.; ihm folgend Basedow, Der Transportvertrag 205 f.

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Ein Kontrahierungszwang müsse dennoch stets auf seine Kompatibilität mit den Grundsätzen des Privatrechts überprüft werden. Nicht für alle Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Güterordnung sei schließlich das Zivilrecht der richtige Schauplatz. Eine Abwägung, wann ein Kontrahierungszwang das adäquate Mittel ist und wann der Staat hoheitlich eingreifen muss, sei daher stets geboten. In manchen Fällen könne beispielsweise eine Enteignung das probatere Mittel zur Erhaltung einer Minimalfunktion der Güteraustauschordnung darstellen. Ausschlaggebend sei das öffentliche Anbieten von Gütern und Dienstleistungen. Zentrale Voraussetzung eines privatrechtlichen Korrektivs sei, dass ein Wille generell geäußert und zur Grundlage der Erwartungen der Öffentlichkeit gemacht wurde. Es würden daher durch einen Kontrahierungszwang nicht zentrale Prinzipien der Rechtsgeschäftsordnung, wie Privatautonomie und Vertrauensschutz, über Bord geworfen. Vielmehr komme es zu einer Ergänzung im Sinne der Funktionsvoraussetzungen der Privatautonomie.270 Ein Kontrahierungszwang setzt nach der referierten Ansicht voraus, dass ein Angebot öffentlich gemacht wird, dass die angebotenen Dienstleistungen oder Güter zur Deckung eines Normalbedarfs notwendig sind und zumutbare Ausweichmöglichkeiten fehlen. Zudem darf keine sachliche Rechtfertigung des Vertragsverweigerers vorliegen. In den aufgezeigten Grenzen sei der Kontrahierungszwang daher klar system- und prinzipienkonform.271 Die von F. Bydlinski herausgearbeiteten Voraussetzungen sind somit im Wesentlichen erstmals unabhängig von der konkreten Struktur des Marktes. Insbesondere kommt es nicht vorrangig auf das Vorliegen von Monopolen oder Kartellen an.272 Den Abschluss der Übersicht zum Meinungsstand bilden die Untersuchungen von Busche. Er setzte sich in jüngerer Zeit intensiv mit dem Zusammenspiel von Kontrahierungszwang und Privatautonomie auseinander.273 Zentral bei der Herausarbeitung der Voraussetzungen eines allgemeinen Kontrahierungszwangs erscheint ihm die Frage, wann ein solcher für die Funktionssicherung der Vertragsfreiheit notwendig oder zu deren Optimierung geboten ist. Bei einem allgemeinen Kontrahierungszwang gehe es der Sache nach gar nicht um die Suspendierung der Vertragsfreiheit, sondern um deren Funktionssicherung. Letztlich werde damit die Durchsetzung des Selbstbestimmungsprinzips gewährleistet.274 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 38 ff. F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 41; Basedow, Der Transportvertrag 206. 272 So Grunewald, AcP 182 (1982), 182, 191 f. mit einem Überblick über den Meinungsstand. 273 Die Monographie Busches „Kontrahierungszwang und Privatautonomie“ wird gerne als die modernste und dogmatisch anspruchsvollste Untersuchung des Kontrahierungszwangs seit F. Bydlinski bezeichnet: so etwa Zöllner, in: FS Bydlinski 517, 519. 274 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 124 ff.; vgl. F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 33 ff., 35, 39; so in Bezug auf die Funktionserhaltung des „marktwirtschaftlichen Systems“ L. Raiser, in: Kartelle und Monopole II, 523, 530, 532 ff.; Kilian, AcP 180 (1980), 57, 76. 270 271

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Ein Vertrag könne nur dann geschlossen werden, wenn sich die Parteien einigen. Der Vertragsinteressent sei jeweils darauf angewiesen, dass sein Interesse am Vertragsschluss im Interesse eines anderen Vertragsinteressenten eine Entsprechung finde.275 Es werde daher durch den Vertrag nur ein Rechtsgestaltungsinstrument zur Verfügung gestellt. Der Rechtsordnung komme allerdings die Aufgabe zu, die Funktionsfähigkeit der Vertragsfreiheit zu gewährleisten. Dies schließe es ein, unter gewissen Umständen Einzelnen die Möglichkeit zuzugestehen, die Befriedigung ihres Vertragsinteresses von anderen Rechtssubjekten zu fordern. Vor allem, wenn sich in der Vertragsverweigerung eine Abkehr von der Vertragsfreiheit als immanent gebundene Freiheit manifestiere, könne ein Kontrahierungszwang als Optimierungsinstrument eingreifen. 276 Im Fall einer noch näher zu erörternden qualifizierten Vertragsverweigerung ist ein Kontrahierungszwang demzufolge zur möglichst weitgehenden Realisierung der Zwecke der Vertragsfreiheit geboten. Eine Einschränkung der Vertragsbegründungsfreiheit des Verweigerers sei zunächst nur dann gerechtfertigt, wenn der Vertragsinteressent ein rechtlich geschütztes Interesse verfolgt. Es wird damit eine systemimmanente Grenze aufgezeigt. Klarerweise könne ein Kontrahierungszwang nicht angenommen werden, wenn das damit zu erfüllende Bedürfnis des Vertragssuchenden rechtswidrig oder gegen die guten Sitten verstoßend ist.277 Neben den ausdrücklichen gesetzlichen Schranken bestünden aber auch Grenzen, die sich aus der Vertragsfreiheit selbst ableiten ließen. Dabei sei ex ante betrachtet zu fragen, ob der Vertragsverweigerer nach normalen unternehmerischen Überlegungen mit dem Vertragsinteressenten kontrahiert hätte. Dies sei zu verneinen, wenn sich der Vertragssuchende von Anfang an unwillig zeigt, das Entgelt zu bezahlen oder wenn eine Verletzung der vertraglichen Nebenpflichten zu erwarten sei. Aus dem Funktionsprinzip des Vertrages ergebe sich daher, dass ein Kontrahierungszwang nur dann legitim sei, wenn der Vertragsinteressent gewillt und in der Lage sei, sich vertragstreu zu verhalten. Aus den Grundwertungen des Vertragsrechts lasse sich schließlich nicht entnehmen, dass ein Vertragspartner zu Lasten des anderen zu begünstigen sei.278 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 125. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 124 ff. Kritisch dazu: Zöllner, in: FS Bydlinski 517, 523 ff. 277 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 127 f. 278 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 129 ff. Ebenso F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35. Er sieht es als eine Voraussetzung für einen Kontrahierungszwang an, wenn unabhängig von normalen wirtschaftlichen Erwägungen der Vertrag abgelehnt werden könne und der Vertragsinteressent darauf angewiesen sei. Man habe daher zu überprüfen, ob eine Vertragsverweigerung unter Zugrundelegung normaler wirtschaftlicher Erwägungen der Aufgabe der Rechtsgeschäftsordnung, die Bedürfnisse der Menschen zu sichern, getroffen wurde. Ist dies nicht der Fall, müsse die negative Vertragsentscheidung korrigiert werden; ders., Der Gleichheitsgrundsatz im österreichischen Privatrecht 1.ÖJT I/1, 55. 275 276

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Die Abhängigkeit des Vertragsinteressenten ist nach Busche Dreh- und Angelpunkt eines allgemeinen Kontrahierungszwangs.279 Untersucht wird, wann ein Abschlusszwang zur Funktionssicherung der Vertragsfreiheit legitim ist. Den Ausgangspunkt bildet hierbei weniger ein konkreter Bedarf, der von der Vertragsrechtsordnung gesichert werden soll.280 Es wird stattdessen gefragt, ob der begünstigte Vertragsteil zur Befriedigung seines Leistungsinteresses auf den Vertragsschluss mit einem spezifischen Vertragspartner angewiesen ist. Dies sei bei Vorliegen von Ausweichmöglichkeiten regelmäßig zu verneinen.281 Wann die geforderte Abhängigkeit vorliegt, sei anhand einer Einzelfallprüfung zu eruieren. Dieser Ansatz empfehle sich, weil das Vertragsrecht auf die Befriedigung individueller Bedürfnisse zugeschnitten sei. Unterschieden werden sachliche, räumlich-zeitliche und konditionale Abhängigkeit.282 In sachlicher Hinsicht sei auf alternative Erfüllungsmöglichkeiten abzustellen. Besteht ein vollkommen gleiches oder aus der Perspektive des Vertragsinteressenten gleichwertiges Angebot, ist nicht von einer hinreichenden Angewiesenheit auszugehen.283 Ist demnach dieselbe Ware bei einem anderen Anbieter zugänglich oder wird das verfolgte Vertragsinteresse durch eine andere Ware gleichermaßen befriedigt, scheidet ein Kontrahierungszwang aus. Dabei müsse aber der räumlich-zeitlichen Dimension ebenfalls Beachtung geschenkt werden. Könne ein Vertragsinteressent bei Verweigerung auch auf räumlich entfernte Anbieter umsteigen, sei keine räumliche Abhängigkeit anzunehmen. Ob dem so sei, müsse ebenfalls anhand des Einzelfalls geprüft werden. Eine Ausweichmöglichkeit auf geographisch entfernte Vertragspartner sei grundsätzlich umso weniger anzunehmen, je bedeutsamer das gefragte Gut für den Vertragsinteressenten sei. Handele es sich um lebensnotwendige Güter, sei auch die Zeitspanne, binnen derer diese erlangt werden müssen, ins Kalkül zu ziehen. Bei Luxusgütern spielten lange Beschaffungszeiträume hingegen eine eher untergeordnete Rolle. Ist eine Bringschuld oder eine Versendung üblich, so sei die zeitliche Komponente von besonderer Bedeutung, hingegen sei die räumliche Dimension klarerweise zu vernachlässigen.284 Die größten Schwierigkeiten ergeben sich indes bei der Bestimmung der konditionalen Abhängigkeit. Es sollen dabei die verschiedenen relevanten Faktoren bei der Vertragserfüllung verglichen werden. Im Vordergrund stehen vor 279 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 131; vgl. F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35; Grunewald, AcP 182 (1982), 181, 194 ff.; a.A. in Hinblick auf ethnische Diskriminierung Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 427 ff. 280 Dazu vgl., wie eben referiert: F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35 ff. 281 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 131; einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Basedow, Der Transportvertrag 206. 282 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 131 ff. 283 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 131. Anders: F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35 ff. stellt hingegen objektivierend auf den Normalbedarf ab. 284 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 131 f.

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allem Verkaufsmodalitäten und der Preis. Nach der Meinung Busches spielt bei dieser Betrachtungsweise eine Vielzahl an Wertungen eine Rolle. So müssten beispielsweise von Fall zu Fall unterschiedliche Transport- oder Informationskosten individuell errechnet werden. Es verbiete sich eine vom Begehren des Vertragsinteressenten losgelöste Generalisierung. Ausschlaggebend soll das Kriterium der Nutzenmaximierung sein. Erscheine dem Nachfrager das ursprünglich gewünschte Gut im Verhältnis zur aufzubringenden Gegenleistung derart gering, dass er die ursprüngliche Präferenz zugunsten der Befriedigung eines anderen Bedürfnisses aufgebe, handle es sich nicht um ein alternatives Angebot.285 Zusammenfassend ist daher nach Busche von einer Abhängigkeit des Vertragsinteressenten auszugehen, wenn es an zureichenden Ausweichmöglichkeiten fehlt. Dazu muss es an Alternativen in sachlicher, räumlich-zeitlicher und konditionaler Hinsicht fehlen. Die größte Bedeutung kommt dabei der Feststellung einer sachlichen Ausweichmöglichkeit zu. Aussagen über die räumlichzeitliche Komponente können ohne sie gar nicht getroffen werden. Eine konditionale Abhängigkeit liegt auf einem kompetitiven Markt hingegen eher selten vor, weil derart prohibitive Preisunterschiede kaum die Regel sein werden.286 Bei der Konkretisierung des Kriteriums der Angewiesenheit wird einer der Unterschiede zwischen der von Busche und jener von F. Bydlinski vertretenen Ansicht deutlich. F. Bydlinski stellt auf den Normalbedarf ab.287 Nach Busche geht es hingegen um die vollständige Verweigerung des nachgefragten Gutes. Ausschlaggebend ist, ob für das individuelle Vertragsinteresse keine Ausweichmöglichkeiten bestehen.288 Dabei werden unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund gerückt. Situationsbezogen erweist sich daher der eine oder der andere Ansatz als weitreichender.289 Das liegt an den unterschiedlichen Legitimationsmustern für einen allgemeinen Kontrahierungszwang. Busche fokussiert auf die Funktionsfähigkeit der Vertragsfreiheit. Es geht darum, in welchen Konstellationen in der negativen Vertragsentscheidung ein Missbrauch derselben zu sehen ist.290 F. Bydlinski hingegen rückt die allgemeine Versorgungsfunktion der Rechtsgeschäftsordnung in den Mittelpunkt.291 Auf der einen Seite soll vor allem verhindert werden, dass jedes erdenkliche Bedürfnis durch die Vertragsrechtsordnung geschützt werden muss. Diese müsse „nur“ den Nor-

Privatautonomie und Kontrahierungszwang 135 f. Privatautonomie und Kontrahierungszwang 136. 287  Dahingehend Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 169. 288 Privatautonomie und Kontrahierungszwang 131 ff. 289 A.A. ist allerdings Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 169, der seine Konstruktion als die weniger weitreichende bezeichnet. 290 Privatautonomie und Kontrahierungszwang 124 ff. 291 AcP 180 (1980), 1, 35 ff. 285 286

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malbedarf sichern.292 Das könnte, verglichen mit einer Einzelfallprüfung anhand des individuellen Vertragsinteresses, als Einschränkung verstanden werden. So wie F. Bydlinski bezieht auch Busche Eigenschaften auf Seiten des Vertragsverweigerers mit in seine Bewertung ein. Es sei mit der Privatautonomie nicht vereinbar, Personen, die in keiner Beziehung abschlusswillig seien, einen Kontrahierungszwang aufzuerlegen.293 Eine grundsätzliche „Vertragsneignung“ manifestiere sich durch den Abschluss gleichartiger Verträge mit anderen Vertragspartnern, Werbung oder den Abbruch bereits aufgenommener Vertragsverhandlungen.294 Es können einem Kontrahierungszwang natürliche Grenzen gesetzt sein. Diese werden durch die Leistungsfähigkeit des Anbieters gebildet. Dieser habe daher regelmäßig nur aus seinem vorhandenen Leistungsreservoir zu erfüllen – es sei denn, er lasse eine weitere Leistungsbereitschaft erkennen.295 Busche stellt den allgemeinen Kontrahierungszwang nicht als legitime Einschränkung der Vertragsfreiheit dar, sondern geht davon aus, dass ein solcher unter beschriebenen Voraussetzungen zur Funktionssicherung der Vertragsfreiheit geboten sei.296 Anhand der ausgewählten Autoren konnte die Entwicklung des Kontrahierungszwangs und seines Verhältnisses zur Privatautonomie seit Beginn des letzten Jahrhunderts skizziert werden. Trotz bestehender Divergenzen lassen sich auch wesentliche Gemeinsamkeiten aufzeigen. Die einzelnen Ansichten stehen miteinander nicht grundsätzlich im Widerspruch, vielmehr lag ihr Fokus auf unterschiedlichen Aspekten. Sie ergänzen einander daher in mancherlei Hinsicht. Es lässt sich eine deutliche Tendenz dahingehend ausmachen, dass neuere Konzepte in einem Kontrahierungszwang ein funktions- und freiheitssicherndes Optimierungsinstrument und weniger ein notwendiges Übel zur Systemerhaltung297 sehen.298 Einigkeit besteht darüber, dass sich ein Kontrahierungszwang mit den Grundsätzen der Privatautonomie im Einklang befinden kann. Relevanter Anknüpfungspunkt ist dabei stets eine gewisse Funktionsstörung der Vertragsfreiheit oder der Rechtsgeschäftsordnung.299 Bei Nipperdey ergibt sich diese aus dem Missbrauch einer starken Marktmacht bzw. einer Monopolstellung.300 Sein F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35 ff. Privatautonomie und Kontrahierungszwang 136 f.; AcP 180 (1980), 1, 38. 294 Davon bestehen jedoch Ausnahmen in existenziellen Notsituationen. Vgl. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 296. 295 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 139. 296 Privatautonomie und Kontrahierungszwang 139 ff.; dazu kritisch Zöllner, in: FS Bydlinski 517, 524 ff. 297 Dahingehend noch Grunewald, AcP 182 (1982), 181, 186. 298 Zu diesem Befund kommt auch Zöllner, in: FS Bydlinski 517, 520. 299 Zur Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichts vgl. Kilian, AcP 180 (1980), 47, 57 f.; F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35; L. Raiser, in: Kartelle und Monopole im modernen Recht II, 523, 530, 532 ff.; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 124 ff. 300 Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag 61. 292 293

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Konzept wurde maßgeblich weiterentwickelt. Anzumerken ist allerdings, dass schon frühzeitig, wenn von Monopolstellung die Rede war, nicht von einem Monopol im technischen Sinne auszugehen war.301 Dem Grunde nach ergibt sich die monopolgleiche Machtstellung aus der Abhängigkeit des Vertragssuchenden.302 Ist der Vertragssuchende auf einen am öffentlichen Markt auftretenden Anbieter angewiesen und verweigert dieser ihm den Vertragsabschluss, kommt es zu einer Störung der wesentlichen Funktion der Vertragsfreiheit. Sie verliert dadurch ihre Leistungsfähigkeit, Güter und Dienstleistungen eben dorthin zu schaffen, wo sie benötigt werden.303 Ebenso kann in der verweigernden Haltung ein Missbrauch der Vertragsfreiheit gesehen werden.304 In dieser Situation trifft die Annahme, dass auf einem freien Markt jedenfalls ein potentieller Vertragspartner existiert, der auch bereit ist zu kontrahieren, nicht mehr zu. Die Motivation für das Schaffen eines Teilhabedefizits ist in der Sache bedeutungslos. Um der eingetretenen Funktionsstörung entgegenzuwirken ist, im Sinne der herrschenden Ansicht, ein Kontrahierungszwang gerechtfertigt. Dieser ist nicht allein als Eingriff in die Privatautonomie zu verstehen, sondern dient im Prinzip ihrer Optimierung.305 Zusammenfassend ist ein Kontrahierungszwang im Allgemeinen dann gerechtfertigt, wenn zum einen Waren und Dienstleistungen öffentlich angeboten werden306 und zum anderen eine individuell zu bestimmende Abhängigkeit des Vertragssuchenden307 zur Deckung eines Bedarfes besteht308. Der Vertragsverweigerer muss des Weiteren grundsätzlich leistungsfähig sein. Der Vertragsinteressent andererseits muss ein rechtlich geschütztes Interesse verfolgen und darf sich nicht schon im Vorhinein leistungsunwillig zeigen.309 Hervorzuheben ist, dass klarerweise auch in den beschriebenen Konstellationen die Vertragsverweigerung sachlich gerechtfertigt sein kann.310

F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 162 ff. 302 Vgl. Basedow, Der Transportvertrag 206; ausführlich zur Lehre vom Monopolmissbrauch: Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 162 ff. 303 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35 nennt es eine zentrale Funktion der Rechtsgeschäftsordnung. Siehe dazu des Weiteren: Medicus, Allgemeiner Teil des BGB9 Rn. 176; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit 297 ff. Siehe auch unter Kapitel 2.B. 304 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 124 ff. 305 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 139 ff. 306 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 38; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 136 ff. stellt auf die Vertragsgeneigtheit ab. Eine sehr treffende Zusammenfassung der Kriterien, die zur Konstruktion eines allgemeinen Kontrahierungszwangs vorliegen müssen, findet sich unter Berufung auf F. Bydlinski bei Basedow, Der Transportvertrag 206. 307 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 131. 308 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35. 309 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 139, 127 ff. 310 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 41 ff. 301

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Die Gegebenheit, unter der ein allgemeiner Kontrahierungszwang zulässig und geboten ist, wird daher treffend als qualifizierte Vertragsverweigerung umschrieben.311 4. Allgemeiner Kontrahierungszwang bei Diskriminierung Nachdem die Grundvoraussetzungen eines allgemeinen Kontrahierungszwangs erörtert wurden, gilt es zu klären, ob bei Diskriminierung aufgrund der Rasse oder des Geschlechts eine vergleichbare Situation besteht. Die Frage ist von jener, ob sich aus den europarechtlich determinierten Diskriminierungsverboten und ihren Rechtsfolgen ein Vertragsabschlusszwang ableiten lässt, zu trennen. Dabei würde es sich um einen besonderen Kontrahierungszwang handeln, der an anderer Stelle thematisiert wird.312 Es soll zunächst einzig untersucht werden, ob sich in einer gesellschaftlich verpönten Ungleichbehandlungssituation nicht bereits aus den Wertungen der Vertragsrechtsordnung bzw. zur Sicherung der Vertragsfreiheit ein Kontrahierungszwang konstruieren lässt.313 Ist ein Vertragsabschlusszwang bei Diskriminierung folglich zur Optimierung der Vertragsfreiheit geboten? Handelt es sich bei einer rassistisch oder einer sexistisch motivierten Vertragsverweigerung um eine qualifizierte Vertragsverweigerung? Die Aufgabenstellung mutet zugegebenermaßen etwas abstrakt an. Trifft allerdings die Annahme zu, dass bei einer Situation, in der aus verpönten Motiven diskriminiert wird, bereits die strukturellen Voraussetzungen eines Kontrahierungszwangs vorliegen, wäre dies für die weitere Untersuchung ein richtungsweisendes Ergebnis. Zudem wird diese Problemstellung seitens der Lehre uneinheitlich gelöst.314 Betrachtet man die europarechtliche Dimension, müsste man sich bei einer Bejahung in der Folge fragen, ob ein allgemeiner Kontrahierungszwang bei Diskriminierung die Anforderungen einer effektiven, verhältnismäßigen und So Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 127. Siehe zur Terminologie Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 117. 313 Die zum allgemeinen Kontrahierungszwang bestehenden Literaturmeinungen legitimieren diesen zwar im Detail verschieden. Die Voraussetzungen sind jedoch nur geringfügig unterschiedlich bzw. ergänzen einander. Ausgangspunkt und Zweck sind sich sehr ähnlich. Es wird daher hier nicht zwischen den unterschiedlichen Konzepten differenziert. Dies führt zwar unter Umständen zu Unschärfe im Detail, ist allerdings in der Sache sinnvoll, da damit insbesondere bezüglich des Kriteriums der Angewiesenheit auf umfassendere Abgrenzungen bzw. Voraussetzungen abgestellt werden kann. Vgl. 3. zu den unterschiedlichen Begründungen von Busche und F. Bydlinski. 314 Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 427 plädiert bei ethnischer Diskriminierung für einen, sich aus der Generalklausel der guten Sitten ergebenden, Kontrahierungszwang, der für alle Personen gelte und folglich unabhängig von einer bestehenden Marktmacht sei. Siehe dazu auch Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 468 ff.; a.A. F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 f., Fn. 69; vgl. auch Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 168 ff. 311

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abschreckenden Sanktion darstellt. Wäre dem nicht so, bedürfte es einer unmissverständlichen gesetzlichen Klarstellung, dass ein Vertragsabschlusszwang als Sanktion nicht intendiert ist.315 Unklar wäre zudem, ob ein erzwungener Vertrag nicht grundsätzlich bereits den Zielen der Europäischen Diskriminierungsverbote zuwiderlaufen würde. Des Weiteren wäre der nationale Gesetzgeber wohl dazu angehalten, den Kontrahierungszwang, so er europarechtskonform wäre, transparent auszugestalten.316 Es steht nicht zur Debatte, dass Sachverhalte existieren, in denen eine diskriminierte Person kaum an Geldersatz interessiert sein wird, sei es, weil es sich bei dem begehrten Gut um ein subjektiv besonders wertvolles handelt oder weil die verweigerte Dienstleistung, beispielsweise der Einlass in ein Restaurant, aus Prinzip in Anspruch genommen werden soll.317 Damit ist aber weder für die Frage, ob es sich dabei dem Grundsatz nach um eine effektive Sanktion von Diskriminierung handelt, noch, ob ein allgemeiner Kontrahierungszwang 315 Vgl. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 287 ff. zu § 611a BGB: Dieser sah eben keinen Kontrahierungszwang, sondern lediglich den Ersatz des ideellen Schadens vor. Daraus könnte eine materielle Sperrwirkung zur Ableitung eines allgemeinen Kontrahierungszwangs folgen. Bei § 611a BGB lag eine solche Sperrwirkung jedoch nicht vor, weil er darauf abzielte, allein die Persönlichkeitsrechtsverletzung, die mit einer Diskriminierung einhergeht, zu kompensieren. Die Anwendung der darüberhinausgehenden allgemeineren Normen, aus denen ein Kontrahierungszwang ableitbar sei, schließe dies, so Busche, nicht aus. 316 Das Spannungsverhältnis eines allgemeinen Kontrahierungszwangs zum europarechtlichen Transparenzgebot lässt sich an einem Beispiel demonstrieren. Es entspricht der h.A. in Deutschland, dass ein allgemeiner Kontrahierungszwang im Anspruchssystem des BGB vor allem in der Gute-Sitten-Klausel des § 826 BGB seine Verankerung findet. Liegt eine qualifizierte Vertragsverweigerung vor, sei dies sittenwidrig und man gelange durch den daraus resultierenden Schadensersatzanspruch bzw. einen quasinegatorischen Beseitigungsanspruch zu einem Vertragsabschlusszwang. Siehe dazu: Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag 61; vgl. F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 29 ff. Evidentermaßen würde sich eine solche Konstruktion als Sanktion im Zusammenhang mit der Verletzung Europäischer Diskriminierungsverbote mit dem unionsrechtlichen Transparenzgebot in einem problematischen Verhältnis befinden. Zum Transparenzgebot siehe: Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht 9 ff.; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 207 ff., 222 ff., 228 ff.; B.V. 317 Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 427; vgl. auch F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 f., Fn. 69. Grundsätzlich entspreche es in Diskriminierungsfällen keinesfalls einer querulatorischen Haltung, gerade den verweigerten Vertragsschluss zu fordern. Dies sei daher auch in Fällen, in denen keine Angewiesenheit vorliege, verständlich. Bestehe ein gewisser Grad der Herabwürdigung, sei eine derartige Vertragsverweigerung sicherlich auch sittenwidrig. F. Bydlinski gelangt allerdings dennoch zum Ergebnis, dass ein Abschlusszwang nur nach den von ihm dargestellten Kriterien zulässig sei. Vor allem komme es demnach auf die Angewiesenheit zur Deckung des Normalbedarfs an. Er begründet dies allerdings hauptsächlich damit, dass ein Kontrahierungszwang nicht den schutzwürdigen Interessen des Diskriminierten entsprechen würde. Ähnliche Argumentationsmuster finden sich hinsichtlich eines speziellen Kontrahierungszwangs. Dazu weiter unten. Kritisch dazu Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 731: Wer so argumentiere tappe, wenn auch unbewusst, in „die paternalistische Falle“.

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besteht, etwas gewonnen. Gegenständlich geht es vielmehr darum, ob die Erfüllung dieses natürlichen und unter Umständen auch berechtigten Anliegens zur Funktionssicherung der Vertragsfreiheit bzw. der Vertragsrechtsordnung geboten ist. Dabei sollte auf die Angewiesenheit des Diskriminierungsopfers im Einzelfall abgestellt werden. Zwar wird in diesem Zusammenhang vorgebracht, dass insbesondere eine rassistisch motivierte Vertragsverweigerung für sich genommen bereits eine besonders qualifizierte Form der Zurückweisung darstelle und ein Kontrahierungszwang daher gerechtfertigt sei. Die diskriminierte Person müsse sich eben nicht abweisen lassen.318 Dieses, in der Sache richtige, Argument stellt allerdings einen anderen Aspekt des Diskriminierungsschutzes in den Vordergrund. Es geht hierbei um den Schutz der Würde des Menschen, nicht um die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Vertragsfreiheit. Für den Schutz der Privatautonomie ist, wie bereits erwähnt wurde, das Motiv der Vertragsverweigerung an sich gleichgültig. Es kommt lediglich darauf an, dass die Vertragsfreiheit ihre Funktion nicht mehr erfüllen kann. Nach den allgemeinen vertragsrechtlichen Wertungen besteht ein Kontrahierungszwang eben nur dann, wenn das rechtmäßige Vertragsinteresse ohne Abschluss des Rechtsgeschäfts ansonsten nicht befriedigt würde.319 Es kann daher durchaus ein Kontrahierungszwang in Diskriminierungsfällen bestehen, allerdings ist dies unabhängig von den Motiven und dem Grad der gesellschaftlichen Verwerflichkeit. Dieser ergibt sich rein aus der beschriebenen Störung der essenziellen Funktion der Vertragsfreiheit, Güter und Dienstleistungen dorthin zu bewegen, wo sie gebraucht werden.320 Ein allgemeiner vertragsfreiheitssichernder Kontrahierungszwang besteht daher nicht grundsätzlich in jeder Diskriminierungssituation.321 Damit ist zumindest gesagt, dass eine Wertung des innerstaatlichen Rechts, die einen Kontrahierungszwang bei Diskriminierung grundsätzlich ausschließt, wohl nicht unionsrechtskonform wäre. Eine solche würde sich nicht mit der teilhaberechtlichen Komponente von Diskriminierungsverboten vereinbaren lassen. Zudem würde sich eine derartige Entscheidung des Gesetzgebers im Widerspruch zu den Grundsätzen der Privatrechtsordnung, auf denen der allgemeine Kontrahierungszwang aufbaut, befinden. Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 429 ff. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 289, stellt fest, dass nicht bei jeder Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ein Kontrahierungszwang bestehe. Die Rechtsordnung schütze die positive Vertragsbegründungsfreiheit des Vertragsinteressenten nicht im selben Maße wie die Persönlichkeit als solche; ders., in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 168 ff. 320 Im Wesentlichen zur Herleitung eines allgemeinen Kontrahierungszwangs wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts: Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 214 ff.; vgl. F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35 ff. 321 Vgl. Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 168 ff. 318 319

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Durch die mit der unionsrechtlichen Umsetzungsverpflichtung einhergehende legislative Wertung ist die Situation zumindest bei rassistischer und sexistischer Diskriminierung eine andere. Es bestehen spezielle Kompensationsnormen, die in Österreich und Deutschland einen höheren Standard als beim Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts statuieren. Mit der Frage, ob sich aus den Antidiskriminierungsrichtlinien und den dahinter stehenden Wertungen ein besonderer Kontrahierungszwang ableiten lässt, wird sich das folgende Kapitel auseinandersetzen. 5. Besonderer Kontrahierungszwang bei Diskriminierung Die Antidiskriminierungsrichtlinien fordern effektive, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen bei einem Verstoß gegen Diskriminierungsverbote. Hauptsächlich werden daher in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Schadensersatzansprüche der Diskriminierungsopfer vorgesehen.322 Das ist wohl zumindest bezüglich der Unisex-RL ohnehin auch unionsrechtlich geboten.323 Es konnten zentrale Anforderungen eines haftpflichtrechtlichen Sanktionsinstruments entsprechend den unionsrechtlichen Standards gezeigt werden. Vor allem ist der immaterielle Schaden jedenfalls zu ersetzen. Des Weiteren darf ein Schadensersatzanspruch nicht vom Verschulden des Diskriminierungstäters abhängig gemacht werden.324 Diese Voraussetzungen hängen wesentlich mit der Funktion und den Zielen des europäischen Diskriminierungsschutzes zusammen. Im Sinne des Transparenzgebots empfiehlt es sich, einen speziellen Legislativakt zu schaffen. Diese Vorschriften könnten zum Anknüpfungspunkt für einen besonderen oder spezialgesetzlich motivierten Kontrahierungszwang genommen werden. Die Vermutung liegt daher nahe, dass aufgrund der unionsrechtlich determinierten Rechtsfolgen der Diskriminierungsverbote ein besonderer Kontrahierungszwang eingreift.325 Vielfach dienen allgemeine Normen, die einen Schadensersatzanspruch an die Verletzung eines Schutzgesetzes knüpfen, als Einfallstor für besondere Vertragsabschlusspflichten.326 Eines derartigen Umweges bedarf es bei richtlinienkonformer Umsetzung der Diskriminierungsverbote gerade nicht. Der Anspruch auf Schadensersatz bzw. Folgenbeseitigung wird nämlich – wie bereits gezeigt 322 Schmidt-Kessel, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 53, 54; Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz 11 ff. 323 Wagner, AcP 206 (2006), 352, 400 f; Adomeit/Mohr/Adomeit, Kommentar zum AGG2 § 21 Rn. 3; Schiek/Schiek, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz § 21 Rn. 2. 324 Siehe dazu C.I. Weiters EuGH 22.04.1997 Rs. C-180/95 (Draehmpaehl) Rn. 22 ff. 325 Vgl. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 286. 326 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 219, 291 f. Das wäre in Hinblick auf das europarechtliche Transparenzgebot problematisch. Die Ansicht stammt aus der Zeit vor Erlassung der europäischen Diskriminierungsverbote.

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wurde – in den meisten Mitgliedstaaten spezialgesetzlich vorgesehen werden müssen.327 Um Missverständnissen vorzubeugen, wird in gebotener Kürze auf das Anspruchsgrundlagenproblem bei der Herleitung eines Kontrahierungszwangs eingegangen. Dabei handelt es sich um einen Problemkreis des innerstaatlichen – vor allem des deutschen – Rechts. Die diesbezügliche Diskussion wird sehr stark von der konkreten Form der nationalen Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben präjudiziert. Nicht zuletzt spielt die vorherrschende Doktrin zum Kontrahierungszwang eine prägende Rolle.328 An dieser Stelle soll nur geklärt werden, ob sich bereits aus dem unionsrechtlichen Antidiskriminierungsprogramm die Pflicht zum Vertragsabschluss ergeben könnte. Die korrekte Herleitung einer derartigen Verpflichtung auf nationalrechtlicher Ebene steht somit keineswegs im Vordergrund. Es ist allgemein anerkannt, dass sich ein Kontrahierungszwang aus schadensersatzrechtlichen Normen ableiten lässt. Das gilt insbesondere für die Gute-Sitten-Klausel des § 826 BGB oder § 1295 Abs. 2 ABGB, aber auch für sonstige Schutzgesetze. Umstritten ist, ob es sich dabei um Schadensersatzansprüche, die dem Grundsatz der Naturalrestitution folgen, oder Beseitigungsansprüche handelt.329 Den Einstieg in die Diskussion bildet die häufig kritisierte Hypothese, dass sich aus der Verpflichtung zum Naturalersatz ein Kontrahierungszwang ableiten lässt.330 Ausgangspunkt ist einerseits ein Verständnis, das in der Vertragsver327 Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 172 sieht im Entwurf des § 21 Abs. 2 ADG eine solche Rechtsfolgenorm, die unter gesetzlich umschriebenen Voraussetzungen einen besonderen Kontrahierungszwang über einen Anspruch auf Schadensersatz bzw. Folgenbeseitigung vermittele. Anders als durch spezialgesetzliche Umsetzung ließe sich in den meisten Mitgliedstaaten m.E. kein unionsrechtskonformer Zustand schaffen. Das bedeutet nicht, dass es eines besonderen Gleichbehandlungsgesetzes bedurft hätte. Der Ort, an dem die Antidiskriminierungsnormen eingefügt werden, sei es in einem eigenen Gesetz oder in ein bereits bestehendes integriert, bleibt dem nationalen Gesetzgeber überlassen. 328 Das zeigt sich an der in Deutschland geführten Debatte, ob sich aus § 21 Abs. 1 Satz 1 AGG die Pflicht zum Vertragsschluss ableiten lässt. „Der Benachteiligte kann bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot unbeschadet weiterer Ansprüche die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen“. Aus diesem Beseitigungsanspruch wird von Teilen der Lehre ein Kontrahierungszwang abgeleitet. Siehe dazu: MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 17 ff. Bei einem normierten Beseitigungsanspruch liege die Herleitung eines Kontrahierungszwangs noch näher als bei einem bloßen Schadensersatzanspruch. Siehe auch Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 726 ff. 329 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 10 f.: „Allgemeingut in Judikatur und Wissenschaft ist heute nämlich die Auffassung, daß aus (deliktischen) Schadensersatznormen ein Kontrahierungszwang abgeleitet werden kann“; vgl. auch Rummel/Rummel, ABGB3 § 861 Rz. 10 zum Meinungsstand in Österreich; auch Kletečka/Schauer/Wiebe, ABGB-ON 1.00 § 861 Rz. 26 ff. Siehe ebenso Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens 57. 330 Dies wird häufig angenommen und stellt eine mehr als beachtliche Lehrmeinung dar. So beispielsweise jüngst Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil6 Rn. 56; Medicus, Schuldrecht Allgemeiner Teil17 Rn. 85.

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weigerung noch keinen Schaden, sondern lediglich eine vage Chance auf Vertragsschluss in der Zukunft sieht.331 Andererseits geht man davon aus, dass Naturalrestitution gar nicht zum Vertragsschluss führen würde. Denke man sich das schadensstiftende Ereignis weg, so führe dies nicht ohne weiteres zum angestrebten Vertragsschluss. Ohne die Vertragsverweigerung bestehe vielmehr ein vertragsloser Zustand.332 Die herrschende Ansicht in der Literatur geht daher davon aus, dass es sich beim Kontrahierungszwang nicht um einen Anwendungsfall der Naturalrestitution im klassischen Sinn, sondern um einen der sogenannten Naturalprästation handle.333 Es gehe ähnlich wie bei einem vorbeugenden Unterlassungsanspruch um präventiven Schutz von Rechtsgütern. Beim Kontrahierungszwang soll klarerweise nichts unterlassen werden, es besteht die Pflicht zur Vornahme einer positiven Handlung. Frei nach dem Grundsatz „Vorbeugen ist besser als Heilen“ sei eine derartige präventive Handlungsklage anzuerkennen. Voraussetzung müsse sein, dass durch die Unterlassung einer positiven Handlungspflicht ein Schaden mit hoher Wahrscheinlichkeit drohe.334 Diese Auffassung stößt in Deutschland auf wachsende Opposition. Allen voran Busche vertritt, dass es gar nicht um präventiven Rechtsschutz oder Widergutmachung gehen könne. Der Kontrahierungszwang sei die Reaktion der Vertragsrechtsordnung auf die missbräuchliche Verwendung der Vertragsfreiheit. Es gehe um die in die Zukunft gerichtete Beseitigung einer funktionswidrigen Hemmung des Vertragsprozesses durch den Verweigerer. Die Verpflichtung zum Schadensersatz, aber vor allem die dadurch gebotene Naturalrestitution, trage daher einen Kontrahierungszwang als Rechtsfolge im Prinzip nicht.335 Der Kontrahierungszwang sei daher als quasinegatorischer Abwehranspruch zu qualifizieren. Zur Herleitung eines derartigen Unterlassungs- oder Beseitigungsanspruchs rekurriert die deutsche Lehre Großteils auf die actio negatoria in § 1004 BGB, eine Bestimmung, die an sich vor Eigentumsbeeinträchtigungen schützen soll. Rechtsprechung und Lehre haben daraus allerdings einen Beispielsweise Larenz, Schuldrecht/I14, 43 ff. Vgl. dazu F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 11, der allerdings weiter differenziert. Mit einer Übersicht zum Meinungsstand und a.A. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 220 ff. 332 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 223 f.; Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung 35; F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 13; Ehrenzweig/Mayrhofer, Schuldrecht Allgemeiner Teil3, 159. 333 Die Ansicht geht weitgehend auf Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag 96, 99 zurück. Diesem folgt auch F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 13; vgl. MüKoBGB/Busche, I6 Vor § 145 Rn. 20 weist diese Meinung klar als herrschend aus. Des Weiteren bietet er einen Überblick über die unterschiedlichen Begründungsmuster. Busche selbst ist a.A. 334 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 13. 335 Privatautonomie und Kontrahierungszwang 220 ff.; Kilian, AcP 180 (1980), 47, 82; den Versuch einer vermittelnden Position unternimmt wohl Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 428 auch unter Berufung auf Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag 96, 99; a.A. dem Grundsatz nach F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 10 ff. 331

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negatorischen Rechtsschutz, auch für andere im Deliktsrecht geschützte und sonstige absolute Rechtsgüter, entwickelt.336 In Österreich ist die Situation etwas anders.337 Es sei allerdings sinngemäß zur Begründung eines allgemeinen Kontrahierungszwangs an eine vorbeugende Unterlassungsklage, gestützt auf das Verbot der sittenwidrigen Schädigung durch Unterlassung, zu denken.338 Die Diskussion um mögliche Herleitungen eines allgemeinen und auch eines besonderen Kontrahierungszwangs ist wesentlich von der tatsächlichen nationalen Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben geprägt. Das kann am Beispiel des § 21 AGG gezeigt werden. Es handelt sich dabei um die Sanktionsnorm bei Verletzung des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots in Deutschland. Die Bestimmung sieht unter anderem in Abs. 1 Satz 1 einen Beseitigungsanspruch vor: „Der Benachteiligte kann bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot unbeschadet weiterer Ansprüche die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen.“ Daraus wird von Seiten der Doktrin vermehrt auf einen Kontrahierungszwang geschlossen. Bestehe die Diskriminierung im verweigerten Vertragsschluss und sei ein solcher immer noch möglich, sei der Beseitigungsanspruch zwangsläufig auf Abschluss des betreffenden Vertrags gerichtet. Man könnte es auch so formulieren: Der actus contrarius zur Vertragsverweigerung ist der Vertragsschluss.339 Diese Lösung wäre somit ganz im Sinne der neueren Tendenzen der Herleitung eines Kontrahierungszwangs als quasinegatorischer Abwehranspruch.340 Einen weiteren relativierenden Aspekt wirft Bezzenberger auf. In jeder deliktsrechtlichen Norm, die zum Schadensersatz verpflichtet, sei ein Anspruch auf Schutz vor Eingriffen in die geschützte Position zu sehen.341 Im Ergebnis würde sich wohl aus einer schadensersatzrechtlichen Sanktion, egal auf welchem Weg, grundsätzlich ein Kontrahierungszwang ableiten lassen.342 Die sehr breit geführte akademische Debatte über die rechtstechnische Konstruktion des Kontrahierungszwangs verstellt den Blick auf – im gegebenen Zur genauen Herleitung und der dogmatischen Einordnung des Abwehranspruches: Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 225 ff.; MüKoBGB/Baldus, VI5 § 1004 Rn. 14 ff. 337 Siehe Rummel/Rummel, ABGB3 § 859 Rz. 5 ff.; MüKoBGB/Baldus, VI5 § 1004 Rn. 14 ff. In Österreich ist die Rechtsprechung den Entwicklungen der deutschen actio quasinegatoria bisher nicht gefolgt. 338 So Rummel/Rummel, ABGB3 § 861 Rz. 10. Unterlassungspflichten können sich aus besonderen Verhaltensnormen bzw. Verbotsnormen ergeben; vgl. dazu auch Rummel/Rummel, ABGB3§ 859 Rz. 5. 339 MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 17 f.; Schiek/Schiek, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz § 21, Rn. 8; Wendt/Schäfer, JuS 2009, 206, 209. 340 Siehe dazu: Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 230 ff. 341 AcP 196 (1996), 395, 428 f. 342 Vgl. Armbrüster, NJW 2007, 1494, 1497, der sich gegen den „gekünstelten“ Weg der Naturalrestitution und für einen quasinegatorischen Folgenbeseitigungsanspruch als Konstruktion ausspricht; vgl. Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 306 ff. 336

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Kontext – Wesentlicheres: Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob sich aus den unionsrechtlichen Vorgaben ein Kontrahierungszwang bei verbotener Diskriminierung ableiten lässt, ist es von untergeordneter Bedeutung, wie sich ein solcher rechtstechnisch in der nationalen Rechtsordnung verankern lässt. Ob nun aus der Anordnung eines spezialgesetzlichen Schadensersatzanspruches verbunden mit dem Gedanken der Naturalrestitution (oder Naturalprästation) oder über einen quasinegatorischen Abwehranspruch ein Vertragsabschlusszwang erreicht wird, ist aus europarechtlicher Perspektive klarerweise gar nicht sinnvoll zu beantworten.343 Gewinnbringender ist es, eine Ebene höher anzusetzen. Abstrahiert von der nationalen Umsetzung kann es zu einem besonderen Kontrahierungszwang jedenfalls nur dann kommen, wenn dies dem Schutzzweck der Europäischen Diskriminierungsverbote entspricht.344 Es ist daher zu fragen, ob es Sinn und Zweck der Diskriminierungsverbote sein kann, den Vertragsschluss gegen den Willen des Diskriminierenden zu ermöglichen. Dafür ist auf die Funktionen der Europäischen Diskriminierungsverbote, die schon in Kapitel 2. besprochen wurden, zurückzukommen. Man kann sich dabei auf die Antidiskriminierungsrichtlinien berufen. Sie zeichnen naturgemäß den Sinn und Zweck der Regelungen vor. Dies geschieht vor allem – es handelt sich schließlich um mindestharmonisierende Richtlinien – in sehr generellen Termini. Zudem dominieren beim Schutzumfang von Diskriminierungsverboten Begriffe, die einer minuziösen Auslegung nicht immer leicht zugänglich sind. Man denke an Ausdrücke wie die „Würde des Menschen“, das „Integritätsinteresse“ oder den „Schutz vor Ausgrenzung“. Dennoch soll der Versuch unternommen werden, zumindest in Grundzügen zu klären, ob sich aus der europarechtlich determinierten Schutzrichtung der Diskriminierungsverbote ein Vertragsabschlusszwang ableiten lässt. Übersehen darf man dabei nicht, was bereits zum allgemeinen Kontrahierungszwang ausgeführt wurde: Ist der Vertragssuchende auf eine Leistung angewiesen und kann er sein Vertragsinteresse folglich nicht auf andere Weise befriedigen, so ist ein erzwungener Vertrag, unabhängig welcher Strömung in der Lehre man sich konkret anschließen mag, bereits aufgrund allgemeiner Grundsätze der Vertragsrechtsordnung zu bejahen. Der allgemeine Kontrahierungszwang besteht unabhängig von einer persönlichen Diskriminierung. Hier soll aber der Frage nach einem besonderen, darüberhinausgehenden Kontrahierungszwang nachgegangen werden.345 Die herrschende Ansicht zum Kontrahierungszwang bei Diskriminierung im Privatrecht kommt aus einer Zeit, in der das Unionsrecht diesbezüglich noch Armbrüster, NJW 2007, 1494, 1497. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 219, 287; F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 13 f. 345 Vgl. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 295. 343 344

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keine tragende Rolle spielte.346 Jüngere Untersuchungen beschäftigen sich vor allem mit der Auslegung des nationalen Gleichbehandlungsrechts347 oder dem eher rechtspolitischen Problemkreis, ob ein weitreichender Kontrahierungszwang ein sinnvolles und effektives Sanktionsinstrument darstellt.348 Dies liegt hauptsächlich daran, dass, wie bereits gezeigt wurde, keine Richtlinienbestimmung einen Kontrahierungszwang explizit anordnet und sich auch aus der Rechtsprechung des EuGH dahingehende Schlüsse nicht ohne weiteres ziehen lassen.349 Die grundsätzliche Stoßrichtung350 der Europäischen Diskriminierungsverbote wird bei dieser Sichtweise allerdings vernachlässigt. Dass die Dinge bei Diskriminierung etwas anders liegen als bei einer „gewöhnlichen“ Vertragsverweigerung, wird durchwegs seit langem anerkannt.351 Ob sich wegen des verpönten Motives aber bereits ein besonderer Kontrahierungszwang bei verbotener Diskriminierung rechtfertigen lässt, ist umstritten.352 In Fällen von herabwürdigender Ungleichbehandlung ist es für F. Bydlinski nur verständlich, dass aus Sicht des Opfers oftmals ein Kontrahierungszwang erwünscht sei. Dies natürlich auch in Konstellationen, in denen kein allgemeiner Kontrahierungszwang greife. Es handle sich auch keineswegs um ein unredliches Bedürfnis, einer demonstrativen Diskriminierung ebenso demonstrativ entgegentreten zu wollen.353 Mehr als fragwürdig sei jedoch, ob man damit die schutzwürdigen Interessen des Diskriminierten fördere. Wenn jemand mühsam den Zutritt zu einem Gasthaus erstritten habe, sei ein Besuch desselben wohl höchstens symbolischer Natur. 346 Hervorzuheben sind insbesondere: F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 Fn. 69; Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 427 ff. Aus jüngerer Zeit, allerdings immer noch vor Erlass der RL 2000/43/EG oder 2004/113/EG: Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 287 ff. 347 Zum deutschen und italienischen Recht und mit zahlreichen weiteren Nachweisen: Haberl, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften 199 ff. stellt sich auf den Standpunkt, dass europarechtliche Vorgaben pauschal fehlten und dass es sich somit um eine Frage des nationalen Rechts handle. Vgl. auch Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 726 ff., jedoch auch mit sehr grundsätzlichen Ausführungen: 222 ff. 348 Beispielsweise: Armbrüster, KritV 2005, 41 ff.; ders., NJW 2007, 1494, 1497 f. 349 Auch das deutsche oder österreichische Recht kennt allerdings kaum Bestimmungen, die expressis verbis einen Kontrahierungszwang als Sanktion normieren. So Busche, in: Leible/ Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 172. 350 Vgl. Looschelders, JZ 2012, 105, 111. 351 Vgl. recht deutlich: F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 Fn. 69. Zurückhaltender noch Salzwedel, in: FS Jahrreiss 339, 350 ff. 352 Dafür statt vieler: Bezzenberger, AcP 196 (1996), 387, 427 ff.; einen extensiven Überblick auch in Hinblick auf die Frage nach einem Kontrahierungszwang bei Diskriminierung bietet Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 222 ff. 353 AcP 180 (1980), 1, 44 Fn. 69 weist eindringlich darauf hin, dass dies nichts mit irgendeiner Form von Querulantentum zu tun habe.

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Aufgrund derartiger Erwägungen wird in der Literatur vielfach die Meinung vertreten, dass ein Kontrahierungszwang nicht das geeignete Instrument darstelle, um Diskriminierung entgegenzutreten, sollte kein spezifisches und schützenswertes Interesse des Vertragssuchenden bestehen. Stattdessen wird für den Ersatz des immateriellen Schadens plädiert. Damit werde die mit der Diskriminierung einhergehende Herabwürdigung ausgeglichen. Ein weiterer Schaden drohe aufgrund der Vielzahl an Wettbewerbern am Markt im Normalfall ohnehin nicht.354 Der Schutzzweck der damals nicht spezialgesetzlich vorgesehenen Diskriminierungsverbote rechtfertige demnach keinen besonderen Kontrahierungszwang. Dieser Ansicht wird vor allem bei rassistischer und ethnischer Diskriminierung entgegnet, dass es auf eine individuelle Angewiesenheit gar nicht ankommen dürfe. Es sei keinem Menschen zuzumuten, aus rassistischen Motiven diskriminiert zu werden. Eine funktionierende Rechtsordnung dürfe daher nicht zulassen, dass sich Betroffene der Diskriminierung beugen müssen. 355 Es gehe daher nicht an, Diskriminierungsopfer auf andere mögliche Vertragspartner zu verweisen. Die Legitimation für einen Vertragsbegründungsanspruch wird zum einen im hohen Unwerturteil, das mit rassistischer Diskriminierung einhergeht, gesehen. Zum anderen wird versucht, Parallelen zum allgemeinen Kontrahierungszwang zu ziehen. Es sei demnach nicht die wirtschaftliche Normalität, Menschen aufgrund ihrer Rasse oder Ethnie vom Güterverkehr auszuschließen. Der Unterschied zum allgemeinen Kontrahierungszwang bestehe aber darin, dass es auf eine konkrete Machtstellung oder Monopolsituation nicht ankommen dürfe.356 Bereits an diesem Punkt der Diskussion zeigt sich, dass es einen wesentlichen Unterschied macht, ob man die Würde des Menschen oder die teilhaberechtliche Komponente von Diskriminierungsverboten ins Zentrum rückt. Der Schutzumfang von Europäischen Diskriminierungsverboten wurde bereits an anderer Stelle behandelt. Die Diskriminierungsverbote sollen dem Schutz der Würde des Menschen dienen und Ausgrenzungen von Personengruppen unterbinden.357 Dies spiegelt sich, wenn auch nicht in der gewünschten

354 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 Fn. 69; Zöllner, in: FS Bydlinski 517 ff.; Medicus, Schuldrecht Allgemeiner Teil17 Rn. 85; vgl. auch Salzwedel, in: FS Jahrreiss 339, 351. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 287, allerdings in Bezug auf § 611a BGB, der einen besonderen Kontrahierungszwang ausschloss; zu beachten sind in diesem Kontext jedoch Posner, Economic Analysis of Law8, 916; Sunstein, Free Markets and Social Justice 153 ff. 355 Bezzenberger, AcP 196 (1996), 387, 429 f.; Looschelders, JZ 2012, 105, 111; Neuner, JZ 2003, 57, 61. 356 Bezzenberger, AcP 196 (1996), 387, 429 f. 357 Neuner, JZ 2003, 57, 61; ihm folgend: Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 49 ff.

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Deutlichkeit358, in den Antidiskriminierungsrichtlinien, vor allem den Erwägungsgründen und den Begründungen der Kommissionsvorschläge, wider.359 Eine getrennte Behandlung der zwei Funktionen von Diskriminierungsverboten ist hier systematisch sinnvoll.360 Zunächst soll auf die teilhaberechtliche Schutzkomponente fokussiert werden. Nach den von Neuner entwickelten Kriterien bildet vor allem die Angewiesenheit der diskriminierten Person den Schwerpunkt.361 Es kommt zu einer Ausgrenzung, wenn nicht bereits der Markt diese gewissermaßen nivelliert. Da Diskriminierung in den meisten Fällen ökonomisch nicht vernünftig sein wird, kann sie durch den Wettbewerb vielfach unterbunden werden. Auf einem funktionsfähigen Markt wird daher ein Kontrahierungszwang oft nicht geboten sein, um Ausgrenzung zu verhindern. Man sollte diesen Standpunkt jedoch keineswegs verabsolutieren.362 Evident wird hierbei die vertragsrechtliche Dimension der Diskriminierungsverbote. Sie sollen es ermöglichen, dass jeder am Güterverkehr teilhaben kann. Sie optimieren folglich die Vertragsrechtsordnung und gleichen Störungen aus. Damit liegt aber eine weitgehend identische Konstellation wie bei der Legitimation eines allgemeinen Kontrahierungszwangs vor. In beiden Fällen geht es letztlich darum, dass kein Marktteilnehmer ungerechtfertigt ausgeschlossen wird.363 Ein weitreichender besonderer Kontrahierungszwang lässt sich infolgedessen aus dieser Funktion der Diskriminierungsverbote nicht ableiten. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass einem jedenfalls für die Vertragsfreiheit höchst invasiven Vertragsabschlusszwang, der die Prämisse der Angewiesenheit vergleichsweise lockert oder fingiert, aus unionsrechtlicher Sicht nichts im Wege stehen würde. 358 Vgl. Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlung oder Erosion der Privatautonomie? 20, 49 ff. 359 Vgl. Erwägungen zur RL 2000/43/EG; Erwägungen zur RL 2004/113/EG. 360 Vgl. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 288. Die Problematik der Kompensation von diskriminierenden Angriffen auf die Person sei von jener des Ausgleichs für das nicht befriedigte Vertragsinteresse zu trennen. 361 JZ 2003, 57, 61 ff. Die anderen Kriterien sind insofern weniger problematisch, weil sie in Hinblick auf die Europäischen Diskriminierungsverbote m.E. jedenfalls vorliegen. Siehe dazu: Kapitel 2.E. 362 Siehe nur Posner, Economic Analysis of Law8, 916 f.: „Some discrimination is efficient“. Umso kleiner die ausgeschlossenen Gruppe sei, umso eher werde Diskriminierung nicht zu merklichen ökonomischen Sanktionen führen. Des Weiteren sei es möglich, dass Diskriminierung im Sinne eines großen Teils der Konsumenten geschehe und somit gar keine Einbußen zu befürchten seien. 363 Vgl. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 214 ff., 287 ff. ist der Ansicht, dass der Ausgleich für das nicht befriedigte Vertragsinteresse an sich ein Problem des allgemeinen Vertragsrechtes sei. Dem könnte aber klarerweise eine gesetzliche Wertung entgegenstehen; F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35 ff. stellt auf die Versorgungsfunktion der Rechtsgeschäftsordnung ab. Es müsse der Normalbedarf der Bevölkerung gedeckt werden.

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Für den Schutz des Integritätsinteresses ist ein Kontrahierungszwang nach der Meinung vieler nicht das geeignete Mittel.364 Eine bereits erfolgte Diskriminierung könne damit nicht wettgemacht werden.365 Es spricht in der Tat sehr viel dafür, dass die mit einer rassistischen oder sexistischen Ungleichbehandlung beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen einhergehende Herabwürdigung durch den Ersatz des ideellen Schadens ausgeglichen werden sollte. Die, gegen einen über den allgemeinen Kontrahierungszwang hinausgehenden Zwang zum Vertragsschluss entwickelten, Argumente sind vielschichtig. Auf sie wird im nächsten Kapitel noch einzugehen sein. Hier soll nur gezeigt werden, dass die Annahme, ein Kontrahierungszwang sei zum Schutz des Integritätsinteresses des Diskriminierungsopfers in keinem erdenklichen Fall das geeignete Mittel, in der behaupteten Allgemeinheit zu kurz greift.366 Der angestrebte Vertragsabschluss kann allenfalls die einzige Möglichkeit sein, um eine weitere Herabwürdigung zu vermeiden. Der Vertragsinteressent könnte zwar durchaus auf andere Wettbewerber umsteigen, allerdings würde sich genau in diesem Verhalten eine weitere Demütigung manifestieren. Damit wird ein Ausweichen auf andere Vertragspartner unzumutbar. Es kann von der diskriminierten Person nicht verlangt werden, sich weiter herabsetzen zu lassen.367 Hierbei geht es nicht um die Kompensation der bereits erfolgten Diskriminierung, sondern um die Prävention einer weiteren. In welchen konkreten Fallgruppen mit einer derartigen Herabwürdigung zu rechnen ist, bzw. wann diese nicht mehr hinzunehmen sein kann, wird vom Einzelfall abhängen.368 Besonders, wenn in der erfolgten Zurückweisung und dem damit verbundenen Ausweichenmüssen eine weitere Demütigung des Vertragsprätendenten in der Öffentlichkeit zu sehen ist, wäre ein Kontrahie364 Vgl. F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 Fn. 69; Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 174: Man gebe dem Diskriminierungsopfer damit Steine statt Brot. Betont wird aber, dass so oder so ein allgemeiner Kontrahierungszwang greifen werde, wenn es denn zu systematischer Ausgrenzung kommen sollte. 365 MüKoBGB/Thüsing, I6 § 21 AGG, Rn. 33 ff. 366 Vgl. dazu die weitgehende Kritik von Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 730 f. Diskriminierungsschutz sei demnach nichts wert, wenn man sich der Diskriminierung beugen müsse. Die von ihm vorgebrachten Argumente beziehen sich allerdings nicht auf die Funktion der Europäischen Diskriminierungsverbote im Sinne der Richtlinienvorgaben, sondern betreffen das grundsätzliche Verhältnis von Zivilrecht und Gleichheitsrechten. 367 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 292 ff., 295; vgl. allerdings noch weitergehend Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 429 f., der bei ethnischer Diskriminierung einen generellen Kontrahierungszwang annimmt; Larenz, Schuldrecht/I14, 65 f. hält eine Abschlusspflicht bei besonders deutlicher Diskriminierung für angebracht. Dies sei bei öffentlich angebotenen Gütern und Dienstleistungen, die jeder in Anspruch nehmen könne, der Fall; Looschelders, JZ 2012, 105, 111 betont, dass man sich nicht zurückweisen lassen müsse, und würde damit wohl auch einen noch weiterreichenden Kontrahierungszwang für notwendig erachten. 368 Vgl. Larenz, Schuldrecht/I14, 65 f.

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rungszwang zum Schutz des persönlichen Geltungsanspruches jedenfalls geboten.369 Für diesen Standpunkt kann die Judikatur des EuGH weitere Unterstützung bieten. Sie zielt ganz konkret auf die tatsächliche Wiederherstellung der Chancengleichheit und den Schutz der Würde des Menschen ab. Diese Erfordernisse machen die Berücksichtigung der Besonderheiten im Einzelfall notwendig.370 Vor dem gegebenen Hintergrund scheint es nicht mit den Zielen der Europäischen Diskriminierungsverbote vereinbar zu sein, einen Kontrahierungszwang zum Schutz der Würde des Menschen pauschal auszuschließen. Es bietet sich zur Veranschaulichung die Variante eines schon mehrfach verwendeten Beispiels an. Wird eine Person an der Eingangstür einer Bar oder Diskothek aus rassistischen Gründen abgewiesen, so wird man zumindest in einer Großstadt annehmen müssen, dass ein allgemeiner Kontrahierungszwang aus teilhaberechtlicher Perspektive nicht geboten ist. Es bestehen im Normalfall andere Lokalitäten, auf die ausgewichen werden kann. Zudem ist der ideelle und materielle Schaden zu ersetzen.371 Unter dem Aspekt, der den Schutz der Würde des Menschen in den Vordergrund rückt, kann der Fall aber erneut anders zu beurteilen sein. Nimmt man an, dass durch die Verweisung auf eine andere Bar die Herabwürdigung verfestigt würde, ist aus diesem Grund ein Kontrahierungszwang zur Effektuierung von Diskriminierungsverboten geboten.372 Anhand des Fallbeispiels konnte gezeigt werden, dass zum Schutz des Integritätsinteresses ein Abschlusszwang unter Umständen notwendig ist. Die Annahme, dass es sich dabei jedenfalls um ein ungeeignetes Instrument handle, ist, mit Blick auf die Schutzrichtung der Europäischen Diskriminierungsverbote, nicht unter allen Umständen zutreffend.373 Der Zwang zum Vertragsabschluss kann einerseits neben den Ersatz des Diskriminierungsschadens treten. Andererseits, wenn durch den Kontrahierungszwang bereits die vollkommene Kompensation der Verletzung des persönlichen Geltungsanspruches bewirkt wird, könnte dieser stattdessen zugesprochen werden. Es empfiehlt sich, den Diskriminierten im Einzelfall vor die Alternative zu stellen. Ein Kontrahierungszwang, als Sanktion bei Diskriminierung, sollte jedenfalls nicht gegen den Willen der diskriminierten Person angenommen werden.374 369 Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung 147 ff.; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 294 f. 370 EuGH 02.08.1993 Rs. C-271/91 (Marshall II) Rn. 24 ff. 371 Diesen Lösungsansatz empfiehlt: F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 Fn. 69. 372 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 294 ff.; vgl. weiters: Larenz, Schuldrecht/I14, 65 f.; Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung 147. 373 So aber statt vieler: F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 Fn. 69. 374 Neuner, JZ 2003, 57, 64; Looschelders, JZ 2012, 105, 111, Armbüster, KritV 2005, 41, 46; auch: F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 Fn. 69 weist darauf hin, dass in einem erzwungenen Vertragsverhältnis eine weitere Herabwürdigung gesehen werden könne. Er spricht sich

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Das führt zu einem Zwischenergebnis: Aus dem Telos der Europäischen Diskriminierungsverbote lässt sich ein besonderer Kontrahierungszwang ableiten. Die gedankliche Brücke hierfür bildet der für eine unionsrechtskonforme Umsetzung vorzusehende Anspruch auf verschuldensunabhängigen Ausgleich sowohl des ideellen als auch des Vermögensschadens. Kommt es zur Ausgrenzung aufgrund von rassistischen oder sexistischen Motiven und werden die individuellen Vertragsbedürfnisse nicht mehr gedeckt – liegt demnach Angewiesenheit vor – greift bereits ein allgemeiner Kontrahierungszwang.375 Die teilhaberechtliche Funktion von Diskriminierungsverboten führt somit nicht zu einem über den allgemeinen Kontrahierungszwang hinausgehenden Zwang zum Vertragsabschluss.376 Richtet man den Blick auf den Schutz der Würde des Menschen, kann ein Vertragsabschlusszwang durchaus notwendig und vor allem zweckmäßig sein. Zu denken ist an Fallkonstellationen, in denen die Verweisung auf einen anderen Vertragspartner eine weitere Herabwürdigung bewirkt.377 Aus den unionsrechtlichen Vorgaben nach effektiven, abschreckenden und verhältnismäßigen Sanktionen, die ihrem Wesen nach auf faktische Wiederherstellung der Chancengleichheit abzielen, ist demnach ein Kontrahierungszwang jenseits jeder Angewiesenheit zum Schutz der Menschenwürde geboten. Dieses Zwischenergebnis bildet gleichermaßen das Ende der Untersuchung von Sanktionen bei der Verletzung von Europäischen Diskriminierungsverboten. Ein darüber hinausgehender Kontrahierungszwang lässt sich aus den unionsrechtlichen Vorgaben nicht ableiten. Das EU-Recht setzt durch die Unisexund die Antirassismusrichtlinie allerdings nur einen Mindeststandard. Es handelt sich um einen Fall der Mindestharmonisierung. Darüber hinausgehende innerstaatliche Regelungen sind unter Umständen zulässig. Im nächsten Kapitel soll daher dieser Problembereich skizziert werden. Fraglich ist, ob ein weiterreichender Kontrahierungszwang eine effektive und sinnvolle Sanktion für rassistische und sextische Diskriminierung darstellt. 6. Kontrahierungszwang als effektives Sanktionsinstrument? An dieser Stelle soll untersucht werden, ob ein über die Vorgaben der Union hinausgehender Kontrahierungszwang ein angemessenes und effektives Sanktionsinstrument darstellt. Ist ein Kontrahierungszwang, abgesehen von jenen Fälle, in denen der Vertragspartner auf den Vertragsabschluss angewiesen ist und jenen, in denen es daher klar dafür aus, das unzweifelhafte Interesse der benachteiligten Person, nicht herabgewürdigt zu werden, in den Vordergrund zu stellen. 375 Vgl. F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 Fn. 69. 376 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 214 ff., 288 ff. 377 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 294 ff.; Armbrüster, KritV 2005, 41, 46.

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sich zum Schutz der Würde gebietet, ein sinnvolles Sanktionsinstrument? Oder gibt man damit dem Diskriminierungsopfer mit den Worten von Busche „Steine statt Brot“?378 Dass die Herabwürdigung bereits stattgefunden hat und ein Kontrahierungszwang damit ihrer Kompensation kaum mehr dienen kann, wurde bereits angesprochen. In der Tat ist es daher sinnvoll, dieser Funktion des Antidiskriminierungsrechts durch den Ersatz des ideellen Schadens nachzukommen.379 Ein Kontrahierungszwang, der grundsätzlich eingreift, ist zum Schutz der Würde des Diskriminierungsopfers oft nicht sachgerecht. Von Seiten der Lehre wird mit dem Interesse des Diskriminierungsopfers argumentiert.380 Zu denken wäre aber an eine Variante, die diesen Ansatz beim Wort nimmt und damit die Wahl der Entscheidung dem Diskriminierten selbst überlässt.381 Die diskriminierte Person könnte selbst wählen, ob sie an einem Vertrag trotz erfolgter Diskriminierung interessiert ist oder eben nicht. Klar muss sein, dass damit ein sehr strenges „Haftungsregime“ bei Diskriminierung bestehen würde. Einerseits hätte der Diskriminierende den immateriellen Schaden zu ersetzen, andererseits würde der unerwünschte Vertrag, wenn dies dem Willen der diskriminierten Person entspricht, erzwungen. Als Rechtfertigung dafür wird angeführt, dass rassistische und sexistische Diskriminierung in der heutigen Gesellschaft nicht toleriert werden könne. Die Rechtsordnung habe dafür zu sorgen, dass sich die diskriminierte Person unter keinen Umständen dieser verpönten Ungleichbehandlung beugen müsse.382 Einschränkungen dieses quasi allumfassenden, optionalen Kontrahierungszwangs seien dann hinzunehmen, wenn das Angebot beschränkt sei und daher Mitbewerber benachteiligt würden.383 Klarerweise sind auch diesem besonderen Vertragsabschlusszwang die gleichen Grenzen wie dem allgemeinen Kontrahierungszwang gesetzt. Ist die Leistung mittlerweile unmöglich oder zeigt sich der Vertragsprätendent bereits im Vorhinein unwillig, seine vertraglichen Pflichten zu erfüllen, ist auch bei verbotener Diskriminierung ein Abschlusszwang ausgeschlossen. Ein weitreichender Kontrahierungszwang anstelle des Ersatzes eines Diskriminierungsschadens wäre hingegeben kein effektives und ein kaum sachgerechtes Sanktionsmittel. Verträge werden mit Gewinnabsicht geschlossen. Diese Aussage trifft umso mehr für die den Hauptanwendungsbereich der In: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 174. Statt vieler: Armbrüster, KritV 2005, 41, 46; F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 Fn. 69. 380 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 Fn. 69; Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 174. 381 So Looschelders, JZ 2012, 105, 111; Neuner, JZ 2003, 57, 64; Armbüster, KritV 2005, 41, 46. Vgl. Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 731. 382 Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 429 f.; Looschelders, JZ 2012, 105, 111; Neuner, JZ 2003, 57, 64. 383 Neuner, JZ 2003, 57, 64; auf diesen Aspekt bereits hinweisend: F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 Fn. 69. 378 379

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Europäischen Diskriminierungsverbote bildenden Massengeschäfte zu. Dieser Gewinn bliebe, sieht man im Kontrahierungszwang den Ersatz für den Diskriminierungsschaden, für den Diskriminierenden bestehen.384 Es würde sich daher wohl kaum um eine effektive oder gar abschreckende Sanktion handeln. Wie bereits angedeutet wäre der gewinnbringende Vertragsschluss für den Diskriminierungstäter die drohende Konsequenz seines verpönten Handelns. Gegen einen über die unionsrechtlichen Vorgaben hinausgehenden Kontrahierungszwang kann die Befriedungsfunktion des Privatrechts ins Treffen geführt werden.385 Eine der wesentlichen Aufgaben des Privatrechts ist es, Konflikte zu lösen und nicht solche zu schaffen oder zu verschärfen.386 Dieser Funktion kann ein erzwungener Vertrag naturgemäß nie in optimaler Weise nachkommen. Es entspreche dem normalen Verlauf der Dinge, dass beide Seiten keine Gelegenheit ausließen, um eine potentielle Streitquelle aufzugreifen. Diese Gefahr ist an sich Resultat eines jeden Zwangs zum Vertragsschluss. Ein nicht aus freier Entscheidung, sondern durch gesetzlichen Zwang geschlossener Vertrag steht von vornherein unter keinem guten Stern.387 Bei einem für einen Vertragspartner unfreiwilligen Rechtsgeschäft, das aus besonders verpönten Motiven abgelehnt wurde, wird dieses Faktum höchst virulent. Der Vertragspartner wurde gerade aus persönlichen Gründen abgelehnt, die noch dazu wirtschaftlich zumeist wenig vernünftig sein werden. Das damit verbundene Unwerturteil des Vertragsverweigerers gegenüber dem Vertragssuchenden wird sich tendenziell im Stadium der Erfüllung negativ auswirken. Die Problemanfälligkeit ist wohl auch höher einzuschätzen als in den klassischen Kontrahierungszwang-Konstellationen, die aufgrund von besonderer Marktmacht bzw. aufgrund einer Angewiesenheit bestehen.388 Es wird deutlich, dass ein Kontrahierungszwang nicht schlechthin die ideale Sanktion bei Diskriminierung ist. Ein über die unionsrechtlichen Vorgaben hinausgehender Kontrahierungszwang, der diesen mehr zur Regel als zur Ausnahme stilisiert, ist daher mit großer Vorsicht zu genießen. Zum einen, weil es sich um eine besonders begründungsbedürftige Einschränkung der Vertragsfreiheit handelt. Insbesondere deshalb, weil damit vielfach größere Konfliktsituationen geschaffen als bereinigt werden. Der Kontrahierungszwang ist zum 384 Armbüster, KritV 2005, 41, 45 ff.; Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 174 ff. 385 So Armbrüster, KritV 2005, 41, 47 f.; Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht 159, 174 ff. 386 Th. Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie6, 296 ff. 387 Armbrüster, KritV 2005, 41, 47. 388 Armbrüster, KritV 2005, 41, 47. Bei überragender Marktmacht gehe es nicht um persönliche Gründe und auch das Vertragsverhältnis sei nicht von persönlichem Kontakt geprägt. Diese Begründung ist allerdings nicht vollkommen überzeugend. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass weniger auf eine monopolartige Marktmacht, als auf die Angewiesenheit des Vertrags-suchenden abzustellen ist und die Dinge daher nicht unbedingt so liegen müssen, wie von Armbrüster geschildert. Im Ergebnis ist Armbrüster jedoch m.E. zuzustimmen.

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anderen meist nicht geeignet, den Diskriminierungsschaden zu ersetzen und hat eine höchst geringe Präventionswirkung. Einen meines Erachtens gangbaren Weg würde eine Kombination von Ersatz des ideellen Schadens mit einem Kontrahierungszwang bieten. Es würde dadurch die erfolgte Herabwürdigung kompensiert und andererseits die gesellschaftliche Intoleranz gegenüber Rassismus und Sexismus deutlich zum Ausdruck gebracht. Die Wahl, ob es zusätzlich zum Ersatz des ideellen Schadens zu einem Kontrahierungszwang kommt oder gegebenenfalls der Vermögensschaden zu ersetzen wäre, muss letztlich die diskriminierte Person treffen können.389 Es ist allerdings erneut darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um ein sehr eingriffsintensives Sanktionsinstrument handeln würde, das aus unionsrechtlicher Perspektive nicht vorgesehen werden muss. 7. Ergebnis Zur Untersuchung des Kontrahierungszwangs als Rechtsfolge bei Diskriminierung werden zwei unterschiedliche Perspektiven eingenommen. Zum einen wurde gezeigt, ob ein allgemeiner, auf Wertungen des Vertragsrechts basierender Vertragsabschlusszwang in einer Diskriminierungssituation bereits greift. Zum anderen wurden Überlegungen angestellt, ob durch die unionsrechtlichen Vorgaben ein besonderer Kontrahierungszwang im privaten Antidiskriminierungsrecht besteht. Die notwendige Brücke dafür bilden, unabhängig von der konkreten innerstaatlichen Herleitung, unionsrechtlich determinierte haftpflichtrechtliche Sanktionsmechanismen. Ein allgemeiner Kontrahierungszwang kann vor allem dann bestehen, wenn der Vertragssuchende sein rechtlich geschütztes Vertragsinteresse auf andere Weise nicht befriedigen kann und der Verweigerer grundsätzlich vertragsgeneigt und leistungsfähig ist.390 Die Angewiesenheit des Vertragsprätendenten stellt dabei das ausschlaggebende Kriterium dar.391 Der allgemeine Kontrahierungszwang sorgt in diesen Konstellationen für die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Vertragsfreiheit bzw. der Vertragsrechtsordnung.392 Durch rassistische und sexistische Diskriminierung kann es zur beschriebenen Angewiesenheit kommen. Ungleichbehandlung ist geeignet, strukturelle Teilhabedefizite zu erzeugen und in der Folge zu einer Alternativenlosigkeit des Betroffenen zu führen. Dass es dazu in einer liberalen Marktwirtschaft nicht So jüngst Looschelders, JZ 2012, 105, 111; Neuner, JZ 2003, 57, 64; vgl. Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 429 f.; Armbüster, KritV 2005, 41, 46 ff.; Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht 731. 390 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 141. 391 Vgl. F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 35; Basedow, Der Transportvertrag 205 f. 392 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 139 ff. 389

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kommen wird, ist jedenfalls nicht verallgemeinerungsfähig.393 Wird das individuelle Vertragsinteresse nicht mehr befriedigt, greift daher bereits ein allgemeiner Kontrahierungszwang.394 Das Motiv dafür ist aus dieser Perspektive gleichgültig. Ein darüber hinausgehender besonderer oder ergänzender Kontrahierungszwang kann sich aus den unionsrechtlichen Vorgaben ergeben. Der Schutz der Würde des Menschen und der damit einhergehende Anspruch zur Wiederherstellung der effektiven Chancengleichheit führen mitunter zur Notwendigkeit eines erzwungenen Vertragsschlusses. Der Hauptanwendungsfall wird in Konstellationen vorliegen, in denen zwar alternative Vertragspartner zur Verfügung stehen, ein Umsteigen für den Benachteiligten jedoch nicht zumutbar ist, weil sich dadurch seine Herabwürdigung perpetuieren würde.395 Die Wahl, ob es zu einem erzwungen Vertrag kommt, sollte jedenfalls bei der diskriminierten Person liegen. Der ideelle Schaden ist ohnehin zu ersetzen. Entscheidet sich der nationale Gesetzgeber dafür, Diskriminierung mit einem weitergehenden Vertragsabschlusszwang zu sanktionieren, geht er über die Vorgaben des Unionsrechts hinaus. Einschränkungen bilden vor allem die Zielvorgaben der Effektivität und Prävention. In diesem Sinne wäre ein Sanktionssystem, das den Ersatz des immateriellen und materiellen Schadens vorsieht, sowie, wenn dies von Seiten des Betroffenen gewünscht ist, in jedem Fall einen Kontrahierungszwang greifen lässt, möglich.396

D. Schlussbetrachtung Die Richtlinienvorgaben nach wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionen sind primärer Anknüpfungspunkt der vorliegenden Untersuchung. Diese sind klarer Ausdruck der Prinzipien der Effektivität und Äquivalenz. Die Grundsätze können als Konsequenz der Unvollständigkeit der Unionsgesetzgebung verstanden werden. Sie stehen zudem in einer engen Verbindung zum Loyalitätsgebot des Art. 4 Abs. 3 EUV. Eine weitere Anforderung, die bei der Umsetzung von Richtlinien zu beachten ist, besteht im Transparenzgebot. Die Richtlinienumsetzung hat demzufolge auf zwei Ebenen zu geschehen. Sowohl die Legislative als auch der Bereich der Rechtsanwendung müssen den Richtlinien zur bestmöglichen Umsetzung verhelfen. Auf legislativer Ebene muss dazu zwingendes staatliches Recht geschaffen werden. Es konnte folglich gezeigt werden, dass eine Umsetzung Vgl. Posner, Economic Analysis of Law8, 916; Sunstein, Free Markets and Social Justice 151 ff. 394 Vgl. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 295. 395 Vgl. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang 290 ff. 396 Dahingehende Vorschläge wurden von Looschelders, JZ 2012, 105, 111 und Neuner, JZ 2003, 57, 64 unterbreitet. 393

D. Schlussbetrachtung

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alleine durch die Rechtsprechung nicht ausreicht. Andererseits ist der nationale Gesetzgeber nicht zum Handeln aufgerufen sofern eine hinreichend transparente Rechtslage besteht. Vor allem muss dem Rechtsunterworfenen ex ante klar sein, welche Rechte er hat und welche Pflichten ihn treffen. Ob die mitgliedstaatliche Rechtslage ausreichend transparent gestaltet ist, entscheidet der EuGH im Einzelfall. Er hat dazu ein bewegliches System geschaffen.397 Ausschlaggebend sind vor allem der Adressatenkreis, der Inhalt und der Stellenwert einer Bestimmung in der Architektur des Unionsrechts, sowie die Frage, wie detailliert die Richtlinie selbst ausgestaltet ist. Bezogen auf die Antidiskriminierungsrichtlinien im Privatrecht konnte gezeigt werden, dass jedenfalls eine klare und eindeutige Rechtslage auf normativer Ebene geschaffen werden muss. Die, wenn auch richtlinienkonforme Interpretation von privatrechtlichen Generalklauseln, wie sie insbesondere von Picker vorgeschlagen wird, entspricht daher nicht den unionsrechtlichen Vorgaben.398 Der Gerichtshof hat durch seine Rechtsprechung – hauptsächlich im arbeitsrechtlichen Kontext – konkrete Anforderungen an Sanktionsmechanismen bei einem Verstoß gegen Diskriminierungsverbote aufgestellt. Den Ausgangspunkt bildet das Urteil Von Colson und Kamann. Der EuGH betont zwar die mitgliedstaatliche Autonomie bei der Wahl der Sanktionen, stellt aber auch klar, dass dieser Grenzen gesetzt sind. Die haftpflichtrechtliche Sanktionsvariante wurde durch die Judikatur weitgehend ausgeformt. Zugleich stellt sie – rechtsvergleichend betrachtet – die am häufigsten vorkommende Rechtsfolge bei einem Verstoß gegen Europäische Diskriminierungsverbote dar. Zweck der Haftung ist neben dem Schadensausgleich die Prävention. Weder die Judikatur noch die Richtlinien legen es nahe, dass die Sanktionen eine pönale Wirkung erzielen müssen. Es ist zwar die Rede von abschreckenden Rechtsfolgen, dass damit eine grundsätzliche Forderung nach punitive damages gemeint ist, kann jedoch nicht angenommen werden.399 Der Gerichtshof erachtet die praktische Wirksamkeit von Antidiskriminierungsbestimmungen für gefährdet, wenn für das Auslösen der Haftpflicht das Verschulden der diskriminierenden Person nachzuweisen ist.400 Das Unionsrecht kennt keine strikte Trennung zwischen materiellem und immateriellem Schaden. Dies lässt sich mit dem französisch geprägten Verständnis des Schadensersatzrechts des EuGH erklären. Fordert der Gerichtshof daher die Wiederherstellung der tatsächlichen Chancengleichheit, ist davon der ideelle Schaden mitumfasst. Eine nationale Umsetzungsnorm muss den verschuldensunabhängigen Ersatz sowohl des materiellen als auch des immateriellen Schadens vorsehen. Des Weiteren bedarf es keiner Erheblichkeitsschwelle, die überschritten Siehe B.V.2. Zum Meinungsstand siehe B.V.3. 399 Siehe dazu C.I.1. 400 EuGH 08.11.1990 Rs. C-177/88 (Dekker) Rn. 24; 22.04.1997 Rs. C-180/95 (Draehmpaehl) Rn. 19 ff. 397 398

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werden muss, um eine Haftung auszulösen. Das Europäische Antidiskriminierungsrecht geht davon aus, dass jede nicht gerechtfertigte Missachtung einen Verstoß darstellt und folglich zu ahnden ist. Die Bemessung der Höhe des ideellen Schadens ist einzelfallabhängig. Die im Ermessen des Richters zu gewichtenden Kriterien haben sich in erster Linie am Zweck des Entschädigungsanspruchs zu orientieren. Bei der Untersuchung eines Kontrahierungszwangs als Rechtsfolge bei verbotener Diskriminierung muss zunächst eine Unterscheidung getroffen werden. Zum einen kann ein allgemeiner, auf den Grundwertungen der Privatrechtsordnung basierender Zwang zum Vertragsabschluss bestehen. Andererseits können Vertragsabschlusszwänge in spezialgesetzlichen Normen expressis verbis vorgesehen sein oder zumindest ihren Ursprung darin nehmen. Das zentrale Kriterium eines allgemeinen Kontrahierungszwangs ist die Angewiesenheit des Vertragssuchenden. Rassistische und sexistische Diskriminierung haben das Potential zu einem strukturellen Teilhabedefizit zu führen, und können somit Auslöser für eine derartige Angewiesenheit sein. In diesen Konstellationen würde ein allgemeiner Kontrahierungszwang greifen. Für einen besonderen oder ergänzenden Kontrahierungszwang sind die unionsrechtlichen Vorgaben maßgeblich. Aufgrund des Telos der Europäischen Diskriminierungsverbote kann ein Vertragsabschlusszwang geboten sein. Zu denken ist an Fälle, in denen zwar alternative Vertragspartner zur Verfügung stehen, ein Ausweichen aber für die diskriminierte Person unzumutbar ist. Vor allem wenn sich durch den Umstieg auf einen anderen Vertragspartner die bereits erfahrene Herabwürdigung verfestigen würde, ist demnach Unzumutbarkeit anzunehmen. In derartigen Konstellationen ist ein Kontrahierungszwang zur tatsächlichen und vollkommenen Wiederherstellung der Chancengleichheit geboten. Ein noch weiterreichender Kontrahierungszwang ginge über die unionsrechtlichen Vorgaben hinaus. Zu beachten sind aus diesem Blickwinkel die Richtlinienziele, insbesondere die Effektivität und Prävention.

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Zusammenfassung der Ergebnisse 1. Europäische Diskriminierungsverbote bilden keinen systemwidrigen Fremdkörper im Privatrecht. Es gilt der Primat der formalen Vertragsfreiheit. Dieser kommt folglich der Vorrang gegenüber einer materialen Konzeption zu. Die klassische Vertragsfreiheit ist dennoch einzuschränken und zu ergänzen. Diskriminierungsverbote sind Teil einer Tendenz zur Materialisierung der Vertragsfreiheit. Auch ein Blick auf die hinter dem Privatrecht und Diskriminierungsverboten stehenden Gerechtigkeitskonzeptionen legt ein derartiges Verständnis nahe. Ein auf formaler Vertragsfreiheit und ausgleichender Gerechtigkeit basierendes Privatrechtssystem ist daher mit Diskriminierungsverboten durchaus vereinbar. 2. Einschränkungen der formalen Vertragsfreiheit bedürfen einer besonderen Rechtfertigung. Das Ziel von Diskriminierungsverboten ist sowohl der Schutz vor Ausgrenzung als auch der Schutz der Würde des Menschen. Richtet man den Blick auf den Schutz vor Ausgrenzung, so setzt sich der Tatbestand einer unzulässigen Diskriminierung aus drei Komponenten zusammen: Es bedarf des Zusammenspiels eines objektiven Unterscheidungsmerkmals, der Schutzbedürftigkeit der potentiell diskriminierten Person sowie des Fehlens eines zu berücksichtigenden Differenzierungsinteresses des Entscheidungsträgers. Kommt es zu systematischer Ausgrenzung, verliert die klassische Vertragsfreiheit ihre Funktion als effektives Steuerungsmittel für Waren und Dienstleistungen. Von einer unzulässigen Diskriminierung, deren Verbot daher eine Einschränkung der Vertragsfreiheit rechtfertigt, ist auszugehen, wenn systematische Teilhabedefizite drohen. Dazu müssen die beschriebenen Kriterien nicht alle in selber Intensität vorliegen. Es handelt sich um ein bewegliches System. 3. In einer freien Marktwirtschaft kann es zu struktureller Ausgrenzung mancher Teilnehmer auch bei Massengeschäften kommen. Die Annahme, dass es zu systematischen Teilhabedefiziten aufgrund der nivellierenden Wirkung des Marktes grundsätzlich nicht komme, ist in der behaupteten Allgemeinheit nicht zutreffend. Diskriminierung ist nicht zwingend ökonomisch ineffektiv und folgt zudem meist nicht den Regeln und der Vernunft des Marktes. Diskriminierungsverbote können daher, neben dem Schutz der Würde des Menschen, auch zum Schutz vor Ausgrenzung gerechtfertigt

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sein. Sie sichern damit die Funktion der Vertragsfreiheit als effektives Steuerungsmittel für Güter und Dienstleistungen. 4. Der zweite Teil der Arbeit untersucht die Reichweite von Art. 19 AEUV. Es handelt sich um eine subsidiäre und akzessorische Kompetenznorm. Sie ermächtigt die Europäische Union, Diskriminierung aufgrund einer Vielzahl an Merkmalen zu bekämpfen – allerdings nur im Rahmen ihrer bereits bestehenden Zuständigkeiten. 5. Ein Unionsrechtsakt hat die Rechtsetzungsbefugnis, auf die er sich stützt, anzugeben. Es gilt der Grundsatz der Erkennbarkeit der Rechtsgrundlage. Wird diese Verpflichtung verletzt oder ihr nur sehr generell nachgekommen, liegt ein Formmangel vor, der zur Nichtigkeitsklage legitimiert. 6. Die auf Art. 19 AEUV basierenden Antidiskriminierungsrichtlinien geben nur diesen als Rechtsgrundlage an. Das ist jedenfalls zu vage. Es müsste, dem Grundsatz der Erkennbarkeit der Rechtsgrundlage folgend, zudem jene Kompetenznorm genannt werden, im Rahmen derer Art. 19 AEUV zur Anwendung gelangt. Der Unionsgesetzgeber kam daher beim Erlass der Antidiskriminierungsrichtlinien seiner Benennungspflicht nicht nach. Ob dies zu einer Aufhebung der Richtlinien durch den EuGH führt oder lediglich von einem unwesentlichen Formgebrechen auszugehen ist, lässt sich anhand der Judikatur nur schwer prognostizieren. Die privatrechtlichen Diskriminierungsverbote stehen jedenfalls kompetenzrechtlich auf noch wackligen Beinen. Die weitere Untersuchung konzentriert sich folglich auf die Frage, in Zusammenhang mit welcher Rechtsetzungsbefugnis Art. 19 AEUV für die Antirassismus- und die Unisex-RL zur Anwendung gelangen könnte. 7. Die Europäischen Diskriminierungsverbote im Privatrecht stehen in einem engen Zusammenhang mit dem Binnenmarkt. Sie hätten allerdings nicht allein auf Art. 114 AEUV gestützt werden können. Dafür ist der Binnenmarktkonnex zu gering. Sinnvoll und zweckmäßig erscheint daher eine Rechtsgrundlagenkombination von Art. 19 AEUV und der Binnenmarktkompetenz. Problematisch wäre diese Lösung vor allem wegen der Struktur von Art. 114 AEUV als binnenmarktfinale Querschnittskompetenz. 8. Die in Art. 352 AEUV normierte Flexibilitätsklausel könnte eine andere taugliche Rechtsetzungsbefugnis, in deren Rahmen nach Art. 19 AEUV Diskriminierung bekämpft werden kann, bilden. Ist eine speziellere Rechtsgrundlage materiell oder formell nicht ausreichend, kann Art. 352 AEUV zur Anwendung gelangen. Die Flexibilitätsklausel sollte kumulativ neben Art. 19 AEUV treten. Diese Lösung ist im Einklang mit der „inneren Sub-

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sidiarität“ des Art. 352 AEUV und Ausdruck des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. 9. Der dritte Teil der Untersuchung beschäftigt sich mit der Wirkung von Art. 21 GRC auf das Privatrechtsverhältnis. Privatpersonen können unmittelbar oder mittelbar an Grundrechte gebunden sein. Keiner der Ansätze ist aus rechtslogischen Gründen vorgezeichnet. Ein Vergleich der beiden Theorien zeigt, dass sowohl eine mittelbare als auch eine unmittelbare Drittwirkung zu identischen Ergebnissen führen kann. 10. Nach Art. 51 GRC ist die Charta anwendbar, wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen. Privatpersonen sind hingegen nicht Verpflichtete der Charta, es kommt somit zu keiner unmittelbaren Drittwirkung. Art. 51 GRC ist nach dem Verständnis des EuGH mit dessen Judikatur zu identifizieren. Dafür sprechen insbesondere die eindeutigen Erläuterungen zur Charta. Das dagegen vorgebrachte Wortlautargument erscheint nicht zwingend. Die Mitgliedstaaten sind daher auch in der umstrittenen ERT-Situation an die Grundrechte-Charta gebunden. Dieses Verständnis wird durch die Entscheidung des EuGH in Akerberg Fransson bestätigt. 11. Der Zweck von Art. 21 GRC liegt vor allem im Schutz der Würde des Menschen. Die Grundrechtsadressaten haben diesen im Sinne eines Untermaßverbotes, auch im Verhältnis zwischen Privaten, zu gewährleisten. Wird durch das Verhalten privater Akteure eine Schutzpflicht der Union ausgelöst, hat diese einzuschreiten. Art. 21 GRC ist seinem Telos folgend auf (mittelbare) Drittwirkung gerichtet. 12. Schafft der Unionsgesetzgeber sogenannte Öffnungsklauseln in Richtlinien, ist er an die Grundrechte-Charta gebunden. Es handelt sich dabei oftmals um sehr detaillierte Ausnahmetatbestände oder Rechtfertigungsgründe. Zwar wird den Mitgliedstaaten ein nicht unerhebliches Ermessen zugestanden; Öffnungsklauseln sind allerdings keinesfalls ein unionsrechtliches „Nichts“. 13. Wird ein Mitgliedstaat in Ausfüllung einer Öffnungsklausel rechtsetzend tätig, ist er an die Grundrechte-Charta gebunden. Es handelt sich bei Öffnungsklauseln um unionsrechtlich determinierte und oftmals sehr konkret ausgestaltete Regelungen. Diese dürfen die Mitgliedstaaten nicht zu einer Verletzung der Unionsgrundrechte ermächtigen oder anleiten. Bestimmungen, die in Ausübung des mitgliedstaatlichen Ermessens oder eines Handlungsspielraums erfolgen, sind daher an europarechtlichen Mindeststandards zu messen.

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14. Die Arbeit widmet sich in ihrem vierten Teil den Sanktionen bei Verstößen gegen Europäische Diskriminierungsverbote. Es wird dazu eine unionsrechtliche Perspektive eingenommen. Es konnte anhand der Richtlinienbestimmungen und der Judikatur des Gerichtshofes ein unionsrechtlicher Mindeststandard für Sanktionen bei Diskriminierung herausgearbeitet werden. Eine klare und transparente Rechtslage im Sinne des durch die Judikatur entwickelten beweglichen Systems muss geschaffen werden. An eine Verletzung der Diskriminierungsverbote sollen sich wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Rechtsfolgen knüpfen. Die Ziele der Antidiskriminierungsrichtlinien müssen dadurch effektiv und vergleichbaren nationalen Regelungen ebenbürtig erreicht werden. Die dazu eingesetzten Mittel sind oftmals den Mitgliedstaaten überlassen. Die mitgliedstaatliche Autonomie darf jedoch nicht die Torpedierung der unionsrechtlichen Ziele durch zu laxe Sanktionierung zur Folge haben. Es sind ihr daher jedenfalls Grenzen gesetzt. Die Unisex-RL sieht zudem explizit einen Ersatzanspruch der diskriminierten Person gegen die diskriminierende Person vor. 15. Ein Schadensersatzanspruch bei verbotener Diskriminierung soll den erlittenen Schaden ausgleichen und der Prävention dienen. Trotz des Richtlinienziels „abschreckende Sanktionen“ geht es dabei nicht um punitive damages. Der Fokus liegt vielmehr auf Prävention durch Schadensausgleich. Gegenteilige Schlüsse lassen sich weder aus dem Unionsrecht noch der Judikatur des EuGH ziehen. 16. Nach einer Analyse der Rechtsprechung des EuGH konnte ein Anforderungsprofil einer haftpflichtrechtlichen Sanktionsvariante erstellt werden. Sollte dies die einzige vorgesehene Sanktionsvariante sein, so wäre es mit den Richtlinienzielen nicht vereinbar, stellte man auf das Verschulden der diskriminierenden Person ab. Mit einer rassistischen oder sexistischen Diskriminierung geht eine Verletzung der Würde einher. Es ist daher neben dem materiellen auch der immaterielle Schaden zu ersetzen. Auch der Ersatz des ideellen Schadens hat verschuldensunabhängig zu erfolgen. 17. Die unionsrechtlichen Vorgaben sehen keine Geringfügigkeitsschwelle vor, die überschritten werden muss, damit ein ideeller Schaden ersatzfähig wird. Bei sachlich nicht gerechtfertigter Diskriminierung tritt daher ohne weiteres der Haftungsfall ein. Das Unionsrecht korreliert nicht mit der deutschen Doktrin zur Persönlichkeitsrechtsverletzung bzw. geht davon aus, dass jede Missachtung der Diskriminierungsverbote eine Ersatzpflicht auslöst. 18. Die Frage nach einem Kontrahierungszwang als Sanktion bei Verstößen gegen Europäische Diskriminierungsverbote wird aus zwei Blickwinkeln erörtert. Einerseits könnte ein allgemeiner Kontrahierungszwang in einer

Kapitel 6: Zusammenfassung der Ergebnisse

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Diskriminierungssituation greifen. Es handelt sich dabei um einen Kontrahierungszwang, der nicht spezialgesetzlich vorgesehen oder motiviert ist. Der allgemeine Kontrahierungszwang basiert auf Grundwertungen der Vertragsrechtsordnung und ist somit auch unabhängig vom Bestand von Diskriminierungsverboten im Privatrecht. Andererseits könnte, vermittelt durch die unionsrechtlichen Vorgaben, ein besonderer Kontrahierungszwang bestehen. 19. Ein allgemeiner Kontrahierungszwang greift ein, wenn der Vertragssuchende sein rechtlich geschütztes Interesse nicht auf andere Weise befriedigen kann und der Verweigerer grundsätzlich vertragsgeneigt und leistungsfähig ist. Das Angewiesensein des Vertragsinteressenten auf den Verweigerer ist zentrales und strukturbildendes Kriterium des allgemeinen Kontrahierungszwangs. Dieser sorgt für die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Vertragsfreiheit bzw. Vertragsrechtsordnung und ist daher geboten. Rassistische und sexistische Diskriminierung kann zur geforderten Angewiesenheit führen. In derartigen Konstellationen käme es bereits zu einem allgemeinen Kontrahierungszwang. Dieser ist jedoch von den Motiven der Vertragsverweigerung grundsätzlich unabhängig. 20. Ein besonderer Kontrahierungszwang kann sich aus den unionsrechtlichen Vorgaben und Wertungen ergeben. Der Schutz der Würde des Menschen und der damit einhergehende Anspruch zur Wiederherstellung der effektiven Chancengleichheit führen mitunter zur Notwendigkeit eines erzwungenen Vertragsschlusses. Der Hauptanwendungsfall wird in Konstellationen vorliegen, in denen zwar alternative Vertragspartner zur Verfügung stehen, ein Umsteigen aber für den Benachteiligten nicht zumutbar ist, weil sich dadurch seine Herabwürdigung perpetuieren würde. Die Wahl, ob es zu einem Kontrahierungszwang kommt, sollte jedenfalls bei der diskriminierten Person liegen. Der ideelle Schaden ist ohnehin zu ersetzen.

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Entscheidungsverzeichnis Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH): 05.02.1963 Rs. 26/62 (Van Gend en Loos) Slg. 1963, 3 17.07.1963 Rs. 13/63 (Italien/Kommission) Slg. 1963, 337 15.07.1964 Rs. 6/64 (Costa/ENEL) Slg. 1964, 1253 12.11.1969 Rs. 29/69 (Stauder) Slg. 1969, 419 17.12.1970 Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg. 1970, 1125 14.05.1974 Rs. 4/73 (Nold) Slg. 1974, 491 08.04.1976 Rs. 43/75 (Defrenne II) Slg. 1976, 455 08.04.1976 Rs. 48/75 (Royer) Slg. 1976, 497 16.12.1976 Rs. 33/76 (Rewe) Slg. 1976, 1989 14.07.1977 Rs. C- 8/77 (Sagulo) Slg. 1977, 441 19.10.1977 verb. Rs. 117/6 und 16/77 (Ruckdeschel) Slg. 1977, 1754 13.12.1979 Rs. 44/79 (Hauer) Slg. 1979, 3727 06.05.1980 Rs. 102/79 (Kommission/Belgien) Slg. 1980, 1473 09.11.1983 Rs. 199/82 (San Giorgo) Slg 1983, 3595 10.04.1984 Rs. 14/83 (Von Colson und Kamann) Slg. 1984, 1891 10.04.1984 Rs. 79/83 (Harz) Slg. 1984, 1921 13.12.1984 Rs. 106/83 (Sermide) Slg. 1984, 4209 13.02.1985 Rs. 293/83 (Gravier) Slg. 1984, 593 23.05.1985 Rs. 29/84 (Kommission/Deutschland) Slg. 1985, 1661 26.02.1986 Rs. 152/84 (Marshall) Slg. 1986, 723 26.03.1987 Rs. 45/86 (Kommission/Rat) Slg. 1987, 1493 09.04.1987 Rs. 363/85 (Kommission/Italien) Slg. 1987, 1733 20.09.1988 Rs. 203/86 (Kommission/Spanien) Slg. 1988, 4563 27.09.1988 Rs. 165/87 (Harmonisierungssystem) Slg. 1988, 5545 13.07.1989 Rs. 5/88 (Wachauf) Slg. 1989, 2609 15.03.1990 Rs. C-339/87 (Kommission/Niederlande) Slg. 1990 I-851 08.11.1990 Rs. C-177/88 (Dekker) Slg. 1990 I-3941 28.02.1991 Rs. C-131/88 (Kommission/Deutschland) Slg. 1991 I-825 11.06.1991 Rs. C-300/89 (Titandioxid) Slg. 1991 I-2867 18.06.1991 Rs. C-260/89 (ERT) Slg. 1991 I-2925 16.06.1993 Rs. C-325/91 (Frankreich/Kommission) Slg. 1993 I-3283 02.08.1993 Rs. C-271/91 (Marshall II) Slg. 1993 I-4367 24.11.1993 verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 (Keck und Mithouard) Slg. 1993 I-6097 13.07.1995 Rs. C-350/92 (Spanien/Rat) Slg. 1995 I-1985 14.12.1995 Rs. C-312/93 (Peterbroeck) Slg. 1995 I-4599 13.03.1997 Rs. C-197/96 (Kommission/Frankreich) Slg. 1997 I-1489 22.04.1997 Rs. C-180/95 (Draehmpaehl) Slg. 1997 I-2195 27.10.1998 Rs. C-411/96 (Boyle) Slg. 1998, I-6401

Entscheidungsverzeichnis

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09.03.2000 Rs. C-358/98 (Kommission/Italien) Slg. 2000 I-1255 05.10.2000 Rs. C-376/98 (Deutschland/Parlament und Rat; „Tabakwerbeverbot“) Slg. 2000 I-8419 10.05.2001 Rs. C-144/99 (Kommission/Niederlande) Slg. 2001 I-3541 20.09.2001 Rs. C-453/99 (Courage) Slg. 2001 I-6297 12.03.2002 Rs. C-168/00 (Leitner) Slg. 2002 I-2631 11.07.2002 Rs. C-60/00 (Carpenter) Slg. 2002 I-6279 10.12.2002 Rs. C-491/01 (British American Tobacco) Slg. 2002 I-11453 10.04.2003 Rs. C-276/01 (Steffensen) Slg. 2003 I-3735 12.06.2003 Rs. C-112/00 (Schmidberger) Slg. 2003 I-5659 11.09.2003 Rs. C-211/01 (Kommission/Rat) Slg. 2003 I-8913 14.12.2004 Rs. C-210/03 (Swedish Match) Slg. 2004 I-11893 27.06.2006 Rs. C-540/03 (Parlament/Rat) Slg. 2006 I-5769 13.07.2006 verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04 (Manfredi) Slg. 2006 I-6619 12.12.2006 Rs. C-380/03 (Deutschland/Parlament und Rat) Slg. 2006 I-11573 06.11.2008 Rs. C-155/07 (Parlament/Rat) Slg. 2008 I-8103 16.06.2008 Rs. C-127/07 (Arcelor Atlantique et Lorraine) Slg. 2008 I-9895 10.07.2008 Rs. C-54/07 (Feryn) Slg 2008 I-5187 03.09.2008 verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Kadi und Al Barakaat International Foundation) Slg. 2008 I-6351 08.01.2009 Rs. C-411/06 (Kommission/Parlament und Rat) Slg. 2009 I-7585 08.06.2010 Rs. C-58/08 (Roaming-VO) Slg. 2010 I-4999 01.03.2011 Rs. C-236/09 (Test-Achats) Slg. 2011 I-773 15.11.2011 Rs. C-256/11 (Derci) 07.06.2012 Rs. C- 27/11 (Vinkov) 26.02.2013 Rs. 617/10 (Akerberg Fransson) 26.02.2013 Rs. C-399/11 (Melloni) Gutachten 2/94 (Beitritt zur EMRK) Oberster Gerichtshof (OGH): 14.07.1986, 1 Ob 554/86 Verfassungsgerichtshof (VfGH): 12.12.1998 B 342/98 VfSlg 15.373/1998 Bundesverfassungsgericht (BVerfG): 29.05.1974, 2 BvL 52/71 (Solange I) Reichsgericht: 11.04.1901, RGZ 48, 114 Gerichte Deutschland und Österreich: AG Tempelhof-Kreuzberg 16.12.2004 Rs 8 C 267/04. BG Innere Stadt (Wien) 08.11.2012 Rs 78C 493/ 12 w – 6

Stichwortverzeichnis Abhängigkeit des Vertragsinteressenten 177 ff. – konditionale 177 f. – sachliche 177 f. – räumlich-zeitliche 177 f. actio (quasi) negatoria 186 ff. Agency-Situation 98, 101, 107, 117 AGG 3, 7, 161, 187 AGB 29 Akerberg Fransson 101 f., 106 f. Antirassismus-RL 6 f., 15 f., 54, 71 f., 81 f., 114, 126 ff., 134, 142 ff., 150, 156 f. Binnenmarktkompetenz 62 ff. Bundesgesetz über die Gleichbehandlung (GlBG) 154 Chancengleichheit 34, 48, 132, 148, 165, 169, 193 ff. Dekker 133 f., 152 ff., 165, 169 Diskriminierungsbegriff – binnenmarktaffine 10 ff. – EuGH 14 – gesellschaftspolitische 10 ff. – mittelbare Diskriminierung 13 ff. – Richtlinien 15 f. – unmittelbare Diskriminierung 13 ff. – wettbewerbsrechtliche 10 ff. Diskriminierungsschaden 154 f. – Bemessung 169 ff. Distributionsfunktion 39 Draehmpaehl 133 ff., 153, 158, 165 Drittwirkung von Grundrechten – allgemein 85 ff. – Argumentationsschwelle 92, 110 – Art. 21 GRC 86 ff. – mittelbare 86 ff., 89 f. – Terminologie 86 ff.

– unmittelbare 88 ff., 90 f. – Untermaßverbot 92 f. Dubliner Entwurf 5 f. EMRK 9, 94 f. Erkennbarkeit der Rechtsgrundlage 53, 61 ERT-Situation 99 ff., 104 ff., 117 f. Familienzusammenführungs-RL 115, 120 Feryn 161 Flexibilitätsklausel 73 ff. Generalklausel 91 f., 136, 142 ff. Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (GEKR) 51 Geringfügigkeitsschwelle 160 f., 165 Gleichbehandlungs-RL 130, 133 Gleichheitsgrundsatz 20 Gleichklang-These 64 f. Grundrechtecharta – Anwendungsbereich 94 ff. – Drittwirkung 109 ff. Grundsatz der Effektivität und Äquivalenz 127 ff. Gute-Sitten-Klausel 90, 143 ff., 171, 176, 185 Harz 130; siehe auch Von Colson und Kamann Herabwürdigung 42, 46 ff., 157 ff., 190, 192 f. iustitia commutativa 33 ff. iustitia distributiva 33 ff. Kadi 77 Keck und Mithouard 65 Kompetenz-Kompetenz 74 Kontrahierungszwang 166 ff., 170 ff. – allgemeiner 167

Stichwortverzeichnis – besonderer 166 f. Leitner 155 Marshall II 131 f., 134, 169 Massengeschäft 7, 47, 156 f. Melloni 102, 106 f., 121 f. Monopolstellung 90, 171 ff., 179 f., 190 Nold 9 Öffnungsklauseln 112 ff. ordnungstheoretischer Begründungsansatz siehe Vertragsfreiheit Pauschalreise-RL 155 Persönlichkeitsrecht 159 ff. Prävention 163 ff., 192, 197 ff. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 51 ff. Prinzip der Verhältnismäßigkeit 53 ff. punitive damages 151, 164, 199 Querschnittskompetenz 54, 66 f., 84 Rechtfertigung – Diskriminierungsverbote 7, 12, 15, 21 f., 36 ff., 41, 43, 47, 133 – Grundfreiheiten 99 f., 106, 117 f. richtlinienkonforme Interpretation 140 ff. Schmidberger 99 f., 106 Schranken-Schranken 99 f., 107 Schutzgesetz 184 f. Schutzumfang von Diskriminierungsverboten 37 f. Schwerpunkttheorie 68 Solange I 95 Sozialpolitik 81 ff. Stauder 8 Subsidiaritätsprinzip 52 ff.

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Tabakwerbeverbot 63 ff. Test Achats 65, 112 ff. Transparenzgebot, RL-Umsetzung 135 ff. Umsetzung von Richtlinien – legislative Ebene 140 ff. – Rechtsprechung 140 ff. – Vorschiften (bestehende) 142 ff. Unisex-RL 6 f., 12, 15, 21, 41, 54 ff., 65, 71, 81 ff., 112 ff., 126 f., 134, 144 f., 149 f., 154, 156, 161, 168 f., 184, 194 Unionsbürger 5, 140 ff. Verbraucherrecht 32, 63 ff. Verhaltenssteuerung 151 ff. Verschulden 152 ff. Vertrag von Amsterdam 2, 6, 55 ff. Vertrag von Lissabon 2 f., 6, 9, 69 f., 73 f. Vertrag von Maastricht 5 Vertrag von Nizza 9, 95 Vertrag von Rom 4, 8, 95 Vertragsfreiheit 19 ff., 31 ff. – Diskriminierungsverbote 22, 30 ff. – formale 22, 25 ff. – Funktionssicherung 32, 177 f. – materiale 23 ff. – ordnungstheoretischer Begründungsansatz 23 – personalistischer Begründungsansatz 22 f. – rassistische Diskriminierung 36 ff. – sexistische Diskriminierung 36 ff. Vertragsverweigerung 170 ff. Von Colson und Kamann 130 ff., 148, 151, 169 f. Wachauf 98 wirtschaftliche Integration 7 f.